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Plenarprotokoll 17/40

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

40. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Inhalt:

Wahl der Abgeordneten Rita Pawelski als Karl-Josef Laumann, Minister


stellvertretendes Mitglied in den Beirat bei (Nordrhein-Westfalen) . . . . . . . . . . . . . . . . 3818 A
der Bundesnetzagentur . . . . . . . . . . . . . . . . 3805 B
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3820 C
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3821 D
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3805 B
Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 3822 D
Absetzung der Tagesordnungspunkte 9, 13,
20, 27 und 29 a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3806 D Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3823 D
Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 3807 A Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3825 A
Begrüßung der neuen Abgeordneten Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 3826 B
Dr. Christiane Ratjen-Damerau . . . . . . . . . 3807 B
Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3827 C

Tagesordnungspunkt 4:
Tagesordnungspunkt 5:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten a) Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, weiterer
des Grundgesetzes (Artikel 91 e) Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
(Drucksache 17/1554) . . . . . . . . . . . . . . . . NIS 90/DIE GRÜNEN: Gleichklang von
3807 C
Bund und Ländern beim Klimaschutz
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der sicherstellen
CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten (Drucksache 17/1430) . . . . . . . . . . . . . . . 3829 C
Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterent-
wicklung der Organisation der Grund- b) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-
sicherung für Arbeitsuchende Schröter, Dorothée Menzner, Sabine
(Drucksache 17/1555) . . . . . . . . . . . . . . . . Stüber, weiterer Abgeordneter und der
3807 C
Fraktion DIE LINKE: Klimaschutzziele
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin gesetzlich verankern
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3807 D (Drucksache 17/1475) . . . . . . . . . . . . . . . 3829 C
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 3809 D Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3829 D
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 3811 D
Marie-Luise Dött (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3831 B
Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 3813 B
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3834 A
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3814 B
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3836 A
Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 3815 A
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 3838 D
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3816 B Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . . 3840 D
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3842 B LINKE: Einstellung der Verhandlun-


gen mit den Vereinigten Staaten von
Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 3844 B Amerika um ein neues SWIFT-Abkom-
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ men und Verzicht auf ein europäisches
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3845 C Abkommen über ein Programm zum
Aufspüren der Finanzierung des Terro-
Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3846 B rismus
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . 3847 D (Drucksache 17/1560) . . . . . . . . . . . . . . . 3852 A
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 3848 B h) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Bericht des GKV-Spitzenverbandes
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ über die Erfahrungen mit den durch
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3850 A das GKV-WSG bewirkten Rechtsände-
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3850 D rungen in § 13 Absatz 2 des Fünften
Buches Sozialgesetzbuch
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 3851 A (Drucksache 16/12639) . . . . . . . . . . . . . . 3852 A
i) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Tagesordnungspunkt 28: Fünfter Staatenbericht der Bundesrepu-
blik Deutschland über Maßnahmen zur
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Durchführung des Übereinkommens
rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- vom 10. Dezember 1984 gegen Folter
ten Gesetzes zur Harmonisierung des und andere grausame, unmenschliche
Haftungsrechts im Luftverkehr oder erniedrigende Behandlung oder
(Drucksache 17/1293) . . . . . . . . . . . . . . . . 3851 C Strafe (CAT)
b) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/14138) . . . . . . . . . . . . . . 3852 B
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Abkommen vom 3. Dezem-
ber 2009 zwischen der Bundesrepublik Tagesordnungspunkt 29:
Deutschland und der Föderativen Re- b) Beschlussempfehlung und Bericht des
publik Brasilien über Soziale Sicherheit Rechtsausschusses zu der Unterrichtung
(Drucksache 17/1296) . . . . . . . . . . . . . . . . 3851 C durch die Bundesregierung: Vorschlag
c) Erste Beratung des von der Bundes- für eine Richtlinie des Europäischen
regierung eingebrachten Entwurfs eines Parlaments und des Rates zur Bekämp-
Gesetzes zur Änderung des Güterkraft- fung von Zahlungsverzug im Geschäfts-
verkehrsgesetzes und des Fahrpersonal- verkehr (Neufassung)
gesetzes Umsetzung der Initiative für kleine und
(Drucksache 17/1395) . . . . . . . . . . . . . . . . mittlere Unternehmen in Europa (Small
3851 C
Business Act) (inkl. 8969/09 ADD 1 und
d) Antrag des Bundesministeriums der Fi- 8969/09 ADD 2)
nanzen: Entlastung der Bundesregie- (ADD 1 in Englisch)
rung für das Haushaltsjahr 2009 (Drucksachen 17/790 Nr. 8, 17/1610) . . . 3852 C
– Vorlage der Haushaltsrechnung des
c)–l)
Bundes für das Haushaltsjahr 2009 –
(Drucksache 17/1500) . . . . . . . . . . . . . . . . 3851 D Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
e) Antrag der Abgeordneten Wolfgang schusses: Sammelübersichten 71, 72, 73,
Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van 74, 75, 76, 77, 78, 79 und 80 zu Petitionen
(Drucksachen 17/1436, 17/1437, 17/1438,
Aken, weiterer Abgeordneter und der
17/1439, 17/1440, 17/1441, 17/1442,
Fraktion DIE LINKE: Von der Konfron-
17/1443, 17/1444, 17/1445) . . . . . . . . . . 3852 D
tation zur Kooperation – Deutsch-russi-
sche Beziehungen verbessern
(Drucksache 17/1559) . . . . . . . . . . . . . . . . 3851 D
Zusatztagesordnungspunkt 2:
f) Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, weite- a) Beschlussempfehlung und Bericht des
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
LINKE: Krebserregende Stoffe in Kin- schaft und Verbraucherschutz zu dem An-
derspielzeugen durch Sofortmaßnah- trag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
men ausschließen Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
(Drucksache 17/1563) . . . . . . . . . . . . . . . . 3852 A
NIS 90/DIE GRÜNEN: Anbau von gen-
g) Antrag der Abgeordneten Jan Korte, technisch veränderter Kartoffel Am-
Dr. Barbara Höll, Ulla Jelpke, weiterer flora verhindern
Abgeordneter und der Fraktion DIE (Drucksachen 17/1028, 17/1547) . . . . . . . 3853 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 III

b) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 3871 D


Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . 3873 C
schaft und Verbraucherschutz zu dem An-
trag der Abgeordneten Elvira Drobinski- Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3875 A
Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3876 D
Fraktion der SPD: Gentechnisch verän- Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 3878 A
derte Amflora-Kartoffel zuverlässig aus
der Lebensmittel- und Futtermittelkette Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3878 B
fernhalten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/
(Drucksachen 17/1410, 17/1603) . . . . . . . 3853 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3878 C
Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 3879 A
Zusatztagesordnungspunkt 3: Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 3879 C
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister
der SPD: Konsequenzen aus dem Ergebnis BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3881 C
der Steuerschätzung für die Steuersen-
kungspläne der CDU/CSU-FDP-Koalition 3854 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . 3883 C
Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3854 A Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3885 A
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Scheer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 3886 A
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3855 A
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . 3886 C
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 3856 D
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 3858 A Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 3888 B
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3859 D Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3888 D
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . 3861 A
Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3862 B Tagesordnungspunkt 8:
Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3864 B Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten:
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . 3865 C Jahresbericht 2009 (51. Bericht)
(Drucksache 17/900) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3891 A
Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 3866 C
Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter
Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 3867 C des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . 3891 B
Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 3868 D Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . 3894 A
Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3870 A Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 3895 B
Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 3896 C
Tagesordnungspunkt 6: Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . 3897 D
a) – Zweite und dritte Beratung des von Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
den Fraktionen der CDU/CSU und der DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3898 D
FDP eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Erneu- Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg,
erbare-Energien-Gesetzes Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . 3900 A
(Drucksachen 17/1147, 17/1604) . . . . 3871 B Dr. h. c. Susanne Kastner (SPD) . . . . . . . . . . 3901 C
– Bericht des Haushaltsausschusses ge-
mäß § 96 der Geschäftsordnung
(Drucksache 17/1607) . . . . . . . . . . . . . 3871 B Tagesordnungspunkt 26:
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und schusses für Arbeit und Soziales zu dem An-
Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- trag der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus
geordneten Dorothée Menzner, Eva Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abge-
Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Weg
Abgeordneter und der Fraktion DIE mit Hartz IV – Für gute Arbeit und eine
LINKE: Solarstromförderung wirksam sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindest-
ausgestalten sicherung
(Drucksachen 17/1144, 17/1604) . . . . . . . 3871 C (Drucksachen 17/659, 17/953) . . . . . . . . . . . 3902 C
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 3902 D DIE LINKE: Veränderung der Zusam-


mensetzung des Europäischen Parla-
Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . 3904 B ments in der laufenden Wahlperiode
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3905 D (Drucksache 17/1568) . . . . . . . . . . . . . . . 3911 A

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 3906 D Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 3911 B


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . 3914 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3908 A
Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 3915 C
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3909 A
Thomas Nord (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3916 C
Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . 3910 A
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3917 D
Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 3910 D
Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 3918 C
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3912 C Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . 3919 C
Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3920 B
Tagesordnungspunkt 10:
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 11:
Ausschusses für die Angelegenheiten der
Europäischen Union Große Anfrage der Abgeordneten Carsten
Schneider (Erfurt), Joachim Poß, Hubertus
– zu dem Antrag der Fraktionen der Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der
CDU/CSU und der FDP: Übergangs- Fraktion der SPD: Zu den theoretischen und
maßnahmen zur Zusammensetzung empirischen Grundlagen des Wachstums-
des Europäischen Parlamentes nach beschleunigungsgesetzes und der gemäß
Inkrafttreten des Vertrages von Lis- Koalitionsvertrag beabsichtigten Steuer-
sabon reform
hier: Stellungnahme des Deutschen (Drucksache 17/568) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3921 D
Bundestages nach Artikel 23 Ab-
satz 3 GG i. V. m. § 10 des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bun-
desregierung und Deutschem Bun- Tagesordnungspunkt 12:
destag in Angelegenheiten der Euro- Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
päischen Union desregierung eingebrachten Entwurfs eines
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Ausführungsgesetzes zur Verordnung (EG)
Vorschlag der spanischen Regierung Nr. 1060/2009 des Europäischen Parla-
für die Änderung der Verträge in ments und des Rates vom 16. September
Bezug auf die Übergangsmaßnah- 2009 über Ratingagenturen (Ausführungs-
men betreffend die Zusammenset- gesetz zur EU-Ratingverordnung)
zung des Europäischen Parlaments – (Drucksachen 17/716, 17/984, 17/1609) . . . . 3921 D
Herstellung des Einvernehmens
über die Aufnahme von Verhand-
lungen über Vertragsänderungen Tagesordnungspunkt 17:
gemäß Artikel 48 EUV
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
(Drucksachen 17/1179, 17/235, 17/1460) 3910 D schusses für Arbeit und Soziales
b) Antrag der Abgeordneten Manuel – zu dem Antrag der Fraktion der SPD:
Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Mehr Chancengleichheit für Jugendli-
Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und che – Ferienjobs nicht als regelmäßiges
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Einkommen anrechnen
NEN: Änderung der Verträge – Über-
gangsmaßnahmen betreffend die Zu- – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
sammensetzung des Europäischen Kipping, Klaus Ernst, Matthias W.
Parlaments Birkwald, weiterer Abgeordneter und der
(Drucksache 17/1417) . . . . . . . . . . . . . . . . 3911 A Fraktion DIE LINKE: Keine Anrech-
nung von Ferienjobs auf das Arbeitslo-
c) Antrag der Abgeordneten Dr. Diether sengeld II
Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksachen 17/524, 17/76, 17/841) . . . . . . 3922 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 V

Tagesordnungspunkt 14: Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3936 A


Erste Beratung des von der Bundesregierung Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3938 A
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2005/ Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3938 D
über die Anwendung des Grundsatzes der Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 3939 C
gegenseitigen Anerkennung von Geldstra-
fen und Geldbußen Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 3940 B
(Drucksache 17/1288) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3922 D
Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3922 D Tagesordnungspunkt 18:
Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 3923 D a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 3924 D schusses für Menschenrechte und Humani-
täre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Wolfgang Gunkel, Lothar Binding (Heidel-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3926 A berg), Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Ab-
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär geordneter und der Fraktion der SPD:
BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3927 A Menschenrechtsschutz im Handelsab-
kommen der Europäischen Union mit
Kolumbien und Peru verankern
Tagesordnungspunkt 19: (Drucksachen 17/883, 17/1545) . . . . . . . . 3941 B
Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordne- Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
ter und der Fraktion DIE LINKE: In histori- menarbeit und Entwicklung
scher Verantwortung – Für ein Bleiberecht
– zu dem Antrag der Abgeordneten
der Roma aus dem Kosovo
Heike Hänsel, Jan van Aken, Sevim
(Drucksache 17/784) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3928 A
Dağdelen weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE: VI. EU-La-
in Verbindung mit teinamerika-Karibik-Gipfel in Ma-
drid: Den Aufbruch zur zweiten
Unabhängigkeit Lateinamerikas so-
Zusatztagesordnungspunkt 4: lidarisch unterstützen
Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, – zu dem Antrag der Abgeordneten
Volker Beck (Köln), Memet Kilic, weiterer Thilo Hoppe, Dr. Hermann Ott, Ute
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Koczy, weiterer Abgeordneter und der
DIE GRÜNEN: Keine Zwangsrückführun- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gen von Minderheitenangehörigen in das NEN: Klimaschutz und gerechten
Kosovo Handel mit Lateinamerika und der
(Drucksache 17/1569) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3928 A Karibik voranbringen
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 3928 B (Drucksachen 17/1403, 17/1419, 17/1608) 3941 C
Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3929 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3930 D Ausschusses für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge-
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 3931 D ordneten Heike Hänsel, Annette Groth,
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3932 C der Fraktion DIE LINKE: Menschen-
rechte in Kolumbien auf die Agenda
setzen – Freihandelsabkommen EU-Ko-
Tagesordnungspunkt 16: lumbien stoppen
(Drucksachen 17/1015, 17/1546) . . . . . . . 3941 D
Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak,
Omid Nouripour, Kai Gehring, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 5:
DIE GRÜNEN: Wehrpflicht beenden
(Drucksache 17/1431) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3933 C Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Ulla
Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer Abge-
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Alle
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3933 D BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) offenlegen
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3934 D (Drucksache 17/1556) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3942 B
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Tagesordnungspunkt 21: Anlage 1


Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 3955 A
Hans-Josef Fell, Kai Gehring, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Kernfusionsforschung kritisch Anlage 2
überprüfen – ITER-Vertrag kündigen
(Drucksache 17/1433) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3942 C Erklärung nach § 31 GO zur namentlichen
Abstimmung über den Entwurf eines … Ge-
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 3942 C setzes zur Änderung des Erneuerbare-Ener-
René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3944 A gien-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 6 a)
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 3945 B Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 3955 B
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3946 B Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 3955 D
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 3956 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3947 C

Anlage 3
Zusatztagesordnungspunkt 6:
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Thomas Silberhorn (CDU/CSU) zur Abstim-
Korte, Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković mung über die Beschlussempfehlung und den
und weiteren Abgeordneten der Fraktion DIE Bericht zu dem Antrag:
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset- Übergangsmaßnahmen zur Zusammensetzung
zes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes des Europäischen Parlamentes nach Inkraft-
(Bleiberechtsregelung/Vermeidung von treten des Vertrages von Lissabon
Kettenduldungen) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
(Drucksache 17/1557) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3948 B ges nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10
des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
in Verbindung mit Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union
(Tagesordnungspunkt 10 a) . . . . . . . . . . . . . . 3956 D
Zusatztagesordnungspunkt 7:
Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Memet Kilic, Volker Beck (Köln), Anlage 4
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine der Großen Anfrage: Zu den theoretischen
wirksame und stichtagsunabhängige ge- und empirischen Grundlagen des Wachstums-
setzliche Bleiberechtsregelung im Aufent- beschleunigungsgesetzes und der gemäß Ko-
haltsgesetz alitionsvertrag beabsichtigten Steuerreform
(Drucksache 17/1571) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3948 B (Tagesordnungspunkt 11)
Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 3957 A
Tagesordnungspunkt 22: Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3957 D
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 3958 D
schusses für Wirtschaft und Technologie zu
dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3960 A
Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Ab- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 3961 A
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Verbraucherfreundliche Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/
kostenfreie Warteschleifen bei telefoni- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3961 C
schen Dienstleistungen einführen Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär
(Drucksachen 17/1029, 17/1549) . . . . . . . . . . 3948 C BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3962 B
Lucia Puttrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3948 D
Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3950 C Anlage 5
Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 3951 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 3952 B des Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zur
Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäi-
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
schen Parlaments und des Rates vom 16. Sep-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3953 A tember 2009 über Ratingagenturen (Aus-
führungsgesetz zur EU-Ratingverordnung)
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3953 D (Tagesordnungspunkt 12)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 VII

Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 3963 A – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem


Antrag: Menschenrechte in Kolumbien
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3963 D auf die Agenda setzen: Freihandelsabkom-
Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3965 A men EU-Kolumbien stoppen
Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3966 B (Tagesordnungspunkt 18 a bis c)
Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3967 A Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3973 A
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 3973 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3967 C
Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3975 A
Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 3976 B
Anlage 6
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 3977 B
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
Beschlussempfehlung und Bericht zu den An- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3978 B
trägen:
– Mehr Chancengleichheit für Jugendliche –
Ferienjobs nicht als regelmäßiges Ein- Anlage 8
kommen anrechnen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
– Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das des Antrags: Alle BND-Akten zum Thema
Arbeitslosengeld II NS-Vergangenheit offenlegen (Zusatztages-
ordnungspunkt 5)
(Tagesordnungspunkt 17)
Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 3979 C
Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . . 3968 C
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . 3980 C
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3969 A
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 3981 A
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3969 D
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3981 C
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3970 D
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 3971 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3982 D
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3972 A
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Anlage 7
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Aufenthaltsgesetzes (Bleiberechtsrege-
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem lung/Vermeidung von Kettenduldungen)
Antrag: Menschenrechtsschutz im Han- – Antrag: Für eine wirksame und stichtags-
delsabkommen der Europäischen Union unabhängige gesetzliche Bleiberechts-
mit Kolumbien und Peru verankern regelung im Aufenthaltsgesetz
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den (Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7)
Anträgen:
Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3983 B
– VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel
in Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3984 C
Unabhängigkeit Lateinamerikas soli- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 3985 A
darisch unterstützen
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 3985 C
– Klimaschutz und gerechten Handel mit
Lateinamerika und der Karibik voran- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/
bringen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3986 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3805

(A) (C)

Redetext

40. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Beginn: 10.30 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: zu den Maßnahmen zum Erhalt der Stabilität
Ich begrüße Sie alle herzlich. Die Sitzung ist eröffnet. der Währungsunion und zu dem bevorstehen-
Nehmen Sie bitte Platz. den Sondergipfel der Euro-Länder am 7. Mai
2010 in Brüssel
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auch ohne die (siehe 39. Sitzung)
FDP, Herr Präsident? – Christian Lange [Back-
nang] [SPD]: Die Koalition ist schon in Auflö- ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sung! Gibt es die Koalition nicht mehr?) sprache
Ergänzung zu TOP 29
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
freue mich über alle, die schon da sind. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
(B) geordneten der CDU/CSU – Britta Haßelmann Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord- (D)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir möchten neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sofort abstimmen, Herr Präsident!) NEN
Ich gebe Ihnen die beruhigende Mitteilung, dass die Anbau von gentechnisch veränderter Kartof-
Verschiebung des Beginns der Sitzung unter allen Frak- fel Amflora verhindern
tionen einvernehmlich vereinbart worden ist, sodass ich
– Drucksachen 17/1028, 17/1547 –
jeden Augenblick auch mit der Vervollständigung um
noch fehlende, wichtige politische Gruppierungen dieses Berichterstattung:
Plenums rechne. Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Elvira Drobinski-Weiß
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Einspruch, Euer Dr. Christel Happach-Kasan
Ehren!) Dr. Kirsten Tackmann
Wir beginnen wie immer mit einigen amtlichen Mittei- Ulrike Höfken
lungen, von denen die erste die FDP-Fraktion betrifft und b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
deswegen von mir noch einen kleinen Augenblick zu- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
rückgestellt wird. Dagegen sehe ich kein Problem, darauf schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
hinzuweisen, dass die CDU/CSU-Fraktion vorschlägt, dem Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-
die Kollegin Rita Pawelski als neues stellvertretendes Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber,
Mitglied in den Beirat der Bundesnetzagentur zu wäh- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
len. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offenkundig
der Fall. Damit ist die Kollegin Pawelski in den Beirat ge- Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel zu-
wählt. verlässig aus der Lebensmittel- und Futtermit-
telkette fernhalten
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD) – Drucksachen 17/1410, 17/1603 –

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Berichterstattung:


dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- Abgeordnete Dr. Max Lehmer
geführten Punkte zu erweitern: Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Christel Happach-Kasan
ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Dr. Kirsten Tackmann
Bundeskanzlerin Ulrike Höfken
3806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der Keine Kopfpauschale – Für eine solidarische (C)
SPD: Krankenversicherung
Konsequenzen aus dem Ergebnis der Steuer- – Drucksachen 17/240, 17/1605 –
schätzung für die Steuersenkungspläne der
Berichterstattung:
CDU/CSU-FDP-Koalition
Abgeordneter Dr. Rolf Koschorrek
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet
richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus-
Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bender, Maria Anna Klein-Schmeink, Elisabeth
Keine Zwangsrückführungen von Minderhei- Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
tenangehörigen in das Kosovo Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 17/1569 – Für eine solidarische und nachhaltige Finan-
Überweisungsvorschlag:
zierung des Gesundheitswesens
Innenausschuss (f) – Drucksachen 17/258, 17/1606 –
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Berichterstattung:
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Abgeordneter Dr. Karl Lauterbach
Korte, Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wilms, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn,
Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangen- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
heit offenlegen NIS 90/DIE GRÜNEN

– Drucksache 17/1556 – Ölkatastrophen vermeiden – Raubbau an


Mensch und Natur ausschließen
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss – Drucksache 17/1572 –
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Überweisungsvorschlag:
Korte, Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
weiteren Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
(B) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Ausschuss für Bildung, Forschung und (D)
derung des Aufenthaltsgesetzes (Bleiberechts- Technikfolgenabschätzung
regelung/Vermeidung von Kettenduldungen) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
– Drucksache 17/1557 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f) Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
Rechtsausschuss gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Tagesordnungspunkte 9, 13, 20, 27 und 29 a wer-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe den abgesetzt.
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef (Abgeordnete der FDP betreten den Saal – Zu-
Philip Winkler, Memet Kilic, Volker Beck (Köln), rufe von der SPD: Ah! – Christian Lange
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- [Backnang] [SPD]: Die FDP lebt doch noch!)
NIS 90/DIE GRÜNEN
– Ich hoffe, es wird hinterher aus dem Protokoll hinrei-
Für eine wirksame und stichtagsunabhängige chend deutlich, dass sich die Begeisterungsrufe links
gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufent- vom Präsidium nicht auf die von mir angekündigte Ab-
haltsgesetz setzung der Tagesordnungspunkte beziehen, sondern auf
– Drucksache 17/1571 – die spontane Freude um die Vervollständigung der Rei-
hen rechts vom Präsidium.
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD –
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend NEN]: Die Freude ist begrenzt!)
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Dass es durch die von mir vorgetragenen beabsichtig-
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ten Absetzungen der Tagesordnungspunkte zu Änderun-
richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- gen in der Reihenfolge unserer Tagesordnung kommt,
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald wird Sie nicht weiter überraschen: Der Tagesordnungs-
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Dietmar Bartsch, punkt 26 von Freitag wird bereits heute nach dem Tages-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE ordnungspunkt 8 aufgerufen. Der Tagesordnungspunkt 15
LINKE wird auf morgen verschoben und folgt auf den Tages-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3807
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) ordnungspunkt 25. Die Tagesordnungspunkte 17 und 19 Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 4 a und (C)
rücken dementsprechend vor und werden nach den Ta- 4 b:
gesordnungspunkten 12 bzw. 14 aufgerufen.
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
Ich darf noch auf zwei nachträgliche Ausschussüber- CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs ei-
weisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam nes Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
machen: (Artikel 91 e)

Der in der 37. Sitzung des Deutschen Bundestages – Drucksache 17/1554 –


überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Union (21. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen Finanzausschuss
werden. Die Überweisung an den Auswärtigen Aus- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
schuss (3. Ausschuss) zur Mitberatung soll entfallen. Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola Ausschuss für Gesundheit
von Cramon-Taubadel, Winfried Hermann, Volker Ausschuss für Bildung, Forschung und
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
Sport in der Europäischen Union – Den Lissa- CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines
bon-Vertrag mit Leben füllen Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisa-
– Drucksache 17/1420 – tion der Grundsicherung für Arbeitsuchende
überwiesen: – Drucksache 17/1555 –
Sportausschuss (f) Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Der in der 37. Sitzung des Deutschen Bundestages Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
dem Innenausschuss (4. Ausschuss) zur Mitberatung Ausschuss für Gesundheit
überwiesen werden. Die Überweisung an den Finanzaus- Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (D)
(B) schuss (7. Ausschuss) zur Mitberatung soll entfallen.
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än- die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
derungen vom 2. Oktober 2008 des Überein- nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
kommens vom 3. September 1976 über die
Internationale Organisation für mobile Satelli- Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
tenkommunikation (International Mobile Sa- Bundesministerin Frau Dr. Ursula von der Leyen das
tellite Organization – IMSO) Wort.

– Drucksache 17/1295 – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-


neten der FDP)
überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Arbeit und Soziales:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einer
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen ein-
Woche haben wir aus Nürnberg die neuen Arbeitsmarkt-
verstanden sind. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann
zahlen bekommen. Das sind erfreuliche Zahlen. Die Ar-
ist das so beschlossen.
beitslosigkeit ist deutlicher gesunken, als das im Monat
Bevor ich die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf- April üblicherweise der Fall ist. Dies ist sicher eine
rufe, weise ich darauf hin, dass der Kollege Carl-Ludwig Folge der Frühjahrsbelebung nach einem langen und
Thiele auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag harten Winter, aber auch ein Indiz dafür, dass wir lang-
verzichtet hat und wir als neues Mitglied die Kollegin sam aus dem krisenbedingten Tief herauskommen.
Dr. Christiane Ratjen-Damerau begrüßen können, die Bei aller Freude über die sinkenden Arbeitslosenzah-
offenkundig noch nicht da ist, len und die Arbeitsmarktzahlen: Wenn man genau hin-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie kommt schaut, dann findet man fast ausschließlich bei denjeni-
gleich aus der Fraktionssitzung!) gen eine Bewegung zum Besseren, die ganz kurz in
Arbeitslosigkeit sind. Im April sank die Arbeitslosigkeit
was aber ihrer Mandatsübernahme nicht rechtswirksam im Rechtskreis SGB III, also bei denen, die Leistungen
im Wege steht. Die guten Wünsche kommen schon ein- aus der Arbeitslosenversicherung beziehen, um 146 000,
mal auf diesem Wege ins Protokoll. aber im Rechtskreis SGB II, also bei den Langzeitar-
3808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) beitslosen, gerade einmal um 16 000. Dieses Muster, Man muss sich anschauen, wer die Menschen sind, (C)
dass sich in der Krise keine deutliche Zunahme der die hinter diesen Zahlen der Langzeitarbeitslosigkeit ste-
Langzeitarbeitslosigkeit zeigte, in der Erholung aber hen. Das kann zum Beispiel ein 48-jähriger Hilfsarbeiter
auch keine deutliche Abnahme zeigt, ist ein Muster, das sein. Dieser braucht etwas vollständig anderes als eine
wir schon lange beobachten können, schlicht und ein- verheiratete Verkäuferin, als eine alleinerziehende Kran-
fach auch deshalb, weil die Hürden, um aus der Lang- kenschwester, als ein 22-Jähriger, der seine Lehre abge-
zeitarbeitslosigkeit wieder herauszukommen, höher und brochen, dafür aber einen Berg Schulden angehäuft hat,
die Probleme vielschichtiger sind. oder als ein 58-jähriger Ingenieur, der nach einem per-
sönlichen Fiasko mehrere Jahre lang arbeitslos gewesen
Dennoch gilt: Wann, wenn nicht jetzt, da die Nach- ist. Allen ist gemeinsam, dass sie seit langer Zeit arbeits-
frage nach Arbeitskräften wieder steigt und da durch den los sind; aber um den Anschluss zu finden, brauchen sie
demografischen Wandel sichtbar wird, dass die Zahl der ganz unterschiedliche präzise, fördernde Hilfen.
Erwerbstätigen sinkt und Fachkräfte gesucht werden,
müssen wir hier etwas verändern? Wann, wenn nicht Dafür brauchen wir drittens eine schlagkräftige Or-
jetzt, müssen wir mit aller Kraft an die Lösung dieser ganisation. Wir wollen eine neue Qualität der Vermitt-
Probleme herangehen? Deshalb ist diese Jobcenter-Re- lung, die es eben nicht dem Zufall überlässt, oder be-
form, die wir heute einbringen, die richtige Reform zum stimmten Persönlichkeiten, die vor Ort da sind oder
richtigen Zeitpunkt. nicht, dass passende Konzepte zur Integration in den Ar-
beitsmarkt vorgelegt werden, ob es der Eingliederungs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zuschuss ist, die sozialpädagogische Begleitung, die
Ich möchte gerne vier Punkte darstellen, die mir bei Kinderbetreuung oder die Schuldnerberatung. Keiner
dieser Reform wichtig sind: der Langzeitarbeitslosen braucht alles; aber wenn die
Langzeitarbeitslosen ins Jobcenter kommen, muss alles
Es geht erstens um eine Grundhaltung. Wir wollen im Hintergrund zur Verfügung stehen, damit man punk-
durch diese Jobcenter-Reform die Grundhaltung stärken tuell im richtigen Moment die richtige Hilfe anbieten
und verstetigen, dass der Weg aus der Langzeitarbeitslo- kann. Die Neuorganisation der Jobcenter lässt diesen
sigkeit nur durch ein Aktivieren beschritten werden Gestaltungsspielraum zu, sie sichert ihn verfassungsmä-
kann. Das heißt, die Kompetenzen und Potenziale, die ßig ab. In Zukunft kann jemand den Arbeitslosen nicht
die Menschen haben und die oft unter einer dicken nur das anbieten, wofür er gerade zuständig ist, sondern
Schicht von Unzulänglichkeiten oder objektiven Hürden die Hilfe, die sie brauchen.
verborgen sind, müssen aktiviert werden. Wir wollen
nicht ein System haben, durch das verwahrt und verwal- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(B) tet wird, sodass man zunehmend eine passive Haltung neten der FDP) (D)
einnimmt, wie das früher bei der Sozialhilfe der Fall ge-
wesen ist, sondern wir wollen mit dieser Jobcenter-Re- Eine besonders wichtige Rolle in diesem Prozess
form gerade noch einmal stärken und verstetigen, dass spielen die Fallmanagerinnen und Fallmanager, die
alle zusammenarbeiten, und zwar nicht nur die Langzeit- Vermittler. Sie wissen, wo es welche Hilfen gibt. Sie put-
arbeitslosen mit der Bundesagentur für Arbeit. Auch alle zen bei den Unternehmen die Klinken. Sie wissen, auf
Leistungen der Kommunen, die sie gemäß ihren Kompe- welches mittelständische Unternehmen sie sich verlas-
tenzen erbringen, und die sozialintegrativen Leistungen sen können, wenn es einen Jugendlichen gibt, der beson-
müssen in einer Hand gebündelt zusammenkommen. dere Hilfe und Zuwendung braucht, um doch noch den
Einstieg in die Lehre zu schaffen. Sie kennen die vielen
Das geht zweitens – das ist gerade auch angesichts verschiedenen – ein sperriges Wort – Arbeitsmarktin-
vielfältiger Kritik wichtig – nicht nach dem Lehrbuch strumente. Sie schaffen die Verlässlichkeit, weil sie das
des Föderalismus; denn in diesem Lehrbuch des Föde- Gesicht, der Ansprechpartner sind für die Unternehmen,
ralismus steht: Eine Ebene soll für eine Leistung sichtbar die Arbeitskräfte suchen, aber auch für die Arbeitslosen,
zuständig sein. – Das kann man immer dann machen, die Hilfe bei der Vermittlung eines Jobs suchen.
wenn es um Techniken geht, zum Beispiel um das Aus-
zahlen des Kindergeldes. Man muss dazu wissen, wie Deshalb möchte ich an diesem Punkt eines besonders
viele Kinder da sind und wie alt sie sind. Bei dieser Aus- deutlich ansprechen: Im Augenblick befinden wir uns in
zahlung einer Geldleistung geht es um Technik. Aber der Situation, dass wir uns kurzfristig verhakt haben, und
hier, meine Damen und Herren, geht es um etwas sehr zwar bei dem Thema der 3 200 Stellen, die entfristet
viel Schwierigeres: Hier sind Menschen jahrelang ohne werden sollen. Kompetente Menschen sitzen bereits auf
Arbeit, hier haben sich Schwierigkeiten angehäuft. Und diesen Stellen, sie arbeiten in der Vermittlung. Das ist
diese Schwierigkeiten scheren sich keinen Deut darum, wichtig und richtig; wir brauchen diese Menschen. Es
ob wir verschiedene föderale Ebenen haben oder nicht; braucht Fachwissen, um diese Arbeit zu machen. Ich bin
sie sind da. Deshalb hilft eben auch nicht ein punktuelles fest entschlossen, dass wir gemeinsam die Kraft aufbrin-
Angebot, sondern es hilft nur, die Menschen Schritt für gen, sicherzustellen, dass eine so große Reform wie
Schritt zu aktivieren und gebündelte Hilfe von verschie- diese Jobcenter-Reform nicht daran scheitert, ob wir in
denen Seiten für verschiedene Probleme anzubieten. Das diesem Punkt eine Lösung finden oder nicht.
ist ein Schritt, den wir mit dieser Jobcenter-Reform ge-
meinsam gehen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das muss die FDP mal begreifen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3809
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(A) Am Ende des Jahres stehen da rund 6,9 Millionen Men- Wir berichten jeden Monat in den Lokalzeitungen (C)
schen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Wenn über die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen in der je-
wir jetzt nicht gemeinsam die Kraft aufbringen, das, was weiligen Region. Ich wünsche mir, dass in Zukunft zum
wir auf einen guten Weg gebracht haben, zu Ende zu Beispiel vierteljährlich in den Lokalzeitungen über die
bringen, dann sprengt das die Jobcenter am Ende des Erfolge und die Entwicklung der Jobcenter bzw. der Op-
Jahres – sie zerfallen wieder in ihre Einzelteile –, tionskommunen berichtet wird und wir nachlesen kön-
nen, wie Langzeitarbeitslose in einer Region mit ihren
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ist es! spezifischen Problemen wieder in Arbeit vermittelt wor-
Schöne Rede an die FDP! – Anette Kramme den sind. Das kann sich ändern. Das soll sich ändern. Ich
[SPD]: Erklären Sie das Ihrem Koalitionspart- bin sicher, dass dieser Wettbewerb um die besten Ideen
ner!) motivieren wird.
dann sind die 69 Optionskommunen von der Landkarte (Jutta Krellmann [DIE LINKE]:
gewischt. Es ist eine Frage unseres gemeinsamen Gestal- Und die 1-Euro-Jobs?)
tungswillens und unserer Verantwortung für dieses Land
mitten in der Krise, dass wir hier eine Lösung hinbekom- Ich will noch einen Satz dazu sagen, dass die Reform
men. angeblich teurer werden würde. Ich kann denjenigen, die
Zahlenspielereien betreiben – ich habe mir genau ange-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sehen, wie das entstanden ist –, nur zurufen: Sie blicken
neten der SPD und der FDP) auf das zurück, was war. Ihr Denken ist statisch. Wir
müssen handeln, weil wir die Veränderungen durch die
Auch der vierte Punkt ist mir wichtig: Die Reform Jobcenter-Reform brauchen; denn sonst müssten wir sie
schafft an einer Stelle, wo es in der Vergangenheit immer nicht machen. Sie sind unfähig, dynamisch zu denken, in
gehakt hat, etwas ganz Neues. Wir schaffen tatsächlich die Zukunft zu blicken und zu sagen: Da wollen wir hin.
ein lernendes System, also kein System, in dem man Diese Veränderungen wollen wir. Deshalb sind die ge-
erst nach Jahren Bilanz zieht und rückwärtsgewandt nannten Zahlen von gestern.
schaut, ob es funktioniert hat oder nicht, und sich vor
Gericht streitet, ob das Geld sinnvoll eingesetzt worden Wir sprechen über eine Jobcenter-Reform, die unser
ist oder nicht. Wir wollen stattdessen gemeinsam Ziele Land auch in Zukunft bestimmen wird. Ich möchte trotz
definieren: Wie viele Alleinerziehende, Jugendliche, Äl- aller Hakeleien, die wir noch haben, denjenigen von
tere, Facharbeiter in strukturstarken Regionen, die jetzt Herzen danken, die parteiübergreifend eine Koalition der
arbeitslos geworden sind für eine längere Zeit, sollen Vernunft geschlossen haben. Ich will mich bei all denje-
wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden? Wir wol- nigen bedanken, die das ermöglicht haben. Die Gesetze,
(B) len laufend vergleichen und feinjustieren können: Was die wir heute auf den Weg bringen, schaffen nicht nur Si- (D)
machen andere besser? Warum ist die eine Region er- cherheit für die Jobcenter und die Optionskommunen,
folgreicher als die andere mit denselben Strukturen? Wer sondern vor allem auch für die Langzeitarbeitslosen, die
schafft es, Menschen schneller in Arbeit zu bringen? unsere Hilfe brauchen.
Dies ist unerlässlich, um im Jobcenter oder in der Op- Vielen Dank.
tionskommune die eigene Arbeit zu spiegeln. Wir wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den die Daten bundesweit einheitlich erheben, zeitnah
erfassen und vergleichen können. Das tun wir nicht, weil
wir aus Berlin bis in den hintersten Winkel eines Jobcen- Präsident Dr. Norbert Lammert:
ters oder einer Optionskommune hineinregieren und sie Das Wort erhält der Kollege Hubertus Heil für die
kontrollieren wollen. Nein, das können wir nicht, das SPD-Fraktion.
wollen wir auch gar nicht. Aber wir wollen die Sach- (Beifall bei der SPD)
kenntnis und die Kreativität vor Ort so gestalten, dass
man zügig, transparent und zeitnah sehen kann: Wer ist
erfolgreich? Was wirkt? Wie wird das Geld eingesetzt? Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Wie wird den Menschen geholfen? Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was brau-
chen langzeitarbeitslose Menschen in unserem Land?
Ich möchte vor allem, dass der Schleier des Nichtwis- Das ist die Frage, die uns bewegen muss. Es ist die Ver-
sens, der Schleier der Intransparenz, der zum Teil bisher antwortung aller Parlamentarier, aber auch der Bundes-
über dem System lag – man wusste nicht genau, warum regierung, sich gerade in der momentanen Phase der
die Unterschiede in der Arbeit so groß sind –, weggezo- Entwicklung am Arbeitsmarkt zu überlegen, was getan
gen wird. Ich möchte vor allem, dass die Diskussion werden kann und getan werden muss, um langzeit-
über die beste Arbeit bei der Vermittlung dort geführt arbeitslosen Menschen effektiv zu helfen. Ich will nie-
wird, wo sie hingehört, nämlich in die Kreistage, in die mandem absprechen, egal welcher Couleur, zu erkennen,
Kommunen, in die Unternehmen, in die Kammern und dass das ein gemeinsames Ziel sein muss.
in die Gewerkschaften vor Ort. Letztendlich sind sie es,
die gelobt werden, wenn etwas gelungen ist, oder die da- Das Wichtigste ist – das fängt schon mit der Organi-
für geradestehen müssen, wenn es Defizite gibt. sationsform der Arbeitsverwaltung an –, dass wir lang-
zeitarbeitslose Menschen nicht nur mühsam verwalten,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sondern ihnen Betreuung, Hilfe und vor allem eine Ver-
neten der FDP) mittlung aus einer Hand anbieten und dass nicht wieder
3810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Hubertus Heil (Peine)


(A) Pingpong zwischen den verschiedenen Bürokratien ge- Frau von der Leyen, ich kann Ihnen nicht ersparen (C)
spielt wird. – weil Sie das nur in einem Nebensatz erwähnt haben –,
darauf hinzuweisen, dass die Entfristung von 3 200 Stel-
Ich bin froh, dass die Chance besteht, das zu verhin- len für Arbeitsvermittler Teil dieser Einigung ist.
dern, was CDU, CSU und FDP in ihrem Koalitionsver-
trag vereinbart haben. Wir müssen trotz all der notwen- (Beifall bei der SPD)
digen Veränderungen dafür sorgen, dass die Jobcenter in Ihre Rede diente an dieser Stelle eher der Aufklärung der
Deutschland am 1. Januar 2011 nicht zerschlagen wer- FDP-Fraktion.
den. Genau das war es aber, was CDU, CSU und FDP in
ihrem Koalitionsvertrag vorgesehen haben: (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das sollten Sie Im Verhältnis zur Gesamtreform klingt die Zahl von
noch mal nachlesen!) 3 200 Jobvermittlern wenig. Wenn wir uns aber an-
schauen, was wir alles im Gesetzentwurf mit Leben er-
getrennte Aufgabenwahrnehmung und Zerschlagung der füllen müssen, nämlich verbindliche Schlüssel für das
Jobcenter. Verhältnis von Jobvermittlern zu Langzeitarbeitslosen
einzuführen – 1 : 75 bei den unter 25-Jährigen, 1 : 150
Dass wir die Möglichkeit haben, das abzuwenden, ist bei den über 25-Jährigen –, wenn all das, was Sie vorha-
eine große Chance. Dazu braucht es eine Koalition der ben, Frau von der Leyen, nicht heiße Luft sein soll – ich
Vernunft über die Regierungsmehrheit hinaus, weil es spreche Ihnen nicht ab, dass Sie es ernsthaft wollen –,
eine verfassungsgemäße Lösung, eine grundgesetzliche wenn vor allen Dingen Alleinerziehende und Jugendli-
Absicherung geben muss. Wir als Sozialdemokraten in che besser betreut werden sollen und nicht in der Ar-
der Opposition haben deshalb die Hand gereicht und das beitslosigkeit verwaltet werden sollen sowie Eingliede-
Angebot gemacht, im Interesse langzeitarbeitsloser rungsvereinbarungen getroffen werden sollen, um
Menschen und auch derjenigen, die in der Arbeitsver- Menschen aus der Situation der Arbeitslosigkeit heraus-
mittlung einen harten Job erledigen, dafür zu sorgen, zuführen, dann muss man sagen: Es braucht mehr Job-
dass die Organisationsreform stattfinden kann, dass die vermittler, damit nicht nur Akten bewegt werden, son-
Jobcenter in Zukunft besser arbeiten können und vor al- dern damit Menschen eine Chance bekommen. Das ist
len Dingen, dass sie nicht zerschlagen werden. das, was die FDP nicht begriffen hat. Das sage ich hier
ganz deutlich.
Diese Lösung wäre schon früher möglich gewesen.
Die Verunsicherung der letzten Jahre war unnötig. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
hat viele kommunale Träger und viele in der Arbeitsver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(B) waltung der Bundesagentur für Arbeit, aber auch viele (D)
langzeitarbeitslose Menschen über Monate, wenn nicht Ich kann diesem Parlament nicht ersparen, zu schil-
sogar über Jahre verunsichert. Weil Herr Laumann dern, was in den letzten Wochen, nachdem wir einen
damals am Zustandekommen eines Kompromisses betei- Kompromiss, abgestimmt mit den Fraktionsvorsitzenden
ligt war – an den aktuellen Verhandlungen war er aller- und der Ministerin, geschlossen hatten, passiert ist. Ja,
dings nicht beteiligt –, sei daran erinnert: Es gab zu Zei- nach viel Gezeter bei CDU/CSU- und FDP-Haushältern
ten von Olaf Scholz, Ihres Amtsvorgängers, Frau von sind die 900 Millionen Euro vereinbarungsgemäß ent-
der Leyen, einen Kompromiss zwischen 16 Bundeslän- sperrt worden; das ist auch gut so. Wir wissen, dass vor
dern, der Bundesregierung und der SPD-Bundestags- Ort auf ein solches Signal gewartet wurde. Aber nein,
die Entfristung von 3 200 Stellen für Jobvermittler ist
fraktion, der damals in der Großen Koalition mutwillig
weder in der letzten noch in der vorletzten Sitzung ge-
von CDU/CSU und FDP zerschlagen wurde.
schehen. Nachdem es in der vorletzten Sitzung nicht
(Beifall bei der SPD) passiert war, habe ich Frau von der Leyen einen Brief
geschrieben und in freundlichem Ton daran erinnert,
Deshalb war es nicht ganz einfach, zu sagen: Wir ma- dass man sich an Vereinbarungen zu halten habe. Sie hat
chen jetzt einen zweiten, dritten Versuch. Aber wir ha- mich daraufhin angerufen – ich erkenne ihr Bemühen
ben das aus Verantwortung getan. auch an – und hat mir versichert, dass das nun mit Herrn
Schäuble geklärt und auch mit den Haushältern von CDU/
Es handelt sich um einen guten Kompromiss. Auch CSU und FDP abgestimmt sei. Daraufhin hat die Ministe-
wir mussten in ein paar Punkten nachgeben. Aber das ist rin zum 5. Mai, zum gestrigen Tag, im Haushaltsaus-
das Wesen parlamentarischer Kompromisse. Es wird nun schuss die Entfristung von 3 200 Stellen wie vereinbart
dafür gesorgt, dass das Regelmodell, die Zusammen- beantragt. Es war ein Amoklauf von FDP-Haushaltspoliti-
arbeit zwischen Bundesagentur für Arbeit und Kommu- kern, der die Ministerin gestern desavouiert hat. Sie ha-
nen bei der Betreuung und Vermittlung von Langzeit- ben das von der Tagesordnung gewischt. Wir wollen das
arbeitslosen aus einer Hand, besser umgesetzt werden Zustandekommen der Jobcenter-Reform. Aber ich warne
kann und dass es mehr Stabilität gibt. Wir haben ein Ge- die FDP, diesen Kompromiss, der die letzte Möglichkeit
samtpaket geschnürt, zu dem unter anderem gehört, dass darstellt, die Zerschlagung der Jobcenter zum 1. Januar
es sich bei der Hilfe aus einer Hand nicht um eine leere 2011 aufzuhalten, aufzuschnüren und zu gefährden. Sie
Hand handeln darf. Mit der Entsperrung von 900 Millio- verunsichern die Menschen vor Ort. Wir dürfen das nicht
nen Euro, die Schwarz-Gelb im Haushaltsausschuss ge- zulassen. Deshalb müssen Sie, bevor es die zweite und
sperrt hatte, können zumindest in diesem Jahr die Mittel dritte Lesung in diesem Haus gibt, dafür sorgen, dass die
für eine aktive Arbeitsmarktpolitik ausgereicht werden. 3 200 Stellen wie besprochen entfristet werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3811
Hubertus Heil (Peine)
(A) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Brigitte Homburger, ich freue mich, dass Sie jetzt anwesend (C)
Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sind, weil Sie Zeugin der Besprechung der Ministerin
mit den Fraktionsvorsitzenden sind. Herr Kauder war
Es waren stets die Sozialdemokraten und die Grünen auch dabei. Er hat daran erinnert, dass wir das Gesamt-
in diesem Haus, die darauf hingewiesen haben, dass eine
paket umzusetzen haben, und dazu gehören eben auch
Zerschlagung der Jobcenter das Schlimmste ist, was man
die Punkte, die wir bezüglich der Jobvermittler mitei-
in dieser Phase tun kann. Die Organisationsreform allein
nander vereinbart haben. Ich kann die FDP nur warnen:
reicht aber nicht aus, um auf dem Arbeitsmarkt besser zu
Nichtregierungsorganisationen sind im sozialen Bereich
werden. Hinzu kommen müssen – auch das ist eine Auf-
gabe in diesem Jahr – eine Veränderung im Bereich des für unsere Zivilgesellschaft eine unerlässliche Größe.
Leistungsrechts, die Umsetzung des Bundesverfassungs- Viele Menschen, die sich in Nichtregierungsorganisatio-
gerichtsurteils sowie bessere Hilfen für Kinder und Ju- nen, in NGOs, engagieren, leisten Wertvolles im sozia-
gendliche, aber auch für Erwachsene. Ferner ist es nach len Bereich, aber eine NGO namens FDP in der Regie-
wie vor wichtig, die Arbeitsmarktpolitik nicht nur in rung ist eine Zumutung, gerade im sozialen Bereich, in
warme Worte zu packen, Frau Ministerin. Vielmehr der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
müssen gerade angesichts einer noch nicht durchgestan- (Beifall bei der SPD – Sebastian Blumenthal
denen Wirtschaftskrise die entsprechenden Mittel für [FDP]: Sie sind die Zumutung! – Manfred
eine aktive Arbeitsmarktpolitik auch bereitgestellt wer- Grund [CDU/CSU]: Nicht sonderlich origi-
den. nell!)
Viele bei Schwarz und Gelb machen sich große Illu-
An dieser Stelle sollten Sie sich regierungsfähig zei-
sionen, was die Möglichkeit betrifft, nach der nordrhein-
gen, sich vertragstreu verhalten und nicht zu Verunsiche-
westfälischen Landtagswahl, wenn Sie, Herr Laumann,
rung beitragen. Wir dürfen nicht zulassen, dass durch die
nicht mehr im Amt sind,
Nervosität der FDP diese wichtige Reform, die im Inte-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ingrid resse von langzeitarbeitslosen Menschen in Deutschland
Fischbach [CDU/CSU]: Träumen Sie wei- ist, erneut gefährdet wird oder dadurch sogar scheitert.
ter!) Im Interesse der Stabilität vor Ort, aufgrund der Zeit, die
uns bei der Umsetzung dieser Reform wegläuft, sage
die aktive Arbeitsmarktpolitik zum Steinbruch für Ihre ich: Machen Sie Ihre Hausaufgaben, halten Sie sich an
verfehlte Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik zu Vereinbarungen, und wir werden es schaffen, die Orga-
machen. Ich will Herrn Barthle zitieren, den haushalts- nisationsreform, die zumindest wir immer wollten, auch
politischen Sprecher der CDU – Frau von der Leyen, Sie tatsächlich umzusetzen.
haben das mitbekommen –, der angekündigt hat, dass Ihr
(B) Haus zur notwendigen Haushaltskonsolidierung im Jahr Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (D)
2011 – strukturell 10 Milliarden Euro – ein Drittel bis
die Hälfte beitragen soll. Wenn man sich Ihren Haushalt (Beifall bei der SPD)
anschaut, stellt man fest, dass er sehr groß ist. Es ist na-
heliegend, sich den größten Haushalt anzuschauen. Aber Präsident Dr. Norbert Lammert:
wenn man genau hinschaut, fragt man: Wo soll denn da Der Kollege Dr. Heinrich Kolb ist der nächste Redner
gekürzt werden? Beim Zuschuss für die Rentenversiche- für die FDP-Fraktion.
rung doch wohl nicht. Bei der Unterstützung für Lang-
zeitarbeitslose, was Leistungen betrifft, doch wohl auch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nicht. Das können Sie nach dem Verfassungsgerichts- der CDU/CSU)
urteil auch gar nicht. Es bleibt der Titel für Eingliede-
rungshilfen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Wenn man ein Drittel oder die Hälfte von 10 Milliarden
Euro nimmt, dann sind das 3 bzw. 5 Milliarden Euro. Ihr Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
Haushaltstitel im Bereich der Eingliederungshilfen be- Erich Kästner gab es mal Das doppelte Lottchen. In den
trägt, glaube ich, 5 Milliarden Euro. Eine Kürzung in letzten Wochen – Herr Heil, nach Ihrer Rede muss ich
diesem Bereich wäre eine Katastrophe für die aktive Ar- das so sagen – habe ich einen „doppelten Heil“ kennen-
beitsmarktpolitik. gelernt.

Deshalb sage ich Ihnen: Wir wollen Hilfe und Betreu- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So dick
ung von langzeitarbeitslosen Menschen aus einer Hand. bin ich gar nicht!)
Das darf aber keine leere Hand sein, sondern wir brau-
Herr Heil, in den Beratungen haben Sie sich sehr kon-
chen diese Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik, um
struktiv – das will ich hier ausdrücklich sagen –, sehr
gerade denen, die es schwer haben, effektiv helfen zu
sachkompetent, auch sehr kompromissfähig gezeigt.
können.
Heute Morgen geben Sie hier aber den Scharfmacher. Ich
(Beifall bei der SPD) verstehe überhaupt nicht – das muss ich für meine Frak-
tion sehr deutlich sagen –, dass Sie sich heute Morgen
Wir stehen zu diesem Kompromiss, und ich habe den hier so gerieren.
Eindruck, die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU
auch. Herr Kolb, ich habe sogar den Eindruck, dass auch (Beifall bei der FDP – Anette Kramme [SPD]:
die Arbeitsmarktpolitiker der FDP dazu stehen. Frau Wer kriegt denn hier nichts auf die Reihe?)
3812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) Ich will das, was Sie hier gesagt haben, zurückweisen. Ich glaube nicht, dass Sie am Ende einem Ihrer SPD- (C)
Das war eine Schuldzuweisung an die Adresse der FDP. Landräte, den vielen Mitarbeitern in den Argen und vor
Im Haushaltsausschuss gab es gestern die Absetzung die- allem den vielen betroffenen Langzeitarbeitslosen erklä-
ses Tagesordnungspunktes, übrigens nicht nur dieses, son- ren können, warum Sie eine so bedeutende Reform wie
dern mehrerer Tagesordnungspunkte. Dem Vernehmen die, um die es hier geht, an dieser Frage hätten scheitern
nach hat das im Ausschuss keine große Rolle gespielt, lassen.
Frau Hagedorn. Deswegen, Herr Heil, habe ich mit Ver-
wunderung Ihre Wortmeldung in der Rheinischen Post (Beifall bei der FDP – Hubertus Heil [Peine]
gelesen: SPD droht mit Nein zu der Reform. [SPD]: Wir wollen das aufsplitten! Aber das
scheitert an Ihnen! – Anette Kramme [SPD]:
Dazu will ich hier sehr klar sagen – Herr Heil, ich bitte Das scheitert an Ihnen! Also wirklich!)
Sie, mir zuzuhören, weil das für Sie offensichtlich ein
ganz entscheidender Punkt ist –: Wir haben in der Ver- Das sollten Sie nicht tun. Sie sollten außerdem von An-
handlungsgruppe eine Reform erarbeitet. Am Schluss ha- fang an jeden Eindruck vermeiden, dass sich die SPD
ben wir sie mit drei verschiedenen Rahmenbedingungen gegen diese Reform sperren könnte.
garniert. Eine Rahmenbedingung war: Entsperrung von (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Du sollst nicht
Haushaltsmitteln in Höhe von 900 Millionen Euro. Das falsch Zeugnis reden!)
ist erfolgt. Eine weitere Rahmenbedingung war: Ent-
schließungsantrag zur Änderung des Art. 91 e Grundge- Ich will noch eine zweite Anmerkung machen. Aus
setz, durch den ohne Angabe einer Zahl im Grundgesetz Nürnberg erreicht uns heute die Nachricht, dass die
klargestellt wird, wie viele Optionskommunen es geben Jobcenter-Reform 500 Millionen Euro mehr kosten
darf, in welcher Größenordnung wir uns bewegen. Das wird.
wird kommen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Zerschla-
Wir haben außerdem sehr klar gesagt: Wir wollen gung wäre noch teurer!)
eine Verstetigung der Mittel. Darauf haben wir uns ver- Ich muss sagen: Eine solche Meldung finde ich ärgerlich
ständigt. Die Hand, von der Sie sprachen, ist nicht leer. und unverantwortlich zugleich.
Ich möchte, damit sich in der Öffentlichkeit kein fal-
scher Eindruck festsetzt, die Zahlen nennen: In 2006 be- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt!)
trugen die aus dem Bundeshaushalt getätigten Ist-
Gesamtausgaben für die Betreuung Langzeitarbeitsloser, Das sind meines Erachtens Rückzugsgefechte einiger
also Eingliederungsmaßnahmen und Verwaltung, 8,07 Mil- Ideologen in Nürnberg, die sich nicht damit abfinden
können, dass die ungeliebte Option jetzt entfristet und
(B) liarden Euro. In 2010 haben wir für diesen Bereich der Deckel deutlich angehoben wird. Hierzu muss man (D)
11 Milliarden Euro zur Verfügung. Die Hand, von der
Sie sprachen, ist nicht leer, sondern sie wurde in den sagen: Zukunft ist nicht einfach verlängerte Gegenwart.
letzten Jahren zunehmend gut gefüllt. Das, meine Da- Man kann das, was in der Vergangenheit gewesen ist,
men und Herren, will ich sehr deutlich festhalten. nicht einfach für die Zukunft hochrechnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Durch die Optimierung der Arbeit der Jobcenter, aber
der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Und was auch der Optionskommunen wollen wir eine Effizienz-
ist 2012 und 2013?) steigerung erreichen. Wir wollen dafür sorgen, dass die
Mittel besser genutzt werden, sodass wir im Ergebnis
Herr Heil, ich muss Ihnen sagen: Es gab in der Ver- trotz besserer Betreuung und trotz besserer Angebote an
handlungsgruppe keine explizite Verständigung auf die die Langzeitarbeitslosen vielleicht – warum nicht? – mit
Entsperrung der genannten 3 200 Stellen. geringeren Mitteln auskommen, ohne dass dies zulasten
des Einzelnen geht. Das muss unser gemeinsames Ziel
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist aber sein.
eine Nebenberatung! In der Fraktionsbespre-
chung schon! Das wissen Sie auch, Herr Vor diesem Hintergrund ärgert mich diese Meldung
Kolb!) sehr. Sie hat uns in letzter Minute erreicht und basiert auf
einem Gutachten, das im Dezember 2008 in Auftrag ge-
– Es gab in der Verhandlungsgruppe keine Vereinbarung. geben wurde. Wer es damals in Auftrag gegeben hat und
Es gab nach allem, was ich weiß, auch in der Spitzen- mit welcher Zielrichtung es damals vermutlich in Auf-
runde keine solche Verständigung. trag gegeben wurde, ist jedenfalls mir sehr klar.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herr Kauder er- Ich will noch etwas sagen: Was die Performance, die
innert sich aber! Frau Ministerin beantragt das Leistung und die Abwicklung, anbelangt, sehe ich die
ja wohl!) Argen, auch in ihrer bisherigen Form, und die Options-
Deswegen mahne ich hier zur Ruhe. Ich bitte Sie, die Sa- kommunen sehr wohl auf Augenhöhe. Ich glaube, dass
che nicht zu hoch zu hängen. Erinnern Sie sich an es aufgrund der neuen Organisation, die wir schaffen
Herbert Wehner: Wer rausgeht, muss auch wieder rein- wollen, und des transparenten Steuerungsmodells, mit
kommen. dem sehr zeitnah nachgeregelt werden kann, dazu kom-
men wird, dass sich diese gleiche Augenhöhe erst recht
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Das gilt für einstellen wird und die Optionskommunen ihre Vorteile,
die FDP!) nämlich die größere Nähe zum Arbeitsmarkt, die dort
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3813
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) zweifelsohne gegeben ist, ausspielen können. Deswegen hat bereits in der letzten Sitzung des Haushaltsausschus- (C)
ärgert mich diese Nachricht, wie gesagt, sehr. ses bestätigt, dass sie mit ihrem Haus die Entfristung der
Stellen befürwortet. Auch vom Finanzminister haben
Beides sollte uns aber nicht davon abhalten, den Blick wir die Bestätigung, dass er die Entfristung der Stellen
auf die Ergebnisse dieser Reform zu richten. Ich hätte befürwortet.
mir erhofft, dass in der heutigen Debatte deutlich wird,
was wir mit dieser Reform erreicht haben – nach zwei Wir sparen nicht einen Cent, wenn diese Stellen nicht
Jahren Großer Koalition, in denen nichts passiert ist, entfristet werden; denn die 3 200 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter sind ja schon da. Im März erging ein Ar-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das hat aber nicht beitsgerichtsurteil, mit dem sich nach Aussage von
an uns gelegen! Das lag an der Union!) Herrn Weise 500 befristet Beschäftigte in eine entfristete
nach einem Regierungswechsel im Bund und nach ei- Beschäftigung einklagen mussten. Was da geschieht
nem harten Einspruch aus Hessen; – knapp 10 000 Menschen haben noch befristete Ar-
beitsverträge –, ist nicht in Ordnung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
das will ich sehr deutlich sagen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Abg. Bettina Hagedorn [SPD] meldet sich zu Kommen Sie bitte zur Frage.
einer Zwischenfrage)
Bettina Hagedorn (SPD):
Das ist nämlich eine wesentliche Voraussetzung dafür,
Vor diesem sachlichen Hintergrund und nicht nur vor
dass wir dieses Thema heute überhaupt behandeln kön-
dem Hintergrund von Protokollnotizen von Verabredun-
nen.
gen muss die FDP eine Antwort darauf geben, wie sie
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehen Sie mal die Reform der Jobcenter mit Leben erfüllen will. Ein
in Ihren Koalitionsvertrag! – Anette Kramme Betreuungsverhältnis von 1:75 bzw. 1:150 war verabre-
[SPD]: Was wir haben, ist ein Hü und Hott der det. Wenn Sie diesen gut eingearbeiteten 3 200 Mitarbei-
Regierung!) tern keine berufliche Perspektive geben, riskieren Sie,
dass diese Mitarbeiter die BA verlassen und durch un-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: eingearbeitete ersetzt werden müssen.
Herr Kollege Kolb, eigentlich ist Ihre Redezeit zu Darum sind Sie diesem Parlament bei der Einbrin-
Ende – gung dieses Gesetzentwurfs eine Antwort schuldig, wie
Sie sich hierzu in der nächsten Sitzung des Haushalts-
(B) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): ausschusses verhalten werden. (D)
Umso mehr freue ich mich über eine Zwischenfrage, (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Herr Präsident.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vielen Dank, Frau Kollegin Hagedorn, auch dafür,
– aber Frau Hagedorn würde Ihnen gerne eine Frage dass ich noch ein bisschen länger am Rednerpult verwei-
stellen. Ich lasse das zu. Lassen Sie es auch zu? len darf. Ich will Ihre Frage gerne beantworten: Zu-
nächst einmal sollten wir Stellen, die mit Sachgrund be-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): fristet waren, und Stellen, die ohne Sachgrund befristet
Ja, sicher; klar. waren, auseinanderhalten. Wir reden über ursprünglich
10 000 Stellen, die rollierend sozusagen immer wieder
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: befristet besetzt wurden. Von diesen 10 000 Stellen sind
Bitte schön. 6 800 entfristet worden; damit bleiben nur noch 3 200 Stel-
len.
Bettina Hagedorn (SPD): (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herr Kollege Kolb, ich glaube, es wäre nicht verant- NEN]: Was passiert mit diesen 3 200?)
wortbar, wenn Sie als Redner der FDP gleich das Mikro- Jeweils nach sachlichen Beratungen im Haushaltsaus-
fon verlassen würden, ohne dem Hohen Haus eine klare schuss ist in zwei Tranchen die Entsperrung vorgenom-
Antwort auf die Frage gegeben zu haben, wie die FDP men worden. Die 3 200 Stellen, über die wir jetzt reden,
mit der Entsperrung der 3 200 Stellen umgehen will. sollten eigentlich erst 2011 an die Reihe kommen. Jetzt
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) sollen sie schon im Haushalt 2010 berücksichtigt wer-
den.
Sie waren diejenigen, die dieses Thema gestern im
Haushaltsausschuss gemeinsam mit Ihrem Koalitions- (Bettina Hagedorn [SPD]: Die sind schon im
partner von der Tagesordnung genommen haben. Sie Haushalt!)
können nur gemeinsam handeln; das wissen wir. Aber – Die sind schon im Haushalt, aber noch gesperrt. Des-
wir wissen auch, dass Sie die Initiatoren waren. Dem wegen, Frau Hagedorn, haben Sie sich die Antwort ei-
Haushaltsausschuss liegt ein Antrag der Bundesagentur gentlich selbst gegeben.
für Arbeit auf Entsperrung vor, der vom Arbeits- und So-
zialministerium befürwortet wird. Frau von der Leyen (Bettina Hagedorn [SPD]: Nein!)
3814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) Mir ging es darum, festzustellen, dass in der Verhand- winnen, dass in den Fragen, die wir heute behandeln, (C)
lungsgruppe, Herr Heil – anders als Sie es dargestellt ha- zwischen SPD und Schwarz-Gelb extreme politische
ben –, keine Zusage gemacht worden ist. Unterschiede bestehen. Aber ich finde, an dieser Stelle
muss man daran erinnern, dass die Beratungsgrundlage
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber unter den
ein Gesetzentwurf ist, den SPD, CDU/CSU und FDP ge-
Fraktionsvorsitzenden! Das wissen Sie doch!)
meinsam eingebracht haben, und dass es diese Parteien
Ich gehe davon aus, dass man sich im Haushaltsaus- waren, die gemeinsam den Geist von Hartz IV mitgetra-
schuss wie bei den ersten beiden Tranchen zusammen- gen und sich davon noch nicht wirklich verabschiedet
setzt, sachlich erwägt und nach der Klärung offener Fra- haben.
gen – offensichtlich gibt es offene Fragen; ich habe mir
(Beifall bei der LINKEN)
das von der Kollegin Winterstein erläutern lassen; das
hat also einen Hintergrund – sachlich entscheidet. Der Der vorliegende Gesetzentwurf sieht eine Auswei-
Haushaltsausschuss ist in seiner Entscheidung, wie er tung der Optionskommunen vor, also jener Gemein-
das handhabt, vollkommen frei, Frau Hagedorn; das wis- den, die die Betreuung der Langzeitarbeitslosen in Ei-
sen Sie als Mitglied dieses Gremiums selbst am besten. genregie übernommen haben. Diese Ausweitung ist zu
Was gestern dargestellt worden ist – da seien Zusagen kritisieren und wird von den Linken so nicht mitgetra-
gegeben worden, und weil die nicht eingehalten würden, gen.
scheitere die Reform –, ist in dieser Form nicht haltbar,
Herr Heil; das will ich sehr deutlich sagen. Mir ist bewusst, dass in mancher Kommune die Auf-
fassung herrscht, die Sache lieber vor Ort selber in die
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sonst hätte die Hand zu nehmen, um nicht der Spitze der Bundesagentur
Ministerin das gar nicht beantragt! Bleiben Sie in Nürnberg ausgeliefert zu sein. Angesichts der real
bei der Wahrheit!) existierenden Verhältnisse in der Bundesagentur ist eine
– Das rechtfertigt keine Schuldzuweisung an die FDP. solche Einstellung sogar nachvollziehbar. Diese Kritik
bezieht sich ausdrücklich nicht auf die Mitarbeiterinnen
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch!) und Mitarbeiter.
Ihr Verhalten von gestern kommt mir vor wie das eines (Beifall bei der LINKEN)
Kleinkindes, das sagt: Wenn du mir mein Spielzeug
nicht gibst, dann greife ich auf die heiße Herdplatte! Die Linke kritisiert vielmehr, dass im Zuge der Hartz-
Gesetze die Bundesagentur allein auf einen betriebswirt-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie reden über schaftlichen Auftrag verpflichtet worden ist und dass da-
die FDP!) bei der sozialpolitische Auftrag und die innerbetriebliche
(B) Demokratie auf der Strecke geblieben sind. Deswegen (D)
– Sie sollten die heiße Herdplatte nicht anfassen! Diese
sagen wir ganz deutlich – egal, wie wir heute entschei-
Reform ist wichtig für unser Land und sollte nicht mit
den –: Die Bundesagentur kann nicht so weiteragieren
vorgeschobenen, fadenscheinigen Erwägungen in Ge-
wie bisher.
fahr gebracht werden.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, nein, (Beifall bei der LINKEN)
nein! Wir haben kein Problem damit!) So verständlich der Ärger in mancher Kommune über
Diese Reform ist wichtig, weil sie gut ist für die Men- die Bundesagentur ist, so wenig ist die Ausweitung der
schen in diesem Land, die von Langzeitarbeitslosigkeit Optionskommunen die Lösung dieses Problems. Wir alle
betroffen sind, aber auch weil sie dazu beiträgt, dass die sollten uns vielmehr fragen: Droht nicht bei einer weite-
Verwaltung der Langzeitarbeitslosigkeit effizienter wird, ren Kommunalisierung eine noch stärkere Kannibalisie-
damit diejenigen, die keinen Arbeitsplatz haben, bessere rung, das heißt ein Überbietungswettbewerb zwischen
Chancen bekommen, wieder einen Arbeitsplatz zu fin- den Kommunen? Droht nicht am Ende sogar eine finan-
den. Das ist uns wichtig, das ist die Leitlinie unserer zielle Mehrbelastung für die Kommunen, weil sie inner-
Politik. Deswegen, Herr Heil, werden wir so handeln, halb der Argen nur einen kleinen Teil der Verwaltungs-
wie ich es dargestellt habe. kosten tragen mussten? Ist es wirklich sachgerecht, dass
wir im Fall der Optionskommunen zwar als Bund zah-
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. len, aber weder die Fach- noch die Rechtsaufsicht haben,
also im Klartext nichts zu sagen haben?
(Beifall bei der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]:
Meine Frage ist nicht beantwortet!) Ich meine, Erwerbslosigkeit ist ein gesamtgesell-
schaftliches Problem, das nicht auf die Kommunen ab-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gewälzt werden darf. Sie können doch nicht ernsthaft
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Kipping von der wollen, dass in der Arbeitsmarktpolitik das Prinzip
Fraktion Die Linke. Flickenteppich herrscht.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Sie sprechen sich aber offensichtlich für die Etablierung
Katja Kipping (DIE LINKE): des Modells Flickenteppich aus. Gegen dieses Modell
Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Wenn man gibt es Kritik aus ganz unterschiedlichen Richtungen,
die Debatte verfolgt, dann könnte man den Eindruck ge- die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3815

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der einheitliche Arbeitsmarkt darf nicht aus dem (C)
Frau Kollegin Kipping, darf ich Sie kurz unterbre- Blick geraten … Eine Ausweitung des Optionsmo-
chen? Der Kollege Grund würde Ihnen gerne eine Zwi- dells ist problematisch und würde die Strukturpro-
schenfrage stellen. bleme weiter verschärfen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen-
Katja Kipping (DIE LINKE): und Sozialhilfeinitiativen lehnt ebenfalls die Kommuna-
Ich freue mich immer über eine Verlängerung meiner lisierung ab mit der Begründung, eine Kommunalisierung
Redezeit. Bitte schön. der Arbeitsmarktpolitik verstärke die Rechtsunsicherheit
der Betroffenen, was wiederum die Rechtsposition von
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Erwerbslosen verschlechtere.
Herr Grund, bitte schön. Auch der Bundesrechnungshof kritisiert:
Mit der … Erweiterung des kommunalen Options-
Manfred Grund (CDU/CSU):
modells wird ein mögliches einheitliches System
Vielleicht ist es nicht nur eine Verlängerung Ihrer Re- der Grundsicherung dauerhaft aufgegeben.
dezeit, sondern auch eine Klarstellung, Frau Kollegin.
Sie sprechen sich für Ihre Fraktion und damit für die Dies führt zu heterogenen Strukturen im Bereich der
Linke gegen eine Ausweitung der Kommunalisierung Grundsicherung und birgt das Risiko der Entstehung
aus, wie sie im Gesetzentwurf angelegt ist. Können Sie zweier Klassen erwerbsfähiger Hilfebedürftiger. Fassen
bestätigen, dass es Kreistage gibt, in denen sich die Frak- wir zusammen: Erwerbslose, Gewerkschaften und der
tion Die Linke ausdrücklich dafür ausgesprochen hat, Bundesrechnungshof kritisieren die Optionskommunen.
dass ihr Landkreis, der bisher einer Arbeitsgemeinschaft Deswegen mein Appell an Sie: Überlegen Sie sich noch
angehört hat, aus sehr nachvollziehbaren Gründen zur einmal, ob wir nicht die Erweiterung der Optionskom-
Optionskommune wird? Können Sie bestätigen, dass die munen aus dem Gesetzentwurf herausstreichen können.
Linke, die Sie hier vertreten, bei weitem nicht die Linke
(Beifall bei der LINKEN)
ist, die sich für die Kommunalisierung ausgesprochen
hat? Wir als Bund tragen nicht nur die Verantwortung für
Strukturen, sondern wir tragen auch die Verantwortung
Katja Kipping (DIE LINKE): für die Beratungsqualität und die Arbeitssituation des
Danke schön. Das gibt mir die Gelegenheit, näher auf Personals. Beides muss deutlich verbessert werden;
den Punkt einzugehen, den ich gerade angesprochen denn wenn zu wenig Personal auf zu viele Erwerbslose
trifft, dann bedeutet das nicht nur für die Mitarbeiter eine
(B) hatte. Die Kommunalpolitiker vor Ort sind in der miss- (D)
lichen Situation, die Suppe auslöffeln zu müssen, die ih- Überarbeitung, sondern das bedeutet auch für die Er-
nen zum Beispiel im Zuge der Hartz-Gesetze einge- werbslosen, dass die Beratungsqualität notwendiger-
brockt worden ist weise schlechter wird. So führt der Personalmangel in so
manchem Jobcenter zum Beispiel dazu, dass inzwischen
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist viele auf die Bearbeitung ihres Widerspruchs zwölf Mo-
es!) nate warten müssen. Nur zur Erinnerung: Im Gesetz
und die dazu geführt hat, dass wir mit einer Bundesagen- steht, dass jeder einen Anspruch darauf hat, dass der Wi-
tur konfrontiert sind, die nur noch nach irgendwelchen derspruch nach drei Monaten bearbeitet ist. Aber die
betriebswirtschaftlichen Zahlen funktioniert und eine Mitarbeiter kommen gar nicht mehr hinterher.
Arbeitsmarktpolitik macht, von der so manche Kommu- Jetzt verweist die SPD ganz gerne darauf, dass man
nalpolitiker glauben, dass sie das besser machen könn- sich im Gesetzentwurf zu Betreuungsschlüsseln äußert.
ten. Dass man das vor Ort so sieht, finde ich zutiefst ver- Betreuungsschlüssel meint die Anzahl der Arbeitsuchen-
ständlich. den, die von einem Fallmanager zu betreuen sind. Doch
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) was im Gesetz steht, sind nur unverbindliche Orientie-
rungszahlen. Das kritisiert auch der Hauptpersonalrat
Aber wir als Bundespolitiker haben die Verantwor- der Bundesagentur für Arbeit zu Recht. Ich finde, das
tung, das, was wir wollen, auch konzeptionell umzuset- muss sich ändern. Wir als Linke schlagen zur Verbesse-
zen. Wir als Bund hätten im Gegensatz zu den Kommu- rung der Beratungsqualität vor: Wir brauchen eine bes-
nalpolitikern die Möglichkeit, der Bundesagentur sere Personalausstattung, und wir brauchen vor allen
endlich wieder einen sozialpolitischen Auftrag zu ge- Dingen verbindliche Betreuungsschlüssel.
ben. Wir als Bund hätten die Möglichkeit, ein repressi-
(Beifall bei der LINKEN)
ves Arbeitslosengeld II durch eine sanktionsfreie Min-
destsicherung zu ersetzen. Wenn wir das so durchgesetzt Wir brauchen eine regelmäßige Weiterbildung der Be-
hätten, dann könnten die Kommunalpolitiker vor Ort schäftigten. Die unabhängigen Beratungen müssen deut-
möglicherweise anders entscheiden. lich unterstützt werden. Unabhängige Beratung meint,
dass Erwerbslose Erwerbslose beraten; denn eine gute
(Beifall bei der LINKEN)
Beratung bedeutet sowohl eine bestmögliche Unterstüt-
Es gibt aus ganz verschiedenen Richtungen Kritik an zung bei der Arbeitsplatzsuche als auch eine weitge-
den Optionskommunen. Im Beschluss des DGB-Vor- hende Aufklärung über die Rechte. Es geht nicht darum,
standes beispielsweise heißt es: immer nur danach zu suchen, wo man Sanktionen ver-
3816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Katja Kipping
(A) hängen kann. Insofern ist grundsätzlich zu sagen: Wenn Ich will es deutlich sagen: Die Frage, ob Jobcenter (C)
wir wollen, dass es eine wirklich gute Beratung gibt und die Optionskommunen vernünftig mit Personal
– viele haben heute hier gesagt, dass es auch um die In- ausgestattet sind, ist keine Petitesse. Zu Recht hat die
halte geht –, dann muss sich einiges grundsätzlich än- Ministerin darauf hingewiesen, dass die Qualität der Be-
dern. Statt der 1-Euro-Jobs und des Arbeitszwangs brau- ratung der Arbeitslosen natürlich von der Organisations-
chen wir öffentliche Beschäftigung in sinnvollen struktur abhängt, also davon, was überhaupt möglich ist;
Tätigkeiten. aber im Kern hängt sie doch davon ab, ob qualifiziertes
Personal da ist, um die Arbeitslosen tatsächlich zu för-
(Beifall bei der LINKEN) dern und zu fordern.
Statt des repressiven Arbeitslosengeldes II brauchen wir (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
eine sanktionsfreie Mindestsicherung. DIE GRÜNEN und der SPD)
(Beifall bei der LINKEN) Deswegen sagen auch wir: Die Entfristung muss her.
Wir haben von Anfang an für eine Grundgesetzänderung
Jetzt habe ich eine gute Nachricht für Sie. Sie brauchen gekämpft. Wir haben von Anfang an eine Hilfe aus einer
gar nicht Ihre kleinen Unterschiede untereinander zu be- Hand gefordert. Uns war immer vollkommen klar, dass
tonen. Sie haben heute und hier die Möglichkeit, für ei- eine vernünftige Personalausstattung her muss. Sonst ist
nen grundlegend anderen Ansatz zu stimmen. Die Linke das eine leere Hülle, die wir nicht akzeptieren können.
wird heute Abend einen Antrag zur Abstimmung stellen,
in dem wir deutlich machen, was unsere Alternativen zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hartz IV sind. Diesem Antrag können Sie zustimmen, und bei der SPD)
und dann hätten wir eine deutlich bessere Situation bei Frau Ministerin, ich habe mich sehr gefreut, mit wie
den Jobcentern oder wie immer diese dann heißen wer- viel Engagement Sie heute hier diesen Kompromiss ver-
den. teidigt und für ihn gekämpft haben. Aber nehmen Sie es
Danke schön. mir nicht übel: Ich finde ganz ehrlich, Sie haben sich re-
lativ spät dazu entschieden, auch eine Mutter des Erfolgs
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar der Grundgesetzänderung zu werden.
Enkelmann [DIE LINKE]: Und eine wirkliche
Reform!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist wahr!)
Ein bisschen befremdlich ist das für mich schon,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wenn Sie sich jetzt als heilige Ursula der modernen Ar-
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer vom beitsverwaltung präsentieren, wo Sie doch bei Ihrem
(B)
Bündnis 90/Die Grünen. Amtsantritt – so viel zu der historischen Wirklichkeit – (D)
diese Idee zum völligen Scheitern erklärt haben.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Frau Pothmer, ist Ihnen das Schicksal der hei-
Kolb, ich kann Ihren Redebeitrag und insbesondere die ligen Ursula bekannt?)
Beantwortung der Frage von Frau Hagedorn wirklich Im Januar haben Sie im Bundestag noch gesagt, jetzt sei
nicht anders verstehen, als dass Sie bereit sind, diesen Pragmatismus angesagt, und haben sich hinter Ihren
Kompromiss wieder aufzuschnüren. Rechtspolitikern versteckt. Auf Sie konnten wir uns da-
mals in dieser Frage nicht verlassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Sie hätten keinen Finger für dieses Projekt gerührt,
LINKEN – Ute Kumpf [SPD]: Wortbruch ist wenn es nicht die Palastrevolte von Roland Koch gege-
das, Kollege Kolb!) ben und er Sie dazu gezwungen hätte.
Ganz offensichtlich sind Sie nicht vertragstreu. (Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Ich muss sagen: Für mich wäre das auch ein bisschen eh-
DIE GRÜNEN und der SPD) renrührig, von jemandem wie Herrn Koch, der die Ar-
beitslosen beschimpft und sie in Zwangsarbeit drängen
Es ist für mich eine etwas schwierige Situation, jetzt will,
Herrn Heil verteidigen zu müssen und mich schützend
vor ihn zu stellen. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh, oh!)

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vom Profil her den Sie selber zurückgepfiffen haben, jetzt auf Kurs ge-
reicht das nicht!) bracht werden zu müssen. Das war sicherlich keine
schöne Situation für Sie.
Aber mit meinem breiten Kreuz wird das schon gehen.
Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und Herrn Heil vor- (Zuruf von der FDP: Mal ein bisschen verbal
werfen, er würde den Kompromiss infrage stellen, dann abrüsten!)
verkehren Sie wirklich Ursache und Wirkung. Hoffen wir, dass das zukünftig anders wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3817
Brigitte Pothmer
(A) Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/ Ich weiß natürlich, lieber Herr Heil, dass dies alles (C)
CSU- und FDP-Fraktion, stehen heute hier und tun so, auf dem Mist der SPD gewachsen ist.
als seien Sie die Väter dieses Kompromisses gewesen.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Unterschätzen
Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag genau das Gegen-
Sie die Ministerin nicht!)
teil vereinbart. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag als
Ziel die Zerschlagung der Jobcenter vereinbart, und jetzt Daran zeigt sich, dass Ihre Wandlung vom Saulus zum
stellen Sie sich hier hin und sagen, Sie seien die Helden Paulus nicht ganz so geschmeidig verlaufen ist, wie Sie
und hätten die Lösung vorangebracht. jetzt tun. Im Herzen sind Sie einfach Zentralisten.
Die Betroffenen sind die Gewinner, die schwarz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gelbe Bundesregierung ist zum Glück die Verliererin. sowie des Abg. Patrick Döring [FDP])
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Da beißt die Maus keinen Faden ab. In Wirklichkeit
DIE GRÜNEN und der SPD) trauen Sie den Kommunen nicht über den Weg.
Dass jetzt insbesondere die CDU/CSU-Bundestagsfrak- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
tion, an deren Widerstand die Pläne vor zwei Jahren Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Ich bin
schon einmal gescheitert sind, korrigiert worden ist, ist Niedersachse und kein Zentralist! Sie auch!)
wirklich eine Genugtuung für viele, die dafür gekämpft
Ich will jetzt nicht im Detail auf die Entwürfe einge-
haben, aber insbesondere für die Arbeitslosen.
hen. Das werden wir bei der Anhörung und in den Aus-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wieso? schussberatungen machen. Aber ich will hier sehr deut-
Wir haben uns doch gut durchgesetzt!) lich sagen: Ich freue mich, dass in dem Gesetzentwurf
der Gedanke angelegt ist, dass es in der Arbeitsmarktpo-
Wir haben schon im April 2008 die Grundgesetz-
litik zukünftig dezentraler zugehen wird. Aber das ist
änderung gefordert. Ich kann mich noch gut daran erin-
nur der erste Schritt. Ich verspreche Ihnen, wir werden
nern: Da haben Sie uns für verrückt erklärt. Sie haben
ein Augenmerk darauf richten, ob sich das tatsächlich er-
gesagt: Da sind sie wieder, die grünen Spinner. Ich kann
füllt.
nur sagen: Willkommen im Klub!
Vorhin ist gesagt worden: Die Organisationsstruktur
Ich freue mich jedenfalls, dass wir heute über die Um-
muss gefüllt werden, man darf nicht mit leeren Händen
setzung genau unseres Vorschlags reden. Aber ich will
dastehen. Frau Ministerin, aber wenn ich mir Ihre Ver-
auch kein Geheimnis daraus machen, dass wir uns mehr
mittlungsoffensive, zu der ich noch einen Satz sagen
gewünscht hätten. Wir hätten uns gewünscht, dass die
will, anschaue, dann kann ich nur sagen: In Wirklichkeit
Kommunen tatsächlich Wahlfreiheit haben. Was
(B) ist das kalter Kaffee und Propaganda. Sie versuchen, die (D)
spricht dagegen, wenn vor Ort darüber entschieden wird,
geltende Gesetzeslage als Neuheit zu verkaufen. Damit
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sind Sie an der Stelle – ich finde, wirklich zu Recht – auf
die Nase gefallen. Eine echte Verbesserung für die Ar-
welche Organisation mit welcher Organisationsstruktur
beitsuchenden ist dabei nicht herausgekommen.
die Langzeitarbeitslosen fördert? Jetzt haben wir eine
Begrenzung auf 110 Optionskommunen. Es gibt in der Herr Heil hat schon darauf hingewiesen: Es droht
Sache nicht eine einzige Begründung dafür. Diese Zahl noch Schlimmeres. Die Haushälter der CDU/CSU-Frak-
ist ausschließlich parteipolitischer Gesichtswahrung ge- tion haben angekündigt, den Etat des Arbeitsministers
schuldet. Die Beschränkung auf diese Zahl – das sieht als Steinbruch für die Haushaltskonsolidierung zu nut-
man jetzt schon – wird weitere Konflikte hervorrufen. zen. Ich kann Ihnen sagen: Wenn in den nächsten Jahren
3 bis 5 Millionen Euro in diesem Bereich eingespart
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
werden,
DIE GRÜNEN)
(Manfred Grund [CDU/CSU]: 3 bis 5 Millionen
Der Landkreistag hat bereits jetzt 100 Kommunen
sind nicht viel bei dem Etat!)
ausgemacht, die gern optieren wollen. Egal, wie objektiv
Sie das Auswahlverfahren zu gestalten versuchen, die dann nutzt die Organisationsstruktur den Arbeitslosen
Konflikte sind vorprogrammiert. Es wird wieder Kom- letztlich nicht viel.
munen geben, die eine Zwangsehe mit der Bundesagen-
Ich komme zum Schluss. Die Süddeutsche Zeitung
tur für Arbeit eingehen müssen. Das sind keine guten
hat getitelt: „Dämpfer für Frau von der Leyen“, als klar
Voraussetzungen dafür, Langzeitarbeitslose gut zu be-
wurde, dass sich doch eine Einigung auf die Grundge-
treuen, meine Damen und Herren.
setzänderung abzeichnet. Darunter heißt es, dass dies für
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Arbeitsministerin vor allen Dingen eines bedeuten
würde: Sie ist angeschlagen. – Wir Grüne hoffen im In-
Ich finde übrigens auch, dass das Zweidrittelquorum
teresse der Arbeitslosen, dass Sie sich von diesem Ange-
für die Kreistage und für die Stadträte ein Fehler ist. Sie
schlagensein schnell wieder erholen. Aber dafür brau-
greifen damit tief in die kommunale Selbstverwaltung
chen Sie mehr Courage als Camouflage.
ein. Ich sage Ihnen, dieses Quorum wird am Ende auch
ein Verhinderungsinstrument sein. Ich danke Ihnen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD)
3818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: waltung zusammengesetzt worden ist: Bei der Gründung (C)
Das Wort hat jetzt der Minister für Arbeit, Gesundheit des SGB II gab es erst einmal einen kommunalen Teil,
und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Karl- der sich früher in der Sozialhilfe auskannte. Dann ist mit
Josef Laumann. der Bundesagentur und den Arbeitsämtern der Teil des
Bundes hinzugefügt worden. Außerdem ist relativ viel
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Personal von vielen Personalserviceagenturen rund um
neten der FDP – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ den öffentlichen Dienst in Deutschland aufgenommen
DIE GRÜNEN: Abschiedsrede!) worden. Wir haben Argen, bei denen es zwischenzeitlich
mehrere Personalräte gab. Dieser Gesetzentwurf hat im
Karl-Josef Laumann, Minister (Nordrhein-Westfa- Übrigen die einheitliche Personalführung in Argen nicht
len): geregelt. Der damalige Vorschlag von Nordrhein-West-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- falen und Rheinland-Pfalz, der hier keine Mehrheit ge-
ren! Zunächst einmal möchte ich sagen, dass im Bundes- funden hat, hatte das geregelt. Jetzt werden auf jeden
tag die Rechtfertigung für die gesamte SGB-II-Gesetz- Fall zwei Personalkörper beibehalten.
gebung vor allen Dingen war, dass wir wollten, dass die
Menschen, die in der Sozialhilfe sind, und dass die Men- Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn man ein versierteres
schen, die in der Arbeitslosenhilfe sind, Betreuung und Personal will, muss man zu mehr Stammpersonal kom-
Begleitung aus einer Hand erfahren. men.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
neten der FDP) In den Argen und Arbeitsgemeinschaften mit getrennter
Ich bin deswegen sehr froh, dass es nach dem vielen Aufgabenwahrnehmung ist die Situation zurzeit so, dass
Hin und Her seit dem 20. Dezember 2007, als das Bun- 26 Prozent des Teils, der vom Bund gestellt wird, befris-
desverfassungsgericht in einem Urteil die jetzige Form tete Arbeitsverhältnisse haben. Wenn ein Privatunterneh-
der Argen mit dem Grundgesetz als nicht vereinbar er- men 26 Prozent befristete Arbeitsverhältnisse hätte, stünde
klärt hat, jetzt so aussieht, als ob wir jetzt die recht- es wahrscheinlich im Fokus der Kritik, zumindest des ei-
lichen Grundlagen in unserer Verfassung dafür schaf- nen oder anderen Politikers in der Bundesrepublik
fen könnten, in der Bundesrepublik Deutschland bei der Deutschland.
Hilfestellung aus einer Hand zu bleiben. Ich bin im Übri- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
gen der Meinung und habe das oft gesagt, dass die Legi- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mit Si-
timation des SGB II wegfällt, wenn wir diese Hilfe nicht cherheit!)
mehr aus einer Hand geben können.
(B) Selbst wenn jetzt die Entfristung durchgeführt wird, ha- (D)
(Beifall bei der CDU/CSU) ben wir immer noch zwischen 16 und 18 Prozent befris-
Zweiter Punkt. Wir haben allen Grund, auch einmal tete Arbeitsverhältnisse. Wenn man wirklich will, dass
kritisch über die Organisation des SGB II zu reden. das Personal rechtssicher arbeiten kann, dann brauchen
Wir haben nämlich zurzeit die Situation, dass in vielen wir eine stärkere Entfristung, gemeinsame Schulungen
Regionen unseres Landes jeder zweite Bescheid einer und sehr viel anderes, um das hinzubekommen.
Arge oder einer Optionskommune einer Überprüfung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
durch das Sozialgericht oder das Verwaltungsgericht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
– das ist in den Ländern unterschiedlich geregelt – am
Ende nicht standhält. Eine Behörde, die fast jeden zwei- Jetzt kommt ein weiterer Punkt, der mir sehr wichtig
ten Prozess verliert, hat ein erhebliches Problem, auch ist. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass in diesem
wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl in Gesetzentwurf steht, dass man einen Betreuungsschlüs-
den Optionskommunen als auch in den Argen sicherlich sel bei den Jugendlichen von 1 : 75 und bei den Erwach-
sehr engagiert sind. Aber wenn man rechtssichere senen von 1 : 150 anstrebt. Ich persönlich bin nämlich
Bescheide will, dann hat das auch etwas mit dem nach vielen Jahren Arbeit in diesen Bereichen eindeutig
Rechtsstaat zu tun, und wenn der Rechtsstaat Bundesre- zu dem Ergebnis gekommen, dass wir den Menschen,
publik Deutschland gegenüber den Schwächsten in unse- die unter das SGB II fallen, nur dann helfen können,
rer Gesellschaft so schwach dasteht, dass sich in diesem wenn wir nicht nur eine Akte kennen, sondern wenn der-
Klientel herumspricht: „Wenn du gegen die Behörde jenige, der für die Zuteilung der Maßnahmen verant-
klagst, gewinnst du mit 50-prozentiger Wahrscheinlich- wortlich ist, auch den betreffenden Menschen kennt.
keit“, dann ist das eine Katastrophe. Wenn ein Fallmanager 75 Jugendliche begleiten soll,
dann erwarte ich schlicht und ergreifend, dass er nicht
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Die Bescheide
nur deren Namen kennt, sondern auch deren Vornamen.
sind eine Katastrophe!)
Bei 75 Leuten ist das machbar; jeder Lehrer muss sich
Deswegen gehört dazu, dass man ein Gesetz braucht, mehr als 75 Namen merken.
das klar strukturiert ist und administrierbar ist. Ich sehe,
Das Zweite ist: Bei 150 will ich das auch. Denn wir ha-
dass der Vorschlag, der hier heute gemacht wird, ein
Weg in diese Richtung ist. ben in der Arbeitsmarktpolitik in Wahrheit doch folgen-
des Problem: Wir können heute nicht jedem Langzeitar-
Zweitens brauchen Sie eine fachlich versierte Ver- beitslosen eine Stelle anbieten. Wir haben in Nordrhein-
waltung. Jetzt schauen Sie sich einmal an, wie die Ver- Westfalen zurzeit 500 000 arbeitslose Menschen, die un-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3819
Minister Karl-Josef Laumann (Nordrhein-Westfalen)
(A) ter das SGB II fallen, die nach der Statistik arbeitsfähig gleich. Selbst in einem Bundesland ist er nicht gleich. Die (C)
sind. Es gibt in Nordrhein-Westfalen aber keine 500 000 Struktur der Arbeitslosigkeit in einer Stadt wie Gelsen-
Stellen, zu denen man sie schicken könnte. kirchen ist mit der Struktur der Arbeitslosigkeit etwa in
meiner münsterländischen Heimat überhaupt nicht ver-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist gleichbar. Deswegen müssen wir im Münsterland eine
das Problem!) andere Arbeitsmarktpolitik als in Gelsenkirchen betrei-
Das ist ein Stück Wahrheit. ben. Das ist selbst innerhalb eines Bundeslandes so. In
Köln gibt es sogar innerhalb der Stadt Unterschiede hin-
Aber ich erlebe auf der anderen Seite als Sozialminis- sichtlich der Arbeitslosigkeit. Die Struktur der Arbeitslo-
ter in einem so großen Land, dass manchmal Kinder aus sen unterscheidet sich selbst in den Stadtteilen von Köln,
SGB-II-Familien morgens in die Schule kommen und selbst innerhalb einer Stadt erheblich.
kein Butterbrot dabeihaben. Was nützt mir da eine Arge,
die eine Akte verwaltet? Ich möchte gerne eine Arge ha- All das spricht dafür, dass in der Bekämpfung der
ben, die die Leute nicht nur zu sich einbestellt, sondern Langzeitarbeitslosigkeit auf der einen Seite zentralisti-
auch wieder ein bisschen Geh-hin-Struktur schafft und sche Instrumente – egal, von wem verantwortet – am
bei einem Betreuungsschlüssel von 1 : 75 bzw. 1 : 150 Ende teuer sind und immer scheitern werden.
zum Beispiel auch weiß, wo die Menschen wohnen, wie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ihre Lebensverhältnisse sind und welche Probleme sie neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
neben der Arbeitslosigkeit noch haben. GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil Auf der anderen Seite – ich war ja nun auch 15 Jahre
[Peine] [SPD]: Sagen Sie das der FDP, mit der Mitglied des Bundestages – haben wir nun einmal in Be-
Sie koalieren wollen!) zug auf das SGB II entschieden, dass der Bund die ge-
Weil sie nun einmal unterschiedlich sind, meine ich, samte finanzielle Verantwortung für den Bereich der
dass man die arbeitslosen Menschen individuell betreuen Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland hat. Dass ein
muss, damit man ihnen überhaupt eine faire Chance zur Parlament da sagt, es kann nicht sein, dass die Kommu-
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht, auch in nen das dann bestimmen und wir zahlen, das verstehe
der Zeit, in der wir ihnen eben noch keine Erwerbsarbeit ich auf der anderen Seite auch. Deswegen muss man ver-
anbieten können. Aber Arbeitsmarktpolitik ist spätestens suchen, die Aspekte der dezentralen Entscheidungen
dann gescheitert, wenn sie im nächsten Aufschwung und einer Steuerung des Gesamthaushaltes irgendwie
nicht in der Lage ist, mit den Langzeitarbeitslosen das Ar- zusammenzubekommen. Damit haben wir uns in den
beitskräftepotenzial zur Verfügung zu stellen, das ein sol- vergangenen Jahren, weil das auch nicht einfach zu lö-
(B) cher Aufschwung benötigt. sen war, in der Tat sehr schwergetan. (D)

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schönen Gruß Ich habe den Eindruck, dass mit diesem Gesetzent-
an die FDP!) wurf – auch damit, wie man die Fragen der Aufsicht hin-
sichtlich der Trägerversammlung geregelt hat – auf je-
Da kann ich nur sagen: An dieser Stelle muss man den Fall etwas aus meiner Sicht sehr Vernünftiges auf
jetzt vorbeugen; aber dies muss gleichzeitig in der Form den Tisch gelegt wurde, um diesen gordischen Knoten
geschehen, dass die Familienstrukturen stabilisiert der politischen Finanzverantwortung des Bundes auf der
werden, sodass die Kinder eine faire Chance haben, einen Seite, aber einer Tausendfüßlerei in den arbeits-
durch die Schule zu gehen, weil sie ein Elternhaus ha- marktpolitischen Instrumenten auf der anderen Seite zu
ben, das sie dabei begleitet. Auch in diesem Bereich be- zerschlagen und beide Seiten verwaltungstechnisch wie-
dürfen manche Leute der Begleitung und der Betreuung. der ein Stück weit zusammenzufügen, worüber ich mich
Das müssen wir meines Erachtens über diesen Schlüssel freue.
ebenfalls in stärkerem Maße sicherstellen.
Ich freue mich darüber, dass dies damit eine Grundlage
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der hat, mit der wir das vernünftig hinbekommen können;
SPD: Und über Schulpolitik!) denn die Kommunen sitzen in diesen Trägerversammlun-
gen, so wie ich sie verstehe, nicht am Katzentisch, son-
Wenn dies aber die dort Tätigen machen sollen, dann
dern sollen sich mit ihrer gesamten Kompetenz und ihrer
brauchen wir nicht nur klasse Verwaltungspersonal, son-
Kenntnis der örtlichen Verhältnisse einbringen. Die Bun-
dern auch Personal, das in der Menschenführung, der
desagentur ist nicht der Pascha, der alles zu sagen hat. Da-
Begleitung von Menschen und vielen anderen Fragen
ran werden sich noch einige Herren in Nürnberg gewöh-
klasse ist. Das heißt, wir brauchen da Menschen, die eine
nen müssen. Ich kenne sie lange; denen war ja manchmal
hohe menschliche Kompetenz haben, wenn sich die
egal, wer unter ihnen Arbeitsminister ist. Auch das ist
ganze Sache am Ende rechnen und lohnen soll. Diese
nicht in Ordnung. Von daher halte ich es für völlig in Ord-
Menschen wachsen nun einmal nicht auf Bäumen; viel-
nung, dass die Bundesagentur sich hier auch einmal ein-
mehr muss man mit den in den Strukturen vorhandenen
gliedern muss.
Menschen über einen bestimmten Prozess organisieren,
dass sie diese Kompetenzen besitzen. Deswegen brau- (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wie gehen
chen wir da dringend eine Verstetigung. Sie mit der Agentur für Arbeit um?)
Einen weiteren Gedanken will ich heute Morgen gern – Die Agentur für Arbeit ist noch nie mein großer
ansprechen: Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist nicht Freund gewesen. Ich war immer der Meinung, dass man
3820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Minister Karl-Josef Laumann (Nordrhein-Westfalen)


(A) das nichtzentralistisch lösen kann und über Verordnun- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
gen Arbeitsmarktpolitik in den Ämtern nicht steuern Eigentlich wollte noch jemand eine Zwischenfrage
kann. stellen; das geht nun nicht mehr.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme von der
SPD-Fraktion. Bitte schön.
Wenn wir sagen, wir haben hier den Fallmanager,
dann muss man dem Fallmanager trauen. Er muss Kom- (Beifall bei der SPD)
petenzen haben
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Die Bundesre- Anette Kramme (SPD):
gierung!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau von der Leyen, Sie haben in der letzten
und darf nicht durch immer mehr Verordnungen einge- Sitzungswoche Folgendes gesagt: Es sei nicht eine Zeit
engt werden. Wir hatten Jahre, in denen jeden Tag Hun- des Zauderns und Zurückblickens, sondern es sei eine
derte von Verordnungen von dieser Bundesagentur aus- Zeit des Vorwärtsschauens. Das hört sich natürlich tat-
gingen. Deswegen, finde ich, bietet das, was Sie hier im kräftig und bestimmt an; aber das Ganze beinhaltet zwei
Deutschen Bundestag zusammengebracht haben, jetzt logische Fehler. Zum einen kann man gleichzeitig vor-
eine große Chance. Der Bundesrat beurteilt das genauso. wärtsschauen und zaudern. Schwarz-Gelb hat dieses
Dadurch haben wir die verfassungsrechtlichen Mehrhei- Kunststück über mindestens ein halbes Jahr in Perfek-
ten, um dieses durchzusetzen. Darüber freue ich mich. tion betrieben. Wir hatten den Eindruck, dass die Regie-
(Abg. Katja Kipping [DIE LINKE] meldet rung nach vorne schauen muss, weil sie diese Reform
sich zu einer Zwischenfrage) der Jobcenter umsetzen muss, und gleichzeitig zauderte
sie, ist in eine Schockstarre verfallen und hat nichts ge-
Ich würde mir sehr wünschen, dass wir in der nächs- tan. Zum anderen – das ist der zweite logische Fehler –
ten Zeit gemeinsam dafür sorgen, dass wir den Fallma- hängen Zaudern und Zurückblicken nicht zwangsläufig
nagern ausreichend Kompetenz geben. miteinander zusammen. Im Gegenteil: Man kann durch-
aus zurückblicken und dabei manches Erhellende und
(Beifall bei der CDU/CSU) Erleuchtende erkennen. Denn Rückblick ermöglicht
Fragen wie zum Beispiel die, ob für Kinder Sachleistun- auch oft Überblick.
gen oder Geldleistungen benötigt werden, kann man ent- Was sehen wir bei diesem Rückblick? Wir sehen ei-
scheiden, wenn man die Familie kennt. Ich finde, es ist nen Bundesarbeitsminister Olaf Scholz, der sich verant-
eine Entmündigung, jemandem, der sich für seine Kin- wortungsvoll und in Abstimmung mit der Kanzlerin ans (D)
(B) der, auf Deutsch gesagt, aufreibt, vom Staat alles in
Werk gemacht hat.
Sachleistungen vorzuschreiben. Dafür bin ich nicht vor
etwa 35 Jahren CDU-Mitglied geworden. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nichts zu-
stande gebracht hat!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Im Frühjahr 2009 hat es einen abgestimmten Kompro-
miss zwischen den Ministerpräsidenten dieses Landes
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
und dem BMAS gegeben. Es war nicht nur ein Eckpunk-
Herr Kollege Laumann. tepapier, sondern ein vollständiger Gesetzesentwurf.

Karl-Josef Laumann, Minister (Nordrhein-Westfa- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit Körper-
len): schaft!)
Sofort, ich komme zum Schluss. – Auf der anderen Dann kam das enttäuschende Verhalten der Unionsfrak-
Seite müssen wir darauf achten, dass die Leistungen bei tion. Tatsächlich ist gesagt worden, man mache dort nicht
den Kindern ankommen. Aber das kann man nur ent- mit. Ein vermeintlich gewichtiges Argument wurde vor-
scheiden, wenn der Fallmanager weiß, wie es in diesen getragen: Man könne doch nicht einfach das Grundge-
Familien aussieht. setz ändern, wenn das Bundesverfassungsgericht gesagt
hat, die Jobcenter seien verfassungswidrig. Aber, meine
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Damen und Herren, wir haben das Grundgesetz schon aus
Ich wollte Sie nicht zum Schluss auffordern, Herr weitaus nichtigerem Anlass in diesem Hause geändert.
Laumann. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie vielleicht!)
Genau deswegen ist die erwähnte Rückschau erhel-
Karl-Josef Laumann, Minister (Nordrhein-Westfa- lend. Denn wir sehen Folgendes: eine SPD, die sich um
len): eine konstruktive Lösung bemüht, um die Arbeitsver-
Sie können ganz sicher sein, dass Nordrhein-Westfa- mittlung in Deutschland auch künftig zuverlässig weiter-
len diesen Weg mit Kompetenz begleiten wird. führen zu können, und eine Unionsfraktion, die mitten in
Schönen Dank. der Wirtschaftskrise nichts Besseres zu tun hat, als jeden
Vorschlag rüde wegzugrätschen. Frau von der Leyen, Sie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hatten anlässlich des endlich gefundenen Kompromisses
neten der FDP) – das haben Sie heute noch einmal getan – die Allianz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3821
Anette Kramme
(A) der Vernünftigen gelobt. Doch Ihre Fraktion war über kann, wie viel Zeit für Arbeitsuchende in diesem Land (C)
zwei Jahre hinweg leider nie Mitglied dieser Allianz. bleibt.
Ich sage Ihnen und Herrn Laumann: Bringen Sie die Wichtig ist auch, dass die SPD etwas ausgehandelt
FDP auf die Reihe. Die FDP ist ein schwerer Belas- hat, was ein pures Chaos in der Arbeitsmarktpolitik in
tungsfaktor für die Arbeitsmarktpolitik in diesem Lande. diesem Jahr vermieden hat,
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb (Beifall bei der SPD)
[FDP]: Wir haben die Sache erst in Gang ge-
bracht!) nämlich die Entsperrung von 900 Millionen Euro an
Arbeitsmarktmitteln. 300 000 bis 400 000 Arbeitsu-
Dass wir wahrscheinlich endlich eine Lösung haben, ist chende hätte es in diesem Lande zusätzlich gegeben,
maßgeblich der SPD zu verdanken. wenn diese Arbeitsmarktmittel nicht entsperrt worden
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Träumen Sie wären.
weiter!) (Zuruf von der FDP: Quatsch! Blödsinn!)
SPD rettet zaudernde Regierung – diese Schlagzeile Liebe Frau von der Leyen, was Sie uns in der Arbeits-
hätte sie nach dem dreizehnstündigen Verhandlungsma- marktpolitik präsentieren, ist schwierig. Man kann es da-
rathon Ende März eigentlich verdient. Nun bleibt zu hof- mit umschreiben, dass es ein ständiges Hü und Hott bzw.
fen, dass Ihre Fraktion nicht in letzter Sekunde wieder Hott und Hü gibt. Zunächst werden Haushaltsmittel ge-
einen Rückzieher macht. Wir nehmen das mit der Ent- sperrt, dann entsperrt. Im Bereich der Kurzarbeit werden
fristung der 3 200 Stellen sehr ernst. die Regelungen erst verschlechtert und jetzt offensicht-
Dennoch ist bislang insgesamt ein gutes Ergebnis er- lich wieder verbessert. Bezüglich der Jobcenter haben
zielt worden. Die Arbeitsverwaltung ist nicht lahmge- Sie zunächst im Jahre 2009 eine Zustimmung angedeu-
legt. Frau von der Leyen, das hätten Sie mit Ihrem ur- tet. Dann gab es eine Phase des neuen Nachdenkens über
sprünglichen Vorschlag bewirkt. Wir hätten ein bis die getrennte Aufgabenträgerschaft. Und jetzt sind Sie
eineinhalb Jahre der Stagnation in diesem Land gehabt. wieder auf Linie. Bringen Sie Klarheit in Ihre Reihen!
Wir haben sichergestellt, dass es die Betreuung aus einer Bringen Sie Klarheit aufseiten der FDP!
Hand gibt, sodass Arbeitsuchende nicht von Pontius zu
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Keiner ist so klar
Pilatus laufen müssen. Die Optionskommunen können
wie wir!)
weitermachen, der Bund gibt aber nicht die Verantwor-
tung für die Arbeitsmarktpolitik an Dritte ab, sondern Mit Ihren Reden haben Sie und Herr Laumann sich ja
nimmt diese weiterhin wahr. offensichtlich ganz flehentlich an die FDP gewandt. Set- (D)
(B)
Zum Betreuungsschlüssel, Herr Kolb: Offensichtlich zen Sie sich endlich durch, damit wir Arbeitsmarktpoli-
verstehen Sie Arbeitsmarktpolitik nicht. Wir machen tik in diesem Lande im Sinne der Menschen betreiben!
keine Reformen l’art pour l’art. Eine Reform der Jobcen- Im Interesse der Menschen wollen wir nicht, dass sich
ter ist kein Selbstzweck. Ich bin der festen Überzeugung, eine Reform nach der anderen, die Sie ankündigen, als
dass eine vernünftige Betreuung für Menschen, für Ar- bloßer Wahlkampfgag zur Steuerung eines Wahlergeb-
beitsuchende ganz essenziell ist. Häufig, praktisch im- nisses in Nordrhein-Westfalen herausstellt. Offensicht-
mer befinden sie sich in einer existenziellen Situation. lich haben Sie bei der Leiharbeit wieder einen Rückzie-
Da einen Ansprechpartner zu haben, der Tipps gibt, der her gemacht. Das wollen wir nicht, sondern wir denken
sich genügend Zeit nimmt, um zu recherchieren, wo die an die Menschen in diesem Lande.
individuellen Stärken und die individuellen Schwächen Herzlichen Dank.
liegen,
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Die
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau so denken immer weniger an Sie! Das ist das Pro-
machen wir es!) blem!)
einen Ansprechpartner zu haben, der sich dafür Zeit
nimmt, die Person sauber in ein Arbeitsmarktprogramm Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
einzugruppieren und zu sagen, das ist das Beste für dich, Das Wort hat jetzt der Kollege Pascal Kober von der
ist sehr wichtig. Der momentane Betreuungsschlüssel ist FDP-Fraktion.
bei weitem noch nicht ausreichend.
(Beifall bei der FDP)
(Zuruf von der FDP: Wieso haben Sie ihn dann
nicht geändert, als Sie die Zeit dazu hatten? –
Weiterer Zuruf von der FDP: Den haben Sie Pascal Kober (FDP):
doch eingeführt!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Kramme, gehen Sie einmal in sich und über-
Olaf Scholz ist derjenige, der damit begonnen hat. Aber legen sich, warum die von Ihnen genannte Schlagzeile
Olaf Scholz hat auch gesagt, dass wir an dieser Stelle nie gedruckt worden ist. Vielleicht hängt es ja damit zu-
nicht stehen bleiben dürfen. Mittlerweile gibt es Unter- sammen, dass sie der Wahrheit einfach nicht entsprochen
suchungen zu diesem Thema. Es gibt Argen, die mit ei- hat. So schlicht ist manchmal die Realität.
nem Betreuungsschlüssel von 1:70 gearbeitet haben. Das
Ergebnis ist exzellent, weil man sich damit ausrechnen (Beifall bei der FDP)
3822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Pascal Kober
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der heutigen Vielfach wurde in den vergangenen Jahren die Quali- (C)
ersten Beratung zur Änderung des Grundgesetzes sowie tät der Arbeit der Optionskommunen angezweifelt. Stu-
des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation dien, die dies angeblich belegen sollten, waren jedoch
der Grundsicherung für Arbeitsuchende gelingt uns allen auf fragwürdiger Datenbasis erhoben worden oder stark
miteinander ein großer Schritt. interessengeleitet erstellt worden. Deshalb ist es ein wei-
terer Erfolg der vorliegenden Verständigung, dass nun
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts am zentral die Qualität der Arbeit bewertet und dann trans-
20. Dezember 2007 ist einige Zeit ins Land gegangen. parent dargestellt wird. Ich bin mir sicher, dass dies die
Doch mit den heutigen parlamentarischen Beratungen Zweifel beseitigen wird.
können wir sagen, dass die Angelegenheit ein gutes
Ende nehmen wird. Das ist ein großer Erfolg der Politik. (Beifall bei der FDP)
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Heute ist mit der Beratung über die Gesetzentwürfe
NEN]: Wenn Sie es jetzt nicht wieder auf- ein guter Tag für die Arbeitsuchenden in unserem Land,
schnüren!) aber auch für die Beschäftigten der Bundesagentur und
der kommunalen Seite im Bereich des SGB II. Wir ge-
Liebe Frau Kramme, vielleicht hängt es mit der Beteili-
ben den Beschäftigten Sicherheit und den Arbeitsuchen-
gung der FDP in dieser Regierung zusammen, dass der
den die Gewissheit, dass sie weiterhin Hilfe aus einer
heutige Tag zu einem Erfolg wird.
Hand und unter optimierten Bedingungen erhalten wer-
(Beifall bei der FDP) den. Das ist verantwortungsvolle Politik, die wir hier ge-
meinsam machen.
Ich möchte meine Redezeit nutzen, um auf einen be-
sonderen Aspekt des Kompromisses einzugehen, der ge- (Beifall bei der FDP)
rade uns als FDP besonders am Herzen liegt, und zwar
auf den Erhalt und den Ausbau der Optionskommunen. Was die Entfristung der 3 200 Stellen in der BA an-
Wir Liberale haben uns in der Vergangenheit stets für die geht, so kann ich Ihnen versichern, dass wir in gewohnt
Optionskommunen eingesetzt; denn wir sind der Über- überzeugender Sachkompetenz eine Lösung finden wer-
zeugung, dass die Betreuung und Vermittlung vor Ort den.
zum Wohle der Arbeitsuchenden besondere Kompeten- Vielen Dank.
zen bietet. Für die meisten Langzeitarbeitslosen bietet
eben der lokale Arbeitsmarkt die besten Chancen zur (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Hier haben der CDU/CSU)
die Optionskommunen durch ihre spezifischen Kennt-
(B) nisse des örtlichen Arbeitsmarktes große Sachkompe- (D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
tenz. Gleiches gilt für die Kompetenz der Kommunen im Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Zimmermann
psychosozialen Bereich. von der Fraktion Die Linke.
Es gibt noch einen anderen Aspekt, der uns dazu
(Beifall bei der LINKEN)
führt, die Optionskommunen so nachhaltig zu unterstüt-
zen. Generell gilt: Wettbewerb ist häufig die effizien-
teste Methode, Qualität zu verbessern und zu sichern. Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
Deshalb ist es richtig, dass wir auch dieses Element in Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
der Arbeitsvermittlung erhalten und sogar ausbauen. Der ren! Lieber Herr Pascal! Ist er denn da?
Erhalt und der Ausbau der Optionskommunen garantie-
ren den Wettbewerb um die Suche nach der besten Ver- (Zurufe von der FDP: Lieber Herr Kober! – Zuruf
mittlung und der besten Betreuung. Der Erhalt und die von der CDU: Herr Kober heißt er!)
Ausweitung der Optionskommunen versprechen Kreati- – Entschuldigung. Ich muss Sie aber in einem Punkt kor-
vität und Vielfalt der Lösungsansätze in diesem schwie- rigieren, das ist leider nicht ganz so lustig. Ein Ende die-
rigen und zugleich so bedeutenden Aufgabenbereich. ses Themas sehe ich erst, wenn alle Erwerbslosen in ei-
Niemand wird behaupten, dass wir das Patentrezept nen Job vermittelt sind, von dem sie und ihre Familien in
für die Vermittlung, Qualifizierung und Betreuung von Würde leben können. Erst dann können wir über ein
Langzeitarbeitslosen schon gefunden hätten. Aus diesen Ende dieses Themas reden, lieber Herr Kollege.
Gründen ist es für die FDP ein richtiger Schritt, dass das (Beifall bei der LINKEN)
Modell der Optionskommunen jetzt entfristet und ihre
Zahl ausgeweitet wird. Insbesondere bei Ihnen, liebe Jetzt komme ich zur SPD. Wenn jetzt am Sonntag
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, aber auch von nicht Wahlen in Nordrhein-Westfalen wären, dann,
der Linkspartei, gab es Vorbehalte gegen die Options- liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, wären Sie
kommunen. Aber ich bin mir sicher, dass wir durch die doch heute nicht die großen Kämpfer für die Beschäftig-
nun größere Zahl an Optionskommunen und die längere ten der Arbeitsgemeinschaften und der Bundesagentur
Dauer ihres Bestehens die Vorbehalte gegen sie überzeu- für Arbeit.
gend werden abbauen können.
(Bernd Scheelen [SPD]: Das haben wir im De-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat Frau zember eingebracht! – Ute Kumpf [SPD]: Eine
Kramme in ihrer Geschichte vergessen!) böse Unterstellung!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3823
Sabine Zimmermann
(A) Ich muss Ihnen sagen: Seit Einführung von Hartz IV gab der Sozialversicherung oder Mehrausgaben bei den So- (C)
es noch nie eine vernünftige Personalausstattung, auch zialleistungen.
nicht unter Ihrer Regierung.
Der Bundesrechnungshof, der heute schon mehrfach
(Beifall bei der LINKEN – Anette Kramme zitiert wurde, ist bestimmt kein Freund der Linken. Er
[SPD]: Sie wissen schon, dass es um kritisiert in seiner Stellungnahme: Das Modell der Bun-
10 000 Stellen geht!) desregierung gibt ein einheitliches System zur Grund-
sicherung für Arbeitsuchende dauerhaft auf und führt zu
– Ich weiß, wovon ich rede, Frau Kramme. Sagen wir es
einem unnötigen Verwaltungsaufwand mit entsprechen-
doch einmal ganz deutlich: Die sogenannte Jobcenter-
den finanziellen Ausgaben. – Hierin, Frau Ministerin
Reform, die wir heute beraten, ist das Ergebnis eines
von der Leyen, muss ich dem Herrn Weise heute schon
politischen Kuhhandels von Union und SPD. Dieser
recht geben.
wird auf dem Rücken der Erwerbslosen, auf dem Rü-
cken der Beschäftigten der Agentur für Arbeit und auf Das alles sind stichhaltige Argumente gegen den so-
dem Rücken der Beschäftigten der Kommunen ausgetra- genannten pragmatischen Kompromiss von Union und
gen. Das ist unerträglich. SPD, aber Sie machen mit dieser Mogelpackung wider
(Beifall bei der LINKEN) besseres Wissen trotzdem weiter.

Sie haben es geschafft, größere Teile der Arbeitsver- Ich will noch etwas aus kommunaler Sicht sagen. Es
mittlung und -verwaltung auf die Kommunen zu übertra- gibt ganz handfeste Gründe dafür, dass nun einige Kom-
gen. Das eigentliche Problem bei dieser Reform ist aber, munen die Arbeitsvermittlung in Eigenregie überneh-
dass die Erwerbslosen mit ihren Interessen und ihren men wollen. Manche erhoffen sich kurzfristig finanzielle
Problemen auf der Strecke geblieben sind; denn Bezie- Vorteile. Sie müssen nicht das gesamte Personal der Bun-
her von Arbeitslosengeld I oder Arbeitslosengeld II desagentur übernehmen, wodurch sie auch Personalkosten
werden weiterhin getrennt verwaltet, und die Zweiklas- einsparen können. Manche sind mit dem gegenwärtig ge-
sengesellschaft der Erwerbslosen bleibt weiterhin beste- ringen Einfluss der Kommunen auf die Bundesagentur
hen und wird von Ihnen festzementiert. Es ist für die unzufrieden. Hierauf hat die Bundesregierung keine Ant-
Linke unerträglich, wie Menschen durch Hartz IV tyran- wort gegeben. Es ist aber noch schlimmer: Statt die
nisiert werden. Das machen wir hier nicht mit. Kommunen finanziell besser auszustatten, bluten Sie de-
ren Haushalte weiter aus. Das ist unerträglich.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Es gibt ein weiteres großes Problem in Ihrem Gesetz-
entwurf: Die Arbeitsvermittlung wird immer mehr den Die Linke bleibt dabei: Es ist falsch, die Arbeitsver-
(B)
Kommunen übertragen – künftig an bis zu einem Vier- mittlung und -verwaltung auf die Kommunen zu übertra- (D)
tel aller Landkreise und kreisfreien Städte. So entsteht, gen. Arbeitslosigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches
wie meine Kollegin Katja Kipping schon gesagt hat, ein Problem und darf nicht auf die Kommunen abgewälzt
arbeitsmarktpolitischer Flickenteppich, den Sie nicht werden.
mehr im Griff haben werden. Das ist ein historischer Danke.
Rückschritt.
(Beifall bei der LINKEN)
Kennen Sie überhaupt die Geschichte der bundesein-
heitlichen Vermittlung und Verwaltung? Vor bald 100 Jah-
ren wurde diese in Deutschland für Arbeitsuchende ein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
geführt. Das war ein Zugeständnis dafür, dass die Das Wort hat der Kollege Max Straubinger von der
Kommunen mit dieser Aufgabe überfordert waren. Nun CDU/CSU-Fraktion.
machen Sie hier wieder eine Rolle rückwärts. Es ist trau-
rig und eigentlich schon fast Normalität, dass die Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gen der SPD wieder einmal eine Kröte schlucken – dies- neten der FDP)
mal vom hessischen Ministerpräsidenten, Herrn Koch.
Max Straubinger (CDU/CSU):
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das macht
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
nur deutlich, in welchem Jahrhundert Sie le-
Sie gehen in ein Gesetzgebungsverfahren, das meines
ben!)
Erachtens als historisch zu bezeichnen ist. Es geht näm-
Es gibt ganz konkrete Belege dafür, dass es auch lich um eine Änderung des Grundgesetzes, um damit die
heute besser wäre, die Arbeitsvermittlung und -verwal- optimale Verwaltung und vor allen Dingen die optimale
tung bundeseinheitlich zu organisieren. Das belegen Grundlage zu schaffen, um den Menschen zu helfen, die
Überprüfungen der letzten Jahre. Danach vermitteln von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Dieser Weg
kommunale Träger deutlich öfter als Arbeitsgemein- wurde bereits im Jahr 2005 beschritten, als die Argen ge-
schaften auf Arbeitsplätze, von deren Lohn die Men- bildet wurden und befristet zugelassen wurde, dass
schen nicht leben können, oder auf befristete Arbeits- Kommunen die Verantwortung für die Arbeitsvermitt-
plätze, sodass sie nach einiger Zeit wieder in der lung übernehmen. Ich glaube, dass die letzten fünf Jahre
Arbeitslosigkeit enden. Das ist schlimm für die Betroffe- von guten Erfolgen gekennzeichnet sind, etwa beim Ab-
nen, aber auch eine Belastung für die Gemeinschaft. Da- bau der Langzeitarbeitslosigkeit in unserem Land. Damit
raus ergeben sich Mindereinnahmen bei den Steuern und leisten wir den Menschen in unserem Land einen beson-
3824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Max Straubinger
(A) deren Dienst. Deshalb ist es für uns entscheidend, wei- marktpolitik kann nicht von Erfolg gekrönt sein, weil die (C)
terhin auf diesen Grundlagen aufbauen zu können. Verhältnisse in unserem Land so unterschiedlich sind.
Das gilt nicht nur für einzelne Städte Nordrhein-Westfa-
Das Bundesverfassungsgericht hat am 20. Dezember lens, sondern genauso für Bayern: In der Stadt München
2007 festgestellt, dass die entsprechende Regelung mit und im Landkreis Dingolfing-Landau sind aufgrund
unserem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Deshalb muss niedriger Arbeitslosenzahlen möglicherweise ganz an-
man darüber nachdenken, wie wir die Zusammenfüh- dere Probleme zu bewältigen als in einem Brennpunkt
rung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe zukünftig mit einer gewaltig hohen Arbeitslosigkeit.
auf ein gutes verwaltungsrechtliches Fundament stellen.
Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, deshalb
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ist es entscheidend, dass die Kommunen eingebunden
Der heute eingebrachte Gesetzentwurf, der eine Kon- sind. Frau Kollegin Zimmermann, Sie haben gerade aus-
sensarbeit von CDU/CSU, FDP und SPD ist, wird dieser geführt, die Vermittlung durch kommunale Träger sei
Aufgabe gerecht. „schlimm für die Betroffenen“. Dabei zeigt sich hier
deutlich, dass Kommunalpolitiker bereit sind, Verant-
(Beifall bei der CDU/CSU) wortung zu übernehmen, um so gute Erfolge für die
Wir sollten uns meines Erachtens zuerst darüber Menschen zu erzielen, und zwar mit einer schnellen,
freuen, dass eine Einigung zwischen den Koalitionsfrak- sachorientierten Eingliederung in das Arbeitsleben.
tionen und der größten Oppositionsfraktion ermöglicht (Beifall bei der CDU/CSU)
worden ist. Ich danke herzlich für die konstruktive Zu-
sammenarbeit in der Arbeitsgruppe. Die konstruktive Dies gilt es zu stärken.
Zusammenarbeit kam in der heutigen Debatte leider
nicht zum Ausdruck. Stattdessen wurde vielfältig über Der vorliegende Gesetzentwurf entspricht dieser Ziel-
Klein-Klein gestritten. Für dieses Klein-Klein lässt sich stellung: entweder in der Zusammenarbeit der Argen,
aber eine Lösung finden; wir werden dies tun. wo in der Trägerversammlung jedes Jahr die Ziele ge-
meinsam mit den Kommunen diskutiert und dann festge-
Ich möchte dem Vorwurf begegnen, dass die CDU/ setzt werden, oder in der Optionskommune. Wir als
CSU in der Großen Koalition eine Einigung torpediert CDU/CSU haben durch diesen Kompromiss erreicht,
habe. Beileibe nicht! dass es eine Ausweitung der Optionskommunen gibt.
Wir hätten uns mehr gewünscht – keine Frage –; aber
(Bernd Scheelen [SPD]: Ach, nein? Wer
wir stehen zu diesem Kompromiss. Der Gesetzentwurf,
denn?)
der heute ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht wor-
(B) Die Umsetzung des vorgeschlagenen Modells eines Zen- den ist, ist eine gute Grundlage für die Bewältigung der (D)
trums für Arbeit und Grundsicherung hätte einen gewal- Probleme in unserem Land.
tigen bürokratischen Aufbau bedeutet und wäre der Ziel-
Ich möchte kurz zwei Punkte ansprechen.
stellung, schnelle und zielorientierte Hilfe zu leisten,
nicht gerecht geworden. Erstens. Vor allem in juristischer Hinsicht ist kritisiert
worden, dass es einer Zweidrittelmehrheit eines kommu-
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Hans-Peter Friedrich
nalen Gremiums bedarf, um eine Optionskommune ein-
[Hof] [CDU/CSU]: So schaut’s aus!)
zurichten. Ich glaube, dass das sachlich gerechtfertigt ist.
Vor allen Dingen lag es an der Unbeweglichkeit der Gerade unter dem Gesichtspunkt, dass die Zielstellungen
SPD, dass wir zu diesem Zeitpunkt keine Einigung zu- zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit jedes Jahr
stande gebracht haben: neu überarbeitet werden müssen, darf der eingeschla-
gene Weg nicht ständig in einem kommunalpolitisch
(Widerspruch der Abg. Anette Kramme parteimotivierten Klein-Klein zerredet werden. Eine
[SPD]) breite Unterstützung in einem Landkreisgremium ist von
Bundesminister Scholz war nicht bereit, über eine Aus- Vorteil.
weitung der Zahl der Optionskommunen und ihre recht-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
liche Absicherung auch nur zu reden. Das Äußerste, zu
NEN]: Das ist doch Quatsch!)
dem die SPD damals bereit war, war eine weitere zeitli-
che Befristung für die 69 Optionskommunen. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die Regelung, dass die
Entscheidung für eine Optionskommune nur mit breiter
(Anette Kramme [SPD]: Bei manchen verdre-
Mehrheit der kommunalen Gremien getroffen werden
hen die Erinnerungen ein klein wenig die
kann.
Wahrheit!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Damit war die CDU/CSU nicht einverstanden; denn wir
sind davon überzeugt, dass die Kommunalisierung eine Zweitens. Es wurde vielfältig über die Entfristung der
große Chance für die arbeitslosen Menschen in unserem 3 200 Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit gespro-
Land bedeutet. chen. Ich möchte betonen: Die Arbeit wird getan, und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zwar unabhängig davon, ob es sich um eine befristete
oder um eine unbefristete Stelle handelt. Wir wünschen
Landesminister Karl-Josef Laumann hat es auf den uns, dass die Stellen entfristet werden. Ich bin überzeugt
Punkt gebracht: Eine zentrale Ausrichtung der Arbeits- davon, dass knapp 5 000 befristete Stellen – derzeit sind
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3825
Max Straubinger
(A) es 8 000 befristete Stellen – genügen, um zu gewährleis- promissen. Die Optionskommunen leisten erfolgreiche (C)
ten, dass der Personalkörper der BA flexibel auf neue Arbeit; das ist in Ordnung.
Entwicklungen reagieren kann. Diese Frage werden wir
in den kommenden Wochen klären, damit alle der Ihrer Behauptung, Sie hätten vor einem Jahr dem
Grundgesetzänderung und den daraus folgenden gesetz- Kompromiss nicht zugestimmt, weil wir eine ausrei-
lichen Regelungen mit gutem Gewissen zustimmen kön- chende Zahl an zusätzlichen Optionskommunen nicht
nen. mitgetragen hätten, widersprechen Sie aber selber. Um
das zu erkennen, müssen Sie nur in Ihren Koalitionsver-
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. trag schauen: Dort ist von zusätzlichen Optionskommu-
nen keine Rede. Dort steht lediglich etwas von einer ge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- trennten Aufgabenwahrnehmung. Sie wollten das
neten der FDP – Anette Kramme [SPD]: Sie Optionsmodell entfristen. Nachdem Frau von der Leyen
wissen schon, dass nur der Nikolaus Ge- ihren Gesetzentwurf im Januar auf den Tisch gelegt
schenke bringt!) hatte, haben Sie festgestellt, dass Ihr Vorhaben mögli-
cherweise auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt. Sie
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: haben sich von drei Ministern erklären lassen müssen,
Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen von der dass das alles verfassungsrechtlich ganz schwierig ist.
SPD-Fraktion. So ganz ernst können Sie Ihren Vorschlag nicht gemeint
haben; sonst hätten Sie in Ihren Koalitionsvertrag etwas
(Beifall bei der SPD)
völlig anderes hineingeschrieben.

Bernd Scheelen (SPD): Frau Ministerin von der Leyen hat ihre Rede mit der
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Aussage begonnen, es sei die richtige Reform zum rich-
sind eben Zeuge eines Versuchs der Geschichtsklitterung tigen Zeitpunkt. Dem ersten Teil stimme ich zu. Es ist in
geworden. Herr Kollege Straubinger, zu behaupten, eine der Tat eine richtige Reform. Wir hätten das Modell von
Einigung sei an der SPD gescheitert, ist ziemlicher vor einem Jahr noch besser gefunden. Aber die Welt be-
Hohn. Wir und auch die Ländervertreter haben Ihnen steht nun einmal aus Kompromissen. Wir können mit
Vorschläge unterbreitet. Es handelte sich um ein Modell, diesem Kompromiss leben. Der Zeitpunkt ist allerdings
das zwischen den Ländern Nordrhein-Westfalen und ziemlich spät. Gott sei Dank ist es noch nicht zu spät.
Rheinland-Pfalz und dem Bundesarbeitsministerium er- Die Tatsache, dass es jetzt schon wieder von der gelben
arbeitet wurde. Es lag auf dem Tisch. Sie haben es wider Seite Störfeuer im Hinblick auf die Entfristung bzw. die
Erwarten in Ihrer Fraktion zum Kippen gebracht. Des- Nichtentfristung der 3 200 Stellen für Jobvermittler
gibt, lässt nichts Gutes vermuten. Wir hätten das vor ei-
(B) wegen müssen wir uns heute wieder über dieses Thema (D)
unterhalten. nem Jahr machen können. Aber damals sind alle auf
Tauchstation gegangen.
(Beifall bei der SPD)
Herr Laumann – bleiben Sie noch einen Moment hier –,
Wir diskutieren heute, weil es im Dezember 2007 ein teilen Sie dem Kollegen Rüttgers Folgendes mit: Ich
Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegeben hat. habe eigentlich erwartet, dass sich der Vorkämpfer für
Ohne dieses Urteil würden wir gar nicht darüber reden, eine Generalrevision von Hartz IV, der Arbeiterführer
sondern die erfolgreiche Organisation in den Arbeitsge- aus Nordrhein-Westfalen,
meinschaften und in den Optionskommunen würde fort-
gesetzt. (Karl-Josef Laumann, Minister [Nordrhein-
Westfalen]: Guter Mann!)
Ich muss kurz darauf eingehen, warum Arbeitslosen-
hilfe und Sozialhilfe zu Recht zusammengeführt worden an die Spitze der Bewegung setzt und für seine Vorstel-
sind. Diese Zusammenführung war schon lange ein lungen kämpft,
Wunsch der Kommunen, weil sie festgestellt haben, dass (Karl-Josef Laumann, Minister [Nordrhein-
mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in den 70er-Jahren Westfalen]: Hat er doch!)
viele Menschen Sozialhilfe beziehen mussten. Die Be-
kämpfung von Arbeitslosigkeit sei aber keine kommu- nachdem der mit seiner Zustimmung ausgehandelte
nale Aufgabe – so war damals die Argumentation –, son- Kompromiss von seiner Fraktion gekippt worden ist.
dern eine staatliche Aufgabe. In der Eichel-Kommission (Beifall bei der SPD – Hubertus Heil [Peine]
ist man zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kommu- [SPD]: Rüttgers war schon immer feige!)
nen recht haben. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wur-
den daraufhin zusammengeführt. Das war richtig. Wir haben davon nichts gesehen. Er beschränkt sich auf
Ankündigungen, und sonst kommt nichts.
Wenn man ganz genau hinschaut, stellt man fest: Die
Optionskommune ist eigentlich ein Widerspruch, weil es Der Kollege Kolb hat in einem Punkt völlig recht: Es
der Wunsch der Kommunen war, die entsprechende Auf- bedurfte erst eines Briefes des hessischen Ministerpräsi-
gabe an den Bund abzugeben. Die Kommunen haben da- denten. Dieser hat Ihnen allen, die Sie an der Verzöge-
mit nicht ganz unrecht. Aber Sie, meine Damen und Her- rungstaktik beteiligt waren, die Rote Karte gezeigt. Herr
ren von der Regierung, haben uns die Optionskommune Koch hat Ihnen gesagt: Ohne Grundgesetzänderung
sozusagen durch die Hintertür aufgedrückt. Wir haben geht das alles nicht. Allein darauf beruht das Umdenken
das auch akzeptiert. Politik besteht schließlich aus Kom- auf der schwarz-gelben Seite. Herr Laumann, teilen Sie
3826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Bernd Scheelen
(A) dem Kollegen Rüttgers mit, dass er sich dafür in Zukunft Ich will auf einen Punkt eingehen, der am Ende der (C)
nicht mehr einzusetzen braucht. Das werden dann andere Rede des Kollegen von der SPD aufkam. Es wurde be-
machen. hauptet, die Lösung, die wir jetzt haben, sei nicht im In-
teresse der Regierungsfraktionen gewesen. Der Kollege
(Beifall bei der SPD)
Straubinger hat das eben für die Union ausgeführt. Für
Herr Kollege Laumann, Sie haben zu Recht auf das die FDP kann ich hier ganz klar sagen: Betreuung aus ei-
viele Hin und Her verwiesen. Man könnte nun chronolo- ner Hand, das war immer genau das, was wir, die FDP,
gisch aufschreiben, wer wann was vorgeschlagen hat wollten, weil es eine der Grundlagen liberaler Sozial-
und wer wann was abgelehnt hat. Es gab tatsächlich viel politik ist.
Hin und Her. Wir sind nun an dem Punkt, an dem wir ge-
meinsam sagen: Wir wollen eine Grundgesetzänderung. (Beifall bei der FDP – Hubertus Heil [Peine]
Das ist der einzig verlässliche Weg, damit in den Kom- [SPD]: Lesen Sie einmal Ihren Koalitionsver-
munen vor Ort, und zwar sowohl in den Arbeitsgemein- trag! – Anette Kramme [SPD]: Dann haben
schaften als auch in den Optionskommunen, endlich Si- Sie sich also beim Koalitionsvertrag nicht
cherheit herrscht. durchsetzen können! Das tut uns leid!)

Das Problem mit der Nichtentfristung der 3 200 Stel- – Frau Kramme, hören Sie doch erst einmal zu. – Des-
len ist symptomatisch für das, was Sie vorhin gesagt ha- halb ist es gut, dass wir jetzt sowohl die Fortschreibung
ben, Herr Laumann. Sie haben ein Plädoyer für Hilfe aus des Modells der Argen als auch die Erhöhung der Zahl
einer Hand gehalten und bekommen von den Regie- der Optionskommunen als auch – endlich – ein faires,
rungsfraktionen Applaus. Das hat mich wirklich ver- einheitliches und transparentes System erreicht haben.
wundert. Wie kann jemand, der die getrennte Aufgaben- Ich glaube, nur dadurch kann ein echter Systemwettbe-
wahrnehmung in den Koalitionsvertrag hineinschreibt werb ablaufen, der im Interesse der Menschen liegt.

(Karl-Josef Laumann, Minister [Nordrhein- (Pascal Kober [FDP]: Sehr richtig!)


Westfalen]: Gar nicht wahr!)
Wir werden diesen Kurs fortsetzen. Das passt sehr gut
und sich diesen absegnen und noch von Herrn Rüttgers zu dem – Frau Kramme, Sie haben den Koalitionsvertrag
unterschreiben lässt, sagen: „Wir wollen Hilfe aus einer angesprochen –, was wir sonst im Koalitionsvertrag ver-
Hand“, und dafür Applaus bekommen? Das hat offenbar einbart haben. Wir haben dort zum Beispiel festgehalten,
etwas mit retrograder Amnesie zu tun. dass wir darüber hinausgehend prüfen wollen, inwiefern
wir Stellen, die Sozialleistungen auszahlen, zusammen-
(Beifall bei der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: legen können. Im Koalitionsvertrag ist von einer Prü-
(B) Das ist die berühmte Rolle rückwärts!) fung des Konzepts des liberalen Bürgergeldes die Rede. (D)
Das ist aber nicht der erste Fall retrograder Amnesie, den Wir wollen auch prüfen, wie wir die Kosten der Unter-
wir bei Schwarz-Gelb erleben. kunft pauschalieren können, um so die Würde und Ei-
genverantwortung der Menschen stärker zu wahren. Das
Der vorliegende Kompromiss findet unsere Zustim- zeigt sehr gut: Betreuung aus einer Hand, damit die
mung; denn wir hoffen, dass danach endlich Ruhe ein- Menschen nicht von Amt zu Amt rennen müssen, ist das,
kehrt. Die 26 Prozent befristete Arbeitsverträge spiegeln was diese Koalition will. Für die FDP kann ich sagen:
sich in 20 Prozent Fluktuation bei den Arbeitsgemein- Das ist der Weg, den wir als Liberale immer gewollt ha-
schaften wider. Das ist kein hinnehmbarer Zustand. Stel- ben. Insofern ist das wirklich ein sehr guter Kompro-
len Sie sich einen Betrieb vor, bei dem jährlich miss.
20 Prozent des Personals fluktuieren! Ein solcher Be-
trieb kann nicht richtig arbeiten; er kann nicht richtig (Beifall bei der FDP)
funktionieren. Deswegen muss dieser Punkt vor der
zweiten und dritten Lesung geklärt sein. Sonst könnte es Ich glaube, wir müssen unsere Überlegungen zu der
sein, dass wir heute die erste und zugleich die letzte Le- Frage, wie wir eine möglichst individuelle Betreuung
sung hatten. der Menschen aus einer Hand zustande bringen, ausdeh-
nen, auch über den Bürgergeldprüfauftrag hinaus. Ich
Vielen Dank. will auf das Beispiel einer Optionskommune hinweisen.
(Beifall bei der SPD) Mein Kollege Pascal Kober hat eben schon ausgeführt,
dass das grundsätzlich ein sehr sinnvolles Instrument ist.
In der Optionskommune Osnabrück im Osnabrücker
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Land, die schon vor Jahren die sogenannte MaßArbeit
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der begründet hat, gibt es ein Konzept, bei dem Jugendhilfe
FDP-Fraktion. und Jugendsozialarbeit in den Jobcentern zusätzlich an-
(Beifall bei der FDP) geboten werden, wodurch Familien, vor allem Problem-
familien, wirklich eine Betreuung aus einer Hand erhal-
ten. Kinder und Jugendliche haben dadurch auf ihrem
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Weg ins Erwerbsleben, bis sie also erwachsen sind, im-
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen mer einen Ansprechpartner. Ich glaube, das ist genau der
und Kollegen! Den Regierungsfraktionen, der SPD und Kurs, den wir fortsetzen müssen.
der Ministerin ist hier zu Recht umfassend gedankt wor-
den für die sehr gute Lösung, die wir heute beraten. (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3827
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) Ich will noch etwas zu den Kritikpunkten sagen, die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
wir hier verschiedentlich gehört haben. Frau Kollegin Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
Pothmer und Frau Kramme haben eben schon ausge- hat nun die Kollegin Ingrid Fischbach von der CDU/
führt, das sei gar nicht im Interesse der Koalition gewe- CSU-Fraktion das Wort.
sen. Ich glaube, wir konnten deutlich machen, dass das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Paul
nicht der Fall ist. Freuen Sie sich doch, dass wir eine so Lehrieder [CDU/CSU]: Gute Frau!)
schöne Lösung gefunden haben, die auch dem ent-
spricht, was Sie wollten.
Ingrid Fischbach (CDU/CSU):
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
NEN]: Herr Vogel, wissen Sie, wie das in der habe mich in dieser Debatte zwischendurch gefragt, wo-
Psychologie heißt? Umdeutung!) rum es eigentlich geht. Ich bin davon ausgegangen, dass
es um nicht weniger als 6,5 Millionen Menschen geht,
Da wir aus vielen Mündern, aus Ihrem, Frau Pothmer, für die wir den bestmöglichen Weg finden müssen und
und aus den Mündern der Kollegen von der SPD, gehört sollen, wie sie schnellstmöglich, problemlos und ohne
haben, die FDP wolle hier irgendetwas torpedieren, muss viel Bürokratie zurück in die Arbeit kommen.
ich sagen: Ich habe – auch nach dem, was der Kollege (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Kolb hier ausgeführt hat – das Gefühl, dass Sie, mögli- neten der FDP)
cherweise bewusst vor dem kommenden Wochenende,
die ganze Sache hochziehen, um einen Dissens zu kon- Ich habe nicht gedacht, Herr Scheelen – ich habe Sie in
struieren, den es gar nicht gibt. Da ist ein Punkt von den den Debatten in den letzten Jahren anders kennenge-
Haushältern nicht abgelehnt, sondern einfach nur abge- lernt –, dass wir über den Wahlkampf in NRW reden.
setzt worden, und zwar in einer Woche, in der sie nun (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Genau! Thema
wirklich genug andere Themen haben, Frau Kramme. verfehlt! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Des-
wegen war Herr Laumann ja heute hier! – Ge-
(Anette Kramme [SPD]: Sagen Sie doch ein- genruf des Abg. Max Straubinger [CDU/
fach: Wir stimmen zu!) CSU]: Nein! Der war hier, weil er so großen
Ich habe großes Vertrauen in unsere Haushälter – ich Sachverstand hat!)
habe gerade den Kollegen Heil im vertraulichen Ge- Dazu könnten wir eine ganze Menge sagen, aber nicht an
spräch mit unseren Haushältern gesehen –, dass sie dafür dieser Stelle. Ich fand es schade, dass Sie nicht auf die
sorgen, dass es eine gute Lösung im Interesse der Men- positiven Folgen eingegangen sind, die dieser Gesetzent-
(B) schen geben wird. Dieses Vertrauen könnten Sie eigent- wurf mit sich bringt. (D)
lich auch haben.
Ich möchte Sie, Herr Heil, und Ihre Fraktion aus-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: „Just Do It“, drücklich dafür loben, dass Sie dieses Angebot gemacht
heißt es bei Nike!) haben. Allerdings – Sie wissen, dass ich mein Lob sofort
ein bisschen abschwächen muss – hätten auch Sie allein
Insofern appelliere ich ganz ernsthaft an Sie: Ziehen es nicht geschafft;
Sie den Punkt nicht hoch. Hängen Sie es ein bisschen tie- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Wir ha-
fer; denn sonst müssen Sie, Herr Heil, sich fragen lassen, ben die Bundestagswahl leider nicht gewon-
ob Sie den Geist, der uns zu dieser wirklich guten Lösung, nen! Das stimmt! – Gegenruf des Abg. Paul
die im Interesse der Menschen ist, gebracht hat, aufgrund Lehrieder [CDU/CSU]: Woran das wohl gele-
kurzfristiger parteipolitischer Profilierung missachten. gen hat!)
Ich glaube, eine solche Missachtung haben die Menschen
nicht verdient. Das haben wir nicht nötig. Halten Sie ein- auch Sie haben sich bewegt. Wenn Sie, Frau Kramme,
fach einmal die Hufe still; dann werden wir alle eine gute jetzt sagen, Sie hätten für die Rettung gesorgt, dann
Lösung bekommen. muss man auch diese Aussage etwas relativieren. Herr
Heil weiß, dass auch er Kompromisse eingehen musste
In diesem Jahr werden wir auch noch an die anderen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ist das Le-
Aufgaben herangehen. Ich sage ganz klar: Es geht hier ben!)
nicht nur um Strukturen. Das ist nur der Anfang. Das ist
sozusagen nur die Pflicht. Die Kür müssen wir durch und dass unsere Fraktion die drei Forderungen, die uns
eine bessere Betreuung und durch eine schnellere Ver- wichtig waren und die wir übrigens schon im letzten Jahr
mittlung sowie durch andere Maßnahmen wie bessere erhoben haben, umsetzen konnte.
Zuverdienstmechanismen und faire Regelsätze im Laufe (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Na ja, na ja! Je-
dieses Jahres erbringen. Ich habe großes Vertrauen, dass der braucht seine Gesichtswahrung, nicht
wir als Koalition das schaffen werden. Sie können sich wahr, Frau Kollegin?)
dabei konstruktiv einbringen.
An dieser Stelle sind Sie uns entgegengekommen.
Vielen herzlichen Dank. Ich muss sagen: Wenn es um die Menschen geht, ist
es doch gut, wenn wir Kompromisse finden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
3828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Ingrid Fischbach
(A) Es würde niemand verstehen, würden wir an dieser kommunen zu erweitern. Dies haben wir getan. Es ist (C)
Stelle zerren und zanken. Es geht darum, den Menschen auch ein Erfolg der CDU/CSU-Fraktion und ihrer Ver-
zu helfen, Verbesserungen auf den Weg zu bringen und handlungsführer, dass diese Regelung Bestandteil des
bestmögliche Lösungen zu finden. Gesetzentwurfes ist.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ist das!) (Beifall bei der CDU/CSU)
Dabei haben wir teilweise unterschiedliche Auffassun- Auf die Kompetenzen und Erfahrungen der Kommunen
gen, gar keine Frage. Da Frau Kramme sagte, es gehe wollen und werden wir nicht verzichten.
mal hin und mal her,
Der dritte Punkt, der uns wichtig war, ist die Bundes-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Da hat sie aufsicht. Wir wollen eine einheitliche Bundesaufsicht.
recht! – Bernd Scheelen [SPD]: Das hat auch Derjenige, der bezahlt, muss auch die Möglichkeit haben,
Herr Laumann gesagt!) zu kontrollieren. Bei den Argen bzw. Jobcentern ist dies
stelle ich fest: Letzten Endes gehen wir natürlich den durch die BA gewährleistet. Was die Optionskommunen
Weg, der für die Menschen am besten ist. betrifft, haben wir diese Kompetenz auf die Länder über-
tragen. Aber auch hier hat der Bund die Möglichkeit, auf
Denken Sie nur einmal an die Anfänge Ihrer Regie- die Länder einzuwirken und zu kontrollieren, sodass un-
rungszeit. Damals gab es Ministerwechsel en masse. Das ser Anliegen, dass es eine einheitliche Bundesaufsicht
war schlimm. Daran will ich eigentlich gar nicht erin- gibt, erfüllt wird.
nern.
Frau Kipping, Sie sollten das eine oder andere Mal
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bei uns hat das
aber irgendwann aufgehört! Das ist der Unter- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Frau Kipping
schied zu Ihnen!) sollte mit dem Telefonieren aufhören!)
Uns geht es darum, Lösungen zu finden. Wir haben Lö- auf Ihre Basis hören. Es war ja nicht das erste Mal, dass
sungen gefunden. Es ist wichtig, den Menschen zu hel- Sie von diesem Pult aus Forderungen erhoben haben, die
fen, und zwar so, dass sie eine schnelle Hilfe und Hilfe an der Basis ganz anders gesehen werden, auch an Ihrer
aus einer Hand bekommen. Das war uns wichtig. Basis.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das klang im (Katja Kipping [DIE LINKE]: Ja! Weil Sie die
Koalitionsvertrag aber noch ganz anders! – falschen Rahmenbedingungen setzen! – Ge-
Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/ genruf des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]:
(B) CSU]: Herr Heil, seien Sie doch jetzt mal Sie sind wie das Zentralkomitee! Die wussten (D)
friedlich, Menschenskinder!) auch alles besser!)
– Herr Heil, Sie wissen doch, wie es bei den Koalitions- Das sollte Sie ermutigen, auch einmal darüber nachzu-
verträgen, die wir miteinander geschlossen haben, war. denken, ob Ihre Kollegen in den Kommunalparlamenten
Sie haben beim letzten Mal Dinge unterschreiben müs- vielleicht gar nicht so falsch liegen. Auch Sie sollten ein-
sen, die Sie nicht wollten; wir übrigens auch. mal die Meinungen und Forderungen Ihrer Kollegen un-
terstützen. Das wäre nicht verkehrt. Das sollten Sie tun.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha! War es
Das würde Sie an der einen oder anderen Stelle vielleicht
diesmal also die FDP?)
in die Lage versetzen, politisch zu agieren, statt immer
So ist es bei einem Koalitionsvertrag. Herr Heil, das ist nur aus der Opposition Forderungen zu erheben, die von
wie in einer Familie: Man muss Kompromisse eingehen. der Basis gar nicht unterstützt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
neten der FDP)
Ich möchte mich nicht ständig wiederholen. Ich
Wir wollen Hilfen aus einer Hand; das ist uns wich- glaube, es ist dennoch wichtig, noch einmal hervorzuhe-
tig. Wir wollen nicht, dass die Menschen hin- und her- ben – Kollege Straubinger hat das bereits deutlich ge-
laufen, ständig neue Formulare ausfüllen und immer macht –, warum wir dem Vorschlag von Minister Scholz
wieder das Gleiche sagen müssen. Dass das nicht ge- beim letzten Mal nicht gefolgt sind.
schieht, haben wir hiermit vorbereitet; das wird nun auf
den Weg gebracht. Das ist wichtig. Das ist ein Erfolg. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und dem von
Dafür haben wir uns als CDU/CSU-Fraktion eingesetzt, 16 Bundesländern!)
und das haben wir auch durchgesetzt. – Aber in diesem Haus entscheiden die Mitglieder des
Wir wollen – hier sind wir unterschiedlicher Mei- Parlaments. In meiner Fraktion, Herr Heil, ist es so, dass
nung –, dass die Kommunen beteiligt werden, das heißt, wir diskutieren.
dass die Kommunen, die schon optiert haben, entfristet (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie haben
werden und dass weitere Kommunen die Möglichkeit Laumann damals blamiert!)
bekommen, ihre Aufgaben selber wahrzunehmen. Hier
gibt es sehr gute Erfahrungen, allerdings auch schlechte. Wenn wir der Meinung sind, dass Ihre Vorschläge nicht
Es ist wie bei den Argen: Es gibt gute, und es gibt weni- unseren Anliegen entsprechen, dann machen wir das
ger gute. Uns ist wichtig, die Möglichkeiten der Options- deutlich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3829
Ingrid Fischbach
(A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das nennt man stützen. Ich bin dankbar, Frau Ministerin, dass Sie das in (C)
ein Rückzugsgefecht!) die Hand nehmen, und bin sicher, Sie werden es zu ei-
nem guten Ende führen.
Der Vorschlag von Minister Scholz lief darauf hinaus,
dass Sie eine neue Körperschaft öffentlichen Rechts ein- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
führen wollten, neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
Drei Schleimpunkte!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herr Laumann
wollte das vorhin auch noch!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
was einen Riesenverwaltungsaufwand zur Folge hätte. Ich schließe die Aussprache.
Unsere Fraktion wollte das nicht. Wir wollten ebenso
eine Ausweitung der Zahl der Optionskommunen. Da Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
sind Sie uns – das muss man leider feststellen – nicht würfe auf den Drucksachen 17/1554 und 17/1555 an die
entgegengekommen. Diesmal waren Sie entgegenkom- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
mend und zuvorkommend; deswegen finden wir diesmal schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist
einen Kompromiss. nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Wenn man sich die Rückmeldung der beteiligten Ver-
bände, überhaupt der beteiligten Personen ansieht, kann Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
man feststellen, dass dieser Kompromiss ein sehr guter a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Kompromiss ist; denn die Zustimmung ist sehr groß. Höhn, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, weiterer
Nur ein großer Gewerkschaftsverband, der DGB, hat Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
noch etwas zu kritisieren. Verdi unterstützt den Kompro- DIE GRÜNEN
miss. Es gibt also große Zustimmung. Was wir heute in
erster Lesung auf den Weg bringen, ist, glaube ich, eine Gleichklang von Bund und Ländern beim Kli-
gute Möglichkeit, diejenigen Dinge zu verändern, die maschutz sicherstellen
wir verändern wollen. – Drucksache 17/1430 –
Ich möchte zum Schluss auf einen Punkt eingehen, der b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
meiner Fraktion und mir wichtig ist: Wir verändern auch Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Sabine
den Betreuungsschlüssel. Bei den unter 25-Jährigen ver- Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
bessern wir den Betreuungsschlüssel auf 1:75; bei den an- DIE LINKE
deren liegt er bei 1:150. Zur Verbesserung der Betreuung
(B) gehört natürlich, dass das Personal den Aufgaben ge- Klimaschutzziele gesetzlich verankern (D)
wachsen ist. Wir brauchen keine neuen Mitarbeiter; wir – Drucksache 17/1475 –
haben gute Mitarbeiter, die eingearbeitet sind. Deswegen
Überweisungsvorschlag:
sollten wir versuchen, bis zur zweiten und dritten Lesung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
zu erreichen – das wird die Beratung bringen –, dass die Auswärtiger Ausschuss
Stellen entfristet werden. Das ist nämlich ein wichtiges Rechtsausschuss
Zeichen an diejenigen, die agieren, aber auch an die Men- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
schen, die Beratung und Förderung brauchen. Daran wer- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
den wir arbeiten. Ich glaube, wir sind auf einem guten Entwicklung
Weg. Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich Haushaltsausschuss
denjenigen danken, die diesen Kompromiss in vielen
Stunden ausgehandelt haben – Herrn Heil habe ich schon Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
erwähnt –: Karl Schiewerling, Max Straubinger, Heinz die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Kolb, aber auch Staatssekretär Hoofe. Trotz allem, Herr Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
Heil, müssten Sie auch anerkennen: Ohne die Ministerin, das so beschlossen.
die so beherzt und tatkräftig in der Lage ist – – Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Ministerin nerin der Kollegin Bärbel Höhn von Bündnis 90/Die
war bei den Verhandlungen nicht dabei! Aber Grünen das Wort.
es ist nett, dass Sie sie erwähnen!)
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
– Herr Heil, Sie wissen doch: Wenn Ihre Untergebenen
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
in Ihrer Fraktion –
Wenn es um den Klimaschutz geht, spielt diese Bundes-
(Ute Kumpf [SPD]: „Untergebenen“?) regierung ein doppeltes Spiel.
– wenn Ihre Mitarbeiter, Ihre Kollegen – etwas erarbei- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ten, halten Sie doch immer das Zepter in der Hand, füh- Nicht nur da!)
ren Sie doch die Feder.
Das ist selten so deutlich geworden wie in dieser Wo-
Wir haben eine Ministerin, die sehr beherzt und sehr che: Auf dem Petersberg erklärt der Bundesumwelt-
kraftvoll an die Arbeit geht. Wir werden sie dabei unter- minister, nach dem Scheitern der Klimakonferenz von
3830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Bärbel Höhn
(A) Kopenhagen müsse man jetzt auf konkrete Klimaschutz- freund Jürgen Rüttgers verlangt sie diesen Mut nicht. (C)
projekte setzen. Zur gleichen Zeit stoppt diese Bundesre- Das ist doppelzüngig. Das lassen wir nicht durchgehen.
gierung Tausende von konkreten Klimaschutzprojekten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
in Deutschland, und zwar indem sie die Förderung von
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Ökoheizungen, nämlich von Holzpelletanlagen, von
LINKEN)
Wärmepumpen, von Solaranlagen und von Mini-KWK-
Anlagen sperrt. Meine Damen und Herren, entsperren Beim Kohlekraftwerk Datteln geht es um einen Kli-
Sie die Mittel für diese Anlagen; denn das sind konkrete makiller, der nach Fertigstellung das Klima mit enormen
Klimaschutzprojekte. 6,5 Millionen Tonnen CO2 im Jahr belasten wird. Um-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weltschützer haben gegen den Bau geklagt und vor dem
sowie bei Abgeordneten der SPD) Oberverwaltungsgericht Münster recht bekommen, und
zwar deshalb, weil die Richter festgestellt haben, dass
Auf dem Petersberg beschwört der Bundesumweltmi- dieser Bau dem in der Landesplanung verankerten Ziel
nister die zentrale Rolle der erneuerbaren Energien für des Klimaschutzes widerspricht. Deshalb ist das Kohle-
Klimaschutz und neue Jobs. Damit hat er recht. Aber kraftwerk in Datteln mittlerweile der größte illegale
gleichzeitig steht heute ein Gesetzentwurf zur Änderung Schwarzbau der Republik.
des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Bundestag zur
Abstimmung, der eine Absenkung der Förderung für (Zuruf von der SPD: So ist es!)
die Fotovoltaik um 30 Prozent in 13 Monaten vorsieht. Das ist ein schlechtes Zeichen für CDU und FDP in
Das ist zu viel. Das gefährdet die Arbeitsplätze in die- Nordrhein-Westfalen.
sem Bereich, und deshalb sagen wir: So geht es nicht.
Diese Kürzung können Sie nicht vornehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wie hat die Landesregierung von Nordrhein-Westfa-
len auf die Schelte der Richter reagiert? Sie hat einfach
Auf dem Petersberg plädiert der Bundesumweltminis- den sogenannten Klimaschutzparagrafen aus der Lan-
ter für neue Partnerschaften mit anderen Staaten, um die desplanung gestrichen, um am Ende doch den Schwarz-
Energieeffizienz voranzubringen. Gleichzeitig haben wir bau zu ermöglichen. Das ist eine Lex Eon, nicht mehr
gerade in diesem Monat einen traurigen Rekord zu ver- und nicht weniger. Eine klarere Absage hätte die Regie-
zeichnen. Denn die Umsetzung der Energieeffizienz- rung Rüttgers/Pinkwart dem Klimaschutz nicht erteilen
Richtlinie der EU ist schon zwei Jahre überfällig. Des- können. Das, was in Nordrhein-Westfalen gemacht wor-
halb warten in Deutschland Unternehmer und Verbrau- den ist, ist gegen den Klimaschutz.
(B) (D)
cher auf genau diese Effizienzpartnerschaften des Bun-
desumweltministers. Hic Rhodus, hic salta! Hier muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
etwas geschehen. Schöne Worte auf einer internationalen sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Jürgen
Konferenz reichen nicht. Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Des-
halb wählen wir die ja ab!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Der CO2-Ausstoß in Nordrhein-Westfalen beträgt
mittlerweile 16 Tonnen pro Person und Jahr.
Das ist ein doppeltes Spiel: Hier reden Sie so, und dort
handeln Sie ganz anders. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wie in den USA! – Ulrich Kelber
Auch das gehört zur Wahrheit: Auf der Petersberger [SPD]: American way of life!)
Konferenz hat die Bundeskanzlerin Anfang der Woche
mehr Mut beim Klimaschutz eingefordert. Das ist mehr als in Saudi Arabien. Der CO2-Ausstoß in
ganz Deutschland liegt bei 9,5 Tonnen.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Für sich selber!) Interessant ist, dass diese Fixierung auf die Kohle ei-
nen weiteren, dramatisch negativen Effekt hat: Bei den
Den Rest der Woche macht sie dann Wahlkampf für ei-
erneuerbaren Energien wird zu wenig gemacht. In die-
nen Ministerpräsidenten Rüttgers, der den Klimaschutz
sem Bereich hinkt Nordrhein-Westfalen bisher schon
aus den Landesgesetzen streichen lässt. Das ist nicht in
hinterher. Der Anteil der erneuerbaren Energien an
Ordnung; das widerspricht sich.
der Stromerzeugung beträgt in Nordrhein-Westfalen um
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die 6 Prozent. In der übrigen Bundesrepublik sind es fast
sowie bei Abgeordneten der SPD) 20 Prozent. Hier liegt der Anteil erneuerbarer Energie
also mehr als dreimal so hoch wie in Nordrhein-Westfa-
Rüttgers hatte die Wahl zwischen dem Kohlekraft- len. Das hat mit dem Vorrang der Kohle und der Politik
werk in Datteln und dem Klimaschutzrecht. Wofür hat dieser schwarz-gelben Regierung zu tun.
er sich entschieden? – Gegen den Klimaschutz und für
das Kohlekraftwerk, und die Kanzlerin und CDU-Vorsit- Sie sind vor fünf Jahren mit einem Wettlauf gegen die
zende Angela Merkel hat nichts getan, um ihn davon ab- erneuerbaren Energien gestartet. Damals hat Bauminis-
zubringen. Das geht nicht, meine Damen und Herren. ter Wittke gegen die Windkraft verkündet: „Das ist das
Von China, Brasilien und den USA hat sie Mut beim Kli- Erste, was wir kaputtmachen werden.“ Sein Kollege
maschutz eingefordert, aber von ihrem eigenen Partei- Papke, Fraktionsvorsitzender der FDP
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3831
Bärbel Höhn
(A) (Ulrike Flach [FDP]: Waren die im Landtag, Bund und Ländern beim Klimaschutz sicherstellen“, der (C)
oder wo sind die politisch tätig?) nichts anderes zum Ziel hat, als dem Landtagswahl-
kampf in Nordrhein-Westfalen eine Plattform im Deut-
– ja –, hat gesagt, Windkraftanlagen in Nordrhein- schen Bundestag zu verschaffen.
Westfalen hätten keinerlei energiepolitischen Wert.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Wenn wir in Nordrhein-Westfalen, Frau Flach, nicht
der FDP)
endlich die entsprechenden Maßnahmen für den Klima-
schutz und den Ausbau der erneuerbaren Energien tref- Das Ziel dieses Antrags ist nichts anderes, als die Arbeit
fen, dann werden wir unsere Klimaziele hier in Deutsch- der schwarz-gelben Landesregierung in Nordrhein-
land nicht erreichen. Das ist der Zusammenhang mit der Westfalen im Bereich Klima- und Energiepolitik
Politik im Bund. schlechtzureden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Frank Schwabe [SPD]: Die der Bundesregie-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- rung auch!)
KEN – Widerspruch des Abg. Franz Obermeier
[CDU/CSU]) Meine Damen und Herren von den Grünen, ich habe
ja Verständnis dafür, dass Sie jedes Mittel nutzen wollen,
Was sollen eigentlich die Länder China, Indien und um in NRW noch ein paar Stimmen dazuzugewinnen.
Südafrika denken, denen wir ihre geplanten Kohlekraft- Ich verstehe allerdings nicht, dass Sie sich so wenig da-
werke vorwerfen, wenn die Bundesregierung eine Kli- für anstrengen. Die Wähler werden nicht auf diesen
maschutzkonferenz in Nordrhein-Westfalen veranstal- oberflächlichen und fachlich falschen Antragsklamauk
tet, das als Bundesland ein so schlechtes Beispiel gibt? hereinfallen. Besonders deutlich wird das Schnellstrick-
Deshalb sage ich: Eine Politik wie die, die Rüttgers muster des Antrags da, wo Anregungen für die deutsche
macht, zerrüttet die Glaubwürdigkeit der Klimadiploma- Position auf der Klimakonferenz in Bonn gegeben wer-
tie Deutschlands, des Bundesumweltministers und der den sollen. Wie wir wissen, war die Konferenz bereits
Kanzlerin. Wie sollen sie denn am Ende glaubhaft ver- am vergangenen Wochenende.
treten, dass sie für Klimaschutz sind, wenn sie gleichzei-
tig das durchgehen lassen, was Rüttgers in Nordrhein- (Ulrich Kelber [SPD]: Nein, bis Ende dieses
Westfalen macht? Deshalb muss sich das ändern. Monats, Frau Kollegin!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Selbst bei diesem Detail läuft der Antrag wegen augen-
und bei der SPD) scheinlicher Qualitätsmängel ins Leere.

Die Wahrheit ist: Wir haben in Nordrhein-Westfalen (Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP] – Ulrike
(B) Flach [FDP]: Hört! Hört!) (D)
fünf Jahre für den Ausbau erneuerbarer Energien und für
Maßnahmen für den Klimaschutz verloren. Deshalb Meine Damen und Herren von den Grünen, die Bür-
müssen wir Rüttgers stoppen. Die Bundesregierung ger in NRW wissen sehr genau, was Schwarz-Gelb in
muss dieses Tun von Rüttgers stoppen. Wir werden un- NRW geleistet hat.
ser Bestes dafür tun, dass der Klimaschutz in Nordrhein-
Westfalen wieder an Fahrt gewinnt. Dafür werden wir (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-
am Sonntag sorgen. Wir werden Rüttgers die Quittung NIS 90/DIE GRÜNEN)
geben, die er verdient hat. Die Bürger wissen sehr genau, dass sie sich auf die Bun-
Vielen Dank. desregierung und insbesondere die Bundeskanzlerin
auch in der Klimapolitik verlassen können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Warum
LINKEN – Michael Kauch [FDP]: Dann streiten Sie sich überhaupt? Sie wollen doch
kommt der Feldhamster wieder!) mit den Grünen regieren!)
Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Klimaphrasen wer-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den Ihnen im Wahlkampf nicht helfen. Klimaschutz ist
Das Wort hat die Kollegin Marie-Luise Dött von der und bleibt Zentrum unserer Politik – im Bund genauso
CDU/CSU-Fraktion. wie in NRW.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Dafür stehen Angela Merkel und Jürgen Rüttgers, und
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- zwar in einem engen Schulterschluss.
ren! Die zur heutigen Beratung anstehenden Anträge las-
sen eigentlich vermuten, dass wir uns im Kern mit einem (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Mit den
Klimaschutzgesetz auseinanderzusetzen haben. Dem ist Grünen!)
jedoch nicht so, wie Sie gerade erlebt haben; denn der Der von Ihnen geforderte Gleichklang ist längst vorhan-
Entwurf der Grünen zu einem Klimaschutzgesetz steht den. Er ist die Voraussetzung für die Erfolge,
heute nicht auf der Tagesordnung, dafür aber sozusagen
ein Ergänzungsantrag mit dem Titel „Gleichklang von (Ulrich Kelber [SPD]: Emissionshandel!)
3832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Marie-Luise Dött
(A) die wir im Klimaschutz bereits erreicht haben. Das ist Genau diese zwei Aspekte, nämlich der stärkere Ausbau (C)
deutlich mehr, als rot-grüne Regierungen, egal ob im der Erneuerbaren und der Kraft-Wärme-Kopplung, sind
Bund oder in den Ländern, Frau Höhn, aus ihren Regie- wesentliche Inhalte des neuen Landesentwicklungs-
rungszeiten vorzuweisen haben. Die ständigen Forde- plans.
rungen aus dem grünen Lager nach neuen Klimazielen
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
zeigen, dass es dort noch immer nicht gelingt, die klaf-
Deshalb haben Sie das gestrichen?)
fende Lücke zwischen ideologischem Anspruchsdenken
und tatsächlich Machbarem zu überbrücken. Mit den Änderungen wird für die räumliche Umsetzung
der Energie- und Klimaschutzstrategie des Landes ge-
(Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP] – sorgt. Es wird der räumliche Rahmen für den Ausbau er-
Ulrich Kelber [SPD]: Das war jetzt ein harter neuerbarer Energien und für die Kraft-Wärme-Kopplung
Treffer!) gesetzt. Diesen Zielen und Maßnahmen sollten Sie ei-
Fakt ist: Es gab einmal das nationale Klimaschutzziel, gentlich zustimmen, statt sie zu kritisieren.
die CO2-Emissionen – das steht im Antrag der Linken – Natürlich geht es bei den Änderungen am Landesent-
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter An- wicklungsplan auch um die Kraftwerkserneuerung, und
trag!) zwar deshalb, weil insbesondere ein Industrieland wie
Nordrhein-Westfalen auf einen umweltverträglichen, si-
um 25 Prozent bis 2005 zu reduzieren. Dieses Ziel cheren und bezahlbaren Energiemix angewiesen ist. Eine
wurde von den Grünen zunächst als zu wenig ambitio- Voraussetzung dafür sind Kraftwerke. Beim Ausbau ei-
niert kritisiert und anschließend vom grünen Umweltmi- nes solchen Energiemixes zeigt sich ökologische, wirt-
nister Trittin wegen Unerreichbarkeit klammheimlich schaftliche und soziale Verantwortung von Politik. Ge-
unter den Tisch fallen gelassen. rade bei den Forderungen in Ihrem Antrag, meine
Damen und Herren von den Grünen, zeigt sich, dass Ihre
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Politik zumindest auf zwei Augen blind ist.
der FDP)
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Fakt ist: Trotz miserabler Konjunktur ist es in den sie- NEN]: Auf mindestens zwei Augen!)
ben Jahren grüner Politik nicht gelungen, die CO2-Emis-
sionen in Deutschland nennenswert weiter zu senken Soziale Verantwortung für vertretbare Energiepreise? –
oder zu stabilisieren. Fehlanzeige. Verantwortung für den Wirtschaftsstandort
und für Arbeitsplätze? – Fehlanzeige. Mit Ihrer Politik
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des ökologischen Tunnelblicks sind Sie im Bund ge-
(B) der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE scheitert. Sie werden auch in NRW scheitern. (D)
GRÜNEN]: Das ist total falsch!)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie besetzen das Thema Klimaschutz immer mit heh- So sieht es nicht aus!)
ren Worten. Wir setzen Klimaschutz mit konkreten Maß-
nahmen in der Praxis um. Der Gleichklang der Energiepolitik von Bund und
NRW ist gesichert. Er besteht nicht nur in der Kompati-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bilität der Ziele, sondern gerade darin, dass sich unsere
gemeinsame Energiepolitik nicht auf das Klimaziel al-
Meine Damen und Herren, gern gehe ich als Abge-
lein beschränkt. Unsere gemeinsame Energiepolitik
ordnete aus NRW auf das landespolitische Kernthema
schafft nachhaltige Versorgungssicherheit,
des Antrags ein,
(Ulrich Kelber [SPD]: Für RWE-Aktionäre!)
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Machen Sie
etwa Wahlkampf? Sie wollten doch keinen und sie sichert langfristig günstige Energiepreise.
Wahlkampf machen!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
nämlich die Kritik an den Änderungen des Landesent- Dazu brauchen wir einen breiten Energiemix, und dazu
wicklungsprogramms und des Landesentwicklungs- brauchen wir bis auf Weiteres auch moderne, hocheffi-
plans. ziente Kohlekraftwerke. Jeder weiß, dass selbst dann,
Zunächst einmal finde ich es schon ziemlich unver- wenn wir unser sehr anspruchsvolles Ziel, im Jahr 2020
froren, die Änderungen am Landesentwicklungsplan 30 Prozent unseres Stroms aus Erneuerbaren zu erzeu-
zu kritisieren und gleichzeitig einen stärkeren Ausbau gen, erreichen, immer noch 70 Prozent des verbleiben-
der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopp- den Strombedarfs aus anderen Quellen kommen müssen.
lung in NRW zu fordern. Wer heute die Kohleverstromung in hochmodernen
Kraftwerken blockiert, der handelt umwelt-, wirtschafts-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und sozialpolitisch unverantwortlich.
Warum das denn?)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Meine Damen und Herren von den Grünen, haben Sie Das ist eben falsch!)
sich überhaupt einmal mit dem Landesentwicklungsplan
befasst? Meine Damen und Herren, ja, mit den Änderungen am
Landesentwicklungsplan werden auch die Grundlagen
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für die Kraftwerkserneuerung in NRW gelegt. Gerade
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3833
Marie-Luise Dött
(A) das ist für einen erfolgreichen Klimaschutz notwendig; Wie nicht anders zu erwarten, ist im Antrag der Grü- (C)
denn das CO2-Reduktionspotenzial des Kraftwerkserneu- nen auch wieder die Forderung nach einem Klima-
erungsprogramms ist enorm. Das Kraftwerkserneuerungs- schutzgesetz enthalten.
programm NRW hat ein Minderungspotenzial bis 2020 von
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
30 Millionen Tonnen. Das sind mehr als 10 Prozent des
NEN]: Genau! – Ute Kumpf [SPD]: Was ist
Gesamtausstoßes in NRW.
denn dazu zu sagen?)
Das sind die Ziele, die mit der Änderung des Landes- Auch die SPD hat sich inzwischen dieser Forderung an-
entwicklungsplans gesetzt werden. Zum Erreichen die- geschlossen.
ser Ziele brauchen wir genau solche Kraftwerke wie das,
was in Datteln entstehen wird; (Ulrich Kelber [SPD]: Andersherum! Frau
Dött, keine Unterstellungen! – Bärbel Höhn
(Frank Schwabe [SPD]: Das sieht die CDU in [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, wir wa-
Datteln aber anders!) ren zuerst! Sie können das an den Drucksa-
chen sehen!)
denn Datteln ist Teil des Kraftwerkserneuerungspro-
gramms. Hier werden drei alte Blöcke mit einem Wir- – Wenn es andersherum ist, ist es auch egal. – Meine Da-
kungsgrad von rund 30 Prozent abgeschaltet und durch men und Herren, wollen Sie wirklich die endlosen, un-
das neue hochmoderne Kraftwerk mit einem Wirkungs- säglichen und noch dazu völlig überflüssigen Debatten
grad von über 45 Prozent ersetzt. Datteln wird zudem um ein Klimaschutzgesetz, wie wir es gerade unter Rot-
durch Abwärmenutzung einen noch höheren Nutzungs- Rot in Berlin erleben, auf der Ebene des Bundes führen?
grad haben. Allein bei diesem Kraftwerk besteht ein Wollen Sie Debatten zu einem Gesetz, das am Ende ge-
Schadstoffreduktionspotenzial von 20 Prozent. nauso inhaltsleer ist wie das, was gerade in Berlin im in-
zwischen dritten Entwurf verhandelt wird?
Die Nutzung dieser modernen Kraftwerke ermöglicht (Frank Schwabe [SPD]: Das ist spannend!
es uns, die alten ineffizienten und CO2-intensiven Kraft- Lässt der Minister das vielleicht gerade prü-
werke vom Netz zu nehmen. fen?)
Damit ist Datteln ein wichtiger Baustein nicht nur für Oder bleiben Sie, meine Damen und Herren von der
die energetische Basis des Industrielandes Nordrhein- SPD, bei dem in Meseberg mit dem Integrierten Energie-
Westfalen, und Klimaprogramm vereinbarten Vorgehen, einem Vor-
gehen mit weniger Absichtserklärungen, dafür aber mit
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- konkreten Maßnahmen, bei denen wir sehr genau vorge-
(B) NEN]: Das tut Eon ja nicht einmal!) geben haben, in welchem Umfang jede dieser Maßnah- (D)
men zur CO2-Minderung beizutragen hat?
sondern auch für das Erreichen des Klimaschutzziels
von NRW, nämlich den CO2-Ausstoß bis 2020 um Wir brauchen kein Klimaschutzgesetz.
33 Prozent zu senken.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie
(Frank Schwabe [SPD]: Ich dachte, Sie wollen machen den Klimaschutz auch so kaputt!)
40 Prozent!) Wir werden das in Meseberg beschlossene Energie- und
Dies ist ein sehr ambitioniertes Ziel für ein Industrie- Klimaprogramm weiter planmäßig und zügig umsetzen.
land; dieses ist aber wiederum ein wichtiger Baustein für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
das Erreichen unseres nationalen Klimaziels. neten der FDP)
(Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ Wir werden eine Evaluierung und gegebenenfalls auch
DIE GRÜNEN]) eine Nachjustierung der Meseberg-Beschlüsse vorneh-
men, womit sichergestellt wird, dass wir unsere ambitio-
Damit Klimaschutz nicht nur auf dem Papier steht, nierten Klimaziele erreichen.
Frau Höhn, brauchen wir zur Umsetzung die erforderli-
chen Instrumente und Pläne. Genau deshalb ist der Lan- Meine Damen und Herren, das energie- und klima-
desentwicklungsplan geändert worden. Genau deshalb politische Programm dieser Regierung ist Garant dafür,
wurden darin auch die Grundlagen für das Kraftwerk dass Deutschland seine Klimaziele erreichen wird und
Datteln geschaffen: für eine konsistente und verlässliche auch in Zukunft beim Klimaschutz internationaler
Klima- und Energiepolitik in NRW als Element für das Schrittmacher bleibt.
Erreichen unseres nationalen Klimaziels. Ich sage als Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
nordrhein-westfälische Abgeordnete ganz selbstbewusst:
Was für Nordrhein-Westfalen umweltpolitisch und wirt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich
schaftlich gut ist, ist auch für den Bund gut. Kelber [SPD]: Rezessionsgewinnlerin!)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
neten der FDP) Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schwabe von
der SPD-Fraktion.
Und Klima-, Energie- und Wirtschaftspolitik in Nord-
rhein-Westfalen sind gut. (Beifall bei der SPD)
3834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Frank Schwabe (SPD): Ich weiß nicht, ob Herr Fuchs gut geschlafen hat oder (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ob er Albträume hatte nach dem, was der Wissenschaftli-
Frau Dött, es tut mir ganz schrecklich leid: Sie haben che Beirat der Bundesregierung – nicht des Parlaments,
nicht verstanden, was Kern eines Klimaschutzgesetzes sondern der Bundesregierung – gestern auf den Tisch ge-
ist. legt hat; man kann es heute überall nachlesen. Ich
glaube, Sie sollten Herrn Fuchs die Rede wegnehmen,
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) die er hier gleich möglicherweise halten will.
Das hat mit einzelnen Maßnahmen gar nichts zu tun, (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Kommen Sie
sondern es handelt sich um eine Zielbeschreibung, und zur Sache!)
es geht um die Frage, wie man das Erreichen dieser Ziele
überprüft. Bis jetzt gibt es dazu kein vernünftiges Instru- Die Bundesregierung legt im Herbst – nach einem
mentarium in Deutschland. Deswegen brauchen wir ein Jahr Regierungsverantwortung – ein Energiekonzept
Klimaschutzgesetz analog zu dem, was beispielsweise in vor und veranstaltet in der Zwischenzeit nette Konferen-
Großbritannien gilt. zen auf dem Petersberg. Frau Dött, es gibt in diesem Jahr
zwei Konferenzen in Bonn.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/
CSU])
Wir stimmen heute über einen Antrag der Grünen ab,
dem wir als Sozialdemokraten im Prinzip zustimmen – Ja, gut; dann dürfen Sie den Grünen aber nicht unter-
können. Wir werden uns dennoch enthalten, weil er ab- stellen, dass sie falsche Dinge in ihren Antrag schreiben.
lehnende Passagen zum Thema Kohle enthält. Was in dem Antrag steht, ist genau richtig. Es gab gerade
den Petersberger Klimadialog, und es wird die verein-
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: barte Zwischenkonferenz in Bonn geben.
Ah!)
Die Intention dieser Petersberger Konferenz finde
– Ja! – Denn man muss schon die Frage beantworten, ich im Übrigen richtig. Aber es bringt alles nichts, wenn
wie man den Übergang gestalten will. Wir wollen ge- Sie gleichzeitig den Ruf Deutschlands in der internatio-
meinsam heraus aus der Atomenergie. Dafür braucht nalen Klimapolitik ruinieren und die nationale Klima-
man aber Übergangstechnologien. Das ist aus unserer schutzpolitik kaputt machen.
Sicht die Kohle.
Das ganze Elend der Debatte wird deutlich am heuti-
Ich will aber gleich hinzufügen: Natürlich kann man gen Tag. Wir haben heute nicht nur die Debatte zum Kli-
(B) darüber streiten, ob neugebaute Kraftwerke letztendlich maschutz, sondern auch die Debatte zum Erneuerbare- (D)
zu Museen für das untergegangene fossile Zeitalter wer- Energien-Gesetz und die Debatte zur Atomenergie, bei
den. Aber darum geht es im Kern nicht. Es geht vielmehr der Sie keine Brücke bauen, wie man heute in der Zei-
darum, ob zusätzlich zu den Kraftwerken, die schon im tung lesen konnte, sondern eine Krücke für RWE und
Bau sind, zukünftig noch weitere Kraftwerke gebaut Co. Sie betreiben gnadenlosen Lobbyismus bar jeder Lo-
werden. Ich gehe zurzeit davon aus, dass es aufgrund des gik, die nur einen positiven Effekt hat, nämlich das
Emissionshandels und anderer Rahmenbedingungen zu- Konto von Herrn Großmann und anderen in diesem
künftig keinen Neubau weiterer Kraftwerke in Deutsch- Land zu füllen.
land gibt. Das ist meine Erwartung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Jawohl, diese Debatte hier ist Teil einer Wahlkampf- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
auseinandersetzung, Frau Dött; das finde ich aber auch GRÜNEN)
gar nicht schlimm. Ich glaube, es ist wichtig, dass die
Ich lese Ihnen einmal ein Zitat vor, und Sie dürfen ra-
Menschen wissen, worum es in diesem Land eigentlich
ten, wer mir das geschrieben hat:
geht, und es ist notwendig, dass man die Menschen auf-
klärt, damit sie nicht dem auf den Leim gehen, was man- Wir sind in Sorge um unsere Unternehmen und die
che in der Bundesregierung an schönen Worten von sich damit verbundenen Arbeitsplätze. In den letzten
geben. Herr Röttgen zum Beispiel hält hier schöne Re- Jahren haben wir im Vertrauen auf die Verlässlich-
den, hat aber am Ende keine Substanz zu bieten. So ist ja keit der Politik und der Festlegung auf eine Klima-
die Aufteilung in dieser Bundesregierung und in Ihrer schutzpolitik unsere Kapazitäten ausgebaut. Diese
Koalition: Herr Röttgen macht den Philosophen und Verlässlichkeit ist jetzt in Gefahr.
Schönredner, und Ihre Fraktion und der Finanzminister
sagen dann, wo es langgeht. Wer war es? Das ist ein Brief der Innung für Sanitär- und
Heizungstechnik Castrop-Rauxel/Herne/Wanne-Eickel;
Exemplarisch dafür steht Ihr Kollege Herr Fuchs. Ich das betrifft die Wahlkreise von Gerd Bollmann und mir.
glaube, er ist im Moment gar nicht da. Wo ist er? Er wird Im Übrigen waren die Sozialdemokraten die Einzigen,
gleich oder vielleicht beim EEG sicher noch seinen Auf- die auf diesen Brief reagiert haben, wie mir gesagt
tritt haben. Herr Fuchs hat im Februar gesprochen von wurde. Das sind doch vermeintlich diejenigen, für die
Subventionsgräbern, womit er die Solarenergie meinte, Sie Politik machen wollen! Das sind diejenigen, die im
und von Vogelschredderanlagen, womit er die Wind- Bereich von Mittelstand und Handwerk unterwegs sind
energie meinte. Das ist anscheinend die Sichtweise Ihrer und denen Sie gerade die wirtschaftliche Basis entzie-
Regierungsfraktion. hen, indem Sie es fertigbringen, gleichzeitig die Mittel
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3835
Frank Schwabe
(A) des Marktanreizprogramms zu sperren und mit dem steht dafür, dass es eine schlampige und arrogante Pla- (C)
EEG die Solarbranche in diesem Land zu demontieren. nung von Eon, aber eben auch der Bezirksregierung gibt.
Diese Innung vertritt fast 50 Unternehmen in unseren Deswegen haben wir die Probleme in Datteln. Das ist
beiden Wahlkreisen, und diese Unternehmen sind in gro- das Problem dieser Landesregierung.
ßer Sorge ob Ihrer Politik, ob der Politik von Schwarz-
Grün in diesem Land. – Entschuldigung, von Schwarz- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des
Gelb! BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Heiterkeit) Jetzt wird ein untauglicher Versuch gestartet, das
Ganze dadurch zu reparieren, dass der gesamte Klima-
Ich hoffe, das war kein Vorgriff auf das, was am Sonntag schutz und die gesamte Vorrangstellung für erneuerbare
bei der Wahl herauskommt. Energien aus dem Landesentwicklungsprogramm gestri-
(Zurufe von der LINKEN: Doch!) chen werden. Deswegen brauchen wir am Sonntag bei
der Landtagswahl eine andere Mehrheit, eine rot-grüne
Ich jedenfalls habe andere Ziele. Mehrheit, eine Mehrheit, die für erneuerbare Energien
Die Politik von Schwarz-Gelb gefährdet alleine im eintritt und die im Übrigen auch über den Bundesrat da-
Kreis Recklinghausen Hunderte von Arbeitsplätzen. Sie gegen kämpft, dass die Atomkraftwerke hier in Deutsch-
sperren 115 Millionen Euro für die Zukunftsbranche, die land länger laufen, und zwar bis zum Jahre 2050. Das
100 000 Arbeitsplätze in diesem Land schafft. Gleich- geht nur mit Rot-Grün, und deswegen ist die Wahl am
zeitig geben Sie den Hoteliers Subventionen in Höhe Sonntag so wichtig.
von 1 Milliarde Euro im Jahr. Wer ist für diesen Abge-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sang auf eine zukunftsfähige Klima-, Arbeitsmarkt-
DIE GRÜNEN)
und Innovationspolitik in diesem Land verantwortlich?
Das ist die Politik von Schwarz-Gelb im Bund und auch Lassen Sie mich noch einige Sätze zur internationalen
in Düsseldorf. Situation sagen. Auch jetzt konnte man wieder lesen:
Sie treffen die Menschen und die Unternehmen im Herr Röttgen läuft herum – ich fasse es gar nicht mehr –
Ruhrgebiet im Übrigen gleich mehrfach: Sie ruinieren und sagt, er sei auch dafür, dass wir in der Europäischen
die Zukunft der heimischen Steinkohle – das betrifft al- Union die Zielvorgaben von 20 auf 30 Prozent verschär-
lein 30 000 Arbeitsplätze im Ruhrgebiet –, Sie sparen fen. Aber immer dann, wenn es konkret wird, wenn die
die Kommunen kaputt, machen sie handlungsunfähig Bundesregierung Farbe bekennen soll, dann ist die Bun-
und auch unfähig, Aufträge zu vergeben, und jetzt desregierung dagegen. Das ist die Politik von Herrn
(B) kommt noch Ihre Abbaupolitik im Bereich der Solar- Röttgen, etwas anzukündigen, wobei aber am Ende (D)
energie und des Marktanreizprogramms hinzu, wo- nichts umgesetzt wird. Damit verspielen Sie Vertrauen.
durch Sie weitere Hunderttausende Arbeitsplätze gefähr-
den. Daran ist nichts zukunftsfähig. Ihnen fehlt die Sie laufen in Petersberg herum und wollen bei Ent-
Vision. Ihnen fehlt eine Idee davon, wohin es eigentlich wicklungsländern Vertrauen schaffen, reden mit denen,
gehen soll in diesem Land. Wenn man keine Idee hat, aber schaffen es gleichzeitig in den Haushaltsberatungen
wohin es gehen soll, dann verfängt man sich in Kurz- nicht, das ihnen in Kopenhagen versprochene neue und
fristlobbyismus, und was Sie damit anrichten, kann man zusätzliche Geld für den internationalen Klimaschutz,
in der Tat – darüber weiß ich einiges, denn daher komme 420 Millionen Euro pro Jahr, zur Verfügung zu stellen.
ich – komprimiert in Nordrhein-Westfalen sehen. Sie haben am Ende nur 70 Millionen Euro neues Geld,
und zwar auf Druck der Opposition, zur Verfügung ge-
Eines muss man Ihnen allerdings lassen: Sie sind eine stellt. Da, wo ich herkomme, nennt man das eine glatte
Koalition des perfekten Timings. Mit großer Zielgenauig- Lüge: Wenn man 420 Millionen verspricht und am Ende
keit laufen Sie wirklich in jeden Kuhfladen, den das in- nur 70 Millionen auf den Tisch legt, ist das eine Lüge,
ternationale Parkett der Klimapolitik bereithält: ob es und das ist das Gegenteil von vertrauensbildenden Maß-
Herr Niebel ist, der kurz vor Kopenhagen die Mittel der nahmen auf internationaler Ebene, wie wir sie jetzt brau-
Entwicklungszusammenarbeit mit den Klimaschutzgel- chen.
dern verrechnet,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Michael Kauch [FDP]: Das stimmt ja gar der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
nicht!) GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ja
ob es jetzt eine Sperrung von 115 Millionen Euro im Be- wohl klar!)
reich des Marktanreizprogramms parallel zum Petersber-
Abschließend: Sie sind international nicht ambitio-
ger Klimadialog ist oder eben die Politik Nordrhein-
niert und halten Ihre Versprechen nicht; das ist so. Natio-
Westfalens parallel zur Klimakonferenz in Kopenhagen.
nal minimieren und ruinieren Sie die Klimaschutzpolitik
Nordrhein-Westfalen steht dafür, Gesetze gegen die in diesem Land. Sie rasieren die Solarbranche und das
erneuerbaren Energien erlassen zu haben, zum Beispiel Handwerk, lobhudeln aber die Atomwirtschaft. In Nord-
im Bereich der Windenergie. Nordrhein-Westfalen steht rhein-Westfalen streichen Sie den Klimaschutz und die
dafür, dass es im Bereich des Emissionshandels durch erneuerbaren Energien aus der Landesplanung. Mit
besondere Regelungen für die Braunkohle handlungsun- Schwarz-Gelb ist keine zukunftsfähige Klimaschutzpoli-
fähig gemacht werden sollte, und Nordrhein-Westfalen tik möglich, nicht hier im Bund und nicht im Land.
3836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Frank Schwabe
(A) Ich habe den Eindruck, dass Ihr Bundesumweltminis- (Ulrich Kelber [SPD]: Fakten vermeiden Sie (C)
ter nach einem guten halben Jahr bereits nackt im Wind wieder!)
steht und Sie ihn in den nächsten Monaten weiter ver-
hungern lassen werden. dass die Grünen da keinen Kürzungsbedarf sehen. Das
ist ja auch nicht notwendig, wenn man eine Wähler-
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. schaft hat, die hauptsächlich aus Besserverdienenden be-
steht.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der CDU/CSU)
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von Sie haben die am besten verdienende Wählerschaft aller
der FDP-Fraktion. Parteien. Diese muss sich auch keine Gedanken über die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Stromrechnung machen.
der CDU/CSU) (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Michael Kauch (FDP):
Sie wollen Traumrenditen für Anleger und für Hausbe-
Meine Damen und Herren, das, was wir jetzt erleben,
sitzer garantieren, was dann auf Kosten der Familien mit
ist das billigste Wahlkampftheater, das ich hier seit lan-
vielen Kindern ausgebadet wird.
gem erlebt habe. Wenn der Kollege Schwabe sagt, um
seine Ziele zu erreichen, müsste man jetzt in NRW Rot- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Grün wählen, ist das doch nichts anderes als Volksver- Das ist doch Populismus!)
dummung. Sie wissen: Ihre Mehrheit heißt Rot-Rot-
Grün, und da sind die schlimmsten Kommunisten der Da machen wir nicht mit, Frau Höhn.
Linken dabei. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- der CDU/CSU)
derspruch bei der LINKEN – Lachen beim Frau Höhn, wir wollen die Solarenergie ausbauen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Die früheren DKP-Kader sind ja noch demokratisch im NEN]: Sagen Sie einmal etwas zum Markt-
Gegensatz zu dem, was dort auf der Liste der Linken anreizprogramm!)
steht. Das ist die Wahrheit, um die es hier auch geht,
(B) meine Damen und Herren. Wir wollen mehr Fotovoltaik. Deshalb erweitern wir auf (D)
Grundlage des Gesetzentwurfes, den wir heute Nachmit-
(Ulrich Kelber [SPD]: Sie brüllen genauso laut wie tag verabschieden werden, den Ausbaukorridor für Foto-
Demagogen! – Zurufe von der LINKEN) voltaik um mehr als die Hälfte im Vergleich zu dem, was
Wenn Sie behaupten, wir wollten Herrn Großmann der SPD-Umweltminister Gabriel vorgesehen hatte.
von RWE die Taschen vollmachen, dann stelle ich die (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Gegenfrage: Wer sind denn in den letzten Jahren die Ge- CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist
nossen der Bosse gewesen? Das waren die Sozialdemo- Quatsch!)
kraten, die übrigens den Aufsichtsrat von RWE dominie-
ren. Aber wir wollen nur so viel dafür zahlen, wie die Anla-
gen auch kosten. Zweistellige Renditen sind nicht okay.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wenn die Modulpreise in wenigen Jahren dramatisch
Wir brauchen also keine Nachhilfe im Klimaschutz. sinken, die Förderung aber nicht so stark, dann muss
Die FDP engagiert sich für den Klimaschutz. Der Au- man nachsteuern. Das sind wir den Bürgerinnen und
ßenminister hat in Petersberg klarer als jemals ein Au- Bürgern schuldig.
ßenminister zuvor die Brücke zwischen Klimaschutz (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
und Sicherheitspolitik geschlagen. Das 2-Grad-Ziel – der 100 Prozent Rendite für die Großen!)
Vizekanzler hat es noch einmal unterstrichen – und die
internationalen Klimaschutzmaßnahmen sind die Leitli- Deshalb sagen wir: Das ist ein fairer Ausgleich bei der
nie dieser Bundesregierung. Da wird nichts verrechnet. Solarstromförderung. Wir werden die Wettbewerbsfä-
In den letzten Haushalt haben wir 70 Millionen Euro higkeit der Solartechnik erhalten und gleichzeitig die
mehr für Klimaschutz in Entwicklungsländern einge- Verbraucher entlasten.
stellt. Das ist die Wahrheit, lieber Kollege Schwabe.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/
der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Nennen DIE GRÜNEN]: Und was machen Sie mit den
Sie einmal mehr als zwei Sozialdemokraten im AKWs?)
Aufsichtsrat von RWE! Fakten!)
Die Bundesregierung hat am Montag zusätzlich ein
Sie greifen hier vor und sprechen über die Solar- Innovationsprogramm über 100 Millionen Euro für die
stromförderung; das ist einer der nächsten Tagesord- Solarbranche auf den Weg gebracht. Das Programm
nungspunkte. Es wundert mich natürlich nicht, nützt – anders als das EEG – nicht auch den chinesi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3837
Michael Kauch
(A) schen, sondern nur den deutschen Anbietern. Das ist eine (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
Stärkung unseres Standortes. Bürokratie gegen die Windkraft! Das macht
die FDP!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ Wir wollen für jeden Euro so viel Klimaschutz wie mög-
DIE GRÜNEN]: Wo denn?) lich. Deshalb machen wir Klimaschutz mit dem Kopf
und nicht mit dem Bauch, auch wenn es vielleicht nicht
Beim Marktanreizprogramm haben wir ein Pro- so populär klingt wie bei Ihnen, Frau Höhn.
blem. Aber ich möchte darauf hinweisen – da wundert
mich, wie die SPD hier auftritt –, dass es der SPD-Um- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
weltminister Gabriel – er ist jetzt ihr Vorsitzender – war, der CDU/CSU)
der das Programm an die Emissionshandelserlöse gekop-
pelt hat Ich komme zu dem, was hier zu den Kohlekraftwer-
ken gesagt wurde. Das, was Sie hier abliefern, ist ja ein
(Ulrike Flach [FDP]: So ist es!) Antrag zu Datteln und nicht zur Schaffung eines Klima-
schutzgesetzes.
mit dem bewussten Risiko, dass diese Erlöse auch ein-
mal niedriger sein können. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ah! Das haben Sie erkannt!)
(Frank Schwabe [SPD]: Warum sind die denn
niedriger? Sie machen die doch niedriger!) Die FDP will langfristig Strom zu 100 Prozent aus er-
neuerbaren Energien, aber wir werden das nicht von
Jetzt sind die Erlöse offensichtlich niedriger. Wir als heute auf morgen schaffen. Denn das, was Frau Dött ge-
FDP wollen die Sperre der Mittel für das Marktanreiz- sagt hat, ist richtig: Wir sind ein Industrieland. Daher
programm aufheben, brauchen wir eine preisgünstige und verlässliche Versor-
gung.
(Frank Schwabe [SPD]: Aha! – Oliver
Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun Trotz aller Freude, die ich an den Erneuerbaren habe,
Sie es doch!) muss ich feststellen, dass wir es heute mit Wind und
Sonne alleine nicht schaffen. Wenn man jetzt die Kohle-
aber wir wollen auch, dass es seriös finanziert wird. Wir,
kraftwerke verbieten will – das wollen Sie ja erst für den
die Umweltpolitiker der FDP, haben einen Finanzie-
Neubau und, wie wir aus einem anderen Antrag von Ih-
rungsvorschlag gemacht, der von unseren Haushältern
nen wissen, ab 2015 de facto auch für den Bestand –,
akzeptiert wird. Das Gleiche erwarten wir jetzt vom
dann ist das nichts anderes als ein Anschlag – –
(B) Bundesumweltministerium; das müsste jetzt seine Haus- (D)
aufgaben machen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Völliger Unsinn! Stimmt doch nicht!)
(Frank Schwabe [SPD]: Machen die nicht!)
– Natürlich! Ein Wirkungsgrad von 58 Prozent, den Sie
Man kann nicht nur sagen, dass man mehr Geld braucht,
fordern, kommt doch einem Verbot gleich. Sagen Sie
sondern man muss auch sagen, wo es herkommen soll.
doch den Leuten, was Sie wollen,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ NEN]: Nein, das wollen wir nicht!)
DIE GRÜNEN: Aus der Hotelbranche!)
und führen Sie sie nicht hinter die Fichte! Es ist doch un-
Mich wundert auch, dass es bei der SPD Beifall für redlich, was Sie hier betreiben!
die Aussage von Frau Höhn gab, dass wir mit der Um-
setzung der Energieeffizienzrichtlinie der EU zwei Jahre (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:
überfällig sind. Damit hat sie recht. Aber wer hat es ver- Mein Gott! Haben Sie Angst, dass Sie so rum-
bockt? Herr Gabriel. Er hat es nicht auf die Reihe be- brüllen müssen?!)
kommen.
Meine Damen und Herren, wer den Neubau und den
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des Bestand von Kohlekraftwerken so angreift, wie es die
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Grünen tun, der will den Industriestandort Nordrhein-
Westfalen niedermachen
Wir räumen jetzt Ihren Müll auf und werden die notwen-
digen Schritte machen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie machen ihn nieder!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) und der wird bewirken, dass die Kohlekraftwerke, die
wir heute haben, am Netz bleiben. Dann sind Sie dafür
Die Opposition sollte aufhören, hier zu argumentie- verantwortlich, dass wir in diesem Land mit den Dreck-
ren, wir seien nicht genug für Klimaschutz. Wir sind schleudern weitermachen und nicht mit modernen Kraft-
vielleicht nicht für Ihre ordnungsrechtlich dirigistische werken, wie es die Landesregierung von Nordrhein-
Art von Klimaschutz, aber wir machen Klimaschutz, und Westfalen will.
zwar anders und besser. Denn wir machen ihn mit wirt-
schaftlichem Verstand. (Beifall bei der FDP)
3838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Michael Kauch
(A) Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen will (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
mit ihrem Kraftwerkserneuerungsprogramm die CO2- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Emissionen drastisch senken. Wenn Sie das nicht wol- Sie verhindern erneuerbare Energien!)
len, dann sind Sie keine Klimaschutzpartei, sondern eine
Partei, die aus ideologischen Gründen versucht, ihre In- Der Innovationsminister von Nordrhein-Westfalen ist
teressen für einen kurzfristigen Erfolg bei der Wahl einer der großen Förderer der erneuerbaren Energien.
durchzusetzen. Wenn die Grünen am Sonntag in die Re- (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und
gierung kommen – Herr Schwabe ist sich ja offensicht- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
lich nicht so sicher, mit wem –, dann muss man sich da-
rüber im Klaren sein, Wir als schwarz-gelbe Landesregierung haben es mit der
Forschungsanstalt in Jülich geschafft, bei den Solar-
(Ulrich Kelber [SPD]: Wir sind nur sicher, turmkraftwerken vorne zu sein. Wir bringen die Tech-
dass Sie nicht mehr drin sind!) nologie aus Nordrhein-Westfalen in die afrikanische
Wüste, um das Desertec-Projekt zu realisieren. Das ist
dass die Energiepolitik in Nordrhein-Westfalen so umge-
an dieser Stelle unser Beitrag als schwarz-gelbe Regie-
staltet wird, dass es die von Ihnen genannten Klimakiller
rung für Nordrhein-Westfalen.
länger geben wird. Es wird nicht zu einem Abschalten
kommen – das werden Sie nicht durchbekommen –, aber (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie werden den Neubau verhindern, und dann bleibt Total verrückt, was Sie hier erzählen!)
mehr CO2 aus den Kohlekraftwerken.
Da können Sie noch so viel zetern, wie Sie wollen.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber
Sie haben Windkraftanlagen verhindert!) (Ulrich Kelber [SPD]: Wie hoch ist denn der
Zuschuss von Nordrhein-Westfalen zu diesem
Das ist Ihr Plan. Das wird bei einer grünen Regierung Projekt? Null!)
rauskommen.
Nordrhein-Westfalen war gerade im Innovationsbereich
(Beifall bei der FDP – Bärbel Höhn [BÜND- noch nie so stark wie zur jetzigen schwarz-gelben Regie-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind nervös!) rungszeit in Nordrhein-Westfalen.

Ihre Argumente sind schwach. Die Kohlekraftwerke (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
verstopfen nicht das Netz. Wir stehen für den unbegrenz- Meine Damen und Herren, abschließend noch einige
ten Einspeisevorrang für erneuerbare Energien. Kohle- Worte zum Antrag der Linken: Wir als FDP werden ein
(B) kraftwerke konkurrieren dann nicht mit Erneuerbaren, Klimaschutzgesetz im Zusammenhang mit der Überprü- (D)
sondern mit der Kernkraft. Dann wird der Markt ent- fung der Meseberger Beschlüsse sehr ernsthaft prüfen.
scheiden, welche Technologien neben den erneuerbaren
Energien noch im Markt bleiben. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sehr gut!)
(Beifall bei der FDP – Bärbel Höhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr AKWs, weni- Wir machen aber kein Placebo-Gesetz. Ihr Antrag strotzt
ger Erneuerbare, das wollen Sie in NRW!) doch vor Vorschlägen, wie man Klimaschutz möglichst
teuer macht: kein CDM, keine Anrechnung von Wald-
Liebe Frau Höhn, auch Ihre Aussage zu den Quoten projekten und das Ganze mit möglichst wenig Emis-
von Erneuerbaren in dem einen oder anderen Bundes- sionshandel. Sie wollen Ideologie und nicht möglichst
land ist Quatsch; viel Klimaschutz für jeden Euro.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der FDP)
Eben nicht! Das ist Ihre Politik!)
denn: Es gibt Bundesländer, wo der Wind weht, zum Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Beispiel an der Küste. Es gibt Bundesländer, wo der Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat jetzt das Wort
Raps wächst, zum Beispiel in Niedersachsen. für die Fraktion Die Linke.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der LINKEN)
Und es gibt Kohlekraftwerke, das ist in Nord-
rhein-Westfalen!) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Und es gibt Bundesländer, wo die Sonne mehr scheint, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
zum Beispiel in Bayern. Es ist völliger Quatsch, die Im Gegensatz zu Großbritannien sind in Deutschland die
Bundesländer miteinander zu vergleichen, denn sie ha- nationalen Klimaschutzziele eben nicht gesetzlich ver-
ben unterschiedliche Voraussetzungen. ankert, sondern werden von den Regierungen nur ver-
kündet. Darum fordern wir die Bundesregierung in unse-
(Beifall bei der FDP) rem Antrag auf, ein Klimaschutzgesetz vorzulegen.
Angesichts der Reden der Koalition merke ich, wie not-
Auch die Mitgliedstaaten in Europa haben unterschiedli- wendig das ist.
che Vorgaben für die Erneuerbaren, weil die natürlichen
Voraussetzungen unterschiedlich sind. (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3839
Eva Bulling-Schröter
(A) Wir halten ein solches Gesetz für überfällig, denn in den Aussagen Ihres Gremiums. Zudem bescheinigen die (C)
Deutschland besteht momentan das Problem, dass die eigenen Experten der Bundesregierung Politikversagen;
Klimaschutzziele von der Regierung ohne Mitwirkung denn diese macht genau das Gegenteil von dem, was
des Parlaments geändert werden können. Zudem bleiben notwendig wäre, um zügig zu einer Vollversorgung mit
Abweichungen folgenlos, wie das Beispiel der weit regenerativen Energien zu kommen.
verfehlten Selbstverpflichtung – darum sind Selbst-
Was sagen die Experten jetzt? Keine Laufzeitverlän-
verpflichtungen so schädlich – in Deutschland zeigt, den
gerung von AKW! Keine neuen Kohlemeiler mit CCS!
CO2-Ausstoß bis 2005 gegenüber 1990 um 25 Prozent
CCS ist die Verpressung von CO2 unter dem Boden; das
zu mindern.
sage ich für diejenigen, die diesen Ausdruck noch nicht
Beim Langfristziel sollten wir uns einig sein; denn kennen. All das wird für den Weg in die Vollversorgung
darüber herrschte in diesem Hause schon seit langem mit erneuerbaren Energien überhaupt nicht gebraucht, so
Konsens. Mindestens 90 Prozent der Treibhausgase soll- sagt das Gremium, nicht irgendjemand. Das ist der Kern
ten bis 2050 gegenüber 1990 eingespart werden. Das ist des Gutachtens. Das ist seit langem der Standpunkt auch
auch notwendig, um den Klimawandel in beherrschbare meiner Fraktion, der Linken.
Bahnen zu lenken. Bei den Zielen bis 2020 halten wir al-
(Beifall bei der LINKEN)
lerdings nicht nur eine Minderung um 40 Prozent für er-
forderlich, sondern eine Halbierung. Die Sachverständigen sagen weiter, das alles sei nicht
nur überflüssig, sondern sogar schädlich, denn die Sau-
(Beifall bei der LINKEN)
riertechnologien sind mit einem vorrangig auf Wind und
Der Grund: Die Treibhausgasemissionen Deutsch- Sonne ausgerichteten Energiesystem inkompatibel.
lands lagen laut Umweltbundesamt im Jahr 2009 infolge
Natürlich: Die erneuerbaren Energien brauchen noch
der Wirtschaftskrise um 8,4 Prozent unter denen von
lange konventionelle Kraftwerke neben sich, aber auf-
2008. Der Rückgang gegenüber 1990 wird vom Um-
grund ihrer naturgemäß schwankenden Einspeisung
weltbundesamt mit 29 Prozent angegeben. Aus Sicht des
brauchen sie ein flexibles Kraftwerkssystem neben sich,
Klimaschutzes erleichtert es uns diese Entwicklung, die
ein System mit Anlagen, die schnell hoch- und herunter-
nationalen Ziele auf ein ambitioniertes Niveau anzuhe-
gefahren werden können. Technisch und ökonomisch
ben, ein Ziel, welches den klimapolitischen Forderungen
kommen dafür allenfalls Gaskraftwerke infrage, aber nie-
an die Bundesrepublik und ihrer stets betonten Vorreiter-
mals Grundlastkraftwerke wie Kohle- und Atommeiler.
rolle gerecht wird. Das sind unseres Erachtens 50 Pro-
zent. Sie sind zu schaffen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein
[CDU/CSU]: Das ist falsch, Frau Kollegin! –
(Beifall bei der LINKEN)
(B) Franz Obermeier [CDU/CSU]: Da hat man Ih- (D)
Weil wir gerade bei den Zielen sind: Ich freue mich, nen etwas Falsches aufgeschrieben!)
dass der Umweltminister am Wochenende auf dem
Durch die teure Technologie zur Abscheidung und
Petersberg für ein bedingungsloses 30-Prozent-Ziel der
unterirdischen Verklappung von Kohlendioxid würde
Europäischen Union geworben hat. Aber ich habe leider
das überkommene Energiesystem nicht nur verfestigt,
das Gefühl, dies findet in der Bundesregierung keinen
sie wäre in jedem neuen Kohlekraftwerk, in dem sie ein-
Konsens. Wenn es ernst wird, hat Deutschland im Rat im-
gesetzt würde, auch ökonomisch eine Fehlinvestition.
mer für die 20-Prozent-Position gestimmt. Auf 30 Prozent
soll schließlich erst nach einem internationalen Klimaab- (Beifall bei der LINKEN)
kommen aufgestockt werden. Das liegt leider noch in
Die Kraftwerke müssten – etwa bei starkem Wind –
weiter Ferne.
oft still stehen. Das habe ich mir nicht ausgedacht. Das
Dabei wäre die Minderung von 30 Prozent nicht nur sagen Wissenschaftler, und das müssen Sie von der CSU
zu schaffen, sondern auch kaum teurer, als es das Errei- auch einmal akzeptieren, auch wenn Sie eine andere
chen der 20-Prozent-Zielmarke vor der Wirtschaftskrise Meinung haben.
war. Das sagt die EU-Kommission und spricht von „rela-
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Christian Ruck
tiv niedrigen Zusatzkosten“. Kein Wunder, denn die
[CDU/CSU]: Das ist ein Schmarrn!)
Emissionen sind in ganz Europa krisenbedingt rückläu-
fig. Die Bundesregierung sollte die Warnungen des Sach-
verständigenrates für Umweltfragen – das ist im Übrigen
Dass Deutschland auch aus eigener Kraft den Umbau
Ihrer und nicht der von den Linken – ernst nehmen.
des Energiesystems schaffen kann, zeigte das Experten-
gremium der Bundesregierung am Mittwoch dieser Wo- (Michael Kauch [FDP]: Der ist doch von
che auf. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen Herrn Trittin besetzt worden!)
macht klar: Der Umbau zu einer Vollversorgung mit re-
Mit ihrer Fixierung auf Laufzeitverlängerung, Kohle und
generativen Energien ist machbar und könnte bis 2050 in
CCS bahnt sie Rahmenbedingungen an, die zu einer kost-
jeder Stunde zuverlässig grünen Strom liefern.
spieligen Unterauslastung konventioneller Kapazitäten
(Beifall bei der LINKEN) führen. Dadurch wird der Übergang zu Vollversorgung
mit regenerativen Energien aber verteuert. Mit dieser
Er ist mit rund 7 Cent je Kilowattstunde Gestehungskos-
Politik wird wieder einmal Volksvermögen verschleudert.
ten auch bezahlbar, Herr Kauch. Sie sagen immer, dass
grüner Strom sehr viel kostet. Zweifeln Sie doch nicht an (Beifall bei der LINKEN)
3840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Eva Bulling-Schröter
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun hat die Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (C)
regierung ja drei Gutachten zum Energiekonzept in
Auftrag gegeben, und wir sind auf die Ergebnisse ge- Die Lex Eon, die Herr Rüttgers beschließen ließ, ist
spannt. Obwohl – das ist die Frage –: Sind wir das wirk- ein Skandal, und zwar nicht nur klimapolitisch, weil da-
lich? – Wir wissen ja, dass bei einem solchen Gutachten mit ein fossiles Kraftwerk in Datteln durchgeboxt wer-
in der Regel das hinten herauskommt, was man vorne hi- den soll, das nach der alten Gesetzgebung gar nicht mehr
neingesteckt hat. möglich gewesen wäre. So hat das Oberverwaltungsge-
richt Münster einen Baustopp für das Kohlekraftwerk
Was wurde denn da hineingesteckt? – Laut einem Pa- verhängt. Es ist auch aus demokratischer Sicht unver-
pier des Bundeswirtschaftsministeriums ist es eben nicht schämt, wenn eine fortschrittliche Umweltgesetzgebung
das Ziel, zu untersuchen, welche konventionellen Ener- genau dann kassiert wird, wenn es ernst wird, und das
gien wir abnehmend eigentlich noch brauchen, um das nur, um einen Großkonzern zu befriedigen.
rasante Wachstum im Bereich der erneuerbaren Energien
zu begleiten. Nein, es ist genau umgekehrt: Längere Ich habe schon verstanden, warum Herr Kauch vorhin
AKW-Laufzeiten von 4, 12, 20 und 28 Jahren wurden fix so wütend war.
gesetzt. Die Zukunftsenergien wurden dagegen lediglich (Horst Meierhofer [FDP]: Er ist engagiert, im
als variable Restgröße definiert, die sich als Ergebnis der Gegensatz zu Ihnen!)
Laufzeitverlängerung dann halt so ergibt. Wenn das eine
unabhängige Expertise sein soll, dann gute Nacht! Natürlich will die Linke eine konsequente Politik für
Nordrhein-Westfalen: Wir wollen die Macht der Kon-
(Beifall bei der LINKEN) zerne brechen. Es ist einfach lachhaft, wenn Sie sich hin-
Noch ein Wort zur internationalen Dimension des stellen und so tun, als ginge es Ihnen um die Armen, die
Klimaschutzes und damit auch zurück zum Klimaschutz- nicht noch mehr Geld für Energie bezahlen können. Was
gesetz: Die Linke fordert in einem solchen Gesetz auch ist denn mit Hartz IV? Was macht denn Ihre Partei da?
Eckpunkte für langfristige Finanztransfers in Entwick- Wo entstehen denn zusätzliche Kosten für Energie? Wo
lungsländer für Klimaschutz und Anpassung. Dies und schöpfen Sie denn die Windfall-Profite ab? Was ist mit
Technologietransfers waren ja auch auf dem Petersberg den Zertifikaten, die zwar nach wie vor den großen Kon-
ein Schwerpunktthema. Allerdings hat Herr Röttgen die zernen geschenkt, aber dennoch bei den Stromkosten
Gelder, die bereits in anderen Zusammenhängen zuge- eingepreist werden?
sagt wurden, hier schon wieder neu verpackt. Das lief in (Michael Kauch [FDP]: Ach, die waren das!)
den Haushaltsberatungen kürzlich ja ähnlich. Schließlich
will die Bundesregierung von den in Kopenhagen zuge- Sie sind eben nicht bereit, hier Maßnahmen zu ergreifen.
(B) sagten 420 Millionen Euro jährlich jene 70 Millionen Man sollte den Wählerinnen und Wählern im Hin- (D)
Euro anrechnen lassen, die sie schon auf der CBD-Kon- blick auf die Konzerne sagen: Wenn ein abgeschriebenes
ferenz 2008 für den internationalen Waldschutz verspro- AKW einen Tag länger läuft, bringt das dem Konzern
chen hatte. 1 Million Euro Profit. Ich denke, wir brauchen diese
Wir fordern, dass die Entwicklungsländer durch mehr Gelder für regenerative Energien, für den sozialökologi-
deutsche Finanzhilfen unterstützt werden, und zwar bei schen Umbau. Das ist dringend notwendig.
der Umsetzung der Strategien zu einer emissionsarmen In diesem Sinne: Danke.
Entwicklung und zur Anpassung an den Klimawandel.
Geld ist da! Unterstützen Sie nicht nur die Banken, son- (Beifall bei der LINKEN)
dern gehen Sie dort ein Stück zurück. Holen Sie die Sol-
daten aus Afghanistan, dann haben wir endlich auch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Geld für den Klimaschutz.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
(Beifall bei der LINKEN) Dr. Thomas Gebhart.
Wir wollen frisches Geld und keine recycelten Verspre- (Beifall bei der CDU/CSU)
chen. – So weit zu unserem Antrag.
Der Antrag der Grünen zum Klimaschutz in Bund Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU):
und Ländern, der heute zur Debatte steht, gehört natür- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
lich zum Wahlkampf. Ich finde das auch richtig; wir Herren! Es ist kein Zufall, dass drei Tage vor der Wahl
verstehen das Anliegen. Der Rückstand beim Klima- in Nordrhein-Westfalen auf Antrag der Grünen hier im
schutz ist in Nordrhein-Westfalen ja tatsächlich enorm. Bundestag eine Debatte zu einem eigentlich landespoliti-
Beim Anteil am Ökostrom liegt das Land mit 6 Prozent schen Thema stattfindet. Das ist leicht durchschaubar.
dramatisch unter dem Bundesdurchschnitt von 16 Pro- (Zuruf von der LINKEN: Sie wollen doch mit
zent. In meinem Heimatland Bayern ist das ja ähnlich. den Grünen regieren!)
Im Osten und im Norden sind die Länder, die die Lasten
beim Ausbau erneuerbarer Energien schleppen bzw., Es ist der Versuch, hier Landtagswahlkampf zu betrei-
besser gesagt, die Chance ergreifen; denn hier und leider ben. Um der Sache einen bundespolitischen Bezug zu
eben nicht an Ruhr und Rhein entstehen zukunftsfähige geben, verbinden Sie das Ganze mit der Forderung nach
Arbeitsplätze im Energiebereich. Wir wollen dort aber einem nationalen Klimaschutzgesetz. Ich will gern auf
diese Arbeitsplätze haben. diesen Punkt eingehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3841
Dr. Thomas Gebhart
(A) Die Forderung nach einem Klimaschutzgesetz – das Wir wollen eine Energieversorgung, die auf der einen (C)
gebe ich ernsthaft zu – klingt zunächst gut; aber ich frage Seite sicher und verlässlich ist – das ist wichtig –, die auf
mich – dazu schweigt Ihr Antrag –, was der Inhalt dieses der anderen Seite aber auch unter ökologischen Ge-
Gesetzes sein soll und worin sein Mehrwert bestehen sichtspunkten vernünftig gestaltet wird. Es ist wichtig,
soll. dass die Preise für die Verbraucher und für die Industrie
am Ende bezahlbar bleiben. Das Ganze muss sich auch
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten in einem ver-
Das steht doch drin!)
nünftigen Rahmen bewegen.
Ich bin der Meinung: Wenn man das hier vorbringt,
müsste man dazu ein paar Sätze sagen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das haben wir doch gemacht!) Lassen Sie mich vier Punkte ansprechen, die in die-
sem Zusammenhang ganz besonders wichtig sind. Ers-
Es ist nicht so, dass wir im Bereich des Klimaschutzes tens. Es wird in diesem Hause wahrscheinlich einen
untätig wären. Im Gegenteil: Diese Koalition steht für breiten Konsens darüber geben, dass wir zunächst ver-
ambitionierten Klimaschutz in diesem Land. Wir wollen stärkt auf Energieeffizienz setzen; denn die Potenziale
die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 um sind groß.
40 Prozent reduzieren. Deutschland ist Vorreiter in Sa-
chen Klimaschutzpolitik. Dabei soll es bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
derspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der CDU/CSU) DIE GRÜNEN – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/
Dabei haben wir ein klares Leitbild: Wir wollen eine DIE GRÜNEN]: Seit zwei Jahren nichts getan!)
nachhaltige Politik betreiben, die über den Tag hinaus-
geht. Wir wollen Umwelt, Wirtschaft und soziale Aspekte Zweitens. Wir setzen vor allem auf Forschung und
in Einklang bringen. Entwicklung. Ich nenne als Beispiel die Speichertech-
nologien, die immer wichtiger werden, wenn wir den
(Ulrich Kelber [SPD]: Dann fangen Sie mal Bereich der erneuerbaren Energien vorantreiben wollen,
an! Da warten wir seit 190 Tagen drauf!) und das wollen wir. Forschung und Entwicklung sind der
Schlüssel zur Lösung der Probleme. Deswegen diskutie-
Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen. ren wir die Themen Umwelt und Klimaschutz nicht
Zugleich birgt sie eine große Chance für die nächsten rückwärts gewandt, sondern nach vorne gerichtet. Wir
Jahre in diesem Land; denn ich bin absolut davon über- begreifen das als eine Chance für die Modernisierung (D)
(B) zeugt: Je effizienter wir künftig mit knappen Ressourcen
unseres Landes.
umgehen, je besser wir es schaffen, uns immer wieder
als Spitzenreiter bei sauberen, umweltfreundlichen Tech- (Beifall bei der CDU/CSU)
nologien zu behaupten,
Mein dritter Punkt hängt eng mit den ersten beiden
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zusammen. Wir wollen die Entwicklung im Bereich der
Das tun Sie doch gerade nicht!) erneuerbaren Energien massiv voranbringen. Wir wol-
desto besser sichern und schaffen wir die Arbeitsplätze len den Anteil der erneuerbaren Energien Schritt für
von morgen. Schritt ausbauen, und ich sage an dieser Stelle ausdrück-
lich: Dazu gehört auch der Ausbau der Solarenergie. Es
(Beifall bei der CDU/CSU) ist absolut kein Widerspruch, wenn wir die Solarstrom-
Deutschland ist auf dem Weg. vergütung anpassen. Der Punkt ist schlicht und ergrei-
fend der, dass die Preise für Solaranlagen deutlich ge-
(Frank Schwabe [SPD]: Wohin?) sunken sind, was gut ist. Deswegen passen wir die
Vergütung an. Das ist richtig; denn jeder einzelne Ver-
Mit integrierten Energie- und Klimaprogrammen wurden braucher zahlt die Vergütung über die Stromrechnung
wichtige Punkte in Angriff genommen. Viele Maßnahmen mit. Nicht zu handeln wäre völlig unverantwortlich.
greifen. Nicht nur der Staat ist aktiv; viele Unternehmen,
viele einzelne Bürgerinnen und Bürger in diesem Land (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
leisten enorm viel. Wir bleiben nicht stehen; wir gehen
weiter. Viertens. Es macht aus meiner Sicht keinen Sinn,
wenn wir die Kernkraftwerke abschalten und sie durch
(Frank Schwabe [SPD]: Stimmt! Sie schaffen Energieimporte oder durch zusätzliche Kohlekraftwerke
die Maßnahmen ab!) ersetzen. Die SPD will das aber. Ihr Parteivorsitzender
Die Maßnahmen des Energieprogramms werden über- hat das immer wieder gesagt. Wir würden aber, wenn wir
prüft. Im Herbst dieses Jahres wird hier ein Energiekon- diesen Schritt gingen, die Klimaschutzziele nicht errei-
zept vorgelegt. Auch hier gilt: Unser Leitbild – das, was chen. Deswegen hat für uns die Kernkraft eine Brücken-
unsere Politik trägt – ist das Prinzip der Nachhaltigkeit. funktion hin zu den erneuerbaren Energien.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Ulrich Kelber [SPD]: Sie widersprechen gerade
neten der FDP) der Kanzlerin! Merken Sie das eigentlich?)
3842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Dr. Thomas Gebhart


(A) Wir wollen die Kernkraft durch erneuerbare Energien er- gesagten Mitteln für die Armutsbekämpfung zu verrech- (C)
setzen. Das macht Sinn. Klar ist auch: Sicherheit hat im- nen sind. Es war doch kein Zufall, dass die Länder des
mer absolute Priorität. Südens diesen Zusagebruch der Kanzlerin bemerkt ha-
ben, die noch wenige Monate zuvor etwas anderes ver-
Wenn wir es schaffen, die aus der Laufzeitverlänge-
sprochen hatte. Deutschland hat zum ersten Mal in der
rung resultierenden Zusatzerlöse zu nutzen,
Zeit von Klimakonferenzen die Negativauszeichnung
(Ulrich Kelber [SPD]: Um das Monopol zu ze- Fossil of the Day bekommen. Ich habe mich an diesem
mentieren!) Tag geschämt. Ich hoffe, dass das nie wieder vorkommt.
um sie in die Erforschung erneuerbarer Energien zu ste- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
cken, dann können wir den Weg hin zu den erneuerbaren DIE GRÜNEN)
Energien am Ende noch schneller gehen. Ich glaube, das
macht Sinn. Es ist insgesamt ein vernünftiger Weg. Dann kam die Kopenhagen-Konferenz mit all ihren
nicht zufriedenstellenden Ergebnissen. Deutschland hat
(Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn auf der Kopenhagen-Konferenz die Zusage gegeben,
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr Mono- jährlich zusätzlich 420 Millionen Euro für den Klima-
pole, mehr Preise!) schutz vor allem in Projekten mit den Entwicklungslän-
Ich bringe es auf den Punkt: Der von Ihnen einge- dern bereitzustellen. Der Haushaltsentwurf, den die
brachte Antrag, der Anlass der heutigen Debatte im Deut- schwarz-gelbe Regierung wenige Wochen später in den
schen Bundestag ist, ist reines Wahlkampfgetöse kurz vor Bundestag eingebracht hat, sah zunächst null Euro vor,
der NRW-Wahl. Mehr ist es nicht. Meine Antwort darauf also nicht 420 Millionen Euro, sondern null. Es ging nur
ist: Diese Koalition steht für eine nachhaltige Politik, auch um Umetikettierungen von Programmen. Auf Druck der
für eine nachhaltige Energiepolitik, die verantwortbar ist. Opposition wurden dann im Haushaltsausschuss wenigs-
tens 70 Millionen Euro eingestellt, also ein Sechstel der
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zugesagten Summe. Mit dieser Hypothek wird Deutsch-
Das Gegenteil ist der Fall!) land in die Konferenz in Bonn Ende dieses Monats ge-
Das ist unser Grundsatz. Daran werden wir in den nächs- hen, Frau Dött. Das ist die eigentliche Konferenz; Sie
ten Jahren festhalten. haben die Wahlkampfkonferenz „Klimadialog“ damit
verwechselt. Die Länder des Südens wissen nun: Die
Danke schön. erste Zusage wurde gebrochen. Dann gab es in Kopenha-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen eine neue Zusage. Diese wurde wenige Wochen spä-
ter wieder gebrochen. – So werden wir kein Partner sein.
(B) Sie leugnen das bisher im Bundestag. Zum Glück ist der (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bundesumweltminister ehrlicher als die Fraktion. Er hat
Ulrich Kelber hat das Wort für die Fraktion der SPD. in einem Interview gesagt: Jawohl, in den 1,2 Milliarden
(Beifall bei der SPD) Euro sind die 500 Millionen Euro, die wir auf der Bio-
diversitätskonferenz zugesagt haben, schon eingerech-
Ulrich Kelber (SPD): net. – Das heißt, er gibt zu, dass diese Mittel nicht zu-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und sätzlich zur Verfügung gestellt werden.
Herren! Töpfer, Merkel, Trittin, Gabriel – vier deutsche Dann gab es den Klimadialog auf dem Petersberg.
Umweltminister in Folge haben sowohl national als auch Das habe ich zuerst gut gefunden; denn das ist die ge-
international etwas beim Klimaschutz bewegt, und meinsame Heimat von Norbert Röttgen und mir. Ich
manchmal durchaus auch gegen Widerstände aus dem fand auch das dort vorgeschlagene Prinzip gut. Es hat
eigenen Kabinett. Nach 190 Tagen, also nach etwas unsere Unterstützung gehabt. Auch hier hatten Ort und
mehr als einem halben Jahr, ist es gerechtfertigt, eine Zeitpunkt natürlich überhaupt nichts mit dem Wahl-
Zwischenbilanz der Tätigkeiten des aktuellen Bun- kampf in Nordrhein-Westfalen zu tun. Das war sicher-
desumweltministers zu ziehen: Dafür, dass es internatio- lich reiner Zufall, genauso wie heute, wo über Themen
nal schwieriger geworden ist, Fortschritte im Klima- aus NRW gesprochen wird. Aber wie kann man so
schutz zu erreichen, trägt der Bundesumweltminister wahnsinnig sein, Umweltminister aus 45 Ländern unter
nicht die Verantwortung. Aber dafür, dass Deutschland dem Motto „Jetzt handeln statt nur verhandeln“ einzula-
beim Klimaschutz zurückfällt, dass wir von einem inter- den und gleichzeitig an den drei Konferenztagen wich-
national geschätzten Partner nördlicher und südlicher tige Klimaschutzmaßnahmen in Deutschland – zum Teil
Staaten zum unglaubwürdigen und unzuverlässigen rückwirkend – zu stoppen? Das heißt, Menschen, die
Kantonisten geworden sind, trägt er, der auf den Konfe- sich bei Miniblockheizkraftwerken und Pelletheizungen
renzen verhandelt hat, alleine die Verantwortung. auf zugesagte Zuschüsse verlassen haben, erfahren nach-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten träglich, dass nun nicht mehr gefördert wird. Dieser Ver-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) trauensverlust, der bei den Investitionen ausgelöst wird,
wird noch viele Monate und Jahre nachwirken.
Kopenhagen war das Debüt von Norbert Röttgen. Er
hat in der Woche zuvor hier im Bundestag zugelassen, Zu Recht hat das Handwerk Schwarz-Gelb den Kopf
dass Deutschland zum ersten Mal in der Zeit, in der wir gewaschen. Allein hier sind mehrere Zehntausende Ar-
über Klimaschutz debattieren, die Position eingenom- beitsplätze bedroht. Wenn Sie Mitte des Sommers das
men hat, dass die Mittel für den Klimaschutz mit den zu- Wärmedämmungsprogramm auslaufen lassen, sind wei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3843
Ulrich Kelber
(A) tere Arbeitsplätze gefährdet. Auf der Website des Um- immer wieder zu überprüfen und nachzusteuern, wenn (C)
weltministeriums steht, dass das Wärmedämmungspro- man nicht auf dem richtigen Weg ist. Wir brauchen einen
gramm 290 000 Arbeitsplätze sichert. Das bedeutet im Anreiz für Forschung und Innovationen.
Umkehrschluss: Wenn das Wärmedämmungsprogramm
gestoppt wird, Herr Kauch, dann sind 290 000 Arbeits- Wir haben, anders als Linke und Grüne, heute keinen
plätze gefährdet. So viel zu Ihrer Propaganda. Man muss Antrag zu einem Klimaschutzgesetz eingebracht, weil
einfach nur nachrechnen. wir uns für einen mühsameren, aus meiner Sicht aber
zielführenderen Weg entschieden haben. Bärbel Höhn,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir haben bereits vor einigen Wochen mit breiter Beteili-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gung von Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Verbänden
LINKEN) und Unternehmen eine Initiative gestartet. Wir haben ei-
nen Fragenkatalog zu einem nationalen Klimaschutzge-
Die Meldungen über das umweltpolitische Verhalten setz verschickt und einen superguten Rücklauf – hochin-
Deutschlands mögen durch die Debatte über Griechen- teressant. In der nächsten Sitzungswoche haben wir eine
land verdeckt worden sein. Aber Sie können sicher sein: große Anhörung, bei der wir die Anregungen aufnehmen
Die Unterhändler der anderen Staaten bekommen ganz werden. Danach kommen wir auf Basis dieser breiten
genau mit, was wir machen. Wenn wir fordernd auftreten Beteiligung mit einem gesellschaftlich breit unterstütz-
und von ihnen verlangen, zu handeln, dann wird man uns ten Vorschlag hier ins Plenum. Schwarz-Gelb wird sich
die Rechnung präsentieren und darauf verweisen, dass wundern, wen man alles auf der Liste der Unterstützerin-
das umweltpolitische Engagement der Deutschen ab- nen und Unterstützer eines nationalen Klimaschutzgeset-
nimmt. Herr Gebhart hat gerade gesagt, Deutschland zes wiederfinden wird. Das sind nicht nur die üblichen
werde die Energieeffizienz steigern. Auch hier werden Verdächtigen, die bei Ihnen in eine Schublade gehören.
wir genau beobachtet. Das Technologieführerland Das sind auch Partner, die Sie als Ihre Klientel ansehen.
Deutschland einigt sich unter Schwarz-Gelb darauf, bei Leider nicht ganz so öffentlich wird das Umweltministe-
der Energieeffizienz nicht mehr zu machen, als der Mini- rium das unterstützen.
malkonsens auf europäischer Ebene vorsieht, nämlich
eine Eins-zu-eins-Umsetzung. Das heißt, das Technolo- Ich finde es schon interessant, dass Sie, Frau Dött, als
gieführerland Deutschland mit seinen Spitzentechnolo- umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion sa-
gien will bei der Energieeffizienz nur so viel machen, gen: „Mit uns gibt es kein nationales Klimaschutzge-
wie sich das ärmste Beitrittsland in der Europäischen setz“, während Herr Kauch als Sprecher der FDP sagt:
Union leisten möchte. Mehr machen Sie nicht. Wie wol- „Wir werden prüfen“ und im Umweltministerium – Frau
len wir damit die Technologieführerschaft auf Märkten Reiche, als Parlamentarische Staatssekretärin können Sie
(B) behalten, in die unsere Konkurrenten aus Korea, China, das wahrscheinlich bestätigen – bereits die Eckpunkte (D)
Japan, Brasilien und den USA Geld stecken und auf de- eines nationalen Klimaschutzgesetzes geprüft werden.
nen sie Umweltpolitik vor Ort machen? Herr Kauch, ich glaube, Sie müssen mit Ihrem Koali-
tionspartner und Ihrem Minister reden. Aber bitte ein
In Europa verhandeln bis heute die Beamten der Bun- bisschen ruhiger als vorhin in Ihrer Rede; jeder Psycho-
desregierung dagegen, ambitionierte Energieeffizienz- loge hätte sie als Angstrede interpretiert.
ziele in die neuen europäischen Verträge aufzunehmen.
Deutschland ist doch der Bremser. Sprechen Sie einmal (Lachen bei der FDP)
mit den Delegationen aus anderen Ländern. Die wun-
Es wundert mich allerdings nicht, dass Sie hier NRW-
dern sich darüber, dass die Deutschen, die ihnen früher
Wahlkampf machen: 15 Prozent noch bei der Bundes-
immer gesagt haben: „Wir müssen uns hohe Ziele set- tagswahl; heute käme die FDP nach einer Umfrage auf
zen, damit wir auch wirtschaftlich weiterkommen“, jetzt
nur noch 6 Prozent. Das ist schon eine Größenordnung,
auf einmal dagegen sind und sagen: Wir wollen nichts
die einem Angst machen kann; das gebe ich zu.
Derartiges in die Verträge aufnehmen. – Wir gelten be-
reits als unzuverlässig. Es ist wichtig, dass der Umwelt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
minister beim Klimaschutz allmählich in die Spur DIE GRÜNEN)
kommt; ansonsten ist er den Schuhen seiner vier Vorgän-
gerinnen und Vorgänger nicht gewachsen. Natürlich ist NRW ein Punkt, der heute ansteht, und
zwar wegen der Tatsache, dass das größte Bundesland
In einem der Anträge ist die Forderung nach einem der Bundesrepublik Deutschland – als Bonner Abgeord-
Klimaschutzgesetz enthalten. Deutschland hat in der Tat neter komme auch ich aus Nordrhein-Westfalen –, wäh-
lange das Schritttempo vorgegeben. Derzeit leben wir rend die Kopenhagen-Konferenz lief, auf einmal den
aber von den früher ergriffenen Maßnahmen. Wir brau- Klimaschutz aus der Landesgesetzgebung gestrichen
chen wieder mehr Tempo. Wir brauchen mehr Verläss- hat. Glauben Sie, das hat in Kopenhagen keiner mitbe-
lichkeit. Wir brauchen mehr Planungssicherheit. Vor al- kommen? Nordrhein-Westfalen war unter sozialdemo-
lem aber brauchen wir verbindliche Zielmarken und klar kratischen Regierungen Energieland Nummer eins, und
definierte Zwischenziele auf dem Weg dorthin. Deshalb zwar nicht nur in Sachen Stromproduktion, sondern auch
ist die Sozialdemokratie für ein nationales Klima- in Sachen Technologie. Unter Johannes Rau hat Nord-
schutzgesetz mit klaren Eckpunkten: minus 40 Prozent rhein-Westfalen mit dem REN-Programm als erstes
Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020, minus 80 bis mi- Bundesland auf erneuerbare Energien gesetzt, das Wup-
nus 95 Prozent bis 2050. Das nationale Klimaschutzge- pertal-Institut und die Landesenergieagentur gegründet
setz soll Regierung und Parlament zwingen, diese Ziele und mit Unterstützung des Landes gegen die Strompreis-
3844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Ulrich Kelber
(A) aufsicht die kostengerechte Vergütung in Aachen und jiziert. Ihnen geht es ausschließlich um das Kraftwerk (C)
Bonn eingeführt; das war der kommunale Vorläufer des Datteln 4; Ihr ganzer Antrag ist darauf zugeschnitten.
Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Jetzt haben wir fünf Das ist allerdings eine landesplanungsrechtliche Frage.
Jahre Schwarz-Gelb. Jetzt steht NRW auf Platz zwölf bei Was Sie hier betreiben, ist der Missbrauch der bundes-
den erneuerbaren Energien; wir waren noch vor wenigen politischen Bühne für den Wahlkampf in Nordrhein-
Jahren auf Platz eins. Wir haben keinen starken Heimat- Westfalen.
markt mehr, weil wir die neuen Windanlagen nicht auf-
stellen dürfen, weil Sie Höhenbeschränkungen einge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
führt haben. Was glauben Sie: Wie lange halten wir Dazu kann man nur einen Satz sagen – er gehört eigent-
unsere starke Zulieferindustrie in Nordrhein-Westfalen, lich in Ihr Parteiprogramm –: Mit dem Finger erst auf
wenn es keinen Heimatmarkt mehr gibt? Die werden andere zeigen und es selber dann noch bunter treiben. –
ihre neuen Fabriken doch nicht da bauen, wo man ihnen So machen Sie Politik.
verbietet, ihre Produkte einzusetzen, sondern sie werden
dahin gehen, wo sie mit offenen Armen empfangen wer- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
den. der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN – Bärbel Höhn [BÜND-
(Beifall bei der SPD) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte? Wo denn?)
Die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke, In der Sache trifft keine der Begründungen, die wir in
die Sie anstreben, wird Nordrhein-Westfalen doppelt und Ihrem Antrag lesen können, zu. Das gilt insbesondere für
dreifach schaden. Wir haben zwar keine Atomkraft- das klimapolitische Argument. Denn die christlich-libe-
werke; aber in Nordrhein-Westfalen wird nicht mehr in- rale Landesregierung in Nordrhein-Westfalen betreibt
vestiert, und da auch anderswo nicht investiert wird, aktiven Klimaschutz.
werden die nordrhein-westfälischen Technologien nicht
abgefragt werden. Wenn Sie mir das nicht glauben, bitte (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ich Sie, wenigstens den folgenden drei Männern zu glau- Da sind Sie aber falsch gewickelt! Da haben
ben: Der Erste ist Herr Dr. Böge, ehemaliger Präsident des Sie wohl etwas falsch verstanden! – Ulrich
Bundeskartellamts. Gestern hat er auf einem Parlamenta- Kelber [SPD]: Wie bitte? Wovon reden Sie da?
rischen Abend vor der Laufzeitverlängerung aus Sicht Woher kommen Sie eigentlich?)
Nordrhein-Westfalens und der Stadtwerke gewarnt. Der Datteln 4 ist Teil eines landesweiten Kraftwerkserneue-
Zweite ist Herr Mundt, der aktuelle Präsident des Bundes- rungsprogramms.
kartellamts. Auch er warnt vor einer Laufzeitverlänge-
rung. Dann haben wir noch Herrn Dr. Heitzer, der bis Ok- (Ulrich Kelber [SPD]: Das haben die doch
(B) schon längst wieder zurückgenommen! – (D)
tober Präsident des Bundeskartellamts war; jetzt ist er
beamteter Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Er Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
warnt ebenfalls vor einer Laufzeitverlängerung. – Wenn Das ist schon längst nicht mehr aktuell!)
Sie der Opposition nicht glauben, wenn Sie der Wissen- Das Ziel dieses Programms lautet wie folgt: Bis 2020
schaft nicht glauben, wenn Sie den Stadtwerken nicht soll der CO2-Ausstoß um 33 Prozent gesenkt werden.
glauben und wenn Sie den Vertretern des Bereichs der
erneuerbaren Energien nicht glauben, dann glauben Sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
wenigstens Ihrem eigenen Staatssekretär, dass Ihre Poli- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
tik in eine Sackgasse führt. Das ist doch schon lange weg! Sie sind ja gar
nicht mehr auf der Höhe der Zeit!)
Vielen Dank.
Alte Kraftwerke mit hohen Emissionen und niedrigem
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wirkungsgrad sollen vom Netz, und moderne Kraft-
DIE GRÜNEN) werke mit hohem Wirkungsgrad und niedrigen Emissio-
nen sollen ans Netz.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Ulrich Kelber [SPD]: Herr Kollege
Marco Buschmann hat das Wort für die FDP-Frak- Buschmann, dieses Programm wurde schon
tion. lange zurückgenommen! Das gibt es nicht
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mehr!)
der CDU/CSU) Die alten Dreckschleudern sollen weg. Mit der Politik,
die Sie vorschlagen, erweisen Sie dem Klimaschutz ei-
Marco Buschmann (FDP): nen Bärendienst, wenn Sie diese Hightechtechnologie
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kol- verhindern.
leginnen und Kollegen! Der Kollege Jürgen Trittin hat (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
gestern nach der Regierungserklärung sehr viel Kritik CDU/CSU)
geübt. Einer seiner Hauptkritikpunkte war, der Wahl-
kampf in Nordrhein-Westfalen sei hier in Berlin offenbar Im Übrigen schaden Sie auch meiner Heimat: nicht
wichtiger als die Sache selbst. Mit Blick auf die heutige nur Nordrhein-Westfalen, sondern auch der Emscher-
Debatte und den Antrag der Grünen kann man nur sagen: Lippe-Region, wo das Kraftwerk Datteln 4 steht. Wir
Er hat offenbar seine eigenen Absichten auf andere pro- brauchen für den Strukturwandel Hightechprojekte,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3845
Marco Buschmann
(A) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kurzum: Ihr Antrag ist ein Wahlkampfpamphlet ohne (C)
Aber keine Klimakiller!) jede fachliche Überzeugungskraft.
wir brauchen solche Leuchtturmprojekte, und wir brau- (Ulrich Kelber [SPD], an die FDP gewandt:
chen bezahlbare Energie. Das wissen Sie genauso gut Habt ihr wirklich keinen Besseren? Ist das
wie ich. Aber dagegen wehren Sie sich. euer Ernst?)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Er ist eine Kampfansage an die Interessen Nordrhein-
CDU/CSU) Westfalens und der Emscher-Lippe-Region.
Was Sie machen, konnte man im Spiegel von dieser (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Woche nachlesen. Im Spiegel, der nicht gerade eine libe- Das ist altes, fossiles Denken!)
rale Postille ist, war zu lesen:
Zum parlamentarischen Schicksal dieses Pamphlets
Die Grünen haben Datteln intern zu einer strategi- empfehle ich Ihnen frei nach Goethe: Alles, was derart
schen Frage erkoren. … Wenn sie ein so großes entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.
Kraftwerk kurz vor der Fertigstellung erledigen
können, so ihr Kalkül, würden Investoren in (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
Deutschland vom Bau ähnlicher Kraftwerke abge- CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE
schreckt. GRÜNEN]: Ja, ja! Das gilt für das, was Sie ge-
macht haben!)
(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das sagen die
sogar öffentlich!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Darum geht es Ihnen: Sie wollen Investoren gezielt ver- Für Bündnis 90/Die Grünen ergreift Oliver Krischer
schrecken. Das ist die Absicht hinter Ihrem Antrag. Das das Wort.
schadet uns.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch Ihr rechtliches Argument verfängt nicht. Sie be- Mehr als ein Drittel aller CO2-Emissionen Deutschlands
haupten, es sei ungewöhnlich, das Planungsrecht anzu- stammt aus NRW. Das allein macht deutlich: Ohne das
passen, wenn es einem politisch gewünschten Projekt Mittun von NRW ist jede nationale Klimaschutzstrategie
entgegensteht. Dass das nicht stimmt, wissen Sie. Pla- von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deshalb ist die-
(B) nungsrecht ist nämlich iterativ angelegt, also auf Anpas- ses Thema völlig zu Recht heute hier Gegenstand der (D)
sung. Debatte.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aber den Klimaschutz aus der Planung zu und bei der SPD sowie der Abg. Eva Bulling-
streichen, ist ja wohl ein Ding!) Schröter [DIE LINKE])
Ich nenne Ihnen gerne ein Beispiel, das Sie wahrschein- Aus NRW kommen nicht nur die meisten Emissionen.
lich nachvollziehen können. In Nordrhein-Westfalen, Die Emissionen NRWs sind in den letzten Jahren – im
aber auch im Bund haben wir schon hundert-, ja tausend- Gegensatz zum Bundesdurchschnitt – auch noch gestie-
fach Bebauungspläne angepasst, gen, und sie werden weiter steigen, wenn die Kohlevor-
rangpolitik der schwarz-gelben Koalition in dieser
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weise weitergeht. Dass in NRW neue Kohlekraftwerke
Sie haben den Klimaschutz aus der Landespla- gebaut werden, ist ja nur ein Teil der Wahrheit. Zur
nung gestrichen! Das haben Sie gemacht!) Wahrheit gehört auch – Sie verschweigen das –: Die
wenn sie zum Beispiel einer politisch gewollten Klima- Energiekonzerne legen ihre alten Anlagen nicht still.
schutzsiedlung, einem politisch gewollten Solarkraft- Das zeigt das Beispiel Datteln. Eon erhöht die Kapazität
werk oder einem politisch gewollten Windkraftwerk auf 300 Prozent; das können Sie nachlesen im Urteil des
entgegenstehen. Jedes Mal haben wir Bebauungspläne Oberverwaltungsgerichts Münster. Das ist ein Skandal,
angepasst. und das lässt jede aktive Klimaschutzpolitik von vorn-
herein scheitern.
(Ulrich Kelber [SPD]: Es geht hier nicht um
einen Bebauungsplan!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe auf der ganzen Welt nicht einen Grünen gese- Die andere Seite der Medaille ist: NRW – Frau Höhn
hen, der in diesen Fällen aufgestanden ist und gesagt hat: hat es gesagt – gehört beim Ausbau der Nutzung der
Dagegen habe ich rechtsstaatliche Bedenken. – Das, was erneuerbaren Energien zu den Schlusslichtern. In
Sie hier machen, ist scheinheilig. NRW werden nur 6 Prozent des Stroms aus erneuerbaren
Energien erzeugt, und selbst da ist die Müllverbrennung
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – eingerechnet.
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie haben doch die ganze Windkraft verhin- (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
dert!) SES 90/DIE GRÜNEN)
3846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Oliver Krischer
(A) Es ist unglaublich, dass ein industrielles Kernland wie lich in der Tat ein interessantes und wichtiges Thema. (C)
NRW beim Ausbau der Nutzung der erneuerbaren Ener- Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die Klima-
gien dermaßen hinterherhängt. politik einen sehr hohen Stellenwert.
Für eine Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung hätte Die Grünen fordern in ihrem Antrag, dass wir einen
Nordrhein-Westfalen wegen seiner hohen Industrie- und „Gleichklang von Bund und Ländern beim Klimaschutz
Bevölkerungsdichte hervorragende Voraussetzungen. sicherstellen“. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Doch auch bei der Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung Grünen, wenn ich durch die Lande reise, kann ich fest-
ist NRW unterdurchschnittlich weit. Deshalb müssen wir stellen, dass an allen Ecken und Enden unseres schönen
eine andere Politik in diesem Land machen. Der Bund Landes gebaut wird, um Energie einzusparen und das
muss aktiv werden, er muss helfen, er muss mitsteuern, Klima zu schützen: Auf den Dächern der Gebäude wer-
damit dieses industrielle Kernland nach vorne kommt. den Fotovoltaikanlagen errichtet, und die Unternehmen
machen sich massiv Gedanken darüber, wie sie in ihren
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Industrieanlagen Energie einsparen können. Man kann
Marco Buschmann [FDP]: Bezahlbare Energie
zwar sagen, dass das aus ökonomischen Gründen ge-
ist auch wichtig!)
schieht; aber das ist mir in dem Fall egal. Jedenfalls pas-
Wir haben eben gehört, was die aktuelle Politik der siert überall etwas. Das, was große Unternehmen wie
Landesregierung ist: Man will weiter Vorrang für die BMW und Audi in den zurückliegenden Jahren in Bezug
Kohle. – Die Kollegen von der Bundesebene – Herr auf die Reduzierung der Verbrauchswerte ihrer Pkws ge-
Kauch hat das deutlich gemacht – wollen das weiter un- tan haben und noch immer tun, kann sich, meine ich,
terstützen. Wie passt das zusammen: Sonnenenergie in durchaus sehen lassen.
der Wüste und Windenergie auf dem Meer gewinnen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wollen, aber in Nordrhein-Westfalen den Strom aus
neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Haben
Kohle erzeugen? Diese Politik ist falsch und wird im
die ihre freiwilligen Vereinbarungen eingehal-
Endeffekt dazu führen, dass Nordrhein-Westfalen de-
ten?)
industrialisiert wird.
Wir liegen in diesem Hause, was die Zielsetzung be-
(Marco Buschmann [FDP]: Das ist ja
trifft, nicht allzu weit auseinander. Das ist meine Ein-
lächerlich!)
schätzung der Diskussion der zurückliegenden Jahre.
Meine Damen und Herren, es ist doch ein Irrsinn, Wenn es allerdings um die Frage der Instrumente geht,
dass rund um den größten Ballungsraum Europas ein teilen sich unsere Standpunkte, weil die Diskussion zu
Kranz aus neuen Kohlekraftwerken gebaut wird, die im- diesem Thema in weiten Teilen dieses Hauses ideolo-
(B) mer noch mehr als 50 Prozent der Energie in Form von gisch geführt wird. (D)
Wärme nutzlos in die Umgebung entweichen lassen,
(Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt! – Bärbel
während Millionen schlecht isolierter Wohnungen im
Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist
Ruhrgebiet teuer mit aus Russland importiertem Erdgas
auch ideologisch!)
geheizt werden. Die Zukunft besteht nicht darin, wie
RWE und Eon es tun, Kraftwerksblöcke mit einer Leis- Ich möchte jetzt nicht über die Kernenergie reden,
tung von 1 000 Megawatt auf die grüne Wiese zu setzen. sondern über die konkrete Frage, ob sich die Grünen in
Die Zukunftsvision, die die Industrie in Nordrhein-West- Deutschland eine sichere Stromversorgung zu bezahl-
falen, ja in ganz Deutschland voranbringt, besteht in der baren Preisen ohne Kohleumwandlungssysteme vorstel-
dezentralen Nutzung erneuerbarer Energien in kleinen len können.
Blockheizkraftwerken in Verbindung mit Kraft-Wärme-
Kopplung. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Aber klar! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/
Ich danke Ihnen. DIE GRÜNEN]: Aber sicher!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir reden sehr viel über nachwachsende Rohstoffe, er-
neuerbare Energien und über die Frage, wann wir unser
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Energieversorgungssystem so umstellen können, dass
Franz Obermeier spricht für die CDU/CSU-Fraktion. wir möglichst viel, wenn nicht sogar bis zu 100 Prozent
des Energiebedarfs, aus nachwachsenden Rohstoffen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bestreiten können. Wir reden viel zu wenig über die Sys-
der FDP) teme, die wir brauchen, um mit den erneuerbaren Ener-
gien eine sichere Versorgung unseres Landes gewähr-
Franz Obermeier (CDU/CSU): leisten zu können.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Richtig!)
Wahlkampfhilfe für die anstehende Wahl in Nordrhein-
Westfalen hat in Berlin nichts verloren. Der Petersberg Wir machen uns viel zu wenig Gedanken über die Frage
ist ein geeigneterer Ort, über das Thema Klimaschutz zu nach den Folgen, wenn die Stromwirtschaft zu 100 Pro-
diskutieren. zent auf erneuerbaren Energien beruht.
Ich möchte nach meinem Vorredner zur Versachli- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
chung der Debatte beitragen. Die Klimapolitik ist näm- Warum waren Sie nicht im Umweltausschuss?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3847
Franz Obermeier
(A) – Gegenruf der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ über dessen Änderung wir heute auch noch diskutieren (C)
CSU]: Er war sogar in der Enquete-Kommis- werden.
sion!)
(Frank Schwabe [SPD]: Das richten Sie auch
Ich weiß nicht mehr, wer das Sachverständigengut- noch hin!)
achten angesprochen hat. Ich will Ihnen ohne jede Pole-
mik sagen, Frau Höhn: Aus dem Sachverständigengut- – Wir richten gar nichts hin. – Das, was jetzt in der Foto-
achten geht hervor, dass die Stromversorgung schon voltaikbranche abläuft – das wissen auch Sie –, ist das
heute zu 100 Prozent durch erneuerbare Energien mög- größte Umverteilungsprogramm von unten nach oben,
lich wäre. Das will ich nicht bestreiten, auch wenn ich es das wir derzeit haben.
nicht nachgerechnet habe. Dann bräuchten wir aber un- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gefähr das Vier- bis Fünffache dessen, was wir heute an NEN]: Das sieht Seehofer anders!)
entsprechenden Erzeugungsanlagen haben.
– Das kann er sehen, wie er will. – Ich sage Ihnen: Das
(Ulrich Kelber [SPD]: Sie müssen die Gutach- ist das größte Umverteilungsprogramm, das wir haben;
ten auch mal durchlesen!) denn zahlen muss die Allgemeinheit, und die großen
Das sind die Fakten, mit denen man sich auseinanderset- Hersteller profitieren bis hin zu EUROSOLAR und den-
zen muss. jenigen, die sich Fondsanteile kaufen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Ulrich Kelber [SPD]: EUROSOLAR stellt
Sie sind ja ideologisch festgelegt! – Ulrich keine einzige Solarzelle her!)
Kelber [SPD]: Genau das hat der Sachverstän-
digenrat versucht Ihnen zu erklären!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich will noch etwas zur Kohle sagen, das Ihnen auch Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage von
nicht gefallen wird. Wenn die Landesregierung und die Frau Bulling-Schröter zulassen?
Stromwirtschaft in Nordrhein-Westfalen zu dem Ergeb-
nis kommen, dass ein neues Kohlekraftwerk gebaut Franz Obermeier (CDU/CSU):
werden soll, dann bitte ich, zu bedenken, dass man heute Selbstverständlich.
moderne Kohlekraftwerke technisch so konzipieren
kann, dass ein Wirkungsgrad von 50 Prozent erreicht
wird. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
(B) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D)
46 Prozent!)
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Ich komme aus einer Kommune, in der es ein 25 Jahre Vielen Dank, Kollege Obermeier. – Sie sprechen die
altes Kohlekraftwerk gibt. In diesem Kohlekraftwerk Gewinne, die man abschöpfen muss, an. Da sind wir uns
wird, wenn die Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen voll ge- offensichtlich einig. Ich meine aber, man sollte in allen
nutzt werden können, ebenfalls ein Wirkungsgrad von Bereichen Gewinne abschöpfen, und spreche damit die
50 Prozent erreicht. Deswegen sage ich: Um eine sichere großen Konzerne und die Zertifikate an.
Versorgung unseres Landes gewährleisten zu können,
brauchen wir auf absehbare Zeit in der Grundlast sowohl 90 Prozent der CO2-Zertifikate erhalten die großen
die Kernkraft als auch die Kohlekraft. Energiekonzerne kostenlos. Diese preisen sie trotzdem
mit dem Marktpreis ein. Das heißt: Die Konzerne tun so,
(Ulrich Kelber [SPD]: Was bringt es, einen als ob sie die Zertifikate bezahlen müssten; es bezahlen
Sachverständigenrat einzurichten, wenn Sie sie aber diejenigen, die den Strom abnehmen. Jetzt gibt
nicht zuhören?) es eine ganze Reihe von Berechnungen vom Öko-Institut
Ich will noch etwas zu den ökonomischen Einlassun- und von anderen Instituten. Sie können sich das Institut
gen von Frau Bulling-Schröter sagen. Es ist interessant, aussuchen, das Ihnen politisch am nächsten steht. Alle
dass Sie Kohlekraftwerke als Fehlinvestition bezeich- sprechen von Sonderprofiten in Milliardenhöhe. Wir ha-
nen. Das Kohlekraftwerk vor meiner Haustür wurde ge- ben in der Vergangenheit des Öfteren darüber diskutiert.
rade von einem großen Investor gekauft, und Eon will in Meine Frage lautet: Wenn Sie die angeblich großen Pro-
Datteln ein Kohlekraftwerk bauen. Glauben Sie allen fite in der Solarindustrie abschöpfen wollen, warum
Ernstes, dass Ihre Sicherheitsbedenken hinsichtlich der schöpfen Sie dann nicht auch die großen Profite der gro-
Finanzierung einer derartigen Anlage besser sind als die ßen Energiekonzerne ab? Diese Profite sind wesentlich
Überlegungen derjenigen, die echtes Geld in die Hand höher und gehen in die Milliarden. Wir brauchen doch
nehmen und dort investieren? Ich würde eher den Kauf- das Geld und diskutieren permanent über Schuldenauf-
leuten der Stromindustrie glauben. nahme. Wir wollen mehr regenerative Energien. Dieses
Geld könnten wir in das Marktanreizprogramm stecken.
(Ulrich Kelber [SPD]: Es wird nicht neu Dann brauchte man das nicht zu streichen.
gebaut!)
(Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zur Fotovol- [SPD]: Herr Kollege, haben Sie Ihren Arbeits-
taik, um die es im Erneuerbaren-Energien-Gesetz geht, vertrag bei Eon eigentlich schon gekündigt?)
3848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Franz Obermeier (CDU/CSU): bringt. Sie wissen auch, dass wir dabei um die eine oder (C)
Frau Bulling-Schröter, ich will Sie auf zwei Dinge andere Sachfrage ringen und Diskussionen führen. Ich
hinweisen. Bei der Reduzierung der Einspeisevergütung glaube, das gehört in der Politik dazu.
im Bereich der Fotovoltaik handelt es sich nicht um ein
Wir merken aber vor allem, dass all diese Diskussionen
Abschöpfen, sondern um die Reduzierung eines gesetz-
von einem ernsthaften Ringen um den richtigen Weg,
lich festgelegten Betrags. Das nennt man nicht Abschöp-
von ernsthaftem Bemühen um gute Lösungen geprägt
fen.
sind. Damit unterscheiden wir uns von dem, was Sie
(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Macht heute mit Ihrem Antrag zur Diskussion stellen. Wenn
nichts! Aber das ist gemeint!) man diesen Antrag liest, wird einem sehr schnell klar: Es
geht Ihnen hier um einen einzigen Punkt, um den Land-
Das nennt man eine Anpassung zur Markteinführung ei- tagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen.
ner ganz bestimmten Technologie.
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: So ist es!)
Zu den CO2-Zertifikaten: Man müsste dazusagen,
dass es sich hierbei um Erlöse handelt, die über Wettbe- Sie stellen als Aufhänger in den Mittelpunkt dieses
werb und Markt entstehen. Ich gebe zu, dass dieser Wett- Antrags eine Änderung von § 26 des Landesentwick-
bewerb und der Markt hier nicht so richtig funktionieren; lungsgesetzes von Nordrhein-Westfalen. Die Diskussion
aber im Kern sind das zwei grundlegend unterschiedli- über diese Vorschrift ist sicherlich spannend, sie ist ganz
che Verhältnisse. Was den CO2-Zertifikatehandel be- bestimmt auch interessant. Aber diese Diskussion gehört
trifft, so nehme ich an, dass sich in den kommenden Jah- mit absoluter Sicherheit nicht in den Deutschen Bundes-
ren die Dinge verändern werden. tag, sondern in den Landtag von Nordrhein-Westfalen.
(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: 2013!) (Beifall bei der CDU/CSU)
– Bis 2015 wird sich einiges verändern. Das wird ganz Das entlarvt die Absicht: Es geht Ihnen um Wahl-
sicher so sein. – Bis dahin, so nehme ich an, werden wir kampf. Ich bitte Sie aber: Wenn Sie Wahlkampf in Nord-
auf europäischer Ebene einen gängigen Markt mit Zerti- rhein-Westfalen machen wollen, dann gehen Sie auf die
fikaten haben. Ich wünsche mir von jeder Bundesregie- Marktplätze, oder gehen Sie in die Stadthallen. Am bes-
rung, dass wir auch den weltweiten Handel mit CO2-Zer- ten Sie bewerben sich um ein Landtagsmandat. Aber be-
tifikaten in Gang bringen und dass wir ihn von der schäftigen Sie nicht den Bundestag mit Themen, für die
Beschränkung ausnehmen. Ich möchte, dass wir interna- er nicht zuständig ist!
tional besser mit CO2-Zertifikaten handeln können. Um
auf Datteln zurückzukommen: Wenn wir ein Kohlekraft- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
(B) werk bekommen, das emittiert, wird das Angebot an derspruch bei der SPD – Frank Schwabe [SPD]: (D)
CO2-Zertifikaten am Markt größer werden. Die Folge War der Herr Laumann heute hier oder nicht?)
ist, dass wir dann vermutlich bessere Preise bekommen. Würden wir nämlich diesen Antrag beschließen, wäre
Das sind die Zusammenhänge, die zur Beantwortung Ih- das nichts anderes als ein Verstoß gegen das Subsidiari-
rer Frage erwähnt werden müssen. tätsprinzip, das wir gegenüber Europa hochhalten, auf
(Beifall bei der CDU/CSU) das auch wir als Deutscher Bundestag Wert legen, näm-
lich dass uns niemand anderes in unsere ureigenen An-
Mir ist nicht bange. Deutschland ist auf einem guten gelegenheiten hineinredet.
Weg in Richtung CO2-Emissionsreduzierung. Dafür
werden wir auch in dieser Bundesregierung und in den (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sie tragenden Fraktionen arbeiten. Wie wollen Sie denn Ihre Klimaziele erfüllen,
wenn das da in Nordrhein-Westfalen abgeht?
Herzlichen Dank. Hier hohl reden und da anders handeln, Herr
Jung! Das ist Ihr Prinzip!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Dies sollten wir auch aus Respekt vor der gewählten
Volksvertretung in Nordrhein-Westfalen nicht machen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Deshalb: Über landespolitische Themen diskutieren Sie
Andreas Jung spricht jetzt für die CDU/CSU-Frak- in Nordrhein-Westfalen, wir beschäftigen uns mit den
tion. Bundesangelegenheiten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
neten der FDP) Aber über Klimaschutz muss man hier reden,
und da passiert das Gegenteil!)
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): – Über Klimaschutz, Frau Höhn, müssen wir hier reden.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
wissen, die Koalition hat sich das Ziel gesetzt, bis zum Ja, und deshalb auch über Klimaschutz in
Herbst ein Gesamtkonzept im Bereich der Energiepolitik Nordrhein-Westfalen!)
vorzulegen, das die Belange von Umwelt- und Klima-
schutz, von Wirtschaftlichkeit und von Versorgungssi- Deshalb sage ich: Wahlkampf nein, aber Wettbewerb,
cherheit gleichermaßen einbezieht und unter einen Hut Wettstreit um den besseren Weg ja.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3849
Andreas Jung (Konstanz)
(A) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
Exakt, und das machen wir!) Warum sperren Sie es denn jetzt? Darüber re-
den wir heute!)
Frau Höhn, Sie haben vorher gesagt, Sie messen uns
nicht an unseren Reden, sondern Sie messen uns an un- – Frau Höhn, wir kämpfen jetzt dafür, dass an dieser
serem Handeln. Aufstockung festgehalten werden kann und dass wir
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht auf das Niveau zurückfallen, das es zur Zeit von
Richtig!) Rot-Grün gegeben hat. Darum geht es jetzt.

Das akzeptieren wir. Das ist der richtige Maßstab. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich bitte Sie, dann aber auch zu akzeptieren, dass wir NEN]: Jetzt ist null! Jetzt ist gar nichts mehr
auch Sie, die Grünen, Rot-Grün, nicht daran messen, wie da! Sie haben es eingestellt!)
Sie heute reden, sondern zuallererst daran, wie Sie ge-
handelt haben, als Sie im Bundestag die Mehrheit hatten, Ich bin unserer Berichterstatterin, der Kollegin
als Sie die rot-grüne Bundesregierung gestellt haben. Flachsbarth, dankbar, dass sie die Zahlen noch einmal
herausgearbeitet hat. Wir haben in diesem Jahr schon jetzt
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
125 Millionen Euro für Ökoheizungen aus dem Marktan-
Richtig!)
reizprogramm ausgegeben. Im gesamten Jahr 2005, dem
Da möchte ich einige Punkte von dem aufgreifen, was Abschiedsjahr von Rot-Grün, waren es nur 121 Millionen
Sie gesagt haben, was in dieser Debatte gesagt wurde. Euro. Deshalb sage ich: Wir kämpfen für die Entsper-
rung, damit wir nicht auf das Niveau zurückfallen, das
Erster Punkt: Energieeffizienz. Wir sind in diesem wir zu rot-grünen Zeiten hatten.
Haus in allen Debatten einig gewesen, dass mit das
Beste für Energieeffizienz und für Energiesparen das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Gebäudesanierungsprogramm ist. Wenn man sich an- Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schaut, was damals Rot-Grün gemacht hat, dann stellt NEN]: Quatsch! – Ulrich Kelber [SPD]: Wie
man fest: Dieses Programm gab es damals auch schon, viele Jahre wollen Sie sich damit noch über die
es war aber eher ein Progrämmchen. Erst nach Rot-Grün Runden retten, mit diesem Vergleich?)
ist es gelungen, dieses Programm nicht nur zu verdop-
peln, sondern es in der Großen Koalition mehr als zu Lieber Herr Kelber, Sie und auch die Kollegen von
verdreifachen und im Übrigen mit Mitteln aus dem der Fraktion der Grünen haben das Thema Kohle ange-
Konjunkturprogramm weiter aufzustocken. Jetzt ist es in sprochen. Die Frage ist interessant, wie es damals gelin-
(B) der christlich-liberalen Koalition in einer schwierigen gen konnte, die Mittel für das Marktanreizprogramm (D)
haushaltspolitischen Lage gelungen, an dem finanziellen aufzustocken. Es ist gelungen durch die Einführung der
Umfang festzuhalten und die klare Botschaft zu geben: Versteigerung von Zertifikaten im Bereich des Emis-
Wir stehen mit diesem Programm weiter für Energieeffi- sionshandels für Kohlekraftwerke. Die rot-grüne Regie-
zienz, für Klimaschutz und auch für eine Politik für das rung, speziell die Minister Trittin und Clement, haben
Handwerk vor Ort. die Zertifikate für die Kraftwerke umsonst verteilt.
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
[SPD]: 1,5 statt 2,25! Das ist nicht Beibehal- Das durften sie doch gar nicht anders machen!
ten! Das ist weniger!) Das hat uns die EU vorgegeben! Sie wissen es
Zweiter Punkt: Marktanreizprogramm. Auch ich doch!)
und viele Kolleginnen und Kollegen in meiner Fraktion Obwohl man für 10 Prozent der Zertifikate eine Auktionie-
setzen sich dafür ein, dass dieses Marktanreizprogramm rung hätte durchführen können, haben sie mehr Zertifikate
entsperrt wird, dass die Mittel für Ökoheizungen freige- verteilt, als es dem gesamten CO2-Ausstoß entsprochen
geben werden. hat. Der SPD- und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es in der Großen Koalition gelungen – im Übrigen gegen
NEN]: Dann machen Sie das doch! Sie haben den Vorschlag des heutigen SPD-Vorsitzenden und da-
die Mehrheit!) maligen Umweltministers, der weiterhin die Zertifikate
umsonst verteilen wollte –,
– Ja, das wollen wir.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Aber auch da ist der Rückblick interessant. Ich erin- der FDP)
nere mich gut, nachdem ich im Jahr 2005 in den Bundes-
tag gekommen war, dass sich im Jahr 2006 auf all unse- in die Versteigerung einzusteigen. Die Erlöse aus dieser
ren Schreibtischen die Briefe von Bürgern, von Versteigerung wurden verwendet, um die Mittel für das
Gemeinden gestapelt haben, die geschrieben haben: Wir Marktanreizprogramm aufzustocken.
wollen von diesem Marktanreizprogramm profitieren. Es
ist aber jetzt, zur Hälfte des Jahres, schon aufgebraucht.
Ihr müsst dieses Programm aufstocken. – Damals gab es Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ein zähes Ringen. Aber es ist uns schließlich gelungen, Herr Kollege Jung, möchten Sie eine Zwischenfrage
die Mittel für dieses Programm tatsächlich aufzustocken. der Kollegin Höhn zulassen?
3850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): die Fakten, über das, was wir hier gemeinsam in ver- (C)
Gerne. schiedenen Legislaturperioden im Deutschen Bundestag
beschlossen haben – ein ständiger Fortschritt zu erken-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nen. Zum ersten Mal hat sich der Bundestag in dieser
Legislaturperiode mit der christlich-liberalen Mehrheit
Bitte schön.
dazu bekannt, den CO2-Ausstoß in Deutschland bis 2020
gegenüber 1990 um 40 Prozent zu reduzieren, ohne das,
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wie es zuvor immer der Fall war, davon abhängig zu
Herr Kollege Jung, Sie haben eben den damaligen Mi- machen, dass ein internationales Klimaabkommen ge-
nister Trittin kritisiert, weil er 100 Prozent der Zertifikate schlossen wird und dass sich die EU in diesem Rahmen
umsonst an die Unternehmen abgegeben hat. Können Sie zur Reduktion von 30 Prozent verpflichtet. Mit dieser
bitte bestätigen, dass zum damaligen Zeitpunkt die EU Festlegung unterstreichen wir, dass wir an unserer Vor-
gar nicht die Möglichkeit eröffnet hat, etwas anderes zu reiterrolle festhalten.
machen, als diese Zertifikate umsonst an die Unterneh-
men abzugeben? Meine Redezeit geht zu Ende. Ich möchte nur noch
sagen, dass es um die Reduktionsziele geht, aber auch
um die Finanzierung, um die wir ringen und für die wir
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
kämpfen. Als ich am Sonntagabend die Gelegenheit
Frau Kollegin Höhn, ich will es gerne noch einmal hatte, auf dem Petersberg Gespräche mit vielen Partnern
nachprüfen. Nach meiner Erinnerung war es so, dass von zu führen, war mein Eindruck, dass die deutsche Vorrei-
Beginn an die Möglichkeit bestanden hat, 10 Prozent terrolle mitnichten angezweifelt wird; vielmehr wird in
dieser Zertifikate zu versteigern. uns nach wie vor ein glaubwürdiger Partner mit einer
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ehrgeizigen Klimapolitik gesehen.
Nein! Das ist falsch! – Ulrich Kelber [SPD]: Herzlichen Dank.
5 Prozent!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
– Bitte?
(Ulrich Kelber [SPD]: 5 Prozent!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
– Also 5 Prozent. – Aber es gab von Anfang an die Mög- Ulrich Kelber hat das Wort zu einer Kurzintervention.
lichkeit, Zertifikate zu versteigern. Rot-Grün hat sich da-
mals dagegen entschieden. Die Zertifikate wurden viel- Ulrich Kelber (SPD):
(B) mehr nach dem Grandfathering-Prinzip zugeteilt: Jeder (D)
Herr Kollege Jung, Sie wissen, dass ich Sie sehr
bekommt so viele Zertifikate, wie er CO2 ausstößt. Mit
schätze, auch Ihren Redestil. Heute haben Sie aber etwas
anderen Worten: Derjenige, der noch nie etwas für Ener-
für Sie Ungewohntes gemacht: Sie haben keinen reinen
gieeffizienz getan hatte, wurde privilegiert, und derje-
Fachvortrag gehalten, und Sie haben auch nicht nur die
nige, der investiert hatte, wurde benachteiligt. Auch das
unterschiedlichen Positionen, die man haben kann, vor-
haben wir im Rahmen der Diskussion zum NAP II än-
getragen, sondern Sie haben an zwei Stellen versucht,
dern können. Im Vergleich zu Rot-Grün gab es auch an
die Leute hinter die Fichte zu führen.
dieser Stelle einen Fortschritt im Bereich des Klima-
schutzes. Die Bedingungen für den Betrieb von Kohle- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Oh nein!)
kraftwerken wurden verschärft, was für einen größeren
Druck in Sachen Klimaschutz gesorgt hat. Auf diese muss man einmal kurz eingehen.
Ich darf noch einmal zurückkommen auf den Einwand Ich finde es ja gut, dass Sie das, was Sie mit uns ge-
der Frau Kollegin Bulling-Schröter: Ja, im Emissionshan- meinsam in der Zeit der Großen Koalition erreicht haben,
del – Frau Höhn hat auch schon darauf hingewiesen – loben. Sie und ich wissen, wie viele Nächte es teilweise
sind wir von den Richtlinien der Europäischen Union gebraucht hat, um Herrn Kauder bzw. Herrn Röttgen als
abhängig. Diese ließen es zu, 10 Prozent der Zertifikate Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer zu überzeugen.
zu versteigern. Von dieser Möglichkeit haben wir beim Es ist gut, dass er sich in gewisser Weise vom Saulus
NAP II Gebrauch gemacht. Die Bundeskanzlerin hat aber zum Paulus gewandelt hat, als er die Pforte zum Um-
danach auf der Konferenz in Brüssel in der Europäischen weltministerium durchschritten hat.
Union durchgesetzt, dass in Zukunft 100 Prozent dieser
Zertifikate versteigert werden können. Es ist also schon Aber wenn Sie sagen, unter Rot-Grün sei in Sachen
Beschlusslage, dass auf der Ebene der Europäischen Emissionshandel weniger gemacht worden als unter Rot-
Union 100 Prozent der Zertifikate versteigert werden Schwarz, dann muss ich an Folgendes erinnern: Als wir
können und damit der CO2-Ausstoß belastet wird. Dies 2003 zum ersten Mal den Emissionshandel beschlossen
ist ein Schritt in Richtung mehr Klimaschutz. haben, hat die CDU/CSU dagegen gestimmt, weil wir
aus der Sicht der CDU/CSU zu wenig CO2-Rechte für
Zuletzt will ich noch auf die Frage der Glaubwürdig- die Unternehmen und zu wenig Sonderrechte für hoch-
keit der deutschen Klimaschutzpolitik eingehen. Die emittierende Unternehmen bereitgestellt haben. Das
Ziele sind schon angesprochen worden. Dabei wurde die gehört schon dazu, wenn man darüber spricht: Sie haben
Frage aufgeworfen: Hält Deutschland an seinen ehrgei- etwas verbessert, was Sie vorher abgelehnt haben, weil
zigen Klimazielen fest? Da ist – ich rede jetzt nur über es Ihnen zu scharf war.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3851
Ulrich Kelber
(A) Der zweite Punkt. Die Idee der 100-Prozent-Auktionie- trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit (C)
rung ist in der Tat damals aus den Fraktionen hervorge- ist der Antrag bei Zustimmung durch die einbringende
gangen. Sie wurde dann von Frau Reiche und mir für die Fraktion abgelehnt. Die Koalitionsfraktionen haben da-
Fraktionen verhandelt. Aber ich muss Sie noch einmal da- gegen gestimmt, SPD und Linke sich enthalten.
ran erinnern, wie das in Brüssel gelaufen ist: Aus Brüssel
Tagesordnungspunkt 5 b. Interfraktionell wird Über-
kam nämlich auf einmal die Meldung, die Kanzlerin wolle
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/1475 an die
Polen und Italien anbieten, die Vollversteigerung der
Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung ste-
Emissionszertifikate aufzugeben, wie das übrigens Teile
hen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist es so be-
Ihrer Fraktion und die schwarz-gelbe Landesregierung in
schlossen.
Nordrhein-Westfalen per Landtagsbeschluss als Position
vertreten haben. Es war dann der ebenfalls anwesende Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis i auf:
Außenminister Steinmeier, der widersprochen hat und
auf Einhaltung der Bundestagsbeschlüsse bestanden hat. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Das gehört schon dazu. Sie sollten sich nicht für etwas gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
loben, was Sie am Anfang gar nicht wollten und was Sie Harmonisierung des Haftungsrechts im Luft-
sich erst vom Koalitionspartner haben abringen lassen. verkehr

(Beifall bei der SPD) – Drucksache 17/1293 –


Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Herr Jung, Sie haben Gelegenheit, zu antworten. Ausschuss für Tourismus

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-


Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
Herr Kollege Kelber, Sie haben zwei Bemerkungen kommen vom 3. Dezember 2009 zwischen der
gemacht. Mit der ersten Bemerkung haben Sie nicht das Bundesrepublik Deutschland und der Födera-
infrage gestellt, was ich gesagt habe, nämlich dass der tiven Republik Brasilien über Soziale Sicher-
Emissionshandelsplan im Jahr 2007 besser gewesen ist heit
als der von Rot-Grün. Sie haben bestätigt, dass es Fort- – Drucksache 17/1296 –
schritte gegeben hat. Nur in Bezug auf das Abstim-
Überweisungsvorschlag:
mungsverhalten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Ausschuss für Arbeit und Soziales
Jahr 2003, das Sie angesprochen haben, muss ich Ihnen
zugestehen, dass Sie daran möglicherweise eine fri- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
(B) schere Erinnerung haben als ich, der ich zu diesem Zeit- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- (D)
punkt noch nicht im Bundestag war. Entscheidend ist rung des Güterkraftverkehrsgesetzes und des
aber der Vergleich der Zeit unter Rot-Grün und der Zeit Fahrpersonalgesetzes
danach, den ich angestellt habe. Da ist eine kontinuierliche
Verbesserung zu mehr Klimaschutz festzustellen. – Drucksache 17/1395 –
Überweisungsvorschlag:
Der zweite Punkt. Ich bin, genau wie Sie, in Brüssel Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
nicht dabei gewesen. Aber klar ist, dass unsere Bundes- Ausschuss für Tourismus
regierung unter Führung der Bundeskanzlerin und d) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
selbstverständlich unter Mitwirkung des Bundesaußen- der Finanzen
ministers dort unsere Position vertreten hat, die Position
der Regierung, die Unterstützung erfahren hatte durch Entlastung der Bundesregierung für das
einen Antrag des Bundestages. Entscheidend ist, was am Haushaltsjahr 2009
Ende hinten rauskommt. Das hat die Kanzlerin dort ver- – Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundes
treten, und das ist ein gemeinsamer Erfolg dieser Regie- für das Haushaltsjahr 2009 –
rung gewesen.
– Drucksache 17/1500 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Überweisungsvorschlag:
Frank Schwabe [SPD]: Aber Sie wollten es Haushaltsausschuss
trotzdem erst nicht! – Franz Obermeier [CDU/ e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
CSU]: Das sind die Fakten, Herr Kelber! – Ge- Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van
genruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]: Sie ha-
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
ben gar nicht verstanden, dass er mich bestä-
DIE LINKE
tigt hat! Sie müssen mal zuhören!)
Von der Konfrontation zur Kooperation –
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Deutsch-russische Beziehungen verbessern
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Punkt. – Drucksache 17/1559 –
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1430 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
mit dem Titel „Gleichklang von Bund und Ländern beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Klimaschutz sicherstellen“. Wer stimmt für diesen An- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
3852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Wir kommen nunmehr zu den Tagesordnungspunk- (C)
Binder, Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, weite- ten 29 b bis l sowie den Zusatzpunkten 2 a und 2 b. Es
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Krebserregende Stoffe in Kinderspielzeugen
durch Sofortmaßnahmen ausschließen Tagesordnungspunkt 29 b:
– Drucksache 17/1563 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Überweisungsvorschlag: richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Ausschuss für Gesundheit Parlaments und des Rates zur Bekämpfung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan (Neufassung)
Korte, Dr. Barbara Höll, Ulla Jelpke, weiterer Umsetzung der Initiative für kleine und mitt-
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE lere Unternehmen in Europa (Small Business
Act) (inkl. 8969/09 ADD 1 und 8969/09 ADD 2)
Einstellung der Verhandlungen mit den Verei- (ADD 1 in Englisch)
nigten Staaten von Amerika um ein neues
SWIFT-Abkommen und Verzicht auf ein euro- – Drucksachen 17/790 Nr. 8, 17/1610 –
päisches Abkommen über ein Programm zum Berichterstattung:
Aufspüren der Finanzierung des Terrorismus Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Dr. Eva Högl
– Drucksache 17/1560 –
Marco Buschmann
Überweisungsvorschlag: Raju Sharma
Innenausschuss (f)
Finanzausschuss Ingrid Hönlinger

h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
regierung tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Bericht des GKV-Spitzenverbandes über die Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim-
Erfahrungen mit den durch das GKV-WSG mig angenommen.
bewirkten Rechtsänderungen in § 13 Absatz 2
(B)
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- (D)
titionsausschusses.
– Drucksache 16/12639 –
Tagesordnungspunkt 29 c:
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Rechtsausschuss ausschusses (2. Ausschuss)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Sammelübersicht 71 zu Petitionen
i) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung – Drucksache 17/1436 –
Fünfter Staatenbericht der Bundesrepublik Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Deutschland über Maßnahmen zur Durchfüh- tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
rung des Übereinkommens vom 10. Dezember nommen.
1984 gegen Folter und andere grausame, un-
menschliche oder erniedrigende Behandlung Tagesordnungspunkt 29 d:
oder Strafe (CAT) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
– Drucksache 16/14138 – ausschusses (2. Ausschuss)
Überweisungsvorschlag: Sammelübersicht 72 zu Petitionen
Rechtsausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 17/1437 –
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe tungen? – Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Hierbei handelt es sich um Überweisungen im ver-
einfachten Verfahren ohne Debatte. Tagesordnungspunkt 29 e:
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu ausschusses (2. Ausschuss)
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist of- Sammelübersicht 73 zu Petitionen
fensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen. – Drucksache 17/1438 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3853
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Tagesordnungspunkt 29 k: (C)
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der SPD Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
angenommen. Die Fraktion Die Linke war dagegen, ausschusses (2. Ausschuss)
Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Sammelübersicht 79 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 29 f: – Drucksache 17/1444 –
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
ausschusses (2. Ausschuss) tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
Sammelübersicht 74 zu Petitionen stimmung durch die Koalitionsfraktionen und die Frak-
tion Die Linke. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben
– Drucksache 17/1439 – dagegen gestimmt.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Tagesordnungspunkt 29 l:
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Tagesordnungspunkt 29 g:
Sammelübersicht 80 zu Petitionen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 17/1445 –

Sammelübersicht 75 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-


tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
– Drucksache 17/1440 – stimmung durch CDU/CSU und FDP. Die Fraktionen
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- der SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Gegenstimmen dagegen gestimmt.
durch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom- Wir kommen zu Zusatzpunkt 2 a:
men; alle anderen Fraktionen haben dafür gestimmt.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Tagesordnungspunkt 29 h: richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
ausschusses (2. Ausschuss) dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
(B) Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord- (D)
Sammelübersicht 76 zu Petitionen neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– Drucksache 17/1441 – NEN

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Anbau von gentechnisch veränderter Kartof-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Die fel Amflora verhindern
Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt, alle anderen – Drucksachen 17/1028, 17/1547 –
Fraktionen dafür.
Berichterstattung:
Tagesordnungspunkt 29 i: Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Elvira Drobinski-Weiß
ausschusses (2. Ausschuss) Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Sammelübersicht 77 zu Petitionen Ulrike Höfken
– Drucksache 17/1442 – Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- lung auf Drucksache 17/1547, den Antrag der Fraktion
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dage- Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1028 abzu-
gen hat die Fraktion der SPD gestimmt, alle anderen lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
Fraktionen dafür. stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die
Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben
Tagesordnungspunkt 29 j: die Koalitionsfraktionen. Dagegen gestimmt haben Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linke. Die Fraktion der SPD
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
hat sich enthalten.
ausschusses (2. Ausschuss)
Zusatzpunkt 2 b:
Sammelübersicht 78 zu Petitionen
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– Drucksache 17/1443 –
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Dage- dem Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-
gen haben Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber,
Linke gestimmt, alle übrigen Fraktionen dafür. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
3854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel in den letzten Monaten immer wieder erklärt, erst müsse (C)
zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futter- die Steuerschätzung abgewartet werden, als erwarteten
mittelkette fernhalten Sie heute noch irgendwelche Überraschungen. Aber es
hat heute keine Überraschung gegeben. Die öffentlichen
– Drucksachen 17/1410, 17/1603 – Kassen bleiben leer, und zwar leider nicht nur in diesem,
Berichterstattung: sondern auch in den folgenden Jahren. Es gibt mit dem
Abgeordnete Dr. Max Lehmer heutigen Tag keine neue Lage. Dass wir kein Geld haben
Elvira Drobinski-Weiß für weitreichende Steuersenkungen, haben wir alle, Sie
Dr. Christel Happach-Kasan und wir, bereits vor einem Jahr gewusst.
Dr. Kirsten Tackmann
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha!)
Ulrike Höfken
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Aber die FDP und Teile der Union haben so getan, als
lung auf Drucksache 17/1603, den Antrag der Fraktion hätte es die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise nicht ge-
der SPD auf Drucksache 17/1410 abzulehnen. Wer geben. Sie haben sich der Realität von Anfang an nicht
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da- gestellt. Sie haben sich Ihre eigene Welt geschaffen und
gegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussemp- werden jetzt Opfer dieser Illusion, die Sie bei den Bürge-
fehlung angenommen. Die Koalitionsfraktionen haben rinnen und Bürgern geschürt haben, leider bei der Bun-
zugestimmt, die Oppositionsfraktionen dagegen. destagswahl mit Erfolg, weil sie Ihnen teilweise
geglaubt haben, dass es einen Spielraum für Steuersen-
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf: kungen gibt; tatsächlich gibt es diesen aber nicht.
Aktuelle Stunde Erst vor wenigen Tagen hat die FDP auf ihrem Bun-
auf Verlangen der Fraktion der SPD desparteitag ein Steuersenkungskonzept in Höhe von
Konsequenzen aus dem Ergebnis der Steuer- 16 Milliarden Euro beschlossen. Natürlich war Herrn
schätzung für die Steuersenkungspläne der Westerwelle, Herrn Pinkwart und allen anderen bestens
CDU/CSU-FDP-Koalition bekannt, dass die heutige Steuerschätzung keine Steuer-
senkungsspielräume erbringen wird.
Für die SPD hat das Wort der Kollege Joachim Poß.
Aber wen von Ihnen interessiert das schon? Das ist
(Beifall bei der SPD) nur die Realität, die man sich am besten weit vom Leibe
hält. Sie setzen immer noch darauf, die Menschen mit
Joachim Poß (SPD): Ihren Steuersenkungsfantasien locken zu können. Aber
(B) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem der nächste Sonntag wird Ihnen zeigen, (D)
heutigen Tag gibt es keine Ausflüchte mehr. Jetzt muss (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Da ist
die Regierungskoalition endlich die Karten auf den Muttertag, Herr Kollege!)
Tisch legen.
dass das nicht mehr funktionieren wird, meine Damen
(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/
und Herren von der Koalition. Das, was Sie am
CSU]: Full House, Herr Kollege!)
27. September letzten Jahres noch geschafft haben, wird
Die Bürgerinnen und Bürger und wir hier im Parlament bei den Menschen in meiner Heimat Nordrhein-West-
haben ein Anrecht darauf, falen nicht mehr funktionieren.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ober sticht Viele von denen, die Sie am 27. September noch ge-
Unter, Herr Kollege!) wählt haben, werden Sie verlassen, und zwar wegen Ih-
rer Politik in Nordrhein-Westfalen und vor allem wegen
von der amtierenden Regierung über so zentrale und so Ihrer unverantwortlichen Politikinszenierung in Berlin.
wichtige politische Fragen wie die von Ihnen immer Sie sind endgültig an den Realitäten, an der Praxis ge-
wieder angekündigte Steuerreform informiert zu werden. scheitert. Und Sie von der FDP sind überhaupt nicht re-
Das gilt natürlich auch für die Strategie der Regierung gierungstauglich, wie alle feststellen konnten.
zur Haushaltskonsolidierung.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Über Monate hinweg haben Sie alle hier, die Bundes-
DIE GRÜNEN)
regierung mit Kanzlerin Merkel an der Spitze, Herr
Schäuble, aber jede Auskunft in der Sache verweigert. Sie schauspielern Regierung. Mehr ist das nicht. Ich
Die Bürgerinnen und Bürger haben mit der Regierung meine in dem Fall nicht die CDU/CSU, die hat ja das
von Schwarz-Gelb die Katze im Sack gekauft. Das ist Regieren ab 2005 bei uns gelernt.
die Quintessenz des politischen Vorgangs der letzten
Monate. (Lachen bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es gibt nur zwei Möglichkeiten, irgendwelche Steuer-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) senkungen zu finanzieren, nämlich durch die Ausplün-
derung der Sozialsysteme und das Ruinieren der Kom-
Die Bundeskanzlerin und ihre Koalition hatten bisher munen. Das ist die Wahrheit.
nur ein Ziel: Die Wahrheit soll erst nach der Wahl in
Nordrhein-Westfalen ans Licht. Nur deshalb haben Sie (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3855
Joachim Poß
(A) Nur wenn Sie diese beiden Dinge anpacken, haben Sie Nur auf der Basis einer Solidität der Finanzpolitik ist (C)
Spielräume für Steuersenkungen. Nun stellt sich die der Erfolg des Euro auf Dauer zu sichern. Deutschland
Frage: Ist das Ihre Strategie für die nächsten Jahre? Ist wird als Stabilitätsanker und als glaubwürdiges Vorbild
das die Politik von Frau Merkel und Herrn Schäuble? in der EU heute und in Zukunft gebraucht. Die Steuer-
Diese Fragen müssen umgehend beantwortet werden. schätzung ändert nichts daran, dass auch Deutschland
Bis jetzt sind Sie jede Antwort darauf schuldig geblie- 2010 die als Obergrenze konzipierte 3-Prozent-Marke
ben. für das Staatsdefizit mit 5,5 Prozent weit überschreiten
wird. Umso wichtiger ist es, dass wir die vom Stabilitäts-
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ und Wachstumspakt geforderten 3 Prozent bis zum Jahr
CSU: Das war nichts!) 2013 wieder erreichen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für die Bundesregierung hat der Staatssekretär Werte Kolleginnen und Kollegen, für den Bundes-
Hartmut Koschyk das Wort. haushalt bedeutet das Ergebnis der heutigen Steuerschät-
zung,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
Heil [Peine] [SPD]: Armer Kerl!)
GRÜNEN]: Es ist wahr: Es gibt keine Spiel-
räume für Steuersenkungen!)
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: dass wir in den nächsten Jahren außerordentlich ehrgei-
zig sein müssen. In den Jahren 2011 bis 2013 haben wir
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! gegenüber dem geltenden Finanzplan aus dem Sommer
Das Ergebnis der Schätzrunde von Ländern, Instituten 2009 Mindereinnahmen in Milliardenhöhe zu verkraf-
und Bundesregierung ist eindeutig: Bund, Länder und ten. Die Konsequenzen aus der heutigen Steuerschät-
Gemeinden werden in den kommenden Jahren sehr enge zung werden wir im Rahmen unseres haushaltspoliti-
finanzielle Handlungsspielräume haben. Die Folgen der schen Gesamtkonzeptes
Krise werden sich dabei noch über Jahre auf die öffentli-
chen Haushalte auswirken. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Welches?
Das würden wir gern kennenlernen!)
Für dieses Jahr ergibt die jetzige Steuerschätzung
keine wesentliche Änderung gegenüber der letzten Steu- für den Haushalt 2011 und den Finanzplan bis 2014 ge-
erschätzung vom November. Hier wirken sich die von nau bewerten.
der Bundesregierung vorgenommenen Steuerentlastun- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie haben kein
(B) (D)
gen einerseits und die verbesserte Konjunkturlage ande- Konzept!)
rerseits aus, sodass es unter dem Strich zu einer leichten
Verminderung des Steueraufkommens kommt und nicht Dabei leiten uns natürlich die Vorgaben der Schulden-
zu der im Vergleich zur letzten Schätzung befürchteten bremse des Grundgesetzes. Die neue Schuldenregel gilt
Verminderung. Aber in den Jahren ab 2011 werden die erstmals für die nun anstehende Aufstellung des Haus-
Einnahmen auf allen staatlichen Ebenen im Vergleich haltes 2011 und den Finanzplan bis 2014. Bis zum Jahr
zur letzten Mittelfriststeuerschätzung vom Mai 2009 2016 müssen wir die strukturelle Neuverschuldung im
deutlich geringer ausfallen. Bundeshaushalt auf unter 35 Prozent des Bruttoinlands-
produktes zurückführen. Hierfür sind entschiedene Kon-
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: solidierungsschritte erforderlich. In absoluten Zahlen
Überraschung!) heißt das: Der Bund muss seine strukturelle Neuverschul-
dung bis 2016 jährlich um 10 Milliarden Euro abbauen.
Das liegt auch daran, dass vor einem Jahr das volle
Ausmaß der Krise noch nicht erfasst werden konnte. Es gibt keine verantwortbare Alternative zu einer sol-
Und Sie erinnern sich sicherlich daran: Die Bundeskanz- chen Politik. Wir müssen raus aus dem Schuldenwachs-
lerin hat in der Haushaltsdebatte gesagt, dass wir uns tum, das dazu geführt hat, dass bereits heute bei historisch
werden anstrengen müssen, um im Jahr 2013, was das Ni- niedrigen Zinsen 37 Milliarden Euro im Bundeshaushalt
veau der Volkswirtschaft und der Einnahmen aller staatli- allein für Zinsen ausgegeben werden müssen. Wenn wir
chen Ebenen angeht, wieder dort anzukommen, wo wir unsere Handlungsfähigkeit auch in Zukunft sichern wol-
vor der Krise waren. Auch das macht die heutige Steuer- len, müssen wir diese Entwicklung stoppen. Dazu ist
schätzung deutlich: Sie prognostiziert für das Jahr 2013 diese Koalition entschlossen.
ein gesamtstaatliches Steueraufkommen von 561 Milliar- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den Euro. Das hatten wir zuletzt im Jahre 2008, also vor
dem Einbruch der Krise. Gerade vor diesem Hintergrund haben wir im Koali-
tionsvertrag eine goldene Regel für die Finanzpolitik fest-
Eines ist uns in diesen Tagen sehr deutlich geworden, gehalten: vor allem ein dezidiertes Bekenntnis zur Schul-
nämlich dass vor allem die aktuellen Entwicklungen in denbremse sowie zu den Vorgaben des Stabilitäts- und
Europa die existenzielle Bedeutung solider Staatsfinan- Wachstumspaktes. Wir haben einen expliziten Finanzie-
zen in den Mittelpunkt aller politischen Betrachtungen rungsvorbehalt für alle Ausgaben und Haushaltsbelastun-
rücken. gen festgeschrieben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hört! Hört!)
3856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) Aber auch nach der Steuerschätzung bleibt es bei dem lastungseffekt erzeugen. Wir wollen, dass es leichter (C)
verabredeten Zeitplan und der Grundausrichtung. Wir wird, Steuererklärungen auszufüllen. Daran arbeiten wir.
haben jetzt eine solide Grundlage für die Verhandlungen Wir wollen eine spürbare Vereinfachung für viele Bürger
über den Bundeshaushalt 2011 und den mittelfristigen erreichen. Darauf wollen wir uns zunächst einmal kon-
Finanzplan. Die Beratungen mit den Ressorts werden bis zentrieren.
zum Sommer abgeschlossen sein. Alle Aufgaben- und
Ausgabenbereiche sind kritisch zu hinterfragen. Zusätzli- Aber ich sage auch sehr deutlich: Die Entlastung kleine-
che Maßnahmen müssen solide gegenfinanziert werden. rer und mittlerer Einkommen bleibt auf der Tagesordnung.
Wir wollen in dieser Wahlperiode nach der schon begon-
Wir sind zuversichtlich, dass es dieser Koalition gelin- nenen Entlastung der Familien, des Mittelstands und der
gen wird, 2011 und in den Folgejahren die notwendigen Familienbetriebe eine weitere Entlastung der kleinen
Konsolidierungsschritte zu machen. Wir werden es schaf- und mittleren Einkommen umsetzen, so wie wir das im
fen, vor allem durch Aufgabenkritik und Ausgabendiszi- Koalitionsvertrag vereinbart haben.
plin,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wir werden darüber beraten, in welcher Form wir dies in
NEN]: Das wäre ja ganz neu! Was machen Sie
dieser Wahlperiode umsetzen.
bisher?)
Daneben haben wir uns ganz groß auf die Agenda ge-
die Vorgaben der Schuldenbremse konsequent und
schrieben, die kommunalen Gemeindefinanzen, aber
glaubwürdig umzusetzen.
auch die Ausgabensituation unserer Kommunen durch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine Regierungskommission mit schnellen Ergebnissen
auf den Prüfstand zu stellen.
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir uns
die nötigen Spielräume erarbeiten, um die Bürger weiter (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Noch eine Kom-
zu entlasten. mission! – Weitere Zurufe von der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das hat keine Koalition und keine Regierung vorher so
energisch angepackt wie die christlich-liberale Koalition.
Das Erarbeiten dieser Spielräume ist übrigens nicht nur
eine Aufgabe des Bundesfinanzministers. Alle Ressorts (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
sind gefordert, dabei mitzuhelfen. Das heißt, dass zusätzli- Lachen bei der SPD)
chen Ausgaben, wie zu Beginn der Haushaltsaufstellung Sie haben über dieses Thema immer nur geredet, wir ha-
in Milliardenhöhe gefordert, im Haushalt in keiner Weise ben es auf die Agenda gesetzt. Deshalb wird gerade auch (D)
(B)
entsprochen werden kann. auf der Zukunftsfähigkeit der Kommunalfinanzen ein
Wir haben mit der Entlastung von kleinen und mittle- ganz wichtiges Augenmerk bei den weiteren Maßnahmen
ren Einkommen am 1. Januar 2010 begonnen. dieser Regierung für eine wachstumsorientierte Steuer-
politik und eine notwendige Konsolidierung liegen.
(Widerspruch des Abg. Carsten Schneider
[Erfurt] [SPD]) Herzlichen Dank.
Diesen Weg für mehr Wachstum und Beschäftigung wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
den wir konsequent weitergehen. In der Koalition herrscht Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Glauben Sie das,
klares Einvernehmen darüber, dass wir 2011 noch keine was Sie da abgelesen haben?)
Senkung der Einkommensteuer vornehmen werden.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hotellobbyist!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Barbara Höll hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
Unsere gemeinsame Priorität für 2011 liegt darin, einen
ersten Schritt zur Steuervereinfachung zu gehen. (Beifall bei der LINKEN)

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Oh! – Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Joachim Poß [SPD]: Das ist ja hoch bedeu-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
tungsvoll!)
Kollegen! Die Stunde der Wahrheit ist gekommen:
Bundesfinanzminister Schäuble hat gerade vor der
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Sie reden!)
Presse deutlich gemacht, dass wir unterscheiden müssen:
Es gibt Steuervereinfachungen, die kostenneutral sind; Die Steuerschätzung liegt auf dem Tisch und die Koalition
wir müssen und werden aber auch über Steuervereinfa- ist sehr überrascht. Es ist nun doch wesentlich weniger
chungen diskutieren, die am Schluss eben nicht zum Geld im Staatssäckel als geplant.
Nulltarif zu haben sind.
Mit 38,9 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen
Wenn wir schon über Steuervereinfachungen reden, bei Bund, Ländern und Kommunen bis 2013 müssen wir
dann muss uns dabei deutlich sein, dass vor allem die jetzt rechnen, und ein Großteil der Ausfälle – das möchte
Komplexität unseres Steuersystems für viele Bürger als ich klar unterstreichen – ist durch die von Ihnen zu ver-
Belastung empfunden wird. Vereinfachungen würden antwortende Steuerpolitik verursacht. Das und nicht ein-
bei Bürgern und Unternehmen einen beträchtlichen Ent- fach nur die Wirtschafts- und Finanzkrise ist die Realität.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3857
Dr. Barbara Höll
(A) (Beifall bei der LINKEN – Norbert Barthle Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Nach dem ARD- (C)
[CDU/CSU]: Ja, richtig: Wir haben Steuerent- Deutschland-Trend sind 58 Prozent der Bevölkerung der
lastungen erreicht! Wir haben die Steuerzahler Meinung, dass Steuersenkungen ab 2011 nicht notwendig
entlastet!) sind. Sie befinden sich damit auch in Übereinstimmung
mit der Position des Sachverständigenrates, der Steuersen-
Eines ist klar: Wenn alles so weiter geht wie bisher, dann kungen als unverantwortlich ablehnt. Sie von der Koali-
gibt es keine finanziellen Handlungsspielräume. tion halten aber daran fest. Steuersenkungsideologie, das
Nun können Sie noch drei Tage lang versuchen, zu ist das Wahre. Sie träumen weiter davon, dass Wirt-
überlegen, wie Sie damit umgehen wollen. Sie kündigen schaftswachstum durch Steuersenkungen entsteht. Dafür
hier Konsolidierungen an, aber nichts Konkretes. Spätes- gibt es aber weder eine überzeugende theoretische Begrün-
tens am Wahltag in NRW, am Sonntag, wird die FDP die dung noch praktische Beweise, die das bestätigen würden.
Quittung für ihre Fantasien über die möglichen Steuer- Das ist nicht nur meine Behauptung: Die Bundesregie-
senkungen bekommen. rung hat das letztendlich in ihrer Antwort auf eine Kleine
Anfrage der SPD bestätigt. Sie sagt, dass es nicht einmal
(Beifall bei der LINKEN) ein verlässliches Modell gibt, um abzuschätzen, welche
Für die wesentliche Klientel der FDP ist aber schon Auswirkung Steuerrechtsänderungen auf Wachstum und
einiges abgefallen: Mehrwertsteuersenkung für das Hotel- Steuereinnahmen haben. Da frage ich mich wirklich:
gewerbe, Gewerbesteuerbefreiung für Leasingunterneh- Wie kommen Sie denn zu Ihren Annahmen?
men, für die Finanzdienstleistungen. Diese haben ihr
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ideologie!)
Schäflein schon im Trockenen.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Höhere Absetz- Halten Sie den Finger in die Luft, oder haben Sie ir-
barkeit der Krankenversicherungsbeiträge!) gendwo ein Orakel, das Sie befragen? Dann lassen Sie
uns doch an Ihrem Wissen teilhaben.
Für die Mehrheit der Bevölkerung wird diese Steuer-
schätzung gravierende Auswirkungen haben; wir sehen (Beifall bei der LINKEN)
das in Griechenland. Was die Großen in Griechenland
verzockt haben, sollen nun die Kleinen ausbaden: Ren- Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, über
tenkürzungen, teilweise Aussetzung des Mindestlohns. Steuersenkungen zu schwadronieren. Wir brauchen zur
Wir hätten schon gerne einmal Antworten aus dem Bun- Stabilisierung der öffentlichen Einnahmen eine sozial
desfinanzministerium – und zwar vor der Wahl und nicht gerechtere Politik, die unten gibt und oben nimmt. Deshalb
nach der Wahl in NRW – auf die Frage, was Ihnen alles fordert die Linke eine gerechtere Einkommensbesteue-
(B) vorschwebt. rung, eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 53 Pro- (D)
zent, eine Rücknahme der steuerlichen Entlastungen für
(Beifall bei der LINKEN) Unternehmen, eine Besteuerung von Kapitalerträgen nach
dem persönlichen Steuersatz sowie einen gesetzlichen
Die Linke sagt: Wir brauchen weder Steuer- noch
Mindestlohn.
Lohndumping, sondern ein gerechteres Steuersystem,
wodurch oben be- und unten entlastet wird; denn die (Beifall bei der LINKEN)
falsch ausgerichtete massive Steuersenkungspolitik der
gesamten letzten zehn Jahre ist nach einer Studie des In- Im Übrigen erhöht der Mindestlohn letztendlich die Ein-
stituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, nahmen der Sozialkassen und stabilisiert diese.
IMK, auch maßgeblich mitverantwortlich für die schlechte
finanzielle Lage, in der wir uns befinden. Es muss eine Sofortmaßnahme zur Entlastung der
klammen Kommunen beschlossen werden, die allein bis
Zum Beispiel das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. 2013 Steuermindereinnahmen in Höhe von 11,9 Milliar-
Durch Steuersenkungen wurde Wachstum versprochen. den Euro zu verkraften haben werden. Wir schlagen Ihnen
Entstanden sind Einnahmeverluste. Allein bis 2013 wird deshalb vor, die Zahlungen der Kommunen an den Bund
dieses Gesetz über 8 Milliarden Euro jährlich an Min- im Rahmen der Gewerbesteuerumlage zu streichen. Das
dereinnahmen hervorrufen. würde die Kommunen um jährlich rund 1,2 Milliarden
(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!) Euro entlasten.

Letztendlich haben Ihre Steuererleichterungen eben (Beifall bei der LINKEN)


nicht zu Investitionen und Wachstum, sondern zu einem
Anstieg der Verschuldung von Bund, Ländern und Kom- Steuern sind die Grundlage dafür, dass der Staat han-
munen geführt. Das ist einfach ein Skandal. Ich muss Ih- deln kann, dass er für Bürgerinnen und Bürger Schulen,
nen sagen: Das, was Sie hier immer zu begründen versu- Universitäten, Schwimmbäder, Kindergärten sowie Kul-
chen, ist ökonomisch falsch; tur- und Sporteinrichtungen vorhalten kann. Die Linke
sagt: Soziale Gerechtigkeit kann nur hergestellt werden,
(Beifall bei der LINKEN) wenn Steuern in gerechter Form erhoben werden. Das
heißt, starke Schultern müssen mehr tragen als schwache.
denn die massiven Steuerentlastungen sowie Lohn- und
Sozialdumping sind mitverantwortlich für die wach- Ich danke Ihnen.
sende Armut und die wachsende Reichtumskonzentra-
tion in der Bundesrepublik. (Beifall bei der LINKEN)
3858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie reden immer von Mindereinnahmen. Tatsächlich (C)
Für die FDP spricht der Kollege Dr. Volker Wissing. ist es so: Gemäß dieser Steuerschätzung wird das Steuer-
aufkommen in den nächsten Jahren weniger stark steigen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten als prognostiziert; aber es steigt:
der CDU/CSU)
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber Ihre Schul-
Dr. Volker Wissing (FDP):
den auch!)
Besten Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen im Jahre 2011 gibt es plus 0,9 Prozent, im Jahre 2012
und Kollegen! Was Sie von der Opposition uns hier vor- plus 4,8 Prozent, im Jahre 2013 plus 4,0 Prozent, im Jahr
machen, ist schon einigermaßen absurd. 2014 plus 3,6 Prozent. Davon können die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer in Deutschland nur träumen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Joachim
Poß [SPD]: Sie verstehen doch was von Absur- (Beifall bei der FDP – Dr. Axel Troost [DIE
distan! Sie sind doch der Meister von Absurdis- LINKE]: Aber wir haben immer noch nicht
tan! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/ das Niveau von 2008 erreicht! Das ist doch das
DIE GRÜNEN]: Absurd wie die Steuerpolitik Entscheidende!)
der FDP!) Insofern sagen wir: Die Einnahmen können sich sehen
Sie erklären, man könne eine Steuerreform in Deutsch- lassen; es sind immerhin über 510 Milliarden Euro in
land erst angehen, wenn der Staat die Spielräume dazu diesem Jahr. Lasst uns deshalb schauen, wie wir die er-
hat – als ob der Staat erst einmal Geld übrig haben forderliche Haushaltskonsolidierung synchron mit einer
müsste, das er nicht braucht, bevor er etwas reformieren Steuerstrukturreform zur Entlastung der unteren und
kann. Das ist schon ein ziemlich abwegiger Blick auf die mittleren Einkommen gestalten können, damit das Land
Dinge. nicht in eine soziale Schieflage kommt!
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
der CDU/CSU) Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo wollen Sie
denn sparen? Sagen Sie das doch mal! – Sven-
Wir reden jetzt über eine Steuerschätzung, nicht mehr Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
und nicht weniger. Diese Steuerschätzung zeigt Tendenzen NEN]: Sie haben doch kein Rezept!)
auf. Die früheren Finanzminister können sicherlich ein
Lied davon singen, wie oft Steuerschätzungen korrigiert Ich halte die steuerliche Entlastung der unteren und mitt-
werden müssen. Wir nehmen diese Steuerschätzung aber leren Einkommen für eine Frage der Gerechtigkeit in
diesem Land. Wir reden über ein Entlastungsvolumen in
(B) ernst und machen sie zum Gegenstand unserer Beratungen (D)
zur Umsetzung des Koalitionsvertrages; Staatssekretär Höhe von 16 Milliarden Euro, das in dieser Legislatur-
Koschyk hat Ihnen das eben erklärt. periode noch zur Verfügung steht. Das entspricht ledig-
lich 3 Prozent der Einnahmen.
Im Übrigen haben wir Ihnen in der letzten Aktuellen
Stunde zu einem ziemlich ähnlichen Thema schon einmal (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
erklärt – ich glaube, wir werden noch einige von Ihnen Das glauben Sie doch selbst nicht!)
beantragte Aktuelle Stunden zu dem Thema haben; dann Wir wollen das auch nicht sofort umsetzen, sondern wir
erklären wir es Ihnen noch einmal –, was im Koalitions- wollen das zum Jahr 2012 in Kraft setzen. Sie behaup-
vertrag steht, der in dieser Legislaturperiode von der Ko- ten, Steuersenkungen seien nicht möglich. Sie behaupten
alition umgesetzt wird, weil das notwendig ist: auch, Steuerentlastungen würden unser Land in eine
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Krise stürzen. Deswegen möchte ich Ihnen erklären, was
der CDU/CSU – Carsten Schneider [Erfurt] wir im Jahr 2010 erreicht haben.
[SPD]: Märchenbuch! – Hubertus Heil [Peine] Zum 1. Januar 2010 haben wir den ersten Schritt hin
[SPD]: Man kann bestimmte Dinge nicht er- zu einer Steuerentlastung umgesetzt.
klären!)
(Joachim Poß [SPD]: Sie doch überhaupt
Wir haben kein Einnahmeproblem, sondern ein Ausga- nicht!)
benproblem.
Wir haben die Bürger um 8 Milliarden Euro entlastet.
(Zurufe von der SPD: Ah! – Sven-Christian
Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, (Joachim Poß [SPD]: Bürgerentlastungs-
bei den Staatssekretären!) gesetz!)
Sie haben gesagt: Damit fährt der Staat an die Wand.
Der Bundeshaushalt ist zu aufgebläht. Deswegen müssen
wir an die Ausgaben herangehen. Wir stehen in der Nichts ist mehr finanzierbar. Es werden riesige Löcher in
Haushaltspolitik mit dem Rücken zur Wand. Das kann den Haushalt gerissen.
man nicht lösen, indem man die Einnahmen erhöht. (Joachim Poß [SPD]: Was redet er denn da?)
Stattdessen braucht man eine bessere Haushaltspolitik.
Sie werden das unter dieser Koalition erleben. Was ist das Ergebnis der Steuerschätzung? Die Min-
dereinnahmen durch Steuersenkungen wurden durch
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Mehreinnahmen ausgeglichen. Das haben wir Ihnen vor-
der CDU/CSU) her gesagt. Sie lagen falsch. Wir lagen richtig. Deswegen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3859
Dr. Volker Wissing
(A) werden wir diese richtige Finanzpolitik fortsetzen. Sie ist in Wahrheit sozial gerecht. Sie führt zu einem gerech- (C)
ist der richtige Weg. ten Ausgleich.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜND- GRÜNEN]: Für die gut Verdienenden!)
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Schulden! Schulden! –
Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wer nicht dafür sorgt, dass die Haushaltskonsolidie-
NEN]: Unfug!) rung, die in großen Schritten notwendig ist, mit steuerli-
cher Entlastung und einer Hinwendung zu einem faire-
Sie behaupten immer wieder, das würde sich nicht gegen- ren Steuertarif synchron geht, der bringt unser Land in
finanzieren lassen, das würde keine Wachstumsimpulse eine soziale Schieflage.
auslösen. Dazu sage ich: Lesen Sie die Steuerschätzung.
Das Gegenteil von dem, was Sie prognostiziert haben, ist (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-
der Fall. NIS 90/DIE GRÜNEN – Sven-Christian
Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Un-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie kei- soziale Steuerpolitik!)
nen Wirsing! – Joachim Poß [SPD]: Wer hat
denn das Bürgerentlastungsgesetz gemacht?) Das wird jedenfalls diese Koalition nicht zulassen.

Sie bekommen langsam ein Problem. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Joachim Poß [SPD]: Das war der promovierte
(Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten Heuchler! – Gegenruf des Abg. Leo
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dautzenberg [CDU/CSU]: Sei froh, dass das
Joachim Poß [SPD]: Nein, Sie! Sie haben ei- die Präsidentin nicht gehört hat! – Gegenruf
nes!) des Abg. Joachim Poß [SPD]: Ein Ordnungs-
– Herr Heil, lachen Sie nicht. – Stellen Sie sich vor Ihre ruf ist doch nicht schlimm! Hattest du noch
Wähler und erklären Sie ihnen Folgendes: In Ihrem keinen? – Heiterkeit)
Wahlprogramm, das Sie Ende 2009 verabschiedet haben,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das war
ehrlich!) Alexander Bonde spricht für das Bündnis 90/Die Grü-
nen.
steht, dass Sie untere und mittlere Einkommen entlasten
werden. Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(B) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wenn die Spiel- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D)
räume da sind! – Joachim Poß [SPD]: Aber Wir diskutieren die ganze Woche darüber, welche Aus-
mit Gegenfinanzierung!) wirkungen Schulden haben und welche Auswirkungen
es hat, wenn Politik wie in Griechenland nicht in der
Jetzt befinden sich die Steuereinnahmen auf dem Niveau Lage ist, Haushalte auf Dauer nachhaltig und tragfähig
von 2009, als Sie Ihr Wahlprogramm verabschiedet ha- zu gestalten. Es ist schon interessant, diese Debatte zu
ben. Jetzt verweigern Sie genau das, was Sie den Wähle- führen, weil sie vonseiten der FDP-Fraktion mit einem
rinnen und Wählern vorher versprochen haben. Sie be- völlig anderen Duktus geführt wird.
kommen langsam ein Problem, Herr Heil: Sie begehen
nämlich schon wieder Steuerwahlbetrug. Sie haben versucht, eine Steuerschätzung, die eine
schallende Ohrfeige für Ihre gesamten ökonomischen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Grundannahmen darstellt, als Bestätigung dafür heran-
CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD) zuziehen, dass es Möglichkeiten für Steuersenkungen
Damals haben Sie versprochen, die Mehrwertsteuer gibt. Herr Wissing, Ihr Auftritt ist vielleicht lustig, aber
nicht zu erhöhen. Dann haben Sie sie um 3 Prozent nach wenn man die Konsequenzen betrachtet, dann vergeht
oben getrieben. Jetzt verweigern Sie den Menschen die den Menschen das Lachen.
Entlastung, die Sie ihnen zugesagt haben. Sie haben behauptet, das Wachstumsbeschleuni-
(Bettina Hagedorn [SPD]: Was erzählen Sie gungsgesetz habe Wachstum beschleunigt und sich ge-
denn für einen Mist? – Hubertus Heil [Peine] genfinanziert.
[SPD]: Wo wollen Sie kürzen?)
(Manfred Zöllmer [SPD]: So ist es! –
Ich sage Ihnen: Eine Aktuelle Stunde nach der ande- Dr. Volker Wissing [FDP]: Lesen Sie doch die
ren zum Thema Steuerpolitik wird ein Rohrkrepierer für Steuerschätzung!)
die Sozialdemokraten.
Ich bitte Sie: Lesen Sie die Studie des Sachverständigen-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rates, die gerade belegt hat, dass Ihr Wachstumsbe-
der CDU/CSU) schleunigungsgesetz, das eine Entlastung von über
8 Milliarden Euro vorsieht, eine Wachstumswirkung von
Deswegen freuen wir uns. Beantragen Sie die nächste 0,05 bis 0,07 Prozent hat.
Aktuelle Stunde. Das ist eine gute Sache. Wir werden Ih-
nen immer wieder vorhalten, dass Sie Wahlbetrug bege- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie müssen es
hen, wenn Sie unsere Politik nicht unterstützen; denn sie lesen!)
3860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Alexander Bonde
(A) Das heißt, wir reden über einen Promillebereich. Sie er- desagentur für Arbeit die erste Stufe der Verschuldungs- (C)
zählen uns, es sei ein gutes Geschäftsmodell, wenn man reduzierung erreichen.
8,5 Milliarden Euro in etwas investiert und eine gute
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das hat noch
Milliarde Euro ausgezahlt bekommt. Mit Verlaub: Sie
kein Mensch entschieden!)
können nicht rechnen, Herr Wissing. Das ist Ihr Pro-
blem. Das ist nur Kosmetik; denn Sie reduzieren die Verschul-
dung tatsächlich um keinen Euro. Nicht einmal hier
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaffen Sie es, 10 Milliarden Euro einzusparen. Nichts-
sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker destotrotz erzählen Sie uns, dass Sie es in Einklang brin-
Wissing [FDP]: Lesen Sie die Steuerschät- gen werden, 10 Milliarden Euro gemäß den Vorgaben
zung! Ein Rohrkrepierer für die Opposition!) der Schuldenbremse und 10 Milliarden Euro, die laut
Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten: Wir haben in Steuerschätzung für einen Konsolidierungskurs notwen-
diesem Land eine Neuverschuldung in Höhe von dig sind, einzusparen und gleichzeitig Steuergeschenke
80 Milliarden Euro, Ihre ganzen Schattenhaushalte noch zu machen. Mit Verlaub, ich glaube an den Nikolaus,
nicht eingerechnet. Vor der Anerkennung dieser Tatsa- aber nicht an Sie, Herr Wissing. Solche Wunder kann
che drücken Sie sich. Sie fragen sich nicht: Was machen auch die FDP nicht vollbringen.
wir eigentlich, um aus dieser Situation herauszukom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
men? Nun sagen Sie: Wir haben 2013 höhere Einnah- und bei der SPD)
men als heute. Diese sind dann so hoch wie im Jahr
2008. – Das hat uns der Finanzminister im Fernsehen Wir haben erlebt, wie Sie, obwohl Sie die Zahlen
freundlich vorgerechnet. Wenn der Finanzplan, den Sie schon kannten, den Bundestagswahlkampf mit einer
im Rahmen der Bereinigungssitzung eingebracht haben, Lüge bestritten haben und den Menschen gesagt haben:
stimmt, dann sind auch die Ausgaben im Jahr 2013 um Niemand glaubt daran, aber wählt uns; das klappt schon
30 Milliarden Euro höher als 2008. irgendwie. – Sie halten nun genau die gleiche Lüge bis
zur Wahl in Nordrhein-Westfalen aufrecht. Dabei sind
(Joachim Poß [SPD]: So ist es!) Sie durch die Steuerschätzung krachend widerlegt wor-
den.
Hinzu kommt, dass die Neuverschuldung in Höhe von
80 Milliarden Euro gesenkt werden muss. Wo stehen Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dann mit dem, was Sie verkündet haben? Was bedeutet und bei der SPD)
das für den Bundeshaushalt? Bis 2013 fehlen 40 Milliarden Euro im Vergleich zur
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN letzten Steuerschätzung, auf der Ihre gesamten offiziel-
(B) (D)
und bei der SPD) len Haushaltsplanungen basieren. Bis 2014 fehlen
50 Milliarden Euro.
Alle Ihre Minister sind heute freundlicherweise zu
Hause geblieben. Diese könnten einmal ausrechnen, Wir haben bislang noch nicht über die Lage der Kom-
welche finanziellen Auswirkungen die im Finanzplan munen gesprochen. Wir erleben, wie dort, wo keine
eingeplanten Sonderausgaben und die Wunschlisten ha- Rücklagen mehr vorhanden sind, in die öffentliche Da-
ben, die Sie Herrn Schäuble geschickt haben. Sie müssen seinsvorsorge eingegriffen werden muss. Wie wir alle
laut den Vorgaben der Schuldenbremse 10 Milliarden wissen, gehen die Rücklagen in den meisten Kommunen
Euro im Jahr einsparen. Hinzu kommen das, was Sie zu Ende. Dabei geht es genau um den Zeitraum, in dem
vorgeschlagen haben, und die Einsparnotwendigkeiten es laut Steuerschätzung zusätzliche milliardenschwere
aus der Steuerschätzung, die sich im Vergleich zum Einbrüche geben wird.
Finanzplan noch einmal auf 10 Milliarden Euro im Jahr Nichtsdestotrotz packen Sie weitere Belastungen
belaufen. obendrauf. Sie wollen einen anderen Staat. Sie wollen
etwas anderes als die Infrastruktur, die den Bürgerinnen
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist die
und Bürgern bislang als Selbstverständlichkeit im tägli-
Wahrheit!)
chen Leben zur Verfügung steht. Sie gehen an die Finan-
Ich frage Sie: Liefert Herr Brüderle oder Herr Rösler zierung der Kinderbetreuung, der Schwimmbäder und
diese Milliarden? Ich will das jetzt von Ihnen wissen. der Bibliotheken heran. Sie gefährden die Fähigkeit des
Bundes, Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Das gilt auch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, im Hinblick auf die Bildungsfinanzierung durch die Län-
bei der SPD und der LINKEN – Dr. Volker der. Das, was Sie vertreten, ist nichts anderes als ein mil-
Wissing [FDP]: Sie werden einen Haushalt be- liardenschwerer Anschlag auf die Finanzierung all dieser
kommen!) Bereiche. Dafür werden Sie in NRW zu Recht die Quit-
tung bekommen. Sie werden sich nicht durchsetzen kön-
Sie drücken sich konsequent vor der Beantwortung der
nen; das wissen Sie genau. Ich freue mich jedenfalls auf
Frage, woher diese Milliarden kommen sollen. Sie kön-
weitere Aktuelle Stunden. Wenn man mathematisch
nen noch nicht einmal darlegen, wo die 10 Milliarden
nicht so bewandert ist, kann man viel vorrechnen, Herr
Euro gemäß den Vorgaben der Schuldenbremse einge-
Wissing.
spart werden sollen, ohne mit Tricks zu arbeiten. Sie alle
ventilieren längst die griechische Lösung für das Jahr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
2011. Sie wollen mit einem Buchungstrick bei der Bun- und bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3861

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung und die (C)
Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die unsere Hand-
die CDU/CSU-Fraktion. lungsspielräume festlegt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)
Dabei spielen auch die Themen „Selbstfinanzierung“
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): und „Wachstumseffekte durch steuerliche Erleichterun-
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! gen“ eine Rolle.
An Ihrer Stelle, Herr Poß, hätte ich mich eben geschämt.
Sie haben Ihre Rede mit dem Satz eingeleitet, die Wähler (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist das!)
hätten vor der letzten Bundestagswahl die Katze im Sack Wir haben unsere Zusage „Mehr Netto vom Brutto“ ein-
gekauft. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Bundes- gelöst.
tagswahl 2005 und Ihre Kampagne gegen die Mehrwert-
steuererhöhung, die sogenannte Merkel-Steuer. Das war (Bettina Hagedorn [SPD]: Aber nur für
Ihre zentrale Wahlkampfaussage. Hoteliers!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Schon allein mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz
der FDP – Joachim Poß [SPD]: Dann mussten haben wir Familien und damit die Breite der Einkom-
wir leider mit Ihnen Koalitionsverhandlungen mensbezieher in diesem Land massiv entlastet.
führen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wenn sich einer verstecken muss, dann sind Sie das. Sie
haben damals nicht nur die Katze im Sack verkauft, son- Im Gegensatz zu Ihnen haben wir diese Zusage eingehal-
ten.
dern die Menschen wirklich hinters Licht geführt; das
muss ich deutlich sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das war die
Joachim Poß [SPD]: Sie waren der Koalitions- Grundlage des Wachstums!)
verhandler!) Die Situation ist ernst. Vor zwei Jahren sind uns für
Sie sind als Anwalt der kleinen Leute beim Thema Steu- dieses Jahr insgesamt 595 Milliarden Euro Steuerein-
ern völlig aus dem Geschäft. nahmen prognostiziert worden. Nach der aktuellen
Steuerschätzung werden wir in diesem Jahr 85 Milliar-
(Joachim Poß [SPD]: Was reden Sie denn da? den Euro weniger zur Verfügung haben. Die Spielräume
(B) Sie haben das doch in den Koalitionsverhand- sind dadurch kleiner geworden. Deswegen stehen für (D)
lungen gefordert!) uns die Themen Haushalten und Konsolidieren im Vor-
– Ich sage die Wahrheit und erinnere die Menschen an dergrund; Herr Koschyk hat das zu Recht betont. Aus
den wirklichen Sachverhalt. dieser Konsolidierung heraus lassen sich aber weitere
Spielräume erarbeiten; das hat der Kollege Wissing aus
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) meiner Sicht richtigerweise deutlich gemacht. Deswegen
Es wird Ihnen heute nicht gelingen, einen Keil in bin ich zuversichtlich, dass wir unsere Regierungsarbeit
diese Regierungskoalition hineinzutreiben; das ist ja das, so konsistent und aus meiner Sicht auch erfolgreich fort-
was Sie mit dieser Aktuellen Stunde versuchen. setzen, wie wir das bisher gemacht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/
CSU] – Dr. Volker Wissing [FDP]: Auch wenn
Im Kern, in den Grundlagen und in den Zielvorstellun- die SPD das nicht versteht!)
gen stimmen wir völlig überein. Wir wollen ein einfa-
cheres und gerechteres Steuersystem. Wir wollen die Be- Obwohl wir im letzten Jahr einen Einbruch von
zieher kleiner und mittlerer Einkommen entlasten; denn 5 Prozent bei unserem Bruttosozialprodukt hatten – ei-
sie tragen diesen Staat und dieses Gemeinwesen. nen so starken Einbruch haben wir in diesem Land noch
nie erlebt –, haben wir die Zahl der Arbeitslosen bei
(Joachim Poß [SPD]: Sprüche! Flache knapp über 3 Millionen stabil gehalten.
Sprüche!)
(Bettina Hagedorn [SPD]: Das haben wir doch
Sie finanzieren all die Steuereinnahmen, die in diesem nicht Ihnen zu verdanken!)
Land – heute wurde uns die Schätzung vorgelegt – zu-
sammenkommen. Auch das ist eine Leistung. Vor allen Dingen ist das eine
Leistung, die sich im Tun dieser Regierung bemerkbar
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) macht. Wir haben die Jobcenter jetzt neu geregelt. Das
Deswegen verfolgen wir die Ziele, Mittelstandsbauch ist ganz wichtig für die Vermittlung von Menschen, die
und kalte Progression abzubauen, weiter. langzeitarbeitslos sind. Wir haben die Regelung für das
Kurzarbeitergeld erneut verlängert, und wir haben das
Wir stellen uns ganz bewusst der Realität – das ist das Schonvermögen bei Hartz IV neu geregelt. All das sind
Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben –: Wir nehmen Beiträge für mehr Gerechtigkeit und mehr Arbeit in
die Steuerschätzung von heute zur Grundlage und orien- Deutschland.
tieren uns an dem verfassungsrechtlich festgelegten
Prinzip der Schuldenbremse. Im Übrigen sehen wir auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
3862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Dr. Mathias Middelberg


(A) Auf das Wachstumsbeschleunigungsgesetz bin ich sich jetzt auf die öffentlichen Haushalte aus, sodass mit (C)
schon eingegangen. Dadurch entlasten wir vor allem die geringeren Steuereinnahmen zu rechnen sei, sagte der
Familien erheblich, und zwar im Umfang von fast Vertreter des schleswig-holsteinischen Finanzministe-
5 Milliarden Euro. Schon jetzt haben wir bessere Bedin- riums im Arbeitskreis, Matthias Löscher, vor Beginn der
gungen geschaffen und unser Versprechen gegenüber Sitzung. Er hat es verstanden, Herr Kollege Wissing. Sie
kleinen und mittleren Unternehmen eingelöst. Ich habe haben es nicht verstanden.
nie verstanden, dass Sie gegen dieses Gesetz gestimmt
haben – das sage ich Ihnen ganz ehrlich –; denn wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
haben im Wesentlichen Regelungen beseitigt, die die DIE GRÜNEN)
Existenz kleiner und mittlerer Unternehmen in dieser Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz beschleunigt
schwierigen wirtschaftlichen Situation gefährdet hätten. das Wachstum der Schulden; das haben wir schon mehr-
Auch die Arbeitsplätze, die daran hängen, wären massiv fach festgestellt. Aber es ist gut, dass uns die Zahlen
gefährdet gewesen. nach der Pressekonferenz, die heute um 13 Uhr statt-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fand, tatsächlich zur Verfügung gestellt worden sind. Ich
kann Ihnen nur empfehlen: Sehen Sie sich die Zahlen an
Sie betrachten Steuerpolitik immer als eine statische und rechnen Sie einmal zusammen, wie hoch das Steuer-
Veranstaltung: Die Unternehmen und die Steuerzahler aufkommen bei Bund, Ländern und Gemeinden im
sind immer die Gleichen, die bleiben auch in ihrer wirt- Jahre 2009 war und wie die Schätzung für dieses Jahr
schaftlichen Qualität immer gleich. Sie sehen nicht, dass aussieht. Dann stellen Sie fest, dass 20 Milliarden Euro
wir zusätzliche Wachstumseffekte ausgelöst haben, in- fehlen. Komisch, 20 Milliarden Euro sind weg, unter an-
dem wir den Unternehmen mit dem Wachstumsbe- derem dank Ihres Wachstumsbeschleunigungsgesetzes
schleunigungsgesetz in der Zeit der Kreditklemme Luft
verschafft haben. Diese zusätzlichen Wachstumseffekte (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
können wir an den ersten Kennzahlen dieses Jahres able- und anderer steuerlicher Maßnahmen, mit denen Sie
sen. Deshalb können wir längerfristig und perspektivisch Bund, Ländern und Gemeinden Geld wegnehmen.
davon ausgehen, dass sich unsere wirtschaftliche Lage
und damit auch das Potenzial für künftige Steuereinnah- (Frank Schäffler [FDP]: Das meiste davon ist doch
men verbessern werden. schon 2005 beschlossen worden!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wenn Sie sich die Zahlenkolonnen für 2011, 2012
der FDP) und 2013 ansehen, dann werden Sie feststellen: Es geht
nur ganz langsam wieder bergauf. Was da beschleunigt
(B) Damit werden sich unsere Handlungsspielräume erwei- wird, frage ich mich die ganze Zeit. Wachstum wird da- (D)
tern.
mit sicherlich nicht beschleunigt. Wenn wir insgesamt
Ich glaube, wir sollten einfach weitermachen. Unsere fünf Jahre brauchen, um bei den Steuereinnahmen wie-
Wirtschaft nimmt Fahrt auf. Die Situation am Arbeits- der den Stand des Jahres 2008 zu erreichen, dann hat das
markt bleibt stabil und wird sich wahrscheinlich sogar mit Wachstumsbeschleunigung aus meiner Sicht gar
verbessern. nichts zu tun.
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sehr wahr! –
NEN]: Trotz Eurer Politik!) Iris Gleicke [SPD]: Richtig! – Dr. Volker
Wissing [FDP]: Sie haben damals die Insol-
Das ist erkennbar das Ergebnis der Arbeit dieser Regie- venzen beschleunigt!)
rung. Jedem, der in Nordrhein-Westfalen noch über
seine Wahlentscheidung nachdenkt, kann ich nur emp- Man kann daraus auch nicht schließen, es gebe riesige
fehlen, eine so stabile und ordentliche Koalition zu wäh- Spielräume für Steuersenkungen.
len, wie sie hier regiert.
Es ist so: Sie haben in diesem Hause vor kurzem den
Danke. Haushalt für dieses Jahr verabschiedet, der eine Neuver-
schuldung in Höhe von 80 Milliarden Euro vorsieht; das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
ist eine Summe, die man sich gar nicht vorstellen kann.
Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Um das einmal auf einen Privathaushalt zu übertragen:
NEN]: Die müssen sich entscheiden, ob sie
Wenn jemand ein Jahreseinkommen von 40 000 Euro,
eine stabile Regierung wollen oder Ihre!)
aber jährliche Kosten von 60 000 Euro hat, dann hilft es
ihm nicht, wenn er in einem Jahr 50 000 Euro verdient.
Vizepräsidentin Petra Pau: Ihm fehlt trotzdem Geld. Dann kann er nicht sagen: Ich
Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen für die gebe das Geld, das ich mehr eingenommen habe, aus,
SPD-Fraktion. weil es so gut läuft. – Aber Sie arbeiten so. Sie streuen
den Leuten Sand in die Augen. Sie sollten lieber dafür
(Beifall bei der SPD) sorgen, dass anständige Haushaltspolitik gemacht wird
und dass größere Spielräume geschaffen werden. Später,
Bernd Scheelen (SPD): wenn die Einnahmen die Ausgaben wieder decken, kann
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und man gerne darüber nachdenken, ob und wie man dieses
Herren! Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz wirke Geld neu verteilt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3863
Bernd Scheelen
(A) Staatssekretär Koschyk hat hier vorgetragen, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
sich keine Regierung dem Thema Kommunalfinanzie- der LINKEN)
rung so intensiv angenommen hat wie die jetzige. An
dieser Stelle darf ich nur darauf hinweisen: Herr Kollege Was wir brauchen, sind Sofortmaßnahmen für die Kom-
Koschyk, Sie sind zwar länger im Bundestag als ich, munen, mit denen wir ihnen helfen, dieses schwierige
aber vorher haben Sie sich offensichtlich nicht mit Fi- Jahr und die nächsten schwierigen Jahre zu überstehen.
nanzpolitik beschäftigt. Denn sonst wüssten Sie, dass im In anderen Debatten haben wir Ihnen dazu Vorschläge
Jahre 2002 der Finanzminister der damaligen rot-grünen gemacht.
Regierung, Hans Eichel, eine Kommission zu diesem Ein letztes Wort zur FDP; das kann ich mir einfach
Thema eingesetzt hat. Sie hat auch Ergebnisse produ- nicht verkneifen.
ziert, und zwar gute Ergebnisse.
(Gisela Piltz [FDP]: Setzen! Sechs!)
(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)
– Frau Piltz, reden Sie auch noch, oder dürfen Sie heute
Über eines dieser Ergebnisse haben wir heute Morgen nicht? –
diskutieren müssen, weil beklagt worden ist, was bei der
Neuorganisation der Zusammenlegung von Arbeitslo- (Heiterkeit bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]:
senhilfe und Sozialhilfe passiert ist. Mit Ihnen immer gerne!)

Diese Kommission hat alle Modelle, die Sie jetzt für Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende, Herr
teures Geld noch einmal prüfen lassen, schon einmal ge- Pinkwart, hat gestern im Morgenmagazin im ZDF ge-
prüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sie den sagt, die FDP in Nordrhein-Westfahlen würde Rücken-
Kommunen nichts bringen. Deswegen hat sie damals wind aus den Kommunen verspüren. Darüber kann ich
empfohlen: Belasst es bei der Gewerbesteuer, macht sie nur lachen.
sicherer, und macht sie besser. – Das haben wir getan. (Caren Marks [SPD]: Ja!)
Das haben wir unter Rot-Grün getan, und das haben wir
unter Schwarz-Rot fortgeführt; aber davon wollen die Die Kommunen fühlen sich von Ihnen massiv bedroht.
Kollegen von der Union jetzt nichts mehr wissen. Rückenwind für Sie gibt es aus den Kommunen nicht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das war sinnvoll, und das war richtig. Lassen Sie aber Sie haben es geschafft, das Wort „Steuersenkung“ zur
die Finger von der Gewerbesteuer. Negativformel zu machen.
(B) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie sehen doch, (Gisela Piltz [FDP]: Daran sind Sie schuld, (D)
wohin sie geführt hat! Gucken Sie sich die nicht wir!)
Lage der Kommunen doch mal an! Das ist ja Wenn die Leute „Steuersenkung“ hören, halten sie sich
völlig absurd!) die Ohren zu, weil sie wissen, dass sie das am Ende eine
Ich habe mir angesehen, was vorhin auf Phoenix Menge Geld kosten wird.
übertragen wurde. Der Bundesfinanzminister hat einen (Dr. Volker Wissing [FDP]: Die Kommunen
Satz gesagt, der mich ein bisschen nachdenklich ge- zahlen die Zeche für Ihre verfehlte Steuerpoli-
macht hat. Er hat gesagt: Die Steuerausfälle in Höhe von tik, Herr Scheelen!)
40 Milliarden Euro bis zum Jahr 2013 verteilen sich auf
die verschiedenen Ebenen, aber die Verteilung selber sei Das ist sehr gut zusammengefasst in einem Kommentar,
nicht so wichtig. den ich Ihnen noch ganz kurz vorlesen möchte.
(Caren Marks [SPD]: Ja!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das fand ich ziemlich frech. Er hat nämlich verschwie- Kollege Scheelen, dazu reicht die Zeit jetzt nicht
gen, dass die Hauptlast dieser Defizite in den nächsten mehr.
Jahren von den Kommunen zu tragen sein werden;
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bernd Scheelen (SPD):
der LINKEN) Doch, das geht ruck, zuck; es sind nur wenige Zeilen.
der Kollege Bonde hat die Zahlen genannt. (Heiterkeit – Gisela Piltz [FDP]: Wir wollen
das gar nicht hören!)
Länder und Gemeinden verzichten auf ungefähr
11 Milliarden Euro, der Bund auf 12 Milliarden Euro, Eine deprimierende Lage – wenn es die FDP nicht
jede Ebene also auf ungefähr ein Drittel der Summe der gäbe. In früheren Zeiten boten Quacksalber auf den
Ausfälle. Wenn man berücksichtigt, dass der Anteil der Marktplätzen manches Gebräu feil, das angeblich
Kommunen am gesamten Steueraufkommen insgesamt gegen alles half, was mit Krankheit zu tun hat –
nur 12,8 Prozent beträgt, wird deutlich: Das ist eine un- vom Hühnerauge bis zur Pestbeule. Die FDP ver-
glaubliche Mehrbelastung der Kommunen. Darauf müs- sucht, das Volk für ähnlich blöd zu verkaufen. Die
sen Sie Antworten geben. Ihre Kommission ist keine Partei des Guido Westerwelle verspricht Steuersen-
Antwort. kungen, –
3864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: 2009 geschätzten Niveau liegen. Dabei gleichen sich (C)
Kollege Scheelen, geben Sie doch einfach die Quelle Mindereinnahmen infolge zwischenzeitlich beschlosse-
an, wo man das nachlesen kann. Aber beenden Sie jetzt ner Steuerentlastungen und Mehreinnahmen aufgrund
bitte Ihre Rede. der verbesserten konjunkturellen Entwicklung weitge-
hend aus.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schlaraffen-
Bernd Scheelen (SPD): land!)

– wenn es dem Staat gut geht, weil dann genug Das können Sie in der Steuerschätzung, die heute veröf-
Geld dafür da sei. „Bürger am Aufschwung beteili- fentlicht wurde, nachlesen, lieber Herr Bonde.
gen“, heißt das dann. Und sie verspricht Steuersen- (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
kungen, wenn es dem Staat schlecht geht, weil das NEN]: Sie haben die Steuerschätzung offen-
angeblich die Wirtschaft massiv ankurbele. sichtlich nicht verstanden! Lassen Sie sich das
So kann man nicht Politik machen, meine sehr geehrten einmal von Herrn Koschyk erklären!)
Damen und Herren. Die christlich-liberale Koalition hat es also erreicht,
Vielen Dank. durch Steuerentlastungen zu Beginn dieses Jahres die
Konjunktur zu stützen und damit insgesamt die Steuer-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einnahmen zu konsolidieren. Wir werden diesen in der
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Koalition vereinbarten Weg weitergehen. Auch die aktu-
Gisela Piltz [FDP]: Wie gut, dass Sie in den elle Steuerschätzung ist kein Grund für einen Verzicht
letzten Jahren alles richtig gemacht haben! auf die Steuerreform.
Deshalb geht es den Kommunen ja so gut!)
(Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist doch Quack-
salberei! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das
Vizepräsidentin Petra Pau: ist hier kein Juli-Kongress!)
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Daniel
Volk das Wort. Bereits ab dem nächsten Jahr werden die Steuerein-
nahmen wieder steigen. Nach den heute veröffentlichten
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Zahlen werden die Steuereinnahmen selbst im Jahr 2010
Dautzenberg [CDU/CSU]) deutlich über dem Niveau der Jahre 2005 und 2006 lie-
gen. Es gibt da in der Steuerschätzung ein Balkendia-
(B) Dr. Daniel Volk (FDP): gramm, das das optisch schön verdeutlicht. (D)
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Wieder einmal wird deutlich, dass wir in Deutschland
Damen und Herren! Lieber Herr Scheelen, was Sie ge- kein Einnahmeproblem haben, sondern ein Ausgaben-
rade vorgetragen haben, war schon abenteuerlich. problem.
(Zurufe von der SPD: Oh!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe
Sie beklagen die Finanzsituation der Kommunen? Sie be- von der SPD: Oh!)
haupten, dass die Kommunalfinanzierung in den ganzen Wir geben zu viel Geld an den falschen Stellen aus.
letzten Jahren hervorragend gewesen sei? Es war gerade
die Politik der SPD-Finanzminister in den letzten zehn (Widerspruch bei der SPD)
Jahren – zehn verlorenen Jahren, muss man sagen –, die
Im Subventionsbericht der Bundesregierung kann das je-
dazu geführt hat, dass die finanzielle Lage der Kommu-
der nachlesen und sich selbst ein Bild davon machen.
nen jetzt angespannt ist.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der FDP – Manfred Zöllmer
GRÜNEN]: Bei den Staatssekretären haben
[SPD]: Wenn man keine Ahnung hat, sollte
Sie richtig gespart!)
man sich nicht äußern!)
Der Umfang der Subventionen ist im Jahr 2008 zwar um
Wie schon nach der letzten Steuerschätzung zu erwar-
rund 250 Millionen Euro zurückgegangen, aber nur um
ten war, werden die Steuereinnahmen des Staates im
im Jahr 2009 um gut 6 Milliarden Euro auf rund
Jahr 2010 wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise vo- 29,5 Milliarden Euro zu steigen.
rübergehend sinken. Es ist aber deutlich ein Trend nach
oben zu erkennen. Der Einbruch der Wirtschaft und da- (Bettina Hagedorn [SPD]: Vergessen Sie nicht
mit auch der Einbruch der Einnahmen des Staates fiel die Entlastung für die Hoteliers! – Hubertus
deutlich kleiner aus als allgemein befürchtet. Heil [Peine] [SPD]: Hotelboy!)
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Steuererhöhungen führen immer auch zu Subven-
NEN]: Unfug! Die Steuerschätzung zeigt tionserhöhungen. Im Umkehrschluss führen Steuersen-
doch, dass wir exakt auf dem Höhepunkt der kungen zu Subventionssenkungen. Das ist verantwor-
Krise sind!) tungsbewusste Finanz- und Steuerpolitik, wie wir sie
betreiben werden.
Im Jahr 2010 werden die Steuereinnahmen mit
510 Milliarden Euro etwas unter dem im November (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3865
Dr. Daniel Volk
(A) Das Fazit des Subventionsberichts der Bundesregierung Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): (C)
vom Januar 2010 ist eindeutig – ich zitiere –: Meine lieben Kollegen! Sehr geehrte Damen und
Herren! Ich hatte die Hoffnung, dass der Tag der Steuer-
Nach Überwindung der Krise muss auch und ge-
schätzung für Sie auch ein Tag der Erkenntnis wäre.
rade der Subventionsabbau zur Haushaltskonsoli-
dierung beitragen. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Das habe ich gerade
vorgetragen!)
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wer schafft denn gerade lauter neue Seit sechs Monaten regieren Sie dieses Land: Sechs Mo-
Subventionen?) nate Phantasialand. Sechs Monate lang haben Sie auf
diesen Termin verwiesen; mit der Steuerschätzung wür-
Der Staat hat zwar weniger Steuereinnahmen zu ver- den alle Probleme gelöst.
zeichnen als erhofft, aber er nimmt mehr Steuern ein als
je zuvor. Was können wir heute feststellen? Das Märchenbuch
„Koalitionsvertrag dieser schwarz-gelben Regierung“
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Nein! – bestimmt weiter. Sie sind nicht in der Lage, den Ernst
Joachim Poß [SPD]: Was reden Sie da?) der Situation nicht nur in Griechenland und Europa, son-
Die zu erwartenden Einnahmerekorde des Staates müs- dern auch in Deutschland zu erkennen.
sen wir nutzen, um die Schulden zu reduzieren und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des
gleichzeitig die Gering- und Normalverdiener zu entlas- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ten.
Die Steuerschätzung hat ergeben, dass Sie eine Steu-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Guido!) erlücke von zusätzlich 30 Milliarden Euro haben.
Es kann schließlich nicht sein, dass die Bürger aufgrund (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Auf Jahre!)
der Steuer- und Abgabenlast immer strenger haushalten
müssen, während der Staat dies nicht tut und den Ausga- Sie müssen bis 2014 40 Milliarden Euro aufgrund der
ben freien Lauf lässt. Schuldenbremse einsparen. Zudem hat Ihre traute Minis-
terriege im Koalitionsvertrag Mehrausgaben in Höhe
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Joachim von weiteren 30 Milliarden Euro beschlossen. Dafür ha-
Poß [SPD]: Was reden Sie denn da? Das ist die ben Sie alle die Hand gehoben. Ich kann es Ihnen vor-
Unwahrheit!) rechnen. Vorgesehen sind zusätzliche Ausgaben für den
Gesunde Staatsfinanzen sind das A und O einer ver- Bereich Gesundheit sowie 14 Milliarden Euro für die
antwortungsbewussten Regierungsarbeit, Herr Poß. Da- Forschung und 2 Milliarden Euro pro Jahr für die Erfül-
(B) rüber dürfte in diesem Hause zwischen allen Fraktionen lung der ODA-Quote. Insgesamt kommen wir auf eine (D)
Einigkeit bestehen. Aber jede Partei in diesem Haus Lücke von 100 Milliarden Euro, die Sie gegenfinanzie-
sollte sich auch selbstkritisch fragen, ob das unter ihrer ren müssen.
Regierungsverantwortung – sei es im Bund, in den Län- (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)
dern oder in den Kommunen – in der Praxis auch tat-
sächlich eingehalten wird. Was ist dazu von Ihrer Seite zu hören? Sie wollen
Subventionen abbauen. Sagen Sie bitte ganz konkret,
Die FDP steht für eine verantwortungsbewusste und welche Subventionen.
nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der FDP – Bettina Hagedorn DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
[SPD]: Ach! – Sven-Christian Kindler LINKEN)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein
Sie regieren seit sechs Monaten. In dieser Zeit haben
Scherz!)
Sie nicht viele Gesetze gemacht.
Wir haben die Familien entlastet. Wir haben Arbeits-
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
plätze gesichert. Wir werden die Bildungschancen für
GRÜNEN]: Zum Glück!)
alle Menschen in diesem Land verbessern. Denn dies be-
deutet Wettbewerbsfähigkeit auch in vielen Jahren und Ich glaube, noch keine Regierung hat sechs Monate ver-
damit Wohlstand für die Menschen in diesem Land. streichen lassen und gerade mal drei oder vier Gesetze
gemacht.
Vielen Dank.
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber gute!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) – Herr Wissing, das eine Gesetz, das Sie Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz genannt haben, ist Volksverdum-
Vizepräsidentin Petra Pau: mung. Es hat eine Steigerung des Wachstums von
0,07 Prozent bewirkt.
Das Wort hat der Kollege Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Seit wann ist
das in Kraft?)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
Abg. Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE Das sagt Ihr Sachverständigenrat. Es hat aber die Sub-
GRÜNEN]: Carsten, erklär’ du es ihm mal!) ventionszahlungen des Bundes – das können Sie im Sub-
3866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Carsten Schneider (Erfurt)


(A) ventionsbericht nachlesen – um 1 Milliarde Euro erhöht, tionsvertrag geschlossen, der ein Märchenbuch ist, ohne (C)
nämlich für die Hoteliers. Statt Subventionen abzu- Finanzverhandlungen zu führen. Sie fragen nicht da-
bauen, haben Sie 1 Milliarde Euro zusätzliche Subventi- nach, was ist. Bei Ihnen hat man das Gefühl, dass Sie in
onen beschlossen. der Fundamentalopposition sind, ohne die reale Situa-
tion anzuerkennen. Die Menschen in diesem Land wer-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Ihnen das nicht mehr abnehmen, und das ist auch gut
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE so.
GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Nicht nur die Menschen, sondern auch die Finanz- DIE GRÜNEN)
märkte wollen wissen, wo Sie konsolidieren. Wo sparen
Sie denn? Sie reden immer von Steuermehreinnahmen.
Warum machen Sie es denn nicht, wenn das alles so ein- Vizepräsidentin Petra Pau:
fach ist? Bringen Sie doch Ihre Gesetzentwürfe ein! Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die
Stattdessen diskutieren Sie und nerven Sie uns schon seit Unionsfraktion.
Wochen und Monaten immer mit derselben Leier. Dabei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
liegt real nichts auf dem Tisch.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Olav Gutting (CDU/CSU):
DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Zunächst einmal, lieber Carsten Schneider: Der
Herr Wissing, als die Wirtschaft im Jahr 2009 um Haushaltsentwurf des SPD-Finanzministers für 2010
5 Prozent eingebrochen ist, haben wir noch mitregiert wies meines Wissens 87 Milliarden Euro Schulden auf.
und einen Haushalt vorgelegt, der eine Neuverschuldung Bereits in der letzten Sitzungswoche haben wir an dieser
von knapp 40 Milliarden Euro vorgesehen hat. Stelle auf Antrag der SPD über die Finanzierbarkeit der
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sagen Sie mal, FDP-Steuerpläne debattiert. Bereits in der letzten Woche
warum Sie in Ihrem Parteiprogramm die Steu- habe ich hier hinsichtlich des Einkommensteuerrechts
ern senken wollen! Sagen Sie doch mal, wa- festgestellt, dass das System gerade bei den niedrigeren
rum Sie den Menschen Steuersenkungen ver- und mittleren Einkommen offensichtlich eine Unwucht
sprochen haben!) enthält. In der letzten Woche konnte ich hier auch fest-
stellen, dass die Schuldenbremse und das Ziel eines kon-
2010 dagegen haben wir wieder ein leichtes Wachstum solidierten Haushalts keineswegs eine Rechtfertigung
von 1,2 bis 1,4 Prozent zu verzeichnen. Die Neuver- dafür sind, dass wir in den steuerpolitischen Stillstand
(B) schuldung beträgt 80 Milliarden Euro. Mit den Stimmen übergehen. Daran hat sich seit letzter Woche nichts ge- (D)
der SPD waren es 40 Milliarden Euro bei einem Minus ändert, auch nicht durch die Steuerschätzung, die seit
von 5 Prozent beim Wirtschaftswachstum. Mit Ihren knapp anderthalb Stunden vorliegt. Ganz im Gegenteil:
Stimmen sind es 80 Milliarden Euro Schulden bei Wenn wir unseren Haushalt nachhaltig konsolidieren
1 Prozent Wachstum. Herzlichen Glückwunsch! Wo wollen, dann brauchen wir wachstumsfördernde An-
bleibt dabei die Generationengerechtigkeit? Wo bleibt reize. Zu diesen wachstumsfördernden Anreizen gehört
die Nachhaltigkeit? Sie sind Schuldenweltmeister, nichts untrennbar ein leistungsgerechtes Steuersystem.
anderes.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der FDP)
DIE GRÜNEN) – Widerspruch des Abg.
Dr. Daniel Volk [FDP] – Norbert Barthle Mit dem von der SPD propagierten steuerpolitischen
[CDU/CSU]: Steinbrück wollte 87 Milliarden Stillstand erreichen wir jedenfalls gar nichts. Politik
Euro!) muss doch auch in Zeiten knapper Haushaltsmittel im-
mer handlungsfähig sein. Wir müssen einen Spielraum
80 Milliarden Euro Schulden, 25 Prozent des Haus- für Konsum und für Investitionen der Menschen schaf-
halts sind kreditfinanziert, und Sie wollen zusätzliche fen. Dass wir das können, haben wir in der Großen
Steuersenkungen auf Pump finanzieren. Steuersenkun- Koalition zusammen mit der SPD immer wieder bewie-
gen auf Pump sind Steuererhöhungen in der Zukunft, sen. Wir haben zusammen mit der SPD noch im letzten
nichts anderes. Jahr, vor wenigen Monaten, Maßnahmenpakete
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Bürger-
DIE GRÜNEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: entlastungsgesetz hieß das!)
Das sagt die Partei, die den Stabilitäts- und
für Investitionen der privaten Haushalte und der Kommu-
Wachstumspakt aufgeweicht hat! Sie machen
nen mit einem Gesamtvolumen von 50 Milliarden Euro
sich doch lächerlich!)
beschlossen.
Es wird Zeit, dass es am Sonntag eine politische Ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
änderung gibt, dass wir Klarheit bekommen und dass die
Regierung endlich einen Gegenpol im Bundesrat be- Wir haben mit dem Konjunkturpaket II noch vor weni-
kommt. Ich bin da sehr zuversichtlich nach Ihrer Perfor- gen Monaten mit Ihnen zusammen den Eingangssteuer-
mance. Sie haben alles darauf ausgerichtet, über diese satz gesenkt, haben die Freibeträge erhöht und einen
eine Landtagswahl zu kommen. Sie haben einen Koali- Kinderbonus ausbezahlt. Zusätzlich bringt das Bür-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3867
Olav Gutting
(A) gerentlastungsgesetz 10 Milliarden Euro Entlastung für dieses Land zu gestalten, verabschiedet. Sie machen nur (C)
die Menschen in diesem Land. All diese Maßnahmen ha- noch eines – das zeigt auch diese Aktuelle Stunde –: Sie
ben dafür gesorgt, dass die Bürger in diesem Land wie- machen auf billige Polemik.
der mehr Geld in der Tasche haben und die Konjunktur
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
angekurbelt wird. All diese Maßnahmen wurden mit Ih-
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
nen zusammen beschlossen, all diese Maßnahmen haben
GRÜNEN]: Das war die Rede von letzter Wo-
Sie noch vor wenigen Monaten als notwendig und alter-
che! Was ist mit dieser Woche?)
nativlos mitgetragen. Damals haben Sie noch erkannt,
dass steuerliche Anreize notwendig sind, um trotz der
schwierigen Haushaltslage aus dieser Krise gestärkt he- Vizepräsidentin Petra Pau:
rauszukommen. Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Ingrid Arndt-
Brauer das Wort.
Was ist heute, nachdem die Große Koalition erst we-
nige Monate vorbei ist, daran falsch? Ihre 180-Grad- (Beifall bei der SPD)
Kehrtwende hin zum steuerpolitischen Stillstand kann
vor diesem Hintergrund niemand verstehen. Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Selten
Wo bleiben denn Ihre Konzepte? war eine Aktuelle Stunde so aktuell wie heute. Seit gut
(Bettina Hagedorn [SPD]: Wir haben welche! zwei Stunden kennen wir die Zahlen der Steuerschätzung.
Wo bleiben denn Ihre? Sie regieren doch!) Wir hatten Schlimmes befürchtet, und es ist Schlimmes
gekommen. Ich denke, Steuerausfälle in Höhe von knapp
Mit welchen Ideen wollen Sie denn das Wachstum in 40 Milliarden Euro bis 2013 sind schlimm. Man muss
diesem Land ankurbeln? Wir jedenfalls sind der Über- sich auch nicht freuen, dass wir 2013 dann das Niveau
zeugung, dass wir den Menschen, den Bürgerinnen und von 2008 wieder erreicht haben werden. Ich denke, das
Bürgern in diesem Land, mehr Netto vom Brutto lassen Ziel müsste jetzt eigentlich sein, stark gegenzusteuern.
müssen.
Alle, die in den letzten Tagen bei Griechenland-De-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und batten gesagt haben, wer die Maastricht-Kriterien reißt,
der FDP) sollte nicht mehr so viel Stimmrechte haben oder keine
Wir sind uns in der Regierungskoalition einig, dass die Förderung mehr kriegen, sollten sich mal überlegen, wie
Glättung des Einkommensteuertarifs, der Ausstieg aus stark Deutschland davon betroffen wäre, wenn wir das
(B) der kalten Progression und die Vereinfachung gerade des wirklich ernst nehmen würden, was Sie da haben verlau- (D)
Einkommensteuerrechts dringend notwendig sind. ten lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dann hätten
der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Wo sind fast alle keine Stimmrechte mehr!)
Ihre Gesetzesinitiativen dazu?) Wir haben ab 2011 eine Schuldenbremse. Ich bin
Dass dies alles in Zeiten knapper Kassen eine Herausfor- froh, dass wir sie haben. Ich mag mir gar nicht vorstel-
derung bedeutet, ist unbestritten. Ein solides Konzept len, was die FDP machen würde, wenn wir sie nicht hät-
und Schnellschüsse schließen sich gerade vor diesem ten. Wir haben sie, und wir müssen damit leben.
Hintergrund aus. Wir brauchen Zeit. Eine Steuerentlas- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Die FDP hat dafür
tung gehört in ein haushaltspolitisches Gesamtkonzept, gestimmt!)
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich sehe ein bisschen die Gefahr von Schattenhaushal-
NEN]: Ihr braucht ein bisschen viel Zeit! –
ten, weil ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, wie
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
man bei dieser Situation auf der Einnahmenseite jährlich
GRÜNEN]: Bisher gibt es das noch nicht! Das
10 Milliarden Euro weniger Neuverschuldung darstel-
stimmt! Sehr unseriös bisher!)
len will. Die FDP-Steuersenkungen im Umfang von
und dies lässt sich jetzt, nachdem die Zahlen der Steuer- 24 Milliarden Euro oder 16 Milliarden Euro ich weiß
schätzung vorliegen, fundiert entwickeln. nicht, wo Sie augenblicklich sind; es kommt ja auch
nicht so darauf an – sind jedenfalls in der Situation über-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haupt nicht zu verantworten.
Im Übrigen – wenn ich das noch ergänzen darf – zei-
(Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing
gen die Zahlen, die jetzt seit knapp zwei Stunden vorlie-
[FDP]: Deshalb haben Sie es auch in Ihr Par-
gen, dass sich die Einnahmen stabilisieren.
teiprogramm geschrieben, nicht wahr?)
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)
Wer gestern die Griechenland-Anhörung verfolgt hat,
Aber bereits zwei Stunden später ein durchgerechnetes der hat den Chef der Bundesbank gehört, Professor
Konzept zu fordern bzw. nach Bekanntgabe dieser Zah- Dr. Axel Weber, der gesagt hat: Das oberste Ziel muss
len auf den steuerpolitischen Stillstand umzuschalten, ist die Haushaltskonsolidierung sein. Ausgeglichene Haus-
absurd, und es zeigt vor allem eines: Sie in der SPD ha- halte sind wichtig, aber vor allem muss die exzessive
ben sich von dem Anspruch, dieses Land zu regieren, Verschuldung zurückgetrieben werden.
3868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Ingrid Arndt-Brauer
(A) Auch so etwas wie ein Hilfsprogramm für Griechen- GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: 4,6 Mil- (C)
land muss man sich nämlich eigentlich leisten können, liarden Euro entfallen auf das Kindergeld!)
um es zu verantworten.
Das können Sie diesem Mädchen nicht erklären. Denn
Schäuble hat heute gesagt, er bleibt bei dem, was im sie wird die Schulden, die Sie für die Erhöhung aufge-
Koalitionsvertrag vereinbart worden ist. nommen haben – Sie hatten das Geld ja auch nicht –, ab-
tragen müssen. Dafür werden 100 Jahre, so befürchte
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja!)
ich, nicht ausreichen.
Wenn ich ihn gutwillig verstehe, dann heißt das, der
Die FDP-These „Steuersenkung bewirkt Wachstum“
Finanzierungsvorbehalt bleibt. Das wird der FDP viel-
kann ich nicht mehr hören. Wachstum wie eine Monstranz
leicht nicht gefallen, auch den Wählern nicht, die sich
vor sich herzutragen, ist ein Missbrauch von Politik,
auf diese Steuersenkungen jetzt doch ein bisschen einge-
auch wenn es sich um nachhaltiges Wachstum handelt.
stellt haben, aber FDP-Wähler sind in der Minderheit,
und die Gruppe schrumpft zusammen. Was wir vielmehr brauchen, ist eine wachsende Ver-
antwortung für nachfolgende Generationen. Darum soll-
Politik muss nämlich verantwortbar für alle sein. Des-
ten wir uns bemühen. Mit einer solchen Politik sollten
wegen machen wir hier keine FDP-Politik, sondern ver-
Sie beginnen. Dann können wir darüber reden, wie wir
suchen, Politik für die gesamte Bevölkerung zu machen.
das Geld, das wir vielleicht irgendwann einmal übrig ha-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben, vernünftig und sozial verantwortlich verteilen.
DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Des-
Vielen Dank.
halb haben wir die Familien entlastet!)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sven-
– „Familie“ ist ein gutes Stichwort. Ein heute geborenes Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Mädchen hat eine Lebenserwartung von ungefähr NEN])
100 Jahren. Nur, welches Leben erwartet sie eigentlich?
(Zuruf von der FDP: Ein langes!) Vizepräsidentin Petra Pau:
Wenn sie das Glück hat, in Rheinland-Pfalz geboren Das Wort hat der Kollege Peter Aumer für die
worden zu sein oder in Sachsen-Anhalt, dann erwarten Unionsfraktion.
sie Kitaplätze. In anderen Bundesländern noch nicht mal (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
das.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Warum klam- Peter Aumer (CDU/CSU):
(B) mern Sie NRW aus, Frau Kollegin?) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten (D)
Damen und Herren! Ich habe mich gefragt, warum die
Chancengleichheit bei der Bildung erwartet sie eigent-
SPD diese Aktuelle Stunde beantragt hat. Eineinhalb
lich nirgendwo, weil nämlich beide Bereiche chronisch
Stunden nach Verkündung des Ergebnisses der Steuer-
unterfinanziert sind – sowohl Betreuung als auch Bil-
schätzung sollte man über die Konsequenzen diskutie-
dung.
ren.
Wenn dieses Kind dann endlich in der Lage ist, Schul-
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)
den abzutragen, wird es vor diesen Schuldenbergen ste-
hen und sagen: Die Zinsen sorgen leider dafür, dass So- Wir haben über alles diskutiert, nur nicht über die Kon-
zialausgaben nicht mehr finanzierbar sind. sequenzen. Welche Konsequenzen zieht denn die SPD
aus dieser Steuerschätzung?
Dieses Mädchen wird uns dann fragen: Wo wart ihr
eigentlich, als die Steuersenker in der Verantwortung (Bettina Hagedorn [SPD]: Sie haben doch die
waren? Wieso seid ihr ihnen nicht in den Arm gefallen? letzten Wochen gesagt, dass Sie auf die Steuer-
Wieso habt ihr diese Steuersenkungs- und Lobbypolitik schätzung warten!)
nicht verhindert? Wenn mir diese Fragen gestellt werden
Wo sind die guten Vorschläge der Opposition? Sie gibt
würden, müsste ich sehr viel erklären. Wenn Sie gefragt
es nicht. Es wäre aber Ihre Aufgabe, dass Sie uns sagen,
werden würden, dann können Sie sich nicht auf Alters-
welche Konsequenzen man aus Ihrer Sicht ziehen
demenz berufen nach dem Motto „Ich kann mich nicht
müsste. Das haben Sie nicht getan. Ihr Handeln ist reiner
mehr erinnern“, sondern Sie müssen dann Stellung neh-
Populismus.
men und sagen: Wir haben Klientelpolitik gemacht, und
wir haben diejenigen Familien entlastet, die sowieso (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
schon genug hatten. Bettina Hagedorn [SPD]: Quatsch!)
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Was ist mit dem Kinder- Sie schauen auf den nächsten Sonntag.
geld? Wir haben das Kindergeld erhöht!)
(Widerspruch des Abg. Hubertus Heil
– Nein. Sie wissen doch selber, dass die Entlastungswir- [Peine] [SPD])
kung des Kinderfreibetrages doppelt so hoch ist wie die
– Herr Heil, es ist so. – Sonst liegt Ihnen nichts am Her-
der Kindergelderhöhung.
zen. Mit Ihrem Handeln erhoffen Sie sich, dass sich die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen für
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE eine andere Politik entscheiden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3869
Peter Aumer
(A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das werden sie Politik mit Augenmaß ist gefragt. Nicht alles Wün- (C)
tun! – Bettina Hagedorn [SPD]: Sie sind den schenswerte ist machbar. Wir verfolgen eine Finanzpoli-
Menschen eine Antwort schuldig!) tik aus einem Guss,
Sie werden es aber nicht tun, weil sie Sie durchschaut (Joachim Poß [SPD]: Sie wissen gar nicht, was
haben. Sie wollen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ein verantwortungsbewusstes Gesamtkonzept, das aus
Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat gestern in der einem Dreiklang besteht: Konsolidieren, Investieren und
Aussprache zur Regierungserklärung von Bundeskanzle- Entlasten. Das wollen wir, Herr Poß.
rin Merkel gesagt: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Lasst uns gemeinsam um Spielräume für Hand- der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Das tun
lungsfähigkeit von Politik kämpfen! Sie aber nicht!)
Die Steuerschätzung gibt uns den finanziellen Spielraum Wir müssen die Investitionen in Bund, Ländern und
vor. Das Ergebnis der Steuerschätzung begrenzt unseren Kommunen auf hohem Niveau halten. Gerade die Inves-
Handlungsrahmen auf der Einnahmenseite, und die titionen in Bildung müssen ausgebaut werden, damit wir
Schuldenbremse begrenzt unseren Handlungsrahmen auf im internationalen Wettbewerb mithalten und unseren
der Ausgabenseite. jungen Menschen optimale Ausgangsbedingungen bie-
ten können.
Handlungsfähigkeit der Politik heißt, sich den Reali-
täten zu stellen Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir
Familien gestärkt und Impulse für mehr Wachstum ge-
(Bettina Hagedorn [SPD]: Na! Schauen Sie
setzt.
einmal in den Spiegel, das hilft!)
und aus den gegebenen Umständen – sprich: aus den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
heute erhaltenen Zahlen und Daten – die richtigen Kon- der FDP)
sequenzen zu ziehen. Die Menschen in Deutschland Auch dadurch konnte der erwartete Einbruch am Ar-
trauen uns das zu. Darum und auch, weil die Menschen beitsmarkt verhindert werden.
Vertrauen haben in den Gestaltungswillen, in das Verant-
wortungsbewusstsein und die Nachhaltigkeit unserer Wir wollen eine steuerliche Entlastung insbesondere
Politik, ist die christlich-liberale Koalition heute in Re- für die unteren und mittleren Einkommensbereiche. Hier
(B) gierungsverantwortung. soll vor allem die kalte Progression angegangen werden; (D)
denn sie ist leistungsfeindlich, gerade für die Leistungs-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- träger im mittleren Bereich unserer Gesellschaft.
neten der FDP)
Dieses Vertrauen werden wir nicht enttäuschen. (Bettina Hagedorn [SPD]: Zum Beispiel für
die Hoteliers!)
Die Maßnahmen, die in Deutschland bereits während
der Zeit der Großen Koalition ergriffen wurden, haben Außerdem wollen wir ein einfacheres und gerechteres
dazu beigetragen, dass wir die Talsohle der Krise schnel- Steuerkonzept.
ler durchschritten haben als von vielen erwartet. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Dann
(Beifall bei der CDU/CSU) machen Sie doch so etwas!)
Dieser Erfolg schlägt aber noch nicht auf die Steuerein- Vor dem Hintergrund der veröffentlichten Zahlen gilt
nahmen durch. Die Rezession hinterlässt tiefe Spuren in weiterhin: Konsolidierung und Entlastung gehören zu-
den öffentlichen Haushalten. Das trifft Bund, Länder sammen. Das ist der Arbeitsauftrag, den uns die Wähle-
und Kommunen mit gleicher Härte. rinnen und Wähler gegeben haben: für eine nachhaltige
Politik zu sorgen. Die Spielräume sind enger geworden.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Die Kommunen am Aber wir werden diese Spielräume der Handlungsfähig-
härtesten!) keit von Politik zum Wohle unseres Landes nutzen. Wir
Besonders müssen wir darauf achten, dass den Kom- hoffen, dass die Worte Ihres Fraktionsvorsitzenden,
munen die finanzielle Basis nicht entzogen wird. meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD,
keine reine Plattitüde waren, sondern ein konstruktives
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!) Angebot mit Blick auf eine zukunftsorientierte Politik,
Deswegen ist die Gemeindefinanzkommission einge- für die wir, CDU und CSU, stehen – in Verantwortung
setzt worden. für unser Land.

(Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD]) (Bettina Hagedorn [SPD]: Das tun Sie leider
gerade nicht!)
– Herr Poß, schreien Sie nicht immer dazwischen! Ich
denke, wir sollten konstruktiv zusammenarbeiten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
3870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: bei dem, was wir in der Großen Koalition im steuer- und (C)
Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg für die finanzpolitischen Bereich gemeinsam auf den Weg ge-
Unionsfraktion. bracht haben, das Licht unter den Scheffel!
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Bettina Hagedorn [SPD]: Das tun wir doch
der FDP) gar nicht!)
Die christlich-liberale Koalition hat diese Politik in Teil-
Leo Dautzenberg (CDU/CSU): bereichen im Grunde fortgesetzt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn man ein Fazit dieser (Bettina Hagedorn [SPD]: Sie reden an der
Aktuellen Stunde zieht, Herr Kollege Poß, muss man Sache vorbei!)
feststellen: Der Versuch, die Wähler in Nordrhein-West-
Wenn wir dies fortsetzen, kann es doch im Verhältnis zu
falen zu verunsichern, ist gescheitert. dem, was wir vorher gemacht haben, nicht falsch sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: So ein
GRÜNEN]: Das macht Rüttgers schon ganz
Quatsch! Wir hätten nie die Hoteliers entlas-
alleine!)
tet!)
Was hat uns die Aktuelle Stunde gegeben? Erstens hat
sie erbracht, dass die Steuerschätzung zeigt, dass wir so- – Das ist kein Quatsch, sondern wir haben es konsequent
wohl unsere solide Finanzpolitik als auch unsere konse- fortgesetzt, indem wir die Familien mit Kindern mit Wir-
quente Wachstumspolitik fortsetzen müssen. kung vom 1. Januar 2010 weiter entlastet haben, in ei-
nem Volumen – es ist genannt worden – von rund 5 Mil-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – liarden Euro, wobei der überwiegende Teil zudem nicht
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo leben Sie in den Steuerfreibetrag hineinging, sondern in das Di-
denn?) rektkindergeld. Wenn Sie das Direktkindergeld sehen,
Die Steuerschätzung für das Jahr 2010 zeigt ein stabili- dann können Sie sich doch auch vorstellen, welche Be-
siertes Niveau. 2011 werden die Steuereinnahmen etwas völkerungsgruppen damit in den Genuss des höheren
geringer sein. Dies ist aber dadurch bedingt, dass dann Kindergeldes gekommen sind. Warum sollten wir diesen
unser Steuerentlastungspaket seine volle Wirksamkeit Prozess und diesen Weg jetzt nicht fortsetzen?
entfaltet. Deshalb ist unsere Zielsetzung: Wenn wir den finan-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Eben: Es wird ziellen Spielraum aus der Konsolidierung und neben ihr
(B) weniger!) haben, dann wird sich das in dem Bereich der unteren (D)
und mittleren Einkommen vollziehen, um die kalte Pro-
Wenn Sie das einmal gegenrechnen, stellen Sie fest, dass gression weiter abzubauen. Wir haben doch selber in
sich die Einnahmesituation weiter stabilisiert. Der Herr dem Wachstumspaket bereits mit dem Abbau der kalten
Staatssekretär hat recht: Trotz dieser Tatbestände haben Progression begonnen, indem wir technisch die soge-
wir weiterhin einen engen finanziellen Spielraum. Aber nannte Rechtsverschiebung vorgenommen haben. Das
ein enger finanzieller Spielraum bedeutet doch nicht ei- ist doch nichts anderes als der Abbau der kalten Progres-
nen Stillstand; vielmehr resultiert er daraus, dass aus der sion.
Zielsetzung von Haushaltskonsolidierung und steuerli-
cher Entlastung die notwendigen Konsequenzen gezo- Also stellen Sie doch das Licht unserer gemeinsamen
gen und die entsprechenden Wege gegangen werden. Ergebnisse nicht unter den Scheffel.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Bettina Hagedorn [SPD]: Das tun wir doch
gar nicht!)
Haushaltskonsolidierung und steuerliche Entlastung
sind keine Gegensätze. Unsere steuerliche Entlastung Es war eine erfolgreiche Politik in diesem Bereich, und
wird sich an den Grundsätzen und Prinzipien der Haus- diese erfolgreiche Politik finden wir jetzt auch als Ergeb-
haltskonsolidierung ausrichten. Das sind zum einen die nis der Steuerschätzung wieder. In der Koalition mit den
verfassungsmäßige Vorgabe der Schuldenbremse und Liberalen werden wir diesen Weg verstärkt und konzen-
zum anderen das, was bis 2014 weiterhin zu leisten ist. triert in weiteren wichtigen Bereichen fortsetzen. Der er-
Wenn Sie die von der Steuerschätzung prognostizierten forderliche Spielraum ist gerade wegen der Steuerschät-
Steuerausfälle bis 2013 von über 30 Milliarden Euro zung vorhanden.
schon als einen Tatbestand dafür sehen, dass es unter
Umständen keinen Spielraum mehr geben sollte, dann (Bettina Hagedorn [SPD]: Was?)
frage ich mich: Wie wollen Sie zukünftig Politik für die- Wenn hier wiederum das Argument kommt, mit die-
ses Land gestalten, wenn Sie das schon als unüberbrück- ser Politik bluteten die Kommunen aus, dann frage ich
bare Hürde ansehen? Das ist für mich nicht nachvoll- Sie: Zu welchem Zeitpunkt ging es den Kommunen in
ziehbar. Deutschland am schlechtesten, wenn Sie deren gesamte
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Einnahme- und Finanzsituation sehen? – Das war doch
der FDP) in dem Zeitraum 2002 bis 2005.
Herr Poß und liebe Kolleginnen und Kollegen von der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
SPD-Fraktion, ein zweiter Punkt. Stellen Sie doch nicht neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3871
Leo Dautzenberg
(A) In dieser Zeit bestand bei den Kommunen immer Unter- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (C)
deckung. Von 2005 bis 2008 verzeichneten wir Haus- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
haltsüberschüsse der Kommunen. und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dorothée Menzner,
(Ulrich Kelber [SPD]: Das war schon im Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer
Oktober hinfällig!) Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Außerdem reden Sie davon, wir hätten die Kommu- Solarstromförderung wirksam ausgestalten
nen ausgenommen. Worunter sie jetzt selbstverständlich
zu leiden haben, ist der konjunkturelle Einbruch bei der – Drucksachen 17/1144, 17/1604 –
Gewerbesteuer.
Berichterstattung:
(Bernd Scheelen [SPD]: Quatsch! Unter Ihrer Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Steuerpolitik!) Dirk Becker
Michael Kauch
Da haben wir im Grunde genommen eine andere Vorstel- Dorothée Menzner
lung, als Sie sie verfolgen. Sie wollen eine Verbreiterung Hans-Josef Fell
der Bemessungsgrundlage mit Hinzurechnungen, näm-
lich Substanzbesteuerung. Wir wollen eine gewinnbezo- Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
gene Besteuerung auf kommunaler Ebene mit eigenem und der FDP liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Hebesatzrecht, sodass die Kommunen auch noch selber Bündnis 90/Die Grünen vor. Über den Gesetzentwurf
gestalten können, wie sie ihre Einnahmen erzielen, und werden wir später auf Antrag der Fraktion Die Linke na-
damit auch zu einer kontinuierlichen Einnahmesituation mentlich abstimmen.
kommen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Das Fazit ist also: Diese Aktuelle Stunde hätten Sie Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
sich auch sparen können. Aber wir können sie jederzeit Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
wiederholen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Vielen Dank. Dr. Christian Ruck für die Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau: Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):


(B) Die Aktuelle Stunde ist beendet. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D)
Mit der heutigen Novelle des Erneuerbare-Energien-Ge-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: setzes korrigiert die christlich-liberale Koalition
a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- (Ulrich Kelber [SPD]: Die kenne ich nicht! Ich
nen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten kenne nur Schwarz-Gelb!)
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes Fehlentwicklungen der Vergangenheit, weist einen Weg
in die Energieversorgung der Zukunft und stärkt den
– Drucksache 17/1147 – Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir setzen konsequent
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- das um, was wir in der Koalitionsvereinbarung zur Foto-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz voltaik vereinbart haben.
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) Es ist unbestritten, dass die dynamische Entwicklung
– Drucksache 17/1604 – des Marktes für Fotovoltaik und der schnelle Ausbau der
Produktionskapazitäten die Kosten und Preise für Foto-
Berichterstattung: voltaikanlagen in den letzten Jahren stark haben sinken
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth lassen. Im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die das
Dirk Becker alles bezahlen, im Interesse eines effizienten Klima-
Michael Kauch schutzes und im Interesse der Technologieführerschaft
Dorothée Menzner Deutschlands müssen wir handeln. Wir haben dabei das
Hans-Josef Fell Wohl aller im Auge und nicht nur das Interesse der Bran-
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) che.
gemäß § 96 der Geschäftsordnung Wir setzen mit der heutigen Novelle des EEG den er-
– Drucksache 17/1607 – folgreichen Weg fort, den Helmut Kohl und Klaus
Töpfer mit der Schaffung des Stromeinspeisungsgeset-
Berichterstattung: zes eingeschlagen haben. Dank dieser historischen Wei-
Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte chenstellung hat Deutschland heute auf europäischem
Heinz-Peter Haustein und internationalem Gebiet die Technologieführerschaft
Sören Bartol bei den erneuerbaren Energien erkämpft. Deutschland ist
Michael Leutert im Bereich der Fotovoltaik weltweit technologisch füh-
Sven-Christian Kindler rend. Insbesondere im Hinblick auf den Export und den
3872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Dr. Christian Ruck


(A) zukünftig zu erwartenden weltweiten Ausbau der Foto- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
voltaik ist es wichtig, dass wir diesen Technologievor- Aber die Förderung für die Atomkraftwerke
sprung bewahren und, wenn möglich, ausbauen. dürfen sie bezahlen!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir ihnen schon zwangsweise Geld aus der Tasche
ziehen, um damit Fotovoltaik zu fördern – das ist mit ku-
Die bisherige Förderung der Fotovoltaik war sehr mulierten 70 bis 100 Milliarden Euro eine ganz erhebli-
stark darauf ausgerichtet, einen Markt zu schaffen und che Zahl –, dann müssen wir das gut begründen können.
die Markteinführung voranzutreiben. Angesichts der
Zahlen zum Zubau von Fotovoltaik von 3 600 Megawatt (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
im vergangenen Jahr und erwarteten über 6 000 Mega- Sie ziehen den Menschen verdammt viel aus
watt in diesem Jahr kann man nur sagen, dass diese der Tasche! In vielen Bereichen!)
Markteinführung sehr erfolgreich war. Subventionen von 150 000 Euro pro Arbeitsplatz oder
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch die CO2-Vermeidungskosten, die bei Fotovoltaik
zehnmal so hoch sind wie bei Windkraft, sind keine gute
Die Erwartungen der Experten gehen auch unter verän- Begründung. Deutschland auch in dieser Technologie
derten Förderbedingungen von einem erheblichen Zubau für den Weltmarkt fit zu machen, ist eine gute und rich-
in den nächsten Jahren aus. tige Begründung. Genau das wollen wir fördern.
(Ulrich Kelber [SPD]: Aber nicht alle Experten, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
die Sie berufen haben!) neten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Deshalb gefährden Sie ge-
Dem haben wir mit einem Zubaukorridor von bis zu rade die Arbeitsplätze hier! Herzlichen Glück-
3 500 Megawatt Rechnung getragen. wunsch!)
(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist falsch!) Liebe Frau Höhn, es bedarf in Deutschland bei der
Das ist mehr als doppelt so viel, Herr Kelber, wie der Fotovoltaik eines weiteren Innovationsschubes. Der
frühere Bundesumweltminister angepeilt hat. Aufbau der Fotovoltaikindustrie war sehr erfolgreich.
Aber jetzt müssen Kosten weiter gesenkt werden, Her-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich stellungsverfahren müssen effizienter gestaltet werden,
Kelber [SPD]: Das ist falsch!) höchste Qualität und Leistung müssen im Vordergrund
stehen. Diesem Ziel dient auch die von der Bundesregie-
– Sagen Sie nicht, das sei falsch, wenn ich das sage. rung beschlossene „Innovationsallianz Fotovoltaik“. Wir
(B)
(Ulrich Kelber [SPD]: Das kann ich Ihnen müssen jetzt das, was wir am besten können, nämlich (D)
belegen!) unsere Technologie- und unsere Ingenieurskunst, weiter
verbessern und unsere Rolle auf dem Weltmarkt weiter
Von einem Abwürgen der Fotovoltaik kann also über- behaupten.
haupt keine Rede sein. Mit der jetzigen Novelle entwi-
ckeln wir die Förderung weiter, damit sie den aktuellen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Marktgegebenheiten besser angepasst wird und damit neten der FDP)
die Integration in den Energiemix und die Netze verbes- Wenn der damalige SPD-Umweltminister und jetzige
sert wird. Wir geben der Fotovoltaik in Deutschland da- SPD-Parteivorsitzende dies rechtzeitiger erkannt hätte,
mit eine neue und zukunftsfähigere Richtung. dann hätten wir schon früher umsteuern können.
Es ist eine Tatsache – die Branche selbst hat es zuge- Den notwendigen Innovationsschub auszulösen, dem
geben –, dass sich aufgrund der gefallenen Preise für So- dient auch die deutliche Verbesserung der Regelungen
larmodule eine Überförderung entwickelt hat. Auf 20 Jahre zum Eigenverbrauch von fotovoltaisch erzeugtem
gesicherte Renditen weit oberhalb dessen, was am Kapi- Strom. Wer den Strom, den seine eigene Anlage produ-
talmarkt zu erzielen ist, haben zu Marktverwerfungen ziert, in nennenswerter Weise selbst nutzt, bekommt eine
bis hin zu schier unglaublichen Pachtraten für Ackerflä- höhere Vergütung als der, der seinen Strom lediglich ins
chen geführt. Selbst ein namhafter Vertreter der Branche Netz speist. Damit geben wir einen technologisch neu-
sagt, dass die Branche Speck angesetzt hat. Genau das tralen Anreiz zum intelligenten Umgang mit Strom bis
tut Deutschland angesichts wachsender internationaler hin zur Entwicklung und dem Einsatz von Speichertech-
Konkurrenz nicht gut. Es tut auch der Akzeptanz des nik. Das ist für das Energieversorgungssystem in
EEG auf lange Sicht nicht gut. Deutschland und auch für die Zukunft der erneuerbaren
Energien dringend nötig.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir richten deshalb die Förderung der Fotovoltaik so Aber das kann nur der Anfang sein. Wir brauchen ei-
aus, dass wir sie wieder mit gutem Gewissen vor den nen intelligenteren Umgang mit Strom, eine intelligente
Bürgerinnen und Bürgern vertreten können. Den Men- Steuerung des Verbrauchs im eigenen Haus bis hin zu in-
schen, die den Boom bezahlen, ist es egal, ob wir das telligenten Netzen. So wird die Zukunft der Energiege-
Subventionen, Förderung, Markteinführungshilfe oder winnung und die Zukunft der Energienutzung im Be-
wie auch immer nennen. reich der Fotovoltaik aussehen müssen. Dazu müssen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3873
Dr. Christian Ruck
(A) wir aber noch etliche Schritte gehen. Hierzu dient auch Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
die uns heute vorliegende Novelle des EEG. Kollege Ruck, Sie sprechen jetzt auf Kosten Ihrer
Kollegen.
Ich möchte bekennen, dass auch wir etwas als Fehl-
steuerung ansehen. Wir haben dafür gekämpft – das war
auch bei uns mit heftigen Diskussionen verbunden –, Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
dass wahr wird, was wir beschlossen haben, nämlich – müssen wir mit den ökonomischen Instrumenten er-
vom Acker weg aufs Dach, und zwar nicht nur aus ir- reichen, die wir haben. Sonst werden wir diese Aufgabe
gendwelchen ökonomischen Gründen – es gibt gute nicht schultern können.
Gründe, das ganz anders zu sehen, siehe Anhörung –,
sondern auch aus grundsätzlichen Erwägungen. Diese Vielen Dank.
Erwägungen muss man nicht teilen, aber wir haben diese (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Erwägungen angestellt und insofern die entsprechenden
Konsequenzen daraus gezogen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Ulrich Kelber [SPD]: „Grundsätzlich“ ist das Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch für
deutsche Wort für „ideologisch“!) die SPD-Fraktion.
Das hat etwas mit der Frage zu tun, was wir mit unseren (Beifall bei der SPD)
Äckern, Landschaften, Wiesen in Zukunft anfangen wol-
len.
Dr. Matthias Miersch (SPD):
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Stoppen Sie den Maisanbau! Der ist viel Lieber Herr Kollege Ruck, wenn Sie sagen, dass diese
schlimmer!) Novelle der Auftakt zu zukünftigen Gesetzen in Sachen
zukünftiger Energieversorgung, die die Regierung und
– Frau Höhn, das eine widerspricht nicht dem anderen. die Mehrheit des Bundestages vorhat, sein soll, dann
Man muss über alles dieselben Kriterien ansetzen; da ha- schwant mir Böses. All diejenigen, die in irgendeiner
ben Sie vollkommen recht. Form dieses stoppen können, sind aufgerufen – zum ers-
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten Mal bei der NRW-Wahl am Sonntag –, diese falsche
NEN]: Stoppen Sie den Autobahnbau! Da Politik zu beenden.
wächst nichts mehr!) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
(B) – Auch darüber kann man diskutieren, aber heute ist die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der (D)
Novelle des EEG dran. CDU/CSU: Hier ist doch nicht Wahlkampf!)

Bei dem Beschluss für diese Novelle handelt es sich Herr Kollege Ruck, wenn Sie hier eine Ruck-Rede
also um eine Grundsatzentscheidung, worüber man auch zugunsten dieser Novelle halten, dann sage ich Ihnen: Es
anderer Meinung sein kann. wäre schön gewesen – dies ist ein Anspruch, den Politik
haben sollte –, wenn man sich mit Sachverständigen-
Diese Novelle ist der Auftakt zu einer intensiven Dis- voten auseinandergesetzt hätte. Wir haben im Umwelt-
kussion um die Zukunft unserer Energieerzeugung und ausschuss eine Sachverständigenanhörung durchge-
um die Zukunft der Klimaverträglichkeit dieser Energie- führt. Die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen
erzeugung. Der Rahmen für unsere Energiepolitik ist die hat bei dieser Anhörung gesagt, das, was Sie hier vorha-
Erreichung der Klimaziele. ben, gefährdet den Fortschritt der Bundesrepublik
Deutschland in dieser Technologie und viele Tausende
von Arbeitsplätzen in Deutschland.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Ruck, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
[SPD]: Selbst die eigenen Sachverständigen!)
Jawohl. – Dieser Rahmen heißt: 30 Prozent Anteil der Wenn man selbst den Sachverständigen nicht glaubt,
erneuerbaren Energien an der Stromversorgung im Jahre dann sollte man wenigstens den eigenen Kolleginnen
2020. und Kollegen glauben. Ich sage Ihnen: Schauen Sie ein-
mal, was Ihre Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat
(Ulrich Kelber [SPD]: Mindestens 30 Pro- für Warnungen ausgestoßen haben. Wenigstens das hätte
zent!) Sie dazu bewegen müssen, hier an der einen oder ande-
– Mindestens, ja; das ist der Rahmen. ren Stelle etwas zu ändern. Aber auch hier, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, waren
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie auf beiden Ohren taub.
NEN]: Das heißt, 70 Prozent aus Atom und
Kohle!) Gestern haben wir eine sehr bedeutende Vorstellung
im Umweltausschuss durch den Sachverständigenrat für
Dieses Ziel und das Ziel der CO2-Reduktion um Umweltfragen erlebt. Der Sachverständigenrat hat uns
40 Prozent bis 2020 – das erste Mal, wissenschaftlich begleitet, gezeigt, dass
3874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Dr. Matthias Miersch


(A) bis 2050 eine Versorgung von 100 Prozent mit Erneuer- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Nein!) (C)
baren möglich ist.
Sie streichen bei den kommunalen Klimaschutzprogram-
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men. Sie streichen bei den Marktanreizprogrammen. Sie
NEN]: Bis 2030 sogar!) machen das Gegenteil von dem, was die Effizienz stei-
gern soll. Es kann doch nicht wahr sein, dass man sich
Er hat gesagt, dass es eine Mär ist, im Zusammenhang dann hier hinstellt und sagt: Wir machen zukünftige Kli-
mit den Erneuerbaren von einer Stromlücke zu reden. Er mapolitik.
hat gesagt, dass es für die Verbraucherinnen und Ver-
braucher sogar kostengünstiger sein wird, auf erneuer- Drittens. Sie kürzen die Mittel und gefährden in un-
bare Energien zu setzen. Er hat gesagt, dass hier, in den verantwortlicher Weise genau den Bereich, auf den es
erneuerbaren Energien, das Potenzial liegt. ankommen wird, nämlich den Bereich der Erneuerbaren.
Dieser Sachverständigenrat hat aber auch gesagt, dass Um Ihnen ein aktuelles Feedback zu geben, will ich
all das nur möglich ist, wenn wir die erneuerbaren Ener- Ihnen ein paar Dinge aus meinem Wahlkreis, aus Hanno-
gien schnell ausbauen. Er hat gesagt, dass wir den Aus- ver, sagen. Erstes Beispiel. Die CDU-Bürgermeister
bau der Stromnetze brauchen. Er hat gesagt, dass wir uns sagen: Wir haben vor Ort mit Klimaschutzmaßnahmen
nicht auf Nebenkriegsschauplätze begeben dürfen begonnen. Bei uns ist viel unterwegs. Die Mitteilungen
– Stichwort: Hoffnung auf den Ausstieg aus dem Aus- aus Berlin über Kürzungen gefährden jahrelange Auf-
stieg aus der Atomenergie –, weil das eine Sackgasse sei. bauarbeit. Sie, Herr Röttgen, wollen die kommunalen
Er hat auch gesagt, dass wir eine Investition in Effizienz Klimaschutzprogramme, die auf den Weg gebracht wor-
brauchen. den sind, rückwirkend stoppen. Ihre eigenen Kommunal-
politiker werfen Ihnen diese Politik vor. Lassen Sie die
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU Finger davon, und heben Sie endlich diese Sperre auf.
und FDP, lieber Bundesminister Röttgen, wenn Sie sich
dieses Gutachten des Sachverständigenrates ansehen und (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
dann vergleichen, was Sie heute hier und aktuell auch in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
anderen Politikbereichen tun, dann sehen Sie, dass Sie Zweites Beispiel. Selbst die Handwerkskammer in
genau das Gegenteil beschließen und damit all diese Hannover fragt: Wo liegt das Potenzial der Zukunft? –
hehren Ziele gefährden. Das liegt im Bereich der Effizienz und im Bereich der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erneuerbaren. Selbst der Geschäftsführer der Hand-
werkskammer in Hannover sagt: Genau diese Entschei-
Ich frage Sie, Herr Bundesminister Röttgen: Wie dungen gefährden Investitionen, gefährden Investitions-
(B) lange wollen Sie sich von den Kolleginnen und Kollegen sicherheit, gefährden Vertrauen in diese Investitionen (D)
am Nasenring durch die Manege führen lassen? Wie und damit sehr viele Arbeitsplätze im Mittelstand. – Ich
lange wollen Sie sich demütigen lassen, wenn es um finde, auch auf diese Leute sollten Sie in solchen Stun-
MAP und all diese Programme geht, die genau die Ziele, den einmal hören.
die Sie immer wieder proklamieren und sogar noch diese
Woche proklamiert haben, konterkarieren? Das ist alles (Beifall bei der SPD sowie des BÜNDNIS-
andere als eine glaubwürdige Politik. Wenn man glaub- SES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]:
würdig sein will, dann muss man sich hier hinstellen und Seine eigene Handwerkskammer im Rhein-
sagen: Damit kann ich die Umweltziele, für die ich stehe Sieg-Kreis hat sich doch auch beschwert! –
und für die ich auf internationaler Ebene werbe, nicht er- Abg. Ingbert Liebing [CDU/CSU], an den
reichen. Das müssen Sie hier heute machen. Ich frage Abg. Ulrich Kelber [SPD] gewandt: Tun Sie
mich wirklich, wie lange Sie in Ihrer Rolle überhaupt doch nicht so, als ob alles abgeschafft würde!
noch bestehen können. Es kann keine glaubwürdige Das ist doch Blödsinn!)
Politik sein, wenn man genau das Gegenteil dessen tut, Ich glaube, dass man sich hierbei wirklich sehr beson-
was die Sachverständigen empfohlen haben. nen angucken sollte, wo Förderungen angezeigt sind und
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wo sie zurückgenommen werden sollten. Da Sie von
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Profit von einigen wenigen reden, wünsche ich mir, dass
LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Lahme Ente wir diese Diskussion vor allen Dingen auch dann einmal
schon nach einem halben Jahr!) führen, wenn es um Profite der großen Konzerne geht,
die dadurch entstehen, dass Sie den Beschluss über den
Ich will das an drei Punkten deutlich machen. Erstens. Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig machen wol-
Sie sprechen von einer Laufzeitverlängerung. Dabei hat len. Wer redet bei Ihnen eigentlich darüber?
uns der Sachverständigenrat eindeutig gesagt, das ist ein
völliger Irrweg. Ich hoffe, dass dieser Spuk spätestens (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
am Sonntag durch die Änderung der Bundesratsmehrheit der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
vorbei ist. GRÜNEN)

(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Schon wieder Wer redet darüber, dass all das, was wir augenblick-
Wahlkampf!) lich befürchten, in Spanien bereits erkennbar gewesen
ist, wo man in unverantwortlicher Weise gekappt hat und
Zweitens. In Sachen Effizienz gehen Sie genau in die wo genau diese Zukunftsbranche in den Keller gegangen
falsche Richtung. ist? Es gibt diese Beispiele. Ich wünsche mir, dass Sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3875
Dr. Matthias Miersch
(A) sich mit diesen Argumenten einmal hätten auseinander- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
setzen können. Dann wäre vielleicht ein bisschen Spiel- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
raum gewesen. Sie haben doch die erneuerbaren Energien ka-
puttgemacht!)
Wir haben alternative Anträge eingebracht. Sie sind
darauf nicht eingegangen. Ich glaube, dieses ist alles an- Im Übrigen: Kein Bürger, der sich für Solarenergie in
dere als eine zukunftsfähige Energiepolitik, Herr Ruck. Nordrhein-Westfalen einsetzt, wird wollen, dass die Alt-
Nein, das geht in die völlig falsche Richtung. kommunisten aus der Linken in Nordrhein-Westfalen in
die Regierung kommen. Wegen der Leute, die dort mit
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ihnen in die Regierung wollen, schütteln sich ja schon
Herr Kollege. die meisten Ostlinken.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Dr. Matthias Miersch (SPD): Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ich hoffe, Sie besinnen sich irgendwann noch in die- Was hat das denn mit dieser Debatte zu tun?
ser Legislaturperiode. Ansonsten sieht es, glaube ich, Sie machen hier Wahlkampf!)
schlecht für die Zukunft der Energiepolitik hier in der Wir werden deshalb hier und heute über eine gute, zu-
Bundesrepublik Deutschland aus. kunftsfähige Reform der Solarförderung reden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Die Kosten für Solarmodule sind drastisch gefallen,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und ich glaube, es ist fair, dass die Verbraucherinnen und
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Verbraucher von diesen Kostensenkungen profitieren;
LINKEN) denn wir machen Umweltpolitik für die Menschen in
diesem Land, für die Verbraucherinnen und Verbraucher,
für die Familien, die mit ihren Stromrechnungen die er-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: neuerbaren Energien finanzieren, und wir machen sie
Für die FDP spricht der Kollege Michael Kauch. nicht, damit Anleger Traumrenditen erzielen. Das ist die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Politik von Rot-Grün: möglichst viel Geld für diejeni-
der CDU/CSU) gen, die anlegen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Michael Kauch (FDP): Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Was ist mit den großen NRW-Konzernen?)
(B) Miersch, es wäre schön gewesen, wenn Sie darüber (D)
Das ist die Umverteilung von unten nach oben, die Sie
gesprochen hätten, was auf der Tagesordnung steht,
ansonsten anprangern.
nämlich über die Solarförderung.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall der Abg. Gisela Piltz [FDP] – Horst
25 Prozent Rendite sind bei der FDP immer
Meierhofer [FDP]: Das war inhaltsleer!)
drin! Das, was Sie da erzählen, können Sie
Sie haben einen Rundumschlag über die Klimapolitik doch selber nicht glauben!)
gemacht. Das hatten wir heute Morgen schon, als das auf
Deshalb ist es richtig, dass wir die Kostensenkungen
der Tagesordnung stand. Dadurch haben Sie wieder ein-
an die Verbraucher weitergeben. Das ist auch tragfähig;
mal deutlich gemacht, dass es Ihnen um nichts anderes
denn wir machen das sehr maßvoll. Die Wettbewerbsfä-
als darum geht, hier Wahlkampfbotschaften zu senden.
higkeit der Solarbranche wird in vollem Umfang erhal-
Nachdem ich das hier so gehört habe, muss ich Sie ten bleiben.
schon fragen: Was würde denn mit Solarfirmen in Nord-
(Ulrich Kelber [SPD]: Sagt wer? Wer außer Ih-
rhein-Westfalen passieren, wenn Rot-Rot-Grün in dem
nen?)
Land regieren würde?
Das Ausbauziel für Solaranlagen ist in diesem Ge-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
setzentwurf gegenüber dem, was der SPD-Umweltmi-
Besser als bei Ihnen wäre das allemal!)
nister Gabriel damals verabschiedet hat, um mehr als
Die Investitionsbedingungen würden dann so sein, wie 50 Prozent gesteigert worden.
sie 2005 waren, als NRW bei den Investitionsbedingun- (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist die Unwahrheit!
gen auf dem letzten Platz lag. Wir haben NRW nach Es gab kein Ausbauziel!)
vorne gebracht. Es ist ein Aufsteigerland geworden. Mit
Ihnen – Rot-Rot-Grün – würde es wieder ein Absteiger- Deshalb ist es ein Märchen, dass hiermit die Solarbran-
land werden, che kaputtgemacht werde.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Das entscheiden die Bürgerinnen und Bürger Ulrich Kelber [SPD]: Das ist die Unwahrheit,
und nicht Sie!) was Sie sagen!)
und zwar auch für die Solarindustrie. Sie würde dann Ich kann nur Kai Lippert vom Bundesverband Solar-
auch nicht mehr in NRW investieren wollen. wirtschaft zitieren, der im Bauernblatt-Sonderdruck ge-
3876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Michael Kauch
(A) sagt hat, dass die Lage zwar schwierig sei, aber „Photo- hinzugenommen. Falls sich herausstellen wird, dass (C)
voltaikanlagen weiterhin eine attraktive … Geldanlage“ nicht genügend Flächen für die Fotovoltaik vorhanden
seien. sind, kann man gegebenenfalls im Rahmen der großen
EEG-Novelle im Jahre 2012 Veränderungen vornehmen.
(Horst Meierhofer [FDP]: Sind sie ja auch!)
(Ulrich Kelber [SPD]: Dann können Sie ja die
Der Verband hat bei der Anhörung in unserer Fraktion
Betriebe wieder aufbauen!)
das eine gesagt, im Bauernblatt-Sonderdruck das andere.
Es ist ganz klar: Wenn ich Interessenvertreter wäre und Ich möchte in Richtung der SPD eines deutlich sagen:
etwas gekürzt werden sollte, dann würde auch ich mit Wir haben einen Punkt an diesen Gesetzentwurf ange-
Sicherheit schreien. hängt, nämlich die Härtefallregelung für energieintensive
Unternehmen, die aufgrund eines BGH-Urteils ihre An-
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
träge nicht mehr fristgerecht stellen konnten, obwohl sie
GRÜNEN]: Das tun Sie ja auch immer!)
tatsächlich energieintensiv sind. Die SPD-Fraktion war
Wir müssen aber einmal realisieren, dass die Vertreter im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages die
der Verbraucher viel größere Kürzungen gefordert ha- einzige Fraktion, die gegen diese Regelung gestimmt
ben. Das, was wir gemacht haben, ist ein sehr fairer Mit- hat. Das ist eine Politik gegen die Chemieparks wie etwa
telweg zwischen den Forderungen der Verbraucherschüt- in Marl und Krefeld. Darüber sollte eine Partei, die einst
zer und den Forderungen der Branche. die Arbeiter in diesem Land vertreten wollte, einmal
nachdenken.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Vielen Dank.
Wir von der FDP haben insbesondere darauf gedrun- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
gen – es ist uns tatsächlich gelungen, dies im neuen Ko- der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist
alitionskompromiss zu verankern –, dass wir in diesem erneut die Unwahrheit! Sie sagen laufend die
Jahr die Kostensenkungen umsetzen, aber im nächsten Unwahrheit am Rednerpult! Sie sollten sich
Jahr eine sehr maßvolle Degression vornehmen, damit schämen! Herr Kauch, was Sie machen, ist ei-
wir nicht zu viel auf einmal absenken und die Unterneh- nes Parlaments unwürdig! Sie haben erneut die
men weder überfördern noch überfordern. Wir würgen Unwahrheit gesagt!)
die Unternehmen eben nicht ab; vielmehr erhalten sie im
nächsten Jahr eine Möglichkeit zum Durchatmen: Im Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Vergleich zu dem, was sonst vorgesehen war, flachen wir Ralph Lenkert hat das Wort für die Fraktion Die
die Degression ab. Wir haben also maßvoll agiert. Linke.
(B) (D)
Es ist uns gelungen, den Vertrauensschutz für Investo- (Beifall bei der LINKEN)
ren deutlich zu verbessern. Beispielsweise hatten Haus-
besitzer, die wegen des harten Winters ihre Module nicht
Ralph Lenkert (DIE LINKE):
auf dem Dach anbringen konnten, dank der von den Ko-
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
alitionsfraktionen durchgesetzten Änderungen drei Mo-
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, ermöglichte
nate mehr Zeit, ihre Anlagen zu installieren. Das ist ein
das Entstehen von Firmen, die im deindustrialisierten
gutes Ergebnis. Wir, die Koalitionsfraktionen, haben er-
Osten für neue Arbeitsplätze und neuen Lebensmut ge-
reicht, dass jeder Hausbesitzer, der eine Anlage auf dem
sorgt haben. Insbesondere dank der Solarbranche sank
Dach anbringen wollte, dies zu den alten Konditionen
zum Beispiel die Arbeitslosenquote in der Region Erfurt
umsetzen konnte. Auch bei den Freiflächenanlagen ha-
von 19 Prozent im Jahr 2005 auf 12 Prozent im Jahr
ben wir den Vertrauensschutz verbessert, allerdings nicht
2009. Das ist ein Riesenerfolg. So weit, so gut.
so sehr, wie wir Liberale uns das gewünscht hätten. Sol-
che Gesetze sind eben immer auch Kompromisse. (Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE
LINKE])
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
ist ein Abwürgen, kein Vertrauensschutz!) Zum 1. Januar 2010 sank die Einspeisevergütung für
Solarstrom aber um 9 Prozent. Zum 1. Januar 2011 wird
Herr Ruck, es sei mir erlaubt, einen Punkt anzuspre-
sie, das ist seit längerem geplant, um weitere 9 bis
chen, bei dem Sie gesagt haben, man könne das auch an-
11 Prozent sinken. Das ist viel. Jetzt will die Regierung
ders sehen: Ja, wir sehen das anders; der Ausschluss der
die Vergütung zum 1. Juli um weitere 16 Prozent senken.
Ackerflächen war nicht unsere Idee.
Das können die Firmen nicht verkraften. Die Folgen sind
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsicherheiten bei Firmen und Ängste bei den Beschäftig-
Und warum tragen Sie es dann mit?) ten. Geplante Fertigungsanlagen für Solarprodukte wurden
nicht mehr gebaut, und bestehende Fertigungsanlagen
Aber auch hier gilt: Eine Koalition bedeutet immer ein
sind akut gefährdet.
Geben und ein Nehmen. Die Union hat sich beim Aus-
schluss der Ackerflächen durchgesetzt. Wir haben uns bei In einem Interview mit der Financial Times Deutsch-
der Ausweitung der Konversionsflächen durchgesetzt, bei land vom 13. April dieses Jahres ließ uns der Chef von
denen es zu einer deutlich geringeren Degression als bei SCHOTT Solar, Martin Heming, wissen, wegen der zum
anderen Standorten kommt, und die Randstreifen von Ver- 1. Juli sinkenden Förderraten steige der Druck, kosten-
kehrswegen sowie Verkehrs- und Wohnungsbauflächen günstig zu produzieren; denkbar sei eine neue Fertigung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3877
Ralph Lenkert
(A) in China. Investitionen in neue Fabriken oder Erweite- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Warum denn (C)
rungen in Deutschland seien wegen der politischen Lage nicht? Haben Sie das Gesetz mal gelesen?)
nicht mehr geplant. Sie, meine Herren und Damen von
CDU/CSU und FDP, ignorieren alle Einwände gegen die Dass bei ihrer Gewinnsicherung für die gierigen vier
geplanten Kürzungen. Konzerne ein paar mittelständische Solarunternehmen in
Ostdeutschland mit 50 000 Beschäftigten hinten runter-
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das fallen, ist den Koalitionären egal. Kollateralschäden gab
stimmt nicht!) es halt schon immer.
Sie ignorieren die Proteste der Beschäftigten und Ge- (Beifall bei der LINKEN)
werkschaften. Sie wischen selbst die Warnungen von In-
dustrieverbänden vor dem Verlust von Arbeitsplätzen Als Ausgleich spendieren Sie eine zusätzliche Förderung
und der Technologieführerschaft vom Tisch. Ich frage der Solarforschung: 100 Millionen Euro in vier Jahren.
mich: Warum ignorieren Union und FDP im Bundestag Laut Greenpeace wurden Atomkraftwerke in 60 Jahren
sogar die Bitte von Ministerpräsidentin Lieberknecht, mit 165 Milliarden Euro unterstützt. Die Förderung der
CDU Thüringen, und die Entschließung des Bundesrates? Solarindustrie erreicht bei dauerhafter Beibehaltung des
jetzigen Gesamtniveaus die Höhe der Atomförderung
(Horst Meierhofer [FDP]: Was hat die mit uns – also 165 Milliarden Euro – in „nur“ 3 300 Jahren. An-
zu tun?) ders gesagt: Pro Jahr fördern Sie die Solarindustrie mit
so viel Geld, wie der Castortransport pro Jahr kostet,
Der Schutz der Verbraucher vor zu hohen Strompreisen
wenn Sie die Laufzeit für Atomkraftwerke verlängern.
kann es nicht sein. Wir zahlen 2 Cent je Kilowattstunde
Die 100 Millionen Euro sind die 30 Silberlinge, damit
zusätzlich für die erneuerbaren Energien, aber seit 2006 die Landesregierungen stillhalten.
stiegen die Strompreise um 4 Cent je Kilowattstunde,
und das ohne Gegenleistung und ohne Kostengründe. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Genau! Das ist die Monopolstruktur!) Die Linke fordert in ihrem Antrag, die verheerende
Kürzung der Einspeisevergütung durch die Regierung zu
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: verhindern. Wir setzen auf eine kalkulierbare Verringe-
Herr Kollege Lenkert, möchten Sie eine Zwischen- rung der Einspeisevergütung. Die Verringerung soll zur
frage zulassen? Vermeidung von Auftragsspitzen nicht ein Mal im Jahr,
sondern schrittweise erfolgen. Der vorliegende Antrag
brächte die notwendige Zeit für die Anpassungen in der
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Solarbranche.
(B) (D)
Nein. – Es ging Ihnen nur um Gewinnerhöhung, Bo-
nussteigerung und Aktionärsbeglückung. Ginge es Ihnen (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Genau!
wirklich um die Verbraucher, hätten Sie diesen Miss- Und Investitionsfreiheit!)
brauch der Marktmacht verhindert.
In den Solarbetrieben zwischen Ostsee und Bodensee,
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten also auch bei SCHOTT in Jena und Q-Cells in Thalheim,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) warten Menschen auf das Resultat der Abstimmung.
Auch heute geht es Schwarz-Gelb vor allem um ei- Viele der jetzigen Beschäftigten der Solarbranche haben
nes: die Gewinnsicherung für Großkonzerne. jahrelang ALG II oder Hartz-IV bezogen. Manche haben
Kinder, die 2009 das erste Mal in ihrem Leben mit ihren
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) Eltern in einen Urlaub fahren konnten. Von unserer Ent-
scheidung hängt es ab, ob das Schreckgespenst Hartz IV
Mit geplanten Laufzeitverlängerungen für Atomkraft-
in die Wohnungen zurückkehrt oder ob es auch 2011 ei-
werke fing es an. Nun geht es um die Sicherung des
nen Familienurlaub gibt.
Stromerzeugungsmonopols für Eon, RWE, Vattenfall
und EnBW durch die Änderung des EEG. (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Blanke Dema-
(Beifall bei der LINKEN) gogie! – Gegenruf von der SPD: Das ist die
Wahrheit!)
Der umweltfreundliche Solarstrom hat das größte Po-
tenzial dezentral, monopolbrechend erzeugt zu werden. Ob die heute 500 Azubis dieser Branche in Thüringen zu
Mit geringem Investitionsvolumen kann man Strom Hause bleiben können oder westwärts ihr Glück suchen
produzieren, nicht viel je Modul, aber an vielen Orten. müssen, auch das hängt von unserer Entscheidung ab.
Solange sich kleine Anlagen rechnen, kann man die Wir Abgeordnete sind nicht den Gewinnen der Kon-
dezentrale Erzeugung kaum verhindern. Aber mit der ra- zernzentralen von Eon in Düsseldorf, EnBW in Karlsruhe,
dikalen Kürzung der Einspeisevergütung müssen die RWE in Essen oder Vattenfall in Stockholm verpflichtet.
Anlagenkosten je installierter Kilowattstunde deutlich Meinen Kollegen aus Ostdeutschland und insbesondere
sinken. Wer erhält die großen Preisrabatte bei Herstellern aus Thüringen sei gesagt: Zerstören Sie nicht die Hoff-
und Installationsfirmen? Familie Meyer mit 20 Quadrat- nung der Menschen in der Solarbranche! Blasen Sie einer
metern Dachfläche oder der Betreiber der 10 000 Qua- Zukunftsindustrie nicht das Licht aus!
dratmeter im Solarpark? Wo kann man bei den viel nied-
rigeren Zuschüssen für Solarstrom noch wirtschaftlich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Strom erzeugen? Auf Meyers Dach jedenfalls nicht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
3878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mussten langfristige Lieferverträge abschließen. Sie be- (C)
Der Kollege Grund hat das Wort zu einer Kurzinter- rücksichtigen nicht, dass die hiesigen Firmen von der
vention. EEG-Vergütung leben mussten und dass die chinesische
Regierung – im Gegensatz zu Ihnen – die Zeichen der
Manfred Grund (CDU/CSU): Zeit erkannt hat und den chinesischen Firmen Milliar-
Herr Kollege Lenkert, ich nehme Ihre Aufforderung di- denkredite zu extrem günstigen Konditionen zur Verfü-
rekt an. Sie haben in Ihrer Rede den Eindruck vermittelt, gung stellt. Das ist übrigens ein Punkt, der in unserem
dass Arbeitsplätze in Solarmodulfirmen, insbesondere in Antrag steht und den Sie genauso ignorieren.
Ostdeutschland, durch die anstehenden Kürzungen ge- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS
fährdet werden. Wir kürzen die Einspeisevergütung. Es 90/DIE GRÜNEN)
gibt keinen Zuschuss zum Beispiel für Firmen in Erfurt,
sondern im Rahmen der Einspeisevergütung einen Zu- Sie berücksichtigen nicht, dass der chinesische Staat den
schuss für diejenigen, die Solarmodule auf dem Dach einheimischen Markt mit einem Schutzzoll von 17 Pro-
haben oder auf Freiflächen stellen. Bei der Einspeisever- zent gegen die Einfuhr von Solarmodulen aus der Bundes-
gütung wird nicht unterschieden, ob ein Solarmodul in republik abriegelt. Unseren Antrag, dies zu korrigieren,
Erfurt hergestellt wurde oder aus Taiwan, China oder In- haben Sie ebenfalls abgelehnt.
dien kommt. Bereits heute kommt die Hälfte der in Ich frage mich, wie Sie behaupten können, dass Sie
Deutschland eingebauten Solarmodule aus dem Ausland, wirtschaftlichen Sachverstand hätten. In meiner Firma
und das bei einer hohen Einspeisevergütung von rund jedenfalls hätten Sie keinen Monat überlebt.
39 Cent pro Kilowattstunde. Das heißt, wir fördern mit
der Solarförderung nicht unbedingt die Arbeitsplätze, die (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
wir fördern wollen, sondern Arbeitsplätze in Asien. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Frank Schwabe [SPD]: Demnächst sind alle
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Arbeitsplätze in Asien!)
Hans-Josef Fell hat das Wort für Bündnis 90/
Das kann nicht das Ziel sein. Das ist der erste Punkt. Die Grünen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
ruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
GRÜNEN]) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute wird in diesem Hohen Hause das erste be-
Das Zweite ist: Auch Sie sind vom DGB und vom deutende energiepolitische Gesetzesvorhaben unter der
(B) Stahlwerk in Thüringen angeschrieben und gebeten wor- schwarz-gelben Koalition verabschiedet. Unter dem (D)
den, als Politiker nichts mehr zu tun, was den Strompreis Deckmantel schöner Reden und guter Formulierungen
in Deutschland – und sei es nur um 1 oder 2 Cent – in die im Koalitionsvertrag bremsen Sie aber in Wirklichkeit,
Höhe treibt. meine Damen und Herren von der Koalition, das Wachs-
(Weiterer Zuruf der Abg. Bärbel Höhn tum der erneuerbaren Energien aus.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ihre Motivation dafür ist uns klar: Sie wollen aus-
Das, was Ihrer Rede zugrunde liegt, und das Geschrei schließlich die Interessen der Atom- und Kohlewirt-
von Frau Höhn gefährden bestehende Arbeitsplätze in schaft bedienen.
Deutschland. (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) CSU]: So ein Quatsch!)
Sie schreiben in der Begründung zur heute vorliegenden
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gesetzesnovelle zur Solarvergütung, dass die vorgesehe-
Der Kollege Lenkert hat das Wort zur Erwiderung auf nen Maßnahmen in ihrer Kombination grundsätzlich
die Kurzintervention. dazu geeignet seien, den Zubau zu verlangsamen und
den derzeitigen, übermäßigen Ausbau auf eine Größen-
Ralph Lenkert (DIE LINKE): ordnung zurückzuführen, die für die Erreichung der
Kollege Grund, ich weiß nicht, wie oft Sie in China deutschen Ausbauziele ausreichend sei.
Investitionen getätigt oder gearbeitet haben. Ich weiß (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/
auch nicht, welche wirtschaftlichen Kenntnisse Sie haben. CSU]: Sehr richtig!)
Ich jedenfalls komme aus der Wirtschaft
Was sind denn Ihre Ziele? Bis 2020 wollen Sie einen
(Lachen bei der CDU/CSU) Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeu-
gung von gerade einmal 30 Prozent erreichen, obwohl
und sage Ihnen: Wenn der Markt wegbricht, dann setzt
die Branche der erneuerbaren Energien längst aufgezeigt
niemand mehr etwas ab. Sie lassen gerade den Markt
hat, dass bis 2020 circa 50 Prozent möglich sind. Im
wegbrechen.
Umweltausschuss haben die Berater der Bundesregie-
Sie berücksichtigen nicht die spezielle Situation der rung vom SRU gestern gesagt, dass in Deutschland bis
hiesigen Branche. Es gab einen starken Boom und einen 2030 sogar eine hundertprozentige Stromversorgung
sehr starken Einkaufspreisdruck. Das heißt, die Firmen über erneuerbare Energien möglich ist, wenn man beste-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3879
Hans-Josef Fell
(A) hende Kraftwerke frühzeitig abschaltet. Die Branche der Aber genau hier setzen Sie an; Sie nehmen eine Gefähr- (C)
erneuerbaren Energien schaffe das spielend, so Herr dung der Technologieführerschaft in Kauf.
Hohmeyer in seiner Darstellung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
sowie bei Abgeordneten der SPD) Herr Fell, Sie haben die Chance, Ihre Redezeit weiter
zu verlängern, weil auch Herr Kauch etwas fragen
möchte.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Kollege Fell, es gibt einen Wunsch nach einer Zwi- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
schenfrage des Kollegen Hirte. Sind Sie auch gegen Wachstum?)

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Gerne. Oh ja, ich streite mich gerne mit Herrn Kauch.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


Bitte schön. Bitte schön.

Christian Hirte (CDU/CSU): Michael Kauch (FDP):


Herr Kollege, ich glaube, wir sind uns einig, dass es
Herr Kollege Fell, stimmen Sie mir zu, dass es pro-
notwendig ist, die Fotovoltaik aus Gründen der Techno-
blematisch ist, wenn wir in Deutschland teilweise einen
logiepolitik zu fördern. Die Fotovoltaik ist eine Techno-
Zubau – 60 Prozent der weltweit produzierten Module –
logie, die auf dem Weltmarkt auf lange Sicht sehr erfolg-
haben? Stimmen Sie mir auch zu, dass Deutschland
reich sein wird. Natürlich wollen wir – das haben auch
nicht die beste Zone für solare Strahlungsenergie ist?
Sie deutlich gesagt – auf diesem Gebiet Technologiefüh-
(Zuruf von der SPD: Aua!) rer sein. Ich war sehr überrascht über Ihre Argumenta-
tion, dass dies alles gekürzt werde, damit die Atom- und
Stimmen Sie mir vor diesem Hintergrund zu, dass es die Kohlelobby besondere Erfolge verzeichnen könnten.
sinnvoll wäre, diese Module in Deutschland herzustel-
len, dass es aber nicht sinnvoll wäre, sämtliche herge- Können Sie meiner Feststellung zustimmen, dass der
stellten Module hier zu installieren? Beitrag der Fotovoltaik an der Stromerzeugung momen-
tan etwa 1 Prozent und der Anteil der erneuerbaren
(B) (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des Energien an der Stromerzeugung insgesamt gut 15 Pro- (D)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zent betragen und dass die Frage, ob Kohle oder Nuklear-
strom in Zukunft möglicherweise einen geringeren Anteil
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): haben, nicht von der Frage der Solarförderung abhängig
Herr Kollege, in der Tat gibt es in der Welt Regionen, ist, sondern dass sie vielmehr von den Bereichen ab-
in denen die Solarstrahlung höher ist als in Deutschland. hängt, die von dieser Novelle überhaupt nicht tangiert
Ich stimme Ihnen deswegen aber nicht zu, dass in werden, nämlich von den Bereichen Wind, Wasser und
Deutschland kein ausreichendes Potenzial für Solarener- Biomasse, die einen viel höheren Anteil an der Stromer-
gie vorhanden ist. Ganz im Gegenteil: Würden Sie bei- zeugung haben als die Fotovoltaik?
spielsweise nur die deutschen Dächer mit Solarstroman- (Ulrich Kelber [SPD]: Hans-Josef, erklär’ es
lagen belegen, könnten Sie genug Strom erzeugen, um ihm mal!)
den gesamten Strombedarf in Deutschland zu decken.
Ich sage das nur, um Ihnen die Augen dafür zu öffnen,
wie groß das Potenzial hier ist. Wir haben genügend Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sonne. Herr Kollege Kauch, wir streiten im Bundestag schon
lange über die Solarförderung und die Solarindustrie. Ich
(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ kann mich an jahrelange Auseinandersetzungen im Um-
CSU]: Haben Sie sich über die Kosten einmal weltausschuss erinnern, in denen Sie immer wieder ge-
Gedanken gemacht?) sagt haben, dass die Solarindustrie gar keine sinnvolle
Industrie sei, dass ihre Förderung hinausgeworfenes
Das zweite Argument ist: Wer einen Binnenmarkt im
Geld sei usw. Erst im letzten Jahr haben Sie die Kurve
eigenen Land eröffnet, wird auch die Technologieführer-
gekriegt und das Erneuerbare-Energien-Gesetz als das
schaft haben. Genau darum geht es; denn die Fotovoltaik
entscheidende Instrument für Technikförderung und In-
wird einer der größten Zukunftsmärkte der Welt sein. Es
novationskraft anerkannt. Das ist das eine.
ist ganz wichtig, dass wir die Technologieführerschaft
Deutschlands, die wir in den letzten zehn Jahren, ange- Dieses Gesetz hat erst vor wenigen Jahren gegriffen.
fangen mit Rot-Grün, aufgebaut haben, behalten. Vor zehn Jahren hat die Fotovoltaik gerade einmal
0,0001 Prozent zur bundesdeutschen Stromerzeugung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, beitragen können.
bei der SPD und der LINKEN – Axel E.
Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Die (Michael Kauch [FDP]: Können Sie die Zah-
sozial Schwachen müssen das alles bezahlen!) len denn nun bestätigen?)
3880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Hans-Josef Fell
(A) Heute sagen Sie, dass es schon weit mehr als 1 Prozent Meine Damen und Herren, Sie stört nicht einmal die (C)
ist; in Bayern sind es übrigens schon 3 Prozent. heftige Kritik aus den eigenen Reihen. Herr Ruck, ich zi-
tiere Ihren Parteivorsitzenden Horst Seehofer. Er hat am
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Nein! 0,7 Prozent!) 3. März dieses Jahres geschrieben:
Daran sieht man, wie schnell der Anteil der Fotovoltaik Eine zu abrupte und drastische Kürzung birgt die
wächst. Gefahr schwerer Marktverwerfungen und bedeutet
(Abg. Michael Kauch [FDP] nimmt wieder Platz) den Verlust wertvoller Arbeitsplätze in einer hoch-
modernen Branche.
– Bleiben Sie bitte noch stehen. Recht hat er. Gemeint hat er damit die 30-prozentige
(Ulrich Kelber [SPD]: Genau! Stehen bleiben, Vergütungssenkung, die Sie heute beschließen werden
Herr Kollege! Das gehört noch zur Antwort! – und innerhalb eines Jahres umsetzen wollen. In der An-
Michael Kauch [FDP]: Oh, ich dachte, die hörung im Umweltausschuss haben auch die Experten
Antwort ist zu Ende!) Dr. Seeliger von der LBBW und Professor Weber vom
ISE in Freiburg vor diesen zu starken Vergütungssen-
– Nein. Ich bin mit meiner Antwort noch nicht fertig. kungen gewarnt. Doch fachlicher Rat aus Wirtschaft und
Wissenschaft scheint Sie überhaupt nicht zu interessie-
Eine Solarstromentwicklung und eine Innovationsent-
ren.
wicklung enden nicht mit der Betrachtung des heutigen
Tages. Wir müssen die Wachstumskurven, die hier mög- Natürlich geht es auch uns Grünen nicht um die Auf-
lich sind, auch für die Zukunft durchrechnen. Ein Bei- rechterhaltung überhöhter Gewinne.
spiel ist der Mobilfunk. Die Entwicklung von den An-
(Horst Meierhofer [FDP]: Oh nein! Natürlich
fängen der Mobilfunktechnologie bis zur Vollversorgung
nicht!)
hat in Deutschland gerade einmal zwölf Jahre gedauert.
Das sind Wachstumskurven, die auch in der Branche der Wir haben immer gefordert, die Vergütungssätze mit Au-
erneuerbaren Energien möglich sind und sehr schnell zu genmaß zu gestalten. Wir stehen zum Schutz der Ver-
einem sehr hohen Anteil der Bedarfsdeckung bei der braucher vor überhöhten Strompreisen. Deshalb haben
Stromversorgung führen können. Das ignorieren Sie. Ich auch wir für dieses Jahr eine moderate Vergütungssen-
frage mich, woher Sie Ihren wirtschaftspolitischen Sach- kung vorgeschlagen, und zwar um 10 Prozent und in
verstand nehmen. mehreren Stufen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist mal wieder
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der typisch! 10 Prozent Rendite und mehr, und der
(B) (D)
LINKEN) arme Mann bezahlt es!)
In Wirklichkeit wissen Sie das doch alles, meine Damen Dass dies möglich ist, zeigt, dass die Kostensenkung der
und Herren von Union und FDP. Solarstromhersteller ein großer Erfolg unserer Industrie-
politik in diesem Bereich ist und dass man Kostensen-
Sie wissen aber auch etwas anderes – das muss an ge- kungen mit Augenmaß umsetzen kann. Aber Sie gehen
nau dieser Stelle gesagt werden –: Wenn Sie die Verlän- mit dem Argument des Verbraucherschutzes an dieses
gerung der Laufzeit von Atomreaktoren durchsetzen Thema zu scharf heran.
wollen, dann muss das erfolgreiche Wachstum der er-
neuerbaren Energien jetzt schnell ausgebremst werden, Aribert Peters vom Bund der Energieverbraucher hat
weil ihr Volumen ansonsten viel zu schnell steigt. in der Anhörung die wahren Strompreistreiber genannt.
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Genau!)
(Widerspruch bei der FDP – Marie-Luise Dött
[CDU/CSU]: Ach! So ein Quatsch!) Die vier großen Stromkonzerne haben aufgrund ihrer
marktbeherrschenden Stellung zusätzliche Gewinne von
Mit Ihrer heutigen Gesetzesänderung nehmen Sie in jährlich 6 Milliarden Euro erwirtschaftet und die Strom-
Kauf, dass sogar Zehntausende von Arbeitsplätzen, vor preise ohne jegliche Gegenleistung erhöht. Das ist weit
allem in der erfolgreichen Solarwirtschaft in Ostdeutsch- mehr als die gesamten Mehrkosten, die durch die Um-
land, vernichtet werden und dass Unternehmen, die sich lage im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes zu
auf Fotovoltaikfreiflächen spezialisiert haben, in Kon- verzeichnen sind.
kurs geschickt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Oh Gott! Die Welt der SPD und der LINKEN)
geht unter!)
Herr Kauch, wir nehmen Ihre Beteuerungen zum Schutz
Sie nehmen in Kauf, dass der Stromsektor als größter der Stromkunden vor überhöhten Strompreisen nicht
Emittent von Klimagasen weiterhin die Atmosphäre be- mehr ernst; denn wir vermissen politische Aktionen zur
lasten darf und dass Deutschland länger in seiner Abhän- Verhinderung dieser Abzocke durch die Atom- und Koh-
gigkeit von immer teurer werdenden konventionellen lekonzerne.
Energieträgern verbleibt.
Meine Damen und Herren von Union und FDP, weil
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Sie immer Ihre Wirtschaftskompetenz herausstellen,
bei Abgeordneten der SPD) sage ich Ihnen: Einer der wichtigsten Grundsätze für
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3881
Hans-Josef Fell
(A) eine funktionierende Wirtschaft ist der Schutz des Ver- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: (C)
trauens in getätigte Investitionen. Ein Hilferuf eines mit- Was hat das damit zu tun?)
telständischen Unternehmens, der mich dieser Tage er-
reichte, bringt Ihre Fehlleistungen auf den Punkt. Dieser Mutwillig setzen Union und FDP die Technologieführer-
Firmeninhaber schrieb mir: Herr Fell, zuerst wurde un- schaft der deutschen Solarwirtschaft aufs Spiel, und das
sere Investition in reine Biokraftstoffe durch eine poli- just zu dem Zeitpunkt, wo der Weltmarkt für Fotovoltaik
tisch nie angekündigte Besteuerung weitgehend vernich- rasant anzuziehen beginnt. Damit stellen Sie sich für
tet. In einem mutigen Schritt haben wir nun mit dem Ihre angebliche Wirtschaftskompetenz ein Armutszeug-
letzten Geld in erheblichem Umfang Planungskosten für nis aus.
Fotovoltaikflächen gedeckt. Und nun kommt ohne Vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ankündigung und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist nicht der SPD)
wahr, Herr Fell!) Ich bin mir sicher, dass Sie auch dafür am kommen-
die Streichung der Vergütung für Freiflächen auf den Sonntag in Nordrhein-Westfalen die Quittung be-
Äckern. Da wir die festgelegten Übergangszeiträume kommen werden.
nicht einhalten können, werden wir nun in Konkurs ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hen. – So weit der Brief. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Vor dem Radikalschlag, den Sie vorhaben, hat selbst der SPD – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE
der bayerische Wirtschaftsminister, Martin Zeil von der GRÜNEN]: Das glaube ich auch! – Axel E.
FDP, gewarnt. Am 24. Februar dieses Jahres schrieb er, Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Völli-
dass ein Ausschluss der EEG-Vergütung für Freiflächen ger Blödsinn!)
zu weit gehe. Denn gerade Freiflächenanlagen produ-
zierten Solarstrom zu vergleichsweise günstigen Kosten Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
und verfügten über besonders innovative Technologien. Der Bundesminister Dr. Norbert Röttgen hat das
Offensichtlich gilt in der FDP nicht das Wort eines Mi- Wort.
nisters und in der CSU auch nicht das Wort eines Partei-
vorsitzenden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Das war schon immer so!)
Naturschutz und Reaktorsicherheit:
(B) Sogar Umweltminister Röttgen hat die erneuerbaren Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- (D)
Energien als Fels in der Brandung der Wirtschaftskrise nen und Kollegen! Wir beschließen heute über Änderun-
bezeichnet. Diesen Fels wollen Sie nun zu Fall bringen. gen an einem Gesetz, das zu einem wichtigen Pfeiler der
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: deutschen Energiepolitik geworden ist. Der Sinn des
Aha!) EEG ist, Technologien zur Gewinnung von Strom aus er-
neuerbaren Energien in den Markt einzuführen und zu
Warum sonst sperren Sie im Marktanreizprogramm die fördern.
Mittel für Heizungen mit erneuerbaren Energien? Warum
sonst stoppen Sie die Förderung für die kleine Kraft- Der Staat muss sich dabei Schritt für Schritt zurück-
Wärme-Kopplung? All dies geht in die gleiche Richtung: nehmen, weil die erneuerbaren Energien ihre Leistung
den Ausbau der Nutzung der erneuerbaren Energien und im Markt erbringen müssen und erbringen werden. Weil
die Entwicklung von Effizienztechnologien abzuwürgen. das so ist, weil es um Markteinführung geht,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]:


sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Axel Genau: um Markteinführung!)
E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Das müssen wir auf die stürmischen technischen Entwicklun-
ist doch gar nicht wahr!) gen in diesem Markt reagieren. Immer wieder werden
Trotz Ihrer Atomwünsche und Ihrer radikalen Ein- wir reagieren müssen.
schnitte bei der Förderung der erneuerbaren Energien (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
werden Sie, meine Damen und Herren von Union und Aber nicht zu schnell!)
FDP, den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien
nicht bremsen können. 150 000 Menschen haben vor- Dass es zu Novellen kommt, ist kein schlechtes Zeichen
letztes Wochenende eindrucksvoll gegen eine Verlänge- und kein Grund für Traurigkeit, sondern ein gutes Zei-
rung der Laufzeit von Atomkraftwerken demonstriert. chen; denn es ist Ausdruck der Innovationsfähigkeit und
Auch in Zukunft werden viele Menschen in Deutschland der Fortentwicklung der Technologien in diesen Märk-
Fotovoltaikanlagen auf ihre Dächer bauen. ten.
(Horst Meierhofer [FDP]: Eben! Ist doch super!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Wir fürchten nur, dass diese Fotovoltaikmodule dann
nicht mehr aus deutscher Produktion, sondern fast aus- Weil es darum geht, Dynamik in diesen Markt zu
schließlich aus China kommen werden. bringen, und weil dieser Markt wächst, fehlt der Status-
3882 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) quo-Rhetorik, die Sie heute zelebrieren, jede Zukunfts- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Axel (C)
orientierung und Zukunftsdynamik. E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Das
ist keine soziale Politik! – Widerspruch des
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE
der FDP – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/ GRÜNEN])
DIE GRÜNEN – Hans-Josef Fell [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben gesagt, Darum ist es aus sozialen Gründen, aus technologie-
dass eine Senkung der Vergütung möglich ist! – politischen Gründen und aus energiepolitischen Gründen
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schlicht geboten, auf diese Überförderung zu reagieren,
Hören Sie mit dem Popanz auf!) sie zurückzunehmen und dadurch eine Marktstabilisie-
rung zu erreichen. Das ist im Übrigen nichts Schlechtes,
Man kann solche Politik nicht vom Status quo aus ma- weil dadurch zugleich zum Ausdruck kommt, dass die
chen. Wir wollen doch die Erneuerbaren in den Markt Technologie erfolgreich ist. Es geht uns aber nicht nur
bringen. Darum können wir bei dem Erreichten nicht um Reduzierung und Marktanpassung, sondern wir wol-
stehen bleiben, sondern müssen vorangehen. len auch den Markt in eine bestimmte Richtung steuern.
Wir werden vorangehen mit dem Ausbau der Solaran- Darum erhöhen wir im Verhältnis zur gegenwärtigen
lagen in Deutschland. Im Unterschied zur früheren Re- Rechtslage insbesondere die Förderung für den Eigen-
gierung verdoppeln wir – ich glaube, dass Sie damit ein- verbrauch – also wenn keine Einspeisung ins Netz er-
verstanden sind – den Ausbau in diesem Bereich. folgt, sondern der Anlagenbetreiber seinen selbstprodu-
zierten Strom nutzt – stärker als bislang. Das halte ich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und für einen besonders wichtigen Punkt, weil das dazu füh-
der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE ren wird, dass wir schon bald ein selbsttragendes Wachs-
GRÜNEN]: Mit der Haushaltssperre bin ich tum erzielen und wahrscheinlich schon 2013 Fotovolta-
nicht einverstanden!) ikstrom zu denselben Kosten produziert werden kann
Im Vergleich zu Ihrer Zeit werden wir ein doppelt so ho- wie konventioneller Strom.
hes Wachstum der Solarflächen in Deutschland halten. Ich halte die Eigenverbrauchsregelung auch deshalb
Vielleicht sind Sie aus parteipolitischen Gründen nei- für wichtig, weil wir damit Technik fördern, die Netze
disch. entlasten, einen Beitrag zur dezentralen Energieversor-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gung leisten und den Bürgern ein Angebot machen, mit-
der FDP – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE zumachen. Jeder Einzelne kann mitmachen. Er kann
GRÜNEN) Strom produzieren und verbrauchen. Ich glaube, das ist
(B) auch ein politisches Angebot, bei der Energieversorgung (D)
Sie sollten Ihren parteipolitischen Neid angesichts des mitzumachen.
Erfolges in der Sache zurückstellen, meine Damen und
Herren. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Erfolgreich der Wirklichkeit entronnen,
Im letzten Jahr, 2009, sind die Systempreise für Foto- der Herr Minister!)
voltaikanlagen um 30 Prozent gesunken, und sie werden
in diesem Jahr weiter sinken. Darum sage ich ganz ru- Denn wir brauchen die Bürger für unseren Umstieg in
hig: Auf einen Preisverfall von 40 bis 45 Prozent muss der Energiepolitik.
der Staat reagieren. Wir dürfen da nicht tatenlos zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schauen.
Im Übrigen wird die Freiflächenförderung anders als
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nach der alten Regelung über 2014 hinaus fortgesetzt.
Bei so viel Aufregung, wie sie gerade herrscht, sind Damit sollte ursprünglich Schluss sein. Auch das ist also
vielleicht die Zahlen am überzeugendsten: Im Jahr 2009 eine Erweiterung der bisherigen Regelungen. Wir wer-
betrug der Anteil der Solarenergie an der Stromerzeu- den aber dafür sorgen, dass die Freiflächenförderung im
gung 1 Prozent. Der Anteil der Erneuerbaren an der Einklang mit den Regeln des Landschafts- und Natur-
Stromerzeugung betrug 16 Prozent; 1 Prozent also ent- schutzes umgesetzt wird, und darauf achten, dass kein
fiel auf die Fotovoltaik. Die Differenzkosten bzw. die Anreiz für zusätzlichen Landschaftsverbrauch geschaf-
Förderkosten der Erneuerbaren, die die Stromkunden zu fen wird. Es ist also auch eine landschafts- und natur-
bezahlen haben, betrugen 8,2 Milliarden Euro. 4 Milliar- schutzpolitisch richtige Regelung.
den Euro davon entfielen ausschließlich auf die Fotovol- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
taikförderung. der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Eingriff in die
Die Relation zwischen Förderung und Stromproduk- Hoheit der Kommunen, was Sie da machen!)
tion muss unter Kontrolle gehalten werden. Auch die Ich unterstreiche, was der Kollege Grund eben gesagt
Kosten, die wir den Stromkunden aufbürden, müssen un- hat. Auf den Preiswettbewerb zwischen chinesischen
ter Kontrolle gehalten werden. Es ist unfair, dass alle und deutschen Produzenten hat die deutsche Einspeise-
Stromkunden dafür bezahlen, dass einige wenige mit In- vergütung praktisch keine Auswirkung.
vestmentfonds Renditen in zweistelliger Höhe über
20 Jahre erzielen. Das ist auch aus sozialen Gründen (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/
nicht in Ordnung. CSU]: So ist es!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3883
Bundesminister Dr. Norbert Röttgen
(A) Das ist ein eigenes Wettbewerbsverhältnis, auf das un- schaft umschalten, dann haben wir die längste Zeit (C)
sere Förderung keine Auswirkung hat. Aber eine Aus- Wachstum gehabt.
wirkung hat unsere Förderung, nämlich hinsichtlich der
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dann
Frage, womit wir auf den Weltmärkten bestehen zu kön-
verlängern Sie doch die Atomkraft nicht!)
nen glauben. Diese Koalition gibt darauf eine eindeutige
Antwort: Wir sind davon überzeugt, dass unsere interna- Die Wachstumsstrategie, die wir verfolgen, ist allerdings
tionale Wettbewerbsfähigkeit von Innovationen abhängt. keine Subventionsstrategie, sondern eine Marktstrategie.
Unsere Losung heißt „Innovation statt Subvention“. Das Das unterscheidet wahrscheinlich Regierung und Oppo-
ist das Erfolgsrezept unserer Wirtschaft. sition in diesem Haus ganz grundsätzlich, meine Damen
und Herren!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
rufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wer glaubt, durch Dauersubventionen Wettbewerbsfä- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


higkeit herstellen zu können, der muss schon ein ausge-
Für die SPD spricht die Kollegin Waltraud Wolff.
wiesener Wirtschaftsexperte wie unser Freund von der
PDS sein, der anderen androht, man würde mit dieser (Beifall bei der SPD)
Auffassung im eigenen Betrieb nicht lange überleben.
(Ulrich Kelber [SPD]: Er hat wenigstens mal Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD):
in der freien Wirtschaft gearbeitet, Herr Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Röttgen!) Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Zwischenfra-
gen von CDU/CSU und FDP zeigen eines ganz deutlich:
Dass wir diesen Punkt ernst nehmen, drückt sich darin Sie wollen – die Katze haben Sie heute aus dem Sack ge-
aus, dass wir die „Innovationsallianz Photovoltaik“ ins lassen –,
Leben gerufen haben und die Mittel für die Förderung
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
der Forschung um bis zu 100 Millionen Euro aufstocken
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
werden. Das heißt, Innovation, Forschung und Techno-
logie sind der Weg, mit dem wir Erfolge erzielen wer- dass nicht nur ein Teil der Fotovoltaikanlagen in China
den. oder anderswo gebaut wird, sondern dass alle Solar-
module dort gebaut werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) DIE GRÜNEN]: Das ist die Rückkehr der For- DIE GRÜNEN – Michael Kauch [FDP]: Was (D)
schung in den Elfenbeinturm, Herr Minister!) für ein Schwachsinn!)

Wir werden die Förderung an den Markt anpassen, Ich habe heute Morgen per E-Mail den Hilferuf eines
auf den Erfolg in Form einer geringeren Subventionie- Bauern aus Schwandorf bekommen – das ist in der Ober-
rung reagieren und Anreize schaffen, dass man sich pfalz –,
nicht auf zweistelligen Renditen ausruht. Es soll nämlich (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Den
so bleiben, dass man sich anstrengen muss, wenn man haben alle bekommen!)
erfolgreich sein will. Bei dieser Maßnahme geht es über-
haupt nicht darum, die Solarenergie in Deutschland zu der eine Freiflächenfotovoltaikanlage auf seiner eigenen
beschränken bzw. ihr etwas zu nehmen, sondern es geht Ackerfläche errichten will. Seit März 2009 plant er das
bei dieser Maßnahme darum, dazu beizutragen, dass die und hatte schon erhebliche Kosten. Die Chronologie
Solarenergie verlässlich und stetig Erfolg auf den Märk- liegt vor. Über den Bauantrag sollte jetzt im Mai ent-
ten hat. Das ist unsere Philosophie, wie wir den erneuer- schieden werden. Sie beschließen heute aber nicht nur
baren Energien zum Durchbruch verhelfen wollen. die EEG-Novelle, Sie beschließen auch, dass dieser
Bauer seine Anlage nicht bauen kann. Herzlichen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Glückwunsch! Ich würde gerne wissen, wer von Ihnen
der FDP) diese E-Mail beantworten will. Die Adresse kann er
gerne von mir haben.
Wir sind überzeugt davon, ich bin überzeugt davon,
dass die Zukunft den erneuerbaren Energien gehört, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das Wunder von Lourdes! Dem Lah- Für diesen Landwirt bedeutet die Novelle verlorenes
men die Krücken wegnehmen und sagen, er Geld, und für den Ausbau der Solarenergie bedeutet
soll laufen!) diese Novelle einen großen Rückschritt. Wir haben vor-
hin schon von der Anhörung am 21. April gehört. Sogar
aus Klimaschutzgründen und insbesondere aus Gründen Ihre eigenen Experten haben Ihnen gesagt, dass Sie auf
der Ressourcenknappheit. Die natürlichen Ressourcen dem Holzweg sind. Sie wollen Anlagen auf Ackerflä-
sind knapp, sie sind endlich, sie werden immer stärker chen grundsätzlich aus der Förderung nehmen. Das ist
nachgefragt werden, und darum wird der Verbrauch im- absoluter Unsinn, auch aus Sicht der Experten. Wenn Sie
mer teurer werden. Wenn wir nicht von einer ressourcen- schon nicht auf die Sachverständigen, die Sie selber ein-
verbrauchenden zu einer ressourceneffizienten Wirt- geladen haben, hören, dann hören Sie doch wenigstens
3884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Waltraud Wolff (Wolmirstedt)


(A) auf die Meinungen der von Ihnen regierten Länder. Es dem Sie Mittel für die Forschung einsetzen, setzen Sie (C)
war Bayern, das im Bundesrat ganz eindeutige Worte ge- doch eigentlich auf das falsche Pferd. Die deutschen So-
funden hat: Der Ausschluss landwirtschaftlicher Flächen larhersteller produzieren nämlich im Moment mit Ma-
ist weder energiepolitisch sinnvoll noch agrarpolitisch schinen, deren Nutzungszeit abläuft. Das heißt, es sind
notwendig. – Dem ist nichts hinzuzufügen. neue Investitionen notwendig. Das bedeutet, dass hohe
Kosten auf die Hersteller zukommen. Hier hilft uns die
(Beifall bei der SPD) Forschung für die übernächste Generation überhaupt
Deshalb haben wir als SPD einen Änderungsantrag nicht. Besser wäre es, Investitionen in die nächste Gene-
mit dem Ziel vorgelegt, dass man diese Anlagen an ei- ration zu tätigen. Es wäre ein wirklicher Ansatzpunkt ge-
nen Planungsvorbehalt der Kommune knüpfen sollte. wesen, wenn Sie die nicht abgerufenen Mittel aus dem
Das ist der richtige Weg. Freiflächenanlagen sind das Konjunkturprogramm umgeswitcht hätten und hier für
günstigste Segment der Fotovoltaik. Oder, wie es der Unterstützung gesorgt hätten.
von der FDP eingeladene Sachverständige gesagt hat:
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Sie sind der Billigmacher der Fotovoltaik. – Herr Kauch,
DIE GRÜNEN)
hätten Sie doch lieber den Herrn vom Bauernblatt als
Sachverständigen eingeladen statt den von Ihnen be- Das Gebot der Stunde heißt doch, dass wir diese Ent-
nannten Experten, dann hätten Sie vielleicht die entspre- wicklung maßvoll begleiten müssen. Deshalb haben wir
chende Antwort bekommen. einmal vorgeschlagen, 2011, im nächsten Erfahrungsbe-
richt zum EEG, das Modell einer nach regionaler Strah-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
lungsintensität gestaffelten Vergütung zu prüfen. – Lei-
Ihrer EEG-Novelle fehlt jedes Augenmaß. Sie beneh- der ohne Erfolg. Wir haben Sie auch aufgefordert,
men sich wie der Elefant im Porzellanladen. Aber das unverzüglich einen Vorschlag für eine bessere Integra-
passt leider zu Ihrer Politik gegen die erneuerbaren Ener- tion des Stroms aus erneuerbaren Energien vorzulegen. –
gien: Die Mittel für das Marktanreizprogramm sind ge- Ohne Erfolg. Außerdem haben wir vorgeschlagen, dass
sperrt; das Impulsprogramm für die Mini-Kraft-Wärme- die Vergütung maßvoll an den Markt angepasst wird. –
Kopplungsanlagen ist eingestellt; Sie wollen das Erneu- Auch ohne Erfolg.
erbare-Energien-Wärmegesetz aufweichen; um die Mit-
tel für die Gebäudesanierung gibt es ein Hickhack; und Sie selbst, meine Damen und Herren von den Koali-
jetzt beschneiden Sie die Förderung für die Fotovoltaik. tionsfraktionen, berauben unsere Unternehmen der Chance,
grüne Zukunftsmärkte zu erobern. Sie setzen Arbeits-
Es gibt nichts, aber auch gar nichts auf der Habenseite plätze aufs Spiel. Sie kapitulieren vor dem Kampf gegen
Ihrer Bilanz. den Klimawandel. Sie verhindern mehr Wettbewerb.
(B) Ihre Politik schadet der Branche, schadet den Stromkun- (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
den und schadet auch dem Klima.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Der CSU-Kollege Ruck, der hier vorhin ja auch gere-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
det hat, hat im April dieses Jahres in einem Brief ge-
schrieben – ich zitiere –: Sie zeigen hier wirklich absolute Beratungsresistenz;
Deutschland ist im Bereich der Fotovoltaik welt- die ist so groß, dass ich Sie gar nicht mehr bitten kann,
weit technologisch führend. Insbesondere im Hin- unseren Änderungsvorschlägen zuzustimmen. Ich bitte
blick auf den Export und den zukünftig zu erwar- Sie nur um eines: Verschonen Sie uns in Zukunft mit Ih-
tenden weltweiten Ausbau der Fotovoltaik ist es ren Sonntagsreden über die Herausforderungen des Kli-
wichtig, dass wir diesen Technologievorsprung be- mawandels!
wahren und wenn möglich ausbauen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ja, wie denn mit solchen Beschlüssen, meine Damen und der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Herren? GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lassen Sie doch bitte das falsche Lob für die erneuerba-
DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ ren Energien, und sagen Sie den Menschen ehrlich, dass
DIE GRÜNEN]: Da hat Ruck recht!) Ihr Energiekonzept Atomkraft heißt!

Die zusätzliche Sonderkürzung von 16 Prozent ist zu hoch. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
70 000 Arbeitsplätze gerade in Ostdeutschland – wir ha- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ben davon gehört – sind in Gefahr. Sie verspielen den Sie sind leider nicht die Elefanten, Sie sind die Dinosau-
Erfolg des EEG gerade auch als ökologische Industrie- rier in diesem Porzellanladen.
politik.
Um noch einmal auf Ihre Rede zu kommen, Herr Mi-
Nun haben Sie, meine Damen und Herren, Forschungs- nister Röttgen: Sie haben gesagt, diese Novelle ist kein
gelder in Höhe von 100 Millionen Euro als Unterstützung Grund zur Traurigkeit. Ich glaube, viele Menschen in
für die Solarbranche versprochen. Forschungsmittel aus- diesem Land sehen das völlig anders.
zubauen, ist im Prinzip eine gute Sache. Aber ich frage
mich natürlich: Sind diese 100 Millionen Euro genauso (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
sicher wie die Mittel für das Marktanreizprogramm? In- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3885

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: (C)
Der Kollege Horst Meierhofer hat jetzt das Wort für Nur weil Sie es aufgeschrieben haben, ist es
die FDP. noch nicht die Wahrheit! Es ist bewusst die
Unwahrheit!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Sie haben kein Energiekonzept vorgelegt. Die Tatsa-
che, dass die SPD schon im letzten Jahr nicht in der Lage
war, eine Anpassung vorzunehmen, hat dazu geführt,
Horst Meierhofer (FDP):
dass man zum Teil Renditen in Höhe von 15 und
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 20 Prozent hatte. Das hat sich nicht innovationsfördernd,
Es ist wirklich absurd, Frau Wolff, welche Unterstellun- sondern innovationshemmend ausgewirkt.
gen Sie hier gemacht haben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Iris Gleicke [SPD]: Das sind keine Unterstel- der CDU/CSU)
lungen, das ist die Wahrheit! Die Frau hat
recht!) Es hat dazu geführt, dass die chinesischen Modulherstel-
ler wettbewerbsfähiger geworden sind. Sie haben näm-
Ihr Umweltminister Gabriel hat als Zielvorgabe für den lich nicht den Mut gehabt, zu sagen: Wir müssen zu den
Ausbau der Fotovoltaik im Jahr 1 900 Megawatt ausge- Kosten produzieren, die realistischerweise anfallen.
geben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist falsch! Weithin
die Unwahrheit!) Diese Feigheit hat zu dem Problem geführt, vor dem wir
heute stehen. Wir werden jetzt – leider – kürzen müssen.
Wir hatten im letzten Jahr und werden in diesem Jahr
Aber dies wird dazu führen, dass unsere Verbraucher
und auch im nächsten Jahr 3 000 bis 4 000 Megawatt ha-
geschont werden und gleichzeitig die erneuerbaren Ener-
ben. Wir bauen aus. Wir sorgen für mehr erneuerbare
gien und vor allem die Fotovoltaik weiter ausgebaut
Energien, wir sorgen für mehr Fotovoltaik, als Sie sich
werden.
jemals zugetraut hätten.
(Beifall bei der FDP – Widerspruch des Abg.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Marco Bülow [SPD])
der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt]
[SPD]: Auch wenn man es ständig wiederholt, Ich will nicht bestreiten, dass sich die FDP-Fraktion,
wird es nicht richtig!) was die Ackerflächen betrifft, anders entschieden hätte,
(B) wenn sie allein regieren würde. Ich will auch nicht be- (D)
Es ist nicht nachvollziehbar, wie man uns unterstellen
streiten, dass wir uns für längere Übergangsfristen aus-
kann, wir würden Arbeitsplätze gefährden, obwohl wir
gesprochen hätten. Aber was die Berücksichtigung des
in diesem Bereich immer mehr Geld ausgeben. Das Ge-
Eigenverbrauchs betrifft, haben wir uns durchgesetzt.
genteil ist der Fall: Diese Branche wird Arbeitsplätze
Dies war ein großer Erfolg. Wir haben heute in Spiegel
schaffen.
online lesen können, dass die großen Hersteller wie So-
(Iris Gleicke [SPD]: In China! – René Röspel larworld, Conergy und Evonik sagen: Das ist der große
[SPD]: Trotz Ihrer Politik!) Zukunftsmarkt. Wir können erreichen, dass der Eigen-
verbrauchsanteil auf bis zu 80 Prozent ansteigt, und wir
Sie wird Leute einstellen und mehr Menschen in ihrem können, wenn die Menschen Elektroautos fahren, sogar
Bereich beschäftigen. Denn die deutschen Verbraucher einen Eigenverbrauch von 100 Prozent erreichen. Auf
werden Milliardensummen in erneuerbare Energien und die Idee wären Sie früher gar nicht gekommen; das wird
in den Fotovoltaikbereich investieren. Das darf aber erst durch diese EEG-Novelle möglich, indem der
– bitte schön – nicht zulasten des kleinen Mannes und Anreizeffekt für selbstverbrauchten Strom jenseits der
des normalen Stromkunden gehen. Dafür sollten Sie 30-Prozent-Schwelle auf 8 Cent erhöht wird.
doch eigentlich Verständnis haben. Ich verstehe die Welt
nicht mehr: Sie setzen sich nur noch für die Großen ein, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
aber nicht für die Leute, die besonders betroffen sind. der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dieser große Erfolg freut uns sehr. Er wird dazu führen,
der CDU/CSU) dass es endlich wieder zu Innovationen kommt.
Sie müssten sich einmal damit beschäftigen, was mo- Innovationen kommen auch durch die 100 Millionen
mentan im Gespräch ist. Es geht um Eigenverbrauch, Euro zustande, die vom Forschungsministerium bereit-
Speichertechnologien und E-Mobility. Während Sie hier gestellt werden. Dass Sie von der Linken dieses Geld als
erklären, wir seien gegen irgendwelche Maßnahmen ge- ein paar Silberlinge bezeichnen, zeigt, dass Sie jeden
gen den Klimawandel, hat ein Kollege von Ihnen vor Realitätssinn und jeden Kontakt zu dem, was die wirkli-
eineinhalb Stunden gefordert, dass die alten Kohlekraft- che Welt ausmacht, verloren haben. Wir werden damit
werke länger laufen sollen. Ist diese Politik, die von der die deutschen Firmen fördern können. Dadurch entsteht
SPD vertreten wird, eine glaubwürdige Klimaschutz- Innovation. Wenn wir die EEG-Vergütung an die chine-
politik, oder ist es Klientelpolitik? Ich glaube, es ist das sischen Hersteller verschwenden, werden die deutschen
Letztere. Hersteller nicht besser. Wir müssen dafür sorgen, dass
3886 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Horst Meierhofer
(A) wir in Deutschland stärker werden. Dazu tragen wir mit ren auf dem Markt durchsetzen, übersieht, dass objektiv (C)
dieser EEG-Novelle eine Menge bei. keine Marktgleichheit zwischen etablierten Anbietern
und neu auf den Markt gekommenen gegeben ist.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Die
FDP freut sich auch über Unwahrheiten!) Daraus ergibt sich – –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


Dem Kollegen Hermann Scheer gebe ich das Wort zu Herr Scheer, vielen Dank. Eine Kurzintervention darf
einer Kurzintervention. nicht länger als drei Minuten dauern, und die sind um.
Deswegen möchte ich jetzt gern den Bundesminister fra-
Dr. Hermann Scheer (SPD): gen, ob er antworten möchte. – Das möchte er nicht.
Frau Präsidentin! Ich möchte gerne einige Worte zu (Iris Gleicke [SPD]: Das traut er sich nicht! –
dem Redebeitrag des Bundesministers Röttgen sagen. Ulrich Kelber [SPD]: Dafür hat er keinen
Herr Röttgen hat das Prinzip des Marktes stark hervorge- Sprechzettel!)
hoben. Er hat gesagt, dass sich die erneuerbaren Ener-
gien auf dem Markt durchsetzen müssen. Als allgemeine Dann gebe ich das Wort der Kollegin Dr. Maria
Aussage ist dieser Satz richtig. Aber vor dem konkreten Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion.
Hintergrund der Marktverhältnisse ist es nicht ratsam, zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
solchen Maßnahmen zu greifen.
Markt setzt prinzipiell Marktgleichheit der Marktteil- Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU):
nehmer, in diesem Fall der Anbieter, voraus. Von einer Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Marktgleichheit der Anbieter kann im doppelten Sinne Nachdem wir jetzt über eine Stunde wortreich das völ-
leider keine Rede sein. lige Aus der Fotovoltaik in Deutschland beklagt haben,
Es kann zunächst einmal keine Rede davon sein mit schlage ich vor, dass wir in die Realität zurückkehren
Blick auf das Verhältnis der chinesischen Produktion zu und auf dieser Grundlage vernünftige Politik machen.
der deutschen Produktion. Die Kürzung der degressiv (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
angelegten Subventionen wird mit dem Marktangebot der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Peinlich!)
aus China begründet, wozu in der Debatte schon einiges
(B) gesagt worden ist. Dort wurde die Produktion künstlich Die Fotovoltaikleistung wurde 2009 um 3,8 Giga- (D)
billig gehalten. Man betreibt dort praktisch Produktions- watt erhöht, davon alleine im Dezember um 1 500 Me-
protektionismus. Aber Protektionismus ist das Gegenteil gawatt. Das war fast so viel, wie wir uns mit der Novelle
von Markt. Wenn also diese Maßnahmen jetzt wegen der 2009 als Zielhorizont für ein ganzes Jahr vorgestellt hat-
chinesischen Billigprodukte ergriffen werden, dann kann ten. Der Anstieg der Investitionssumme hat mit 17,7 Mi-
die Schlussfolgerung doch nur sein, dass die Aussage lliarden Euro einen neuen Rekordwert erreicht.
von vielen Rednern aus den Koalitionsfraktionen, näm- Ganz wichtig ist: Fotovoltaik ist ohne Zweifel ein Sta-
lich dass die neu ausgerichtete Förderung nun ausgerech- bilitätsanker in der Krise. Ebenso wichtig ist aber: Das
net der deutschen Fotovoltaikindustrie helfen würde, pro- EEG – der Minister hat eben darauf hingewiesen – ist kein
duktiver zu werden, nicht richtig ist. Das ist ein Instrument zur Förderung von Branchen oder zur Subven-
Widerspruch in sich. Da müssten vielmehr andere, diffe- tionierung von Arbeitsplätzen, sondern dient letztendlich
renzierte Maßnahmen ergriffen werden, um die deutsche als Anreiz für Investitionen in Anlagen zur Erzeugung
Produktivitätsentwicklung, die ja nicht die schlechteste von Strom aus erneuerbaren Energien, die möglichst effi-
war – sie war bisher sogar immer federführend –, weiter zient sein soll,
voranzutreiben. Man kann sie nur vorantreiben, wenn sie
weiterhin existiert, aber nicht, wenn nur eine, zwei oder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
drei große Firmen übrig bleiben. der FDP)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem das heißt möglichst viel Leistung für möglichst wenig
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Geld. Um das weiterhin zu erreichen – der Minister hat
eben auf das Verhältnis von Vergütung und Strompro-
Ein zweiter Punkt, wiederum bezogen auf das Prinzip
duktion in Bezug auf Fotovoltaik hingewiesen –, müssen
der Marktgleichheit. Durch die bisherigen Marktverhält-
wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die Akzep-
nisse, durch das Hochpäppeln mit vielen Subventionen
tanz in der Bevölkerung für erneuerbare Energien und
über Jahrzehnte hinweg – für Kohle, für Atomenergie,
insbesondere für Fotovoltaik erhalten können.
mit vielen Privilegierungen gesetzlicher Art, Energie-
wirtschaftsgesetz usw. –, ist eine hochkonzentrierte her- Es ist doch auch ein Trugschluss, wenn wir glauben,
kömmliche Energiewirtschaft entstanden. Wer jetzt wir könnten tatsächlich gegen chinesische Subventions-
glaubt, mit dem vorliegenden Erneuerbare-Energien-Ge- verhältnisse ansubventionieren. Das macht unsere Wirt-
setz erreichen zu können, dass sich neue Technologien, schaft nicht mit. Das macht unsere Betriebe auch nicht
erneuerbare Energien einschließlich der Fotovoltaik ge- stark. Ich sage Ihnen: Die Fonds, die auf eine maximale
gen diese hochkonzentrierten, monopolisierten Struktu- Rendite aus sind, werden wir auch dadurch nicht erwi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3887
Dr. Maria Flachsbarth
(A) schen; denn deutsche Produkte werden möglicherweise (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
immer ein bisschen teurer sein als die asiatischen. neten der FDP)
Wichtig ist aber: Deutsche Produkte sind besser. Der Deshalb ist es richtig und vernünftig, dass wir die
Unterschied liegt doch in der Qualität, im Service, in der Bedingungen für die Installation von Fotovoltaik auf
Nähe zum Kunden, in der innovativen Technik. Deshalb Konversionsflächen, die eben tatsächlich zu gar nichts
werden wir mit dieser Novelle nicht einfach nur kürzen, anderem mehr zu gebrauchen sind, als dort eben Foto-
Degression steigern oder was auch immer. Vielmehr voltaikanlagen aufzubauen und sie zur Energiegewin-
wollen wir umsteuern. Wir wollen hin zu intelligenter nung zu nutzen, noch einmal deutlich verbessert haben;
Technik. Wir wollen intelligente Netze fördern, auch in- der Minister hat es gesagt. Auch den für das Jahr 2014
nerhalb des Hauses zum Beispiel durch Installierung in- vorgesehenen Stopp dieser Förderung haben wir aus
telligenter Hausgeräte. Deshalb fördern wir den Eigen- dem Gesetz herausgenommen, weil es vernünftig ist,
verbrauch stärker. Es ist eine massive Erhöhung der dies zu tun. Wir haben neue Optionen geschaffen; so
zulässigen Anlagengröße von 30 Kilowatt, wie es im werden Neuanlagen in bereits ausgewiesenen Gewerbe-
derzeit geltenden Gesetz vorgesehen ist, auf 500 Kilo- gebieten und ebenso entlang von Verkehrswegen geför-
watt vorgesehen. Damit werden auch die kleinen Gewer- dert. Meines Erachtens ist dies tatsächlich ein ganz ver-
betreibenden erfasst. Das eröffnet ganz neue Chancen, nünftiger Steuermechanismus.
ganz neue Märkte für innovative Technologien, insbe-
sondere für Speichertechnologien. (Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/
CSU])
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ab
wann denn, Frau Flachsbarth?) Zudem haben wir in diesem Bereich auch auf Vertrau-
ensschutz geachtet. Wir haben für diejenigen Projekte,
Kollege Meierhofer hat es eben bereits gesagt: Die für die es bis zur ersten Lesung, also bis zum 25. März
Branchen reagieren bereits; es gibt diesbezüglich bereits dieses Jahres, einen festgestellten Bebauungsplan gab,
die ersten Angebote. Von daher müssen wir doch der eine Realisierungsfrist bis zum 31. Dezember dieses Jah-
deutschen Branche zutrauen, dass sie diese neue Heraus- res eröffnet. Ich halte dies für ein faires Angebot, auch
forderung meistert. Wir brauchen dringend Innovatio- wenn man überlegt, wie lange wir inzwischen über die-
nen, damit wir den Ausbau erneuerbarer Energien tat- ses Gesetz debattieren.
sächlich bewältigen können, damit im Jahr 2020
tatsächlich 30 Prozent erneuerbare Energien im Markt (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sagen
und im Netz integrierbar sein werden; anderenfalls Sie den Bauern, Sie zahlen ihnen die Pla-
schießen wir uns doch mit unseren ehrgeizigen Zielen nungskosten zurück!)
(B) selbst ins Bein. (D)
Wir haben natürlich schon vor der Sommerpause, vor
(Beifall bei der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wol- der Bundestagswahl darüber gesprochen, dass wir im
mirstedt] [SPD]: Das tun Sie gerade!) Bereich Fotovoltaik nachjustieren werden.
Die Frage, wie wir mit Ackerflächen und mit Freiflä- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chen umgehen, war ebenfalls eine zentrale Frage in die- NEN]: Nein!)
ser Debatte, auf die ich jetzt nicht noch einmal im Detail
einzugehen brauche. Aber es stehen doch tatsächlich fol- – Jedenfalls habe ich in meinem Wahlkampf darüber be-
gende Fragen im Raum: Was machen wir mit dem star- reits gesprochen, lieber Herr Fell. – Es war offensicht-
ken Flächenverbrauch in unserem Land, 100 Hektar pro lich, dass wir das in den Koalitionsverhandlungen be-
Tag? sprochen haben, und letztendlich ist es auch noch einmal
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dann bauen deutlich geworden, als der Bundesminister Anfang die-
wir eben keine Autobahnen mehr!) ses Jahres die ersten Eckpunkte des Gesetzes vorgestellt
hat. Insofern glaube ich, dass wir den Investoren tatsäch-
Wie können wir der Herausforderung begegnen, dass im lich genug Zeit gegeben haben, sich auf diese neuen Be-
Moment von der Gesamtenergieproduktion durch Erneu- dingungen einzustellen.
erbare, die 10 Prozent vom Gesamtenergieverbrauch
beiträgt, 70 Prozent auf flächengebundene Biomasse Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist im
entfällt, Bereich der Fotovoltaik weltweit technologisch führend.
Wir wollen und werden den Technologievorsprung be-
(Widerspruch des Abg. Marco Bülow [SPD]) halten und ausbauen, insbesondere im Hinblick auf un-
also letztendlich 70 Prozent irgendwo aus dem Wald sere Exportchancen beim weltweit zu erwartenden Aus-
oder eben gerade von Äckern erzielt werden? Davon bau. Die Markteinführungsmöglichkeiten werden durch
müssen wir weg. Wir können doch nicht die Augen da- die jetzige Novelle verbessert werden, auch durch bes-
vor verschließen, dass es in einigen Regionen, gerade in sere Integration in den Energiemix und in die Netze.
den viehstarken Regionen meines Heimatlandes Nieder- Deutschland bleibt mit dieser Novelle einer der attrak-
sachsen, Pachtpreise von über 1 000 Euro pro Hektar tivsten Fotovoltaikstandorte weltweit. Ich bitte um Ihre
gibt. Das sind irreale Beträge, die da letztendlich gefor- Zustimmung für unser Gesetz.
dert werden, und es ist an uns, Förderbedingungen, die Herzlichen Dank.
zu solchen irrealen Marktsituationen führen, wieder auf
ein Normalmaß zurückzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
3888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: durch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und einen (C)
Ich schließe die Aussprache. Großteil der Fraktion Die Linke. Dagegen haben ge-
stimmt die CDU/CSU-, die FDP- und die SPD-Fraktion.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den von Enthalten haben sich einige Abgeordnete der Fraktion
den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrach- Die Linke.
ten Gesetzentwurf zur Änderung des Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetzes. Es liegen drei Erklärungen zur Abstim- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
mung vor, erstens von Ingbert Liebing, zweitens von schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Veronika Bellmann und drittens von Dr. Georg zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
Nüßlein.1) „Solarstromförderung wirksam ausgestalten“. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- empfehlung auf Drucksache 17/1604, den Antrag der
sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1144 abzulehnen.
empfehlung auf Drucksache 17/1604, den Gesetzent- Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
Drucksache 17/1147 in der Ausschussfassung anzuneh- angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP
men. und SPD. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- Enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen.
men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die Sitzung
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter unterbreche, teile ich Ihnen mit, dass sich die Fraktionen
Beratung angenommen bei Zustimmung durch die Ko- verständigt haben, den Tagesordnungspunkt 7 – dabei
alitionsfraktionen und bei Ablehnung durch die Opposi- handelt es sich um die Große Anfrage der Fraktion der
tionsfraktionen. SPD zu den Auswirkungen der Verlängerung der Rest-
Wir stimmen jetzt über den Gesetzentwurf in laufzeiten von Atomkraftwerken – von der Tagesordnung
abzusetzen. Sind Sie mit dieser Vereinbarung einverstan-
dritter Beratung den? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so be-
namentlich ab. schlossen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Die Sitzung wird jetzt bis circa 19 Uhr unterbrochen.
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen be- Falls die Sitzung früher beginnt, wird Ihnen das mitge-
setzt? – Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich teilt. In jedem Fall wird der Wiederbeginn der Sitzung
die Abstimmung. rechtzeitig durch ein Klingelsignal bekannt gegeben.
(B) (D)
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das noch Ich unterbreche die Sitzung.
nicht in der Lage war, seine Stimme abzugeben? – Das (Unterbrechung: 17.05 Uhr bis 18.08 Uhr)
scheint mir nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich hier-
mit die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge- Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
geben.2) Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. komme ich zu Tagesordnungspunkt 6 zurück und gebe
Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung be-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf kannt. Es ging um den Gesetzentwurf der Fraktionen der
Drucksache 17/1611. Wer stimmt für diesen Entschlie- CDU/CSU und FDP zur Änderung des Erneuerbare-Ener-
ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der gien-Gesetzes, Drucksachen 17/1147 und 17/1604. Abge-
Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung geben wurden 580 Stimmen. Mit Ja haben 313 Kolleginnen
und Kollegen gestimmt. Mit Nein haben 266 Kolleginnen
1) Anlage 2 und Kollegen gestimmt. Es gab eine Enthaltung. Der Ge-
2) Ergebnis Seite 3888 D setzentwurf ist damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Ja Günter Baumann Wolfgang Börnsen


Abgegebene Stimmen: 581; Ernst-Reinhard Beck (Bönstrup)
davon CDU/CSU (Reutlingen) Wolfgang Bosbach
ja: 314
Manfred Behrens (Börde) Norbert Brackmann
Ilse Aigner Dr. Christoph Bergner Michael Brand
nein: 266 Peter Altmaier Peter Beyer Dr. Reinhard Brandl
enthalten: 1 Peter Aumer Steffen Bilger Helmut Brandt
Dorothee Bär Clemens Binninger Dr. Ralf Brauksiepe
Thomas Bareiß Peter Bleser Dr. Helge Braun
Norbert Barthle Dr. Maria Böhmer Heike Brehmer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3889
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Ralph Brinkhaus Steffen Kampeter Christoph Poland Elisabeth Winkelmeier- (C)
Leo Dautzenberg Alois Karl Ruprecht Polenz Becker
Alexander Dobrindt Bernhard Kaster Eckhard Pols Dagmar Wöhrl
Thomas Dörflinger Siegfried Kauder (Villingen- Lucia Puttrich Dr. Matthias Zimmer
Marie-Luise Dött Schwenningen) Daniela Raab Wolfgang Zöller
Dr. Thomas Feist Volker Kauder Thomas Rachel Willi Zylajew
Enak Ferlemann Dr. Stefan Kaufmann Dr. Peter Ramsauer
Ingrid Fischbach Roderich Kiesewetter Eckhardt Rehberg FDP
Hartwig Fischer (Göttingen) Eckart von Klaeden Katherina Reiche (Potsdam) Jens Ackermann
Dirk Fischer (Hamburg) Ewa Klamt Lothar Riebsamen Christian Ahrendt
Axel E. Fischer (Karlsruhe- Volkmar Klein Josef Rief Christine Aschenberg-
Land) Jürgen Klimke Klaus Riegert Dugnus
Dr. Maria Flachsbarth Julia Klöckner Dr. Heinz Riesenhuber Daniel Bahr (Münster)
Klaus-Peter Flosbach Axel Knoerig Johannes Röring Florian Bernschneider
Herbert Frankenhauser Jens Koeppen Dr. Norbert Röttgen Sebastian Blumenthal
Dr. Hans-Peter Friedrich Manfred Kolbe Dr. Christian Ruck Claudia Bögel
(Hof) Dr. Rolf Koschorrek Erwin Rüddel Nicole Bracht-Bendt
Michael Frieser Hartmut Koschyk Albert Rupprecht (Weiden) Klaus Breil
Erich G. Fritz Thomas Kossendey Anita Schäfer (Saalstadt) Angelika Brunkhorst
Dr. Michael Fuchs Michael Kretschmer Dr. Wolfgang Schäuble Ernst Burgbacher
Hans-Joachim Fuchtel Rüdiger Kruse Dr. Annette Schavan Marco Buschmann
Alexander Funk Bettina Kudla Dr. Andreas Scheuer Sylvia Canel
Ingo Gädechens Dr. Hermann Kues Karl Schiewerling Helga Daub
Dr. Thomas Gebhart Günter Lach Norbert Schindler Reiner Deutschmann
Norbert Geis Dr. Karl A. Lamers Tankred Schipanski Dr. Bijan Djir-Sarai
Alois Gerig (Heidelberg) Christian Schmidt (Fürth) Patrick Döring
Eberhard Gienger Andreas G. Lämmel Patrick Schnieder Mechthild Dyckmans
Michael Glos Dr. Norbert Lammert Dr. Andreas Schockenhoff Rainer Erdel
Josef Göppel Katharina Landgraf Bernhard Schulte-Drüggelte Jörg van Essen
Peter Götz Ulrich Lange Uwe Schummer Ulrike Flach
Dr. Wolfgang Götzer Dr. Max Lehmer Armin Schuster (Weil am Otto Fricke
Ute Granold Paul Lehrieder Rhein) Dr. Edmund Peter Geisen
Reinhard Grindel Dr. Ursula von der Leyen Detlef Seif Dr. Wolfgang Gerhardt
Hermann Gröhe Ingbert Liebing Johannes Selle Hans-Michael Goldmann
(B) Michael Grosse-Brömer Matthias Lietz Reinhold Sendker Heinz Golombeck (D)
Markus Grübel Dr. Carsten Linnemann Dr. Patrick Sensburg Miriam Gruß
Manfred Grund Patricia Lips Thomas Silberhorn Joachim Günther (Plauen)
Monika Grütters Dr. Jan-Marco Luczak Johannes Singhammer Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Karl-Theodor Freiherr Dr. Michael Luther Jens Spahn Heinz-Peter Haustein
zu Guttenberg Karin Maag Carola Stauche Manuel Höferlin
Olav Gutting Dr. Thomas de Maizière Erika Steinbach Elke Hoff
Florian Hahn Hans-Georg von der Marwitz Christian Freiherr von Stetten Birgit Homburger
Holger Haibach Andreas Mattfeldt Dieter Stier Dr. Werner Hoyer
Dr. Stephan Harbarth Stephan Mayer (Altötting) Gero Storjohann Heiner Kamp
Jürgen Hardt Dr. Michael Meister Stephan Stracke Michael Kauch
Gerda Hasselfeldt Maria Michalk Max Straubinger Dr. Lutz Knopek
Dr. Matthias Heider Dr. h. c. Hans Michelbach Karin Strenz Pascal Kober
Mechthild Heil Dr. Mathias Middelberg Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. Heinrich L. Kolb
Ursula Heinen-Esser Philipp Mißfelder Lena Strothmann Hellmut Königshaus
Frank Heinrich Dietrich Monstadt Michael Stübgen Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Rudolf Henke Marlene Mortler Dr. Peter Tauber Sebastian Körber
Michael Hennrich Dr. Gerd Müller Antje Tillmann Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Jürgen Herrmann Stefan Müller (Erlangen) Dr. Hans-Peter Uhl Heinz Lanfermann
Ansgar Heveling Nadine Müller (St. Wendel) Arnold Vaatz Sibylle Laurischk
Ernst Hinsken Dr. Philipp Murmann Volkmar Vogel (Kleinsaara) Harald Leibrecht
Peter Hintze Bernd Neumann (Bremen) Stefanie Vogelsang Sabine Leutheusser-
Christian Hirte Michaela Noll Andrea Astrid Voßhoff Schnarrenberger
Robert Hochbaum Dr. Georg Nüßlein Dr. Johann Wadephul Lars Lindemann
Karl Holmeier Franz Obermeier Marco Wanderwitz Christian Lindner
Franz-Josef Holzenkamp Eduard Oswald Kai Wegner Dr. Martin Lindner (Berlin)
Joachim Hörster Henning Otte Marcus Weinberg (Hamburg) Michael Link (Heilbronn)
Anette Hübinger Dr. Michael Paul Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Erwin Lotter
Thomas Jarzombek Rita Pawelski Sabine Weiss (Wesel I) Oliver Luksic
Dr. Franz Josef Jung Ulrich Petzold Ingo Wellenreuther Horst Meierhofer
Andreas Jung (Konstanz) Dr. Joachim Pfeiffer Karl-Georg Wellmann Patrick Meinhardt
Dr. Egon Jüttner Sibylle Pfeiffer Peter Wichtel Gabriele Molitor
Bartholomäus Kalb Beatrix Philipp Annette Widmann-Mauz Jan Mücke
Hans-Werner Kammer Ronald Pofalla Klaus-Peter Willsch Petra Müller (Aachen)
3890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Burkhardt Müller-Sönksen Michael Gerdes Michael Roth (Heringen) Katja Kipping (C)
Dr. Martin Neumann Martin Gerster Marlene Rupprecht Harald Koch
(Lausitz) Iris Gleicke (Tuchenbach) Jan Korte
Hans-Joachim Otto Günter Gloser Anton Schaaf Jutta Krellmann
(Frankfurt) Ulrike Gottschalck Axel Schäfer (Bochum) Katrin Kunert
Gisela Piltz Angelika Graf (Rosenheim) Bernd Scheelen Sabine Leidig
Dr. Christiane Ratjen- Michael Groschek Dr. Hermann Scheer Ralph Lenkert
Damerau Michael Groß Marianne Schieder Michael Leutert
Dr. Birgit Reinemund Wolfgang Gunkel (Schwandorf) Stefan Liebich
Dr. Peter Röhlinger Hans-Joachim Hacker Werner Schieder (Weiden) Ulla Lötzer
Dr. Stefan Ruppert Bettina Hagedorn Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Gesine Lötzsch
Björn Sänger Klaus Hagemann Carsten Schneider (Erfurt) Thomas Lutze
Frank Schäffler Michael Hartmann Ottmar Schreiner Ulrich Maurer
Christoph Schnurr (Wackernheim) Swen Schulz (Spandau) Dorothée Menzner
Jimmy Schulz Hubertus Heil (Peine) Ewald Schurer Cornelia Möhring
Marina Schuster Rolf Hempelmann Frank Schwabe Kornelia Möller
Dr. Erik Schweickert Dr. Barbara Hendricks Dr. Angelica Schwall-Düren Niema Movassat
Werner Simmling Gustav Herzog Dr. Martin Schwanholz Wolfgang Nešković
Judith Skudelny Gabriele Hiller-Ohm Rolf Schwanitz Thomas Nord
Dr. Hermann Otto Solms Petra Hinz (Essen) Stefan Schwartze Petra Pau
Joachim Spatz Frank Hofmann (Volkach) Dr. Carsten Sieling Jens Petermann
Dr. Max Stadler Dr. Eva Högl Sonja Steffen Richard Pitterle
Dr. Rainer Stinner Christel Humme Dr. Frank-Walter Steinmeier Yvonne Ploetz
Stephan Thomae Josip Juratovic Christoph Strässer Ingrid Remmers
Florian Toncar Oliver Kaczmarek Kerstin Tack
Serkan Tören Paul Schäfer (Köln)
Johannes Kahrs Dr. h. c. Wolfgang Thierse Michael Schlecht
Johannes Vogel Dr. h. c. Susanne Kastner Franz Thönnes
(Lüdenscheid) Dr. Herbert Schui
Ulrich Kelber Wolfgang Tiefensee Dr. Ilja Seifert
Dr. Daniel Volk Lars Klingbeil Rüdiger Veit
Dr. Guido Westerwelle Kathrin Senger-Schäfer
Hans-Ulrich Klose Ute Vogt Raju Sharma
Dr. Claudia Winterstein Dr. Bärbel Kofler Dr. Marlies Volkmer
Dr. Volker Wissing Dr. Petra Sitte
Daniela Kolbe (Leipzig) Andrea Wicklein Kersten Steinke
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Fritz Rudolf Körper Heidemarie Wieczorek-Zeul Sabine Stüber
Anette Kramme Dr. Dieter Wiefelspütz Alexander Süßmair
(B) Nein Nicolette Kressl Waltraud Wolff Dr. Kirsten Tackmann (D)
Angelika Krüger-Leißner (Wolmirstedt) Frank Tempel
SPD Ute Kumpf Dagmar Ziegler Dr. Axel Troost
Christine Lambrecht Manfred Zöllmer Alexander Ulrich
Ingrid Arndt-Brauer
Christian Lange (Backnang) Brigitte Zypries Kathrin Vogler
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann Dr. Karl Lauterbach Sahra Wagenknecht
Steffen-Claudio Lemme FDP
Doris Barnett Halina Wawzyniak
Dr. Hans-Peter Bartels Burkhard Lischka Paul K. Friedhoff Harald Weinberg
Klaus Barthel Gabriele Lösekrug-Möller Jörn Wunderlich
Sören Bartol Kirsten Lühmann DIE LINKE Sabine Zimmermann
Bärbel Bas Caren Marks
Sabine Bätzing-Lichtenthäler Katja Mast Jan van Aken
BÜNDNIS 90/
Uwe Beckmeyer Hilde Mattheis Agnes Alpers
DIE GRÜNEN
Gerd Bollmann Petra Merkel (Berlin) Herbert Behrens
Klaus Brandner Dr. Matthias Miersch Matthias W. Birkwald Kerstin Andreae
Marco Bülow Dr. Rolf Mützenich Christine Buchholz Marieluise Beck (Bremen)
Ulla Burchardt Andrea Nahles Eva Bulling-Schröter Volker Beck (Köln)
Martin Burkert Dietmar Nietan Dr. Martina Bunge Birgitt Bender
Petra Crone Manfred Nink Roland Claus Alexander Bonde
Dr. Peter Danckert Thomas Oppermann Sevim Dağdelen Viola von Cramon-Taubadel
Martin Dörmann Holger Ortel Dr. Diether Dehm Ekin Deligöz
Elvira Drobinski-Weiß Aydan Özoğuz Heidrun Dittrich Katja Dörner
Garrelt Duin Heinz Paula Dr. Dagmar Enkelmann Hans-Josef Fell
Sebastian Edathy Johannes Pflug Wolfgang Gehrcke Dr. Thomas Gambke
Siegmund Ehrmann Joachim Poß Nicole Gohlke Katrin Göring-Eckardt
Dr. h. c. Gernot Erler Dr. Wilhelm Priesmeier Diana Golze Britta Haßelmann
Petra Ernstberger Dr. Sascha Raabe Annette Groth Bettina Herlitzius
Karin Evers-Meyer Mechthild Rawert Dr. Gregor Gysi Winfried Hermann
Elke Ferner Gerold Reichenbach Heike Hänsel Priska Hinz (Herborn)
Gabriele Fograscher Dr. Carola Reimann Dr. Rosemarie Hein Ulrike Höfken
Dr. Edgar Franke Sönke Rix Inge Höger Dr. Anton Hofreiter
Dagmar Freitag René Röspel Dr. Barbara Höll Bärbel Höhn
Peter Friedrich Dr. Ernst Dieter Rossmann Ulla Jelpke Ingrid Hönlinger
Sigmar Gabriel Karin Roth (Esslingen) Dr. Lukrezia Jochimsen Thilo Hoppe
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3891
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Uwe Kekeritz Markus Kurth Brigitte Pothmer Markus Tressel (C)
Katja Keul Undine Kurth (Quedlinburg) Tabea Rößner Jürgen Trittin
Memet Kilic Monika Lazar Claudia Roth (Augsburg) Daniela Wagner
Sven-Christian Kindler Nicole Maisch Krista Sager Wolfgang Wieland
Maria Klein-Schmeink Agnes Malczak Manuel Sarrazin
Ute Koczy Jerzy Montag Christine Scheel Dr. Valerie Wilms
Thomas Koenigs Kerstin Müller (Köln) Dr. Gerhard Schick Josef Philip Winkler
Sylvia Kotting-Uhl Beate Müller-Gemmeke Dr. Frithjof Schmidt
Oliver Krischer Ingrid Nestle Dorothea Steiner Enthalten
Agnes Krumwiede Dr. Konstantin von Notz Dr. Wolfgang Strengmann-
Fritz Kuhn Omid Nouripour Kuhn CDU/CSU
Stephan Kühn Friedrich Ostendorff Hans-Christian Ströbele
Renate Künast Lisa Paus Dr. Harald Terpe Veronika Bellmann

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: auf was sich das Hauptaugenmerk richten sollte, wenn es
um die Gesamtbewertung unserer Streitkräfte geht. Nicht
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbe- zuletzt lässt sich anhand einzelner Schicksale belegen,
auftragten dass Defizite und kritikwürdige Themen nicht nur mit
Jahresbericht 2009 (51. Bericht) fehlendem Geld, sondern auch mit grundsätzlichen
Strukturproblemen zu tun haben.
– Drucksache 17/900 –
Überweisungsvorschlag: Im Laufe der zurückliegenden fünf Jahre meiner
Verteidigungsausschuss Amtszeit habe ich – wie Sie sich vorstellen können –
zahlreiche Soldaten kennengelernt, deren Schicksale stell-
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, hierzu vertretend für viele Kameradinnen und Kameraden deut-
eine Dreiviertelstunde zu debattieren. – Dazu höre ich lich machen, was es heute bedeutet, in der Einsatzarmee
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bundeswehr Soldat zu sein. Beispielhaft nenne ich Ihnen
Ich gebe das Wort dem Wehrbeauftragten des Deut- einmal den Fall eines 25-jährigen Stabsgefreiten, den ich
schen Bundestages, Reinhold Robbe. hier in Berlin im Bundeswehrkrankenhaus besucht habe.
Dieser Soldat wurde im vergangenen Jahr bei einem der
(Beifall im ganzen Hause) vielen Gefechte im Großraum Kunduz schwer verwundet.
(B) Neben Splitterverletzungen war dieser junge Soldat vor (D)
Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen allem von großflächigen Brandverletzungen gezeichnet.
Bundestages: Die Erstversorgung und der Transport nach Deutschland
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten hatten gut geklappt. Die Weiterbehandlung konnte aber
Damen und Herren! Als alter Parlamentarier darf ich nicht, wie üblich, im Zentralkrankenhaus in Koblenz er-
auch sagen: Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor gut folgen, weil man dort die Abteilung für Schwerstbrand-
zwei Wochen mussten wir wieder einmal von Soldaten verletzungen wegen Ärztemangels schließen musste.
Abschied nehmen, die im Auslandseinsatz gefallen waren. Daher erfolgte die Überführung in ein ziviles Unfall-
Diesmal ging es um vier Angehörige unserer Streitkräfte. krankenhaus in Berlin.
Eine Woche zuvor, am Karfreitag, waren drei gefallene
Bei meinem ersten Besuch fiel mir auf, dass der
Soldaten und etliche Schwerverwundete zu beklagen.
Stabsgefreite nicht auf seine eigenen, durch schwere
Wenn mich gerade in diesen Tagen jemand fragt, was Brandwunden entstellten Beine schauen konnte. Wenn der
in den zurückliegenden fünf Jahren meiner Amtszeit das Soldat in irgendwelchen Fernsehsendungen Explosionen
Schwierigste war, dann gibt es für mich überhaupt kei- zu sehen bekam, musste er sofort den Fernsehapparat
nen Zweifel. Das Schwierigste, das auch bei mir Wun- ausschalten. Wie er mir erklärte, leide er nicht nur unter
den hinterlassen hat, waren die Momente, in denen ich seinen äußeren Verletzungen, sondern insbesondere unter
vor den Särgen der gefallenen Soldaten stand. Das seinen seelischen Verletzungen. Er hatte das Glück, sofort
Schwierigste meiner Amtszeit war für mich, in die Ge- die Hilfe eines versierten Psychiaters in Anspruch neh-
sichter der Angehörigen zu blicken, die um einen Sohn, men zu können.
einen Vater, einen Freund oder auch um einen Kameraden
Bei meinem zweiten Besuch zwei Wochen später
trauerten. Das Schwierigste war ganz ohne Zweifel der
konnte ich dann erfreut feststellen, dass der Stabsgefreite
Versuch, diesen trauernden und verzweifelten Angehörigen
große Fortschritte in seiner Genesung gemacht hatte.
in irgendeiner Weise Trost zu spenden, wohl wissend,
Diesmal konnte ich mich mit ihm auch über seine bisher
dass es in solch einer Situation eigentlich keinen Trost
gemachten Erfahrungen unterhalten. Der Soldat machte
geben kann.
sich über seine Zukunft Sorgen, weil er nicht mehr in
Die Schicksale der gefallenen Soldaten spiegeln in rea- seinem alten Beruf als Maler und Lackierer arbeiten
listischer und für die Betroffenen zum Teil auch in brutaler könne, wie er mir berichtete. Die Ärzte hatten ihm erklärt,
Weise wider, was es für unsere Soldatinnen und Soldaten dass der Umgang mit Lösungsmitteln und chemischen
heutzutage bedeutet, Dienst in einer Einsatzarmee zu Dämpfen aufgrund seiner Brandwunden ausgeschlossen
leisten. Diese Schicksale weisen aber auch darauf hin, sei.
3892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Wehrbeauftragter Reinhold Robbe


(A) Aufgrund seiner schweren Verwundungen berief sich nen hundertprozentigen, aber sehr wohl einen optimalen (C)
der Stabsgefreite auf das Einsatz-Weiterverwendungs- Schutz für die Soldaten geben kann, darf fehlendes Geld
gesetz. Nach diesem Gesetz erhalten die Geschädigten in diesem Fall kein Argument sein.
bekanntlich einen Rechtsanspruch auf Weiterbeschäfti-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bereits bei
gung als Berufssoldat, Beamter oder auch auf Lebenszeit
der Vorstellung meines vorletzten Jahresberichtes hatte
in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis beim Bund.
ich gefragt, ob die bekannten Mängel und Defizite der
Dies ist aber nur dann der Fall, wenn sie eine dauerhafte
Bundeswehr mit den Ansprüchen einer modernen Ein-
Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 Pro-
satzarmee zu vereinbaren seien. Die Antwort liegt zu-
zent nachweisen können. In dem genannten Beispiel
mindest für mich auf der Hand: ein deutliches Nein. Die
konnte sich der Stabsgefreite nicht auf das Einsatz-Wei-
Realität in den deutschen Streitkräften ist von unüber-
terverwendungsgesetz berufen, weil er vermutlich knapp
sichtlicher Führungsverantwortung, zu viel überflüssiger
unter dieser Mindestnorm von 50 Prozent bleiben wird,
Bürokratie, Reibungsverlusten durch Trennung von
wie ihm die Ärzte prognostizierten.
Truppe und Truppenverwaltung sowie veralteter Perso-
Ich schildere Ihnen den Einzelfall dieses Stabsgefrei- nal- und Materialplanung gekennzeichnet, um nur die
ten so ausführlich, weil sich daran sehr gut ablesen lässt, wichtigsten Stichworte zu nennen. Vor dem Hintergrund
wie es konkret um die soziale Absicherung unserer Sol- der aufgezeigten Problemfelder sollten aus meiner Sicht
datinnen und Soldaten im Einsatz bestellt sein kann. Für bei der bevorstehenden Überprüfung der Bundeswehr-
den Stabsgefreiten ergibt sich folgende Situation: Im struktur die Voraussetzungen für die unverzichtbare Mo-
Vertrauen auf die Fürsorgepflicht der Bundeswehr hatte dernisierung der Streitkräfte geschaffen werden.
er sich als Wehrpflichtiger für den Beruf des Soldaten
Das zurückliegende Jahr gehört für die deutschen
auf Zeit entschieden. Wegen seiner schweren Verwun-
Streitkräfte zu den ereignisreichsten ihrer 55-jährigen
dungen wird er nicht wieder in seinen alten Beruf zu-
Geschichte: zunächst der Aufwuchs des bisher größten
rückkehren können. Eine Weiterverwendung bei der
Auslandseinsatzes der Bundeswehr in Afghanistan mit
Bundeswehr kommt aber auch nicht infrage, weil er
einer Personalstärke von rund 4 500 Soldaten, eine sich
nicht über die 50-Prozent-Hürde der Wehrbeschädigung
permanent verschärfende Sicherheitslage, die von stun-
kommt. Er ist möglicherweise für sein ganzes Leben von
denlangen schweren Gefechten mit den bereits geschil-
seinen schweren Verwundungen gezeichnet und darüber
derten Opfern in den eigenen Reihen gekennzeichnet
hinaus wegen des – zumindest aus seiner Sicht – unsen-
war, aber ebenso von getöteten gegnerischen Kräften ge-
siblen Verhaltens des Dienstherrn enttäuscht.
prägt war. Im Zuge dieser sich zuspitzenden Lage im
Dieser Fall dokumentiert aus meiner Sicht nicht nur Raum Kunduz kam das bekannte Bombardement zweier
die Notwendigkeit, bestimmte Leistungsgesetze nachzu- Tanklastzüge, in dessen Folge die Entlassung des Gene-
(B)
bessern. Der Fall macht auch deutlich, dass die Soldaten ralinspekteurs und eines Staatssekretärs, der Rücktritt ei- (D)
besonders im vergangenen Jahr und speziell in Kunduz nes Bundesministers und die Einsetzung eines Untersu-
jeden Tag miterleben mussten, was es heute bedeutet, im chungsausschusses stattfanden. Nicht unerwähnt bleiben
Einsatz zu sein. Wenn ich mir die Probleme vieler Solda- darf die von der Koalition beschlossene Reduzierung der
ten näher betrachte, stelle ich fest, dass einige Verant- Wehrpflichtdauer von neun auf sechs Monate.
wortliche in der Bundeswehrführung mit Blick auf die
Alles in allem sind das eine Reihe von zum Teil ein-
Fürsorgepflicht gegenüber den Soldatinnen und Soldaten
schneidenden Ereignissen, die natürlich auch nicht spur-
noch nicht in der Einsatzrealität angekommen sind.
los an den Soldatinnen und Soldaten vorbeigezogen
Wenn ich auf die Fürsorge zu sprechen komme, beziehe
sind.
ich diese nicht nur auf die soziale Absicherung bei
schwerer Verwundung oder Tod im Einsatz, sondern ge- Zusammenfassend, meine Damen und Herren, will
rade auch auf den Schutz und die Sicherheit unserer Sol- ich Folgendes feststellen:
datinnen und Soldaten.
Erstens. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten
Auf Fähigkeitslücken in der Ausbildung weise ich trotz der von mir genannten und bekannten Strukturpro-
nicht zum ersten Mal hin. Bereits seit Jahren kritisiere bleme seit vielen, vielen Jahren einen großartigen Job.
ich diesen Punkt. Trotzdem ist es bis heute nicht gelun-
gen, die für die Ausbildung erforderliche Zahl von ge- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
schützten Fahrzeugen anzuschaffen. Das optimale Be- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
herrschen der nicht einfach zu lenkenden Fahrzeuge Gerade das ereignisreiche zurückliegende Jahr hat wie-
kann jedoch für das Überleben im Einsatz entscheidend der einmal deutlich gemacht, wie belastbar die Soldaten
sein. Aus diesem Grund fehlt mir jedes Verständnis für sind. Fehlendes Material, Lücken bei der strategischen
dieses gravierende Defizit in der Ausstattung und in der Fähigkeit, bürokratische Unsinnigkeiten, unzureichende
Ausbildung. Planungsvorgaben, Mängel in der Ausbildung und in der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Einsatzvorbereitung sowie demotivierende Besoldungs-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und Beförderungsdefizite werden an der Basis vor allem
FDP und der LINKEN) durch ein unglaubliches Improvisationstalent und durch
kameradschaftliche gegenseitige Unterstützung kompen-
Der immer wieder gehörte Einwand, es stehe für diese siert. Deshalb sage ich jetzt, am Schluss meiner Amts-
Einsatznotwendigkeiten kein Geld zur Verfügung, ist für zeit, auch in meiner speziellen Verantwortung allen Sol-
mich nicht hinnehmbar. Wohl wissend, dass es zwar kei- datinnen und Soldaten in den Heimatstandorten und in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3893
Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
(A) den Auslandseinsätzen meinen tief empfundenen und len anderen Ländern, auch bei unseren Bündnispartnern, (C)
ehrlich gemeinten Dank für ihren aufopferungsvollen eine Selbstverständlichkeit ist.
und wirklich großartigen Dienst.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weil es auch über 60 Jahre nach Gründung der Bun-
Zweitens. Unabhängig von den bereits beschriebenen desrepublik immer noch nicht gelungen ist, den notwen-
strukturellen Problemen in den Streitkräften ist ein Be- digen breiten gesellschaftlichen Rückhalt für unsere Sol-
reich von herausragender Bedeutung. Ich habe in allen daten zu schaffen, ist es nach meiner festen Überzeugung
Berichten, die ich dem deutschen Parlament bisher vor- notwendig, diese menschliche Unterstützung durch die
legte, immer wieder und in einer deutlichen Sprache auf Gesellschaft regelrecht zu organisieren. Hier steht nicht
die Defizite der Sanität hingewiesen. Die Situation hat nur die Politik in der Pflicht, sondern alle Organisationen
sich trotzdem von Jahr zu Jahr verschlechtert. Ob es sich und Institutionen in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft.
um die flächendeckende allgemeine sanitätsärztliche Insbesondere die Eliten bei uns im Land sind hier gefragt.
Versorgung der Bundeswehrangehörigen, um die Bun- Ich selber beziehe mich in diese Pflicht übrigens aus-
deswehrkrankenhäuser, um die Versorgung der posttrau- drücklich ein.
matisch belasteten Soldatinnen und Soldaten oder um Abschließend will ich mich ganz herzlich bei all de-
die Personalrekrutierung und die Personalführung han- nen bedanken, die mich in den zurückliegenden fünf
delt, auf allen Gebieten wurde viel zu spät gehandelt, Jahren bei meinen Aufgaben unterstützt haben. Diesen
wurden Entwicklungen regelrecht verschlafen und Pro- Dank beziehe ich auf den jetzt amtierenden Bundes-
bleme offensichtlich bewusst schöngeredet. Erst nach minister Dr. zu Guttenberg, auf die Minister, mit denen
massivem politischen Druck aus dem Verteidigungsaus- ich es vorher zu tun hatte, auf die politische und militäri-
schuss wurden Initiativen entwickelt und sind jetzt end- sche Führung der Streitkräfte und auf alle Dienststellen,
lich erste Lösungsansätze erkennbar. Es bleibt zu hoffen, die mit meinem Amt besonders eng zusammengearbeitet
dass die reformwilligen Verantwortungsträger in der Sa- haben, sowie natürlich auf die Vertrauenspersonen in der
nität die erforderlichen Handlungsmöglichkeiten einge- Bundeswehr und ganz besonders auf die Militärseel-
räumt bekommen. sorge. Vor allem bedanke ich mich bei Ihnen, bei allen
Drittens. Die Attraktivität des Soldatenberufes war Mitgliedern des Deutschen Bundestages, hier wiederum
und ist auch weiterhin schweren Belastungen ausgesetzt. natürlich besonders beim Verteidigungsausschuss für das
Insbesondere bei etlichen Spezialverwendungen und bei zumindest aus meiner Sicht sehr gute, nein, ich möchte
den besonders belasteten Truppenteilen hat die Konkur- sagen: ausgezeichnete und vertrauensvolle Zusammen-
(B) renzsituation im zivilen Bereich zur wesentlichen Ver- wirken. Nicht zuletzt danke ich meiner eigenen Mann- (D)
schärfung der Personallage in der Bundeswehr beigetra- schaft im Amt des Wehrbeauftragten. Ohne die tatkräf-
gen. Beispielhaft nenne ich die Sanitätsärzte, die Piloten tige Unterstützung meiner Leute hätte ich meine Arbeit
und die Spezialkräfte. nicht so leisten können.

Viertens. Die innere Verfassung der Streitkräfte ist, (Beifall im ganzen Hause)
ungeachtet immer wieder aufgetretener Ereignisse wie Die zurückliegenden fünf Jahre waren für mich eine
jüngst im Zusammenhang mit bestimmten nicht tolerier- durchaus erfüllte und auch prägende Zeit. Ich habe ver-
baren Ritualen, als vorbildlich und respektabel zu be- sucht, der Institution des Wehrbeauftragten ein Gesicht
zeichnen. Die Prinzipien der Inneren Führung und des zu geben. Ich hoffe, dass man das ein wenig gespürt hat.
Staatsbürgers in Uniform sind auf allen Ebenen verin- Herzblut war sicher auch dabei. Meinem Amtsnachfol-
nerlicht und bilden das verlässliche Wertegerüst und das ger, Herrn Königshaus, wünsche ich eine glückliche
ethische Fundament des Denkens und Handelns in den Hand und viel Erfolg. Ich biete ihm jegliche Unterstüt-
Streitkräften. zung an und bitte Sie, dass Sie ihm das an Unterstützung
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und Aufmerksamkeit geben, was ich in diesem Hause
der FDP) immer wieder erfahren durfte. In diesem Sinne auch Ih-
nen alles Gute und Gottes Segen.
Fünftens. Bei jedem Truppenbesuch beklagen die
Ich melde mich ab.
Soldatinnen und Soldaten die allgemein geringe mensch-
liche Zuwendung durch unsere Gesellschaft. Wir haben (Beifall im ganzen Hause)
es hier mit einem Phänomen zu tun, das immer wieder
mit anderen Problemen vermengt und verwechselt wird. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Es geht bei diesem Punkt ausdrücklich nicht darum, sich
Herr Robbe, während Sie die Glückwünsche und den
mit irgendwelchen Auslandseinsätzen politisch zu iden-
Dank entgegennehmen, will ich Ihnen im Namen des ge-
tifizieren. Wenn die Soldaten mehr als ein „freundliches
samten Hauses offiziell danken. Vielen Dank für den Be-
Desinteresse“ von den Mitbürgerinnen und Mitbürgern
richt 2009, auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
der Zivilgesellschaft erwarten, dann berufen sie sich
Vielen Dank für Ihren Einsatz und für Ihr Engagement in
vielmehr auf eine Selbstverständlichkeit. Wer seine Ge-
den letzten fünf Jahren. Wir wünschen Ihnen alles Gute
sundheit und sein Leben für sein Land einsetzt, der darf
und ich persönlich ebenfalls Gottes Segen.
das an menschlicher Zuwendung, an Aufmerksamkeit
und Solidarität, ja an Nächstenliebe erwarten, was in vie- (Beifall)
3894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Ich gebe das Wort der Kollegin Anita Schäfer für die Wir hatten bereits bei der Befassung mit dem letzten (C)
CDU/CSU-Fraktion. Jahresbericht festgehalten, dass das Fehl an geschützten
Fahrzeugen geringer geworden ist. Ich verfolge mit Inte-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) resse die Bemühungen, die noch vorhandenen Lücken zu
schließen, wie erst jüngst mit der Bestellung weiterer
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): 60 Fahrzeuge vom Typ EAGLE IV. Natürlich werden
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- die verfügbaren Fahrzeuge zuerst dort eingesetzt, wo sie
legen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, zunächst am dringendsten gebraucht werden, nämlich im Einsatz
möchte ich Ihnen, Herr Robbe, auch namens der CDU/ selbst. Das führt dann aber dazu, dass im Inland nur eine
CSU-Fraktion noch einmal ganz herzlich Dank sagen für geringe Zahl für die einsatzvorbereitende Ausbildung
Ihre Arbeit in den vergangenen Jahren. In diesen Dank zur Verfügung steht.
möchte ich Ihre Mitarbeiter einschließen.
Nach wie vor kritisch ist die Situation im Sanitäts-
Sie haben dieses Amt zu einer Zeit ausgeübt, in der dienst. Auch dies betrifft zuerst die truppenärztliche
das Wohlergehen der Soldaten der Bundeswehr so stark Versorgung im Inland ebenso wie den Betrieb an den
im Fokus der Öffentlichkeit steht, wie es vielleicht noch Bundeswehrkrankenhäusern. Daher müssen wir sehr ge-
nie der Fall war. Denn zum ersten Mal sind die Streit- nau beobachten, welche Auswirkungen die eingeleiteten
kräfte der Bundesrepublik Deutschland so massiv an ei- Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung im Sanitäts-
nem bewaffneten Konflikt beteiligt. In diesem Konflikt dienst haben.
gibt es Verwundete und Gefallene. Unabhängig davon,
ob der Einzelne diesem Einsatz zustimmt oder nicht, Ein weiterer einsatzrelevanter Punkt in dem Bericht
ist erneut die Problematik der posttraumatischen Belas-
wird zum ersten Mal auch in der breiten Öffentlichkeit
kritisch gefragt: Sind unsere Soldaten, die gerade in die- tungsstörungen. Im Bericht wird noch einmal die Ver-
sem Moment in Afghanistan ihr Leben riskieren, mit al- wirklichung eines PTBS-Kompetenzzentrums für die
Bundeswehr gefordert. Dieses Vorhaben haben bekannt-
lem Notwendigen versorgt? – Nach meinem Eindruck
zeigt sich hier eine neue Anteilnahme in der Öffentlich- lich vor kurzem nochmals alle Fraktionen im Verteidi-
keit, die Sie, Herr Robbe, in Ihren letzten Jahresberich- gungsausschuss unterstützt. Ich freue mich, Herr Minis-
ten völlig zu Recht angemahnt haben. Es ist bedauerlich, ter zu Guttenberg, dass Sie nunmehr die Einrichtung
dass sich diese Anteilnahme offenbar erst durch die Ver- eines solchen Zentrums in Berlin angewiesen haben.
luste des vergangenen Monats so verbreitet hat. Aber es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ist gut, dass sich die Gesellschaft verstärkt zu ihren Sol-
daten bekennt. Die anstehende Aufstockung und Umstrukturierung
des deutschen ISAF-Kontingents wird die eben genann-
(B) (D)
So sehr ich dies begrüße, sehe ich allerdings auch die ten Probleme nicht vereinfachen. Ich begrüße die ver-
Verantwortung aller Mitglieder in diesem Hohen Hause, schiedenen Initiativen, die bereits im Bundesvertei-
der Bevölkerung den Sinn dieser Auslandseinsätze zu digungsministerium ergriffen worden sind, um Abhilfe
vermitteln. zu schaffen, um Ausstattung und Ausbildung weiter zu
verbessern und die Truppe durchsetzungsfähiger zu ma-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen. Wir müssen aber realistisch sehen, dass diese
Das gilt gerade für den Einsatz der Bundeswehr in Maßnahmen nicht schon morgen alle Engpässe beseiti-
Afghanistan, der von vielen abgelehnt wird. Wenn es uns gen werden. Der Bedarf für die optimale Versorgung im
gelingt, die Notwendigkeit dieser Einsätze zu vermitteln, Einsatz hat sich auch nicht erledigt, wenn die Bundes-
wird die Unterstützung für unsere Soldaten umso stärker wehr ihre Aufgaben nach und nach an die afghanischen
wachsen. Denn diese leisten ihren Dienst gerade für die Sicherheitskräfte übergibt, auch dann nicht, wenn diese
Sicherheit unserer Bevölkerung, auch, vielleicht sogar Mission in einigen Jahren hoffentlich erfolgreich abge-
gerade auch am Hindukusch, gemeinsam mit unseren schlossen ist.
Bündnispartnern, die sich früher in unserem eigenen
Wir dürfen bei eventuellen künftigen Einsätzen nicht
Land jahrzehntelang gegen eine gemeinsame Bedrohung
wieder denselben Problemen gegenüberstehen. Dazu be-
engagiert haben. Afghanistan darf nicht wieder zur Ope-
darf es langfristiger Bemühungen, einschließlich der
rationsbasis des internationalen Terrors werden, der uns
notwendigen Unterlegung durch Haushaltsmittel. Hier
alle im Visier hat.
tragen wir alle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
Neben Verbesserungen in einigen Bereichen werden Verantwortung. Dies gilt übrigens auch für die wehrtech-
im aktuellen Bericht des Wehrbeauftragten erneut Män- nische Industrie. Kostspielige Verzögerungen wie beim
gel festgestellt, die angesichts der laufenden Einsätze be- A400M oder beim Kampfhubschrauber TIGER müssen
sonders kritisch erscheinen. Die Probleme treten dabei wieder die Ausnahme werden; denn schließlich wird
häufig gar nicht im Einsatz selbst auf; denn vorhandene modernes Gerät so schnell wie möglich für die Einsätze
Ressourcen werden mit Priorität den dortigen Kontin- gebraucht, um durch bestmöglichen Schutz und wir-
genten zugeleitet. Dies führt jedoch in einigen Fällen zu kungsvolle Technik weitere Opfer unter unseren Solda-
einem Verdrängungseffekt bei den Ressourcen im In- ten im Einsatz möglichst zu vermeiden.
land, wovon wiederum nicht zuletzt die Einsatzvorberei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tung betroffen ist. Dieser Effekt ist beispielsweise bei
den geschützten Fahrzeugen und im Sanitätsdienst sicht- Auch wenn die Situation im Einsatz derzeit die Dis-
bar. kussion beherrscht, möchte ich zum Schluss auf die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3895
Anita Schäfer (Saalstadt)
(A) Attraktivität der Bundeswehr insgesamt zu sprechen lichkeit der brutalen Härte dieses Einsatzes stellen. Den- (C)
kommen. Auch dazu werden im Bericht des Wehrbeauf- ken reicht aber natürlich nicht aus. Wir müssen auch
tragten erneut eindeutige Aussagen getroffen. Überpro- handeln. Dass wir dies nicht tun, jedenfalls nicht in dem
portional zur Zahl der tatsächlichen Eingaben bleibt Umfang, wie unsere Soldatinnen und Soldaten dies er-
etwa die Vereinbarkeit von Familie und Dienst bestim- warten, auch das können wir im Bericht des Wehrbeauf-
mend. Insbesondere gilt dies für Möglichkeiten zur tragten nachlesen.
Kinderbetreuung. Da müssen manchmal vorhandene
Möglichkeiten einfach nur konsequent genutzt werden. Ich kann gut verstehen, dass sich viele Soldatinnen
Im Rahmen eines entsprechenden Pilotprojekts, so wird und Soldaten heute manchmal alleingelassen fühlen.
im Bericht festgestellt, wurden vielfach bereits Beleg- Dieser Jahresbericht zeigt Zustände bei den Auslands-
rechte an kommunalen Betreuungseinrichtungen wieder- einsätzen auf, die inakzeptabel sind und die schnellst-
entdeckt, insgesamt 9 000 Plätze an 350 Einrichtungen möglich abzustellen sind. Das fängt bei der mangelhaf-
in 150 Bundeswehrstandorten. ten materiellen Ausstattung an, die sich insbesondere in
den Einsätzen und in der Vorbereitung darauf bemerkbar
Gute Nachrichten gibt es auch beim Sonderprogramm macht. Gerade nach den schweren Gefechten der letzten
zur Sanierung der Westkasernen. Hier sind in den letzten Monate in Afghanistan wurde immer wieder auf den
drei Jahren 356 Millionen Euro verbaut worden. Für die- Mangel an geschützten Fahrzeugen hingewiesen. Auch
ses und das nächste Jahr sind weitere 246 Millionen wenn ich Verständnis dafür habe, dass geschützte Fahr-
Euro geplant. Ab Ende dieses Jahres wird zugleich der zeuge natürlich nicht über Nacht beschafft werden
neue Unterkunftsstandard umgesetzt, der vor allem für können: Es gibt auch Mängel beim Material, die sich
die längerdienenden Mannschaftsdienstgrade eine Ver- wirklich schneller abstellen ließen. So weist der Wehrbe-
besserung bedeutet, die gewissermaßen den Muskel der auftragte darauf hin, dass letztes Jahr sage und schreibe
Einsatzkontingente darstellen. Ein kritischer Punkt vier Monate vergingen, bis geeignete Schutzbrillen für
bleibt nach wie vor die ausreichende Verfügbarkeit von den Einsatz in Afghanistan beschafft wurden. Das sind
Pendlerunterkünften für Soldaten ab 25, die nicht mehr Verzögerungen, für die unsere Soldaten – zu Recht, finde
in der Kaserne unterkunftspflichtig sind. Im Bericht wird ich – kein Verständnis haben.
auch hier auf Beispiele erfolgreicher Kooperation mit
örtlichen Anbietern hingewiesen. Es ist wünschenswert, Auch die Vorbereitung auf das im Einsatz verwendete
dass das Schule macht und an allen Standorten der Be- Material muss deutlich verbessert werden. Es ist in der
darf gedeckt werden kann. Tat ein Unding, wenn Fahrer und Mannschaften in Deutsch-
land, wenn überhaupt, nur unzureichend auf Einsatzfahr-
Ich selbst möchte diese Rede nicht beenden, ohne al- zeugen wie dem DINGO geschult werden. Hier muss die
len Männern und Frauen der Bundeswehr für ihren Bundeswehr dringend Abhilfe schaffen. Wir werden das (D)
(B)
Dienst zu danken, denen im Einsatz, aber auch denen in als Parlament genau verfolgen.
unseren Heimatstandorten. Ich bitte darum, dass wir sie
dabei weiterhin auf jede Weise unterstützen. (Beifall bei der SPD)

Herzlichen Dank. Was die Infrastruktur in Deutschland angeht, will ich


an dieser Stelle nicht ins Detail gehen. Ich denke, jeder
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von uns kennt abschreckende Beispiele über den
schlechten Zustand von Kasernen, vor allem in West-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: deutschland. Aber eine Zahl hat mich den Bericht doch
Die Kollegin Karin Evers-Meyer hat das Wort für die sehr aufmerksam lesen lassen: Teilweise sind bis zu zehn
SPD-Fraktion. Stellen an der Genehmigung von Bauvorhaben beteiligt.
Das kann doch wirklich schneller und unbürokratischer
(Beifall bei der SPD) gemacht werden. Das Ministerium und die Bundeswehr
sollten sich endlich bemühen, derartige Zustände abzu-
Karin Evers-Meyer (SPD): stellen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Zweiter Punkt der Mängelliste: Defizite bei Personal
Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Damen und und Ausbildung. Beklagt wird im Bericht der fehlende
Herren! Im Mittelpunkt des Jahres 2009 stand für die Praxisbezug in der Ausbildung von Offizieren und Un-
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr vor allem ei- teroffizieren. Gerade im Hinblick auf spätere Führungs-
nes, nämlich ihre schwere und gefährliche Arbeit in verwendungen sollte man darüber nachdenken, ob ein
Afghanistan. Das spiegelt sich auch im Jahresbericht des früherer und intensiverer Kontakt zur Truppe nicht von
Wehrbeauftragten wider; es spiegelt sich dort auch wi- Vorteil wäre.
der, dass die Soldatinnen und Soldaten in diesem realen,
tagtäglichen Einsatz in Afghanistan ihr Leben und ihre Die Bundeswehr hat einen jährlichen Personalbedarf
Gesundheit riskieren. Wie wir alle wissen, war auch das von 23 700 Soldatinnen und Soldaten. Diese Bedarfs-
Jahr 2009 ein Jahr, das Opfer gefordert hat. An die Sol- marke wurde 2009 um rund 2 000 verpasst. Mit dem
datinnen und Soldaten und ihre Angehörigen müssen wir Blick auf die Zukunft muss die Truppe deshalb vor allen
alle, wir Politiker, Journalisten, Fachleute und die ge- Dingen im Bereich der Attraktivität endlich mehr tun,
samte Öffentlichkeit heute und jeden Tag denken, wenn um guten Nachwuchs zu bekommen. Im Bericht des
wir über den Einsatz der Bundeswehr sprechen. An die Wehrbeauftragten wird deutlich, dass das Thema „At-
müssen wir denken, und wir müssen uns in der Öffent- traktivität der Streitkräfte“ oft immer noch vernachläs-
3896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Karin Evers-Meyer
(A) sigt wird. So gibt es nach wie vor zahlreiche Klagen über Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
eine wirklich unbefriedigende Beförderungssituation Christoph Schnurr hat das Wort für die FDP-Fraktion.
und über ein unfaires Beurteilungssystem.
(Beifall bei der FDP)
Schließlich geht es – drittens – in vielen Zuschriften
von Soldatinnen und Soldaten um das Thema „Attrakti- Christoph Schnurr (FDP):
vität der Bundeswehr“, wozu die Infrastruktur genauso Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
zählt wie die leider immer noch zu schlechte Vereinbar- nen und Kollegen! Lieber Herr Wehrbeauftragter Robbe!
keit von Familie und Beruf. Über gut gemeinte Absichts- Es ist nicht lange her, da übergab der amtierende Wehrbe-
erklärungen ist man hier offensichtlich immer noch nicht auftragte des Deutschen Bundestages seinen Jahresbe-
weit hinausgekommen. So gibt es für die immerhin rund richt 2009, zuerst dem Bundestagspräsidenten und dann
30 000 Soldatenkinder unter sechs Jahren keine ausrei- dem Verteidigungsausschuss. Das scheint auf den ersten
chende Zahl an Betreuungsplätzen, auch wenn nicht zu- Blick nur ein kleiner Kreis interessierter Leser zu sein.
letzt unter Druck der Berichte des Wehrbeauftragten in- Doch dieser 51. Jahresbericht wurde seit dem 16. März
zwischen zahlreiche „Belegrechte“ entdeckt wurden, die 2010 über 16 000-mal heruntergeladen. Er führt damit die
in Vergessenheit geraten waren. Sorgen bereitet darüber Rangliste der Downloads an, die im März von der Bun-
hinaus die Betreuung der Kinder während der Einsatz- destagswebsite abgefragt wurden. Dies zeigt einmal
zeiten. Zwar leisten hier Familienbetreuungszentren gute mehr, wie wichtig dieser Bericht ist und welch großes In-
Arbeit; aber diese Betreuung steht und fällt eben auch teresse er in der Bevölkerung hervorruft.
mit einer guten finanziellen Ausstattung dieser Zentren.
Lieber Herr Robbe, ich möchte Ihnen auch im Namen
Geradezu ein Klassiker in jedem Jahresbericht sind meiner Fraktion für Ihre Arbeit danken, die Sie in den
die Klagen über den Wehrdienst. Ich kann nur immer letzten fünf Jahren geleistet haben. Der Dank gilt auch
und immer wieder wiederholen: Wenn wir wollen, dass Ihrem Hause und Ihrem Team, die Sie bei der Erstellung
junge Männer diesen Dienst leisten, müssen wir dafür der Berichte unterstützt und die ein Auge auf die Bun-
sorgen, dass die Dienstzeit als sinnvoll empfunden wird. deswehr gehabt haben, um Missstände offenzulegen.
Ich bin eine Anhängerin der Wehrpflicht. Deswegen är- Doch wollen wir nicht vergessen: Ohne die Eingaben der
gern mich die jährlichen Hinweise aus den Reihen der Betroffenen wäre es für jeden, der das Amt des Wehrbe-
Wehrpflichtigen, die ihre Dienstzeit als vergeudete Mo- auftragten bekleidet, schwer, Mängel aufzudecken. Die
nate empfinden. Eingaben machen deutlich, dass die Institution des
Meine Forderung an die Regierung lautet daher: Ma- Wehrbeauftragten alternativlos ist und gebraucht wird.
chen Sie sich endlich ernsthafte Gedanken über die Zu- In der letzten Debatte zeichnete sich bereits ab, wel-
(B) kunft der Wehrpflicht, und sorgen Sie auch für eine sinn- (D)
che Themen und welche Probleme diesem 51. Bericht zu
volle Ausgestaltung dieser Zeit! Was wir in den letzten entnehmen sein würden. Heute lässt sich sagen: Unsere
Wochen über Ihre Pläne zum sechsmonatigen Wehr- Erwartungen haben sich bestätigt.
dienst lesen mussten, beruhigt uns leider nicht.
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Zum wie-
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme derholten Male fallen Probleme besonders im Sanitäts-
zum Ende. Lassen Sie mich noch dem scheidenden dienst auf: fehlendes Personal, Abwanderung der Fach-
Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern für ihre her- kräfte und Nachwuchssorgen. Die Attraktivität des
vorragende Arbeit danken. Lieber Reinhold Robbe, du Dienstes ist ein Thema, das in allen Bereichen der Bun-
hast dir in den vergangenen fünf Jahren über Parteigren- deswehr angegangen werden muss. Hier bleibt weiterhin
zen hinweg ein hohes Ansehen erarbeitet. Vor allen Din- viel zu tun. Ich warte gespannt auf die Stellungnahme
gen hast du es geschafft, das Vertrauen der Soldatinnen des Ministeriums zu diesem 51. Bericht, insbesondere
und Soldaten zu erlangen. Das ist schließlich die vor- im Bezug auf den Sanitätsdienst und die Maßnahmen,
nehmste Aufgabe eines Wehrbeauftragten. Deine Be- die folgen müssen.
richte waren schonungslos, detailliert und kompetent.
Sie haben den Finger in die Wunde gelegt und Mängel Der Sanitätsdienst nimmt eine besondere Stellung in
aufgezeigt. Du hast keine Konfrontation gescheut – auch der Bundeswehr ein. Ihm obliegt es, die Gesundheit und
das müssen wir sagen –, sei es mit dem Parlament oder Leistungsfähigkeit der Soldaten im In- und Ausland auf-
mit dem Bundesministerium der Verteidigung. rechtzuerhalten. Hier besteht dringender Handlungsbe-
darf. Herr Minister, die Probleme und Schwierigkeiten
Du hast aber noch etwas anderes geschafft, das ich im Sanitätsdienst sind hinlänglich bekannt. Jetzt müssen
ebenfalls für wichtig halte: Immer wieder hast du in der sie rasch abgestellt werden, damit dieser Dienst wieder
Öffentlichkeit darauf hingewiesen, dass die materielle in geordnete Bahnen kommt.
Ausstattung der Bundeswehr nicht alles ist. Soldaten
brauchen auch den Rückhalt der Gesellschaft, sprich: Der erste Fortschritt innerhalb des Sanitätswesens ist
den Rückhalt in der Bevölkerung. Ihre Sorgen und Pro- sicherlich das im Koalitionsvertrag vereinbarte PTBS-
bleme gehen uns alle an. Damit, lieber Reinhold Robbe, Zentrum. Hier wurden erste ernsthafte Anstrengungen
wird dein Name lange verbunden bleiben. Ich danke dir unternommen. Aber wir dürfen an dieser Stelle nicht
dafür im Namen meiner Fraktion sehr herzlich. nachlassen. Ich bedanke mich ausdrücklich beim gesam-
ten Parlament, das dieses Vorhaben fraktionsübergrei-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und fend unterstützt hat, wenn es auch maßgeblich von mei-
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ner Kollegin Elke Hoff angestoßen wurde. Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3897
Christoph Schnurr
(A) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ernst- Was bringt die Zukunft? Die Strukturkommission (C)
Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/CSU]) nimmt ihre Arbeit auf. Unter der verantwortungsvollen
Führung von Frank-Jürgen Weise wird sie sicherlich
Reden wir von Ausrüstung und Ausbildung. Auf der
tiefgreifende Änderungsvorschläge bringen. Eins ist
Reise mit dem Minister nach Afghanistan habe ich mich
klar: Es darf dabei keine Tabus geben. Wir alle in diesem
mit einigen Soldaten unterhalten können. Mir gegenüber
Haus sind gespannt auf den Abschlussbericht der Kom-
sagten einige Infanteristen, dass sie erst im Einsatz mit
mission und sollten auch mit unangenehmen Inhalten
den Fahrzeugen DINGO und EAGLE IV fahren konnten
rechnen. Der 51. Bericht des Wehrbeauftragten ist si-
und erst vor Ort in diese Geräte eingewiesen wurden.
cherlich auch eine gute Quelle für die Arbeit der Kom-
Meine Damen und Herren, es ist ein Unding, dass Solda-
mission.
ten ohne ordentliche Ausbildung für das entsprechende
Gerät in den Einsatz geschickt werden. Es ist nicht nur Lieber Kollege Königshaus, bald werden Sie dieses
sinnvoll, unsere Soldaten mit der bestmöglichen Aus- Hohe Haus verlassen, um das Amt des Wehrbeauftragten
stattung auszurüsten; es ist auch zwingend erforderlich, zu bekleiden. Für Ihre Verdienste als Mitglied des Bun-
die Soldaten an den entsprechenden Geräten in der Hei- destages möchte ich mich an dieser Stelle recht herzlich
mat auszubilden. Vielleicht sollten wir überlegen, den bedanken. Für das neue Amt wünsche ich Ihnen alles er-
Grundsatz des einsatzbedingten Sofortbedarfs auch in denklich Gute. Bei einem Richter, der Wehrbeauftragter
Deutschland anzuwenden. Denn die Ausbildung für den wird, ist der Vertrauensvorschuss bestimmt nicht falsch
Einsatz ist ebenfalls einsatzbedingt. angelegt. Ich habe keine Sorge, dass Sie bei den Solda-
An dieser Stelle möchte ich allen Soldaten der Bun- tinnen und Soldaten der Bundeswehr bald genau das
deswehr, ihren Familien und Angehörigen, ob im In- gleiche hohe Ansehen und Vertrauen haben, wie Sie es
oder Ausland, für ihren beispiellosen Dienst danken und, bei uns im Parlament genießen. Ihnen viel Erfolg!
damit verbunden, meinen Respekt vor ihrer Arbeit be- Ihnen, Herr Robbe, zum Abschluss noch einmal ein
kunden. ganz herzliches Dankeschön.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Vielen Dank.
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das bringt mich auch schon zum nächsten Thema. In
Großbritannien gab es vor dem Irakkrieg über das ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
samte Land verteilt Demonstrationen gegen eine Teil- Paul Schäfer hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
nahme. Als die Regierung eine Beteiligung beschloss,
(B) (Beifall bei der LINKEN) (D)
war noch immer ein Großteil der Bevölkerung dagegen.
Es hat sich jedoch niemand gegen die Streitkräfte ge-
wandt. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Es steht jeder Bürgerin und jedem Bürger frei, wie sie Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Streit-
oder er die Einsätze bewertet, in die wir Parlamentarier kräfte – auch die Bundeswehr – brauchen parlamenta-
die Bundeswehr geschickt haben. Von der Bevölkerung risch-demokratische Kontrolle. Das wussten auch dieje-
und einigen Abgeordneten würde ich mir allerdings et- nigen, die das Amt des Wehrbeauftragten ins Grundgesetz
was mehr Respekt vor den Menschen wünschen, die den geschrieben haben.
Beruf des Soldaten gewählt haben.
Kontrolle beginnt mit Information. Dabei sind die Be-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) richte des Wehrbeauftragten eine ganz entscheidende
Quelle. Ohne diese wüssten Parlament und Öffentlich-
Niemand wird gezwungen, aus Solidarität einen Aufkle- keit entschieden zu wenig über den inneren Zustand der
ber mit einer gelben Schleife als Zeichen an seinem Auto Bundeswehr; denn solche Großorganisationen neigen
zu befestigen; doch eine sachliche Auseinandersetzung zur Schönfärberei. Der vorliegende Bericht unterstreicht
mit der Thematik und normale zwischenmenschliche So- diese Bedeutung.
lidarität sind, glaube ich, nicht zu viel verlangt.
Die Bundeswehr hat nicht selbst entschieden, in die Der Wehrbeauftragte sollte derjenige sein, der sich in-
Einsätze zu gehen. Das waren wir, die Abgeordneten des nerhalb des Systems Bundeswehr nicht ein X für ein U
Deutschen Bundestages. Das dürfen wir nicht vergessen. vormachen lässt, der Fehlentwicklungen ungeschminkt
benennt und der auch bereit ist, sich in den Clinch mit
(Beifall bei der FDP – Zuruf von der LINKEN: der Bundesregierung zu begeben, wenn es notwendig ist.
Wir nicht!) Das ist der Maßstab. Reinhold Robbe, den wir heute
gleichsam hier verabschieden, hat sich genau dieser Auf-
– Sie nicht; das ist hinlänglich bekannt. Aber auch wenn
gabe gestellt, zum Beispiel indem er überwiegend unan-
Sie dem nicht zugestimmt haben, sollten Sie an der einen
gemeldete Truppenbesuche durchgeführt hat, um mög-
oder anderen Stelle Solidarität mit den Soldaten, die im
lichst viele Informationen zu erhalten, oder sich – das
Namen der Bundesrepublik Deutschland in Auslandsein-
hat er in seinem Redebeitrag eindrucksvoll zum Aus-
sätzen sind, zeigen. Das ist, glaube ich, nicht zu viel ver-
druck gebracht – der Situation der im Ausland stationier-
langt, liebe Kollegen von der Linkspartei.
ten Soldatinnen und Soldaten angenommen hat. Das hal-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten wir für richtig.
3898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Paul Schäfer (Köln)


(A) Er hat etwas bewirkt: mit seinem Engagement für (Beifall bei der LINKEN) (C)
eine verbesserte Unterbringung, eine bessere sanitäts-
Bei den Auslandseinsätzen ist ein weiteres Problem zu
dienstliche Versorgung und eine adäquate Betreuung der
verzeichnen, das sich wie ein roter Faden durch die Jah-
posttraumatisierten Soldatinnen und Soldaten. Das ist
resberichte des Wehrbeauftragten zieht: Immer wieder ist
ein wichtiges Kriterium. Dafür übermittle ich ihm und
vom Missbrauch der Dienstaufsicht die Rede, von Unzu-
seinem Team von hier aus vielen Dank und gute Wün-
länglichkeiten in der Fürsorge, mangelnden Rechtskennt-
sche für die Zukunft.
nissen etc. Auch die Schattenseite im inneren Gefüge der
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Bundeswehr, die gern als Einzelfälle abgetan werden
der SPD und der FDP) – Stichworte: Mittenwald, Elitetruppen –, gehören hier
hinein. Ich finde, dass hier endlich gehandelt werden
Ich will aber einen Streitpunkt nicht verschweigen. muss; denn solche Vorfälle werden Jahr für Jahr festge-
Dabei geht es weniger um die Person als um das Amts- stellt. Das Ministerium wiegelt ab: Business as usual.
verständnis. Weil der Wehrbeauftragte eine der wenigen
Personen ist, die von außen Einblick in die Bundeswehr Nein, es handelt sich offensichtlich um festgefahrene
haben, die viel mit den Soldatinnen und Soldaten zu tun strukturelle Probleme, für deren Behebung wir endlich
haben, ist natürlich die Versuchung vorhanden, sich vor ein Gesamtkonzept benötigen, anstatt diese Flickschus-
allem als Vertrauensperson der Soldatinnen und Solda- terei fortzusetzen. Wir reden hier grundsätzlich über die
ten, als Ombudsmann für alle zu verstehen, im schlim- Stärkung der Rechte der Soldatinnen und Soldaten, mehr
meren Fall als jemand, der vor allem die Belange der Anstrengungen in der politischen und ethischen Bildung,
Streitkräfte zu vertreten hat. Das ist aber nicht der Kern sorgfältigere Personalauswahl und viele Dinge mehr, die
des Auftrags des Wehrbeauftragten. Um es zugespitzt zu wirklich im Rahmen eines Gesamtkonzeptes aufgegrif-
formulieren: Der Wehrbeauftragte ist meines Erachtens fen und umgesetzt werden müssen.
nicht der Beschaffer von Akzeptanz für die jeweiligen Hier hat der neue Wehrbeauftragte eine ganze Menge
Einsätze der Bundeswehr; das muss klar sein. Ich weiß, Arbeit vor sich. Wir wollen ihn dabei gern unterstützen.
das ist eine schwierige Gratwanderung; denn der Wehr-
beauftragte muss sich – wie gesagt: das unterstützen wir Danke.
– um die Soldatinnen und Soldaten kümmern, die das (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Parlament entsendet. In diesem Sinne ist er aber nicht der FDP)
der Ombudsmann, sondern muss vor allem überprüfen,
ob die Prinzipien der Inneren Führung durchgesetzt wer-
den; das ist der gesetzliche Auftrag. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Omid
(B) Aufgrund der Auslandseinsätze scheinen Entwicklun- Nouripour das Wort. (D)
gen aufzutreten, auf die man verstärkt das Augenmerk
richten muss, gerade auch der Wehrbeauftragte. Die ver- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
schärfte Lage in Afghanistan wird hierzulande von einer Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-
gewissen Kriegsrhetorik begleitet, die meines Erachtens ehrter Herr Wehrbeauftragter, lieber Reinhold Robbe!
schlimme Folgen für das Denken und Verhalten der Ihre Mannschaft und Sie haben in den letzten fünf Jahren
Truppen haben kann. Der Wehrbeauftragte sagt an der eine hervorragende Arbeit gemacht, für die wir als Frak-
Stelle: Es geht um Empathie; man muss sich mit der Be- tion danken, für die auch ich persönlich danke, und zwar
findlichkeit der Soldaten und ihrer Lage auseinanderset- deswegen, weil diese Arbeit Spuren hinterlassen wird,
zen. – Ja, das ist richtig. Es ist naheliegend, dass die Sol- nicht nur in der Parlamentsarmee, sondern auch im Par-
daten für ihren großen Einsatz eine Gegenleistung der lament. Dafür herzlichen Dank!
Gesellschaft verlangen; dazu gehört in der Tat auch Re-
spekt. Diese Empathie darf aber nicht dazu führen, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
elementare Verhaltensmaßstäbe ad acta gelegt werden. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
An dieser Stelle möchte ich auch den Soldatinnen und
Stichworte sind hier Kunduz und das Menetekel des Soldaten danken, die im Einsatz waren, die im Einsatz
4. September. sind und die sich auf den nächsten Einsatz vorbereiten,
aber natürlich ebenso den Soldatinnen und Soldaten, die
Bestimmte Stimmungen in der Truppe machen mir
nicht in den Einsatz fahren.
schon Sorgen. Zum Beispiel fragt man: Warum gibt es
überhaupt staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, wenn Außerdem sind unsere Gedanken bei denjenigen, die
wir Gewalt anwenden müssen? Warum untersucht das getötet worden sind, bei ihren Angehörigen und bei den-
Parlament Dinge, von denen es nichts versteht? – Ich jenigen, die versehrt worden sind, und dies nicht nur kör-
finde, hier muss gegengesteuert werden. Die Abgeordne- perlich. Dass ich dies an dieser Stelle sage und dass es
ten und das Führungspersonal der Bundeswehr sind hier mittlerweile zum Mainstream der Diskussion gehört,
in der Pflicht, damit sich die Maßstäbe, um die es bei der auch auf die seelischen Schäden hinzuweisen, dass dies
Inneren Führung geht – Recht und Gesetz, Völkerrecht, hier und ebenso in der Truppe wie selbstverständlich dis-
Humanität –, nicht abschleifen und nicht verloren gehen. kutiert wird, ist ein absolutes Verdienst der Arbeit des
Darum müssen wir uns gemeinsam kümmern. An dieser Wehrbeauftragten in den letzten fünf Jahren. Auch dafür
Stelle müssen wir den Wehrbeauftragten unterstützen. ein großer Dank!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3899
Omid Nouripour
(A) Herr Wehrbeauftragter, Sie schreiben von großen Wehrpflicht geben? Sie haben gesagt: Wenn wir uns (C)
„Herausforderungen“ für die Bundeswehr, die sich ge- nicht einigen können, dann machen wir doch neun Mo-
rade in der sich zuspitzenden Lage in Afghanistan sehr nate. – Sie haben vor ein paar Wochen noch gesagt, am
klar darstellen, und Sie beschreiben Ihre wachsende 1. Oktober werde die veränderte Wehrpflicht eingeführt.
„Ungeduld“ angesichts der immer wieder offen zutage Das ist nicht zu verstehen; das ist auch nicht unbedingt
tretenden Mängel bei der Ausstattung und bei der Füh- etwas, was die Wirksamkeit der Bundeswehr vergrößert.
rung. Wir verstehen und wir teilen diese Ungeduld. Wenn die Koalition in diesen Tagen verkündet, dass der
Inspekteur des Heeres recht habe, wir brauchten mehr
Die Ausstattung nicht nur in Afghanistan, aber gerade Infanteristen – ich teile diese Auffassung –, dann ist die
im Auslandseinsatz ist wortwörtlich lebenswichtig. Des- Frage, ob nicht, bevor man an die Lösung dieses Pro-
halb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es wichtig, blems gehen kann, größere Strukturreformen wie bei der
dass wir als Politiker uns nicht als Hobbyfeldherren auf- Wehrpflicht kommen müssen.
spielen, sondern dass wir die Ohren aufsperren, dass wir
genau zuhören, was denn die Truppe selbst eigentlich Wenn Sie von einem Termin 1. Oktober sprechen und
sagt, welche Ausstattung sie braucht. In diesem Zusam- ein solches Chaos produzieren, dann biete ich Ihnen hier
menhang ist es aber wichtig, dass wir Rahmenbedingun- eine Wette an: Zum 1. Oktober bekommen Sie das nicht
gen schaffen, um flexibel bleiben zu können, wenn sich hin. Der Wetteinsatz ist: Der Verlierer muss einen Tag
die Bedürfnisse der Truppe verändern. Das heißt, wir lang Zivildienst in der Altenpflege leisten. Wir werden
müssen auch das Geld zusammenhalten. sehen, ob Sie das bis zum 1. Oktober hinbekommen oder
nicht. Ich befürchte, das wird nicht klappen.
Dies ist nicht wirklich gelungen, wenn man bedenkt,
dass in naher Zukunft neue Herausforderungen auf uns (Zuruf von der CDU/CSU: Die Wette gilt!)
zukommen werden, wenn man bedenkt, wie groß einer-
seits die Ausstattungsmängel jetzt schon sind und wie Selbstverständlich bin ich auch sehr gespannt auf die
groß andererseits die Summe – ich sage es jetzt einmal Arbeit der Kommission. Natürlich wünschen wir Herrn
so drastisch – der erpressten Millionenzuschläge bei- Weise allen Erfolg; wir werden seine Arbeit konstruktiv
spielsweise für den A400M ist. Dies sind Mittel, die ge- und kritisch begleiten. Ich hoffe, dass die Arbeit der
rade in den jetzigen Zeiten knapper Mittel bei der Aus- Weise-Kommission viele der strukturellen Mängel, von
stattung fehlen. Es geht um unsere Flexibilität. Ich nenne denen der Wehrbeauftragte seit Jahren berichtet, auffan-
als Beispiel den dritten Einsatzgruppenversorger, bei gen kann.
dessen Beschaffung kein Wettbewerb stattgefunden hat,
Meine Damen und Herren, wir können uns glücklich
wodurch die Preise in die Höhe gegangen sind. Dafür
schätzen, dass wir die Institution des Wehrbeauftragten
(B) gibt es sehr viele Beispiele, Beispiele dafür, wie die haben. Der Wehrbeauftragte Robbe hat auch immer wie- (D)
Wirksamkeit der Truppe im Einsatz beeinträchtigt wird.
der darauf hingewiesen, dass das Ausland auf unsere In-
Aber was diese Wirksamkeit angeht, sind die Äußerun-
stitution des Wehrbeauftragten mit einer Mischung aus
gen der Bundesregierung aus unserer Sicht weiterhin ne-
Faszination und Neid schaut. Heute war eine Delegation
bulös.
aus Japan zu Gast. Die Kollegen aus Japan haben viele
Ich nenne dafür zwei Beispiele: Das eine ist die neue Fragen dazu gestellt, wie die Institution des Wehrbeauf-
Strategie für Afghanistan, die im Januar sehr laut ver- tragten funktioniert. Diese Institution ist eine gute Ein-
kündet wurde, wenn auch damals wenig konkret. Das richtung.
kann man verstehen; das ist ja auch der erste Aufschlag
Sie haben diesen Job hervorragend gemacht, Herr
gewesen. Wir haben mittlerweile zig Fragen gestellt,
Robbe, unter anderem durch die Einführung von unan-
aber die Aussagen sind nicht wirklich konkreter gewor-
gemeldeten Besuchen. Diese unangemeldeten Besuche
den. Immer noch sind sehr viele unserer Fragen unbeant-
haben sich absolut bewährt. Ich hoffe, dass diese unan-
wortet geblieben.
gemeldeten Besuche von Ihrem Nachfolger – auf den
Es gibt auch Widersprüche. Wenn in der Antwort auf wir uns freuen und mit dem wir sicher auch gut zusam-
unsere Kleine Anfrage gesagt wird, das Partnering, das menarbeiten werden – fortgesetzt werden. Ich wünsche
stärkere Hinausgehen in die Fläche, bedeute mehr Si- Herrn Königshaus bei seiner Amtsausübung, vor allem
cherheit für die Soldaten, dann steht das im Widerspruch aber bei der nicht immer einfachen Balance zwischen
zu dem, was der Minister in der letzten Woche auf seiner Parlament und Armee ein glücklicheres Händchen, als er
Pressekonferenz gesagt hat. Ich glaube, dass der Minis- es in den letzten Wochen manchmal hatte.
ter recht hat mit dem, was er sagte. Es ist logisch, dass
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
das Risiko steigt, wenn man mehr hinausgeht. Aber dann
muss man auch darauf achten, dass man dem Parlament (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nicht schwarz auf weiß andere Informationen zukommen
lässt, die im Widerspruch dazu stehen. Daran zeigt sich,
dass die Kritik des Wehrbeauftragten an der Führung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
auch weiterhin gültig ist. Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidi-
gung, Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg.
Das zweite Beispiel ist das Strukturchaos. Herr Mi-
nister, Anfang der Woche war ich jetzt endgültig ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wirrt. Haben wir jetzt W6, wird es eine sechsmonatige neten der FDP)
3900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun- zu bringen. Das muss aber, damit es den Boden und das (C)
desminister der Verteidigung: Fundament bekommt, das wir brauchen, finanziell auch
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und entsprechend unterfüttert werden.
Herren! Lieber Herr Robbe, wenn wir heute über den Herr Robbe, Sie scheiden jetzt nach fünf Jahren aus
Bericht des Wehrbeauftragten diskutieren, debattieren dem Amt des Wehrbeauftragten. Ich darf Ihnen aus mei-
wir immer über Verantwortung: über Verantwortung des ner Position heraus, aber auch ganz persönlich danken
Dienstherren – von mir –, über Verantwortung dieses für Ihren Dienst, für Ihr großes Engagement bei der Un-
Hauses, über Verantwortung von uns allen als Parlamen- terstützung unserer Soldatinnen und Soldaten – gerade
tarier. derer, die sich im Einsatz befinden – durch das Beschrei-
Wir machen Dienst in diesen Tagen – so haben Sie ben der Einsatzrealitäten. Die ständige Präsenz – gerade
auch eingeleitet, Herr Robbe – immer noch unter dem die unangemeldete; das ist schon gesagt worden –, die
Eindruck der Ereignisse der letzten Wochen. Diese Wo- Sie gezeigt haben, ist etwas, was zum Verständnis von
chen haben uns überaus traurige Ereignisse beschert, dem Amt des Wehrbeauftragten gehören muss: die not-
gleichzeitig aber den Begriff „Verantwortung“ substan- wendige Unbequemlichkeit, gerade gegenüber der
ziell unterfüttert. Spitze eines Hauses. Ich habe das gottlob von Ihnen er-
fahren dürfen, aber gleichzeitig eben auch vertrauensvoll
Ich will an dieser Stelle Ihnen allen, liebe Kollegin- und eng mit Ihnen zusammenarbeiten dürfen. Ich darf
nen und Kollegen, danken für die Anteilnahme, die un- Ihnen auch von meiner Seite aus sagen: Herzlichen Dank
sere Soldaten und ihre Familien, auch die Verwundeten, für die Arbeit der letzten Jahre. Sie haben exzellente Ar-
die nach Hause zurückgekehrt sind, erfahren haben. beit geleistet. Danke hierfür!
Ich will an dieser Stelle auch sagen: Durch die große (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
Anwesenheit bei den Trauerfeiern hat das Parlament ein und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wirklich bemerkenswertes, großartiges Bild gezeichnet.
An dieser Stelle von meiner Seite herzlichen Dank! Das darf man auch sagen, wenn man bei der einen oder
Diese Anwesenheit hat die Verbindung zwischen dem anderen Frage quer liegt; auch das gehört dazu.
Parlament und unseren Soldatinnen und Soldaten in be- Ich darf Ihnen, lieber Herr Königshaus, zurufen, dass
sonderer Weise hervorgehoben; ich glaube, wir können ich mich auf die künftige Zusammenarbeit aufrichtig
das gar nicht fest genug unterstreichen und darstellen. freue. Sie haben in den letzten Wochen an der einen oder
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) anderen Stelle erfahren dürfen, was mit dem Amt des
Wehrbeauftragten und mit den Themen, mit denen wir
Herr Robbe, Sie haben auch diese bitteren Realitäten uns befassen, unter anderem einhergeht, nämlich harte,
(B) in Ihrem Jahresbericht klar dargestellt. Sie haben damit (D)
teilweise überharte Kritik. Zu nahezu jedem Themen-
auf Realitäten hingewiesen, die der Diskussion und der komplex, nahezu jedem Aspekt gibt es – auch aus mei-
Debatte in der Öffentlichkeit bedürfen, auch der kontro- nem Hause – unterschiedliche begründete Meinungen.
versen Debatte. Vor allem aber kommt es darauf an, dass Mit einer solchen Kritik wird man im Zweifel umgehen
diese Realitäten endlich in diesem Ausmaß diskutiert müssen, und mit der werden wir gemeinsam umgehen
werden. Ich glaube, dass damit ein notwendiger Schritt können; daran habe ich keinen Zweifel. Ich freue mich
gegangen wurde. Das ist gut. auf die Zusammenarbeit und wünsche Ihnen eine glück-
Der Hinweis auf die Bedeutung von Solidarität mit liche Hand und Gottes Segen für Ihre künftigen Aufga-
ben.
unseren Soldaten und Unterstützung unserer Soldaten
kam von allen Rednern. Ich kann dem von meiner Seite (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
nur flankierend zur Seite stehen, indem ich sage: Das bei Abgeordneten der SPD)
entspricht auch der Erfahrung, die ich mache, wenn ich
unsere Soldaten besuche. Unsere Soldatinnen und Solda- Ich will noch einmal das aufgreifen, was den Bericht
ten sagen: Wir haben Verständnis für die politische De- des Wehrbeauftragten auch in der öffentlichen Wahrneh-
batte, die über Sinn und Unsinn eines Einsatzes geführt mung im Wesentlichen prägt. Das ist der Hinweis auf
wird. Wir wünschen uns allerdings mehr Anerkennung Defizite. Ich freue mich natürlich, wenn an der einen
und Unterstützung von zu Hause, aus der Gesellschaft oder anderen Stelle auch die Dinge genannt werden, die
heraus und aus dem Parlament heraus. – Ich glaube, die- positiv laufen und einen guten Eindruck von der Bundes-
sem Ansinnen unserer Soldaten kann man nur beipflich- wehr vermitteln. Aber es ist geboten und richtig, die De-
ten, und man sollte alles tun, um das entsprechend zu un- fizite darzustellen, sie klar, deutlich und ungeschminkt
terfüttern. zu benennen. Anders kann man keine Abhilfe schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verfehlungen gegen den Geist der Inneren Führung
wurden benannt. Diesen ist nachzugehen – das steht au-
Der Hinweis auf die Bedeutung der Attraktivität des ßer Frage –, und zwar unmittelbar. Die notwendigen Fol-
Dienstes ist berechtigt. Den Dienst attraktiv zu halten, ist gerungen sind zu ziehen. Ich habe das unter den Drei-
eine Daueraufgabe, der wir uns zu unterwerfen haben. klang gefasst: nachgehen, abstellen und Konsequenzen
Hier sind viele Einzelhinweise dazu gegeben worden, ziehen. Natürlich, lieber Kollege Schäfer, kann und darf
und hier ist in den letzten Jahren seitens des Wehrbeauf- das niemals business as usual sein, mit dem man den Din-
tragten und seines Teams viel geleistet worden. Wir ha- gen begegnet. Jedem Einzelfall muss entsprechend be-
ben diese Hinweise aufzugreifen und in die Umsetzung gegnet werden, wobei ich auch betonen darf – auch Herr
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3901
Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
(A) Robbe hat diesen Hinweis immer wieder gegeben –, dass ist übrigens ein gesellschaftliches Problem, Herr (C)
es sich um Einzelfälle handelt. Jeder Fall ist einer zu viel, Schnurr, um das einmal aufzugreifen; das haben wir
aber der Großteil, die überwältigende Mehrheit unserer Sol- nicht nur bei uns – ist ein Problem. Dieses Problem muss
datinnen und Soldaten leistet einen erstklassigen Dienst. zeitnah gelöst werden.
Man sollte sie nicht über einen Kamm scheren – das ha-
ben Sie auch nicht gemacht –, und so einen Eindruck Frau Präsidentin, ich nehme Ihr Signal wahr. Ich
sollte man auch nicht nach außen vermitteln. danke Ihnen noch einmal für Ihren Dank an unsere Sol-
daten. Sie haben es wahrlich verdient.
Die Kritik an Ausrüstung und Ausbildung begleitet
uns in diesen Tagen und schon seit Monaten, seit Jahren. Herzlichen Dank.
Durch die intensive öffentliche Debatte wurde und wird (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sie aufgegriffen. Ich bin für diese Hinweise überaus
dankbar. Einiges ist bereits erreicht, einiges muss defini-
tiv noch erreicht werden. Absoluten Schutz wird es nie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
geben können. Es wird immer ein Prozess der Optimie- Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
rung sein, in den man sich hineinbegeben muss. Ich bin Dr. Susanne Kastner für die SPD-Fraktion.
umso dankbarer, wenn man auch die finanzielle Unter-
stützung seitens des Parlaments bekommt, wenn von un- (Beifall bei der SPD)
seren Soldaten zu Recht Wünsche an uns herangetragen
werden. Dr. h. c. Susanne Kastner (SPD):
Der Aspekt Ausbildung, gerade auch Ausbildung an Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Wehrbeauftrag-
Fahrzeugen, wurde von einigen genannt. Wir werden in ter, lieber Reinhold Robbe! Liebe Kolleginnen und Kol-
diesem Jahr knapp 200 neue geschützte Fahrzeuge zur legen! Unser Wehrbeauftragter hat heute wieder einmal
Verfügung stellen mit der Maßgabe und mit meiner Wei- eindringlich darauf hingewiesen und uns erklärt, wie die
sung, dass sie auch und gerade zur Ausbildung zur Verfü- Einsatzrealität der Bundeswehr aussieht und wo es Miss-
gung gestellt werden, und zwar nicht erst zur Ausbildung stände zu beseitigen gilt.
im Einsatz, sondern bereits zur Ausbildung in unserem Wir sind uns sicherlich alle einig, dass eine vernünf-
Lande. Ich glaube, das ist wichtig. Das ist ein Prozess, der tige Ausrüstung das A und O für den Erfolg von Bundes-
jetzt angegangen wurde und den der Generalinspekteur wehreinsätzen und in erster Linie für die Sicherheit
entsprechend einplant. unserer Soldatinnen und Soldaten ist. Geld ist zugegebe-
Der berechtigte Hinweis auf die Mängel in den Struk- nermaßen im Bundeshaushalt derzeit recht knapp. Ge-
(B) turen wurde gegeben. Die Strukturen müssen die Einsatz- rade in Zeiten der Krise wird zwischen den einzelnen (D)
realitäten dieser Tage abbilden. Daher wurde die Struk- Ressorts sehr hart gerungen. Angesichts der wachsenden
turkommission eingesetzt, von der ich mir, wie es gesagt Aufgaben und der damit verbundenen Herausforderung
wurde, einiges erwarte, ohne dass Tabus in irgendeiner für unsere Bundeswehr muss ich aber ganz offen sagen,
Form aufgestellt werden. Diese Strukturkommission wird dass kein Verteidigungspolitiker – auch ich als Vorsit-
zum Ende des Jahres ihre Vorschläge vorlegen. zende des Verteidigungsausschusses nicht – dafür Ver-
ständnis hat, dass dem Verteidigungsetat fast eine halbe
Die Finanzausstattung wurde genannt. Milliarde Euro gestrichen wurde. Die dramatische Kon-
sequenz ist, dass dringend benötigtes Material nicht er-
Ich möchte mit einem Punkt schließen, der mir ein
neuert und beschafft werden kann. In Anbetracht der
Herzensanliegen ist
Einsatzbelastungen bräuchte die Bundeswehr ein sattes
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Plus an Haushaltsmitteln und keinen Rotstift.
NEN]: Mit der Wette?)
Aufgrund der Bedrohungslage in den Einsatzgebie-
und den Herr Robbe, Frau Hoff und viele andere bereits ten, insbesondere natürlich in Afghanistan, ist die Ein-
seit Jahren thematisieren. Das ist die seelische Verfas- satzvorbereitung entscheidend für den Erfolg und für das
sung unserer Soldaten, gerade jener, die aus dem Einsatz Wohlergehen unserer Soldaten. Die Verwicklung in
kommen, und besonders jener, die bedrückende Erleb- Kampfhandlungen ist heute eher die Regel als die Aus-
nisse hatten. Hier muss das Optimum an Versorgung nahme. Damit – das hat Reinhold Robbe bereits gesagt –
vorgehalten werden. Auch hier bin ich für die Hinweise ist der routinierte und sichere Umgang mit allen Ausrüs-
jener, die sich damit befassen – gerade von Ihnen, Herr tungsgegenständen, mit Waffensystemen, Gerätschaften
Robbe; hier baue ich weiter auf Ihre Impulse –, außeror- und Fahrzeugen, überlebenswichtig. Umso schwerer
dentlich dankbar. Von den Erfahrungswerten anderer wiegen die Mängel in der Ausbildung und der Ausrüs-
kann man gelegentlich lernen, aber hier müssen wir un- tung hier vor Ort. Routine kann bekanntlich nur dann
seren Soldaten das Beste bieten. Erste Schritte sind ge- entstehen, wenn der sichere Umgang mit den hochspezi-
gangen, aber hier müssen wir noch drauflegen. Ich freue ellen Gerätschaften vorab reichlich und ausreichend ge-
mich über die Unterstützung des gesamten Hauses. Es übt wurde.
wurde ja bereits angekündigt, sich parteiübergreifend fi-
nanziell entsprechend einbringen zu wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden mir si-
cherlich zustimmen, dass die Erfüllung eines Auftrages
Das geht Hand in Hand mit der Sanität. Im Bereich eine sachgerechte und angemessene Ausstattung voraus-
der Sanität sehen wir Probleme. Der Ärztemangel – das setzt. Der Jahresbericht moniert hier verschiedene Defi-
3902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Dr. h. c. Susanne Kastner


(A) zite und zeigt auf, dass dies bei unserer Parlamentsarmee chen. In den zurückliegenden Jahren hast du für unsere (C)
leider keine Selbstverständlichkeit ist. Bundeswehr viel erreicht und ein echtes Interesse für die
einzelnen Soldaten bewiesen.
Klar ist, dass sich der Einsatz für unsere Soldatinnen
und Soldaten stark gewandelt hat und gefährlicher ge- Lieber Reinhold, du hast darauf aufmerksam ge-
worden ist. Das haben wir erst wieder im April auf tragi- macht, dass in unserer Bundeswehr hochmotivierte und
sche Weise erfahren müssen. Mir persönlich geht es aber qualifizierte Soldatinnen und Soldaten tagtäglich einen
nicht nur darum, dass unsere Soldaten gut ausgebildet harten Dienst leisten, für den sie unsere Anerkennung
und sachgerecht ausgerüstet in den Einsatz gehen. Ganz verdienen. Deine Arbeit war ein Aushängeschild für un-
besonders liegt mir und vielen anderen hier im Hause am ser Parlament und ein Segen für unsere Soldatinnen und
Herzen, wie sie nach ihrer Rückkehr hier wieder aufge- Soldaten.
nommen und angenommen werden, insbesondere dann, Dafür danke ich dir, deiner Mannschaft und deiner
wenn sie infolge des Einsatzes an posttraumatischen Be- Frauschaft im Namen, so glaube ich, aller Kolleginnen
lastungsstörungen leiden. und Kollegen nicht nur des Verteidigungsausschusses,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sondern auch des gesamten Parlaments sehr herzlich.
Wir wünschen dir für die Zukunft alles erdenklich Gute.
Im zurückliegenden Berichtsjahr wurden 466 Fälle von
posttraumatischer Belastungsstörung verzeichnet. Da- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
rüber, wie hoch die Dunkelziffer ist, lässt sich nur speku- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
lieren. bei Abgeordneten der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle tragen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
große Verantwortung für das körperliche und seelische
Ich schließe die Aussprache.
Wohlergehen unserer Soldaten, gerade weil es eine Par-
lamentsarmee ist. Bereits im vergangenen Jahr hat das Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Parlament die Gründung eines Traumazentrums be- Drucksache 17/900 an den Verteidigungsausschuss vor-
schlossen, das, wie wir jetzt lesen konnten, dankenswer- geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
terweise von der Bundesregierung eingerichtet werden Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
soll.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Eine gute ärztliche Versorgung ist grundlegend dafür, Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
dass Probleme erkannt und behandelt werden können. richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
Der Zentrale Sanitätsdienst gibt mir jedoch Grund zur (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- (D)
(B) Sorge. Um es kurz zu machen: Uns fehlen schlicht und
ten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W.
ergreifend Ärzte bei der Bundeswehr, um eine flächen- Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
deckende, lückenlose und auf die Bedürfnisse der Bun- tion DIE LINKE
deswehr zugeschnittene Versorgung der Truppe gewähr-
leisten zu können. Weg mit Hartz IV – Für gute Arbeit und eine
sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsiche-
Seit Jahren wird vom Wehrbeauftragten der akute rung
Handlungsbedarf angemahnt. Leider muss zu oft erst et-
was Schlimmes passieren, bis gehandelt wird. Ich wün- – Drucksachen 17/659, 17/953 –
sche der jüngst eingesetzten Kommission zur Überprü- Berichterstattung:
fung der Bundeswehr-Strukturen unter der Leitung von Abgeordnete Angelika Krüger-Leißner
Frank-Jürgen Weise viel Erfolg dabei, die vielen bekann-
ten Missstände und Defizite konsequent aufzuarbeiten, Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-
und würde mich freuen, wenn im nächsten Jahresbericht mentlich abstimmen.
eine Verbesserung erkennbar wäre. Interfraktionell wurde vereinbart, dass darüber eine
Nun möchte ich aber die heutige Gelegenheit natür- halbe Stunde diskutiert wird. – Ich sehe, auch damit sind
lich nutzen, um unserem scheidenden Wehrbeauftragten Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Reinhold Robbe zu danken. Lieber Reinhold, wir kennen Ich darf nun diejenigen Kolleginnen und Kollegen,
uns seit vielen Jahren, und deshalb weiß ich, wie wichtig die der Debatte nicht folgen wollen, bitten, ihre Gesprä-
dir die Arbeit als Wehrbeauftragter des Deutschen Bun- che vor dem Saal zu führen, damit wir uns auf die Red-
destages war und wie viel Engagement und Einsatz du nerinnen und Redner konzentrieren können.
darin eingebracht hast. Du warst immer ganz dicht an
der Truppe dran. Dir waren die Unterkünfte genauso ver- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
traut wie die Verpflegung und die Ausrüstung in den nerin der Kollegin Heike Brehmer für die Fraktion CDU/
Auslandseinsätzen. Du konntest einschätzen, wie die Si- CSU das Wort.
tuation der Truppe tatsächlich war. (Beifall bei der CDU/CSU)
Als Wehrbeauftragter warst du immer ein ernsthafter
Anwalt für die Belange der Soldatinnen und Soldaten. Heike Brehmer (CDU/CSU):
Dabei hast du dich jedoch nie gescheut, Missstände Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-
deutlich zu benennen und, wenn nötig, öffentlich zu ma- ginnen und Kollegen! Wir behandeln den Antrag der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3903
Heike Brehmer
(A) Linken mit dem Titel „Weg mit Hartz IV“. In Ihrem An- spektive sowie den Qualifizierungskombi zur Verbesse- (C)
trag behaupten Sie, dass die Hartz-IV-Regelleistungen rung der Qualifizierung von jüngeren Menschen unter 25.
verfassungswidrig sind. Sie haben offenbar das Urteil Unsere Entscheidungen in der Krise waren richtig.
des Bundesverfassungsgerichtes nicht verstanden. Schauen Sie nach Europa, dann sehen Sie, was ich
meine.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Das steht da überhaupt nicht drin!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-
Die Hartz-IV-Regelsätze sind vom Bundesverfassungs- ten der FDP)
gericht in Karlsruhe nicht für verfassungswidrig erklärt Minister Karl-Josef Laumann hat heute Morgen die
worden; es wurde mehr Transparenz gefordert. Erfolge der Arbeitsmarktpolitik in Nordrhein-Westfalen
Kolleginnen und Kollegen von den Linken, gerne ge- dargestellt. Allein in Nordrhein-Westfalen konnte die
ben wir Ihnen Nachhilfe, wenn Sie das Urteil noch im- Arbeitslosenzahl in den letzten fünf Jahren um über
mer nicht verstehen, und wir können auch heute schon 230 000 gesenkt werden. Gleichzeitig sind über 290 000
klar sagen, wie wir vorgehen: Wir werden uns dann mit neue sozialversicherungspflichtige Stellen entstanden.
den Regelsätzen im Plenum befassen, wenn im Septem- Das müssen Sie in Berlin erst einmal nachmachen.
ber die aktuellen Zahlen der Einkommens- und Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
brauchsstichproben vorliegen, und anschließend ein Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
transparentes und realitätsgerechtes Verfahren zur Be-
rechnung der Regelsätze gesetzlich fixieren. So viel zur Meine Damen und Herren von der Linken, in Ihrem
Klarstellung. Antrag verkennen Sie die unterschiedlichen Arbeits-
marktsituationen in den einzelnen Bundesländern. Sie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal ignorieren auch die Bemühungen der Länder, durch die
Kober [FDP]) Arbeitslosen und Hilfebedürftigen gezielt geholfen wird.
Zur Erinnerung: Die Hartz-IV-Reform 2005 hatte das Der Deutsche Landkreistag hat aufgezeigt, dass ange-
Ziel, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzule- sichts der erheblichen Unterschiede bei der Hilfebedürf-
gen und Leistungen aus einer Hand anzubieten. Vor der tigkeit nach SGB II zwischen den Bundesländern eine
Reform lebten circa 2,9 Millionen Bürger von Sozial- stärkere Ausrichtung der Bemühungen auf die örtlichen
hilfe. Der Sozialhilfesatz lag damals unter den jetzigen Rahmenbedingungen notwendig ist. Nur ein Beispiel: In
Regelsätzen von Hartz IV. Bayern und Baden-Württemberg beträgt die Hilfebe-
dürftigkeit weniger als ein Viertel der Quote Berlins, das
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Hört! Hört!) den höchsten Wert aufweist. Werte Kolleginnen und
(B) Die Betroffenen hatten kaum Chancen, in den ersten Ar- Kollegen der Linken, tragen Sie nicht die Regierungs- (D)
beitsmarkt integriert zu werden. verantwortung in Berlin? Ist es nicht Ihre Senatorin, die
das zu verantworten hat?
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So ist es! Es
waren keine Instrumentarien da!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gucken
Mit der Hartz-IV-Reform hat sich dies für die Betrof- Sie doch mal nach Mecklenburg-Vorpom-
fenen grundlegend geändert. Im gleichen Augenblick er- mern!)
höhten sich die Regelsätze der Sozialhilfe um 16 Pro-
zent. Noch eine Zahl zum Vergleich: Im April 2005 Die Fraktion der Linken fordert in ihrem Antrag mehr
hatten wir insgesamt 5 Millionen Arbeitslose, davon öffentliche Beschäftigung und gut bezahlte Arbeit. In
circa 2,3 Millionen Sozialhilfeempfänger. Das waren Brandenburg und Berlin, wo Sie mitregieren, stimmen
1,6 Millionen mehr als im April 2010. Unser Weg ist of- Sie der Streichung von 11 000 Stellen im öffentlichen
fensichtlich erfolgreich. Dienst zu.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist ja unge-
Von der Reform von Hartz IV hatten wir uns insge- heuerlich! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört!
samt natürlich mehr versprochen. Es gibt noch immer Hört!)
eine große Zahl von Langzeitarbeitslosen. Sie brauchen Wie verträgt sich das mit Ihren Forderungen nach mehr
noch Förderkonzepte, und daran arbeiten wir. Die Re- öffentlicher Beschäftigung? Sie predigen Wasser und
form der Jobcenter wird jetzt kommen. Wir versprechen trinken Wein und lösen keinesfalls die Probleme in unse-
uns davon mehr Vermittlung und Integration in den ers- rem Land.
ten Arbeitsmarkt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
glauben Sie doch selber nicht!) Wir werden im Rahmen einer Aktivierungs- und Ver-
mittlungsoffensive mit innovativer Förderung gezielt die
Man kann es nicht oft genug wiederholen – auch Beschäftigungschancen wichtiger Zielgruppen erhöhen.
wenn Sie es nicht hören wollen –: Die unionsgeführte Insbesondere junge Menschen, Alleinerziehende und äl-
Bundesregierung hat in den letzten Jahren bereits viele tere Leistungsempfänger sollen von gezielten und konse-
Programme zur Förderung von Langzeitarbeitslosen auf quent verstärkten Integrationsbemühungen profitieren.
den Weg gebracht, zum Beispiel den Beschäftigungszu-
schuss für Langzeitarbeitslose, den Jobbonus, die JobPer- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja, sollen!)
3904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Heike Brehmer
(A) Mithilfe einer intensiven und individuell zugeschnitte- populistischer Manier wird wieder einmal gefordert: (C)
nen Betreuung werden wir dafür sorgen, dass den Men- weg mit Hartz IV.
schen aus den betroffenen Personengruppen der dauer-
hafte Ausstieg aus dem Leistungsbezug deutlich (Otto Fricke [FDP]: Nein! Der Weg mit
häufiger und schneller gelingen wird. Hartz IV!)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linksfrak-
der FDP – Zuruf von der LINKEN: Die Ar- tion, ist die Entwicklung der letzten Jahre wirklich gänz-
beitsplätze fehlen!) lich an Ihnen vorbeigegangen?
Deshalb werden wir die Bürgerarbeit realisieren. Sie se- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Natürlich!
hen: Wir handeln. Sie aber versprechen auf den Plaka- Die leben auf einem anderen Stern!)
ten: Reichtum für alle.
Machen Sie sich das in dieser Form nicht einen Tick zu
(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. einfach? Es lohnt sich nämlich, in diesem Zusammen-
Birkwald [DIE LINKE]: Na, das ist doch hang den IAB-Bericht zur Bilanz von fünf Jahren
schön, oder? – Alexander Süßmair [DIE SGB II gründlich zu lesen und die richtigen Schlussfol-
LINKE]: Reichtum für alle und nicht nur für gerungen daraus zu ziehen, um die Weichen zukünftig
wenige!) besser zu stellen. Wenn man diesen Bericht ganz kritisch
liest, dann kommt man jedoch nicht daran vorbei, zur
Wir handeln verantwortungsbewusst. Wir lehnen Ihren Kenntnis zu nehmen, dass diese Reform notwendig war
Antrag daher ab. und in die richtige Richtung ging.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich möchte an dieser Stelle dennoch sagen: Es gibt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Licht, aber es gibt auch Schatten.
(Otto Fricke [FDP]: Das ist immer so! Es sei
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: denn, man ist im Weltall!)
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Angelika
Krüger-Leißner das Wort. Ich möchte beides erwähnen und für meine Fraktion die
richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen. Zu der
(Beifall bei der SPD) Lichtseite gehört die Tatsache, dass die Zahl der er-
werbsfähigen Hilfebedürftigen seit 2006 kontinuierlich
Angelika Krüger-Leißner (SPD): zurückgegangen ist. Das ist Fakt. Es reicht aber über-
(B) Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe haupt nicht aus. Wir müssen uns nur einmal die Situation (D)
Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Debattentag von alleinerziehenden Frauen oder Hilfebeziehern über
rankt sich von früh bis spät um das Thema Grundsiche- 55 Jahre anschauen. Die aktivierende Arbeitsmarktpoli-
rung. Ich finde, das ist auch gut so. Denn es ist für tik soll helfen, die gesellschaftliche Teilhabe zu sichern.
6,5 Millionen Menschen in unserem Land eine wahrhaft Daran, dass sich gesellschaftliche Teilhabe am besten
existenzielle Frage. über Teilhabe am Erwerbsleben erreichen lässt, gibt es
keinen Zweifel.
Heute Morgen ging es zunächst einmal um die zu-
künftige Organisation der Grundsicherung vor Ort. Der Wir können feststellen, dass die Teilnahme an arbeits-
mühsam erarbeitete Kompromiss, den die Ministerin marktpolitischen Maßnahmen im SGB-II-Bereich
nun vorlegen konnte, hat seine Blessuren bereits weg, generell zu einer Verbesserung der individuellen Einglie-
und zwar noch bevor er intensiv beraten und von Exper- derungschancen beigetragen hat. Wir wissen, arbeits-
ten hinterfragt werden konnte. Gerade die Verbesserung marktnahe Instrumente sind effektiv. Das gilt für
in der Beratung, in der Betreuung und in der Vermittlung Eingliederungszuschüsse, betriebliche Trainingsmaß-
von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen war und ist eines nahmen und auch für die Förderung der beruflichen Wei-
der Herzstücke von Hartz IV. Dafür brauchen wir ausrei- terbildung. Wir wissen aber auch, dass die Betreuung
chend und gut qualifizierte Mitarbeiter, die in der Lage und Aktivierung allzu oft nicht individuell angepasst
sind, kontinuierlich zu arbeiten. war. An dieser Stelle sehen wir enorme Reserven.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich glaube, Sie Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die
haben die falsche Rede, Frau Kollegin! Das ist überspitzte Kritik am SGB II generell verfehlt ist.
die von heute Morgen!) SGB II bedeutet nicht Armut per Gesetz. Es hat für die
Betroffenen aber einschneidende Veränderungen ge-
Umso peinlicher und unverständlicher ist, dass Sie,
bracht. Zudem gab es Ungerechtigkeiten, die bei der
werte Kollegen der Regierungsfraktionen, den 3 200 Mit-
Umsetzung zutage getreten sind. Diese Schwachstellen
arbeitern mit befristeten Arbeitsverträgen diesen Rück-
müssen wir beseitigen. „Weg mit Hartz IV“ löst die Pro-
halt nicht geben wollen.
bleme aber nicht. Nur die gezielte Veränderung dieser
(Otto Fricke [FDP]: Das ist die Rede von heute Problempunkte kann uns weiterhelfen. Drei davon
morgen!) möchte ich benennen.
Wir schließen die heutige Debatte mit der Beratung Erstens. Wir stimmen mit dem Antragsteller durchaus
des Antrags der Fraktion Die Linke ab. In gewohnt überein, dass mit der Grundsicherung das menschenwür-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3905
Angelika Krüger-Leißner
(A) dige Existenzminimum sicherzustellen ist. Hier muss (Zuruf von der FDP: Der Name musste ja jetzt (C)
nachgebessert werden. fallen, Frau Kollegin!)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) – Ganz zufällig! – Statt der unsinnigen Diskussion à la
Westerwelle über Kürzungen der Regelsätze brauchen
Das ist auch ganz klar der Auftrag durch das Urteil des
wir bessere Angebote auf dem sozialen Arbeitsmarkt.
Bundesverfassungsgerichts. Die Regelsätze müssen
transparent und nachvollziehbar gestaltet werden. Das (Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Wann
muss kommen, genauso wie eine grundlegende Neu- hat denn Herr Westerwelle das gesagt?)
berechnung der Regelsätze für die Kinder. Ich bin
überzeugt, dass sich die Regelsätze auch in der Höhe Die Zahl der Angebote muss deutlich ausgebaut werden;
verändern werden. Bei der kürzlich getroffenen Härte- darauf hat Hannelore Kraft hingewiesen. Es ist kein Ge-
fallregelung hat die Regierungskoalition leider den Auf- heimnis: Ich drücke ihr die Daumen, dass sie ihre Vor-
trag des Bundesverfassungsgerichtes nicht erfüllt. Ich stellungen umsetzen kann.
bedauere das. Nun haben wir eine Regelung, die schon (Beifall bei der SPD)
eine Woche später durch eine Entscheidung des Sozial-
gerichts Detmold überholt wurde. Ich versichere Ihnen: Ich komme zum Schluss. Der Bericht des IAB hat uns
Das wird so weitergehen. Unser Vorschlag war wesent- zu verschiedenen Fragen Hausaufgaben aufgegeben, die
lich näher an der Praxis und an den Erwartungen der Be- wir in den nächsten Wochen erledigen müssen, und zwar
troffenen. gerade in Bezug auf bestimmte Personengruppen, die
besonders benachteiligt sind. Ich denke an Geringquali-
Zweitens möchte ich etwas zu Ihrer Forderung nach fizierte und eingeschränkt Beschäftigungsfähige, aber
einem gesetzlichen Mindestlohn sagen. Diese Forderung auch an Alleinerziehende und Bedarfsgemeinschaften,
ist nicht neu. Jeder weiß, dass wir uns hierfür schon die schon lange in der Grundsicherung sind. Wir haben
lange einsetzen. dieses Jahr viel zu tun, angefangen von der Neuordnung
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nicht der Jobcenter über die Neubemessung des Regelsatzes
so lange wie wir, aber immerhin!) bis hin zur Veränderung auf dem Arbeitsmarkt. Unser
Ziel ist, Menschen in Beschäftigung zu bringen, den
Aber überzogene Forderungen wie die in Ihrem Antrag Weg dorthin zu ebnen und ihnen echte, wahre Teilhabe
nach einem Mindestlohn von 10 Euro lehnen wir ab. Wir in dieser Gesellschaft zu ermöglichen. Packen wir es an!
setzen uns für einen Mindestlohn von 8,50 Euro ein.
(Beifall bei der SPD)
(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr habt bei
7,50 Euro angefangen!)
(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D)
Darin sind wir uns mit dem Deutschen Gewerkschafts- Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
bund einig. Unser Antrag belegt das. Es steht ohnehin FDP-Fraktion.
außer Frage: Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn
ist notwendig. Es ist an der Zeit, dass wir ihn in diesem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Land haben. der CDU/CSU)
Drittens möchte ich Ihre Forderung nach einem
öffentlichen Programm für zusätzliche Arbeitsplätze an- Pascal Kober (FDP):
sprechen. Auch das ist nicht neu. Es gibt ein hervorra- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
gendes Beispiel aus meinem Bundesland. In Branden- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke,
burg wird mit dem Programm „Qualifizierung und
(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Hier!)
Arbeit für Brandenburg“ derzeit der öffentliche Arbeits-
markt qualitativ und quantitativ ausgebaut. Wer bislang Ihr Antrag belegt, wie ich meine, zweierlei: Erstens. Sie
eher geringe Vermittlungschancen hatte, benötigt in be- haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
sonderem Maße staatliche Unterstützung. Das heißt ver- 9. Februar dieses Jahres nicht verstanden.
besserte Qualifizierung, um Langzeitarbeitslose für den
ersten Arbeitsmarkt zu befähigen und fit zu machen. Der (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Völlig
öffentliche Arbeitsmarkt bringt soziale Integration, falsch! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr
stärkt darüber hinaus die regionale Wirtschaft und kann wahr! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Gar nicht
auch für den Ausbau der kommunalen Infrastruktur gelesen!)
durch ergänzende und unterstützende Tätigkeiten sor- Zweitens. Ihr Antrag zeigt ein Bild von Sozialpolitik,
gen. Arbeit zu finanzieren statt reine Fürsorge, ist richtig dass man geneigt ist, zu glauben, dass Sie von sozial-
und allemal besser, als nichts zu tun. politischer Verantwortung überhaupt nichts verstanden
(Beifall bei der SPD) haben.
Dafür haben wir Brandenburger bis 2014 immerhin bis (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
zu 40 Millionen Euro vorgesehen. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber
Sie, ja? Gerade Sie! – Weiterer Zuruf von der
Es gibt noch aus einem anderen Bundesland einen LINKEN: Und Sie sind die geballte soziale
ähnlichen Vorstoß. Ich erinnere daran, dass Hannelore Kompetenz!)
Kraft diesen gemacht hat. Er geht in die gleiche Rich-
tung. – Die Wahrheit scheint Sie in Erregung zu versetzen.
3906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Pascal Kober
(A) Zum Ersten. Sie haben das Urteil des Bundesverfas- gesetzlicher Mindestlohn von 7,50 Euro – das sage ich (C)
sungsgerichts nicht verstanden. Sie fordern in Ihrem An- auch an die Adresse der SPD – eine negative Beschäfti-
trag pauschal die Erhöhung der Regelsätze auf 500 Euro gungswirkung.
im Monat. Genau dieser Politik hat das Bundesverfas-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sungsgericht eine Absage erteilt.
NEN]: Quatsch!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
der CDU/CSU)
wem die betroffenen Menschen wirklich wichtig sind,
Ausdrücklich kritisiert das Bundesverfassungsgericht der geht nicht das Risiko des Arbeitsplatzabbaus ein.
– ich zitiere – „Schätzungen ‚ins Blaue hinein‘“, die der
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Festsetzung der Regelsätze im Jahr 2005 zugrunde lie-
der CDU/CSU)
gen. Genau diese Politik, die das Bundesverfassungsge-
richt gerade erst verworfen hat, setzen Sie mit Ihrem An- Was die betroffenen Menschen wirklich brauchen, ist
trag fort, indem Sie einen Regelsatz von 500 Euro ins eine Politik, die ihnen in schwierigen Situationen zur
Blaue hinein schätzen, ohne jegliche Begründung. Seite steht, und nicht eine Politik, die ihnen in schwieri-
gen Situationen im Weg steht. Wir als christlich-liberale
Ausdrücklich stellt das Bundesverfassungsgericht
Koalition wollen den Menschen mit unserer Politik
fest, der Gesetzgeber habe – jetzt zitiere ich wieder –
Chancen eröffnen.
die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Exis-
(Zurufe von der LINKEN: Oh ja! – Das sieht
tenzminimums im Gesetzgebungsverfahren einge-
man!)
setzten Methoden und Berechnungsschritte nach-
vollziehbar offen zu legen. Kommt er ihr nicht Wir möchten sie zur Teilhabe befähigen. Wir möchten
hinreichend nach, steht die Ermittlung des Exis- ihnen die Chance auf ein Leben in Eigenverantwortung
tenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht und Solidarität eröffnen. Wir werden deshalb eine Poli-
mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit tik wie die der Linken verhindern, die einen Teil der
Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang. Menschen dauerhaft aus der Mitte der Gesellschaft aus-
schließt und in der Abhängigkeit staatlicher Fürsorge-
Genau das haben Sie mit Ihrem Antrag jetzt wieder systeme gefangen hält.
vorgelegt: Schätzungen ins Blaue hinein. Sie fordern ei-
nen Regelsatz von 500 Euro, sind aber nicht in der Lage, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ihn zu begründen. der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN)

(B) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Max Ihre Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen von der (D)
Straubinger [CDU/CSU]) Linkspartei, hat mit sozialer Verantwortung und sozialer
Gerechtigkeit nichts zu tun. Ich fühle mich in meinen
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, was Ausführungen durch Ihre Aufregung am heutigen Abend
Sie vorgelegt haben, kann nach dem 9. Februar dieses durchaus bestätigt. Die Wahrheit tut manchmal weh.
Jahres nicht Ihr Ernst sein.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch!) ist ja spätrömische Dekadenz!)
Nun zum Zweiten. Mit Ihrem Antrag zeigen Sie, wie Ihre Politik hat mit sozialer Kompetenz nichts zu tun.
ich finde, dass Sie von Sozialpolitik nicht wirklich etwas Deshalb lehnen wir Ihren Antrag im Sinne der betroffe-
verstehen. Ziel der Sozialpolitik im Bereich der Lang- nen Menschen ab und stimmen der Beschlussempfeh-
zeitarbeitslosigkeit muss es sein, dass wir den betroffe- lung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu.
nen Menschen eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt
eröffnen. Vor diesem Hintergrund ist mir völlig schleier- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
haft, wie Sie einen flächendeckenden gesetzlichen Min- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
destlohn von 10 Euro fordern können.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Max Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Straubinger [CDU/CSU] – Matthias W. Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Matthias
Birkwald [DIE LINKE]: Deswegen ja!) W. Birkwald das Wort.
Das würde Arbeitsplätze gefährden, (Beifall bei der LINKEN)
(Widerspruch bei der LINKEN)
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
auf die gerade langzeitarbeitslose Menschen angewiesen
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
sind.
Damen und Herren! Wir erleben derzeit nicht allein eine
Darauf hat nicht zuletzt der Sachverständigenrat zur Wirtschafts- oder eine Finanzkrise.
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage in einem
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sondern
Gutachten unter ausdrücklicher Einbeziehung der Erfah-
eine Krise des Denkens!)
rungen aus dem Ausland, wo es bekanntlich zum Teil
Mindestlöhne gibt, hingewiesen. Nach Auskunft des Wir erleben eine umfassende Krise des gesellschaft-
Sachverständigenrates hat schon ein flächendeckender lichen Zusammenhalts, Herr Zimmer. Banken und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3907
Matthias W. Birkwald
(A) Spekulanten werden mit Milliarden gehätschelt und (Beifall bei der LINKEN) (C)
Hartz-IV-Betroffene für ein paar Kröten gegängelt. Das
ist eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit! Wir sagen – ich habe das an diesem Pult schon einmal
gesagt –: Sozial ist, was Würde schafft. Darum will die
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Linke eine soziale Mindestsicherung für alle Menschen,
Zimmer [CDU/CSU]: Also doch eine Krise die über kein ausreichendes Einkommen oder Vermögen
des Denkens bei Ihnen!) verfügen, um ihren Mindestbedarf zu decken. Wir wol-
len eine Mindestsicherung ohne Drohgebärden, ohne
Acht Jahre ist das Hartz-Konzept bald alt, und im Sanktionen und ohne Angst der Betroffenen.
Kern heißt es: Die Erwerbslosen wollen nicht arbeiten.
Das war schon damals falsch. Heute Morgen hat NRW- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
Arbeitsminister Laumann hier im Plenum doch zugege- Kolb [FDP]: Und wie hoch soll die sein? Sa-
ben: Es gibt nicht genug Arbeitsplätze; das ist das Pro- gen Sie einmal eine Zahl!)
blem.
Das vom Grundgesetz geschützte Existenzminimum darf
(Beifall bei der LINKEN) nicht unterschritten werden, Herr Kolb. Überschritten
werden darf es schon. Das gilt auch für die Flüchtlinge,
Es mangelt an guter Arbeit, nicht am Willen zu arbeiten. die hier leben.
Die meisten Hartz-IV-Betroffenen sind aktiv. Sie arbei-
ten, betreuen kleine Kinder oder nehmen an Beschäfti- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
gungsmaßnahmen teil. Weniger als die Hälfte sind neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
tatsächlich arbeitslos, und 90 Prozent von ihnen wollen GRÜNEN – Katja Kipping [DIE LINKE]: Das
dringend arbeiten. Nicht die Arbeitsmoral ist das Pro- stand auch im Urteil!)
blem, sondern das Fehlen von Millionen Arbeitsplätzen.
Das ist die Wahrheit. Die Gegenwart sieht leider noch anders aus: Billige
und willige Arbeitskräfte, das ist das wirkliche Ziel von
(Beifall bei der LINKEN) Hartz IV. Es ist kein Zufall, sondern politisch gewollt,
dass ausgerechnet die 1-Euro-Jobs das Instrument im
Den Erwerbslosen die Schuld für ihre Situation in die Hartz-IV-System sind, das mit großem Abstand am häu-
Schuhe zu schieben, ist erbärmlich. Dieser Grundansatz figsten eingesetzt wird. Wir reden hier nicht mehr nur
von Hartz IV ist ein Angriff auf die Würde der Men- über 1-Euro-Jobs. In Nordrhein-Westfalen gibt es schon
schen. Darum sage ich: Nicht allein die einzelnen Re- längst 0-Euro-Jobs. Ich habe hier einen konkreten Fall
gelungen, nicht allein das Gesetz, nein, die gesamte aus meinem Wahlkreis vorliegen, ein Angebot der Arge
Hartz-IV-Denke ist komplett falsch. Köln – ich zitiere –: 0 Euro für 38,5 Stunden pro Woche
(B) (D)
(Beifall bei der LINKEN) und die zusätzliche Auflage, sich zu bewerben. Ich sage:
Das ist ein Skandal.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Herr
Kober, von Ihnen höre ich immer: Die Menschen sollen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Verantwortung für sich selbst übernehmen. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(Pascal Kober [FDP]: Und für andere!)
Wir Linke wollen wirkliche soziale Sicherheit und
Was heißt das konkret für Hartz-IV-Betroffene? Was ist denn gute Arbeit. Wir wollen tariflich bezahlte Jobs mit So-
daran verantwortungsbewusst, sich in einem 1-Euro-Job zialversicherung und ohne Zwang zur Arbeit. Wir strei-
über alle Maßen ausbeuten zu lassen? Was ist daran ver- ten für eine soziale Mindestsicherung in Höhe von
antwortungsvoll, zu jeder Zumutung Ja und Amen sagen 500 Euro und für einen gesetzlichen Mindestlohn in
zu müssen? Wer von Eigenverantwortung spricht, darf Höhe von 10 Euro.
doch zur Entscheidungsfreiheit nicht schweigen.
(Pascal Kober [FDP]: Eine Schätzung ins
(Beifall bei der LINKEN) Blaue hinein!)
Was dürfen die Betroffenen im Hartz-IV-System denn Wir wollen, dass die Betroffenen endlich wirklich etwas
entscheiden? Sie dürfen nichts entscheiden, rein gar zu entscheiden haben und die Finanzinstitute zur Verant-
nichts. „Klappe halten und setzen“, das ist das Motto von wortung gezogen werden.
Hartz IV. Die Betroffenen haben nichts zu melden und
sollen doch für alles die Verantwortung tragen. Das ist (Beifall bei der LINKEN)
unzumutbar, schäbig, und es ist respektlos.
Wir wollen eine Mindestsicherung, die Würde schafft.
(Beifall bei der LINKEN) Deswegen sagen wir: Hartz IV muss weg.
Nur wer Nein sagen darf, kann frei für sich selbst ent- Vielen Dank.
scheiden. Doch was passiert, wenn Hartz-IV-Betroffene
(Beifall bei der LINKEN)
Nein sagen? Sie werden abgestraft. Ihnen wird so lange
das Geld gekürzt – im Extremfall wird es sogar ganz
gestrichen –, bis sie gefügig und willig sind. Solche Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Sanktionen führen zu Ängsten, Druck und Widerstand, Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth für die
und das lehnen wir Linken ab. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
3908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): an, dass das Bundessozialgericht wie in seinem heutigen (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Urteil feststellt, dass Eltern eines behinderten Kindes
Herr Birkwald, im Sozialgesetzbuch II gibt es in der Tat keinen Anspruch auf Mehrbedarf haben. Die Eltern
eindeutig Änderungsbedarf. Nach unseren grünen Vor- eines entwicklungsverzögerten sechsjährigen Kindes,
stellungen kommt es vor allen Dingen darauf an, das das nicht gehen kann, beantragen Mehrbedarf, weil sie
Fördern unter Beteiligung der Menschen zu organisie- einen erhöhten Transportbedarf haben, und das Bundes-
ren, sozialgericht sagt, das sei kein Sozialgesetz, sondern ein
Arbeitsmarktgesetz, und darum stehe der Mehrbedarf
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nur Menschen im erwerbsfähigen Alter zu.
das heißt, die Menschen mit ihren Fähigkeiten, Bedürf-
Das sind Lücken und Mängel, die dramatische Konse-
nissen und eigenen Vorstellungen ernst zu nehmen.
quenzen für die betroffenen Personen haben. Das muss
Es geht darum, den defizitorientierten Ansatz zu über- geändert werden.
winden. Wir müssen davon wegkommen, immer nur die
Mängel zu sehen. Fähigkeiten und Potenziale müssen in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
den Mittelpunkt gestellt werden. Es geht auch um die sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der
Überwindung der obrigkeitsstaatlichen Elemente, die Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])
sich auch im Sozialgesetzbuch II finden. Es geht uns auch um eine aktive Förderung, die nicht
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nur kurzfristig angelegt ist, sondern auch langfristige
Perspektiven eröffnet. Ich blicke mit Sorge auf Ihr Pro-
Wir schlagen dazu sehr konkrete Maßnahmen vor. gramm der sogenannten Sofortangebote für Jugendliche
Zum Beispiel wäre es ein Leichtes, die aufschiebende unter 25 Jahre. Praktikerinnen und Praktiker in den Job-
Wirkung des Widerspruchs wieder einzuführen. Das centern sagen, dass es vielleicht sinnvoller ist, die Mittel
würde nebenbei auch zu mehr Rechtstreue im Verwal- zu konzentrieren, weil wir nicht jedem ein gleich gutes
tungshandeln führen. Angebot machen können. Wir sollten versuchen, konkret
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie etwas zu erreichen, statt nur statistische Effekte über
bei Abgeordneten der LINKEN) eine höhere Aktivierungsquote zu erzielen.

Eingliederungsvereinbarungen sollten nur auf freiwil- Es gibt in der Tat viele Punkte, in denen wir überein-
liger Basis geschlossen und nicht als Verwaltungsakt stimmen würden, Herr Birkwald und meine Kolleginnen
verhängt werden können. und Kollegen von den Linken, aber in Ihrem Antrag
überziehen Sie in einer Reihe von Punkten leider wieder
(B) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- maßlos. Haarsträubend ist zum Beispiel der Ansatz, den (D)
SES 90/DIE GRÜNEN) Regelsatz einfach auf 500 Euro festzusetzen und das
Prinzip der Bedarfsgemeinschaft aufzulösen. Das führt
Es wäre absolut sinnvoll, ähnlich wie in anderen Sozial-
doch zu bizarren Situationen. Nach Ihrer Berechnung
gesetzbüchern ein sogenanntes Wunsch- und Wahlrecht
bekäme ein vierköpfiger Haushalt 2 000 Euro netto plus
einzuführen, das den Menschen, die Hilfebedarf haben,
etwa 1 000 Euro Miete, also 3 000 Euro insgesamt.
ein echtes Mitbestimmungsrecht einräumt, statt sie in
Damit diskreditieren Sie ernstzunehmende Kritik, indem
Maßnahmen wie 1-Euro-Jobs zu zwingen.
Sie weit über das Ziel hinausschießen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
bei Abgeordneten der LINKEN) Die Linke betreibt damit – vielleicht, ohne es zu wol-
len – objektiv das Geschäft derer, die das SGB II eben
Solange das nicht durchgesetzt ist, treten wir, Bünd- nicht im Sinne der Betroffenen verbessern wollen.
nis 90/Die Grünen, für ein Aussetzen der Sanktionen
und des Sanktionsparagrafen ein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN) Mit solchen unrealistischen Forderungen und einem sol-
chen Aufpumpen erschweren Sie eine sachliche und
Es geht auch um eine vernünftige Ausgestaltung der machbare, lösungsorientierte Debatte. Darum müssen
sogenannten passiven Leistungen, das heißt der Regel- wir Ihren Antrag ablehnen.
sätze. Wir haben mehrfach an dieser Stelle und im gan-
zen Land die Anhebung der Regelsätze für Erwachsene Danke.
und die Einführung einer Kindergrundsicherung gefor-
dert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP]: Aber erst, nachdem ihr nicht mehr re- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
giert habt!) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Paul
Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
Es geht auch darum, dass wir im Lichte der Erfahrun-
gen und auch der Rechtsprechung die passiven Leistun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
gen an die Lebenswirklichkeit anpassen. Es geht nicht der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3909

(A) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Zu Ihren einzelnen Punkten: Frau Kipping hat heute (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Morgen ausgeführt, heute Abend komme die Lösung für
Werte Kollegen! Lieber Kollege Birkwald, ich war ge- den SGB-II-Bereich. Ich habe heute Abend nichts fest-
neigt, zu sagen, dass wir Ihrem Antrag „Weg mit stellen können, was diese Euphorie rechtfertigen würde.
Hartz IV – Für gute Arbeit und eine sanktionsfreie,
bedarfsdeckende Mindestsicherung“ zustimmen können. Das Bundesverfassungsgericht hat zu den Regelsät-
Die Begrifflichkeit „Hartz IV“ ist nicht so toll und kann zen geurteilt:
weg, aber das SGB II behalten wir. Das Leistungskonzept des Sozialgesetzbuches
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zweites Buch sei in Übereinstimmung mit Art. 1
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich sage Abs. 1 GG auf Eigenverantwortung durch Einsatz
ja: Jetzt wird es lustig!) der Erwerbsfähigkeit orientiert mit dem Ziel, dem
Hilfebedürftigen schnell zur Sicherung seiner eige-
Es wurde bereits von den Vorrednern ausgeführt, dass nen Existenz zu verhelfen.
es bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den
Regelsätzen im SGB-II-Bereich um das Verfahren zu Das heißt im Klartext: Fordern und Fördern. Der Grund-
deren Herleitung und ausdrücklich nicht um die Höhe satz „Fordern und Fördern“ ist explizit in der Entschei-
geht. Das Bundesverfassungsgericht hat an keiner Stelle dung des Bundesverfassungsgerichts als Ziel festgestellt
in dem eingangs genannten Urteil ausgeführt, dass die worden. Das, was Sie, die Linken, als sogenannten Sank-
Regelsätze zu niedrig sind. Wir müssen sie neu berech- tionsparagrafen im SGB II ersatzlos streichen wollen,
nen. Wir sind im Begriff, das zu tun. Das wissen Sie bei hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als statt-
der christlich-liberalen Koalition in guten Händen. Sie haft bezeichnet. Das Urteil unterstreicht die Richtigkeit
dürfen uns im Ausschuss begleiten, aber wir werden das der Hilfe zur Selbsthilfe. Es ist keine Rede davon, zu ali-
letztendlich schon hinbekommen. mentieren und ein bedingungsloses Grundeinkommen zu
gewähren, ohne Eigenverantwortung zu fordern. Das
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ziel der Grundsicherung ist nicht, dass Menschen dauer-
der FDP) haft abhängig von staatlichen Leistungen bleiben sollen.
Sie sollen vielmehr so lange unterstützt werden, bis sie
Ihr verhängnisvoller Fehler wurde auch schon vom
wieder selbst auf eigenen Beinen stehen können. Das
Kollegen Kurth angeprangert. Ein pauschaler Regelsatz
wollen wir tun, dahin bewegen wir uns. Wir wollen nicht
von 500 Euro hilft uns auch nicht weiter. Mit der von Ih-
Arbeitslosigkeit, sondern wir wollen die Wiedereinglie-
nen geforderten Regelung würden wir genauso verfas-
derung in sozialversicherungspflichtige Arbeit fördern.
sungswidrig handeln, wie uns im Urteil vom 9. Februar
(B) bestätigt worden ist. Liebe Freunde, kommen Sie auf den (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Boden der Realität zurück! Streuen Sie den Leuten kei- der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]:
nen Sand in die Augen! Versuchen Sie, eine konstruktive Das versucht ihr seit Jahren!)
Lösung für den SGB-II-Bereich hinzubekommen!
Zu dem von Ihnen, Herr Birkwald, geforderten öffent-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und lichen Beschäftigungsbereich: Die Linke fordert ein so-
der FDP) genanntes öffentliches Zukunftsprogramm, das 2 Millio-
Ich habe das Gefühl, dass fast alle in diesem Saale ver- nen zusätzliche Arbeitsplätze schaffen soll, davon 500 000
standen haben, welche Konsequenzen aus dem Urteil öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse. Die
des Verfassungsgerichts zu ziehen sind, nur die Linken Ausweitung der öffentlich geförderten Beschäftigung ist
nicht. Die wollen es nicht verstehen. nicht der richtige Weg zur Bewältigung der Wirtschafts-
krise. Wir haben im Südosten Europas ein Land, dessen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Name in den letzten Tagen hier sehr oft gefallen ist, in
der FDP) dem der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst
bei über 25 Prozent liegt. Dieses Land hat erhebliche fi-
Wenn es Ihnen wirklich um die Sache gehen würde, wür- nanzielle Schwierigkeiten, und diesem Land müssen wir
den Sie konstruktiv mit uns zusammenarbeiten und nicht jetzt helfen. Dieser Weg führt in die Sackgasse. Dieser
von der Überwindung des, wie Sie es nennen, repressi- Weg ist kein probates Mittel, um aus der Krise zu kom-
ven Hartz-IV-Systems schwadronieren. Die Oktoberre- men.
volution war vor 90 Jahren. Der real existierende Sozia-
lismus ist seit 20 Jahren Geschichte. Rein von der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
physischen Präsenz her, lieber Herr Birkwald, sind Sie
mittlerweile in der parlamentarischen Demokratie des Vorrang hat bei unserer Bundesregierung vielmehr die
Jahres 2010 angekommen. Sicherung der bestehenden Arbeitsplätze. Unter anderem
wollen wir dazu das Instrument des Kurzarbeitergeldes
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die sind als Bestandteil der Konjunkturpakete I und II weiterent-
noch nicht angekommen!) wickeln. Die Arbeitsmarktpolitik der christlich-liberalen
Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Koalition kann die Bewältigung der Wirtschaftskrise le-
diglich flankieren, sie kann sie nicht komplett ungesche-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hen machen. Bereits jetzt werden Maßnahmen der öffent-
der FDP) lich geförderten Beschäftigung flexibel eingesetzt.
3910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Köln haben wir stabile rot-rot-grüne Verhältnisse, Herr (C)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Birkwald.
Kollegen Wunderlich? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben
Paul Lehrieder (CDU/CSU): wir nicht!)
Eigentlich wollte ich das nicht, aber in Anbetracht des Meine Damen und Herren, es gäbe noch einiges zum
großen Auditoriums kann ich dem Kollegen Wunderlich Mindestlohn zu sagen. Darüber haben wir schon zigmal
diese Show nicht verwehren. diskutiert. Sie wollen die alten, unprobaten Mittel, die
uns in die wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen wür-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: den, in denen andere Länder Europas bereits sind. Das
Bitte sehr. wollen wir nicht. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Einen schönen Abend. Danke.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. – Sie betonen
in Ihrer Rede – auch seitens der FDP wird das gerne
gemacht – immer, wie christlich-liberal die Koalition Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
und die Politik derselben ist. Von den Grünen ist schon Ich schließe die Aussprache.
der Fall, der vor dem Bundessozialgericht in Kassel ver- Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
handelt wurde, erwähnt worden. Können Sie dem Arti- schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
kel der Frankfurter Rundschau vom heutigen Tage zu- ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ti-
stimmen, in dem auf diese Entscheidung angespielt wird tel „Weg mit Hartz IV – Für gute Arbeit und eine
und in dem es heißt: sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung“. Der
Rechtssystematisch ist den Richtern kein Vorwurf Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
zu machen. Wir schlagen den Politikern, die diesen Drucksache 17/953, den Antrag der Fraktion Die Linke
Blödsinn verzapft haben, mit Freude das Gesetz um auf Drucksache 17/659 abzulehnen. Wir stimmen nun
die Ohren und verlangen, dass der Missstand end- über die Beschlussempfehlung namentlich ab.
lich behoben wird. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
(Beifall bei der LINKEN) vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann er-
(B) öffne ich die Abstimmung. (D)
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Lieber Kollege Wunderlich, die von Ihnen zitierte Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Terminologie zeigt, dass es sich ausschließlich um eine Stimmkarte nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
subjektive Wahrnehmung handelt. Für mich ist viel Fall. Dann ist die Abstimmung geschlossen.
wichtiger, was im Urteil steht, als das, was ein Journalist Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
da versucht hineinzulesen. der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mung wird Ihnen dann später bekannt gegeben.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,
Allein „Politikern um die Ohren schlagen“, das ist eine
Ihre Gespräche vor dem Saal weiterzuführen, damit wir
Ausdrucksweise, die hier in der christlich-liberalen Ko-
die Beratung fortsetzen können.
alition gänzlich unbekannt ist.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis 10 c auf:
(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Birkwald [DIE LINKE]: Der war gut!) richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss)
– Herr Birkwald, Sie hatten vorhin ausgeführt, dass die
Weiterentwicklung der 1-Euro-Jobs ein verhängnisvoller – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
Fehler sei. Sie haben dem geneigten Auditorium natür- und der FDP
lich verschwiegen, dass es sich nicht um 1-Euro-Jobs, Übergangsmaßnahmen zur Zusammenset-
sondern in der Regel – je nach der Höhe der Grundleis- zung des Europäischen Parlamentes nach
tungen – um 4-, 5-, 6- oder 7-Euro-Jobs handelt. Dieser Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon
Betrag wird zusätzlich zu den Sozialleistungen bezahlt.
Das sollte man den Leuten gelegentlich auch mal erzählen. hier: Stellungnahme des Deutschen Bun-
destages nach Artikel 23 Absatz 3 GG
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Matthias i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zu-
Zimmer [CDU/CSU]: Richtig!) sammenarbeit von Bundesregierung
Herr Kollege Birkwald, Sie zitieren die Arge Köln und Deutschem Bundestag in Angele-
und vergießen hier Krokodilstränen darüber, dass in genheiten der Europäischen Union
Köln für 0 Euro gearbeitet werden muss. Ich bitte Sie,
schauen Sie mal nach Köln. Wer regiert in Köln? – In 1) Ergebnis Seite 3912 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3911
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) – zu dem Antrag der Fraktion der SPD heute über die Übergangsmaßnahmen zur Zusammenset- (C)
zung des Europäischen Parlaments im Deutschen Bun-
Vorschlag der spanischen Regierung für die destag debattieren können, ist eine Errungenschaft aus
Änderung der Verträge in Bezug auf die
dem Lissabonner Vertrag.
Übergangsmaßnahmen betreffend die Zu-
sammensetzung des Europäischen Parla- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ments – Herstellung des Einvernehmens der CDU/CSU)
über die Aufnahme von Verhandlungen
über Vertragsänderungen gemäß Artikel 48 Das ist einer der ersten Anwendungsfälle der neuen
EUV Rechte des Bundestages gegenüber der Bundesregierung
nach dem Begleitgesetz, nämlich nach § 10 EUZBBG.
– Drucksachen 17/1179, 17/235, 17/1460 – Darum hat der Bundestag hier großen Wert darauf ge-
Berichterstattung: legt, frühzeitig von der Bundesregierung unterrichtet zu
Abgeordnete Thomas Dörflinger werden, um am Entscheidungsprozess voll beteiligt zu
Axel Schäfer (Bochum) werden.
Michael Link (Heilbronn) Die Koalitionsfraktionen möchten der Einberufung
Dr. Diether Dehm einer Regierungskonferenz zu Verhandlungen, die Über-
Manuel Sarrazin gangsbestimmungen zur Zusammensetzung des Euro-
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel päischen Parlaments betreffend, zustimmen. Sie halten
Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike allerdings den spanischen Vorschlag zur Anpassung der
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Sitzzahl im Europäischen Parlament für problematisch,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN soweit Abgeordnete aus der Mitte der nationalen Parla-
mente nachbenannt werden sollen. Dieses Verfahren wider-
Änderung der Verträge – Übergangsmaßnah- spricht der demokratischen Legitimation des Parlaments
men betreffend die Zusammensetzung des Eu- durch direkte Wahlen.
ropäischen Parlaments
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
– Drucksache 17/1417 – der CDU/CSU und des Abg. Axel Schäfer
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten [Bochum] [SPD])
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Wir alle sind demokratisch gewählte Volksvertreter
Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion und können in diesem Hause eindrucksvoll beobachten,
DIE LINKE wie der Souverän, das Volk, über unsere Köpfe seine
(B) Veränderung der Zusammensetzung des Euro- Runden dreht und unsere Entscheidungen kritisch von (D)
päischen Parlaments in der laufenden Wahlpe- oben betrachtet. Das hat nicht nur Symbolcharakter;
riode diese Erfahrung machen wir alle vier Jahre.
– Drucksache 17/1568 – Auch die Direktwahlen zum Europäischen Parlament
wurden mühsam erkämpft und durchgesetzt. Es ist unser
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die aller Anliegen, Europa demokratischer zu gestalten. Die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Koalitionsfraktionen fordern daher die Bundesregierung
sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so auf, in den Verhandlungen deutlich zu machen, dass die
verfahren. Variante der Nachbenennung von Abgeordneten dem
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Geist – ich betone: dem Geist – des Direktwahlaktes von
ner dem Kollegen Heinz Golombeck das Wort für die 1976 widerspricht.
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Aber auch hier gibt es zwei Seiten der Medaille. Wir
sind die Europapartei und wissen, wie wichtig gerade in
Heinz Golombeck (FDP): der Europäischen Union gegenseitiger Respekt und
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Rücksichtnahme auch auf Besonderheiten jedes Landes
Kollegen! Der Vertrag von Lissabon ist am 1. Dezember sind. Nur so können wir das Ziel erreichen, dass Europa
2009 und somit nach den Wahlen zum Europäischen mit einer Stimme spricht, und nur so kann Europa funk-
Parlament vom Juni 2009 in Kraft getreten. Die Be- tionieren.
schlüsse des Vertrages sehen vor, dass die Zahl der Ab-
geordneten des Europäischen Parlaments von 12 Mit- Am 9. Mai 1950 hat der französische Außenminister
gliedstaaten um insgesamt 18 Mandate erhöht wird. Robert Schuman einen bahnbrechenden Plan vorgestellt,
Dadurch erhöht sich die Gesamtzahl der Abgeordneten der die gesamte deutsch-französische Kohle- und Stahl-
vorübergehend bis zum Ende der Legislaturperiode im produktion einer Hohen Behörde unterstellen sollte, in
Jahr 2014 von 736 auf 754. einer Organisation, die den anderen Ländern Europas
zum Beitritt offenstand.
Die Staats- und Regierungschefs haben sich politisch
darauf verständigt, diese Änderung möglichst bereits In drei Tagen begehen wir zum 60. Mal den Europa-
während des Jahres 2010 in Kraft zu setzen. Dass wir tag, den Tag, an dem damals der erste Grundstein für
3912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Heinz Golombeck
(A) eine europäische Föderation gelegt wurde. Dank dieses Europäischen Union ein. Dies gehört zum Selbstver- (C)
Tages leben wir im vereinigten Europa nunmehr seit ständnis unserer Partei. Wir werden weiterhin unsere
über 60 Jahren in Frieden. Rechte in Bezug auf Stellungnahmen zum europäischen
Gesetzgebungsprozess nutzen. Aber wir werden uns
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
auch weiterhin um einen intensiven und verständnisvollen
der CDU/CSU)
Dialog mit anderen Partnern bemühen, um, wie es in der
Besonders das gute deutsch-französische Verhältnis war Präambel unseres Grundgesetzes steht, „als gleichbe-
ein Grundstein der Aussöhnung in Europa und gab der rechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden
europäischen Integration immer wieder bedeutende Im- der Welt zu dienen“.
pulse. Wir begreifen es als etwas fundamental Wichtiges
und wollen es weiter pflegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dem Vernehmen nach soll besonders für Frankreich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
die Variante der Nachbenennung aus dem nationalen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Parlament wichtig sein. Wenn es gewichtige Gründe da-
für gibt, wollen wir die Übergangslösung in diesem Ein-
zelfall letztlich nicht blockieren, zumal wir auch die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
lange Tradition der Assemblée nationale außerordentlich Herr Kollege Golombeck, das war Ihre erste Rede in
schätzen. diesem Hause. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und
wünsche Ihnen bei Ihrer weiteren Arbeit viel Freude und
Die Koalitionsfraktionen sehen es aber als ihre beson- Erfolg.
dere Verpflichtung an, dafür Sorge zu tragen, dass die
Bundesregierung dem Bundestag darlegt, warum eine (Beifall)
Nachauszählung der zusätzlichen Mandate auf der Basis
des Ergebnisses der letzten Europawahl oder allgemeine Bevor ich nun dem nächsten Redner das Wort gebe,
Ad-hoc-Wahlen in einzelnen EU-Mitgliedstaaten nicht komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 26 und gebe
möglich sind. Außerdem fordern die Koalitionsfraktionen Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
die Bundesregierung auf, sich im Dialog mit den ande- ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
ren Partnern in der EU für ein einheitliches Wahlrecht über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit
bis zu den Wahlen des Europäischen Parlaments im Jahr und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
2014 einzusetzen. dem Titel „Weg mit Hartz IV – Für gute Arbeit und eine
sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung“ be-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
kannt. Abgegebene Stimmen: 540. Mit Ja haben gestimmt
(B) der CDU/CSU) (D)
478, mit Nein haben gestimmt 62 Kolleginnen und Kolle-
Wir Liberale setzen uns für mehr Demokratie und für gen. Enthaltungen gab es keine. Die Beschlussempfehlung
mehr Rechte der Parlamente im legislativen Prozess der ist damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Wolfgang Börnsen Alexander Funk Frank Heinrich


Abgegebene Stimmen: 539; (Bönstrup) Ingo Gädechens Rudolf Henke
davon Norbert Brackmann Dr. Thomas Gebhart Michael Hennrich
Michael Brand Norbert Geis Jürgen Herrmann
ja: 477
Dr. Reinhard Brandl Alois Gerig Ansgar Heveling
nein: 62 Helmut Brandt Eberhard Gienger Ernst Hinsken
Dr. Ralf Brauksiepe Josef Göppel Peter Hintze
Ja Dr. Helge Braun Peter Götz Christian Hirte
Heike Brehmer Dr. Wolfgang Götzer Robert Hochbaum
CDU/CSU Ralph Brinkhaus Ute Granold Karl Holmeier
Leo Dautzenberg Reinhard Grindel Franz-Josef Holzenkamp
Ilse Aigner Thomas Dörflinger Michael Grosse-Brömer Joachim Hörster
Peter Aumer Marie-Luise Dött Markus Grübel Anette Hübinger
Dorothee Bär Dr. Thomas Feist Manfred Grund Thomas Jarzombek
Thomas Bareiß Enak Ferlemann Monika Grütters Dr. Franz Josef Jung
Norbert Barthle Ingrid Fischbach Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Andreas Jung (Konstanz)
Günter Baumann Hartwig Fischer (Göttingen) Guttenberg Dr. Egon Jüttner
Ernst-Reinhard Beck Dirk Fischer (Hamburg) Olav Gutting Bartholomäus Kalb
(Reutlingen) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Florian Hahn Hans-Werner Kammer
Manfred Behrens (Börde) Land) Holger Haibach Alois Karl
Veronika Bellmann Dr. Maria Flachsbarth Dr. Stephan Harbarth Bernhard Kaster
Dr. Christoph Bergner Klaus-Peter Flosbach Jürgen Hardt Siegfried Kauder (Villingen-
Peter Beyer Herbert Frankenhauser Gerda Hasselfeldt Schwenningen)
Steffen Bilger Erich G. Fritz Dr. Matthias Heider Dr. Stefan Kaufmann
Clemens Binninger Dr. Michael Fuchs Mechthild Heil Roderich Kiesewetter
Peter Bleser Hans-Joachim Fuchtel Ursula Heinen-Esser Ewa Klamt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3913
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Volkmar Klein Johannes Röring Sören Bartol Ullrich Meßmer (C)
Jürgen Klimke Dr. Norbert Röttgen Bärbel Bas Dr. Matthias Miersch
Julia Klöckner Dr. Christian Ruck Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dr. Rolf Mützenich
Jens Koeppen Erwin Rüddel Gerd Bollmann Andrea Nahles
Manfred Kolbe Albert Rupprecht (Weiden) Klaus Brandner Dietmar Nietan
Dr. Rolf Koschorrek Anita Schäfer (Saalstadt) Marco Bülow Manfred Nink
Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble Ulla Burchardt Holger Ortel
Thomas Kossendey Dr. Annette Schavan Martin Burkert Aydan Özoğuz
Michael Kretschmer Dr. Andreas Scheuer Petra Crone Heinz Paula
Dr. Günter Krings Karl Schiewerling Dr. Peter Danckert Johannes Pflug
Rüdiger Kruse Norbert Schindler Martin Dörmann Joachim Poß
Bettina Kudla Tankred Schipanski Elvira Drobinski-Weiß Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Hermann Kues Georg Schirmbeck Garrelt Duin Dr. Sascha Raabe
Günter Lach Christian Schmidt (Fürth) Sebastian Edathy Mechthild Rawert
Dr. Karl A. Lamers Patrick Schnieder Siegmund Ehrmann Gerold Reichenbach
(Heidelberg) Dr. Andreas Schockenhoff Petra Ernstberger Dr. Carola Reimann
Andreas G. Lämmel Bernhard Schulte-Drüggelte Karin Evers-Meyer Sönke Rix
Dr. Norbert Lammert Uwe Schummer Elke Ferner René Röspel
Katharina Landgraf Armin Schuster (Weil am Gabriele Fograscher Dr. Ernst Dieter Rossmann
Ulrich Lange Rhein) Dr. Edgar Franke Michael Roth (Heringen)
Dr. Max Lehmer Detlef Seif Dagmar Freitag Marlene Rupprecht
Paul Lehrieder Johannes Selle Peter Friedrich (Tuchenbach)
Dr. Ursula von der Leyen Reinhold Sendker Michael Gerdes Anton Schaaf
Ingbert Liebing Dr. Patrick Sensburg Martin Gerster Axel Schäfer (Bochum)
Matthias Lietz Thomas Silberhorn Iris Gleicke Bernd Scheelen
Dr. Carsten Linnemann Johannes Singhammer Günter Gloser Dr. Hermann Scheer
Patricia Lips Jens Spahn Ulrike Gottschalck Marianne Schieder
Dr. Jan-Marco Luczak Carola Stauche Angelika Graf (Rosenheim) (Schwandorf)
Dr. Michael Luther Erika Steinbach Michael Groschek Ulla Schmidt (Aachen)
Karin Maag Christian Freiherr von Stetten Michael Groß Ottmar Schreiner
Dr. Thomas de Maizière Dieter Stier Hans-Joachim Hacker Swen Schulz (Spandau)
Hans-Georg von der Marwitz Gero Storjohann Bettina Hagedorn Ewald Schurer
Andreas Mattfeldt Stephan Stracke Klaus Hagemann Frank Schwabe
Stephan Mayer (Altötting) Max Straubinger Michael Hartmann Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Michael Meister Thomas Strobl (Heilbronn) (Wackernheim) Dr. Martin Schwanholz
(B) Lena Strothmann Rolf Schwanitz
(D)
Maria Michalk Hubertus Heil (Peine)
Dr. Mathias Middelberg Michael Stübgen Rolf Hempelmann Stefan Schwartze
Philipp Mißfelder Dr. Peter Tauber Dr. Barbara Hendricks Dr. Carsten Sieling
Dietrich Monstadt Antje Tillmann Gustav Herzog Sonja Steffen
Marlene Mortler Dr. Hans-Peter Uhl Gabriele Hiller-Ohm Christoph Strässer
Dr. Gerd Müller Arnold Vaatz Petra Hinz (Essen) Kerstin Tack
Stefan Müller (Erlangen) Volkmar Vogel (Kleinsaara) Frank Hofmann (Volkach) Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nadine Müller (St. Wendel) Stefanie Vogelsang Dr. Eva Högl Franz Thönnes
Dr. Philipp Murmann Andrea Astrid Voßhoff Christel Humme Wolfgang Tiefensee
Michaela Noll Dr. Johann Wadephul Josip Juratovic Rüdiger Veit
Dr. Georg Nüßlein Marco Wanderwitz Oliver Kaczmarek Dr. Marlies Volkmer
Franz Obermeier Kai Wegner Johannes Kahrs Andrea Wicklein
Eduard Oswald Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. h. c. Susanne Kastner Waltraud Wolff
Henning Otte Peter Weiß (Emmendingen) Ulrich Kelber (Wolmirstedt)
Dr. Michael Paul Sabine Weiss (Wesel I) Lars Klingbeil Dagmar Ziegler
Rita Pawelski Ingo Wellenreuther Hans-Ulrich Klose Manfred Zöllmer
Ulrich Petzold Karl-Georg Wellmann Dr. Bärbel Kofler Brigitte Zypries
Dr. Joachim Pfeiffer Peter Wichtel Daniela Kolbe (Leipzig)
Sibylle Pfeiffer Annette Widmann-Mauz Fritz Rudolf Körper FDP
Beatrix Philipp Klaus-Peter Willsch Anette Kramme Jens Ackermann
Christoph Poland Elisabeth Winkelmeier- Nicolette Kressl Christian Ahrendt
Ruprecht Polenz Becker Angelika Krüger-Leißner Christine Aschenberg-
Eckhard Pols Dagmar Wöhrl Ute Kumpf Dugnus
Lucia Puttrich Dr. Matthias Zimmer Christine Lambrecht Daniel Bahr (Münster)
Daniela Raab Wolfgang Zöller Christian Lange (Backnang) Florian Bernschneider
Thomas Rachel Willi Zylajew
Dr. Karl Lauterbach Sebastian Blumenthal
Dr. Peter Ramsauer Steffen-Claudio Lemme Claudia Bögel
SPD
Eckhardt Rehberg Burkhard Lischka Nicole Bracht-Bendt
Katherina Reiche (Potsdam) Ingrid Arndt-Brauer Gabriele Lösekrug-Möller Klaus Breil
Lothar Riebsamen Rainer Arnold Kirsten Lühmann Angelika Brunkhorst
Josef Rief Heinz-Joachim Barchmann Caren Marks Ernst Burgbacher
Klaus Riegert Doris Barnett Katja Mast Marco Buschmann
Dr. Heinz Riesenhuber Klaus Barthel Hilde Mattheis Sylvia Canel
3914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Helga Daub Dr. Christiane Ratjen- Ute Koczy Dr. Dagmar Enkelmann (C)
Reiner Deutschmann Damerau Thomas Koenigs Wolfgang Gehrcke
Dr. Bijan Djir-Sarai Dr. Birgit Reinemund Sylvia Kotting-Uhl Nicole Gohlke
Patrick Döring Dr. Peter Röhlinger Oliver Krischer Diana Golze
Mechthild Dyckmans Dr. Stefan Ruppert Agnes Krumwiede Annette Groth
Rainer Erdel Björn Sänger Stephan Kühn Dr. Gregor Gysi
Jörg van Essen Frank Schäffler Markus Kurth Heike Hänsel
Otto Fricke Christoph Schnurr Undine Kurth (Quedlinburg) Dr. Rosemarie Hein
Paul K. Friedhoff Jimmy Schulz Monika Lazar Inge Höger
Dr. Edmund Peter Geisen Marina Schuster Nicole Maisch Dr. Barbara Höll
Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Erik Schweickert Agnes Malczak Ulla Jelpke
Hans-Michael Goldmann Werner Simmling Jerzy Montag Dr. Lukrezia Jochimsen
Heinz Golombeck Dr. Hermann Otto Solms Kerstin Müller (Köln) Katja Kipping
Miriam Gruß Joachim Spatz Beate Müller-Gemmeke Harald Koch
Joachim Günther (Plauen) Dr. Max Stadler Ingrid Nestle Jan Korte
Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Rainer Stinner Dr. Konstantin von Notz Jutta Krellmann
Heinz-Peter Haustein Stephan Thomae Omid Nouripour Caren Lay
Manuel Höferlin Florian Toncar Friedrich Ostendorff Sabine Leidig
Elke Hoff Serkan Tören Elisabeth Paus Ralph Lenkert
Birgit Homburger Johannes Vogel Brigitte Pothmer Michael Leutert
Dr. Werner Hoyer (Lüdenscheid) Tabea Rößner Ulla Lötzer
Heiner Kamp Dr. Daniel Volk Claudia Roth (Augsburg) Dr. Gesine Lötzsch
Michael Kauch Dr. Guido Westerwelle Krista Sager Thomas Lutze
Dr. Lutz Knopek Dr. Claudia Winterstein Manuel Sarrazin Ulrich Maurer
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Christine Scheel Dorothée Menzner
Pascal Kober
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Heinrich L. Kolb Cornelia Möhring
BÜNDNIS 90/DIE Dorothea Steiner
Hellmut Königshaus Kornelia Möller
GRÜNEN Dr. Wolfgang Strengmann-
Dr. h. c. Jürgen Koppelin Niema Movassat
Kuhn
Sebastian Körber Marieluise Beck (Bremen) Wolfgang Nešković
Hans-Christian Ströbele
Patrick Kurth (Kyffhäuser) Volker Beck (Köln) Thomas Nord
Dr. Harald Terpe
Heinz Lanfermann Alexander Bonde Markus Tressel Jens Petermann
Sibylle Laurischk Viola von Cramon-Taubadel Jürgen Trittin Richard Pitterle
Harald Leibrecht Ekin Deligöz Daniela Wagner Yvonne Ploetz
Sabine Leutheusser- Katja Dörner Wolfgang Wieland Paul Schäfer (Köln)
(B) Schnarrenberger Hans-Josef Fell Dr. Valerie Wilms Michael Schlecht (D)
Lars Lindemann Dr. Thomas Gambke Dr. Herbert Schui
Christian Lindner Katrin Göring-Eckardt Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Martin Lindner (Berlin) Britta Haßelmann Nein Raju Sharma
Michael Link (Heilbronn) Bettina Herlitzius Dr. Petra Sitte
Dr. Erwin Lotter Winfried Hermann DIE LINKE Sabine Stüber
Oliver Luksic Priska Hinz (Herborn) Jan van Aken Alexander Süßmair
Horst Meierhofer Ulrike Höfken Agnes Alpers Dr. Kirsten Tackmann
Patrick Meinhardt Dr. Anton Hofreiter Herbert Behrens Frank Tempel
Gabi Molitor Bärbel Höhn Matthias W. Birkwald Dr. Axel Troost
Jan Mücke Ingrid Hönlinger Eva Bulling-Schröter Alexander Ulrich
Petra Müller (Aachen) Thilo Hoppe Dr. Martina Bunge Kathrin Vogler
Dr. Martin Neumann Uwe Kekeritz Roland Claus Sahra Wagenknecht
(Lausitz) Katja Keul Sevim Dağdelen Halina Wawzyniak
Hans-Joachim Otto Memet Kilic Dr. Diether Dehm Harald Weinberg
(Frankfurt) Sven-Christian Kindler Heidrun Dittrich Jörn Wunderlich
Gisela Piltz Maria Klein-Schmeink Werner Dreibus Sabine Zimmermann

Nun hat das Wort der Kollege Axel Schäfer für die Bürger Europas. Unsere Vorgängerinnen und Vorgänger
Fraktion der SPD. haben 24 Jahre, nämlich von 1952 bis 1976, gebraucht,
um das durchzusetzen, gegenüber den Regierungen, die
(Beifall bei der SPD) nicht so begeistert davon waren, und in den Parlamenten,
etwa bei unseren Vorgängerinnen und Vorgängern im
Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Deutschen Bundestag, die am Anfang auch nicht alle so
begeistert davon waren; Gott sei Dank hat sich einiges
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! geändert. Der SPD-Abgeordnete Karl Mommer hat das
Die Frage der Zusammensetzung des Europäischen Par- über viele Legislaturperioden hinweg verfolgt.
lamentes ist so alt wie die Geschichte des Europäischen
Parlamentes selbst. Sie war immer mit einem zentralen 1976 wurde die Grundlage für den Direktwahlakt ge-
Punkt verbunden: der Direktwahl, der allgemeinen, glei- schaffen. Dieser Direktwahlakt ist etwas Außergewöhn-
chen, freien, geheimen Wahl durch die Bürgerinnen und liches, nicht nur wegen des gemeinsamen Wahlrechts der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3915
Axel Schäfer (Bochum)
(A) Europäer: Es ist das erste Mal, dass eine supranationale Alle Veränderungen können nie taktisch sein; bei Ver- (C)
Volksvertretung gewählt wird. Seitdem haben wir die fassungsfragen taktiert man nicht. Vielmehr müssen alle
Rechte des Europäischen Parlaments, seine Möglichkei- Veränderungen, die wir treffen müssen, auf den Prinzi-
ten zur demokratischen Mitbestimmung gestärkt: beim pien basieren, für die wir lange gekämpft haben. An die-
Haushalt, bei der Gesetzgebung und zuletzt bei der Wahl ser Stelle gibt es auch keine Ausnahme. Es gibt keine
der Europäischen Kommission. Dabei haben wir immer Ausnahmen in irgendeinem Land, das bisher seine Ab-
darauf geachtet, dass wir einen demokratischen Fort- geordneten durch Direktwahl entsandt hat. Weil es hier
schritt erreichen und nah an eine gleiche Gewichtung der auch um vertragliche Änderungen geht, sehen wir es als
Stimmen herankommen, Stichwort: degressive Propor- eine Verpflichtung der Bundesregierung an, dies deutlich
tionalität. Das ist sehr schwer; das Bundesverfassungs- zu machen.
gericht hat uns da bekanntlich einiges ins Stammbuch Die SPD-Fraktion wird nur einer Regelung zustim-
geschrieben. men, die dem Geiste und dem Inhalt dessen entspricht,
Wir haben ein Zweites hinbekommen: Bei allen Er- was wir hier seit 1952 an Tradition hinsichtlich der Di-
weiterungsrunden seit der ersten Direktwahl – 1981, rektwahl haben, und keiner sonstigen, anderen Rege-
1986, 1995 und 2004 – haben wir es so geregelt, dass die lung. Das sollten wir heute noch einmal ganz, ganz deut-
neuen Mitgliedstaaten auf Zeit Abgeordnete aus der lich machen.
Mitte des nationalen Parlaments entsenden, die dann in- Herzlichen Dank.
nerhalb von zwei Jahren durch eine allgemeine Wahl le-
gitimiert werden. Nach der deutschen Einheit gab es eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Besonderheit – ich sehe hier eine Reihe von Kolleginnen DIE GRÜNEN)
und Kollegen aus der früheren DDR –: Wir haben es da-
mals nicht nur akzeptiert, sondern als richtig erachtet, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
dass die 18 Kolleginnen und Kollegen aus dem Deut- Nächster Redner ist der Kollege Thomas Dörflinger
schen Bundestag, die zusätzlich in das Europäische Par- für die CDU/CSU-Fraktion.
lament entsandt wurden, dort fast eine komplette Legis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-
laturperiode lang, nämlich von 1990 bis 1994, nicht ten der FDP)
stimmberechtigt waren, also dort nicht die gleichen, vol-
len Rechte erhielten, weil sie nicht ausreichend durch
Thomas Dörflinger (CDU/CSU):
Wahlen legitimiert waren. Man nannte sie Beobachter.
Es ist wichtig, auf diesen Umstand hinzuweisen; denn Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Deutschland sollte in einer spezifischen Situation, in der Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
(B)
es auch darum geht, dass die Zahl der deutschen Abge- Schäfer, wir sollen das Gemeinsame über das Trennende (D)
ordneten im Europäischen Parlament von derzeit 99 auf stellen. Wenn ich dies als Überschrift über die ersten
96 reduziert werden soll, nicht so tun, als müssten wir Sätze wähle, dann sage ich dazu, wie Sie die Genese des
Direktwahlakts von 1976 beschrieben haben: Ich teile
besondere Rechte für Vertreter aus neuen Mitgliedstaa-
Ihre Einschätzung uneingeschränkt, dass es nicht nur ein
ten einfordern.
großer Kampf bis 1976 war, sondern dass es auch eine
Jetzt kommt es darauf an, in der Debatte hier, in den große Errungenschaft der Kolleginnen und Kollegen des
anderen nationalen Parlamenten der EU und in besonde- Europäischen Parlaments war und ist, diesen Status seit
rer Weise im Europäischen Parlament sowie mit den Re- 1979 gehalten zu haben, und zwar nicht nur, was das
gierungen, die an der Regierungskonferenz teilnehmen Wahlrecht angeht, sondern auch den Umstand – dazu
werden, klarzumachen: Kompromisse sind in Europa war der Lissabon-Vertrag einer der letzten Bausteine –,
zwar immer notwendig und in vielen Fällen richtig – wir Kompetenzen, Zuständigkeiten und Legitimität des Eu-
werden immer schauen, dass es gelingt, das Gemein- ropäischen Parlaments seit 1979 bis zum heutigen Tage
same über das Trennende zu stellen –, aber hier diskutie- Zug um Zug ausgebaut zu haben. Deswegen reagieren
ren wir nicht über eine Frage, bei der man so oder so ent- wir in diesem Hohen Hause zu Recht mit hoher Sensibi-
scheiden kann. Bei dieser Frage kann man sich nur so lität, wenn es um die Frage geht, die wir heute miteinan-
entscheiden: für die Direktwahl. der diskutieren.
Allerdings sind wir damit dann auch schon am Ende
Meine Fraktion hat deshalb bereits im Dezember eine der Gemeinsamkeiten, Herr Kollege Schäfer, und kom-
klare Positionierung vorgenommen. Dementsprechend men eher in den Bereich, in dem wir uns unterscheiden.
sage ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen in die- Wir sind uns in Bezug auf diese drei Vorschläge der spa-
sem Hause, aber insbesondere der Bundesregierung: Un- nischen Ratspräsidentschaft zumindest bei den Vorschlä-
sere Erwartung ist, dass im Rat und auf der Regierungs- gen 1 und 2 einig, dass dies tragfähige Grundlagen wären,
konferenz eine Regelung gefunden wird, die sicherstellt, um die Erweiterung der Sitze des Europäischen Parla-
dass die zusätzlichen Kolleginnen und Kollegen, die in ments darzustellen.
das Europäische Parlament nachrücken, durch die Euro-
pawahl vom Juni 2009 legitimiert sind. Es gibt keine an- Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die
dere Legitimation. Einschätzung gegenüber dem dritten Vorschlag, nämlich
der Benennung aus den Reihen des nationalen Parla-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manuel ments, über den wir uns hier im Deutschen Bundestag,
Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wenn ich die Debatte im Ausschuss richtig in Erinnerung
3916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Thomas Dörflinger
(A) habe, weitgehend einig sind, dass diese Auffassung der Mein zweiter Punkt – damit greife ich eine Debatte (C)
großen Mehrheit des Deutschen Bundestages so in ande- auf, die hinter den Kulissen des Europäischen Parla-
ren Ländern und in anderen nationalen Parlamenten ments von der einen oder anderen Kollegin und dem ei-
nicht geteilt wird. Das mag uns nun gefallen oder nicht, nen oder anderen Kollegen bereits geführt wird –: Für
und meine Begeisterung über diesen Umstand – das ge- den Fall, dass während einer laufenden Legislaturpe-
stehe ich offen und ehrlich – hält sich auch in Grenzen. riode ein Staat der Europäischen Union beitritt – in naher
Aber ich darf sehr wohl zur Kenntnis nehmen, dass dies Zukunft steht beispielsweise der Beitritt Islands an –,
so ist. brauchen wir ein System, mit dem wir das berechtigte
Interesse dieses Landes nach parlamentarischer Vertre-
Da Sie gesagt haben, Herr Kollege Schäfer – dies teile tung darstellen können. Wir sollten uns auf einen Modus
ich wiederum –, dass die Europapolitik, mit meinen verständigen, den wir nicht bei jedem Beitritt eines Lan-
Worten gesagt, vielleicht der Teilbereich der deutschen des aktualisieren müssen, sondern der die nächsten fünf
Politik ist, der in den letzten Jahren das Höchstmaß an bis zehn Jahre trägt. Ich weiß von Kolleginnen und Kol-
Pragmatismus vollzogen hat – das hat der Europapolitik legen aus dem Europaparlament, dass diese Diskussion
gut getan, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa –, dort geführt wird und es diesbezüglich schon Vorschläge
so merke ich an: Wir tun uns an dieser Stelle keinen Ge- gibt. Ich lade herzlich dazu ein, neben der Beschlussfas-
fallen, wenn wir den Teil 3 des spanischen Ratspräsiden- sung über den Antrag der Koalition, die heute ansteht,
tenvorschlags sozusagen als Guillotine-Klausel begrei- diese Debatte mit den Kolleginnen und Kollegen im
fen und sozusagen artikulieren: Wenn es aber zu diesem Ausschuss zu führen; dann leisten wir einen echten Bei-
Vorschlag kommt und der Rat sich auch auf diesen drit- trag zur Zukunft Europas.
ten Vorschlag verständigt, dann machen wir im Deut-
schen Bundestag die Jalousie nach unten. Meines Erach- Herzlichen Dank.
tens – darauf hat Kollege Golombeck zu Recht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hingewiesen – täten wir uns nicht nur im Verhältnis zu
Frankreich, sondern auch generell im europäischen Kon- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
zert mit einer solchen harten, aber herzlichen Kopf- Nächster Redner ist der Kollege Thomas Nord für die
durch-die-Wand-Position keinen Gefallen. Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN)
Deswegen vertrete ich die Position, wie sie die Koali-
tionsfraktionen in ihrem Antrag formuliert haben, dass Thomas Nord (DIE LINKE):
Danke schön. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr
(B) wir die Bundesregierung einerseits seitens des Deut- (D)
schen Bundestags beauftragen, Herr Staatsminister, in geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol-
den anstehenden Verhandlungen im Rat deutlich zu ma- legen! Die Debatte über eine Veränderung der Zusam-
chen, beispielsweise mit Verweis auf den Direktwahlakt mensetzung des Europäischen Parlaments in der laufen-
von 1969, den Wahlperiode scheint mir komplett unnötig zu sein.
(Roland Claus [DIE LINKE]: Aber nur bis
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: 1976!) eben!)
dass es unseren Vorstellungen nicht entspricht – 1976 –, Das Europäische Parlament wurde in seiner jetzigen Zu-
Teil 3 des spanischen Vorschlags zu realisieren. Gleich- sammensetzung – das bestreitet hier niemand – nach de-
wohl müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass manche eu- mokratischen Regeln gewählt. Wenn durch das Inkraft-
ropäischen Staaten eine andere Auffassung haben. Wir treten des Lissabon-Vertrages zukünftig neue Regeln
müssen der Bundesregierung die Möglichkeit einräu- gelten, ist das meiner Ansicht nach kein Grund, in der
men, den Vorschlag, den sie im Rat miterarbeitet und an- laufenden Wahlperiode Veränderungen vorzunehmen.
schließend dem Deutschen Bundestag zur Beschlussfas-
sung vorschlägt, so auszugestalten, dass er unserer (Beifall bei der LINKEN)
Rechtsauffassung nicht zur Gänze widerspricht. Etwas Die Einberufung einer Regierungskonferenz zu diesem
Pragmatismus nützt der Sache mehr, als wenn wir versu- Thema scheint mir völlig deplaziert.
chen, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Die Wand
hat sich in der Geschichte in den meisten Fällen nämlich Wir haben in diesen Tagen nun wirklich Wichtigeres
als stärker erwiesen als der Kopf. zu tun, zum Beispiel uns mit der Lage Griechenlands
auseinanderzusetzen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der LINKEN)
der FDP)
Die Linke ist solidarisch an der Seite der protestierenden
Ich will zum Abschluss noch zwei Punkte nennen. In Bevölkerung in Griechenland.
dem ersten Punkt, Herr Kollege Schäfer, dürften wir uns
(Beifall bei der LINKEN)
einig sein – er ist Gegenstand aller Anträge, über die wir
heute beraten –: Wir wollen die Bundesregierung beauf- Die soziale Situation in Griechenland ist keinesfalls so,
tragen, bei den Verhandlungen im Rat darauf hinzuwir- wie die Bild-Zeitung schreibt. Wir gehen davon aus, dass
ken, dass wir bis zu den Europawahlen im Jahr 2014 ein die Bürgerinnen und Bürger Griechenlands jedes Recht
einheitliches Wahlrecht bekommen, das trägt. haben, deutlich zu machen, dass sie den radikalen So-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3917
Thomas Nord
(A) zialabbau, der sich mit den Auflagen der Banken und der ganzer Konsequenz am geltenden Recht gemessen wird, (C)
Staaten verbindet, nicht hinnehmen können. und solche, wo man auch einmal ein Auge zudrücken
kann.
(Beifall bei der LINKEN)
Mit dem kreativen Handhaben von hart erkämpften
Festzuhalten ist aber auch: Kein Protest der Welt darf Regeln der EU verstärkt die Bundesrepublik vorhandene
zum Tod unschuldiger Menschen führen. Instabilitäten. Die Linke ist der Überzeugung: Es genügt,
(Beifall bei der LINKEN) die neuen Regeln zur Besetzung des Europäischen Parla-
ments laut Vertrag von Lissabon mit der Wahl 2014 um-
Wir trauern mit um die Menschen, die gestern in Grie- zusetzen. Wenn Sie das aber jetzt machen wollen, for-
chenland ums Leben gekommen sind. dern wir die Bundesregierung auf, keinem Verfahren
zuzustimmen, mit dem nationale Parlamente Abgeord-
Die Debatte um die riesige Staatsverschuldung vieler
nete in das Europaparlament entsenden können.
Euro-Länder macht deutlich, dass die bisherige Vertrags-
architektur der EU nicht geeignet ist, eine erfolgreiche (Beifall bei der LINKEN)
europäische Integration zu sichern. Das gilt vor allem
– das ist in vielen Diskussionen der letzten Tage deutlich Wenn schon eine Regierungskonferenz einberufen
geworden – für den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Wir wird, ist es angesichts der aktuellen Lage nötig, über
reden diese Woche über Griechenland; doch die Wahr- drängendere Probleme als diese zu sprechen. Stellen Sie
heit ist: Die Euro-Zone wackelt in Gänze. den Stabilitäts- und Wachstumspakt auf ein solides Fun-
dament. Verhandeln Sie über eine Wirtschaftsregierung.
Die Linke fand viele der europäischen Verträge in we- Beschließen Sie eine soziale Fortschrittsklausel. Es ist
sentlichen Punkten falsch. Sie hat sie seit Langem – wie an der Zeit, dass sozialstaatliche Grundwerte Vorrang
sich jetzt zeigt, zu Recht – kritisiert bzw. abgelehnt. vor der Kapitalfreiheit erhalten.
(Beifall bei der LINKEN) Schönen Dank.
Gerade weil wir eine dauerhafte stabile Europäische (Beifall bei der LINKEN)
Union wollen, brauchen wir neue Regeln. Wenn aber
schon solche Verträge gemacht werden, dann sollten sich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
die vertragschließenden Parteien in ihrem Handeln daran
halten. Auch hier gilt der alte Satz: Pacta sunt servanda. Herr Kollege Nord, auch für Sie war das die erste
Ein Beispiel für den kreativen Umgang mit Verträgen Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glück-
– davon war hier ja schon die Rede – war der Umgang wunsch dazu, verbunden mit den besten Wünschen für
(B) mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt durch Rot- Ihre weitere Arbeit. (D)
Grün. Die Einleitung eines Verfahrens wegen Über- (Beifall)
schreitung der festgelegten Stabilitätskriterien wurde
durch Rot-Grün verhindert. Das hat – scheinbar zum Das Wort hat der Kollege Manuel Sarrazin für die
Vorteil Deutschlands und Frankreichs – zur Entwertung Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
von geltendem europäischem Recht geführt. Kein Wun-
der, finde ich, dass andere Länder ebenfalls Recht im ei- Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
genen Interesse interpretiert haben; auch davon war hier Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In die-
in den letzten Tagen wiederholt die Rede. sen Tagen, gerade heute, ist eine Frage drängend, die
Die heutige Regierungskoalition ist meiner Ansicht auch mit dieser Abstimmung zu tun hat. Es ist die alte
nach dabei, diesen Fehler zu wiederholen. Die deutsch- Frage nach dem Verhältnis zwischen den Bürgerinnen
französische Freundschaft – das konnten wir jetzt mehr- und Bürgern und der Europäischen Union. Wir haben in
fach hören – ist ein dafür vorgetragenes Argument. Mit dem schmerzhaften Prozess, den wir durchgehen muss-
dem Antrag von CDU/CSU und FDP wird die Bundes- ten, damit der Vertrag von Lissabon beschlossen werden
regierung aufgefordert, schwerwiegende Gründe mitzu- konnte, gemerkt, dass Europa in den Köpfen und Herzen
teilen, warum zusätzliche Mandate nicht auf der Grund- der Menschen nicht mehr so weit trägt, wie es einmal ge-
lage der Ergebnisse der letzten Europawahlen oder über tragen hat.
allgemeine Ad-hoc-Wahlen bestimmt werden. Das ist In den letzten Wochen haben wir gemerkt, dass in
eine Einladung, dem undemokratischen Selbstbenen- ganz drängenden europapolitischen Fragen nationale
nungsverfahren durch nationale Parlamente zuzustim- Debatten, nationale Stereotypen, nationale Bilder oft-
men. mals Vorrang haben vor einer europäischen Denke oder
(Beifall bei der LINKEN) auch nur vor einem Blick über den Tellerrand. Wenn
man lernt, nationale Sonderwege zu beenden, auch den
Diese Lösung verstößt gegen Art. 14 Abs. 3 des EU- deutschen Sonderweg, der das letzte Jahrhundert maß-
Vertrages und fällt hinter europäische Wahlrechtstan- geblich und in schrecklichster Form geprägt hat, zu be-
dards von 1979 zurück. Um Frankreich einen Freund- enden, dann wissen wir, dass die Zusammensetzung des
schaftsdienst zu erweisen, wird das Vertrauen in europäi- Europäischen Parlaments als Vertretungsorgan der Bür-
sches Recht beschädigt. Das verstärkt den Eindruck, gerinnen und Bürger Europas gerade durch die direkte
dass es in der EU Mitglieder erster und zweiter Klasse Wahl eine besondere Legitimation hat: diesen europäi-
gibt: solche, deren Mitgliedschaft oder deren Beitritt mit schen Gedanken auszuführen.
3918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Manuel Sarrazin
(A) Diese besondere Legitimation speist sich, mit alle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
dem, was Herr Kollege Schäfer gesagt hat, aus der sowie des Abg. Axel Schäfer [Bochum]
Stimme, die der Bürger und die Bürgerin seinem bzw. ih- [SPD])
rem Abgeordneten im Europäischen Parlament gibt. Das
ist unabänderlich, sodass diese Stimme das besondere Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Verhältnis und auch die besondere Legitimität des Euro- Der nächste Redner ist der Kollege Jürgen Hardt für
päischen Parlaments ausmacht, die gerade mit dem Ver- die CDU/CSU-Fraktion.
trag von Lissabon gestärkt wurde. Das ist der Geist von
Art. 14 Abs. 3 des EU-Vertrags, die Direktwahl. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU)
der Geist des genannten Direktwahlakts und auch der
ersten Direktwahlen von 1979. Jürgen Hardt (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine große Sorge, wenn Option C durchkäme, Herr
Manchmal ist es ein Privileg, in der Opposition zu sein.
Staatsminister, ist, dass wir damit das Europäische Parla-
Joschka Fischer hätte Ihnen etwas gehustet, wenn Sie in
ment schwächen. Deswegen haben wir Grüne einen An-
der Zeit, als er Außenminister war, einen solchen Antrag
trag vorgelegt, der eine Conditio formuliert, die sagt: vorgelegt hätten.
nicht mit Option C. Diese Einschätzung wird von unse-
ren grünen Kollegen in allen anderen europäischen Län- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dern und auch im Europaparlament geteilt. Das heißt,
Er hätte nämlich seinen schönen Spaß gehabt, dies sei-
uns trennen nicht nur nationale Grenzen, sondern auch
nem französischen Amtskollegen zu erklären.
Parteigrenzen, wobei ich weiß, dass Sie im Hinterkopf
dieselben Gedanken haben. Aber wenn man denkt, die In der Europapolitik verdrängt häufig das Banale das
Position der Koalition hätte sich gemausert und mit Ih- Erhabene. So war es auch mit dem Lissabon-Vertrag, ein
rem Antrag würde ein gelbes oder rotes Licht aufgehen, epochales Werk, das die Rechte der Bürgerinnen und
dann muss man leider sagen, dass Ihr Antrag eher einer Bürger der Europäischen Union und die Rechte des
Figur aus Lukas, der Lokomotivführer gleicht, dem Europäischen Parlaments massiv gestärkt hat. Dennoch
Herrn Tur Tur. hat es die Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen,
dass er am 1. Dezember letzten Jahres in Kraft getreten
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Ein ist. Wenn jüngste Umfragen belegen, dass lediglich ein
Scheinriese!) Fünftel der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland der
Meinung ist, die Europäische Union würde Vorteile für
Herr Tur Tur ist wie Ihr Antrag und auch wie Ihre Reden
Deutschland bringen, dann zeigt das, dass wir ein Rie-
(B) hier: Er sieht groß aus, er kommt groß, stark und furcht- sendelta zwischen dem gefühlten und dem tatsächlichen (D)
erregend daher, aber mit jedem Schritt, den man näher
Europa haben.
auf ihn zukommt, wird er ein Stück kleiner. Und ganz
am Ende stellt man fest: Auch Herr Tur Tur ist nur ein Ich darf den Exkurs wagen: Ich habe die leichte Be-
Zwerg. fürchtung, dass wir morgen auch wieder eine Bundes-
tagsdebatte erleben werden, in der das Erhabene durch
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Ein das Banale überdeckt und nicht über Europapolitik de-
Scheinriese!) battiert, sondern etwas ganz anderes gemacht wird.
– Ein Scheinriese. Vielen Dank, Herr Schäfer. – In die- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sem Zusammenhang muss ich sagen, dass die Koalition
oftmals nur ein Scheinriese ist. Ich füge hinzu: Leider ist Nun aber zurück zum Thema Lissabon-Vertrag und
Europäisches Parlament.
dem so. Ich würde mir wünschen, dass Sie nicht ein
Scheinriese oder Zwerg, sondern riesig und standhaft Die Bedeutung der Europäischen Union für das Le-
wären. Ich spreche Ihnen nicht die richtige Motivation ben eines jeden einzelnen Bürgers erfordert, dass wir bei
ab. Aber dass Sie nicht zu den richtigen Schlüssen kom- der Ausgestaltung der Regeln für das Zusammenwirken
men, das bedauere ich sehr. in der Union besonderen Wert auf die Einhaltung der Re-
geln legen. Ein sensibler Punkt ist das Europäische Par-
Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem lament. Seine Rolle als Vertretung der Bürger in der de-
Antrag. Wir halten die Nachbesetzung der Sitze zum mokratischen EU ist durch die Weiterentwicklung über
Europäischen Parlament für notwendig. Wir wollen für die einzelnen Verträge Schritt für Schritt verstärkt wor-
diese den Weg freimachen. Gerade die Spanier, die mit den. Wie sich das Europäische Parlament zusammen-
ihrem erfolgreichen Referendum über die Europäische setzt, ist in Art. 14 des Lissabon-Vertrages, wie in den
Verfassung viel Europamut bewiesen haben, haben diese Verträgen zuvor, eindeutig geregelt. Deswegen ist es er-
Sitze verdient, ohne dass andere inhaltliche Erwägun- laubt, dass wir bei der Zusammensetzung des Europäi-
gen, die lobenswert und wichtig sind, als Conditio mit schen Parlaments sorgfältig vorgehen und vielleicht
hineingebracht werden müssen. Aber dennoch ist die auch ein bisschen pingelig sind.
einzige Lösung, um Herrn Tur Tur groß und mächtig zu
machen, sich zu besinnen und dem Grünenantrag zuzu- Wir unterstützen die Vereinbarung der Regierungs-
stimmen. konferenz, dass mit dem Inkrafttreten des Vertrages von
Lissabon die Anzahl der Mandate von zwölf Mitglied-
Herzlichen Dank. staaten im Europäischen Parlament jetzt direkt um insge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3919
Jürgen Hardt
(A) samt 18 angehoben werden kann. Wir akzeptieren auch, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
dass wir als Deutsche ab 2014 drei Sitze weniger haben, Nächster Redner ist der Kollege Michael Roth für die
und wir begrüßen es natürlich, dass wir als Deutsche SPD-Fraktion.
nicht etwa jetzt drei Sitze abgeben müssen, sondern dass
wir unsere drei Sitze in der laufenden Periode behalten (Beifall bei der SPD)
dürfen.
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Wir müssen aber darauf bestehen, dass die jetzige
Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
Aufstockung der Mandate durch andere Länder den glei-
und Kollegen! Wir sollten die Debatte heute Abend nicht
chen strengen demokratischen Prinzipien unterliegt wie
alleine dazu nutzen, nur über die Nachbesetzung von Sit-
die Europawahl selbst.
zen im Europäischen Parlament zu reden, sondern wir
(Beifall bei der CDU/CSU) sollten hier im Bundestag auch noch einmal darüber
nachdenken, welche Rolle der Parlamentarismus in
Das ist auch in allen Mitgliedstaaten möglich: entwe- Europa, in der Europäischen Union eigentlich spielen
der durch die Ableitung aus dem Ergebnis der Europa- sollte; denn machen wir uns nichts vor: Die Kritik, die
wahl vom Juni 2009 oder aber durch eine entsprechende nicht wenige von uns heute Morgen in der Süddeutschen
Nachwahl von Mitgliedern. Zeitung sicherlich auch gelesen haben, beinhaltete den
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich Vorwurf der Entparlamentarisierung in Europa. Ich will
deshalb gegen die Variante c) des Vorschlags der spani- hier nur einen Satz zitieren:
schen Präsidentschaft ausspricht. Eine Benennung von Es muss aber auch darüber geredet werden, wie
Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus den na- man es wieder hinkriegt, dass in Europa nicht das
tionalen Parlamenten heraus wäre ein Rückschritt in die Geld und die Finanzmärkte das Sagen haben, son-
Zeit vor 1979; denn seitdem gibt es die Direktwahl des dern die Volksvertretungen und die von ihnen ge-
Europaparlaments. wählten Regierungen.
Das wäre undemokratisch im politischen Sinne, und (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
das wäre auch nicht demokratisch im rechtlichen Sinne.
Es würde gegen den Lissabon-Vertrag verstoßen – das ist Die Behandlung der Frage, welche Rolle die nationa-
hier bereits häufig gesagt worden –, und es würde auch len Parlamente in der Europäischen Union spielen und
einen anderen, wie ich finde, wichtigen Grundsatz ver- welche Rolle wir ihnen zubilligen wollen, würde dem
letzen; denn das Wahlvolk bei einer nationalen Parla- Deutschen Bundestag sicherlich gut anstehen.
mentswahl ist eben ein anderes als das Wahlvolk bei der
(B) Europawahl. Wir haben in den letzten Jahren in der Debatte über (D)
die europäische Verfassung und den Vertrag von Lissa-
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!) bon mit großer Geschlossenheit für eine Stärkung des
Europäischen Parlamentes gekämpft. Das Europäische
Bei der Europawahl werden die Europaabgeordneten Parlament ist durch den Vertrag von Lissabon stärker ge-
auch von den EU-Bürgern mitgewählt, die in dem jewei- worden. Eine bestimmte Rolle hat der Deutsche Bundes-
ligen Gastland ihren Wohnsitz haben – Griechen wählen tag traditionell für sich in Anspruch genommen: nicht
also in Deutschland deutsche Europaabgeordnete mit –, Konkurrent und auch nicht Ersatzorgan des Europäi-
nationale Parlamente werden aber in der Regel lediglich schen Parlamentes, sondern sein Partner zu sein. Ich rate
durch die Staatsbürger des jeweiligen Landes bestimmt. nicht nur uns, sondern auch der Bundesregierung, sich
Es gibt also eine andere Legitimationsgrundlage für die als Sachwalter der Interessen des Europäischen Parla-
nationalen Parlamente, als dies beim Europaparlament mentes zu verstehen. Nicht zuletzt hat das Europäische
der Fall ist. Parlament selbst ein klares Bekenntnis abgegeben, dass
Auch dies ist ein Umstand – er bestand im Übrigen es inakzeptabel wäre, wenn seine Mitglieder nicht direkt
vor 1979 und auch 1979 so noch nicht –, der die Regie- gewählt, sondern von den nationalen Parlamenten ent-
rung veranlassen sollte, auf die Mitgliedstaaten der sandt würden.
Europäischen Union nachhaltig einzuwirken, dass sie (Beifall bei der SPD)
vielleicht doch etwas anderes als das wollen könnten,
was die spanische Präsidentschaft in Variante c) ihres Ich meine, dass wir die Rolle des Europäischen Parla-
Vorschlages konkret vorsieht. Wir würden uns sehr wün- mentes als die des zentralen parlamentarischen Organs
schen, dass es der deutschen Bundesregierung gelingt, in der Europäischen Union zu verstehen haben. Wir kön-
die anderen Mitgliedstaaten, die der Variante c) viel- nen vielleicht assistieren und ergänzen. Wir sollten aber
leicht zustimmen wollen, davon abzubringen, das zu tun, nicht in die Rolle derjenigen schlüpfen, die anstelle des
und sie davon zu überzeugen, diesen Weg nicht zu ge- Europäischen Parlamentes Entscheidungen zu treffen
hen. haben. Auch das ist einmal diskutiert worden, ich erin-
nere an die Humboldt-Rede von Joschka Fischer. Er hat
In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zu dem aus einer vermeintlichen Ermangelung an demokrati-
Antrag von CDU/CSU und FDP. scher Legitimation des Europäischen Parlaments, aus
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. mangelnder Sichtbarkeit und Präsenz des Europäischen
Parlaments in der europäischen und der nationalen Öf-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fentlichkeit vorgeschlagen, dass eine dritte Kammer ein-
3920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Michael Roth (Heringen)


(A) gerichtet wird, die sich aus nationalen Parlamentarierin- der bedeutendsten Errungenschaften unserer Gesell- (C)
nen und Parlamentariern zusammensetzt. schaft. Wir sind zu Recht stolz auf sie.
Ich bin davon überzeugt, dass wir heute weiter sind. Im Grundsatz sind wir uns alle einig, dass wir aus-
Auch das ist ein Ergebnis und ein Auftrag des Lissabon- schließlich demokratisch legitimierte Abgeordnete im
ner Vertrages: Nationale Parlamente haben sich inner- Europäischen Parlament haben möchten. Aufgrund die-
staatlich stärker an der europäischen Gesetzgebung und ser weitgehend gemeinsamen politischen Wertvorstel-
an der Willensbildung in der Europäischen Union zu be- lungen sind sich die heute zur Debatte stehenden An-
teiligen. Diese Rolle ist schwer genug. Wir haben eine träge im Wesentlichen ziemlich ähnlich. Die Frage ist
Menge Arbeit vor uns. Wir merken im politischen Alltag nur – darin unterscheiden sich die Anträge dann doch –:
und in der parlamentarischen Praxis, was noch alles auf Wie weit wollen wir als nationales Parlament gehen, um
uns zukommt. unsere politischen Wertvorstellungen europaweit durch-
zusetzen?
Wir leiden nicht unter zu wenig Pragmatismus, lieber
Kollege Dörflinger, sondern wir leiden aus meiner Sicht Bei der Beantwortung dieser Frage sollte man zwei
an einem Mangel an Visionen, an Konzepten und an zentrale Gesichtspunkte im Hinterkopf behalten:
Ideen, wie wir den Bürgerinnen und Bürgern verdeutli-
Erstens. Die Kollegen von der Opposition haben im
chen können, dass Parlamente ein wesentlicher Beitrag
Ausschuss mehrfach zu Recht darauf hingewiesen, dass
dazu sind, eine notwendige Nähe zwischen den Bürge-
die Direktwahl zum Europäischen Parlament ein Meilen-
rinnen und Bürgern einerseits und den EU-Institutionen
stein in der europäischen Politik gewesen ist. Wenn das
andererseits herzustellen.
so ist, dann muss man den direkt gewählten Mitgliedern
Ich rate zu klaren Beschlussfassungen hier im Parla- dieses Parlaments aber auch zugestehen, dass zuallererst
ment. Die SPD-Bundestagsfraktion hat schon zu einem sie selbst über die zu betreffenden Angelegenheiten ent-
sehr frühen Zeitpunkt einen Antrag dazu eingebracht. scheiden. Es wäre den direkt gewählten Europaparla-
Ich glaube nicht, dass es die deutsch-französische Part- mentariern gegenüber eine ziemliche Respektlosigkeit,
nerschaft beschädigt, wenn wir uns klar und unmissver- wenn wir uns als Abgeordnete eines nationalen Parla-
ständlich auf die Position des Europäischen Parlamentes ments hinstellen und sagen würden: Es ist uns egal, wie
beziehen und wenn wir uns dort sehen, wohin der Deut- das Europaparlament diese Angelegenheit sieht; wir
sche Bundestag traditionell gehört, nämlich an die Seite stimmen in jedem Fall gegen eine Vertragsänderung,
des Europäischen Parlamentes. wenn die zusätzlichen Abgeordneten aus der Mitte der
nationalen Parlamente bestimmt werden können.
Es ist gut, wenn wir heute Abend darüber sprechen,
wie wir den Parlamentarismus in Europa stärken kön- Hierzu muss man wissen: Erstens. Das Europäische
(B) (D)
nen. Wir können ihn nur dann stärken, wenn wir dem Parlament hat heute Mittag eine Entschließung verab-
Bundesverfassungsgericht nicht auf den Leim gehen – es schiedet, in der festgestellt wird, dass die hier in Rede
hat aus meiner Sicht in sehr defätistischer Weise über die stehende Option 3 nicht mit dem Geist des Akts von
Rolle des Europäischen Parlamentes geurteilt –, sondern 1976 vereinbar ist. Zweitens. Das Europäische Parla-
wenn wir Mut machen und deutlich bekennen: Das Eu- ment ist der Auffassung, dass im Falle unüberwindbarer
ropäische Parlament ist auf EU-Ebene das zentrale Or- technischer oder politischer Schwierigkeiten eine indi-
gan, um die demokratische Legitimation Europas zu rekte Wahl durch die nationalen Parlamente dennoch ak-
stärken und zu sichern. In dieser Hinsicht bitte ich Sie zeptabel ist. Ich finde, wir sollten diese Position des Eu-
alle um wohlwollende Prüfung unseres Antrages. ropäischen Parlaments respektieren.
Danke schön. Ein weiterer Gesichtspunkt, auf den ich hinweisen
möchte, wenn es darum geht, wie weit wir als Bundes-
(Beifall bei der SPD) tagsabgeordnete gehen sollten, um unsere politischen
Wertevorstellungen europaweit durchzusetzen, ist fol-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gender: Mit unserer Entscheidung versuchen wir auch,
Nun hat das Wort der Kollege Karl Holmeier für die darüber zu bestimmen, wie sich ein anderer Mitglied-
CDU/CSU-Fraktion. staat zu verhalten hat – an dieser Stelle ist Frankreich zu
nennen –, der aufgrund seiner innerstaatlichen Regelun-
(Beifall bei der CDU/CSU – Manuel Sarrazin gen die umstrittene Variante ins Auge fasst. Wenn wir
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Redezeitbe- diese Option kategorisch ausschließen, maßen wir uns
grenzung! Sie haben noch vier Minuten gut bei im Grunde genommen an, die Franzosen darüber zu be-
uns!) lehren, wie Demokratie auszusehen hat. Ich denke, an
dieser Stelle sollten wir vorsichtig sein.
Karl Holmeier (CDU/CSU):
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen (Beifall bei der CDU/CSU)
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Aus demokrati-
schen Gesichtspunkten halte ich eine Benennung der zu-
Demokratie ist die Notwendigkeit, sich gelegent-
sätzlichen Europaabgeordneten aus der Mitte der nationa-
lich den Ansichten anderer Leute zu beugen.
len Parlamente sehr wohl für sehr kritisch. Ich denke aber
Dieses Zitat stammt, wie Sie vielleicht wissen, von auch, dass wir als deutsche Abgeordnete anderen Parla-
Winston Churchill. Die Demokratie ist zweifelsfrei eine menten nichts vorschreiben sollten. Stattdessen sollten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3921
Karl Holmeier
(A) wir uns ins Gedächtnis rufen, dass wir mit dem Europa- mensetzung des Europäischen Parlaments – Herstellung (C)
parlament ein eigenständiges Organ in der Europäischen des Einvernehmens über die Aufnahme von Verhandlun-
Union installiert haben, das demokratisch legitimiert ist. gen über Vertragsänderungen gemäß Artikel 48 EUV“.
Wir müssen daher akzeptieren, dass dieses eigenständige Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist da-
Organ eine eigenständige Entscheidung trifft, die nicht gegen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfeh-
immer hundertprozentig unserer Meinung entspricht. lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ferner widerspricht es dem freundschaftlichen und
respektvollen Umgang mit den anderen Mitgliedstaaten, Tagesordnungspunkt 10 b. Es geht um den Antrag der
wenn wir ihnen vorschreiben, wie sie die zusätzlichen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1417
Mandate nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit dem Titel „Änderung der Verträge – Übergangsmaß-
vergeben sollen. Dies gilt umso mehr vor dem Hinter- nahmen betreffend die Zusammensetzung des Europäi-
grund, dass Deutschland seine derzeitigen Sitze im Eu- schen Parlaments“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
ropaparlament bis zur nächsten Wahl behält und damit Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
die im Vertrag vorgesehene Höchstzahl an Sitzen vo- den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
rübergehend weiterführt. Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der SPD abge-
Ich halte es daher für sinnvoll, dass wir unsere Posi- lehnt. Für den Antrag haben die Mitglieder der Fraktion
tion – wie im Antrag der CDU/CSU formuliert – klarma- Bündnis 90/Die Grünen gestimmt.
chen und sie der Bundesregierung für die Verhandlungen Tagesordnungspunkt 10 c. Abstimmung über den An-
mit auf den Weg geben. Wir sollten der Bundesregierung trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1568 mit
aber auch einen gewissen Handlungsspielraum lassen dem Titel „Veränderung der Zusammensetzung des Eu-
und nicht versuchen, unsere Meinung und unsere Werte- ropäischen Parlaments in der laufenden Wahlperiode“.
vorstellungen stur europaweit durchzuboxen. Deshalb Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? –
bitte ich Sie recht herzlich, dem Antrag der christlich-li- Gibt es Enthaltungen? – Der Antrag ist abgelehnt. Dafür
beralen Koalition zuzustimmen. haben die Mitglieder der Fraktion Die Linke gestimmt.
Vielen Dank. Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Grünen abgelehnt.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11:


Ich schließe die Aussprache. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
(B)
Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Es liegt Carsten Schneider (Erfurt), Joachim Poß, Hubertus (D)
eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Ge- Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der
schäftsordnung des Kollegen Thomas Silberhorn vor, die Fraktion der SPD
zu Protokoll gegeben wird.1) Zu den theoretischen und empirischen Grund-
Tagesordnungspunkt 10 a. Abstimmung über die Be- lagen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes
schlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegen- und der gemäß Koalitionsvertrag beabsichtig-
heiten der Europäischen Union auf Drucksache 17/1460. ten Steuerreform
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen – Drucksache 17/568 –
der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/1179 mit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
dem Titel „Übergangsmaßnahmen zur Zusammenset- diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
zung des Europäischen Parlamentes nach Inkrafttreten Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es geht um die
des Vertrages von Lissabon – hier: Stellungnahme des Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Olav
Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 GG i. V. m. Gutting, Klaus Brandner, Bettina Hagedorn, Dr. Daniel
§ 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bun- Volk, Dr. Barbara Höll, Dr. Thomas Gambke und des
desregierung und Deutschem Bundestag in Angelegen- Parlamentarischen Staatssekretärs Hartmut Koschyk.2)
heiten der Europäischen Union“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:
gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
Oppositionsfraktionen angenommen. gierung eingebrachten Entwurfs eines Ausfüh-
rungsgesetzes zur Verordnung (EG) Nr. 1060/
Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 10 a. Unter 2009 des Europäischen Parlaments und des
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus- Rates vom 16. September 2009 über Rating-
schuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD agenturen (Ausführungsgesetz zur EU-Rating-
auf Drucksache 17/235 mit dem Titel „Vorschlag der spa- verordnung)
nischen Regierung für die Änderung der Verträge in Be-
zug auf die Übergangsmaßnahmen betreffend die Zusam- – Drucksachen 17/716, 17/984 –

1) Anlage 3 2) Anlage 4
3922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das (C)
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Arbeitslosengeld II
– Drucksache 17/1609 – – Drucksachen 17/524, 17/76, 17/841 –
Berichterstattung: Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus Abgeordneter Matthias W. Birkwald
Manfred Zöllmer
Björn Sänger Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu geben. – Auch damit sind Sie,
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion wie ich sehe, einverstanden. Es sind die Reden folgender
Bündnis 90/Die Grünen vor. Auch hier wurde interfrak- Kolleginnen und Kollegen: Dr. Carsten Linnemann, Paul
tionell vereinbart, dass die Reden zu Protokoll gegeben Lehrieder, Katja Mast, Pascal Kober, Matthias W.
werden, und zwar von folgenden Kolleginnen und Kol- Birkwald und Markus Kurth.2)
legen: Peter Aumer, Ralph Brinkhaus, Manfred Zöllmer,
Björn Sänger, Dr. Axel Troost und Dr. Gerhard Schick.1) Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/841.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a) seiner Be-
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ausfüh-
rungsgesetzes zur EU-Ratingverordnung. Der Finanzaus- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf tion der SPD auf Drucksache 17/524. Wer stimmt für
Drucksache 17/1609, den Gesetzentwurf der Bundesre- diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Wer
gierung auf Drucksachen 17/716 und 17/984 anzuneh- enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist damit ange-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
men wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter der SPD-Fraktion und bei Enthaltung der Fraktion der
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Linken.
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Unter Buchstabe b) seiner Beschlussempfehlung
der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Frak- empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
tion angenommen. Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/76. Wer stimmt
Wir kommen zur für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
dritten Beratung nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
(B) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD- (D)
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Fraktion.
wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
Drucksache 17/1612. Wer stimmt für diesen Entschlie- zung des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des
ßungsantrag? – Wer ist gegen den Entschließungsantrag? – Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwen-
Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist damit dung des Grundsatzes der gegenseitigen Aner-
abgelehnt. Dafür haben die Mitglieder der Fraktion kennung von Geldstrafen und Geldbußen
Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Der Entschließungs- – Drucksache 17/1288 –
antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen bei Enthaltung der Fraktion der SPD und der Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Fraktion Die Linke. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 17 auf: Wie bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, wer-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- den die Reden zu Protokoll gegeben, und zwar von fol-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales genden Kollegen: Ansgar Heveling, Dr. Peter Danckert,
(11. Ausschuss) Wolfgang Nešković, Jerzy Montag und Parlamentari-
scher Staatssekretär Dr. Max Stadler.
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Mehr Chancengleichheit für Jugendliche – Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Ferienjobs nicht als regelmäßiges Einkom- Europa ist für uns im alltäglichen Erleben schon viele
men anrechnen Jahre scheinbar grenzenlos. So können wir sorglos von
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Land zu Land reisen. Grenzen stellen keine physischen
Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Hindernisse mehr dar. In vielen europäischen Ländern
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE bezahlen wir mit der gleichen Währung. Der einheitli-
LINKE che Wirtschaftsraum ist bereits seit langem Realität.

1) Anlage 5 2) Anlage 6
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3923
Ansgar Heveling
(A) Gäbe es keine sprachlichen Unterschiede, würden wir Erstens. Das aufwendige, auch für Geldstrafen und (C)
kaum bemerken, wenn wir uns in einem anderen Land Geldbußen ohne Berücksichtigung der Höhe der Sank-
befinden würden. tion geltende Exequaturverfahren von § 48 ff. IRG wird
im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses abge-
Im Alltag nehmen wir dabei ebenso kaum noch wahr, löst und durch eine behördliche Entscheidung ersetzt.
dass sich die einzelstaatlichen Rechtsordnungen in
Europa in vielen Punkten teilweise deutlich unterschei- Zweitens. Die nach dem Rahmenbeschluss zulässigen
den. Selbst auf viele alltägliche Sachverhalte bezogen ist Verweigerungsgründe werden ganz überwiegend als
die Harmonisierung an vielen Stellen jedoch noch nicht zwingende Zulässigkeitshindernisse ausgestaltet.
so weit fortgeschritten, dass wir neben dem einheitli-
chen Wirtschaftsraum auch von einem einheitlichen Drittens. Gegen eine behördliche Bewilligungsent-
Rechtsraum in Europa sprechen könnten. Das gilt bis- scheidung, die in einem ersten Verfahrensabschnitt er-
lang etwa für die gegenseitige Anerkennung und Voll- geht, ist der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten
streckung von Geldstrafen und Geldbußen, was insbe- eröffnet. Festgelegt wird eine Zuständigkeit der Amtsge-
sondere im Bereich des Straßenverkehrs von Bedeutung richte. Als Rechtsmittel ist die Rechtsbeschwerde statt-
ist. Verkehrsordnungswidrigkeiten und Verkehrsstrafta- haft.
ten, die ein deutscher Autofahrer im Ausland begangen Viertens. Dem am 1. Januar 2007 als zentrale Dienst-
hat, sind bislang für ihn ohne Folgen, es sei denn, er leistungsbehörde errichteten Bundesamt für Justiz wird
wird unmittelbar vor Ort im Ausland „zur Kasse gebe- als weitere Aufgabe eine zentrale Zuständigkeit als Be-
ten“. Bis auf Österreich, mit dem es seit 1998 einen ent- willigungsbehörde und, soweit kein Gericht befasst
sprechenden Vertrag gibt, existieren keine bilateralen wurde, als Vollstreckungsbehörde im Bereich eingehen-
Vollstreckungshilfeabkommen zwischen der Bundes- der Ersuchen sowie als Bewilligungsbehörde im Bereich
republik und anderen EU-Staaten, und das EU-Strafvoll- ausgehender Ersuchen übertragen.
streckungsabkommen von 1991 wurde lediglich von den
Niederlanden, Spanien und Deutschland ratifiziert. Die- Fünftens. Eine gerichtliche Entscheidung ergeht
ses Abkommen betrifft aber etwa Verkehrsordnungswid- zwingend, wenn die Entscheidung des anderen Mitglied-
rigkeiten nicht. staates unter eine im Umsetzungsgesetz festgelegte Fall-
gruppe fällt, zum Beispiel eine Entscheidung gegen ei-
Bislang fehlte es also an einem einheitlichen Instru- nen Jugendlichen oder gegen eine juristische Person.
mentarium für eine effektive Vollstreckung von Geld-
sanktionen im europäischen Raum, da alle bisher beste- Und sechstens. Effektiver richterlicher Rechtsschutz
henden Abkommen keine Verpflichtung zur Vollstreckung im Inland wird durchgängig bei allen Geldsanktionen
enthalten. gewährt. Der Weg zu den Gerichten wird nicht abhängig
(B) gemacht von Differenzierungen nach der Art der Sank- (D)
Auf Initiative von Frankreich, Schweden und Groß- tion oder nach der Stelle, die sie verhängt hat.
britannien wurde im Jahr 2001 ein Rahmenbeschluss
über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Das Umsetzungsgesetz dient damit einerseits der not-
Geldbußen eingebracht und am 24. Februar 2005 vom wendigen Harmonisierung, ohne gleichzeitig anderer-
EU-Rat beschlossen. Er orientiert sich dabei an voran- seits aus dem Blick zu lassen, dass die Unterschiedlich-
gegangenen Rahmenbeschlüssen zur Anwendung des keit der einzelnen Rechtsordnungen es naturgemäß
Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung. Der nun erschwert, voneinander abweichende Instrumente ein-
vorliegende und hier zu beratende Gesetzentwurf dient heitlich unter dem Blickwinkel effektiven Rechtsschutzes
damit der nationalstaatlichen Umsetzung des Rahmen- zu beurteilen. So wird dem Gedanken des einheitlichen
beschlusses. Bis zum Beginn des Jahres 2011 müssen Rechtsraums Europa in ausreichender Weise Rechnung
alle beteiligten europäischen Staaten den Rahmenbe- getragen und gleichzeitig den unserem Rechtsverständ-
schluss zur Umsetzung gebracht haben. nis nach notwendigen Anforderungen an einen effekti-
ven Rechtsschutz Genüge getan.
Die Umsetzung zieht vor allem im Hinblick auf
Geldsanktionen, die in anderen Mitgliedstaaten ver- Nach den Rahmenbeschlüssen zum Europäischen
hängt wurden und in Deutschland vollstreckt werden Haftbefehl, zur Sicherstellung von Beweismitteln und
sollen, einen erheblichen Bedarf an Änderungen im IRG zur Anerkennung von Einziehungsentscheidungen ist
nach sich. dies das vierte Rechtsinstrument, das auf dem Grundsatz
der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Ent-
Auf der einen Seite sollen in anderen Mitgliedstaaten
scheidungen beruht. Durch das Umsetzungsgesetz bewe-
verhängte Geldstrafen und Geldbußen grundsätzlich an-
gen wir uns damit einen Schritt weiter auf dem Weg, aus
erkannt und in einem auch für hohe Fallzahlen mög-
Europa nicht nur einen einheitlichen Wirtschafts- und
lichst praktikablen Verfahren vollstreckt werden. Auf der
Freiheitsraum, sondern auch einen einheitlichen
anderen Seite ist der Gesetzgeber gehalten, die Umset-
Rechtsraum zu schaffen.
zungsspielräume, die der Rahmenbeschluss den Mit-
gliedstaaten belässt, in einer grundrechtsschonenden
Weise auszufüllen. Dem Spannungsverhältnis zwischen Dr. Peter Danckert (SPD):
Rahmenbeschluss adäquater Praktikabilität und grund- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll endlich der
rechtsschonender Ausgestaltung von Umsetzungsspiel- Rahmenbeschluss des Rates vom 24. Februar 2005 über
räumen sollen vor allem die folgenden Weichenstellun- die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen An-
gen im Umsetzungsgesetz Rechnung tragen: erkennung von Geldstrafen und Geldbußen in das natio-

Zu Protokoll gegebene Reden


3924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Dr. Peter Danckert


(A) nale Recht umgesetzt werden. Durch den Rahmenbe- Diese wird weiterhin dadurch erleichtert, dass die Ent- (C)
schluss, an dem schon die rot-grüne Regierung der scheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geld-
15. Wahlperiode „mitverhandelt“ hat, werden alle in ei- buße auf einer Bescheinigung in der Amtssprache des
nem EU-Mitgliedstaat verhängten Geldstrafen und Vollstreckungsstaates auszustellen ist. Kommunikations-
Geldbußen bei allen Formen von Straftaten und Ord- probleme und Übersetzungsfehler dürfen kein Hindernis
nungswidrigkeiten grundsätzlich gegenseitig anerkannt bei der Verfolgung von Rechtsverstößen sein.
und ab einem Betrag von 70 Euro – § 87 b Abs. 3 Nr. 2
IRG-E – europaweit vollstreckt. Zwar ist aus deutscher Der Heimatstaat eines Betroffenen kann die grenz-
Sicht eine Vollstreckung von Geldsanktionen bereits überschreitende Vollstreckung verweigern, wenn die aus-
nach den herkömmlichen Vorschriften über die interna- ländische Entscheidung in einem Verfahren ergangen
tionale Rechtshilfe in Strafsachen möglich, allerdings ist, das Grundrechte oder rechtsstaatliche Prinzipien
traten hier oft Schwierigkeiten in der praktischen Um- verletzt. Diese Überprüfungsmöglichkeit eines ausländi-
setzung vor allem bei Massenverfahren auf. Durch den schen Vollstreckungstitels im Rahmenbeschluss ist von
nun umzusetzenden Rahmenbeschluss sollen bisherige der damaligen rot-grünen Bundesregierung erfolgreich
Hindernisse bei der grenzüberschreitenden Vollstre- durchgesetzt worden, sie bleibt eine unverzichtbare Vo-
ckung von Geldsanktionen behoben und wesentliche Er- raussetzung.
leichterungen erreicht werden. Der vorliegende Gesetz-
entwurf knüpft dabei an unsere Vorarbeiten in der Im Bundesrat wird der Gesetzentwurf von den Län-
16. Wahlperiode an. Damit wird der Weg zur Schaffung dern in zwei Punkten kritisiert. Zum einen wird die im
eines einheitlichen Rechtsraumes in Europa kontinuier- Entwurf vorgesehene Konzentration von Verordnungs-
lich fortgesetzt. ermächtigungen auf das Bundesamt für Justiz abge-
lehnt. Die Regelung ermögliche dem Bund, den elektro-
In einem Europa der offenen Grenzen darf eine effek- nischen Rechtsverkehr und die entsprechende Aktenfüh-
tive Strafverfolgung nicht an den nationalen Grenzen rung auch insoweit einzuführen, als Landesjustiz-
der Mitgliedstaaten enden. Das betrifft beispielsweise behörden betroffen seien. Wie bei der Prozessordnung
auch die grenzüberschreitende Verfolgung von Verkehrs- müsse eine solche Entscheidung jedoch den Ländern
sündern. Autofahrer, die sich auf Straßen anderer EU- vorbehalten sein. Hier muss das weitere Vorgehen ge-
Staaten vorschriftswidrig verhalten, können nicht mehr prüft werden und gegebenenfalls Änderungen erfolgen.
darauf vertrauen, dass ein Strafzettel praktisch folgen- Zum anderen kritisieren die Länder, dass der Erlös aus
los bleibt. Das betrifft zum einen deutsche Autofahrer im einer Vollstreckung allein dem Bund zustehen soll. Des-
EU-Ausland, aber auch Autos mit ausländischem Kenn- halb soll, laut Vorschlag der Länder, eine Regelung ge-
zeichen, die auf Deutschlands Straßen unterwegs sind. troffen werden, wonach der Vollstreckungserlös je zur
(B) Als eines der wichtigsten Ziel- und Transitländer des eu- Hälfte dem Bund und den Ländern zufließe, da diese ei- (D)
ropäischen Kontinents, geht es hier auch darum, auslän- nen erheblichen Teil des Verwaltungsaufwandes leisten
dische Verkehrsteilnehmer zur Einhaltung der Verkehrs- müssten. Die Bundesregierung lehnt das mit der Be-
regeln zu bewegen. Und das funktioniert eben nur, wenn gründung, dass der Bund die Hauptlast trage, ab. Nach
die Einhaltung dieser Regeln auch kontrolliert wird und Auffassung unserer Fraktion, die dem Gesetzentwurf im
Verstöße gegebenenfalls auch geahndet und anschlie- Übrigen zustimmt, sollte der Vollstreckungserlös zu zwei
ßend auch vollstreckt werden. Zwar gab es in der Ver- Dritteln dem Bund und zu einem Drittel den jeweiligen
gangenheit wenig Begeisterung der Autofahrer für den Bundesländern zufließen. Ich sagte schon, wir werden
auch als „Knöllchenbeschluss“ bekannt gewordenen dem Gesetz zustimmen. Noch in dieser Legislaturpe-
Rahmenbeschluss und dessen Umsetzung. Letztendlich riode erwarten wir einen Bericht über die Umsetzung
geht es aber darum, die Gefahren auf unseren Straßen zu dieses Gesetzes.
reduzieren und die Sicherheit zu erhöhen, was schließ-
lich jedem Autofahrer am Herzen liegen sollte und zugu-
tekommt. Wolfgang Nešković (DIE LINKE):
Die Umsetzung des Rahmenbeschlusses bezieht sich Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bundes-
aber nicht nur auf Verkehrsdelikte. Er enthält eine Liste regierung einen Rahmenbeschluss über die Anwendung
von 39 Straftaten und Verwaltungsübertretungen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von
– § 87 b Abs. 1 Satz 2 IRG-E – bei denen die beidersei- Geldstrafen und Geldbußen umsetzen. Sie hat sich mit
tige Sanktionierbarkeit seitens des Vollstreckungsstaates dieser Umsetzung nach Ablauf der Umsetzungsfrist drei
nicht zu prüfen ist. Geldstrafen und Geldbußen werden Jahre Zeit gelassen. Das ist kein Grund zur Kritik. Sie
unter anderem bei folgenden Straftaten und Verstößen hätte sich noch viel mehr Zeit nehmen sollen, am besten
auferlegt: Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
Terrorismus, Menschenhandel, Waffenschmuggel, Be-
Das Vorhaben ist erheblichen verfassungsrechtlichen
trug, Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen, Verge-
Bedenken ausgesetzt. Es widerspricht den Prinzipien
waltigung, Korruption, Cyberkriminalität, Rassismus
von Rechtstaatlichkeit und Demokratie, die in Art. 20
und Fremdenfeindlichkeit, Flugzeug-/Schiffsentführung,
der Verfassung genannt werden. Es widerspricht damit
Warenschmuggel.
Prinzipien, die der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3
Mit der Vereinfachung des Verfahrens zur Vollstre- des Grundgesetzes unterfallen, weil sie gegen alle Ände-
ckung von Bußgeldern und Geldstrafen kann somit eine rungen der Nachgeborenen vor Veränderungen geschützt
effektivere und effizientere Strafverfolgung erfolgen. sind.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3925
Wolfgang Nešković
Neškoviæ
(A) Sie kennen die Lissabon-Entscheidung des Bundes- Beweiserhebungen und Beweisverwertungen – sehr un- (C)
verfassungsgerichts. Danach kann es unter der Geltung terschiedlich sind.
des Grundgesetzes keine Vereinigten Staaten von Europa
geben. Deshalb verbleiben auch die Kernbefugnisse eines Unterschiedlich sind auch die Straftatbestände. Es
Europäischen Staates bei den Mitgliedstaaten. bestehen in Europa erhebliche Unterschiede bei der Be-
urteilung der Frage, welches Verhalten überhaupt als
Dazu gehört auch das Strafrecht. Ein europäisches strafwürdig zu erachten ist. Nach dem Willen der Ent-
Strafrecht kann es danach nur nach zwei Möglichkeiten wurfsverfasser soll in 37 sehr unbestimmt formulierten
geben, die beide völlig außer Blick- und Reichweite lie- Deliktsgruppen bei der Vollstreckung von Geldsanktionen
gen: auf die Prüfung der beiderseitigen Sanktionierbarkeit
Erstens. Wir geben uns eine neue gesamtdeutsche verzichtet werden. Doch diese Deliktsgruppen reichen
Verfassung, die eine weitergehende Übertragung von von schweren Straftaten, wie zum Beispiel Terrorismus,
Hoheitsbefugnissen auf die EU gestattet. Doch vor einer Menschenhandel, Vergewaltigung und Flugzeugentfüh-
gesamtdeutschen Verfassung fürchtet sich die Mehrheit rung, bis zu einfachen Verkehrsdelikten. In dem Katalog der
dieses Hauses seit der Wiedervereinigung. Sie fürchtet Deliktsgruppen auftauchende Schlagworte wie „Cyber-
den progressiven Gehalt dieser Verfassung. kriminalität“, „Fremdenfeindlichkeit“ und „Sabotage“
sind – mangels hinreichender Bestimmtheit – allenfalls
Zweitens. Alle Staaten der EU würden die an den Karikaturen einer rechtsstaatlichen Regelung. Die An-
Grundrechten orientierten Kernelemente und Grundideen erkennung und Vollstreckung einer strafrechtlichen Ent-
unseres Straf- und Strafprozessrechtes übernehmen. scheidung eines anderen Mitgliedstaates kann dabei
Durch den hier in Rede stehenden Rahmenbeschluss und auch zur Folge haben, dass die Bundesrepublik Delikte
seine Umsetzung wird aber – wie schon beim Europäi- anerkennt, die sie in der eigenen Rechtsordnung nicht
schen Haftbefehl – europäisches Strafrecht durch die kennt, die ihr Parlament bewusst nicht für strafwürdig
Hintertür eingeführt. befand.
Es spielt aber keine Rolle, ob Sie einen grundgesetz- Das ist undemokratisch. Denn der Grundrechtsein-
widrigen Bereich nun durch die Hintertür oder durch die griff eines Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und
Vordertür betreten. Als Gesetzgeber des Grundgesetzes ist Bürgern kann nicht auf der Grundlage des Rechts eines
Ihnen der Zutritt gleichermaßen untersagt – zumindest anderen Staates vorgenommen werden. Es ist zumindest
solange die sehr unterschiedlichen Rechtsstandards der auf dem Gebiet des Strafrechts eine unverzichtbare
Mitgliedstaaten im Straf- und Ordnungswidrigkeiten- Bedingung der Demokratie, dass die Bürgerinnen und
recht nicht im Sinne des bundesdeutschen Grundrechts- Bürger nur solchen Eingriffen in ihre Freiheit ausgesetzt
schutzes angeglichen worden sind. sind, auf deren Regelung sie durch parlamentarische (D)
(B)
Nach dem Gesetzentwurf sollen Geldstrafen und Rechtsetzung Einfluss nehmen konnten. Das erkennt
Geldbußen, die in einem anderen Mitgliedstaat verhängt auch das Bundesverfassungsgericht an, wenn es in sei-
wurden, in der Bundesrepublik wesentlich leichter als ner Lissabon-Entscheidung ausführt: „Das Strafrecht in
bisher vollstreckt werden. Diese Vollstreckung ist bereits seinem Kernbestand dient nicht als rechtstechnisches
nach dem geltenden Recht möglich. Das Gesetz über die Instrument zur Effektuierung einer internationalen Zu-
internationale Rechtshilfe in Strafsachen beinhaltet aus sammenarbeit, sondern steht für die besonders sensible
gutem Grund hohe rechtsstaatliche Hürden. Diese Hür- demokratische Entscheidung über das rechtsethische
den schützen die Bundesbürger vor unangemessenen Minimum.“
Strafandrohungen und vor der Verfolgung wegen nicht Die gegenseitige Anerkennung ohne die Prüfung der
nachvollziehbarer Tatbestände. beiderseitigen Strafbarkeit kann aber auch in der Praxis
Diesen unverzichtbaren Schutz will der Entwurf entfal- zu ganz absurden Ergebnissen führen. Der Gesetzent-
len lassen. Stattdessen soll er innerhalb der EU durch das wurf sieht vor – im Ansatz ist dem durchaus zuzustim-
System der gegenseitigen Anerkennung ersetzt werden. Es men –, dass eine in einem anderen Mitgliedstaat gegen
soll ein Prinzip, das für Produkte und Dienstleistung einen Jugendlichen verhängte Geldstrafe in eine Sank-
entwickelt wurde, auf die Strafverfolgung von Menschen tion nach den Vorgaben des Jugendgerichtsgesetzes um-
Anwendung finden. Im Wirtschafsrecht sollte es die – wirt- zuwandeln ist. Das ist richtig, weil das am Erziehungs-
schaftliche – Freiheit der Bürgerinnen und Bürger erwei- gedanken orientierte Jugendstrafrecht die Verhängung
tern. Im Strafrecht soll es nun als Instrument eingesetzt einer Geldstrafe gar nicht kennt. Wenn der Jugendliche
werden, um so den europaweiten Import von Unfreiheiten in einem anderen Mitgliedstaat jedoch wegen eines Ver-
in die Bundesrepublik zu ermöglichen. haltens verurteilt wurde, das die hiesige Rechtsordnung
schon nicht als in irgendeiner Form sanktionswürdig
Nicht Freiheitsrechte werden also anerkannt, sondern betrachtet, dann steht der Jugendrichter vor einem un-
die Befugnis zur Beschränkung der grundrechtlichen lösbaren Problem. Er soll mit den Mitteln des Jugend-
Freiheiten. Der Rahmenbeschluss ordnet also die Ver- gerichtsgesetzes erzieherisch auf den Jugendlichen ein-
kehrsfähigkeit und die damit mögliche Durchsetzung wirken.
von Unfreiheiten an. Mit dem Prinzip der gegenseitigen
Anerkennung werden die sehr unterschiedlichen Rechts- Aus bundesdeutscher Sicht gibt es jedoch überhaupt
standards und Rechtsgrundsätze in Strafverfahren in den nichts zu erziehen. Es gibt nur etwas zu lassen – am besten
europäischen Mitgliedstaaten als gleichwertig behandelt, gleich den gesamten Entwurf zur Umsetzung des Rah-
obwohl die Anforderungen – etwa an Beweisverfahren, menbeschlusses, der solche Widersinnigkeit ermöglicht.

Zu Protokoll gegebene Reden


3926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Nešković
Wolfgang Neškoviæ
(A) Es droht Ihnen also nicht einmal Ungemach, wenn Sie übertreffen diese Zahlen um ein Vielfaches. Von den (C)
auf den Bänken der Regierungsfraktion zur Abwechslung 14 309 durch die Amtsgerichte im Jahr 2008 verhängten
einmal Rückgrat zeigen würden. Das Bundesverfassungs- Geldbußen war der größte Anteil im Straßenverkehr
gericht hat Ihnen in seiner Entscheidung zum Europäi- (12 539). Bereits aus dem Verhältnis dieser Zahlen lässt
schen Haftbefehl gleichsam einen Freibrief ausgestellt. sich ermessen, welche praktische Bedeutung das Gesetz
Nie brauchte man so wenig Mut, um so viel Sinnvolles zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Anwen-
für die Bundesrepublik und die Freiheit ihrer Bürger zu dung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung
stiften. von Geldstrafen und Geldbußen haben wird. Umso
wichtiger ist es, dass sich der Bundestag – ohne sich da-
Die „Segelanweisung“ des Bundesverfassungsge- für fünf weitere Jahre Zeit zu lassen – intensiv mit den
richts lautet: Das Europäische Parlament, eigenständige Folgen der neuen Regelungen für die Bürgerinnen und
Legitimationsquelle des europäischen Rechts, wird in Bürger befasst.
dem Rechtssetzungsprozess lediglich angehört (vergleiche
Art. 39 Abs. 1 EUV), was im Bereich der „dritten Säule“ Leider hat sich auch beim umzusetzenden Rahmenbe-
den Anforderungen des Demokratieprinzips entspricht, schluss die wohl so bald nicht umkehrbare Vorgehens-
weil die mitgliedschaftlichen Legislativorgane die poli- weise durchgesetzt, weitgehend auf die Anforderung
tische Gestaltungsmacht im Rahmen der Umsetzung, gegenseitiger Strafbarkeit zu verzichten. Es sind eben
notfalls auch durch Verweigerung der Umsetzung, be- nicht, wie aber im Regierungsentwurf ausgeführt,
halten. – Das heißt, Sie können die Umsetzung auch „39 Straftaten“, bei denen auf gegenseitige Strafbarkeit
schlicht verweigern. Sie haben also eine demokratische verzichtet wird. Es sind 39 Deliktsgruppen, deren zum
Pflicht, die Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit eines Teil unpräzise und amorphe Beschreibung hart am Rand
Rahmenbeschlusses selbst zu prüfen, und sind dann auch des Bestimmtheitsgebots verläuft. Das ist Anlass genug,
in der Lage, seine Umsetzung zu verweigern. Kommen Sie zum wiederholten Male die Präzisierung dieser soge-
dieser Pflicht also nach! Dafür sind Sie alle gewählt nannten Listendelikte auf europäischer Ebene zu for-
worden. dern.
Der Gesetzentwurf sieht klare Regelungen zum ge-
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): richtlichen Rechtsschutz vor. Das begrüßen wir aus-
Fünf Jahre hat es gedauert, bis die Europäische drücklich. Ob es aber bei der Unanfechtbarkeit der
Union ihre Vorstellung, die Vollstreckung von Geldstra- möglichen gerichtlichen Verwerfung eines Einspruchs
fen und Geldbußen in den Mitgliedstaaten zu ermögli- bleiben muss, will ich infrage stellen.
chen und zu vereinfachen, realisiert hat. Vom 15. Januar
2001 stammt das Maßnahmenprogramm des Rates zur Gut und richtig ist auch, dass eine Umwandlung von
(B) Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Aner- Geldstrafen und Geldbußen in Ersatzfreiheitsentzug (D)
kennung gerichtlicher Entscheidungen, in dem der oder andere Ersatzstrafen nicht vorgesehen ist. Der
Anwendung dieses Grundsatzes auf Geldstrafen und Rahmenbeschluss sieht vor, von einer Vollstreckung ab-
Geldbußen Vorrang eingeräumt wurde. Und erst am zusehen, wenn die betroffene Person im ausländischen
24. Februar 2005 hat der Rat der EU den entsprechen- Verfahren nicht einwenden konnte, für die Handlung
den Rahmenbeschluss angenommen. nicht verantwortlich zu sein. Es geht um nichts weniger
als um die Halterhaftung, die wir aus guten Gründen bei
Ich will deshalb nicht kritisieren, dass auch die Bun- Verkehrsverstößen im fließenden Verkehr nicht kennen.
desregierung fünf Jahre gebraucht hat, um ein entspre-
chendes Umsetzungsgesetz vorzulegen. Aber wir müssen Der Gesetzentwurf macht hier von der gewährten
uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Kom- Vollstreckungsverweigerung Gebrauch. So weit, so gut.
mission in ihrem neuesten Aktionsplan schon für 2011 Aber es ist nicht einzusehen, warum dabei nicht zum
erneut einen Legislativvorschlag zur gegenseitigen An- Mittel eines zwingenden Zulässigkeitshindernisses ge-
erkennung von Geldstrafen und Geldbußen einschließ- griffen wurde, sondern nur zu einem Bewilligungshin-
lich Geldbußen für Straßenverkehrsdelikte angekündigt dernis in Form einer Ermessensentscheidung. Ich halte
hat (Ratsdokument 8895/10). Es würde wenig Sinn ma- dies für mit dem Schuldprinzip des deutschen Strafrechts
chen, wenn wir uns an die Umsetzung eines Rahmensbe- nicht vereinbar und darf an die Entscheidung des Bun-
schlusses machen würden, der absehbar durch neue desverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 zum Vertrag
europäische Vorgaben ersetzt werden soll. von Lissabon erinnern. Darin heißt es – ich zitiere aus
Randnummer 364 –: „Das Schuldprinzip gehört zu der
Aber zurück zum heutigen Gesetzentwurf der Bundes- wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungs-
regierung: Für die Bürgerinnen und Bürger wird sich identität, die auch vor Eingriffen durch die supranatio-
nach der Verabschiedung dieses Gesetzes wegen der nal ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist.“
Anzahl der Betroffenen Entscheidendes ändern. Die bis-
herigen Rahmenbeschlüsse – so der Europäische Haft- Auf das Urteil nimmt auch die Gesetzesbegründung
befehl, die Beweisanordnung und Anerkennung von Bezug. Umso unverständlicher ist es, dass § 87 d Abs. 2
Einziehungen – betrafen Strafverfahren und Freiheits- des Gesetzentwurfs nur regelt, dass die Bewilligung ei-
entziehungen. nes Ersuchens um Vollstreckung vom zuständigen Bun-
desamt für Justiz abgelehnt werden „kann“, wenn die
Jetzt werden ungleich mehr Menschen betroffen sein. betroffene Person in dem ausländischen Verfahren keine
Bei uns in Deutschland kam es 2006 zu 124 694 Frei- Gelegenheit zu dem Einwand hatte, für die Handlung
heitsstrafen, aber zu 520 791 Geldstrafen. Geldbußen nicht verantwortlich zu sein, und auch nur dann, wenn

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3927
Jerzy Montag
(A) sie dies gegenüber dem Bundesamt ausdrücklich „gel- dern. Denn bislang ist es so, dass wir zwar über vielfäl- (C)
tend macht“. Meines Erachtens wird das dem Gehalt des tige Instrumente der strafrechtlichen Zusammenarbeit
Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht gerecht. bei der Bekämpfung von schwerer Kriminalität und
Terrorismus verfügen. Aber was fehlte, war die Möglich-
Außerdem sollten wir noch über die Stichtagsrege-
keit, bei kleineren Delikten und Vergehen, die nur mit
lung für die Anwendbarkeit des Gesetzes diskutieren.
einer Geldsanktion zu ahnden sind, dem innerstaatli-
Hier erscheint es mir aus Vertrauensschutzerwägungen
chen Recht effektiv zur Durchsetzung zu verhelfen, wenn
plausibel, auf den Zeitpunkt der Tatbegehung oder je-
der Täter seinen Wohnsitz nicht in Deutschland hat.
denfalls einen früheren Zeitpunkt, als im Regierungsent-
wurf vorgesehen, abzustellen. Der Regierungsentwurf Gerade für Deutschland ist dies besonders wichtig.
macht dagegen die Rechtskraft einer gerichtlichen Ent- Schließlich leben wir in einem Staat, der in der Mitte
scheidung zum maßgeblichen Zeitpunkt. Bei behördli- Europas liegt und durch den täglich Hunderttausende
chen Entscheidungen ist es das Datum der Entschei- Menschen reisen, die meisten aus den Mitgliedstaaten
dung, die dann allerdings noch nicht bestandskräftig der Europäischen Union. Künftig werden sowohl Geld-
sein muss. Hierüber kann man reden, aber allein die bußen für Verkehrsverstöße als auch Geldstrafen für
längst abgelaufene Umsetzungsfrist sollte jedenfalls strafrechtliche Delikte tatsächlich vollstreckt werden.
nicht das entscheidende Argument sein. Das bringt uns einem europäischen Raum der Freiheit,
Von diesen Kritikpunkten abgesehen will ich aber der Sicherheit und des Rechts ein gutes Stück näher.
ausdrücklich festhalten, dass wir das Ende der Schon-
Allerdings muss das Prinzip der Gegenseitigkeit ein-
frist für Verkehrssünder – ein wesentlicher Anwendungs-
gehalten werden. Aber – und das ist wichtig –: Die An-
bereich des Gesetzes in der Praxis wird ja die Vollstre-
erkennung ausländischer Sanktionen darf nicht um
ckung von Strafzetteln über 70 Euro aus dem Ausland
jeden Preis erfolgen. Es besteht auch ein Anspruch der
und die effektivere Sanktionierung von Verkehrsverstö-
Bürgerinnen und Bürger auf Rechtsklarheit und Rechts-
ßen im Urlaubs- und Transitverkehr durch Deutschland
sein – sehr begrüßen. sicherheit. Unser Augenmerk lag deshalb von Anfang an
darauf, sicherzustellen, dass bei der Umsetzung des
Rahmenbeschlusses die Rechte unserer Bürgerinnen und
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Bürger gewahrt bleiben. Das heißt konkret: Wir dürfen
desministerin der Justiz: uns nicht an der Vollstreckung von ausländischen Geld-
Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Gesetzes bußen und Geldstrafen beteiligen, die unter Missach-
zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Europäi- tung elementarer rechtsstaatlicher Grundsätze zustande
schen Rates vom 24. Februar 2005 zur EU-weiten Voll- gekommen sind.
(B) streckung von Geldstrafen und Geldbußen vorgelegt. (D)
Dieser Rahmenbeschluss ist nach den Rahmenbeschlüs- Selbstverständlich haben wir großes Vertrauen in die
sen über den Europäischen Haftbefehl, die Sicherstel- Rechtssysteme unserer europäischen Partner. Wir gehen
lung von Beweismitteln und die Anerkennung von Ein- deshalb davon aus, dass in der weit überwiegenden An-
ziehungsentscheidungen das vierte auf dem Grundsatz zahl der Fälle die Grundrechte der Betroffenen gewahrt
der gegenseitigen Anerkennung beruhende europäische werden. Gleichwohl haben wir in Deutschland – in
Rechtsinstrument, dessen Umsetzung in innerstaatliches Übereinstimmung mit den Vorgaben des Rahmenbe-
Recht nun ansteht. schlusses – dafür gesorgt, dass in den Fällen, in denen
dieses Vertrauen einmal nicht gerechtfertigt ist, eine
Der Rahmenbeschluss zur Vollstreckung von Geldsank-
Vollstreckung durch deutsche Behörden nicht in Be-
tionen stellt einen wichtigen Baustein für die internatio-
tracht kommt.
nale Zusammenarbeit in Strafsachen dar.
Er legt die grundsätzliche Verpflichtung der Mitglied- Hier gibt es im Wesentlichen zwei Schwerpunkte:
staaten fest, eine in einem anderen Mitgliedstaat rechts-
Erstens. Die Betroffenen dürfen darauf vertrauen,
kräftig verhängte Geldstrafe oder Geldbuße anzuerken-
sich gegen eine zu Unrecht ergangene ausländische
nen und zu vollstrecken, ohne die materielle Richtigkeit
Sanktion zur Wehr setzen zu können. Dieses Vertrauen
der zu vollstreckenden Entscheidung nochmals zu prü-
müssen wir schützen. Dazu gehört die Gewährung recht-
fen. Dies ist der Grundgedanke des Grundsatzes der ge-
lichen Gehörs ebenso wie die Möglichkeit, sich gegen
genseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen.
eine ausländische Geldsanktion verteidigen zu können.
Weiterhin enthält der Rahmenbeschluss eine Liste von
Delikten, bei deren Vorliegen das Erfordernis der bei- Zweitens. Elementare Grundsätze des Schuldprinzips
derseitigen Strafbarkeit vom Vollstreckungsstaat nicht dürfen nicht infrage gestellt werden.
mehr zu überprüfen ist.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent-
Aktuell sind bereits in 18 EU-Mitgliedstaaten ent-
wurf wird diesen Anforderungen vollständig gerecht.
sprechende Umsetzungsgesetze in Kraft. Dazu gehören
Wir sind überzeugt, damit eine stabile Balance zwischen
alle unsere Nachbarstaaten, ausgenommen Belgien.
der Notwendigkeit einer erleichterten Strafverfolgung
Aus Sicht der Bundesregierung hat der europäische innerhalb eines Europas der offenen Grenzen einerseits
Gesetzgeber mit diesem Rahmenbeschluss ein sehr und dem angemessenen Schutz vor rechtsstaatlich frag-
wichtiges Instrument geschaffen, um in einem Europa licher Verfolgung unserer Bürger andererseits gefunden
ohne Grenzen gleichsam rechtsfreie Räume zu verhin- zu haben.

Zu Protokoll gegebene Reden


3928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Hierauf stellt auch dieses Rückübernahmeabkommen (C)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- ab. Mit dem Rückübernahmeabkommen werden somit
wurfs auf Drucksache 17/1288 an die in der Tagesord- lediglich die verfahrensmäßigen und technischen Ein-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie zelheiten für die Verpflichtung zur Rückübernahme einer
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Person zwischen den Vertragsstaaten geregelt. Dies be-
Überweisungen so beschlossen. trifft etwa die Nachweis- und Glaubhaftmachungsmittel
für die Staatsangehörigkeit, Fristen zur Beantwortung
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 sowie den Zu- eines Übernahmeersuchens und dessen erforderliche
satzpunkt 4 auf: Angaben oder die für die Stellung der Ersuchen zustän-
digen Behörden. Es findet hingegen keine Bewertung
19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla der Frage statt, ob eine Person tatsächlich zurückge-
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Ab- führt werden kann. Diese erfolgt im Rahmen der Einzel-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE fallprüfung durch die zuständigen Ausländerbehörden
In historischer Verantwortung – Für ein Blei- der Länder bzw. durch das Bundesamt für Migration und
berecht der Roma aus dem Kosovo Flüchtlinge nach den Maßgaben des deutschen Aufent-
haltsgesetzes.
– Drucksache 17/784 –
Im Rahmen einer solchen Einzelfallprüfung werden
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
dann selbstverständlich auch humanitäre und men-
Auswärtiger Ausschuss schenrechtliche Aspekte berücksichtigt. Dies ist ein
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Kernbestandteil des deutschen Ausländer- bzw. Asyl-
rechts. Ausländer, denen im Herkunftsland politische
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Verfolgung, eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben
Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, oder Folter droht, erhalten in Deutschland Asyl, Flücht-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- lingsschutz oder subsidiären Schutz. Dieser Schutz kann
NIS 90/DIE GRÜNEN vorliegend nur im Wege einer Einzelfallprüfung gewährt
Keine Zwangsrückführungen von Minderhei- werden, da die Bundesregierung unter Beiziehung von
tenangehörigen in das Kosovo Berichten internationaler Organisationen zurecht fest-
gestellt hat, dass keine unmittelbare Gefährdung nur
– Drucksache 17/1569 – aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie
Überweisungsvorschlag: und auch keine eingeschränkte Bewegungsfreiheit in der
Innenausschuss (f) Republik Kosovo mehr herrscht.
(B) Auswärtiger Ausschuss (D)
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Zu der gleichen Einschätzung sind im Übrigen auch
andere europäische Aufnahmestaaten, die ebenfalls be-
Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge- reits mit der Rückführung von ethnischen Minderheiten
wiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kol- begonnen haben, gekommen. Erst kürzlich hat etwa das
legen zu Protokoll gegeben werden: Stephan Mayer Vereinigte Königreich die Republik Kosovo in seine
(Altötting), Rüdiger Veit, Jimmy Schulz, Ulla Jelpke und Liste sicherer Zielstaaten aufgenommen. Auch der von
Josef Philip Winkler. Ihnen in der Antragsdrucksache zitierte Bericht des
Kommissars für Menschenrechte des Europarates,
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Thomas Hammarberg, spricht sich lediglich gegen
Die Anträge der Linken und von Bündnis 90/Die Grü- „Massenabschiebungen“ von Personen in das Kosovo
nen verkennen nicht nur die rechtlichen Grundsätze im aus.
deutschen Aufenthaltsrecht, sondern sie sind auch Unabhängig davon existieren im geltenden Aufent-
realitätsfern. Das Rückübernahmeabkommen zwischen haltsrecht eine Reihe von Regelungen, die eine Legali-
der Bundesrepublik Deutschland und der Republik sierung des Aufenthaltes Geduldeter ermöglichen.
Kosovo ist am 14. April 2010 durch den Bundesinnen- Hierzu gehören die §§ 25 Abs. 4 und 5 und 23 a Aufent-
minister und seinen kosovarischen Amtskollegen unter- haltsgesetz sowie die Bleiberechtsregelung des § 104 a
zeichnet worden und mittlerweile im Bundesgesetzblatt Aufenthaltsgesetz, die durch Beschluss der Innenminis-
veröffentlicht worden. Es enthält die auch in anderen terkonferenz Anfang Dezember 2009 um zwei Jahre ver-
etwa von der EU mit Drittstaaten geschlossenen Rück- längert und um weitere Verlängerungstatbestände
übernahmeabkommen, üblichen Komponenten der Rück- ergänzt wurden, unter anderem für Personen mit abge-
übernahme eigener Staatsangehöriger, der Übernahme schlossener Schul- oder Berufsausbildung.
Drittstaatsangehöriger und Staatenloser sowie Regelun-
gen zur Durchbeförderung von Personen. Somit handelt Auch angesichts dieser Regelungen, von denen in der
es sich also keineswegs um ein Abkommen, das aus- Vergangenheit bereits mehrere Tausend kosovarische
schließlich die Abschiebung von bestimmten ethnischen Staatsangehörige profitiert haben, besteht aus meiner
Gruppen zum Ziel hätte. Vielmehr ist international aner- Sicht zu Recht kein Handlungsbedarf für eine spezielle
kannter Anknüpfungspunkt für die Frage einer Pflicht Bleiberechtsregelung für Roma-Familien aus dem Ko-
zur Rückübernahme stets nur die Staatsangehörigkeit sovo oder die Anregung einer Aussetzung der Abschie-
oder die Herkunft einer Person aus dem Zielstaat, nicht bungen von Personen aus dem Kosovo gegenüber den
aber ethnische oder sonstige persönliche Merkmale. Bundesländern.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3929
Stephan Mayer (Altötting)
(A) Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu den tat- Vor allem aber fehlt es im Kosovo an fast allen sozial- (C)
sächlichen Bedingungen bei der Rückführung ausfüh- ökonomischen Voraussetzungen für Rückkehrer und Ab-
ren. Die Angaben in den beiden Anträgen von den Lin- geschobene. Dies betrifft Fragen des Zugangs zum Ar-
ken und von Bündnis 90/Die Grünen entsprechen leider beitsmarkt sowie zur Gesundheitsversorgung und – wie
nicht der Realität. Der kosovarischen Seite wurde am bescheiden auch immer – Fragen der Sicherung ihres
Rande der Abkommensverhandlungen zugesagt, dass Lebensunterhalts.
jährlich maximal 2 500 Übernahmeersuchen durch die
Ausländerbehörden übermittelt werden und auf ein an- Unser Kollege Gerold Reichenbach hat als Teilneh-
gemessenes Verhältnis der ethnischen Zugehörigkeiten mer der SPD-Fraktion an einer Delegationsreise des In-
geachtet wird. Massenabschiebungen, so wie von Ihnen nenausschusses vom 12. bis zum 14. April dieses Jahres
vorgetragen, kann es somit gerade nicht geben. in das Kosovo teilgenommen, um sich vor Ort ein Bild
über die Lage zu machen und um uns bei der realisti-
Die tatsächlichen Rückführungszahlen belegen zu- schen Beurteilung der verschiedenen Einschätzungen zu
dem, dass Deutschland seine Zusagen auch einhält. Im helfen. Seiner Einschätzung nach ist die soziale Situa-
Jahr 2009 wurden bei 2 385 Ersuchen nur 541 Personen tion vor allem für Roma im Kosovo nach wie vor prekär,
zurückgeführt, hiervon 179 Angehörige ethnischer Min- insbesondere auch für Rückkehrer. Zwar hat die Regie-
derheiten, darunter 76 Roma. Bis Ende März 2010 wur- rung des Kosovo bereits 2007 ein Programm zur Reinte-
den 177 Personen zurückgeführt, hierunter 66 Angehö- gration von Rückkehrern aufgelegt, allerdings halten die
rige ethnischer Minderheiten, davon 47 Roma. Behörden ihre diesbezüglichen Verpflichtungen bislang
nicht ein. Beispielsweise soll über Koordinierungsme-
Bund und Länder bevorzugen die freiwillige Ausreise chanismen eine Abstimmung zwischen zentralen und lo-
von illegal aufhältigen Personen und fördern diese ge- kalen Behörden erreicht werden. Die meisten der von
rade bei rückkehrwilligen Kosovaren auch finanziell in der OSZE befragten lokalen Behördenvertreter kannten
beachtlichem Umfang. So erhält zum Beispiel eine vier- das Programm zur Reintegration von Rückkehrern aber
köpfige Roma-Familie – zwei Erwachsene, zwei Kinder – nicht einmal. Auch gab es keinerlei Vernetzung mit den
neben der vollständigen Übernahme ihrer Heimreise- zentralen Behörden. Dies erklärt, dass keiner der be-
kosten eine Starthilfe und eine Reisebeihilfe von insge- fragten Behördenvertreter von der zentralen Behörde je-
samt 2 850 Euro, was einem durchschnittlichen Jahres- mals über die bevorstehende Ankunft unfreiwilliger
bruttoeinkommen im Kosovo entspricht. Rückkehrer informiert wurde und deshalb keine Vorkeh-
Im Übrigen leistet für Rückkehrer aus den Ländern rungen für deren Reintegration treffen konnte.
Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-West- Gerold Reichenbach berichtete, dass sich diese Situa-
falen und Sachsen-Anhalt das vom Bund und diesen tion bislang auch nicht grundlegend verbessert hat. Da (D)
(B) Ländern betriebene Rückkehrprojekt „URA 2“ mit ei-
die lokalen Behörden zumeist bereits mit der Reintegra-
nem Beratungszentrum in Pristina wertvolle Unterstüt- tion der freiwilligen oder zwangsweisen Rückkehrer der
zung bei der Wiedereingliederung in die kosovarische größeren Bevölkerungsgruppen überfordert sind, sind
Gesellschaft durch vielfältige Beratungs- und Betreu- bei verstärkter Rückführung von Minderheiten ein An-
ungsangebote. Diese Angebote reichen von sozialer und wachsen der Konfliktpotenziale und die Gefahr erneuter
psychologischer Beratung über Arbeits- und Wohn- Gewaltausbrüche zu befürchten.
raumvermittlung bis hin zur Gewährung von Lohn- und
Mietkostenzuschüssen oder einer Existenzgründungs- Wenn nun im Antrag der Fraktion Die Linke aller-
hilfe. Dabei werden alle Rückkehrer ohne Rücksicht auf dings darauf abgestellt wird, dass die Massenvertrei-
die Art ihrer Rückkehr oder ihre ethnische Zugehörig- bung der Roma aus dem Kosovo vor allem auf der „krie-
keit gleichermaßen betreut. Somit sind auch die in den gerischen Intervention der NATO gegen das ehemalige
Anträgen geschilderten tatsächlichen Voraussetzungen Jugoslawien“ beruht und Deutschland vor allem des-
für ein Einschreiten des Bundestages nicht gegeben. halb eine große Verantwortung für das Elend dieser
Menschen trifft, dann müssen wir dem entschieden wi-
dersprechen. Keinesfalls möchten wir die grundsätzli-
Rüdiger Veit (SPD):
che Verantwortung negieren, die Deutschland für die
Die Zahl der ethnisch motivierten Gewalttaten im Ko- Sinti- und Roma-Angehörigen aufgrund der gegen diese
sovo ist im Vergleich zu den schweren Übergriffen 2004 Menschen verübten abscheulichen Verbrechen während
zurückgegangen, und auch die Befürchtung, dass die der Nazidiktatur trägt; nein, der Hauptverantwortliche
Spirale der Gewalt gegen Minderheiten nach der Unab- für die Massenvertreibungen von Minderheiten aus dem
hängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 ei- Kosovo ist der als Kriegsverbrecher in Den Haag vor
nen neuerlichen Höhepunkt erreicht – die ich im Übri- einem UN-Tribunal wegen des Vorwurfs der Kriegsver-
gen auch geteilt habe –, hat sich zum Glück nicht brechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit
bewahrheitet. Dass es zu weniger Übergriffen kommt, angeklagt gewesene Slobodan Milosevic.
liegt aber leider nicht so sehr daran, dass es kein ethni-
sches Konfliktpotentzial mehr gibt, sondern daran, dass Schon aufgrund dieser Wertung des Antrages der
die ethnischen Gruppen größtenteils in homogenen Fraktion Die Linke werden wir ihn nicht mittragen.
Gruppen voneinander getrennt leben. Wo es eine solche Hinzu kommt, dass man sich in ihm pauschal für die
Trennung aber nicht gibt, muss man leider nach wie vor sofortige Aussetzung der Abschiebung von Flüchtlingen
drohende Diskriminierungen von Minderheiten konsta- aus dem Kosovo ausspricht. Die Gruppe, die jedoch
tieren. besonderen Schutzes vor Abschiebung bedarf, sind, wie

Zu Protokoll gegebene Reden


3930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Rüdiger Veit
(A) weiter oben ausgeführt, die ethnischen Minderheiten Deutschland zu integrieren. Dieses Phänomen unsägli- (C)
und besonders schutzwürdige Personen. Auch der For- cher Kettenduldungen beschäftigt die SPD-Fraktion und
derung der Linken, das deutsch-kosovo-albanische im Übrigen auch mich persönlich, seitdem ich hier im
Rückführungsabkommen nicht zu unterschreiben bzw. Bundestag bin, also seit rund zwölf Jahren. Ich verweise
aufzukündigen, können wir uns nicht anschließen. Wir in diesem Zusammenhang auf unsere letzte gesetzgebe-
erwägen stattdessen eine Aussetzung des Abkommens rische Initiative vom Dezember für eine gesetzliche Blei-
bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Programme für Rück- berechtsregelung, von der dann auch gerade Kinder und
kehrer in der Praxis greifen. Jugendliche und solche eine Aufenthaltserlaubnis und
damit eine sichere Zukunftsperspektive ohne weitere für
Etwas anders sieht es mit dem differenzierteren An- sie nicht erreichbare Voraussetzung erhalten können, die
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aus. Richtig sich als Alleinstehende mindestens zwölf und als Familie
ist ja an dem Antrag, dass für Minderheitenangehörige mindestens zehn Jahre bei uns aufgehalten haben.
– insbesondere für die Roma – aufgrund der Sicherheits-
lage bis Anfang 2009 ein faktischer Abschiebestopp Zweitens. Vor allem Sinti und Roma – die wohl größ-
galt, der durch die Innenministerkonferenz regelmäßig ten ethnischen Minderheiten in ganz Europa – sind seit
verlängert wurde. Richtig ist auch, dass die Roma trotz- vielen Jahrzehnten fast nirgendwo besonders willkom-
dem von den Bleiberechtsregelungen bisher kaum profi- men und häufig besonderer Diskriminierung ausgesetzt.
tieren konnten. Aber die alles entscheidende Frage, wie Ihnen gegenüber sollten wir besondere Sensibilität und
die konkrete gegenwärtige Situation im Kosovo nun Mitmenschlichkeit an den Tag legen, anstatt sie in ein
wirklich einzuschätzen ist, um einen Abschiebungsstopp ungewisses Schicksal notfalls sogar abzuschieben.
zwingend zu fordern, wird in diesem Antrag ebenso
wenig beantwortet. Drittens. Generell sind die sozial-ökonomischen Vo-
raussetzungen im Kosovo nicht nur für die Rückkehrer
Wenn die SPD-Bundestagsfraktion selbst noch keinen – aber für diese ganz besonders –, alles andere als güns-
Antrag eingebracht hat, dann nicht etwa, weil wir noch tig anzusehen. Zumindest in dieser Einschätzung werden
keinen formuliert hätten. Allerdings haben wir von sei- vermutlich alle Teilnehmer der Delegationsreise des In-
ner Einbringung bislang aus guten Gründen abgesehen. nenausschusses übereinstimmen.
Wir wollten erstens die verschriftlichten Ergebnisse der
Delegationsreise des Innenausschusses in das Kosovo Viertens. Daraus folgt, dass Angehörige von Minder-
abwarten, um anschließend zu einer fundierteren Be- heiten – namentlich also Sinti und Roma, Aschkali und
wertung der teils doch sehr widersprüchlichen Charak- Kosovo-Ägypter – oder auch besonders schutzbedürf-
terisierung der Situation vor Ort zu kommen. tige Personengruppen nicht zurückgeführt und schon
gar nicht dorthin zwangsweise abgeschoben werden
(B) Aber auch dies reicht uns noch nicht. Wir möchten sollten. Unter besonders schutzwürdigen Personengrup- (D)
zweitens – erst recht nach den heutigen Gesprächen von pen verstehe ich in diesem Zusammenhang Kinder und
Mitgliedern des Innenausschusses auf Einladung des Jugendliche, alte und gebrechliche Menschen, Kranke,
Zentralrates Deutscher Sinti und Roma zur Situation die im Kosovo nicht zufriedenstellend behandelt werden
von Roma, Aschkali und Kosovo-Ägyptern im Kosovo – können, Familien mit kleinen Kindern, Alleinerziehende
eine Anhörung zur Lage der Minderheiten im Kosovo und auch diejenigen Menschen, die zwar familiäre
vorschlagen. Als Experte bietet sich unter anderem Pro- Beziehungen in Deutschland, aber keinerlei Angehörige
fessor Dr. Christian Schwarz-Schilling an, nicht etwa als mehr im Kosovo haben.
„Kronzeuge“ gegen die Haltung seiner Parteifreunde,
sondern weil er uns als Hoher Repräsentant für Bos- Dies soll und muss jedenfalls so lange gelten, als die
nien-Herzegowina a. D. und als Initiator des uns allen Voraussetzungen im Sinne tatsächlicher Reintegrations-
bekannten Oster-Appells besonders sachkundig und maßnahmen nicht greifen. Insoweit sollten auch Rück-
glaubwürdig erscheint. führungsabkommen in ihrer Anwendung jedenfalls zu-
nächst noch ausgesetzt werden.
Wir sind der Überzeugung, dass wir erst nach dem
ausführlichen Reisebericht des Innenausschusses und Über diese und weitere Details sollten uns der mehr-
dieser von uns beantragten Anhörung die bestmögliche fach erwähnte Bericht und die durchzuführende Exper-
Entscheidungsgrundlage für unser Handeln haben wer- tenanhörung weiteren Aufschluss geben, um dann
den. Aber unbeschadet von diesen Informationen sowie daraus die notwendigen Maßnahmen im Deutschen
den anschließenden Beratungen meiner Fraktion will Bundestag zu entwickeln. Warum sollte es in diesem
ich Sie heute mit meinen persönlichen Überlegungen Punkt der Bewältigung einer besonderen menschen-
und Schlussfolgerungen vertraut machen: rechtlichen Verantwortung nicht auch einmal möglich
sein, dass sich sowohl die Oppositionsparteien als auch
Erstens. Generell gehören Rückführungen oder gar die Parteien der derzeit regierenden Koalition auf einen
Abschiebungen von bereits seit vielen Jahren in einheitlichen Wortlauf verständigen? Lassen Sie uns
Deutschland lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern
daran arbeiten.
zu dem traurigsten Kapitel unserer bis Ende der 90er-
Jahre nur auf Abwehr ausgerichteten Gesetzgebung auf
dem Gebiet des Ausländer- und Flüchtlingsrechtes. Dies Jimmy Schulz (FDP):
gilt vor allem für die in Deutschland geborenen und/ Der Antrag der Linken ist abzulehnen. Er ist abzuleh-
oder hier aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen, nen, weil er in weiten Teilen auf Basis falscher Behaup-
aber auch für andere, die längst begonnen haben sich in tungen zu den falschen Schlüssen und Ergebnissen

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3931
Jimmy Schulz
(A) kommt. Auf der jüngsten Delegationsreise des Innenaus- keine Unterstützung, ist also ganz offensichtlich eine (C)
schusses konnte ich mir selbst vor Ort ein Bild der Situa- politisch motivierte Falschbehauptung.
tion der Heimkehrer machen.
Ebenso scheinen im Lichte der aktuellen Erkennt-
Ja, die Situation der Roma, Ashkali und Ägypter, nisse der Informationsreise viele Zahlen entweder veral-
RAE, im serbisch dominierten Norden des Landes, im tet oder vermutlich eher aus der Luft gegriffen zu sein.
Lager Osterode in Mitrovica, ist sehr schwierig. Dort le- Die Arbeitslosigkeit unter den Roma beispielsweise lag
ben Menschen in kaum erträglichen Zuständen. Dies ist mitnichten bei 95 Prozent, sondern deutlich darunter.
aber die Ausnahme. Für die dort Lebenden werden doch
gerade mit europäischen Mitteln in Roma Malhala mo- Natürlich ist dieser junge Staat noch in einer sehr
derne Wohnungen gebaut, und Zug um Zug können die schwierigen Phase, und das Sozialsystem ist noch deut-
Betroffenen dorthin umziehen. In anderen Landesteilen lich unterentwickelt; dies trifft aber eben nicht nur die
ist die Situation deutlich entspannter. Dort konnten wir Roma oder die anderen ethnischen Minderheiten, son-
keine unwürdigen Lebensumstände feststellen. dern die gesamte kosovarische Bevölkerung. Somit sind
die wirtschaftliche Situation und das schwache soziale
Ja, das Land ist noch von Krieg und Zerstörung ge- Netz kein Beleg für Diskriminierung.
zeichnet; aber dieser jüngste Staat der Welt macht sich
Besonders perfide erscheint mir die Behauptung,
mit Hoffnung und mit Tatkraft auf den Weg, ein neues
dass die 92 000 freiwilligen Heimkehrer, die am Aufbau
Kosovo in Freiheit und Unabhängigkeit zu formen.
ihres Landes mitarbeiten wollen, in vielen Fällen „ge-
KFOR und EULEX sind noch Garanten für Frieden und
zwungenermaßen“ zurückgeschickt worden sein sollen.
Ordnung. Beide unterstützen diesen Aufbau, und in vie-
Wenn jemand Zwang als Freiwilligkeit verkauft hat,
len Fällen kann die Kontrolle schon weitgehend in die
dann doch die SED, deren Mitglieder ja alle „freiwillig“
Hände der Kosovaren übergeben werden.
Mitglied der Unrechtspartei waren.
Dies ist übrigens eine der kaum beachteten Erfolgs-
Der Informationsbesuch des Innenausschusses lässt
geschichten internationaler Friedenseinsätze, die auf
nur ein Fazit zu: Die Situation im Kosovo ist mit Sicher-
dem Weg sind, mit schrittweisem Abzug eine Übergabe
heit verbesserungswürdig und muss von uns auch mit
in Frieden und Freiheit zu leisten. Deswegen konnte der
großer Aufmerksamkeit begleitet werden. Einen Grund,
Verteidigungsminister auch am Sonntag bekannt geben,
Sonderrechte ausgerechnet für die Flüchtlinge in
dass das deutsche Kontingent um weitere 1 000 Soldaten
Deutschland einzuräumen, sehe ich jedoch nicht. Viel-
reduziert werden kann.
mehr kümmert sich gerade Deutschland mit einem au-
Bei unserem Gespräch mit dem Innenausschuss des ßerordentlich großen Engagement um alle heimkehren-
(B) kosovarischen Parlaments hatten wir auch Gelegenheit, den Flüchtlinge, gerade auch um die ethnischen (D)
mit dem Roma-Abgeordneten Zylfi Merxha zu sprechen. Minderheiten, und besonders um diejenigen, die sich
Er hat im Parlament einen der 20 für ethnische Minder- nicht zu einer freiwilligen Heimkehr durchringen konn-
heiten reservierten Sitze inne. Auf mehrfache Nachfrage ten. Dieses Engagement verdient es, weiter gut von uns
bestätigte er mehrmals: Es gibt keine Diskriminierung unterstützt zu werden; denn es dient dem Frieden, der
von RAE im Kosovo, so der demokratisch legitimierte Sicherheit und der Freiheit des jungen Staates Kosovo.
Vertreter dieser Minderheit im Parlament.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Auch im Übrigen scheint der Antrag der Linken eher
eine innenpolitische Motivation zu haben als ernsthaft Die Linke hat sich bereits in der letzten Wahlperiode
zu einer Lösung des Problems beitragen zu wollen. Die für einen Abschiebestopp und ein Bleiberecht insbeson-
genannten Zahlen werden verdreht oder falsch interpre- dere für die Roma aus dem Kosovo eingesetzt, und zwar
tiert. Von einer Massenabschiebung kann keine Rede noch bevor die Massenabschiebungen von Roma aufge-
sein. Anstatt der genannten 10 000 RAE wurden in den nommen wurden. Leider vergeblich. Inzwischen gibt es
letzten Jahren nur wenige Hundert in ihre Heimat zu- für das Thema eine weitaus größere und vor allem kriti-
rückgeführt. Eine deutliche Erhöhung dieser Zahlen, sche Öffentlichkeit, sodass wir die Zeit gekommen se-
wie von den Linken kolportiert, ist weder realistisch hen, die Forderung nach einem Bleiberecht für die
noch auch im neuen Abkommen geplant. Roma aus dem Kosovo erneut in den Bundestag einzu-
bringen. Wir erhoffen uns zum jetzigen Zeitpunkt eine
Unsere Gespräche mit den Organisationen vor Ort, andere und ernsthafte Debatte zu diesem Thema.
aber gerade auch mit den Mitarbeitern des BAMF haben
unsere Position bestätigt. Freiwillige Rückkehrer be- Am 12. April dieses Jahres besiegelten die Regierun-
kommen eine deutliche Starthilfe von mehreren Hundert gen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Euro, unter anderem mit Wohngeld und Jobstartgeld. Kosovo endgültig die Abschiebung von mindestens
Bei Wohnungssuche und Jobsuche wird hier aktiv gehol- 10 000 Roma in den Kosovo. Weitere 4 000 Menschen,
fen, bis eine Lösung gefunden wird. darunter viele Ashkali und auch Serben aus mehrheit-
lich von Albanern bewohnten Gebieten, müssen nun
Im Gegensatz zu anderen Ländern unterstützen wir ebenfalls verstärkt mit ihrer Abschiebung rechnen.
aber auch die unfreiwillig zurückkehrenden Kosovaren. Diese mehr als 14 000 Menschen werden nach langjäh-
Auch sie werden, mit leicht geringeren Sätzen, bei der rigem Aufenthalt in Deutschland aus ihren sozialen Be-
Reintegration über sechs Monate durch das URA-2-Pro- ziehungen gerissen, die sie sich hier aufgebaut haben.
jekt des BAMF unterstützt. Die Behauptung, es gebe Es werden Kinder abgeschoben, die in Deutschland ge-

Zu Protokoll gegebene Reden


3932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Ulla Jelpke
(A) boren sind und dieses Land als ihre Heimat ansehen. Es verantwortlichen Abschiebungen Einhalt zu gebieten (C)
werden Alte und Kranke in medizinische Unterversor- und jede humanitäre und historische Verantwortung von
gung und damit in den Tod abgeschoben. Für viele, die sich weisen. Ich bin auf ihre Antworten in der weiteren
von ihrer erzwungenen Flucht vor zehn Jahren noch parlamentarischen Beratung gespannt.
traumatisiert sind, bedeutet die Abschiebung eine Art
zweiter Vertreibung, mit allen psychologischen Folgen. Wir sollten uns alle klarmachen, welche vielleicht
All dies ist hinlänglich bekannt. einmalige Chance sich uns als Bundestag bei diesem
Thema bietet: Die Schuld, die Deutschland durch die
Es gibt eine Vielzahl von Studien und Berichten von systematische Ermordung von 500 000 Roma und Sinti
Nichtregierungsorganisationen, der OSZE, dem UNHCR, auf sich geladen hat, ist niemals und durch nichts wie-
dem Menschenrechtskommissar des Europarats usw. dergutzumachen. Aber wir haben die Chance – und
über die schlimme Situation gerade der Minderheiten- meines Erachtens nach auch die Verpflichtung – einigen
angehörigen – der Roma, Ashkali und Ägypter – im Ko- Tausend Roma-Familien, die seit Jahren unter uns le-
sovo. Es gibt eine Legion an Berichten von engagierten ben, die Perspektive einer sicheren Zukunft ohne Angst
Journalistinnen und Journalisten, die das unerträgliche und eines gleichberechtigten Zugangs zu Bildung und
Schicksal von Abgeschobenen für Zeitungen, Radio und Arbeit zu geben. Schieben wir sie jedoch ab, bringen wir
Fernsehen dokumentiert haben. Als Teilnehmerin einer diese Menschen sehenden Auges in eine ausweglose
Delegation des Bundestagsinnenausschusses, die vom Notlage, in existenzielle Armut und systematische Dis-
12. bis 14. April im Kosovo war, konnte ich mich mit ei- kriminierung. Wir zerstören die Zukunft dieser Men-
genen Augen von der völligen Perspektivlosigkeit über- schen, insbesondere der Kinder. Das wäre meines Er-
zeugen, in die Roma aus Deutschland abgeschoben wer- achtens unverantwortlich und historisch und moralisch
den. Die Wirtschaft des Landes liegt völlig am Boden, gesehen ein großes Versagen des Deutschen Bundesta-
und Roma sind von der allgemein immens hohen Ar- ges.
beitslosigkeit durch rassistische Ausgrenzung in beson-
derem Maße betroffen. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wir als Linke stehen mit unserer Forderung nach ei- NEN):
nem Bleiberecht für diese Menschen nicht allein. Die Der Antrag der Fraktion der Grünen greift die Forde-
Migrationskommission der Deutschen Bischofskonfe- rungen von Bundestagsabgeordneten und Menschen-
renz hat in einer Pressemitteilung davor gewarnt, Men- rechtlern für einen Abschiebungsschutz von Roma und
schen in „unsichere und unwürdige Verhältnisse“ abzu- Minderheitenangehörigen aus dem Kosovo auf. Zum
schieben. 8. April, dem Internationalen Tag der Roma, hatten sie ei-
(B) nen entsprechenden Aufruf an Bundesregierung und Bun- (D)
Ich will an dieser Stelle auch auf den Osterappell desländer gerichtet. Zu den Unterstützern des Appells ge-
2010 verweisen, der vor Abschiebungen in den Kosovo hören neben den Initiatoren – Professor Dr. Schwarz-
warnt und eine humanitäre Aufenthaltsregelung für Schilling, Claudia Roth, Rainer Eppelmann, Klaus-
Roma aus dem Kosovo fordert. Wie bereits im Jahr 2000 Dieter Kottnik, Barbara Lochbihler, Dr. Hermann Otto
haben sich unter anderem eine Reihe aktiver oder Solms – etliche aktive und ehemalige Bundestagsabge-
ehemaliger Abgeordneter fraktionsübergreifend gegen ordnete, Vertreter von Flüchtlingsorganisationen, Kir-
die Abschiebung von Roma gewendet, darunter chen- und Wohlfahrtsverbänden sowie Romani Rose,
Dr. Hermann Otto Solms, Professor Dr. Schwarz- Bärbel Bohley, Hans Koschnick und weitere Promi-
Schilling, Claudia Roth, Barbara Lochbihler und viele nente. Mit ihrem Appell fordern sie, den Roma-Flücht-
andere (siehe http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/ lingsfamilien „endlich einen rechtmäßigen Aufenthalt
NEWS/2010/Oster-Appell_2010.pdf). Ich will daraus aus humanitären Gründen zu erteilen und sie so vor ei-
eine Passage zitieren, die mir besonders am Herzen ner Abschiebung zu schützen und von ihrer existenziel-
liegt: „Deutschlands historische Verantwortung gegen- len Angst zu befreien”.
über den Roma kann sich nicht allein in historischen Ge-
denkveranstaltungen erschöpfen. Deutschland hat sich Für Minderheitenangehörige – insbesondere für
zur historischen Verantwortung für den Holocaust an Roma aus dem Kosovo – galt bis Anfang 2009 aufgrund
den Juden bekannt und praktische Maßnahmen wie aus- der Sicherheitslage für diesen Personenkreis im Kosovo
länderrechtliche Sonderregelungen in diesem Zusam- ein faktischer Abschiebestopp, der durch die Innen-
menhang ergriffen; siehe zum Beispiel die gesetzliche ministerkonferenz regelmäßig verlängert wurde. Trotz-
Regelung für jüdische Kontingentflüchtlinge. Gegen- dem konnten die Roma aus dem Kosovo von den seit
über den Roma scheint die historische Verantwortung in 2007 in Deutschland existierenden Bleiberechtsregelun-
der Praxis keinerlei Niederschlag zu finden. Wie anders gen nicht profitieren. Durch die hohen Hürden zum Bei-
lässt es sich erklären, dass routinemäßig Roma und da- spiel bei der Lebensunterhaltssicherung sind gerade
runter auch Alte, Kranke, Kinder und Jugendliche jetzt Roma strukturell benachteiligt, da sie häufig viele Kin-
in den Kosovo abgeschoben werden, ohne dass politisch der haben und dadurch die geforderte wirtschaftliche
Verantwortliche gegenüber solchen Maßnahmen Einhalt Unabhängigkeit nur schwer erreichen können.
gebieten und unserer Verantwortung gegenüber den
Roma gerecht werden?“ In Deutschland droht circa 11 000 Personen aus dem
Kreis der Roma, Ashkali und Ägypter die Abschiebung
Diese Frage kann ich nur an jene weiterreichen, die in das Kosovo. Viele der von Abschiebung Bedrohten
sich hier im parlamentarischen Raum verweigern, un- sind hier aufgewachsen oder geboren; nur wenige konn-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3933
Josef Philip Winkler
(A) ten von den bisherigen Bleiberechtsregelungen profitie- „Rückführungen in das Kosovo“ (Drucksache 17/692) (C)
ren. Die beabsichtigte Abschiebung dieser Personen in zeigt erneut, dass sie die Warnungen internationaler Or-
das Kosovo ist unverantwortlich. Die Vorgehensweise ganisationen in den Wind schlägt. Stattdessen hat der
steht in eklatantem Widerspruch zur tatsächlichen Situa- Bundesinnenminister kürzlich das Rückübernahmeab-
tion der Roma im Kosovo. Wer heute Roma dorthin kommen mit dem Kosovo erzwungen. Auf der Basis die-
abschiebt, der weiß: Sie landen fast ausnahmslos in un- ser Vereinbarung schieben die Bundesländer schon seit
zumutbaren Verhältnissen und sind auf sich alleine ge- einiger Zeit auch Minderheitsangehörige nach Pristina
stellt. Roma sind im Kosovo weiterhin Opfer massiver ab. Dabei hält sich Deutschland nicht einmal an die dem
Diskriminierung. Ihr Zugang zu elementaren Lebens- Kosovo gegebenen Zusagen, sondern schiebt prozentual
chancen ist faktisch verhindert. Es ist ein Gebot der mehr Roma ab als vereinbart.
Menschlichkeit, den seit langen Jahren in Deutschland
In unserem Antrag fordern wir daher die sofortige
lebenden Familien endlich ein Aufenthaltsrecht aus hu-
Aussetzung der Abschiebungen von Minderheitenange-
manitären Gründen zu erteilen und die Rückführungs-
hörigen aus dem Kosovo und eine Aufenthaltsgewäh-
pläne zu stoppen.
rung aus humanitären Gründen.
Der Menschenrechtskommissar des Europarates,
Thomas Hammarberg, hatte bereits im November 2009 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
in einem Schreiben an die Bundeskanzlerin zum Aus- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
druck gebracht, dass „die Zeit schlicht noch nicht reif ist auf den Drucksachen 17/784 und 17/1569 an die in der
für zwangsweise Rückführungen in das Kosovo, insbe- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
sondere von Angehörigen der Roma“, und hat Deutsch- – Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann sind
land aufgefordert, von Zwangsrückführungen abzuse- die Überweisungen so beschlossen.
hen, die das Leben und die persönliche Sicherheit der
Rückkehrer ernsthaft gefährden. Bei der Vorstellung sei- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
nes Jahresberichtes Ende April 2010 hat er diese Auffor- Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
derung an die europäischen Mitgliedstaaten wiederholt. Malczak, Omid Nouripour, Kai Gehring, weiterer
Mit seiner Einschätzung steht Hammarberg nicht al- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
lein. Andere internationale Organisationen wie der DIE GRÜNEN
UNHCR, die OSZE und UNICEF sowie Menschen- Wehrpflicht beenden
rechts- und Flüchtlingsorganisationen warnen weiterhin
vor einer Diskriminierung und Verfolgung von Roma – Drucksache 17/1431 –
(B) und anderen Minderheitenangehörigen im Kosovo. Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
(D)
UNHCR spricht in seinem jüngsten Bericht davon, dass
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Angehörigen von Minderheitengemeinschaften weiter-
hin Opfer von tätlichen und verbalen Angriffen und Be- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
drohungen, Brandstiftungen, Einschüchterungen und Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
Plünderungen sind. auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so
verfahren.
Neben der fragilen Sicherheitslage erst zwei Jahre
nach der Unabhängigkeit des Kosovo stellt jedoch für Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
Zwangsrückkehrer die prekäre wirtschaftliche und so- nerin das Wort der Kollegin Agnes Malczak für die
ziale Situation eine ernsthafte Bedrohung dar. Es gibt Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
nach wie vor im Kosovo keine ausreichende Aufnahme-
und Integrationskapazität für Minderheiten, Kranke Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
oder mittellose Rückkehrer. Davon konnte ich mich Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
selbst Anfang April anlässlich einer Reise des Innenaus- Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Obwohl die
schusses vor Ort im Kosovo überzeugen. Unterstützung FDP die Argumente gegen die Wehrpflicht selber in ihr
gibt es weder von kosovarischen noch von internationa- Bundestagswahlprogramm geschrieben hat, hat sie sich
len Institutionen. Abgeschobene Flüchtlinge sind völlig bei den Koalitionsverhandlungen auf einen durchsichti-
auf sich selbst gestellt bzw. auf Hilfe aus dem Familien- gen Kuhhandel mit der CDU/CSU eingelassen. Beim
verbund angewiesen. Roma und andere ethnische Min- Koalitionsstreit um die Zukunft der Wehrpflicht soll der
derheiten haben häufig keine Unterkunftsmöglichkeit Weisheit letzter Schluss jetzt eine Verkürzung der Wehr-
und finden keine Arbeit. Die ohnehin nicht ausreichende dienstzeit auf sechs Monate sein. Davon dürften noch
Sozialhilfe muss an dem Ort beantragt werden, an dem nicht einmal Sie selbst überzeugt sein. Die Kolleginnen
die Person im Kosovo vor der Ausreise zuletzt ihren und Kollegen der Liberalen haben ihren Frieden mit der
Wohnsitz hatte. Personen, die auf derartige Leistungen Aufrechterhaltung eines längst überholten Zwangsdiens-
angewiesen sind, können sich also nicht frei an anderen tes erstaunlich schnell gemacht. Sonst nur für den
Orten im Kosovo niederlassen. Spruch „Ausstieg aus dem Ausstieg“ in Sachen Atompo-
litik bekannt, spricht Ihre Jugendorganisation plötzlich
Die Bundesregierung hingegen verharmlost die Lage
von einem Einstieg in den Ausstieg.
der Minderheiten im Kosovo – nicht nur in den Lagebe-
richten des Auswärtigen Amtes. Die Antwort auf eine (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Die
Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen zu wissen, was richtig ist!)
3934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Agnes Malczak
(A) Wenn wir klare Worte finden wollen, dann müssen klassischen Soldatentypus, den wir zur territorialen Lan- (C)
wir bei der Wehrdienstverkürzung von einem faulen desverteidigung brauchten, sondern gut ausgebildete, gut
Kompromiss sprechen. Durch die Verkürzung wird näm- ausgerüstete und hochspezialisierte Soldatinnen und Sol-
lich keines der Probleme der Wehrpflicht beseitigt. Im daten. Im Zusammenhang mit dem Bericht des Wehrbe-
Gegenteil: Es werden damit sogar neue Probleme ge- auftragten haben wir heute über mangelnde Ressourcen
schaffen. Beispiel Wehrungerechtigkeit: Auch nach Ein- und schlechte Ausrüstung, gerade bei Einsätzen, gespro-
führung des sechsmonatigen Wehrdienstes werden im- chen. Daran möchte ich hier erinnern.
mer noch weniger als die Hälfte der jungen Männer
eines Jahrgangs einen Pflichtdienst leisten müssen. Bei Im Diskurs wird die Nachwuchswerbung oft als Ar-
ihrer Lebensplanung und ihrem Ausbildungs- und Be- gument für die Wehrpflicht ins Feld geführt. Rund
rufsweg sind sie gegenüber ihren männlichen und weib- 13 700 Euro veranschlagen Sie für jeden Grundwehr-
lichen Altersgenossen, die keinen Pflichtdienst leisten dienstleistenden. Bei derzeit 40 000 Grundwehrdienst-
müssen, benachteiligt. Durch Ihre Reform werden pro leistenden sind das 548 Millionen Euro im Jahr. Der
Jahr 10 000 Männer mehr von der Wehrungerechtigkeit Website der Bundeswehr können wir entnehmen, dass
betroffen sein. Somit schaffen Sie nicht weniger, son- sich jährlich rund 9 100 junge Männer nach ihrem
dern sogar noch mehr Wehrungerechtigkeit. Grundwehrdienst freiwillig länger verpflichten. Jede die-
ser Verpflichtungen kostet Sie folglich rund 60 000 Euro.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abgesehen davon, dass die Nachwuchsrekrutierung eine
und bei der SPD) verfassungsrechtlich bedenkliche Begründung der Wehr-
pflicht ist, kann ich mir kaum eine unwirtschaftlichere
Ihnen selbst scheint bewusst zu sein, dass Sie mehr
Form der Nachwuchsgewinnung vorstellen.
Fragen aufwerfen als schlüssige Antworten liefern. Das
jedenfalls würde Ihren anhaltenden Streit und das trau- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rige Possenspiel erklären, das Sie, liebe Kolleginnen und sowie bei Abgeordneten der SPD)
Kollegen von der Koalition, aufgeführt haben, als Sie
zeitgleich mit zwei völlig unterschiedlichen Konzepten Statt diese Wahlperiode mit dem Hin und Her über
für die Ausgestaltung der Wehrdienstreform an die Öf- Modelle der verkürzten Pflichtdienste zu vergeuden,
fentlichkeit traten. muss jetzt mit einem planvollen Ausstieg aus den
Pflichtdiensten und dem massiven Ausbau der Freiwilli-
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gendienste begonnen werden. Dieser Paradigmen- und
NEN]: So ist es!) Systemwechsel darf nicht länger vertagt werden; denn er
Mit Ihrem Hin und Her verunsichern Sie geradezu noto- ist seit Jahren überfällig. Deshalb haben wir Grünen den
Antrag gestellt, die Wehrpflicht abzuschaffen.
(B) risch die jungen Männer, die beteiligten Institutionen (D)
und insbesondere die Soldaten und Soldatinnen. Das ist Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
keine verantwortungsvolle Politik.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg.
und bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das ist Jan van Aken [DIE LINKE])
wohl wahr!)
Auch Ihnen ist die Aussage von Roman Herzog aus Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
dem Jahr 1995 bekannt, dass eine Regierung die – Zitat – Das Wort hat nun der Kollege Dr. Karl Lamers für die
„Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und CDU/CSU-Fraktion.
ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes“ sicherheits-
politisch begründen können muss. Meine Damen und (Beifall bei der CDU/CSU)
Herren der Koalition, genau diese sicherheitspolitische
Begründung bleiben Sie schuldig. Sie haben die Ent- Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU):
scheidung für die Beibehaltung der Wehrpflicht getrof-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
fen, ohne sich die wesentlichen Fragen zu stellen. Von
Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, die Wehr-
Ihnen hätte ich, bevor Sie die Entscheidung über die
pflicht zu beenden, halte ich für falsch. Lassen Sie mich
Wehrform treffen, eine Antwort auf die folgenden Fra-
kurz darlegen, warum.
gen erwartet: Was können unsere Streitkräfte leisten, und
was sollen sie zukünftig leisten können? Erstens hat sich die Wehrpflicht in mehr als fünf Jahr-
Erst im vergangenen Monat haben Sie die Bundes- zehnten bewährt. Zweitens ist sie Ausdruck der persönli-
wehr-Strukturkommission eingesetzt. Mit Ihrer Ent- chen Mitverantwortung der Bürger für ein Leben in Frie-
scheidung haben Sie diesem Gremium aber bereits ein den und Freiheit. Drittens ist sie ein Symbol für den
Denkverbot erteilt. Die bestehende Wehrform soll nicht gesellschaftlichen Konsens über die Landes- und Bünd-
hinterfragt werden. Es wird deutlich: Die Entscheidung nisverteidigung. Außerdem verbindet die Wehrpflicht
für die Beibehaltung der Wehrpflicht ist nicht in eine si- unsere Streitkräfte mit der Gesellschaft und verhindert
cherheitspolitische Gesamtkonzeption eingebunden. Entfremdung und Abschottung von dieser. Die Wehr-
pflicht sichert 40 Prozent des Freiwilligen- und 30 Pro-
Die Aufgabenschwerpunkte der Bundeswehr haben zent des Führungsnachwuchses der Streitkräfte. Dies al-
sich in den letzten Jahren deutlich verschoben. In den les sind gute Gründe, warum wir auch in Zukunft an der
aktuellen Konfliktszenarien brauchen wir nicht mehr den Wehrpflicht festhalten wollen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3935
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)
(A) Die Grünen fordern in ihrem Antrag die Schaffung ei- reichen. Wir sehen das anders. Gerade die Wehrpflichti- (C)
ner Freiwilligenarmee. Ja, meine Damen und Herren, Ih- gen brachten in der Vergangenheit und bringen auch
nen ist aber sicherlich bekannt, dass die Bundeswehr heute noch berufliche Qualifikationen und Fertigkeiten
niemals eine reine Wehrpflichtarmee war, sondern schon mit, die die Bundeswehr für den Dienst in der Truppe
immer aus einem Mix aus Grundwehrdienstleistenden, sehr gut nutzen kann. Die Qualifikation unserer Wehr-
freiwillig zusätzlichen Wehrdienst Leistenden, Reservis- pflichtigen ist ein wesentlicher Grund für die Beibehal-
ten sowie Berufs- und Zeitsoldaten bestand. tung des Wehrdienstes. Wehrpflicht und Professionalität
schließen sich nicht aus.
(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Eben!) (Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
Genau dies garantiert bis heute eine hohe Professionali-
tät unserer Streitkräfte. Es gibt keinen vernünftigen Die Koalition hat entschieden, den Grundwehrdienst
Grund, dieses erfolgreiche Modell ohne Not aufzugeben. auf sechs Monate zu verkürzen, beginnend mit dem
1. Oktober 2010. Wir bekennen uns damit auf der einen
Auslandseinsätze sind zu einer zentralen Aufgabe der
Seite zur Institution der Wehrpflicht, andererseits wollen
Streitkräfte geworden. Grundwehrdienstleistende wer-
wir die Belastung der jungen Generation durch das Ab-
den in solche Einsätze nicht entsandt. Aber das heißt
verlangen des Grundwehrdienstes so gering wie möglich
noch lange nicht, dass sie nun überhaupt nicht mehr ge-
halten. Wie bereits dargelegt, wird die Verkürzung des
braucht werden. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade heute
Grundwehrdienstes eine Verbesserung der Wehrgerech-
werden unsere Wehrpflichtigen gebraucht, um zum Bei-
tigkeit mit sich bringen; denn natürlich haben wir bei
spiel die Grundorganisation der Streitkräfte sicherzustel-
sechs Monaten Dienstzeit einen höheren Personalbedarf
len, indem sie in der Heimat notwendige Aufgaben über-
als bei neun Monaten. Wir werden alles tun, dass unsere
nehmen.
Wehrpflichtigen auch die verkürzte Grundwehrdienstzeit
Gegen die Wehrpflicht führen Sie darüber hinaus die als positive Lebenserfahrung empfinden. Ich danke Ih-
aus Ihrer Sicht angeblich ungenügende Ausschöpfung nen, Herr Minister zu Guttenberg, dass Sie sich gerade
der Jahrgänge an. Wir alle sind uns einig: Wehrgerech- dafür auch persönlich stark machen.
tigkeit ist in der Tat ein hohes Gut. Das Bundesverwal-
(Beifall bei der CDU/CSU)
tungsgericht hat mit seinem Urteil vom 19. Januar 2005
und seinem Beschluss vom 26. Juni 2006 Kriterien dafür Wichtig ist in meinen Augen, dass die Grundausbil-
aufgestellt. Wehrgerechtigkeit ist demnach dann gewähr- dung durch eine Funktionsausbildung ergänzt wird, die
leistet, wenn die Zahl derjenigen, die Wehrdienst leisten, sich sowohl an den Interessen der Wehrpflichtigen orien-
der Zahl der Wehrdienstfähigen zumindest nahekommt. tiert als auch gleichzeitig auf die Belange der Bundes-
(B) (D)
Fakt ist, dass heute wie auch in Zukunft der weitaus wehr Rücksicht nimmt. Ich begrüße es, dass die Wehr-
überwiegende Teil aller verfügbaren jungen Männer ei- pflichtigen nach erfolgter Ausbildung auf echten
nen Dienst leistet. Ich gehe davon aus, dass W6 ein Bei- Funktionsdienstposten in der Truppe eingesetzt werden.
trag zu mehr Wehrgerechtigkeit gerade in diesem Sinne Genau darum geht es: Wir wollen die Wehrpflichtigen in
ist. den normalen Organisations- und Truppenstrukturen der
Streitkräfte halten. In der Teilstreitkraft Heer zum Bei-
Meine Damen und Herren von den Grünen, in Ihrem
spiel ist geplant, Wehrpflichtige in Sicherungskompa-
Antrag sehen Sie eine Überforderung der Wehrdienst-
nien einzusetzen, angegliedert an Bataillone der Einsatz-
leistenden darin, diesen „die Verantwortung für die …
kräfte. Genau dies zeigt meines Erachtens sehr klar, dass
Verzahnung von Bundeswehr und Gesellschaft aufzu-
die Wehrpflichtigen sinnvoll eingesetzt und dass sie ge-
bürden“, wie Sie es ausdrücken. Ich sehe das anders:
braucht werden.
Wehrpflichtige leisten einen exzellenten Dienst und sor-
gen durch ständigen Personalaustausch dafür, dass die Meine Damen und Herren, der erste Bundespräsident
Bundeswehr ein lebendiger Teil von Staat und Gesell- der Bundesrepublik Deutschland, Professor Dr. Theodor
schaft ist. Heuss, hat einmal in einer Rede festgestellt: „Die Wehr-
pflicht ist das legitime Kind der Demokratie.“ Daran hat
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sich bis heute nichts geändert.
Das ist doch keine Bürde und führt auch nicht zu Über-
(Beifall bei der CDU/CSU)
forderung.
Was die Innere Führung anbetrifft, auf die Sie in Ihrer Wir, die CDU/CSU-Fraktion, halten an der Wehrpflicht
Begründung abheben, hat dieses übergreifende Füh- fest, erstens, weil sie sich bewährt hat, und zweitens,
rungskonzept der Streitkräfte in der Tat prägend für das weil sie auch heute sinnvoll ist.
Selbstverständnis der gesamten Bundeswehr nach innen Ich danke Ihnen.
und außen gewirkt. Die Frage, ob Wehrpflicht heute
noch sinnvoll ist oder nicht, lässt sich aber nicht mit dem (Beifall bei der CDU/CSU)
Konzept der Inneren Führung beantworten. Das ist viel-
mehr eine politische Grundsatzentscheidung, die wir in Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
diesem Hohen Hause treffen. Nun hat der Kollege Lars Klingbeil für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Sie unterstellen den Wehrpflichtigen, dass ihre Quali-
fikationen für die Tätigkeiten in Deutschland nicht aus- (Beifall bei der SPD)
3936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Lars Klingbeil (SPD): Um das zu schaffen, brauchen wir als Parlament aber (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen endlich den Mut, einen großen Schritt zu machen, eine
und Herren! Lieber Kollege Lamers, wenn man den wirkliche Reform zu verabschieden. Wir brauchen als
„tobenden“ Beifall bei Ihrem Koalitionspartner sieht, Parlament den Mut, endlich den Wandel der Bundeswehr
hin zu einer Freiwilligenarmee in die Wege zu leiten.
(Beifall der Abg. Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]) (Beifall der Abg. Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
dann wird deutlich, dass diese Regierung kein Konzept
Herr Lamers, Sie haben die Wehrgerechtigkeit ange-
für die Wehrpflicht hat. Es werden spannende Wochen,
sprochen.
bis Sie die Wehrpflichtfrage geklärt haben. Ich will mich
hier ausdrücklich bei den Grünen dafür bedanken, dass (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]:
sie diesen Antrag vorgelegt haben. Auch ich persönlich Ja!)
bin der Überzeugung, dass wir in Deutschland keine
Zwangsdienste mehr brauchen und dass die Wehrpflicht Ich sehe ein Problem bei der Wehrpflicht mit der Wehr-
nicht mehr zeitgemäß ist. gerechtigkeit und möchte etwas zitieren:

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Derzeit müssen von durchschnittlich 420 000 jähr-
DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Wo wart lich zur Verfügung stehenden Männern lediglich
ihr denn in den letzten elf Jahren?) 70 000 der Wehrpflicht nachkommen … Insgesamt
leisten jährlich nur rund 175 000 Männer einen
– Ich kann die Aufregung der FDP in dieser Frage ver- Pflichtdienst (Wehrdienst, Zivildienst oder andere
stehen. Ich komme dazu gleich in meiner Rede. Ersatzdienste), während 245 000 … ihre zivile Le-
bensplanung nicht für neun Monate unterbrechen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, dass müssen.
wir als Parlamentarier die Diskussion beginnen. Auch
wenn man nicht allen Punkten im Antrag der Grünen zu- Ich kann für diese Zahlen keine Garantie übernehmen;
stimmen kann, so muss man doch festhalten: Im Gegen- sie sind aus dem Jahr 2006 und per Copy und Paste in
satz zur Regierung haben die Grünen hier wenigstens ein meinen Redetext von einem Antrag der FDP-Bundes-
Konzept vorgelegt, und das ist ein vernünftiger Schritt. tagsfraktion vom 18. Januar 2006 gekommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, glau-
DIE GRÜNEN – Dr. Reinhard Brandl [CDU/ ben Sie wirklich, dass Sie mit dem W6-Kompromiss die
(B) CSU]: Wo?) von Ihnen angeprangerte Wehrungerechtigkeit beseiti- (D)
gen? Nach all dem, was man bisher gelesen hat, ist W6
Die Wehrpflicht ist ein Thema, das wir gesellschaft- ein bisschen Herumdoktern am Problem der Wehrge-
lich und politisch kontrovers diskutieren. Auch ich bin rechtigkeit, aber keine Lösung dieser Probleme. Es ist
mir bewusst, dass in der letzten Legislaturperiode auch ein bisschen mehr Gerechtigkeit in einer Ungerechtig-
Kollegen meiner Partei hier vorne gestanden und für die keit. Deswegen will ich es hier so deutlich sagen: Wer
Wehrpflicht geredet haben. Wir haben das auch inner- jahrelang die Fahne der Abschaffung der Wehrpflicht
halb der SPD sehr kontrovers diskutiert. Wir Sozial- hochhält und dann gerade mal so einen Kompromiss er-
demokraten sind uns aber einig, dass nicht mehr der reicht, der sollte hier nachher mal erklären, wie er denn
Zwang, sondern die Freiwilligkeit im Vordergrund ste- zu diesem W6-Modell steht. Ich bin gespannt auf Ihre
hen muss. Vor allem sagen wir Sozialdemokraten: Wir Rede, Herr Spatz.
brauchen eine Entscheidung, die langfristig trägt. Die
Bundeswehr braucht eine grundlegende Entscheidung, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
die langfristig trägt. Deswegen brauchen wir einen poli- DIE GRÜNEN)
tischen Konsens, der vom Militär nicht nur akzeptiert Die Wehrgerechtigkeit ist aber nur ein Aspekt von
wird, sondern der vom Militär auch unterstützt wird. Wir vielen. Wir haben in den letzten Wochen sehr viel da-
brauchen vor allem einen politischen Konsens, der sich rüber diskutiert, dass die Armee die beste Ausstattung
auf mehr als auf die Regierungsmehrheit beruft. braucht und dass wir als Parlament der Armee auch mit
auf den Weg geben müssen, was sie braucht. Wir waren
Ich bin überzeugt: Wir brauchen den besten Nach-
uns einig, dass wir mehr auf die Soldaten hören sollten.
wuchs für unsere Armee, für eine Armee, die sich immer
Da muss doch am Anfang die Frage nach der sicherheits-
größeren Herausforderungen stellen muss. Die Anforde-
politischen Relevanz einer Wehrpflicht stehen.
rungen an unsere Soldaten werden immer größer. Viele
wollen auch freiwillig den Dienst in der Bundeswehr Sicherheitspolitisch ist die Wehrpflicht nicht zu recht-
leisten. Durch eine Erhöhung der Attraktivität, durch fertigen. In einer Welt, die immer schneller wird, die im-
verbesserte Ausbildungsmöglichkeiten und durch eine mer mehr zusammenwächst, in einer globalisierten Welt,
gesellschaftliche Anerkennung, die endlich dem Solda- in der die Gefahren nicht mehr an den Landesgrenzen
tenberuf gerecht wird, werden wir es schaffen, dass auch lauern, sondern am Hindukusch oder am Horn von
diejenigen freiwillig zur Bundeswehr gehen, die wir für Afrika, können wir auf die Wehrpflicht sicherheitspoli-
die Armee brauchen. tisch verzichten. Diese Legitimation greift nicht mehr.
(Beifall bei der SPD) Auch hier will ich ein Zitat bringen:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3937
Lars Klingbeil
(A) Die äußere Sicherheit Deutschlands und der Bünd- neuen begrüßt. Das ist eine ganz wichtige Institution, die (C)
nisstaaten ist aber nicht durch konventionelle An- wir haben, um die Bundeswehr in die Gesellschaft zu in-
griffe bedroht, auch nicht nach den Attentaten vom tegrieren. Wir haben die Innere Führung, die wir stärken
11. September 2001. Die frühere Landesverteidi- müssen, und ich sage, wir müssen auch dringend wieder
gung ist heute ausschließlich als Bündnisverteidi- stärker über den Staatsbürger in Uniform reden. Ich hätte
gung zu begreifen. Die NATO fordert auch deshalb mir in den letzten Wochen gewünscht, dass wir mehr
von Deutschland keine Wehrpflichtarmee, sondern Soldaten haben, die sich auch in die gesellschaftlichen
Streitkräfte, die gut ausgebildet, modern ausgerüs- und politischen Debatten einmischen, die stärker ihr
tet, voll einsatzbereit und schnell verlegbar sind. Wort erheben und auch deutlich machen, wo eigentlich
Dafür benötigt die Bundeswehr keine Grundwehr- Missstände und wo Mängel bei der Armee sind. Das
dienstleistenden. nehmen wir als Politiker dann auf.
Auch das ist aus dem Antrag der FDP vom Jahr 2006. An dieser Stelle will ich noch einmal aus dem Antrag
Ich freue mich darauf, dass Sie gleich erklären werden, der FDP aus dem Jahr 2006 zitieren:
was Sie erreicht haben,
Deshalb ist der Vollzug der Allgemeinen Wehr-
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Da können pflicht so schnell wie möglich auszusetzen und der
Sie sicher sein!) Planungsprozess des Umbaus der Bundeswehr in
eine Freiwilligenarmee unverzüglich zu beginnen.
und kann Ihrer sicherheitspolitischen Begründung nichts
mehr hinzufügen. Sie sagen in diesem Antrag deutlich, dass die Integration
der Bundeswehr in die Gesellschaft schon umgesetzt ist.
Die Wehrgerechtigkeit und die sicherheitspolitische
Dieses Argument kann also nicht dazu dienen, die Wehr-
Relevanz sind zwei Argumente, die nicht mehr im Ein-
pflicht aufrechtzuerhalten.
klang mit der Wehrpflicht stehen. Auch die Integration
der Bundeswehr dient ja immer wieder als Argument für Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich
die Beibehaltung der Wehrpflicht. Herr Lamers, Sie ha- kann ja verstehen, dass man in einer Koalition Kompro-
ben es gerade auch erwähnt. Aber ich sage, wir müssen misse aushandeln muss. Das haben wir Sozialdemokra-
an dieser Stelle der Realität in die Augen schauen. ten an vielen Stellen erleben müssen. Aber wenn der
Kompromiss in einem Modell besteht, das keiner ver-
Erstens. Schon heute erreichen wir mit der Wehr-
steht, das keiner akzeptiert und das hinter verschlosse-
pflicht nicht mehr alle männlichen Bürger, unabhängig
nen Türen keiner trägt, dann frage ich mich schon, ob
von Herkunft, Beruf oder Bildung, und wir erreichen
Sie die Situation mit dem Modell W6 nicht noch ver-
schon heute nicht mehr das gesamte Spektrum, das in
schlechtern. Von der Bundeswehr wird dieser Kompro-
der Gesellschaft vorhanden ist, und integrieren es in die
(B) miss nicht akzeptiert. Die Truppe setzt natürlich um, was (D)
Bundeswehr.
die Politik beschließt. Aber Sie führen wahrscheinlich
Zweitens würden wir die Wehrdienstleistenden genauso wie ich dieselben Vieraugengespräche mit Sol-
schlichtweg überfordern, wenn wir sie mit der gesell- daten, in denen Sie erfahren, dass die Truppe mit diesem
schaftlichen Integration der Bundeswehr beauftragen Beschluss nicht zufrieden ist. Deswegen bitte ich Sie,
würden. diese Entscheidung noch einmal zu überdenken.
Ich sage, die Bundeswehr ist heute schon wesentli- Wir Sozialdemokraten haben den Koalitionsfraktio-
cher integrierter Bestandteil dieser Gesellschaft. Ich nen angeboten, gemeinsam ein Modell zu finden, das
komme aus Munster – das ist der größte Heeresstandort langfristig trägt und das gesellschaftlich trägt. Was Sie
Deutschlands –, und da erlebe ich jeden Tag, wie die In- hier auf den Weg bringen wollen, hat nur eine geringe
tegration der Bundeswehr in die Gesellschaft funktio- Halbwertzeit. Ich sage Ihnen, es wird sehr schnell vom
niert. Ich sehe Soldaten, die in Vereinen, in Elternbeirä- Tisch sein. Deshalb noch einmal das Angebot von uns
ten, bei der Freiwilligen Feuerwehr und – auch das kann Sozialdemokraten: Lassen Sie uns gemeinsam ein Mo-
ich sagen – sogar im SPD-Ortsverein perfekt integriert dell finden, das der sicherheitspolitischen Relevanz ge-
sind. Deswegen muss es uns zwar darauf ankommen, recht wird und das eine gesellschaftliche Akzeptanz fin-
den Soldaten als Staatsbürger in Uniform zu stärken, det! W6 kann dieses Modell nicht sein. Deswegen
aber wir dürfen keine Scheindebatten führen. Wenn ich werden wir Ihrem Modell nicht zustimmen, sobald Sie
höre, dass man so argumentiert, dass die Wehrdienst- es in den Bundestag einbringen. Nutzen Sie die Chance,
pflichtigen die Integration der Bundeswehr leisten sol- eine politische Mehrheit zu finden, die über Ihre eigenen
len, dann entgegne ich ganz klar: Ich habe genauso viel Fraktionen hinausgeht.
Vertrauen darauf, dass diejenigen, die freiwillig ihren
Vielen Dank fürs Zuhören.
Dienst leisten, oder diejenigen, die Berufssoldaten sind,
genau diese Integration der Bundeswehr in die Gesell- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schaft leisten können. Lassen Sie uns also keine Schein- DIE GRÜNEN)
debatten an dieser Stelle führen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
DIE GRÜNEN) Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Elke Hoff das
Wort.
Das heißt aber nicht, dass wir bei dieser Integration
nicht noch vieles verbessern können. Wir haben vorhin (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Karl A.
den Wehrbeauftragten verabschiedet, wir haben den Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU])
3938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Elke Hoff (FDP): (Sönke Rix [SPD]: Aber doch nicht mit W6!) (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir müssen vor allen Dingen verhindern, dass es durch
Herr Kollege Klingbeil, ich glaube, dass Sie sich bei der eine große Anzahl von Wehrpflichtigen zu einer Über-
Bewertung der Verständlichkeit des Modells in der forderung der Truppenstrukturen kommt. Stattdessen
Hausnummer geirrt haben. Ich kann mich nämlich sehr müssen wir dafür sorgen, dass die Anzahl der Wehr-
gut daran erinnern, dass das Modell, das von Ihrer Frak- pflichtigen angemessen ist und dass sie wirklich ausge-
tion in der vergangenen Legislaturperiode vorgelegt bildet werden können. Das müssen wir jetzt gemeinsam
worden ist, von allen nur sehr schwer nachzuvollziehen auf den Weg bringen.
war. Ich habe es, offen gesagt, bis heute noch nicht ver- Ein Thema, das in diesem Zusammenhang noch zu
standen. klären ist, ist – das ist kein Geheimnis – die Ausfüllung
(Sönke Rix [SPD]: Das kann auch mit etwas des Wehrersatzdienstes. Aber auch hier sind wir auf
anderem zu tun haben!) einem guten Weg, gemeinsam mit dem Koalitionspartner
einen Kompromiss zu finden.
Was die Koalition vorlegt, ist ein Kompromiss. Die
Verkürzung der Wehrpflicht auf sechs Monate ist ein (Sönke Rix [SPD]: Schon ziemlich lange!)
Schritt, mit dem es beiden Partnern gelungen ist, eine so-
lide Nachwuchsgewinnung, die diese Armee so dringend Insofern bin ich völlig unbesorgt, dass wir für unsere
braucht, für die Zukunft auf den Weg zu bringen. Wehrpflichtigen ein attraktives Angebot schaffen wer-
den.
(Sönke Rix [SPD]: Murks ist das!)
Der Bundesverteidigungsminister hat hier klar signa-
Aufgrund Ihrer Erfahrungen in der Vergangenheit wis- lisiert, dass es bei einer Beibehaltung der Wehrpflicht
sen auch Sie: Bei einem Kompromiss finden sich beide auch sein Anliegen ist, dafür Sorge zu tragen, dass die
Partner nicht zu 100 Prozent wieder. Aber wir wissen ge- Voraussetzungen geschaffen werden, dass unsere jungen
nau, dass in der Vergangenheit bei der Bewertung der Männer in einer möglichst kurzen Zeit, aber mit einer
Wehrpflicht gerade aus der von Ihnen zitierten Truppe möglichst qualifizierten Ausbildung eine Entscheidungs-
sehr häufig die Beschwerde kam, dass aufgrund einer grundlage für eine zukünftige Verpflichtung an die Hand
langen Wehrdienstdauer eine Art Gammeldienst entstan- bekommen. Deswegen ist es unser Anliegen, dafür zu
den ist, dass viele Wehrpflichtige nicht so recht wussten, sorgen, dass die jungen Männer in möglichst viele Berei-
was sie mit der verbleibenden Zeit nach der Grundaus- che der Bundeswehr, auch in den Teilstreitkräften, einen
bildung anfangen sollten. Unser Ziel ist es, den jungen Einblick bekommen, damit sie am Ende ihres Wehr-
(B) Männern in Form des sechsmonatigen Wehrdienstes die dienstes fundiert entscheiden können, zu welcher Teil- (D)
Möglichkeit zu eröffnen, in einer angemessenen Zeit ei- streitkraft sie wollen. Dass das wirklich möglich ist, wird
nen Zugang zur Truppe zu finden, damit sie danach die sehr stark davon abhängen, wie wir das jetzt ausgestal-
Entscheidung treffen können, ob sie dabeibleiben wollen ten.
oder nicht.
(Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE
Wir werden sehen, wie sich die Ergebnisse nach vier GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen-
Jahren im Einzelnen darstellen werden. Meine Fraktion frage)
hat mit besonderem Nachdruck vorgetragen, dass die
Ausgestaltung des Wehrdienstes eine große politische – Ich glaube, der Kollege Nouripour hat eine Frage.
Herausforderung sein wird. Meine Fraktion hat diesbe-
züglich Vorstellungen entwickelt. Ich bin fest davon Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
überzeugt, dass wir gemeinsam mit unserem Koalitions-
partner, mit dem wir diesen Kompromiss geschlossen Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
haben, auch bei der Ausgestaltung des Wehrdienstes ei- Nouripour?
nen Weg finden werden, der zu einem Erfolgsmodell
werden wird. Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir Elke Hoff (FDP):
dann, wenn die notwendigen gesetzlichen Voraussetzun- Bitte schön.
gen geschaffen sind, dieses Modell umsetzen werden.
Dass meine Partei programmatisch nach wie vor eine Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
andere Auffassung vertritt, ist dadurch selbstverständlich
Bitte.
nicht außer Kraft gesetzt. Aber jeder von uns weiß, dass
die Kunst in der Politik darin liegt, das Machbare zu fin-
den. Wir sind der Überzeugung, dass wir hier einen Weg Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zu mehr Professionalität auch in der Bundeswehr gefun- Frau Kollegin Hoff, nachdem der Minister es vorhin
den haben. abgelehnt hat, auf mein Angebot der Wette einzugehen,
(Beifall bei der FDP) dass die Wehrpflicht wahrscheinlich zum 1. Oktober
nicht so kommen wird, wie er angekündigt hat, frage ich
Der Erfolg wird jetzt in hohem Maße davon abhängen, Sie: Sind Sie bereit, uns mitzuteilen, ob das der Fall ist?
ob wir es schaffen, dass sich die Strukturen innerhalb der Wird die Reform der Wehrpflicht zum 1. Oktober in
Bundeswehr darauf einstellen können. Kraft treten, wie vom Minister angekündigt?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3939

(A) Elke Hoff (FDP): Linke fordert, die Wehrpflicht mit sofortiger Wirkung (C)
Wir haben in unserer Koalitionsvereinbarung festge- aufzuheben.
legt, dass wir anstreben, die sechsmonatige Wehrpflicht
zum 1. Januar 2011 einzuführen. Ich habe zum jetzigen Dafür gibt es mehr als nur einen Grund:
Zeitpunkt keinen Zweifel daran, dass dies der christlich- Erstens. Die Wehrpflicht ist ein Zwangsdienst, durch
liberalen Koalition auch gelingen wird. Alles andere, lie- den immer Grund- und Bürgerrechte eingeschränkt und
ber Kollege Nouripour, wäre Kaffeesatzleserei, an der zum Teil aufgehoben werden.
ich mich in diesem Hause nicht beteilige. Die Verhand-
lungen sind auf einem guten Wege. Deswegen greift (Karin Strenz [CDU/CSU]: Er spricht über
eigentlich Ihr Antrag ein wenig zu kurz. Er wird, auch Bürgerrechte!)
vor dem Hintergrund des Ziels, das Sie damit erreichen Dieser übermäßige Eingriff in die Lebensplanung und
wollten, viel zu früh gestellt. das Selbstbestimmungsrecht junger Menschen muss ein
(Lachen des Abg. Sönke Rix [SPD]) Ende haben.
Aber ich kann Sie beruhigen: Die Verhandlungen sind (Beifall bei der LINKEN)
auf einem guten Wege.
Man kann nicht einerseits die Bedeutung von Bildung
(Sönke Rix [SPD]: Schon sehr lange!) hervorheben und andererseits Menschen durch Verzöge-
Ich gehe davon aus, dass beide Koalitionspartner die ent- rungen bei Ausbildung und Studium deutlich benachtei-
sprechenden Voraussetzungen schaffen werden. ligen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Zweitens. Die Umsetzung der Wehrpflicht, im Spezi-
der CDU/CSU) ellen der Auswahlprozess, ist willkürlich und ungerecht.
Nur etwa 15 Prozent eines Jahrgangs leisten den Grund-
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, wehrdienst; mehr als 50 Prozent der Wehrpflichtigen
dass alles Nötige gesagt worden ist. Bei der Einbringung leisten weder Grundwehrdienst noch Zivildienst. Es ist
des Gesetzentwurfes werden wir über die Ausgestaltung doch blauäugig, zu denken, dass eine Verkürzung der
und den Erfolg von W6 noch einmal in aller Breite Dienstzeit auf sechs Monate daran grundlegend etwas
diskutieren können. Heute geht es darum, über den von ändern würde. Da im Zivildienst etwa dreimal so viele
Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Antrag zu entschei- Dienstposten zur Verfügung stehen, werden Kriegs-
den. Fakt ist, lieber Kollege Nouripour, dass wir diesem dienstverweigerer mit einer deutlich höheren Wahr-
Antrag auch in der vergangenen Legislaturperiode nicht scheinlichkeit zum Zivildienst einberufen als die Nicht-
hätten zustimmen können, weil meine Fraktion nie für verweigerer zum Grundwehrdienst. In Anbetracht der (D)
(B)
eine Abschaffung der Wehrpflicht, sondern immer für derzeitigen Haushaltslage wäre die komplette Abschaf-
eine Aussetzung der Wehrpflicht eingetreten ist. Insofern fung der Wehrpflicht auch kostengünstiger als die
haben wir schon in der Vergangenheit die Dinge immer Verkürzung der Dienstzeit. Ungleichbehandlung ist an
auf unterschiedlichen Pfaden verfolgt. Aber warten Sie der Tagesordnung; Wehrgerechtigkeit gibt es schon seit
ab! Wir werden mit W6 eine vernünftige Lösung auf den langem nicht mehr – ein Grund mehr, die absolut unge-
Weg bringen. Vor allen Dingen werden wir einen Beitrag rechte und überflüssige Wehrpflicht abzuschaffen.
dazu leisten, dass der Bundeswehr die qualifizierten Sol-
daten zur Verfügung stehen, die sie in Zukunft braucht. (Beifall bei der LINKEN)
Dass wir gemeinsam die Strukturen darauf ausrichten Drittens. Die einzige Aufgabe der Wehrpflicht ist es
werden, darauf können Sie sich verlassen. heute, auf praktische, wenn auch sehr teure Art und
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam- Weise Nachwuchs zu gewinnen. Das ist verfassungs-
keit und freue mich auf die nächste Debatte, wenn der rechtlich nicht gewollt; das wird die Linke nicht hinneh-
Gesetzentwurf in diesem Hohen Hause eingebracht men.
wird.
(Karin Strenz [CDU/CSU]: Das kümmert uns
Vielen Dank. gar nicht!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Viertens. Ob Schwarz-Gelb, die Große Koalition oder
Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Rot-Grün: Bei allen war Sozialabbau Regierungspro-
NEN]: Wir uns auch!) gramm. Der Sozialstaat wurde unaufhörlich geschleift.
Der durch die Wehrpflicht begründete Zivildienst, der
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schon längst Regel- statt Ersatzdienst ist, macht junge
Der Kollege Harald Koch ist nun der nächste Redner Menschen zu unterbezahlten Lückenbüßern in einem
für die Fraktion Die Linke. Sozialsystem, das vorher bewusst und wissentlich finan-
ziell ausgetrocknet wurde. Dass das Gebot der Arbeits-
(Beifall bei der LINKEN) marktneutralität des Zivildienstes reine Makulatur ist,
sieht man zum Beispiel im Pflegebereich, wo reguläre
Harald Koch (DIE LINKE): Arbeitsplätze ersetzt und verdrängt werden. Zivildienst-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und leistende übernehmen oft Tätigkeiten, die eigentlich von
Kollegen! Der Titel des Antrages von Bündnis 90/Die Grü- ausgebildeten Fachkräften ausgeübt werden müssten. Ihr
nen bringt es auf den Punkt: „Wehrpflicht beenden“. Die Einsatz führt dazu, dass die Schaffung besserer Arbeits-
3940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Harald Koch
(A) bedingungen und die Durchsetzung höherer Löhne für tung oder die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutsch- (C)
Beschäftigte im Sozialbereich erschwert wird. land.
Die Linke fordert: Es muss endlich aufhören, dass Zi- Wir sind es den jungen Männern, die ihren Wehr-
vildienstleistende im sozialen Bereich als billige Ar- dienst oder Ersatzdienst ableisten, schuldig, regelmäßig
beitskräfte missbraucht werden. Diese Lohndrückerei im zu überprüfen, ob ihr Dienst sicherheitspolitisch weiter-
Sozial- und Gesundheitswesen lehnen wir ab. hin begründbar ist. Diesem zentralen Punkt, verehrte
Kolleginnen und Kollegen der Grünen, widmen Sie in
(Beifall bei der LINKEN) dem vorliegenden Antrag genau zwei Sätze. Ich zitiere:
Wir brauchen in erster Linie mehr tariflich entlohnte, so- Die Aufgabenschwerpunkte der Bundeswehr haben
zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Pflege- und sich in den vergangenen Jahren deutlich verscho-
Gesundheitsbereich. ben. Nicht mehr die territoriale Landesverteidi-
(Karin Strenz [CDU/CSU]: Reichtum für alle! – gung, sondern die Teilnahme an UN-mandatierter
Gegenruf von der LINKEN: Warum nicht?) multilateraler Krisenbewältigung ist für die Bun-
deswehr heute strukturbestimmend.
Wir brauchen dafür auch einen starken öffentlich finan-
zierten Beschäftigungssektor. Diese bloße Feststellung der momentanen Situation wird
der Bedeutung dessen, was Sie in Ihrem Antrag fordern,
Daneben müssen Jugendfreiwilligendienste gestärkt nämlich die Aussetzung und damit faktisch die Abschaf-
werden, sodass jeder, der sich dort freiwillig engagieren fung der Wehrpflicht in Deutschland, in keinster Weise
möchte, dies auch tun kann. Freiwilliges bürgerschaftli- gerecht. Sie brauchen nur in die jüngere Geschichte
ches Engagement braucht insgesamt Stärkung, Förde- unseres Landes zu blicken, um zu erkennen, dass sich
rung und sozial gerechte Rahmenbedingungen. Es ist solch eine Situation auch einmal ändern kann.
eine wichtige soziale Zugabe, darf aber nicht die Schaf-
In den letzten 30 Jahren haben sich etwa alle zehn
fung regulärer Arbeitsplätze verhindern.
Jahre die sicherheitspolitische Weltlage und damit auch
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Wehr- die Anforderungen an die Bundeswehr grundlegend ver-
pflicht schützt nicht vor Krieg, sondern behindert grund- schoben. In den 80er-Jahren steckten wir noch mitten im
sätzliche Abrüstungsschritte bei der Bundeswehr und Kalten Krieg. Die Bundeswehr war auf diesen Ost-West-
erleichtert somit die Fortführung bewaffneter Konflikte. Konflikt hin ausgerichtet. Dann kam, für viele überra-
Sie ist ein Auslaufmodell und wird keineswegs für die schend, der 9. November 1989 und der Fall des Eisernen
Landesverteidigung gebraucht. Deshalb: weg mit der Vorhangs. Eineinhalb Jahre später begann der Krieg auf
Wehrpflicht! Schluss mit allen Zwangsdiensten! dem Balkan. Damit ergaben sich eine vollkommen neue
(B) sicherheitspolitische Lage in Europa und, damit verbun- (D)
Vielen Dank. den, auch ganz neue Einsatzaufgaben für die Bundes-
(Beifall bei der LINKEN) wehr. Dann kam, wieder überraschend, der 11. Septem-
ber 2001, der uns in schrecklicher Art und Weise die
wachsende asymmetrische Bedrohung durch den inter-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nationalen Terrorismus vor Augen geführt hat. Diese Be-
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege drohung bestimmt unsere Einsätze heute.
Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
Keine dieser grundlegenden Verschiebungen hat sich
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- jeweils zehn Jahre zuvor abgezeichnet, und so wissen
neten der FDP) wir heute auch nicht genau, welchen Aufgaben sich die
Bundeswehr im Jahr 2020 stellen muss.
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): (Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Wie begründen Sie das jetzt?)
gen! Die Einberufung zum Wehrdienst ist ein gravieren-
der Eingriff in die Freiheit und den Lebenslauf eines Es ist wahrscheinlich, dass sich die Einsätze weiter
jungen Menschen. Ein solcher Eingriff ist nur gerecht- schwerpunktmäßig im Ausland abspielen werden. Das
fertigt, wenn er der Bewahrung der äußeren Sicherheit Argument, die Wehrpflicht müsse deshalb abgeschafft
unseres Landes dient. werden, weil im Ausland keine Grundwehrdienstleisten-
den eingesetzt werden könnten, sticht allerdings nicht.
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Richtig! Genau deshalb muss sie aufge- (Zuruf von der CDU/CSU: Völliger Quatsch!)
hoben werden!) Die Wehrpflichtigen entlasten unsere Zeit- und Berufs-
Erst in zweiter Linie können andere Argumente wie die soldaten von vielen Aufgaben im Inland und leisten
Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft, die wichtige Unterstützung bei der Einsatzvor- und -nachbe-
Nachwuchsgewinnung oder die Kosten als Begründung reitung.
für die Beibehaltung oder auch für die Abschaffung oder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Aussetzung der Wehrpflicht angeführt werden.
Unabhängig davon, was wir aus heutiger Sicht für
Der Zivildienst, die Frage der Wehrgerechtigkeit oder wahrscheinlich erachten, ist eine Armee immer auch ein
die Situation in anderen Ländern sind keine Argumente Schutz gegen Unwahrscheinliches. Gewiss, es ist Gott
für die grundsätzliche Entscheidung über die Beibehal- sei Dank im Moment kein Szenario vorstellbar, in dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3941
Dr. Reinhard Brandl
(A) wir unsere Bundeswehr zur Landes- oder Bündnisvertei- Berichterstattung: (C)
digung einsetzen müssten. Aber trotzdem wollen wir uns Abgeordnete Michael Frieser
die grundsätzliche Fähigkeit dazu erhalten. Hierfür brau- Wolfgang Gunkel
chen wir nicht nur gut ausgebildete Spezialisten für Ein- Marina Schuster
sätze im Ausland, sondern auch eine größere Zahl von Annette Groth
Reservisten, auf die wir im Krisenfall zurückgreifen Volker Beck (Köln)
können. Die Zahl der ausgebildeten Reservisten würde
bei einer Aussetzung der Wehrpflicht jedoch drastisch b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
schrumpfen. richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)
Bei all dem, was wir in den vergangenen fünf Jahr-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Heike
zehnten an sicherheitspolitischen Veränderungen erleben
Hänsel, Jan van Aken, Sevim Dağdelen weite-
durften und erleben mussten, hat sich die Struktur der
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundeswehr mit genau dieser Mischung aus Zeit- und
Berufssoldaten, ergänzt durch Grundwehrdienstleistende VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in
und Reservisten, hervorragend bewährt. Ich sehe im Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Unab-
Moment keinen Grund, von dieser grundsätzlichen hängigkeit Lateinamerikas solidarisch un-
Struktur abzurücken. terstützen
Nichtsdestotrotz müssen wir uns ständig fragen, wie – zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
wir diese Struktur angesichts neuer Anforderungen und Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weiterer Abge-
Aufgaben weiter verbessern können. Für mich gelten bei ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
der Wehrpflicht dabei folgende Leitlinien: Der Dienst GRÜNEN
muss sowohl für die Truppe als auch für den Einzelnen Klimaschutz und gerechten Handel mit La-
sinnvoll ausgestaltet sein. Gleichzeitig soll die Dauer des teinamerika und der Karibik voranbringen
Pflichtdienstes auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben.
Die Verkürzung auf sechs Monate ist daher nicht als Ein- – Drucksachen 17/1403, 17/1419, 17/1608 –
stieg in den Ausstieg zu verstehen. Es ist ein Auftrag an
Berichterstattung:
die Bundeswehr, die Ausbildung und den Einsatz der
Abgeordnete Anette Hübinger
Wehrpflichtigen weiter zu optimieren.
Dr. Sascha Raabe
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unterstützen wir Harald Leibrecht
die Bundeswehr bei diesem Auftrag, einen für die Heike Hänsel
(B) Gesellschaft und den Einzelnen sinnvollen Dienst anzu- Thilo Hoppe (D)
bieten! Auch das sind wir den jungen Männern schuldig, c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
die diesen Dienst für uns ableisten. richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Heike Hänsel, Annette Groth,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der
ten der FDP) Fraktion DIE LINKE
Menschenrechte in Kolumbien auf die Agenda
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: setzen – Freihandelsabkommen EU-Kolum-
Ich schließe die Aussprache. bien stoppen
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf – Drucksachen 17/1015, 17/1546 –
Drucksache 17/1431 an die in der Tagesordnung aufge- Berichterstattung:
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Abgeordnete Michael Frieser
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Wolfgang Gunkel
Überweisung so beschlossen. Marina Schuster
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c Annette Groth
auf: Tom Koenigs
Interfraktionell wurde vereinbart, die Reden zu die-
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Es
richts des Ausschusses für Menschenrechte und handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag Kollegen: Anette Hübinger, Michael Frieser, Wolfgang
der Abgeordneten Wolfgang Gunkel, Lothar Gunkel, Harald Leibrecht, Heike Hänsel und Hans-
Binding (Heidelberg), Dr. h. c. Gernot Erler, wei- Christian Ströbele.1)
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wir kommen nun zu den Abstimmungen, zunächst zu
Menschenrechtsschutz im Handelsabkommen Tagesordnungspunkt 18 a. In seiner Beschlussempfeh-
der Europäischen Union mit Kolumbien und lung auf Drucksache 17/1545 empfiehlt der Ausschuss
Peru verankern
– Drucksachen 17/883, 17/1545 – 1) Anlage 7
3942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, den Antrag Interfraktionell wurde vereinbart, die Reden zu Pro- (C)
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/883 mit dem tokoll zu geben. Es handelt sich um die Reden folgender
Titel „Menschenrechtsschutz im Handelsabkommen der Kollegen: Clemens Binninger, Michael Hartmann,
Europäischen Union mit Kolumbien und Peru veran- Hartfrid Wolff, Jan Korte und Wolfgang Wieland.1)
kern“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
fehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
Drucksache 17/1556 an den Innenausschuss vorgeschla-
schlussempfehlung ist damit angenommen mit den
gen. – Sie sind, wie ich sehe, damit einverstanden. Dann
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
ist die Überweisung so beschlossen.
Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der SPD und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Tagesordnungspunkt 18 b. Beschlussempfehlung des Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Kai Gehring, wei-
Entwicklung auf Drucksache 17/1608. Der Ausschuss terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die NIS 90/DIE GRÜNEN
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Kernfusionsforschung kritisch überprüfen –
Drucksache 17/1403 mit dem Titel „VI. EU-Lateiname- ITER-Vertrag kündigen
rika-Karibik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch zur zwei-
ten Unabhängigkeit Lateinamerikas solidarisch unter- – Drucksache 17/1433 –
stützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Überweisungsvorschlag:
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Ausschuss für Bildung, Forschung und
fehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Ko- Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
alitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Hier ist in der Tagesordnung bereits ausgewiesen,
Die Linke. dass die Reden zu Protokoll gegeben werden. Es han-
delt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kol-
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 18 b. Unter legen: Dr. Stefan Kaufmann, René Röspel, Dr. Martin
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus- Neumann (Lausitz), Dr. Petra Sitte und Sylvia Kotting-
schuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Uhl.
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1419 mit
dem Titel „Klimaschutz und gerechten Handel mit La-
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU):
teinamerika und der Karibik voranbringen“. Wer stimmt
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist ein neuer-
(B) für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – liches Beispiel für die fast irrationale Technologiefeind- (D)
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
lichkeit der Grünen. Lassen Sie mich Ihnen erläutern,
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
warum. Noch in diesem Jahrhundert wird der weltweite
Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion
Strombedarf etwa auf das Sechsfache des heutigen Be-
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Frak-
darfs ansteigen. Der von den Experten prognostizierte
tion.
Bedarf an Energie ist mit keiner heute bekannten Tech-
Tagesordnungspunkt 18 c. Beschlussempfehlung des nik zu decken. In Ihrem Antrag behaupten Sie, dass die
Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Kernfusion bei einer voraussichtlichen Realisierung im
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel Jahre 2050 mit ihrem unbestreitbaren Beitrag zum Kli-
„Menschenrechte in Kolumbien auf die Agenda setzen – maschutz zu spät komme. Dabei blenden Sie den stetig
Freihandelsabkommen EU-Kolumbien stoppen“. Der wachsenden Energiebedarf schlicht aus.
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Die Fusionskernkraft ist eine saubere Energieform.
Drucksache 17/1546, den Antrag der Fraktion Die Linke Wir dürfen daher die Kernfusion – anders als Sie, liebe
auf Drucksache 17/1015 abzulehnen. Wer stimmt für Kolleginnen und Kollegen von den Grünen in Ziffer 3
diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Ent- Ihres Antrags – nicht gegen die Förderung erneuerbarer
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen Energien und der Energieeffizienz ausspielen. Bei der
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD- Kernfusion entstehen praktisch keinerlei CO2-Emissio-
Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion die Linke und nen. Auch das Problem der Endlagerung radioaktiver
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Abfälle stellt sich im Gegensatz zur Kernspaltung nicht –
Wir kommen zum Zusatzpunkt 5: oder jedenfalls in weit abgeschwächter Form. Mit Ihrer
Behauptung, die Menge radioaktiven Inventars sei in
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Fusionsreaktoren etwa genauso hoch wie in Kernspal-
Korte, Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer tungsreaktoren, wird fälschlicherweise eine Vergleich-
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE barkeit der Entsorgungsprobleme von Ihnen unterstellt.
Lassen Sie mich Ihnen erläutern, warum die Endlage-
Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangen- rungsproblematik nicht vergleichbar ist. Die Eigen-
heit offenlegen schaften des Abfalls sind sehr verschieden. Wie intensiv
– Drucksache 17/1556 – die Aktivierung im Fall der Fusion ausfällt, hängt stark
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss 1) Anlage 8
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3943
Dr. Stefan Kaufmann
(A) von den benutzten Materialien ab, lässt sich also beein- der Vergaben als Aufträge an die deutsche Industrie zu- (C)
flussen. Im Falle der Kernspaltung ist dies anders. Dort rückgeflossen.
ist die anfallende Radioaktivität durch die Spaltprodukte
naturgesetzlich mit der erzeugten Energie verknüpft und Seit einem halben Jahrhundert wird an der Kernfu-
entsteht zwangsläufig. Daher werden für die Fusion spe- sion gearbeitet. Anfangs sind die Experten von etwa
zielle Materialien – beispielsweise für die Ummantelung – zehnmal kleineren Fusionskraftwerken ausgegangen als
mit niedrigem Aktivierungspotenzial entwickelt. Die jenem, das heute vor der Realisierung steht. Man hat
Halbwertszeiten der wesentlichen Fusionsrückstände also durch wissenschaftlichen Fortschritt vieles er-
sind damit bedeutend kleiner. Man rechnet nach heuti- reicht. Zwischenzeitlich kamen allerdings erschwerend
gem Kenntnisstand mit ein bis fünf Jahren gegenüber auch höhere Qualitätsanforderungen und verteuerte
100 bis 10 000 Jahren im Fall der Kernspaltung. Rohstoffpreise hinzu. All dies hat zu erheblichen Kosten-
steigerungen geführt. Diese Kostenentwicklung des
Das biologische Gefährdungspotenzial der Fusions- ITER-Projektes ist nicht nur vor dem Hintergrund der
abfälle klingt rasch ab und ist im Vergleich zu Spaltab- schwierigen Haushaltslage praktisch aller der im Rah-
fall nach 100 Jahren um mehr als das Zehntausendfache men von Euratom beteiligten Staaten problematisch. Es
geringer. Etwa die Hälfte des Fusionsabfalls kann – je müssen daher nochmals alle Möglichkeiten zur Kosten-
nach Materialauswahl – nach einer Wartezeit von einsparung ausgelotet werden. Der Bundesregierung
100 Jahren uneingeschränkt freigegeben werden. Das obliegt es, die Kontrolle über die Ausgabenentwicklung
übrige Material könnte rezykliert und in neuen Kraft- und damit auch über die Aktivitäten der internationalen
werken wiederverwendet werden. Die Fusionsenergie ITER-Organisation auszuüben. Im Bereich der Verwal-
verspricht vor diesem Hintergrund gegenüber den be- tung von ITER durch das gemeinsame Unternehmen
kannten Energiequellen derart große Vorteile, dass sich „Fusion for Energy“ liegt doch einiges im Argen – wie
alle Anstrengungen lohnen, ihr zum Durchbruch zu ver-
nicht zuletzt der Rücktritt des Direktors offenbart hat.
helfen. Das gilt im Übrigen auch dann, wenn man das
Denn eines ist auch klar: ITER kann es nicht um jeden
Projekt als Ganzes noch als großes Experiment betrach-
Preis geben. Vor allem aber darf ITER nicht zu einem
ten mag.
Fass ohne Boden werden.
In den letzten fünf Jahrzehnten wurde enorm viel
Noch überwiegt allerdings mein Vertrauen in die
wertvolle Forschungsarbeit im Bereich der Kernfusion
geleistet. Die für den Fusionsprozess nötigen Grund- Chancen der Kernfusion. Um das Projekt wirklich zu ei-
stoffe – Deuterium und Lithium, aus denen im Kraftwerk nem Erfolg zu machen, müssten wir die Entwicklung der
Tritium hergestellt wird – sind nahezu überall auf dieser Fusion aber eher beschleunigen als Tempo herauszu-
(B) Welt vorhanden; der Vorrat ist nach menschlichen Maß- nehmen. Es gilt daher, gemeinsam mit unseren europäi- (D)
stäben unerschöpflich. Da die Fusionstechnik eine ex- schen Partnern zeitnah Farbe zu bekennen, wohin die
trem hohe Energiekonzentration zur Folge hat, wird im Reise gehen soll. Hierbei sind auch die schon getätigten
Gegensatz zur Solar-, Wind- und Wasserkraft auch nur erheblichen Investitionen zu berücksichtigen. Letztlich
sehr wenig Fläche verbraucht. Klimatische Schwankun- kann eine Entscheidung aber nicht ohne eine – auch von
gen haben – wie auch bei der Kernspaltung – keinerlei der Kommission geforderte – glaubwürdige und belast-
Einfluss auf die Fusion. Gerade deshalb ist die Kernfu- bare Kostenschätzungs- und Kosteneindämmungsstrate-
sion ideal für die Grundlastversorgung von Ballungs- gie getroffen werden. Derzeit schwirren noch zu viele
räumen sowie der Großindustrie. unterschiedliche Zahlen durch den Raum, als dass eine
klare Positionierung der Vertragspartner beim Rat der
Vor dem Hintergrund all dessen müssen wir ITER Wettbewerbsfähigkeit am 25. und 26. Mai 2010 realis-
eher voranbringen als beenden. ITER eröffnet zudem tisch erscheint. Deutlich ist nur, dass eine beträchtliche
große Chancen sowohl für die deutsche Industrie wie Finanzierungslücke besteht. Richtig ist auch, dass für
auch für unsere Forschungslandschaft. Für den Bau von eine tragfähige Zukunft des Projekts eine nachhaltige
ITER sind industriell großmaßstäbliche Beiträge aus Finanzierung statt eines ständigen Klein-Klein erforder-
den Bereichen Bauingenieurwesen, Maschinenbau, lich ist.
Elektrotechnik und Kerntechnik erforderlich, die unter
völlig neuartigen Bedingungen miteinander kombiniert Man mag nun zu ITER stehen wie man will. Doch ei-
werden – ich zitiere insoweit aus der jüngsten Mitteilung nes ist klar: Eine einseitige Kündigung des ITER-Ab-
der Europäischen Kommission zu ITER vom 4. Mai kommens ist – abgesehen von den außenpolitischen Ver-
2010 –, Bereiche also, in denen wir traditionell gut auf- werfungen – auch forschungs- und umweltpolitisch
gestellt sind und schon viel Know-how mitbringen. unverantwortlich. Das ITER-Abkommen enthält im Üb-
Deutschland als größter europäischer Partner des Pro- rigen auch keine Rücktrittsmöglichkeit für Euratom als
jekts könnte daher in Wissenschaft und Technologie rund einen der Vertragspartner. Gemäß Art. 24 Abs. 6 ist die
um das Projekt auf internationaler Ebene eine Füh- Beendigung des Vertrages nur durch eine Vereinbarung
rungsrolle übernehmen, und unsere Unternehmen könn- aller Partner möglich.
ten langfristig von ITER profitieren. So haben sich be-
reits zwei deutsche Unternehmen am Standort des ITER Ich empfehle daher im Ergebnis, den vorliegenden
im Raum Cadarache angesiedelt. 5 von 16 interessierten Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Beratung an den
Unternehmen haben Aufträge bei Ausschreibungen von Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
„Fusion for Energy“ erhalten. Dabei sind 28 Prozent abschätzung zu überweisen.

Zu Protokoll gegebene Reden


3944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) René Röspel (SPD): sein kann, muss bei Gelegenheit an anderer Stelle disku- (C)
Die Zeit der fossilen Energieträger läuft aus. Ich tiert werden.
denke, wir alle sind uns darin einig, dass die nachhal- Wie so oft in der Wissenschaft wurde auch im Bereich
tige und effiziente Gewinnung und Bereitstellung von der Fusionsforschung deutlich, dass man zum Erreichen
Energie eine der wichtigsten gesellschaftlichen Heraus- der Ziele international zusammenarbeiten muss. Aus
forderungen der nächsten Jahre sein wird. Dabei spielt diesem Grund haben sich 2006 die EU, Japan, Russ-
die frühzeitige Forschungsförderung eine entscheidende land, die USA, China, Indien und Südkorea zusammen-
Rolle. Aber die Weichen müssen richtig gestellt sein. getan und den Bau und Betrieb des internationalen ther-
Wir Sozialdemokraten haben deshalb bereits vor Jah- monuklearen Experimentalreaktors, ITER, vereinbart.
ren zusammen mit unserem damaligen grünen Koali- Innerhalb der EU wird ITER über Euratom abgewickelt.
tionspartner große Anstrengungen in die Förderung der Als Standort wurde das französische Cadarache ge-
regenerativen Energietechnologien gesteckt. Davon wählt. Vereinbart wurde, dass die EU als Sitzregion
profitiert Deutschland noch und gerade heute in vielfa- 45,5 Prozent der Kosten trägt. Nach erfolgreichem Ab-
cher Hinsicht. Teil der Energiewende war der Ausstieg schluss der ITER-Experimente soll der Versuchsreaktor
aus der schon damals nicht zukunftsfähigen Kerntechno- DEMO gebaut werden. Erst dieser wird zeigen, ob die
logie. Die Gefahr eines Unfalls, die ungelöste und für kommerzielle Stromgewinnung mit der Fusionstechnolo-
den Steuerzahler mit immensen Kosten verbundene End- gie überhaupt möglich ist. Mit einem endgültigen Ergeb-
lagerproblematik sowie die Gefahr der Proliferation von nis wird frühestens im Jahr 2050 gerechnet.
waffentauglichem Kernmaterial sind einfach zu groß. Für die SPD ist die Fusionstechnologie ein spannen-
Rentabel sind diese Technikmonster allein für die Atom- der Bereich der Grundlagenforschung. Das Problem ist,
industrie. Zudem stellen Kernkraftwerke das Sinnbild dass die Gesellschaft bereits in den nächsten Jahren
der zentralen – manche sagen zentralistischen – Ener- konkrete und anwendbare Alternativen für die Energie-
gieversorgung mit Großkraftwerken dar, die nicht mehr versorgung braucht. In diesem Zeitraum wird die Fu-
in die kommende Zeit der dezentralen und effizienten sionstechnologie nicht als Option zur Verfügung stehen.
Kleinkraftwerke passt. Für die Bürgerinnen und Bürger
sind Kernkraftwerke ein Graus. Das haben die vielen Im Bereich der erneuerbaren Energien existieren
Tausend Demonstranten vorletztes Wochenende einmal schon funktionsfähige Technologien, bei denen Bio-
mehr gezeigt. Wenn CDU, CSU und FDP immer noch masse, Geothermie, Sonne, Wasserkraft und Wind zur
für eine Laufzeitverlängerung plädieren, kann man das Energieerzeugung genutzt werden. Sie sind bereits heute
nur noch mit schierem Atomlobbyismus erklären. anwendbar, dienen dem Umwelt- und Klimaschutz, sind
Innovations- und Technologietreiber und tragen in brei-
(B) Seit mehr als 60 Jahren arbeiten Wissenschaftler in tem Umfang zur Wertschöpfung und Schaffung von Ar- (D)
aller Welt an einer weiteren Technologie zur Energiebe- beitsplätzen in Hand- und Stahlwerk bei. Diese Anlagen
reitstellung, an der sogenannten Fusionstechnologie. erzeugen heute 15 Prozent des gesamten Bruttostrom-
Dabei sollen die Abläufe, die in der Sonne stattfinden, in verbrauchs in Deutschland. Das Potenzial ist dabei
einem Kraftwerk nachempfunden werden. Im Unter- noch lange nicht ausgeschöpft. Mit diesen Technologien
schied zur Kernspaltung werden bei der Kernfusion ist die Energiewende somit machbar. Deshalb besitzt für
Atomkerne verschmolzen. Dabei werden wie bei der uns Sozialdemokraten dieser Bereich ganz klare Priori-
Kernspaltung große Mengen Energie freigesetzt. Eine tät.
unkontrollierbare Kettenreaktion ist aber, anders als bei
der Atomkraft, zum Glück nicht möglich. Auch die Pro- Mit ITER haben wir ein Finanzierungsproblem. Die
bleme mit radioaktivem Müll sowie die Möglichkeit der aktuelle Mitteilung der Kommission lässt vermuten, dass
Nutzung als Waffe erscheinen nach heutigem Wissens- der Kostenanteil für Europa sogar von 2,7 auf 7,2 Mil-
stand im Vergleich zur Kernspaltung als eher unproble- liarden Euro steigt. Schon jetzt klafft eine Finanzie-
matisch. Die Technik klingt also erst einmal vielverspre- rungslücke von 1,4 Milliarden Euro für die Jahre 2012
chend. und 2013, die entweder über eine Anhebung des Finanz-
rahmens oder zusätzliche Beiträge der Mitgliedstaaten
In Deutschland wird heute bei der Max-Planck-Ge- gefüllt werden muss. Da stellt sich schon die Frage, ob
sellschaft in Garching und Greifswald und der Helm- diese Technologie, bei aller Forschungsfaszination, in
holtz-Gemeinschaft in Karlsruhe und Jülich auf diesem dieser Größenordnung vernünftig oder verantwortbar
Gebiet geforscht. Dafür werden die beiden Versuchs- ist, insbesondere wenn man überlegt, was diese Summen
reaktoren Wendelstein 7-X und TEXTOR betrieben. Alle in anderen Bereichen, zum Beispiel bei Energieeffizienz,
Arbeiten sind bis zum heutigen Tag immer noch der -einsparung oder regenerativen Energietechnologien,
Grundlagenforschung zuzurechnen. Der Beweis, ob möglich machen würden. Insofern sympathisiere ich
diese Technologie jemals kommerziell Energie liefern durchaus mit dem Antrag der Grünen. Aber aus unserer
wird, steht noch aus. gemeinsamen Koalitionszeit weiß ich auch, dass der von
ihnen geforderte Ausstieg eben leider nicht so einfach
Übrigens waren nur wenige der heutigen politischen umzusetzen ist.
Entscheidungsträger an den Anfängen dieses Prozesses
beteiligt, und mit hoher Wahrscheinlichkeit wird nie- Wenn die aktuellen Zahlen der Kommission sich be-
mand der heutigen Entscheider noch die Anwendung stätigen, muss die Bundesregierung beim Wettbewerbs-
dieser Technologie in Verantwortung erleben. Inwieweit fähigkeitsrat am 25./26. Mai in Brüssel Druck machen.
ein solches Verfahren überhaupt politisch akzeptabel Klar ist für uns Sozialdemokraten, dass die erneute Kos-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3945
René Röspel
(A) tensteigerung in diesem Umfang nicht hingenommen länder eine eigene nationale Behörde ein, die die Auf- (C)
werden kann und schon gar nicht zulasten der Förde- gabe hat, die vertraglichen Verpflichtungen des jeweili-
rung der regenerativen Energie gehen darf. Die erste gen Landes gegenüber ITER zu erfüllen.
Kürzung in diesem Bereich durch die schwarz-gelbe
Koalition lässt nichts Gutes erwarten. In Zeiten, in de- Welche Bedeutung hat ITER für Deutschland? Am
nen wir auf der einen Seite die Ursachen und Auswir- ITER-Projekt sind führend deutsche Forschungseinrich-
tungen beteiligt. So arbeitet das Institut für Plasmaphy-
kungen des Klimawandels konkret und zeitnah bekämp-
sik in Garching, eines der größten Fusionsforschungs-
fen müssen und auf der anderen Seite infolge der
zentren in Europa, mit seinem Experiment ASDEX
Finanzkrise mit finanziellen Schwierigkeiten in unge-
Upgrade seit Jahren an ITER-relevanten Fragen. Nicht
ahnter Größe zu kämpfen haben, sind weitere Mittel-
zuletzt hat das IPP die physikalischen Grundlagen für
erhöhungen nicht zu verkraften. den Testreaktor entwickelt.
Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, auch die
Auch zukünftig muss Deutschland, vertreten durch
potenziellen Nutznießer der Fusionstechnologie – sprich die Max-Planck-Gesellschaft und die Helmholtz-For-
die Industrie – stärker an den Forschungsausgaben zu schungszentren Karlsruhe und Jülich, eine wichtige
beteiligen. Wenn Frau Merkel so sehr an die Machbar- Rolle spielen, so zum Beispiel bei der Suche nach opti-
keit der Technologie glaubt, sollte die Überzeugungs- mierten Betriebsweisen für den Testreaktor, bei der Ent-
arbeit ja eigentlich ein Kinderspiel sein. wicklung der Plasmaheizung von ITER sowie bei der
Um es noch einmal zusammenzufassen: Für uns So- Suche nach Analyseverfahren für das Plasma und natür-
zialdemokraten ist die Fusionstechnologie ein spannen- lich nicht zuletzt auch nach geeigneten Werkstoffen für
des Forschungsthema; sie wird aber, selbst wenn alle die Brennkammer.
Experimente positiv verlaufen, nicht rechtzeitig als Das ITER-Projekt bedeutet auf keinen Fall, das
Energieoption zur Verfügung stehen. Wir müssen uns nationale Projekt Wendelstein 7-X in Greifswald aufzu-
also auf andere Energieträgertechnologien konzentrie- geben. Dieses Leuchtturmprojekt mit seinem Alleinstel-
ren. In Anbetracht der finanziellen Zwänge sollte das lungsmerkmal ist für die Plasmaphysik ein außer-
Geld deshalb vorrangig in bereits ausgereifte und ein- ordentlich wichtiges Instrument und hat auch
setzbare regenerative Energietechnologie gesteckt wer- international eine hohe Strahlkraft.
den. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, nun endlich
eine Deckelung der ITER-Kosten in Brüssel durchzuset- Auch wirtschaftliche Aspekte dürfen nicht außer Acht
zen. gelassen werden. Es ist jetzt besonders wichtig, an die
Aufträge für die Bauteilfertigung sowie die dafür erfor-
derlichen Forschungs- und Entwicklungsaufgaben für
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
(B) die deutsche Industrie und die deutsche Fusionsfor- (D)
Die Investition in Zukunftsenergien, die keine das schung zu denken. Interessant ist, welche wesentlichen
Klima schädigenden Emissionen, keine Endlagerpro- technischen Komponenten Deutschland im Rahmen des
bleme und keine Proliferationsprobleme mit sich brin- europäischen Lieferbeitrages liefert. Alle ITER-Partner
gen und die die Energieversorgung in der Grundlast liefern ihre Anteile im Wesentlichen als fertige Kompo-
dauerhaft sichern, ist lohnend und vielversprechend. Es nenten, die in den jeweiligen Ländern hergestellt wer-
wird bereits viel auf dem Gebiet der erneuerbaren Ener- den. Die Ausschreibung und Vergabe der europäischen
gien geforscht und erprobt. Es macht keinen Sinn, sich ITER-Komponenten erfolgen aber bekanntlich durch die
nur auf ein Gebiet der Energieversorgung zu konzentrie- europäische Agentur Fusion for Energy, F4E, in Barce-
ren. Das haben wir aus der Vergangenheit gelernt. Kern- lona. Diesen wichtigen Aspekt dürfen wir nicht aus den
spaltungs- oder Kernfusionsforschung zu verteufeln ist Augen verlieren.
forschungspolitisch fatal. Denn wäre die Kernforschung
in den letzten Jahren stärker forciert worden, wären wir Sie führen in Ihrem Antrag die Kostenexplosion aus,
auf diesem Gebiet vielleicht schon weiter. die nicht unerheblich ist. Aber diese Fakten sind nicht
neu. Bereits im Jahr 2008 wurde bekannt, dass bei ITER
Wir rufen uns kurz in Erinnerung: ITER ist ein inter- mit einer erheblich höheren Kostensteigerung zu rech-
national gefördertes Fusionsexperiment, das einzig und nen sein wird, als bei der Vertragsunterzeichnung abzu-
allein zu Forschungszwecken gebaut wird. Es soll die sehen war.
technische Machbarkeit der Energiegewinnung aus
Kernfusion demonstrieren. Folgt man den Berechnun- Aber sind wir mal ehrlich: Haben wir in der Vergan-
gen, so soll etwa zehnmal so viel Energie aus der Fusion genheit nicht bewusst die Augen zugedrückt? Ich erin-
von Deuterium und Tritium freigesetzt werden, wie nere an die damalige Entscheidung für ITER, lange be-
Energie für den Betrieb eingesetzt wird. vor über den Standort gestritten wurde. Ich erinnere
auch an die Entscheidung für ebendiesen ITER-light.
Sieben gleichberechtigte ITER-Partner – Europa, Ja- Die Kalkulation rechnete damals mit einer Gesamt-
pan, Russland, die USA, China, Indien und Südkorea – summe der Kosten von 5,5 Milliarden Euro. Heute sind
haben am 21. November 2006 in Paris den Vertrag zur wir bei Gesamtkosten von 7,2 Milliarden Euro angekom-
Gründung der ITER-Organisation nach langem Ringen men. Die Kostensteigerung ist im Wesentlichen auf
unterzeichnet. Der geplante Fusionsreaktor ITER im erhöhte Rohstoffpreise, neue wissenschaftliche Erkennt-
südfranzösischen Cadarache soll die Nutzung der Kern- nisse, höhere Qualitätsanforderungen und Fehleinschät-
fusion zur Stromerzeugung im industriellen Maßstab zungen des notwendigen Umfangs von Diagnostiken zu-
vorbereiten. Eigens dafür richteten alle sieben Partner- rückzuführen.

Zu Protokoll gegebene Reden


3946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Dr. Martin Neumann (Lausitz)


(A) Übrigens halte ich es für bemerkenswert, dass heute Leben. Das geschah bereits 1985, und der politische (C)
über den schrittweisen Aufbau von ITER nachgedacht Glaube an solche Großtechnologien wie die Atomkraft
wird. Also kommt in einer ersten Phase dem sicheren schien in dieser Zeit ungebrochen.
Einschluss des Plasmas bei circa 100 Millionen Grad
Celsius eine besondere Bedeutung zu. Nach erfolgrei- In den nachfolgenden 20 Jahren erlebte das Projekt
chem Abschluss dieser Forschungsarbeiten soll in einem viele Planungsphasen und Kostenschätzungen. Die USA
zweiten Schritt das Inventar für die eigentliche Fusion zogen sich 1998 als Hauptfinanzier zurück, weil ihnen
und Wärmeableitung eingebaut werden. die damals prognostizierten Baukosten von 13 Milliar-
den D-Mark, also knapp 7 Milliarden Euro, nach heuti-
Klar ist, dass, auch wenn Deutschland ITER nicht di- gen Maßstäben für einen Forschungsreaktor zu hoch
rekt finanziert, sondern Euratom, es an dieser Stelle Ver- erschienen. Zwischenzeitlich wurden die Gesamtbau-
antwortung übernehmen muss. Das bedeutet, dass wir kosten heruntergerechnet. Nach dem Preisstand von
und unsere Partner Wege suchen müssen, die heute auf 1989 lag man bei 3,577 Milliarden US-Dollar. Das be-
7,2 Milliarden Euro kalkulierten Kosten für den Fu- deutet preisbereinigt, bezogen auf 2008, 5,366 Milliar-
sionsforschungsreaktor ITER durch die EU aufzubrin- den Euro.
gen, und dass auch Pläne für die Finanzierung der
Kostensteigerungen zu erarbeiten sind. Das heißt, Nun, im Jahr 2010, ist man wieder bei Kostenplanun-
80 Prozent der Kosten sind von Euratom – und somit an- gen in Höhe von 7,2 Milliarden Euro gelandet. Es ist
teilig von Deutschland – und 20 Prozent von Frankreich also eine gewaltige Finanzierungslücke entstanden. Nie-
zu tragen. Aus dem 7. FRP würden insgesamt 2,1 Mil- mand weiß, ob bei Fortsetzung des Projektes und seines
liarden Euro für die Jahre 2012/13 benötigt. Zusätzlich Baus nicht weitere Anpassungen nach oben nötig wer-
zu den vorgesehenen 346 Millionen Euro für 2012 und den, zum einen infolge neuer Forschungserkenntnisse
den 344 Millionen Euro für 2013 besteht somit eine und zum anderem infolge neuer Reibungsverluste durch
Finanzierungslücke für diesen Zeitraum in Höhe von technische, bauliche, aber auch bürokratische Inkompa-
1,4 Milliarden Euro (550 Millionen Euro in 2012 und tibilitäten. Fakt ist: ITER bleibt für alle beteiligten Sei-
850 Millionen Euro in 2013). Ein Darlehen der Europäi- ten mit unabsehbaren finanziellen Risiken behaftet.
schen Investitionsbank oder die Umschichtung inner- Es gibt aber eine weitere Entwicklung, die ITER
halb des EU-Finanzierungsrahmens hält die Kommis- grundsätzlich infrage stellt, und das ist der Klimawan-
sion für nicht möglich. Vielmehr schlägt die Kommission del. 1985 war er noch kein öffentliches Thema. Heute
zwei Finanzierungsoptionen vor: Option I: zusätzliche aber haben uns sein Umfang und seine dramatischen
Beiträge der Mitgliedstaaten, Option II: Anhebung des Folgen eingeholt. Wir waren und sind gezwungen, umzu-
Finanzrahmens. denken und anders zu handeln.
(B) (D)
Das Problem wurde jetzt benannt, und wir sind aufge- Effektivität und Effizienz sind zu den entscheidenden
fordert, Lösungen zu erarbeiten. Sich aber jetzt aus dem Kriterien einer nachhaltigen Weichenstellung in unserer
Projekt zu verabschieden, ist für uns der falsche Weg. Energieerzeugung geworden. Zur Hauptfrage ist ange-
Vielmehr ist es wichtig, neu zu kalkulieren, Kostenfallen sichts des engen Zeitfensters, innerhalb dessen wir den
deutlich zu machen und das Projekt als wirkliches Zu- Klimawandel eindämmen wollen, geworden: Welchen
kunftsprojekt für nächste Generationen zu betrachten. Beitrag kann eine Technologie zur Reduzierung von kli-
Klar ist: ITER darf nicht zu einem „schwarzen Loch“ maschädlichen Emissionen in welcher Zeit und zu wel-
für Steuergelder verkommen. chen Kosten leisten? Vor dem Hintergrund dieser Aus-
Mitte Juni 2010 tagt der ITER-Rat, in dem die EU gangssituation hat die Linke dieses Mammutprojekt, so
durch die Kommission vertreten ist, um über die weite- spannend es aus wissenschaftlicher Sicht auch sein mag,
ren Schritte im ITER-Projekt zu entscheiden. Bis zu die- kritisch betrachtet.
sem Zeitpunkt müssen wir Lösungen vorweisen. Es ist Sollte ITER, wie geplant, 2018 zum ersten Mal Strom
aber unstrittig, dass das Fusionsforschungsprojekt ITER produzieren, wäre das wiederum der Startschuss für
von der Bundesregierung weiterhin befürwortet und un- weitere vorrangig öffentlich finanzierte milliarden-
terstützt wird. Die Entwicklungen werden aufmerksam schwere Demonstrationsprojekte, so auch für den Reak-
und kritisch beobachtet und analysiert. Deutsche Inte- tor DEMO. Von einer kommerziellen Nutzung ist man
ressen und die der übrigen Mitgliedstaaten müssen ge- dann allerdings immer noch 30 bis 40 Jahre entfernt.
genüber der EU-Kommission mit Nachdruck vertreten Vor 2050, so schätzen Experten, wird auch im Best-
werden. Case-Szenario kein Strom aus Kernfusion ins Netz kom-
Die FDP-Bundestagsfraktion appelliert an die bishe- men. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir jedoch längst
rigen Gegner von ITER: Setzen Sie sich in Ihren Frak- Maßnahmen für eine klimafreundliche Energieerzeu-
tionen für ITER ein und beenden Sie die Politik der klei- gung getroffen und umgesetzt haben, oder – um noch-
nen Messerstiche gegen die Fusionsforschung. mals Michail Gorbatschow zu bemühen –: „Wer zu spät
kommt, den bestraft das Leben.“
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Linke strebt, wie andere Fraktionen hier im Haus
Michail Gorbatschow kennt sich mit Fusionen aus. auch, eine vollständige Umstellung der Stromversor-
Er begleitete nicht nur die Fusion der beiden deutschen gung auf erneuerbare Energien an. Diese haben den
Staaten, sondern rief mit François Mitterrand und Vorteil, vor allem dezentrale Stromproduktion zu ermög-
Ronald Reagan auch das Kernfusionsprojekt ITER ins lichen. So können nicht nur Synergien, etwa bei der

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3947
Dr. Petra Sitte
(A) Kraft-Wärme-Kopplung oder der Verwertung von Bio- Generationen und ihre Lebensbedingungen, für das ge- (C)
masse, genutzt werden, auch die Abhängigkeit von Mo- samte Ökosystem Erde. Eine Nummer kleiner geht es bei
nopolstrukturen in der Energiewirtschaft ließe sich deut- der Tragweite dieses Megaprojektes nicht.
lich verringern.
Meine Fraktion kann dem Antrag der Grünen daher
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat am zustimmen.
Tag vor dieser Debatte in einer Stellungnahme bestätigt,
dass eine vollständige Umstellung auf erneuerbare
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Energien bis 2050 umsetzbar ist, wenn klare politische
Weichenstellungen erfolgen. Ich zitiere selbigen: „Die Große Ideen üben große Faszination aus: als Mensch
Politik muss die Zielrichtung eindeutig vorgeben. Wich- die Kraft der Sonne beherrschen, Grenzen überwinden
tig ist es, die systemischen Konflikte zwischen grundlast- und gemeinsam, ja völkerverbindend, für ein großes Ziel
basierten und erneuerbaren Systemen und die daraus forschen. Es ist ja nachvollziehbar, dass die damit Be-
entstehende Notwendigkeit einer Systementscheidung fassten solche Träume nicht den schnöden Realitäten
für die Öffentlichkeit transparent zu machen.“ Das Ver- opfern wollen. Aber wir hier im Bundestag müssen uns
sprechen auf die Zukunftsvision, die Kernfusion könne den Realitäten stellen. Wir müssen nicht nur über die zu-
uns von allen Energieproblemen der Welt erlösen, birgt künftige Energiestruktur, die Maßnahmen zum Klima-
die große Gefahr, dass wir nicht energisch genug die schutz entscheiden, wir sind auch verantwortlich, mit
notwendigen energetischen Weichenstellungen angehen den Steuergeldern unserer Mitbürgerinnen und Mitbür-
und uns vor der genannten Systementscheidung drü- ger redlich umzugehen.
cken. Tatsächlich ist die Fusionsforschung nichts als eine
Die schwarz-gelbe Koalition bremst jetzt bereits: unendliche Geschichte von Versprechen. Schon in den
nicht nur durch Pläne für längere Laufzeiten von Atom- 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts glaubte man, die
kraftwerken, nicht nur mit der überzogenen Kürzung der Kernfusion in 20 bis 30 Jahren für die Energienutzung
Einspeisevergütung im Rahmen des Energieeinspei- verfügbar machen zu können. Dieses durch alle Jahr-
sungsgesetzes, sondern auch durch stagnierende For- zehnte wiederholte Versprechen auf eine Zukunftsoption
schungsmittel im Bereich der erneuerbaren Energien. ist unter Naturwissenschaftlern als Fusionskonstante
Wer abseits von Sonntagsreden etwas zu den Initiativen bekannt: Es bleibt in der näheren Zukunft, ist zum Grei-
des Umweltministeriums in diesem Bereich erfahren fen nah; nur ein paar wissenschaftliche Wunder fehlen
will, hat Pech. Dessen Übersicht zur Forschung bei Er- zum Durchbruch.
neuerbaren auf der Ministeriumsseite verharrt auf dem Bisher gibt es kein Material, was radioaktives und
Stand Mai 2009. Ein Innovationsbericht für diesen Be- krebserregendes Fusionsplasma zurückhalten kann. (D)
(B)
reich ist zum letzten Mal im Januar 2009 erschienen. Durch freigesetzte Neutronen wird im Inneren des Reak-
Nach einer eindeutigen Prioritätensetzung für For- tors auch die Hülle, das sogenannte Blanket, radioaktiv
schung an nachhaltiger Energieerzeugung sieht das al- kontaminiert und brüchig und muss immer wieder aus-
les nun wirklich nicht aus. getauscht werden. Damit sind radioaktive Kontamina-
Wir können nur appellieren: Nehmen Sie die Verant- tion und strahlende Abfälle eines der Hauptprobleme
wortung an! ITER und die Fusionsforschung mögen dieser Technologie. Ein Drittel dieses Atommülls wäre
spannende wissenschaftliche Hypothesen überprüfen. langlebig und müsste in ein geologisches Endlager. Der
Wohl wahr. Aber zur Lösung unserer drängenden Pro- Traum von „unendlich viel Energie“ hat jedenfalls die
bleme tragen sie bestenfalls langfristig, schlechtesten- typischen Begleiterscheinungen einer Hochrisikotech-
falls niemals etwas bei. Beenden Sie die Teilnahme an nologie; von der Nähe zur Neutronen- oder Wasserstoff-
diesem Projekt, bevor es weitere Milliarden verschlingt, bombe, für die schon wenige Gramm Tritium reichen,
die heute weit effektiver für eine Energiewende einge- ganz zu schweigen.
setzt werden können.
Beim nach der internationalen Raumstation zweitteu-
Wir wissen, dass das Kündigen multilateraler Ver- ersten Forschungsvorhaben, dem ITER-Projekt, sind die
träge dieses Umfangs besonders kritisch zu prüfen ist. Kosten gerade explodiert. Für Europa heißt das 1,4 Mil-
Verlässlichkeit und Vertrauen sind durchaus bedeutende liarden Euro Mehrkosten alleine in den Jahren 2012/
Kriterien. Wir haben diese und die Komplexität des Pro- 2013. Mit ITER soll im südfranzösischen Cadarache
jektes bei unserer Prüfung berücksichtigt. Dabei muss- erstmals demonstriert werden, dass sich mit Fusion
ten wir auch feststellen, dass es bei dem gewaltigen Energie gewinnen lässt. 1985 wurde das Projekt ange-
Missverhältnis zwischen dem Engagement öffentlicher stoßen, für 2026 ist eine erste Fusion geplant. Falls
Haushalte und der Wirtschaft geblieben ist. ITER irgendwann funktioniert, soll mit dem Folgepro-
jekt DEMO im Versuchsmaßstab Elektrizität generiert
Veränderte Situationen zu analysieren, Folgen abzu- werden. Erst wenn auch DEMO seine Tests besteht, kann
schätzen und entschlossen zu reagieren, ist durchaus mit es an den Bau eines stromliefernden Fusionsreaktors ge-
veränderten Prioritätensetzungen verbunden. Dieser hen. 2055 soll es so weit sein. Die Fusionskonstante
Frage müssen sich auch die Koalitionsfraktionen stel- lässt grüßen. Bis dahin werden die Forschungskosten
len. Immerhin haben sich die umwelt- und finanzpoliti- auf mindestens 100 Milliarden Euro geklettert sein.
schen Bedingungen erheblich verschärft. Vor diesem
Hintergrund übernehmen wir mit unseren Förderent- Im Kampf gegen den Klimawandel könnte die Fu-
scheidungen auch Verantwortung für die nachfolgenden sionstechnik übrigens nicht helfen. Dieser Kampf wird

Zu Protokoll gegebene Reden


3948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Sylvia Kotting-Uhl
(A) nicht in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entschie- Überweisungsvorschlag: (C)
den, sondern in den nächsten Jahren. Selbst wenn die Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Fusionsenergie 2055 zur Verfügung stehen würde: Für Ausschuss für Arbeit und Soziales
die dann bereitzustellende Energieversorgung käme sie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
auf jeden Fall zu spät. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel. Es ist an der Interfraktionell wird auch hier vereinbart, die Reden
Zeit, das Notwendige zu tun und die Forscherkapazität zu Protokoll zu geben. Es handelt sich um die Reden
auf zukunftsverträgliche Lösungen zu lenken. Wir haben folgender Kolleginnen und Kollegen: Helmut Brandt,
nur eine Erde. Unser Lebensraum, ja selbst unser Leben Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Ulla Jelpke
sind begrenzt. Schon heute aber können wir die Kern- und Josef Philip Winkler.1)
fusion nutzen. Unser Fusionsreaktor ist die Sonne. Die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Sonne schickt uns genügend Energie auf die Erde. Sie ist den Drucksachen 17/1557 und 17/1571 an die in der Ta-
in jedem Land verfügbar. Wir müssen nur lernen, diesen gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Reichtum intelligent und naturverträglich zu nutzen. Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Dann sind
Die Kernfusionsforschung ist ein Milliardengrab. die Überweisungen so beschlossen.
Einer Forschung, die zukunftsfähige Lösungen sucht Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
und den vielfältig verfügbaren natürlichen Reichtum
sinnvoll nutzt, gehört die Zukunft – und in diese Zukunft Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
gehören die Forschungsmilliarden. Es ist Zeit, aus der richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
Fusionsforschung auszusteigen. nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Nicole Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, darauf Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
hinzuwirken, dass das ITER-Abkommen einvernehmlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
aufgehoben oder, falls dies nicht kurzfristig erreicht
werden kann, außerordentlich gekündigt wird, sowie un- Verbraucherfreundliche kostenfreie Warte-
verzüglich damit zu beginnen, die Fusionsforschungs- schleifen bei telefonischen Dienstleistungen
mittel aus dem Bundeshaushalt schrittweise auf die einführen
Erforschung der erneuerbaren Energien und der Ener- – Drucksachen 17/1029, 17/1549 –
gieeinsparung zu übertragen.
Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Bögel
(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge-
Drucksache 17/1433 an die in der Tagesordnung aufge- wiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden.
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- Kollegen: Lucia Puttrich, Martin Dörmann, Dr. Erik
schlossen. Schweickert, Caren Lay und Nicole Maisch.

Ich rufe die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:


Lucia Puttrich (CDU/CSU):
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Heute diskutieren wir den Antrag der Fraktion Bünd-
Korte, Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković und nis 90/Die Grünen: „Verbraucherfreundliche kosten-
weiteren Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE freie Warteschleifen bei telefonischen Dienstleistungen
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- einführen“. Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bünd-
derung des Aufenthaltsgesetzes (Bleiberechts- nis 90/Die Grünen: Sie wollen immer wieder den Ein-
regelung/Vermeidung von Kettenduldungen) druck erwecken, dass Sie allein zum Wohle des Verbrau-
chers handeln würden – so auch mit diesem Antrag.
– Drucksache 17/1557 –
Die unionsgeführte Bundesregierung hat die Proble-
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f) matik jedoch längst erkannt. Dies haben wir schon in
Rechtsausschuss unserem Koalitionsvertrag mit den Kolleginnen und
Ausschuss für Arbeit und Soziales Kollegen von der FDP festgeschrieben.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Dort können Sie nachlesen: „Wir wollen die Proble-
matik der unterschiedlichen Handhabung der Kosten-
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef verteilung bei Warteschleifen im Telefonverkehr auf de-
Philip Winkler, Memet Kilic, Volker Beck ren Praxistauglichkeit hin überprüfen.“ Und genau das
(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion werden wir tun.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie fordern in Ihrem Antrag eine gesetzliche Pflicht,
Für eine wirksame und stichtagsunabhängige Warteschleifen bei telefonischen Mehrwertdiensten, be-
gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufent- sonders bei den 0900- und 0180-Rufnummern, kostenlos
haltsgesetz
– Drucksache 17/1571 – 1) Anlage 9
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3949
Lucia Puttrich
(A) anzubieten. Sie begründen das unter anderem damit, verpflichtung der Wirtschaft hat zum Ziel, den Service zu (C)
dass Kunden bei Problemen unverhältnismäßig belastet verbessern.
würden. Es wäre besser, Sie hätten genauer hinge-
schaut: Im Gewährleistungs- oder Garantiefall können Neben Qualitätsstandards zur Ausbildung der Mitar-
Kunden die Kosten für die Servicehotline von dem beiterinnen und Mitarbeiter sind auch Kriterien zur Er-
dienstleistenden Unternehmen zurückfordern. reichbarkeit, zu Wartezeiten und zur Transparenz im Te-
lefonkontakt Kunde/Unternehmen festgelegt worden.
Aber in der Tat ärgern sich viele Verbraucherinnen Eine Reihe von Unternehmen hat inzwischen Service-
und Verbraucher über die Kosten bei Warteschleifen. nummern geschaltet, bei denen weder in einer Warte-
Das Thema Servicenummern muss man differenziert be- schleife noch bei der Serviceauskunft für den Kunden
trachten. Die Pauschalierung, dass Servicenummern mit Kosten entstehen. Die Unternehmen aus dem Bereich
kostenpflichtigen Warteschleifen generell nicht vertret- der Informations- und Kommunikationstechnologien ha-
bar wären, ist schlicht und einfach falsch. Grundsätzlich ben sich dabei verpflichtet, über die geltenden Preisan-
gilt: Eine Dienstleistung darf Geld kosten; sie muss die- sageverpflichtungen hinaus Kosteninformationen zu ge-
ses aber wert sein. ben. Dies ist ein wichtiger Schritt, der belegt, dass
Unternehmen auch durchaus bereit und in der Lage
Sie verlangen, dass Verbraucherinnen und Verbrau- sind, selbstständig Verbraucherinteressen zu berück-
cher erst dann für eine Mehrwertdienstrufnummer zah- sichtigen. Doch eine Selbstverpflichtung ist nicht immer
len, „wenn sie tatsächlich mit einem Berater verbunden ausreichend.
werden“. Dies ist technisch nicht einfach zu lösen, aber
es ist lösbar. Darauf werde ich gleich im Detail einge- An einer entscheidenden Stelle hat die Bundesregie-
hen. Denn auch an dieser Stelle tut sich bereits einiges. rung besonders im Bereich der 0180-Nummern nachge-
bessert. Für die 0180-Servicenummern hat die Bundes-
Lassen Sie mich zunächst einmal die tatsächliche Si- regierung schon Preisobergrenzen realisiert. Seit dem
tuation darstellen. Es gibt in der Bundesrepublik 1. März 2010 sind diese Änderungen gültig. Anrufe aus
Deutschland viele unterschiedliche Rufnummern, die dem Festnetz zu 0180-Nummern kosten maximal
von der Bundesnetzagentur vergeben werden. Der we- 14 Cent pro Minute und der gesamte Anruf maximal
sentlichste Unterschied zwischen den einzelnen Num- 20 Cent. Anrufe aus dem Mobilfunknetz zu 0180-Num-
mern – nämlich die Angabe und Ansage von entstehen- mern kosten nun höchstens 42 Cent pro Minute und der
den Kosten – ist in § 66 Telekommunikationsgesetz komplette Anruf maximal 60 Cent. Die gilt im Übrigen
geregelt. auch für die von Ihnen bemängelten Warteschleifen,
wenn eine 0180-Nummer angewählt wird. Hier ist der
Die Preisangabe, zum Beispiel auf Verpackungen Verbraucher bereits erheblich entlastet.
(B) oder in Anzeigen, ist schon heute generelle Pflicht für (D)
Mehrwertdienste (0800-, 118xy-, 0120-, 0900-, 0137-, Eine gesetzeskonforme Preisangabe für Bewerbun-
0180-Nummern sowie Kurzwahldienste). So können gen von diesen 0180-Rufnummern muss dem Rechnung
Kunden bereits vor dem Anruf erkennen, welche Kosten tragen. Schummeleien sind nicht zulässig und werden
ihnen durch den Anruf entstehen und ob sie unter diesen von der Bundesnetzagentur geahndet. Bei festgestellten
Konditionen die Verbindung nutzen wollen. Auch die Verstößen gegen die Preisangabe-/Preisansagepflicht
Preisansagepflicht vor Beginn der Verbindung besteht schreitet die Bundesnetzagentur wegen Rufnummern-
bereits heute für die sogenannten sprachgestützten Pre- missbrauchs ein.
miumdienste, insbesondere die 0900-Nummern. So kann
Anfänglich wurde den Ende 2007 in Kraft getretenen
der Kunde hier noch vor Eintritt in das Gespräch oder
Preisangabepflichten in der Werbung, sowohl in Print-
gegebenenfalls die Warteschleife entscheiden, ob er das
medien, in Funk und Fernsehen als auch im Internet,
Angebot nutzen will.
nicht ausreichend nachgekommen. Das ist richtig. Die
Für uns als christlich-liberale Koalition kommt es auf Bundesnetzagentur hat jedoch zeitnah in einer Vielzahl
eines besonders an: Der Verbraucher hat das Recht, zu von Fällen Abmahnungen ausgesprochen oder die be-
entscheiden, welches Angebot er nutzen möchte. Hier treffenden Rufnummern konsequent abgeschaltet.
können die Verbraucherinnen und Verbraucher mit dem Es ist falsch, dass die Verbraucher ohne den Antrag
Telefonhörer abstimmen. Viele Unternehmen in der Grünen schutzlos wären. Die Bundesregierung han-
Deutschland wissen, dass kurze Warteschleifen zum delt – und das nicht erst seit Ihrem Antrag. Gerade die
Kundendienst gehören. In Form einer Selbstverpflich- Frage der Abzocke in Warteschleifen akzeptieren wir
tung haben sich bedeutende Unternehmen dazu erklärt. nicht. Ressortübergreifend hat auch Ministerin Ilse
Ich zitiere aus dem Leitfaden für eine verbraucher- Aigner immer wieder darauf hingewiesen und das
freundliche Kundenbetreuung, der auf der Homepage Thema mit Nachdruck ins politische Bewusstsein ge-
des Wirtschaftsministeriums abgerufen werden kann: rückt.
„Die hier mitzeichnenden Unternehmen erklären aber
klar, dass sie mit den Warteschleifen kein Geld verdienen Ein erster Schritt ist durch die Bundesnetzagentur be-
wollen.“ Der Leitfaden ist in Zusammenarbeit mit reits ermöglicht worden, indem eine Änderung der Ab-
Unternehmen der Informations- und Kommunika- rechnungsverfahren erfolgt. Bisher konnte bei den 0180-
tionstechnologien im Rahmen des von der Bundeskanz- Nummern nur das sogenannte Onlinebilling genutzt
lerin initiierten Zweiten Nationalen IT-Gipfels 2007 werden; nun soll das Verfahren des Offlinebilling mög-
verabschiedet worden. Die darin aufgenommene Selbst- lich werden. Beim Onlinebilling kann bei der Abrech-

Zu Protokoll gegebene Reden


3950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Lucia Puttrich
(A) nung nicht zwischen Gespräch und Warteschleife unter- Der Weg muss ein anderer sein als der, den Sie vor- (C)
schieden werden. Beim Offlinebilling hingegen schon. schlagen. Denn in einer zunehmend komplexeren und di-
Damit besteht die Möglichkeit, erst dann eine Dienst- gitalisierten Welt kommt es immer stärker darauf an,
leistung abzurechnen, wenn diese tatsächlich erbracht dass die Kunden selbstbestimmt handeln. Daher müssen
wurde. Dies ist ein erster entscheidender Teilerfolg. wir einen Beitrag zu Transparenz und Information leis-
Durch die Einführung einer neuen Nummerngasse ten – und daran arbeiten wir.
(0180-0) wird es für das abzurechnende Unternehmen Ihr Antrag ist schlichtweg überflüssig. Die Entschei-
ersichtlich sein, ob in der bestehenden Verbindung ein dung, ob Mehrwertdienste angeboten werden, unterliegt
Gespräch geführt wurde, das heißt, ob eine Dienstleis- allein den dienstleistenden Unternehmen und nicht den
tung erbracht wurde oder der Kunde sich in einer War- Telekommunikationsanbietern. Die Branche selbst hat
teschleife befindet. Diese Veränderung ermöglicht den die Problematik erkannt. Die Bundesregierung arbeitet
Unternehmen den Weg hin zu kostenfreien Warteschlei- an Verbesserungen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag
fen. ab.
Die Bundesregierung wird diese Frage auch im Rah-
men der anstehenden Novelle zum Telekommunikations- Martin Dörmann (SPD):
gesetz zur Umsetzung der europäischen Änderungsricht- Wer kennt das Problem nicht: Es gibt Schwierigkeiten
linien erörtern. Im Zuge dieser Novelle soll die mit einem Haushaltsgerät und man will die telefonische
Bundesnetzagentur ermächtigt werden, umfassende Ver- Serviceauskunft des jeweiligen Unternehmens nutzen.
braucherschutzanforderungen durchzusetzen. So soll die Im besten Fall wird man schnell mit einer kundigen
Pflicht zur Information über Preise verstärkt, der Anbie- Fachkraft verbunden und erhält eine passende Antwort
terwechsel erleichtert und sollen die Möglichkeiten der auf die drängende Frage, damit das Gerät wieder rich-
Ausdehnung der Streitschlichtung geprüft werden. tig funktioniert.

Das Wirtschaftsministerium und das Verbraucher- Doch es gibt leider viel zu oft auch die gegenteilige
schutzministerium erarbeiten gerade gemeinsam einen Erfahrung. Man wartet minutenlang, ehe man dran-
Gesetzentwurf. Hier wird schließlich nicht nur die Frage kommt, weil das Unternehmen Geld für Mitarbeiter ein-
der Warteschleifen, sondern auch die der Preisansage sparen will. Oder man muss sich erst mühsam durch eine
bei Call-by-call-Anrufen untersucht. Denn leider gibt es komplizierte Bandansage quälen, ehe man den richtigen
Gesprächspartner hat. Dies kostet die Anrufer nicht nur
auch hier schwarze Schafe, die den Verbraucher täu-
Zeit und Nerven, sondern auch noch Geld. Denn abge-
schen und kurzfristig Preisänderungen vornehmen, ohne
rechnet wird das Telefonat von Beginn an und nicht erst
diese den Verbrauchern zu kommunizieren.
(B) ab dem Zeitpunkt, an dem das eigentliche Informations- (D)
Im Zuge der Novellierung des TKG werden mehrere oder Beratungsgespräch beginnt.
Bereiche neu geregelt. Es ist purer Populismus, dass Sie Die Mehrzahl der Unternehmen arbeitet wohl seriös
nun mit diesem Antrag einen einzelnen Punkt heraus- und versteht guten Kundenservice zu Recht als wichti-
greifen. Wir werden nicht allein die Warteschleifen, son- gen Wettbewerbsvorteil, und die Verbraucherinnen und
dern auch die Preisansagen bei Call-by-call-Anrufen Verbraucher haben sicherlich auch Verständnis dafür,
prüfen. wenn sie in Spitzenzeiten einige Sekunden warten müs-
sen. Aber leider gibt es noch immer zu viele Unterneh-
Eines sollte man festhalten: Letztendlich entscheidet men, die meinen, sie könnten ihre Kunden minutenlang
der Kunde darüber, welches Angebot er nutzt. Die an der langen Leitung zappeln lassen. Diese Telefonab-
Macht des Verbrauchers muss an dieser Stelle auch ein- zocke ist mehr als ärgerlich und muss ein Ende haben.
mal deutlich herausgestellt werden. Ein gutes Beispiel
ist folgendes: Ein Verbraucher entscheidet sich für ein Bei den Servicenummern handelt es sich insbeson-
Konto einer Direktbank, für das keine Kontoführungsge- dere – aber nicht nur – um die Rufnummerngassen der
bühren anfallen. Damit kann jedoch verbunden sein, 0180-Service-Dienste und 0900-Premium-Dienste, die
dass er weitere Leistungen gesondert berechnet be- unterschiedlich hohe Kosten verursachen können. Bei
kommt. Wenn zum Beispiel für die Servicehotline hohe den 0900-Nummern können immerhin bis zu 3 Euro pro
Entgelte gezahlt werden müssen, muss dies dem Kunden Minute abgerechnet werden.
allerdings transparent dargestellt werden. Gute Dienst- Warteschleifen sollten grundsätzlich kostenlos sein.
leistungen dürfen auch berechnet werden. Es kann des- Diese Zielsetzung im Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
halb keine Pflicht zum Anbieten kostenloser Dienstleis- nen, den wir heute beraten, teilen wir.
tungen geben. Allerdings müssen die Entgelte hierfür
transparent und angemessen sein. Die SPD-Bundestagsfraktion wollte das Problem be-
reits in der letzten Legislaturperiode entsprechend
Was wir in jedem Fall wollen und realisieren werden: lösen. Damals ging es in der Großen Koalition um die
Es muss eine klare Preistransparenz geben, die es den Novellierung des Telekommunikationsgesetzes, um mehr
Verbrauchern ermöglicht, sich für oder gegen eine Verbraucherschutz zu verankern. Ein gutes Beispiel
Dienstleistung zu entscheiden. Denn nur ein informier- hierbei sind die 0180-Rufnummern. Es war wichtig,
ter Bürger kann verantwortliche Entscheidungen treffen. diese Rufnummerngasse so auszugestalten und zu struk-
Ich sagte es bereits: Unser Leitbild ist das des mündi- turieren, dass die Anrufenden wissen, welche Kosten bei
gen, informierten und aufgeklärten Verbrauchers. der Nutzung auf sie zukommen. Neu geregelt wurde

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3951
Martin Dörmann
(A) beispielsweise damals auch eine Preishöchstgrenze für Gesetzentwurf vorlegen, um kostenfreie Warteschleifen (C)
Anrufe aus dem Mobilfunknetz und ein verbesserter zu schaffen. Dieser müsste beispielsweise eine klare
Schutz vor untergeschobenen Verträgen. Definition einer „Warteschleife“ enthalten, die notwen-
digen technischen Voraussetzungen regeln und dabei
Das Bundeswirtschaftsministerium hatte aber in den sowohl den wirtschaftlichen Erfordernissen als auch
seinerzeitigen Beratungen vorgetragen, dass kostenfreie den notwendigen Verbraucherschutzaspekten Rechnung
Warteschleifen technisch nur schwer umsetzbar seien, tragen. Auch die unterschiedlichen Aspekte von Festnetz
zumindest aber noch erheblicher Prüfungsbedarf und Mobilfunk sind zu lösen. Ich weiß, dass es derzeit
bestehe. Um andere verbraucherschützende Regelungen Gespräche in der TK-Branche gibt, um solche Fragen zu
zügig zu verabschieden, haben wir damals auf eine diskutieren. Es wäre gut, wenn konstruktive Vorschläge
gesetzliche Regelung vorerst verzichtet und diese auf von den TK-Unternehmen und -Verbänden erarbeitet
„Wiedervorlage“ für die nächste Novellierung gelegt. werden, die mit aufgegriffen werden könnten, soweit sie
Da eine solche demnächst ansteht, ist nun der rich- zielführend sind. Umgekehrt darf es aber nicht sein, dass
tige Zeitpunkt, das Thema wieder aufzugreifen, zumal eine Lösung des Problems auf die lange Bank geschoben
unsere damalige Hoffnung, die Branche würde Lösun- wird. In einer gesetzlichen Regelung könnten ausrei-
gen finden, um das Problem selbst in den Griff zu chende Übergangsfristen für die technische Umstellung
bekommen, bislang nicht erfüllt wurde. Auch die SPD- vorgesehen werden.
Fraktion hat deshalb die Warteschleifen in ihr
Eines ist klar: Der Telefonabzocke unseriöser Unter-
Arbeitsprogramm aufgenommen und arbeitet derzeit an
nehmen muss ein Riegel vorgeschoben werden, vor allen
einem eigenen Antrag. Vor diesem Hintergrund werden
um Verbraucherinnen und Verbraucher zu schützen,
wir uns beim Antrag der Grünen enthalten. Denn wir
aber letztlich auch im Interesse derjenigen seriösen Un-
sehen durchaus noch Klärungsbedarf im Hinblick auf
ternehmen, die erkannt haben, dass wir besseren Service
die technische Umsetzung. Anders als es im Antrag der
brauchen – und nicht höhere Telefonrechnungen.
Grünen steht, ist diese nicht ganz unproblematisch,
wenn auch am Ende wohl zu lösen.
Dr. Erik Schweickert (FDP):
Konkret geht es beispielsweise um die Unterschei- Für viele Verbraucher wird der Anruf bei einer Ser-
dung zwischen den 0180- und den 0900-Rufnummern- vicehotline zu einem nervenaufreibenden und teuren
gassen. Man muss dabei differenzieren zwischen dem so- Warteakt. Im schlimmsten Falle fliegt der Anrufer sogar
genannten Onlinebilling und dem Offlinebilling. Beim irgendwann mit dem Hinweis aus der Leitung, noch im-
Onlinebilling verhält es sich so: Der Anrufer ruft eine mer seien alle Berater im Gespräch, man solle es später
0180-Servicenummer an. Das Gespräch läuft über einen wieder versuchen. Dies ist insbesondere bei 0180er- und
(B) Netzbetreiber, etwa die Deutsche Telekom, und landet 0900er-Nummern ein kostenintensives Ärgernis. Dies ist (D)
dann bei einem Callcenter des betroffenen Geräteher- nicht weiter hinnehmbar.
stellers, von dem man Hilfe erfragen will. Die Gebühren
fallen hier bereits beim Zustandekommen der Verbin- Ob bei Telefonanbietern, Kabelanbietern, bei Pay-
dung bei der Telekom an. Diese hat aber weder einen TV-Anbietern, Reparaturhotlines von Firmen – überall
Einfluss darauf, wann jemand im Callcenter das Ge- lauern die Kostenfallen bei den Warteschleifen. Manch-
spräch annimmt, noch kann sie die Wartezeit irgendwie mal leiten sogar 0180er-Nummern auf alternative Fest-
selbst ermitteln. Umgekehrt kann aufseiten des Callcen- netznummern um, obwohl den Kunden die Mehrkosten
ters die konkrete Gesprächszeit nicht erfasst werden. So- einer 0180er-Nummer in Rechnung gestellt werden. Da-
mit liefe in diesem Fall eine gesetzliche Regelung ins her hat sich im Internet bereits ein florierendes Websei-
Leere. tenangebot entwickelt, das die zur 0180er-Nummer ge-
hörende Festnetznummer offenlegt.
Anders beim Offlinebilling: Hier werden die Telefon-
gebühren, die dem Kunden in Rechnung gestellt werden, Fest steht: Die Warteschleifenabzocke bei Sonder-
anders ermittelt und abgerechnet. Vonseiten des nummern müssen wir beenden. Aus meinen Gesprächen
Diensteanbieters, der sich des Callcenters bedient, wird mit dem Bundewirtschaftsminister weiß ich, dass derzeit
dem Netzbetreiber mitgeteilt, welcher Anteil der Tele- im Bundeswirtschaftsministerium über Lösungen nach-
fonrechnung dem Anrufer in Rechnung gestellt werden gedacht und der Dialog mit der Wirtschaft geführt wird.
soll und welcher von ihm selbst getragen wird. Tech-
nisch kann dieses Offlinebilling bereits heute bei den Grundsätzlich muss es aber jedem Unternehmen frei-
0900er-Nummern, nicht jedoch bei den 0180er-Num- stehen, wie es seine Serviceleistungen ausgestaltet. Und
mern angewendet werden. Derzeit ist die Bundesnetz- ich habe auch grundsätzlich gar nichts dagegen, wenn
agentur dabei, die technischen Voraussetzungen zu prü- Unternehmen mit ihrer Servicehotline kostenpflichtige
fen, damit das Offlinebilling auch bei der 0180er- Rufnummern schalten. Aber es muss eine Leistung da-
Nummerngasse umgesetzt werden kann. hinterstehen. Die Serviceleistung darf dann auch ruhig
teuer sein. Dem Unternehmen muss es freistehen, wie es
Die Bundesregierung steht in der Pflicht, die noch seinen Service ausgestaltet. Manch ein Unternehmen
offenen technischen Fragen endlich zügig anzugehen mag für ein Produkt oder eine Dienstleistung ein höhe-
und zu entscheiden. Wir haben bislang viele Ankündi- res Entgelt verlangen, dafür aber eine kostenfreie Ser-
gungen gehört, etwa von Ministerin Aigner, aber nur vicehotline anbieten. Dagegen bietet ein anderes Unter-
wenig konkrete Taten gesehen. Konsequentes Handeln nehmen ein Produkt oder eine Dienstleistung zu einem
ist gefragt. Die Bundesregierung sollte zeitnah einen niedrigeren Preis an, dafür entstehen aber für weitere

Zu Protokoll gegebene Reden


3952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

Dr. Erik Schweickert


(A) Serviceleistungen per Telefon deutlich höhere Kosten. branche freiwillig selbst verpflichtet. Leider hat sie es (C)
Dagegen ist nichts einzuwenden, denn der Kunde hat bis heute nicht umgesetzt.
aufgrund der verschiedenen Geschäftsmodelle der An-
bieter auch selbst die Wahlmöglichkeit, ob er lieber ei- Die Erfahrungen der Verbraucherzentralen mit der
nen höheren Grundpreis oder eben Mehrkosten im Ser- Selbstverpflichtung der Unternehmen sind ernüchternd:
vicefall tragen will. Eine Stichprobe der Verbraucherzentrale Nordrhein-
Westfalen vom vergangenen Jahr ergab, dass nur zwei
Aber eine Warteschleife ist nun einmal keine Service- von 60 Unternehmen eine kostenlose 0800-Nummer an-
leistung. Daher schafft die Bundesnetzagentur derzeit bieten. Während ungefähr ein Viertel der Unternehmen
im Rahmen des Rufnummernmanagements Vorausset- wenigstens eine Ortsnetzvorwahl oder Sparvorwahlen
zungen, die es ermöglichen, 0180er-Rufnummern bei ermöglichen, drängen zwei Drittel der Firmen ihre Kun-
Warteschleifen kostenfrei zu schalten. Derzeit ist es den in teure Sondernummern. Dabei sind technische
nämlich nicht möglich, bei der Abrechnung durch den Probleme für die Trennung zwischen kostenpflichtiger
Rufnummernanbieter zu unterscheiden, ob ein Anrufer Auskunft und kostenfreier Warteschleife längst keine
sich in einer Warteschleife befand oder ob dieser bereits Ausrede mehr. Denn für diese Probleme gibt es mittler-
mit einem Kundenbetreuer verbunden worden war. Die weile eine Lösung. Wenn ein Unternehmen verbraucher-
Möglichkeit zum sogenannten Offlinebilling wird aber freundlich sein will, dann kann es bereits heute eine kos-
im Zuge der Umstellung der 0180er-Nummern erfolgen. tenlose Servicenummer anbieten.
Solange eine solche technische Möglichkeit aussteht,
kann eine gesetzliche Verpflichtung für den gesamten Dass das so gut wie gar nicht passiert, zeigt doch
Bereich der 0180er-Rufnummern nicht greifen. deutlich, dass Selbstverpflichtungen der Wirtschaft in
der Praxis nichts bringen. Insbesondere in Bereichen, in
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen denen Dumpingpreise den Wettbewerb beherrschen,
birgt darüber hinaus einige Unschärfen bei der Konno- werden sich freiwillige Lösungen niemals durchsetzen,
tation der „telefonischen Mehrwertdienste“. Denn Sie wenn sie die Unternehmen Geld oder Profit kosten. Die
wissen ja sicherlich auch, dass es deutliche Unter- Strategie der Bundesregierung greift deshalb viel zu
schiede zwischen den einzelnen Servicenummern gibt. kurz. Wir brauchen verbindliche, gesetzlich festgelegte
So existieren beispielsweise für 0137er-Nummern be- Regelungen statt unverbindlicher freiwilliger Verspre-
reits Festpreise pro Anruf, zum Beispiel bei TV-Votings chungen, an die sich kaum ein Unternehmen hält. Aber
mit der Sicherheit der Durchstellung. Bei diesen Ruf- auch außerhalb der Wirtschaft zählt Kundenservice
nummern findet also eine Warteschleifenabzocke schon nicht viel. Wer als Erwerbsloser bei der Agentur für Ar-
heute nicht statt. Und auch bezogen auf die 0180er- beit anruft und seinen sogenannten Kundenberater spre-
(B) Nummern ist Ihr Antrag in gewisser Weise überholt. chen will oder muss, der zahlt kräftig: 3,9 Cent pro Mi- (D)
Denn seit dem Inkrafttreten von Änderungen des Tele- nute, Das klingt zunächst nicht teuer. Bleibt man
kommunikationsgesetzes am 1. März 2010 gelten auch allerdings in der Warteschleife des Callcenters hängen
für die Nummernbereiche 0180-2 und 0180-4 Festpreise oder ruft vom Handy aus dort an, dann kann es richtig
von 6 Cent pro Minute bzw. 20 Cent pro Minute. teuer werden. Denn Handytelefonate sind 11-mal so
teuer wie Anrufe aus dem Festnetz und schlagen mit
Aber nicht nur bei teuren, sondern auch bei kostenlo- 42 Cent pro Minute zu Buche. Die Arbeitsagentur wählt
sen Servicehotlines sind lange Wartezeiten in Warte- damit die absolute Obergrenze: Mehr wäre gesetzlich
schleifen ein Ärgernis für die Verbraucher. Daher appel- verboten.
liere ich an die Unternehmen, die Voraussetzungen zu
schaffen, um die Zeit in den Warteschleifen grundsätz- Die Bundesnetzagentur hat für Anrufe mit dem Handy
lich möglichst gering zu halten. bei Servicediensten (0180er-Nummern) derzeit einen
Höchstpreis von 42 Cent pro Minute bzw. 60 Cent pro
Seien Sie gewiss: Die schwarz-gelbe Koalition wird Anruf festgesetzt. Ruft man aus dem Festnetz eine Ser-
sich weiterhin dafür einsetzen, dass der Verbraucher am vicenummer an, werden maximal 14 Cent pro Minute
Telefon nicht abgezockt wird. Wenn die technische Rea- bzw. 20 Cent pro Anruf fällig. Das ist zwar immer noch
lisierbarkeit gegeben ist, werden wir entsprechende wei- zu viel, und eine Obergrenze von 10 Cent wäre angemes-
tere Schritte unternehmen. Eine gesetzliche Pflicht vor sener, aber ich möchte auf einen anderen Punkt hinwei-
der technischen Realisierbarkeit einzuführen, lehnen sen: Denn bei der heutigen technischen Entwicklung ist
wir jedoch ab. für uns als Linke die Unterscheidung zwischen Festnetz-
und Handypreisen absolut unangemessen. Viele Ver-
Caren Lay (DIE LINKE):
braucherinnen und Verbraucher haben nicht zuletzt aus
Kostengründen gar keinen Festnetzanschluss mehr, son-
Das Problem kostenintensiver Warteschleifen ist dern telefonieren nur noch mit dem Handy. Die unter-
nicht neu. Bereits beim dritten nationalen IT-Gipfel schiedlichen Preise für Anrufe bei Servicenummern sind
2008 haben sich Bundesregierung, Industrie und Ver- nicht zu begründen und dienen nur den Telekommunika-
braucherverbände auf einen Leitfaden für eine verbrau- tionsanbietern. Warum sollten diese freiwillig auf die
cherfreundliche Kundenbetreuung verständigt. Die War- Gewinne aus überhöhten Minutenpreisen verzichten?
tezeiten in den Schleifen sollten reduziert, und über
deren voraussichtliche Dauer sollte vorab informiert Ich möchte noch ein weiteres Thema ansprechen, bei
werden. Warteschleifen sollten auch kostenlos sein. Da- dem sich insbesondere Telekommunikationsunterneh-
rauf – und auf mehr – hat sich die Telekommunikations- men auch nicht gerade mit Ruhm bekleckern. Das ist das

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3953
Caren Lay
(A) Thema Störungsmeldungen, bei dem man ja auch sehr nige deutsche Firmen handhaben das so. Technisch ist (C)
gerne Bekanntschaft mit Warteschleifen macht. Wenn diese verbraucherfreundliche Regelung also ohne Pro-
die Festnetzleitung nicht funktioniert, müssen Kundin- bleme möglich.
nen und Kunden mit dem Handy zu einem noch teureren
Verbindungstarif den Servicedienst anrufen. Und wer Nachdem wir im Dezember durch unsere Erhebung
hat nicht schon mal die Erfahrung gemacht, dass die te- herausfanden, dass die Abzocke über Warteschleifen re-
lefonische Klärung lange dauern kann. Deshalb fordern gelmäßig vorkommt, hat auch Verbraucherministerin
wir: Störungsmeldungen müssen kostenfrei sein. Denn Aigner dieses Thema medial für sich entdeckt. So konn-
Unternehmen müssen im Rahmen ihrer Schadensersatz- ten wir unter anderem am 10. April in der „Welt“ lesen:
pflichten die Kosten für eigenes Leistungsversagen tra- „Aigner poltert gegen Warteschleifen – und Red Bull. …
gen. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wissen Wer Anrufer zu lange zappeln lässt, soll dafür kein Geld
das aber nicht, oder es ist ihnen zu aufwendig, eine Kos- verlangen dürfen.“
tenrückerstattung zu verlangen. Leider verhält es sich hier wie bei so vielen anderen
Die Bundesregierung muss endlich handeln, damit Verbraucherthemen auch: Außer Pressemeldungen ha-
Verbraucherinnen und Verbraucher nicht länger zur ben die Verbraucher von Frau Aigner nicht viel zu er-
Kasse gebeten werden. Unternehmen müssen deshalb warten. Besonders erstaunt waren wir jedoch über die
gesetzlich verpflichtet werden, kostenlose Warteschlei- Reaktion der Koalitionskolleginnen und -kollegen im
fen und auch kostenfreie Störungshotlines anzubieten. Verbraucherausschuss in der letzten Sitzungswoche.
Außerdem werden schnell weitere Schritte folgen müs- Denn der Antrag traf zwar auf allgemeinen inhaltlichen
sen, um die überfällige und dringend notwendige Stär- Konsens. Aber leider haben CDU/CSU und FDP trotz-
kung der Verbraucherrechte im Telekommunikationsbe- dem geschlossen dagegengestimmt und damit auch ge-
reich voranzubringen. gen ihre eigene Ministerin. Die Begründungen für das
Stimmverhalten waren fadenscheinig. Die Ministerin sei
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ja eigentlich gar nicht zuständig, man wolle keine Ein-
zelprobleme per Gesetz lösen usw.
Wir beraten heute unseren grünen Antrag „Verbrau-
cherfreundliche kostenfreie Warteschleifen bei telefoni- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, bitte
schen Dienstleistungen einführen“. Grundlage für wiederholen Sie diese kleinliche und inhaltlich falsche
diesen Antrag sind unsere beiden Erhebungen aus dem Entscheidung heute nicht, sondern beenden Sie die poli-
Dezember 2009 und April 2010, die zu ärgerlichen Er- tischen Spielchen und stimmen Sie dem grünen Antrag
gebnissen führten. zu. Handeln Sie im Interesse der Verbraucherinnen und
Bei Debitel und Alice hängt der Kunde durchschnitt- Verbraucher und lassen Sie Frau Aigner nicht als An-
(B) kündigungsministerin stehen. (D)
lich drei bis sechs Minuten in der Warteschleife, beim
DSL-Anbieter Alice einmal sogar unglaubliche, kosten-
pflichtige 18 Minuten. Auch die Billigairline Easyjet Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
lässt ihre Kunden gerne in der teuren Warteschleife hän- Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss
gen: Dort bezahlt man für die völlig überflüssige Band- für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
ansage schon 1,50 Euro. schlussempfehlung auf Drucksache 17/1549, den Antrag
Bei vielen Unternehmen gehören lange Warteschlei- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
fen offenbar zum Geschäftsmodell. Es werden Millionen 17/1029 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
Euro damit verdient. Die Zeche zahlen die zu Recht ge- empfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die
nervten Verbraucher, die keine Gegenleistung dafür er- Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den
halten. Die freiwillige Selbstverpflichtung vom 20. No- Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
vember 2008, die im Rahmen des IT-Gipfels entwickelt der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
wurde, entfaltet in der Praxis keine Wirkung. Eines ihrer Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Fraktion.
Hauptziele war die gute Erreichbarkeit, also kurze War-
Damit sind wir auch schon am Schluss der heutigen
tezeiten und die Bereitstellung kostenloser Warteschlei-
Tagesordnung. Sie haben sich nach einem arbeitsreichen
fen von Kundenhotlines. Zwei Jahre später müssen wir
langen Tag heute Abend noch ein paar schöne, ange-
leider feststellen, dass viele Unternehmen es nicht ernst
nehme Stunden verdient. Diese wünsche ich Ihnen.
damit meinen. Deshalb muss die Abzocke durch lange
und kostenpflichtige Warteschleifen endlich gesetzlich Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
verboten werden. destages auf morgen, Freitag, den 7. Mai 2010, 9 Uhr,
Wir Grüne fordern deshalb, dass Verbraucher erst ein.
dann für ein Gespräch zahlen müssen, wenn sie auch Ich schließe die Sitzung.
tatsächlich mit einem Mitarbeiter verbunden sind. In
Frankreich gibt es diese Regelung längst, und auch ei- (Schluss: 21.53 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3955

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Gesetzes dennoch nicht zustimmen, weil die in der No-


velle festgelegte Kürzung der Solarstromförderung in we-
Liste der entschuldigten Abgeordneten sentlichen Teilen zwar durchaus notwendig, aber nicht
angemessen ist.
entschuldigt bis Als nicht angemessen beurteile ich die Höhe der De-
Abgeordnete(r) einschließlich
gressionsschritte, die kurzen Fristen, durch die Unterneh-
men und Privatinvestoren Planungssicherheit entzogen
Becker, Dirk SPD 06.05.2010 und damit Investitionen und Arbeitsplätze gefährdet
werden. Es entsteht ein unnatürlicher Nachfrageboom bis
Behm, Cornelia BÜNDNIS 90/ 06.05.2010 zur beginnenden Förderungsminderung, der durch einen
DIE GRÜNEN für 2010 nicht zeitgleich mit Beginn der Degressionsver-
schärfung startenden Beobachtungszeitraum die Förde-
Binder, Karin DIE LINKE 06.05.2010 rungshöhe für 2011 noch einmal überproportional absin-
ken lassen wird. Die in letzter Minute noch veränderten
Binding (Heidelberg), SPD 06.05.2010 Degressionsschritte je nach Zubauhöhe werden die dras-
Lothar tischen Förderabsenkungen nicht kompensieren können.

Brinkmann SPD 06.05.2010 Bei der Ausnahmeregelung der Förderstopps für So-
(Hildesheim), laranlagen auf Ackerflächen wurden zwar Gewerbe- und
Bernhard Industriegebiete – § 8 und 9 Baunutzungsverordnung –
berücksichtigt, nicht jedoch die unter § 11 Punkt 8 ge-
Bulmahn, Edelgard SPD 06.05.2010 nannten Sondergebiete zur Erprobung und Erforschung
regenerativer Energien. Ausgerechnet diese Gebiete
Connemann, Gitta CDU/CSU 06.05.2010 nicht in die Ausnahmeregelung aufzunehmen, ist gera-
dezu kurios.
Ernst, Klaus DIE LINKE 06.05.2010
Außerdem gewährleisten die Fristen für den Be-
Dr. Ott, Hermann BÜNDNIS 90/ 06.05.2010 schluss eines Bebauungsplans, Satzungsbeschluss vom
DIE GRÜNEN 25. März 2010, keinen hinreichenden Vertrauensschutz
(B) für bereits seit längerer Zeit in Planung befindliche Pro- (D)
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 06.05.2010 jekte. Angesichts der regelmäßigen Verfahrensdauer zur
DIE GRÜNEN Aufstellung derartiger Bebauungspläne von üblicher-
weise sieben bis neun Monaten bis zur förmlichen Be-
Schmidt (Eisleben), SPD 06.05.2010 schlussfassung ist die Stichtagsregelung nicht realistisch.
Silvia Dadurch werden zahlreiche – teilweise vorfinanzierte –
Projekte nicht umgesetzt werden können.
Scholz, Olaf SPD 06.05.2010
Ingbert Liebing (CDU/CSU): Dem Gesetzentwurf
Dr. Schröder, Kristina CDU/CSU 06.05.2010 stimme ich nur mit Bedenken zu. Dabei lasse ich mich
von einer Gesamtabwägung der positiven Elemente dieses
Werner, Katrin DIE LINKE 06.05.2010 Gesetzentwurfes mit insbesondere einem gewichtigen
negativen Aspekt leiten.
Zapf, Uta SPD 06.05.2010
Die grundsätzliche Zielsetzung dieses Gesetzentwurfes,
eine unstrittig gegebene Überförderung der Solarenergie
Anlage 2 bzw. Fotovoltaik abzubauen, unterstütze ich uneinge-
schränkt. Auch aus persönlichen Gesprächen mit Unter-
Erklärungen nach § 31 GO nehmen aus der Branche habe ich den Eindruck gewon-
nen, dass diese Absenkung nicht nur akzeptabel, sondern
zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf zwingend notwendig ist. Die Größenordnung der zusätz-
eines … Gesetzes zur Änderung des Erneuer- lichen einmaligen Degression halte ich ebenfalls für die
bare-Energien-Gesetzes (Tagesordnungspunkt 6 a) Branche für darstellbar, ohne dass es zu einem Zusam-
menbruch der Solarförderung kommt. Ich bin überzeugt
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Mein Votum lau- davon, dass auch mit diesem Gesetzentwurf der ange-
tet Enthaltung. peilte Zubau von jährlich 3 500 Megawatt erzielbar sein
wird.
Positiv zu bewerten ist, dass im Zuge der Gesetzgebung
durch die Änderung der Einspeisevergütung die Förderung Den vollständigen Ausschluss landwirtschaftlicher
des Eigenverbrauchs gestärkt sowie ein Innovations- und Nutzflächen aus der Vergütung für Freiflächenanlagen
Forschungsprogramm auf den Weg gebracht wurde. Ich halte ich zwar sachlich nicht für zwingend notwendig
kann dem Gesetz zur Änderung des Erneuerbare-Energien- oder für sachlich geboten, da ich viele Projekte kenne, in
3956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) denen ohne gravierende Flächenkonkurrenz bei einer ex- geboten erachte, auch wenn ich die gefundene Kompro- (C)
tensiveren Fotovoltaiknutzung auch eine Kombination misslinie beim Vertrauensschutz als nicht ausreichend
mit landwirtschaftlichen oder Naturschutzinteressen erachte.
möglich wäre. Dies gilt insbesondere für die Einbeziehung
von Grünflächen statt der ausschließlichen bisherigen Fo- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Das EEG ist, auf-
kussierung auf Ackerflächen. Gegenüber den positiven bauend auf dem Stromeinspeisegesetz aus der Regierung
Aspekten tritt dieser Aspekt in der Gesamtabwägung je-
Kohl, ein Mittelstands- und Technologiefördergesetz
doch zurück.
erster Güte. Es bedarf aber im Interesse der Wirksamkeit
Die größte Schwäche des Gesetzentwurfes sehe ich in eines ständigen Monitorings und einer Anpassung an die
einem mangelnden Vertrauensschutz für weit vorange- Entwicklungen.
schrittene Freiflächenprojekte. Zahlreiche Projekte be- Dass sich die Fotovoltaik hinsichtlich Leistung und
finden sich derzeit noch im Genehmigungsverfahren. Preis besser entwickelt als vorhersehbar, sollten Bran-
Dabei geht es mir insbesondere um die Projekte, die chen und Politik als Erfolg verbuchen. Die Entwicklung
frühzeitig im Jahr 2009 im Vertrauen auf geltendes ist im Gesetz unabdingbar nachzuvollziehen. Das
Recht in Planungen investiert haben. Ein Vertrauens- schränkt die Planbarkeit für Investoren naturgemäß ein.
schutz stellt sich jedoch zeitlich ab Veröffentlichung des Trotzdem bin ich der Auffassung, dass der von der Ko-
Koalitionsvertrages anders dar, da ab dem Zeitpunkt die alition mehrheitlich gefundene Kompromiss gerade dies
politische Zielsetzung erkennbar gewesen ist, das Gesetz unnötig verschärft. Der gewährte Vertrauensschutz ist nicht
zu ändern. Wer ab diesem Zeitpunkt in neue Projekte ausreichend und vernichtet Investorengelder, die – im
eingestiegen ist, kann sich nicht mehr auf Vertrauens- Vertrauen auf ein erst zum 1. Januar 2009 in Kraft getrete-
schutz berufen. Allerdings kenne ich viele Projekte, die nes Gesetz – für Anlagen ausgegeben wurden, die nun
erst im Mai oder Juni ihren Satzungsbeschluss in der Ge- nicht fertiggestellt werden können. Die weiterreichenden
meindevertretung fassen können, aber bereits frühzeitig Änderungen bei der Zulässigkeit von Freiflächenanlagen
im Jahr 2009 mit den Planungen begonnen haben. Dabei sind an dieser Stelle nicht angemessen und erfolgen ohne
ist das Datum des Aufstellungsbeschlusses nicht ent- Rücksicht auf den Schutz des Eigentums.
scheidend. Es gibt sowohl Projekte, in denen der Auf-
stellungsbeschluss am Anfang der Planungen stand und Gleichzeitig weise ich darauf hin, dass die Alternativen
danach erst die Projektentwicklungskosten entstanden für den Wegfall der Grünflächen zu knapp bemessen
sind, als auch Projekte, in denen die gesamte Projektent- sind. Die rot-grüne Vornutzungsauflage war der Versuch,
wicklung vor dem Aufstellungsbeschluss erledigt wurde Konflikte mit dem Naturschutz zu vermeiden, hat aber
und die Gemeinde erst zu einem fertig entwickelten Pro- andere provoziert. Die Ackerlandvorschrift war damit zu
(B) jekt mit dem Aufstellungsbeschluss Ja gesagt hat. Ich beseitigen. Allerdings ist es nicht gelungen, in angemesse- (D)
hätte deshalb die Stichtagsregelung für den beschlosse- ner und von der CSU mehrfach geforderter Weise Flächen-
nen Bebauungsplan lieber auf den 30. Juni festgelegt, alternativen zu definieren, die mit Blick auf Innovation,
um auch diesen Projekten den gebotenen Vertrauens- Export und Preiswirkung, auch bei einer unter Landwirt-
schutz zu gewähren. schaftsschutzaspekten sinnvollen Priorisierung von Dach-
anlagen, notwendig sind. Bei der regulär anstehenden
Die jetzt vorliegende Stichtagsregelung, die an das Novellierung des EEG ist dies auszugleichen.
Datum der 1. Lesung des Gesetzes im Deutschen Bun-
destag am 25. März 2010 anknüpft, ist gegenüber dem
ursprünglichen Gesetzentwurf sicherlich eine Verbesse- Anlage 3
rung. Alle Projekte, die nach dem 31. Dezember 2009
und vor dem 25. März 2010 mit einem Satzungsbeschluss Erklärung nach § 31 GO
auf den Weg gebracht worden sind, können jetzt nach al-
des Abgeordneten Thomas Silberhorn (CDU/
tem Recht bis zum Ende des Jahres 2010 realisiert werden.
CSU): zur Abstimmung über die Beschlussemp-
Damit kommen zahlreiche Projekte in den Genuss eines
fehlung und den Bericht zu dem Antrag: Über-
Vertrauensschutzes, den sie mit dem ursprünglichen Ge-
gangsmaßnahmen zur Zusammensetzung des
setzentwurf nicht bekommen hätten. Auf der Strecke
Europäischen Parlamentes nach Inkrafttreten
bleiben diejenigen Projekte, die im April, Mai oder Juni
des Vertrages von Lissabon
ihren Satzungsbeschluss fassen könnten. Insbesondere
im Mai oder Juni kommen jedoch umso mehr Projekte hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
hinzu, die erst Ende 2009 begonnen wurden. Deshalb tages nach Art. 23 Abs. 3 GG i. V. m. § 10 des
war hier ein erweiterter Vertrauensschutz, den ich nach Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bun-
wie vor für notwendig halte, nicht durchsetzbar. desregierung und Deutschem Bundestag in An-
gelegenheiten der Europäischen Union (Tages-
Ich werte allerdings die erweiterte Vertrauensschutz- ordnungspunkt 10 a)
klausel als Bereitschaft, auch meinem Anliegen entgegen
zu kommen.
Ich bin der Auffassung, dass der spanische Vorschlag
In der Gesamtabwägung komme ich deshalb zu dem zur Anpassung der Sitzzahl im Europäischen Parlament
Ergebnis, dem Gesetzentwurf zuzustimmen – insbeson- Fragen zur demokratischen Legitimation und zum Status
dere um deutlich zu machen, dass ich Handlungsbedarf der Abgeordneten aufwirft, sofern die Nachbesetzung
in der Einschränkung der Überförderung für zwingend der Mandate in den zwölf Mitgliedstaaten nicht auf der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3957

(A) Grundlage freier und allgemeiner Wahlen stattfindet, wie folge des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes lassen wir (C)
dies der Vertrag von Lissabon, Art. 14 EUV, bestimmt. uns jedenfalls nicht schlechtreden.
Ich bin ferner der Meinung, dass die Bestimmung der
zusätzlichen Mitglieder des Europäischen Parlamentes Und im Übrigen zu Ihrer billigen Polemik, die Erhö-
durch Benennung aus der Mitte der nationalen Parla- hung des Kinderfreibetrages würde die Wohlhabenden
mente eine Abweichung von Art. 14 des Vertrags von begünstigen: Während 4,2 Milliarden Euro für die Erhö-
Lissabon über die EU darstellt, und habe deshalb grund- hung des Kindergeldes bereitgestellt wurden, stehen für
legende Bedenken gegen diesen Vorschlag. Ich erinnere die Erhöhung des Kinderfreibetrages lediglich 400 Mil-
in diesem Zusammenhang an das Urteil des Bundesver- lionen, also weniger als ein Zehntel davon, zur Verfü-
fassungsgerichtes vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von gung. Statt Familien mit höheren oder niedrigeren Ein-
Lissabon zur eingeschränkten Wahlrechtsgleichheit bei kommen gegeneinander auszuspielen, investieren wir in
den Wahlen zum Europäischen Parlament und damit ver- die Zukunft unserer Gesellschaft.
bunden einer nur begrenzt repräsentativen Abbildung Zu dem Thema, jedes Kind sollte dem Staat gleich
des europäischen Mehrheitswillens. Aus diesen Gründen viel wert sein. Beim Kinderfreibetrag beträgt die jähr-
stimme ich dem Vorhaben nicht zu. liche maximale finanzielle Auswirkung 3 154 Euro, bei
Leistungen für Kinder in Hartz IV ab 14 Jahren
3 444 Euro.
Anlage 4
Wir haben vor der Wahl versprochen, denjenigen zu
Zu Protokoll gegebene Reden helfen, die seit Jahren die Hauptlasten in diesem Land
tragen. Das sind diejenigen, die morgens aufstehen, zur
zur Beratung der Großen Anfrage: Zu den theo- Arbeit gehen und ihre Kinder erziehen. Dieses Verspre-
retischen und empirischen Grundlagen des chen haben wir gehalten.
Wachstumsbeschleunigungsgesetzes und der ge-
mäß Koalitionsvertag beabsichtigten Steuer- Das gilt übrigens auch für Alleinerziehende. Das
reform (Tagesordnungspunkt 11) Wachstumsbeschleunigungsgesetz beinhaltet auch eine
Anhebung des Freibetrages für Betreuungs-, Erzie-
hungs- und Ausbildungsbedarf. Seine Anhebung wirkt
Olav Gutting (CDU/CSU): Der Sinn und Zweck die-
ser Großen Anfrage ist durchsichtig. Sie ist nichts ande- sich insbesondere bei Eltern aus, die, getrennt lebend
res als Wahlkampftheater vor der NRW-Wahl. Zum vom anderen Elternteil, das Kind alleine aufziehen. Die
Anhebung führt dazu, das bereits ab einem Jahresein-
Thema Steuerreform hatten wir ja heute Nachmittag
schon eine Aktuelle Stunde. Ich kann Ihnen aber noch kommen von 15 660 Euro ein Steuervorteil entsteht. Von
(B) einmal bestätigen: Wir machen erfolgreiche Politik für der Anhebung der Freibeträge profitieren also bereits El- (D)
tern mit geringerem Einkommen.
mehr Wachstum und Beschäftigung – und das auch mit
dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Die Arbeits- Wir haben zudem nicht nur Verbesserungen für die
losigkeit geht zurück, allein im April um 162 000 auf Familien erreicht, sondern auch etwas für unsere Wirt-
3,4 Millionen Arbeitslose. Die Erholung in der deut- schaft getan. Fragen Sie doch mal bei den Mittelständ-
schen Wirtschaft ist nach der schlimmen Krise von 2009 lern nach! Ich nenne zum Beispiel die Neureglung bei
deutlich erkennbar. der Sofortabschreibung. Mit dem Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz haben wir die Möglichkeit der Sofortab-
Zur Wirkung des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes
schreibung von Wirtschaftsgütern bis 410 Euro wieder
brauchen Sie sich doch nur die Entwicklung des Wachs-
hergestellt. Das verschafft den Unternehmen notwendige
tums seit Inkrafttreten des Gesetzes anzuschauen. Allein
Liquidität in der Krise.
der Ifo-Geschäftsklimaindex hat sich im April zum
zweiten Mal in Folge kräftig verbessert. Zusammenfassend lässt sich festhalten:
Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir Erstens. Mit Ihrer in der Anfrage versteckten Kritik
gezielte Impulse zur Entlastung von Familien und Unter- am Wachstumsbeschleunigungsgesetz greifen sie schlicht
nehmen gesetzt. Wesentlicher Teil des Wachstumsbe- und einfach daneben. Das Wachstumsbeschleunigungs-
schleunigungsgesetzes war dabei auch die Familienför- gesetz ist ein Erfolg.
derung. Mit der Erhöhung des Kinderfreibetrages und
des Kindergeldes haben wir eine spürbare Entlastung für Zweitens. Wenn Sie steuerliche Entlastungen immer
Familien mit Kindern geschaffen. Rechnet man alle nur von der Einnahmeseite her bewerten, werden Sie
Maßnahmen, die zum 1. Januar 2010 in Kraft traten, dieses Land nie auf den notwendigen Wachstumskurs
zusammen, bedeutet das für eine vierköpfige Familie bringen.
– 54 000 Euro Jahreseinkommen, Alleinverdiener – eine Wesentlicher Bestandteil unserer Strategie zur Stär-
Entlastung von knapp 1 600 Euro. kung der Konjunktur ist ein Steuerrecht, das ein Mehr an
Wir glauben, dass gerade Familien die Leistungsträ- Wachstum und Beschäftigung ermöglicht. Steuerpoliti-
ger unserer Gesellschaft sind. Diese wollen wir entlas- schen Stillstand, wie Sie ihn wollen, darf es deshalb auch
ten. Das haben wir im Wahlkampf versprochen, und das in Zeiten knapper Haushaltskassen nicht geben.
halten wir. Wenn Sie hingegen Familien und die Bezie-
her kleiner und mittlerer Einkommen weiter belasten Klaus Brandner (SPD): Seit ungefähr neun Mona-
wollen, dann sagen Sie das klar und deutlich. Die Er- ten erscheinen beinahe täglich Presseberichte, in denen
3958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) die jetzigen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP im In- und Ausland, sondern wird auch in diesem Jahr (C)
eine Steuerreform und umfassende Steuersenkungen an- wieder exemplarisch am Wachstumsbeschleunigungsge-
kündigen. Es werden Reden über dieses Thema gehalten setz durch die Wirtschaftsweisen bestätigt.
oder Interviews gegeben. Dieses Thema ist dementspre-
chend allgegenwärtig, und es scheint der Dreh- und An- Auch mit den widersinnigen Steuerplänen müssen wir
gelpunkt für die schwarz-gelbe Koalition zu sein. also davon ausgehen, dass es im Hinblick auf das Wirt-
schaftswachstum bei den Schätzungen der Bundesregie-
Das ist nicht weiter verwunderlich; denn beim Thema rung von 1,4 Prozent in diesem und 1,6 Prozent im
Steuern ist die FDP Überzeugungstäterin. Bereits in den nächsten Jahr bleibt. Das hat fatale Auswirkungen auf
vergangenen Legislaturperioden hat sie auf jede erdenk- die Staatseinnahmen, wie die heute vorgelegte Steuer-
liche Herausforderung mit ihrem Patentrezept „Steuer- schätzung enthüllt. Bund, Länder und Gemeinden wer-
senkungen“ geantwortet. Unabhängig ob es der Wirt- den in den Jahren 2010 bis 2013 rund 39 Milliarden
schaft gut oder schlecht ging, ob eine vermeintliche Euro weniger in der Kasse haben als bisher angenom-
Bedrohung von innen oder außen kam, ob Steuerschät- men. In diesem Jahr wird der Gesamtstaat rund
zungen wachsende oder sinkende Staatsfinanzen ver- 510,3 Milliarden Euro einnehmen. Das sind 1,2 Milliar-
sprachen – für die FDP passte ihre Forderung nach Steu- den Euro weniger als bisher geschätzt. Hinzu kommen
ersenkungen auf jede Situation. die 10 Milliarden Euro Einsparungen, die aufgrund der
Auch die CDU/CSU-Fraktion war noch im Wahl- im Grundgesetz festgelegten Schuldenbremse ab 2011
kampf nicht abgeneigt, sich dieser einfachen und popu- allein beim Bund jährlich erbracht werden müssen.
lären Lösung anzuschließen. Wer hätte schließlich nicht Wer in dieser aktuellen Situation Spielraum für Steu-
gern „mehr Netto vom Brutto“? Dennoch hat sie die erentlastungen in Höhe von 16 Milliarden Euro sieht, hat
FDP in den Koalitionsverhandlungen von ihrem 36-Mil- schon eine besondere Fantasie oder jenseits der Kameras
liarden-Euro-Wahlkampfversprechen auf 24 Milliarden und Mikrofone ganz andere Pläne. Denn angesichts die-
Euro heruntergehandelt. Mittlerweile fordert die FDP ser Lage bleiben im Falle einer weiteren Steuerentlas-
„nur“ noch Steuerentlastungen von 16 Milliarden Euro, tung nur zwei Möglichkeiten: Entweder werden sie auf
und ihr favorisiertes Dreistufenmodell hat nun zwei Stu- Kosten der nachfolgenden Generationen den Schulden-
fen mehr bekommen. Damit wurde das bisherige Wahl- berg weiter anwachsen lassen, oder sie finanzieren es
versprechen der FDP schon jetzt halbiert. Man könnte durch Leistungskürzungen im sozialen Bereich. Was das
das einen Abschied in Stufen nennen – oder einfach bedeutet, kann man dank des sogenannten Wachstums-
Wählertäuschung. beschleunigungsgesetzes bereits heute spüren: höhere
Durch die Führungsschwäche der Bundeskanzlerin Kitagebühren und schlechte Straßen, geschlossene
(B) lässt sich bei der CDU/CSU überhaupt kein einheitliches Sportplätze, Schulen, Schwimmbäder und Bibliotheken. (D)
Bild erkennen. Während der Bundesfinanzminister bei
jeder Gelegenheit verkündet, dass es für Steuersenkun- Die Koalitionsfraktionen haben in der bereits ange-
gen keine Spielräume gibt, zeigt die Kanzlerin sich an- sprochenen Antwort auf die Große Anfrage der SPD
getan. Auch andere Unionskolleginnen und -kollegen deutlich gemacht, dass sie die Pläne über etwaige wei-
befürworten die Steuerpläne. Der Kollege Michael tere Steuerentlastungen unter Berücksichtigung der Not-
Fuchs zum Beispiel sagte: Die Entlastung in Höhe von wendigkeit einer mittelfristigen Konsolidierung der öf-
16 Milliarden Euro ist möglich und nötig und sollte von fentlichen Haushalte treffen wollen, und bekannten sich
der Koalition nun gemeinsam auf den Weg gebracht „eindeutig und nachdrücklich“ zum europäischen Stabi-
werden. litätspakt. Meine Frage ist daher: Besteht die Bundesre-
gierung angesichts der zu erwartenden Mindereinnah-
Mit diesen wohlwollenden Äußerungen und dem nun men, angesichts der Notwendigkeit einer mittelfristigen
vorgelegten FDP-Steuermodell haben die Regierungs- Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und ange-
fraktionen – entgegen der Behauptung in der Antwort sichts des europäischen Stabilitätspaktes noch immer auf
auf die Große Anfrage der SPD – ihre Pläne zur steuer- 16 Milliarden Euro zusätzliche Steuerentlastungen? Und
lichen Entlastung der Bürgerinnen und Bürger vorgelegt. – sofern das der Fall ist –: Wo soll die Finanzierung der
Dazu wollen wir jetzt hören, auf welcher Grundlage ihre Mindereinnahmen erbracht werden? Heute ist die Gele-
Pläne entwickelt wurden, wer für die Entlastungen auf- genheit, diese offenen Fragen zu klären.
kommen muss und wer direkt oder indirekt davon be-
troffen ist. Denn angesichts der aktuellen Lage und Pro-
Bettina Hagedorn (SPD): Thema unserer jetzigen
gnosen sind diese Pläne nicht nur anachronistisch,
sondern geradezu absurd. Debatte ist die Große Anfrage der SPD-Fraktion an die
Regierung vom – man höre und staune – 27. Januar 2010,
Der aktuelle Schuldenstand beträgt rund 1 700 Mil- in der wir mit einem 16-teiligen Fragenkatalog nach den
liarden Euro. Wir haben in diesem Jahr eine Rekordneu- theoretischen und empirischen Grundlagen des – fälsch-
verschuldung von etwa 80 Milliarden Euro beim Bund licherweise so bezeichneten – Wachstumsbeschleuni-
und 140 Milliarden Euro beim Gesamtstaat. Besonders gungsgesetzes und der gemäß Koalitionsvertrag beab-
prekär sieht es bei den Kommunen aus. Jetzt die Steuern sichtigten Steuerreform gefragt haben. Es geht also um
zu senken, wird den Schuldenberg nur weiter steigen las- die volkswirtschaftliche Schlüssigkeit der Steuersen-
sen. Denn es ist abwegig, anzunehmen, dass man mit kungsideen, die Schwarz-Gelb landauf, landab seit Mo-
schuldenfinanzierten Steuersenkungen Wachstumsim- naten wie ein Mantra vor sich herträgt. Gerade heute
pulse setzen könnte. Das zeigt nicht nur die Geschichte mussten wir angesichts der Aktuellen Stunde zu der kata-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3959

(A) strophalen Steuerschätzungsprognose erneut eine Kost- dass die Mittel zum allergrößten Teil festgelegt sind, bei- (C)
probe der ungebrochenen Ignoranz der Koalitionäre in spielsweise im Etat des Bundesministeriums für Arbeit
dieser Frage im Plenum ertragen. und Soziales in den gesellschaftlich grundlegenden Be-
reichen Arbeit und Rente.
Dabei lässt sich diese Koalition auch leider nicht
durch Fakten von ihrem falschen, unverantwortlichen Der mit Abstand größte Ausgabenblock in diesem
Weg abbringen: Im Handelsblatt – nicht gerade als rotes Bereich ist der Zuschuss zur Rentenversicherung mit
Kampfblatt bekannt – stand beispielhaft in seiner Aus- 80,8 Milliarden Euro – eine so gigantisch große Summe,
gabe vom 30. April 2010 zur geplanten Steuerreform: dass sie sich kaum jemand wirklich vorstellen kann. Da-
„Das Forschungsinstitut IZA hat die FDP und das FDP- rum will ich es bildlich ausdrücken: Das ist mehr als ein
geführte Wirtschaftsministerium in eine peinliche Lage Drittel aller Steuereinnahmen (239,2 Milliarden Euro in
gebracht, indem es feststellte, die Reform würde nicht 2010), die der Bund 2010 überhaupt erhält, und weit
16 Milliarden Euro kosten, sondern knapp 40 Milliar- mehr als ein Viertel aller Ausgaben, die der Bund 2009
den.“ (292,3 Milliarden Euro) geleistet hat. Dies ist der Anteil
des Haushaltes, wo kein Einsparpotenzial schlummert
Wir erleben aber täglich in diesem Hohen Haus, dass und wo nur ein finanzstarker Staat mit ausreichenden
die FDP sich mit solchen ernstzunehmenden kritischen Steuern seiner sozialstaatlichen Aufgabe gerecht werden
Stimmen gar nicht erst auseinandersetzt und gebetsmüh- kann.
lenartig weiter fordert: Steuersenkung! Gemeinhin ist
dieser Wesenszug als „Beratungsresistenz“ bekannt. Um die Dramatik zu erkennen, lohnt ein Blick zu-
rück: Noch vor 20 Jahren – 1991 – gab der Bund knapp
Die Tatsache, dass die Anforderungen der Schulden- 30 Milliarden Euro pro Jahr Steuerzuschuss zur Rente,
bremse ab 2011 schrittweise mit 10 Milliarden Euro pro schon sieben Jahre später waren es 1998 51,4 Milliarden
Jahr zu erfüllen sind und sich bis 2016 auf 60 Milliarden Euro, zehn Jahre später waren es 2008 schon 78 Milliar-
Euro pro Jahr aufaddieren werden, ohne dass diese Re- den Euro und jetzt aktuell 80,8 Milliarden Euro. Dies ist
gierung Parlament und Öffentlichkeit bisher über ihr eine Kostenexplosion von fast 30 Milliarden Euro – pro
„Sparkonzept“ auch nur ansatzweise informiert hätte, ist Jahr! – binnen nur zwölf Jahren. 30 Milliarden Euro –
eine Unterlassungssünde, die die Glaubwürdigkeit von das entspricht knapp dem Dreifachen unseres gesamten
Politik massiv gefährdet. Und die Steuerschätzung von Bildungs- und Forschungsetats (10,91 Milliarden Euro),
heute beschert dem Staat zusätzliche Steuereinnahme- dem Fünffachen aller Leistungen aus dem Familienmi-
verluste von knapp 40 Milliarden Euro bis 2013, auf die nisterium (6,56 Milliarden Euro) bzw. dem Sechsfachen
sie uns und der Öffentlichkeit jede Antwort schuldig des Etats des Innenministers (5,59 Milliarden Euro) mit
bleibt. Das kann man getrost mit dem Versuch der über 40 000 Beschäftigten im Dienste der inneren Si- (D)
(B) „Volksverdummung“ betiteln. Angesichts all dieser Tat-
cherheit unseres Landes.
sachen und angesichts der Krise in Griechenland und
Europa, die wir aktuell diese Woche nonstop mit großer Wer nun jedoch – wie diese Regierung aus CDU/CSU
Ernsthaftigkeit beraten, bei der es im Kern auch um die und FDP – ernsthaft plant, Steuern im zweistelligen Mil-
Folgen von staatlicher Überschuldung geht, ist es eine liardenbereich dauerhaft zu senken, der legt die Axt an
Dreistigkeit, dass diese Bundesregierung angekündigt die Wurzeln unseres Sozialstaates und nimmt gleichzei-
hat, die 16 – mehr als berechtigten – Fragen der SPD- tig unsoziale Abgabenerhöhungen – zulasten von Ge-
Bundestagsfraktion vom 27. Januar zu beantworten, und ringverdienern und Arbeitslosen, Familien und Rent-
zwar exakt am 10. Juli 2010. Und was ist am 9. Juli nern, Auszubildenden und Studenten – in Bund, Ländern
2010? Ja, das ist der letzte Sitzungstag des Deutschen und vor allem in den Kommunen billigend in Kauf. Wie
Bundestages bis Mitte September. Und was ist Mitte die FDP insgesamt auf diesem Niveau die Berechtigung
September? Richtig: die erste Lesung des Bundeshaus- der Steuereinnahmen unseres Staates öffentlich infrage
haltes 2011 hier in diesem Plenum. So ernst also nimmt stellt, und die ideologische Verbohrtheit, mit der sie un-
diese Regierung ihre Rechenschaftspflicht gegenüber ter dem Deckmantel eines verquasten Leistungs- und
dem Parlament in der zentralen Frage einer nachhaltigen Freiheitsbegriffs für Steuersenkungen für Hoteliers, Groß-
Haushalts- und Finanzpolitik. Aber unbestreitbare Tatsa- erben und Besserverdienende sorgt und zusätzlich noch
che ist: Wenn wir in diesen Krisenzeiten unseren Le- Steuersenkungen für Besserverdienende und Klientelge-
bensstandard und unseren Sozialstaat in seinen Grund- schenke fordert, sowie die Lethargie, mit der die CDU/
festen erhalten wollen, dann sind angesichts der heute CSU trotz des „C“ in ihrem Parteinamen auf dieses ge-
veröffentlichten Steuerschätzung, der verfassungsrecht- zielte Attentat auf unseren Sozialstaat reagiert, das alles
lich verankerten Schuldenbremse und der demografi- muss alle am Gemeinwohl Interessierten in unserer Ge-
schen Entwicklung in unserem Land Steuersenkungen sellschaft auf die Barrikaden oder in die Verzweiflung
auf mittlere Sicht schlicht und ergreifend unmöglich. treiben.
Wenn die Regierungsfraktionen gefragt werden, wo Gestatten Sie mir zum Abschluss ein Zitat aus der
sie denn sparen wollen, sagen sie reflexartig: bei Arbeit Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung von heute. In
und Sozialem. Natürlich, auf den ersten Blick könnte das dem Kommentar „Der Tag, an dem die Rechnung kam“
im Ansatz sogar nachvollziehbar erscheinen; aber jeder, schreibt Thorsten Denkler: „Eine deprimierende Lage –
der auch nur für 5 Cent nachdenkt – ja, ich weiß, bei Ih- wenn es die FDP nicht gäbe. In früheren Zeiten boten
nen in der wirtschaftorientierten Partei FDP muss die Quacksalber auf den Marktplätzen manches Gebräu feil,
Summe dafür bestimmt deutlich höher sein – erkennt, das angeblich gegen alles half, was mit Krankheit zu tun
3960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) hat – vom Hühnerauge bis zur Pestbeule. Die FDP ver- die Anzahl der gesicherten Arbeitsplätze, die leicht in (C)
sucht, das Volk für ähnlich blöd zu verkaufen. Die Partei die Zehntausende gehen.
des Guido Westerwelle verspricht Steuersenkungen,
wenn es dem Staat gutgeht, weil dann genug Geld dafür Ebenfalls sollte man bei der Betrachtung nicht verges-
da sei. ‚Bürger am Aufschwung beteiligen‘, heißt das sen, dass durch die Mehrwertsteuersenkung auch für
dann. Und sie verspricht Steuersenkungen, wenn es dem mehr Steuergerechtigkeit gesorgt wurde, da in 21 von
Staat schlechtgeht, weil das angeblich die Wirtschaft 27 EU-Mitgliedstaaten ein reduzierter Mehrwertsteuer-
massiv ankurbele. Einen Grund, gegen Steuersenkungen satz gilt.
zu sein, gibt es für die FDP nicht. Wenn es darauf an- Wenn Sie uns vorwerfen, das Gastgewerbe als einen
käme, würde sie mit Steuersenkungen auch den interna- Teil der mittelständischen Wirtschaft zu unterstützen,
tionalen Terrorismus oder isländische Vulkane bekämp- der über 1 Million Beschäftigte und mehr als
fen.“ 100 000 Auszubildende in 240 000 Betrieben hat, mehr
als 57,2 Milliarden Euro Jahresnettoumsatz erwirtschaf-
Dr. Daniel Volk (FDP): Mit dem Gesetz zur Be- tet und dabei eine Menge Steuern zahlt, dann kann ich
schleunigung des wirtschaftlichen Wachstums werden nur erwidern: Ja, wir unterstützen die Wirtschaft in die-
Bürger und Unternehmen seit dem 1. Januar 2010 um sem Land, die Steuern zahlt und Arbeitsplätze schafft.
insgesamt 8,4 Milliarden Euro jährlich entlastet. Erreichtes:
Im Gesetzentwurf heißt es: Kindergeld erhöht: Bislang wurden die Leistungen
der Familien nicht ausreichend berücksichtigt. Wir ent-
Die Folgen der schwersten Finanz- und Wirt- lasten und fördern Familien mit Kindern. Für alle, die
schaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik den erhöhten Kinderfreibetrag nicht ausschöpfen kön-
Deutschland sind noch nicht überwunden. In dieser nen, heben wir das Kindergeld um 20 Euro für jedes
sehr ernsten und beispiellosen wirtschaftlichen Ge- Kind an.
samtsituation gilt es, den Einbruch des wirtschaftli-
chen Wachstums so schnell wie möglich zu über- Kinderfreibetrag angehoben: Zur besonderen Berück-
winden und neue Impulse für einen stabilen und sichtigung der Aufwendungen der Familien für ihre Kin-
dynamischen Aufschwung zu setzen. Nur durch der wurden die Steuerfreibeträge für jedes Kind von
nachhaltiges Wachstum können die Folgen der 6 024 Euro auf 7 008 Euro erhöht. Damit sinkt die Steu-
Krise überwunden werden. Eine Steuerpolitik, die erlast für Familien mit Kindern erheblich. Das Finanz-
sich in diesem Sinne als Wachstumspolitik versteht, amt prüft automatisch, ob erhöhtes Kindergeld oder er-
(B) schafft Vertrauen und Zuversicht und stärkt durch höhter Freibetrag besser für die Familie ist. (D)
wirksame und zielgerichtete steuerliche Entlastun-
Schonvermögen verdreifacht: Bevor Sozialleistun-
gen die produktiven Kräfte unserer Gesellschaft.
gen bezogen werden können, müssen zuerst eigene Ver-
Die FDP hat Wort gehalten. Den ersten Schritt zur mögenswerte aufgebraucht werden. Bislang stand den
Entlastung haben wir mit dem Gesetz gemacht. Einen Empfängern von Arbeitslosengeld II nur ein sehr kleines
weiteren Entlastungsschritt werden wir jetzt auf den Schonvermögen von 250 Euro je Lebensjahr zu. Wir
Weg bringen. Wir werden insbesondere die unteren und werden den Freibetrag auf 750 Euro pro Lebensjahr ver-
mittleren Einkommensbezieher vorrangig entlasten und dreifachen. So stärken wir die eigenständige Altersvor-
gleichzeitig den Mittelstandsbauch abflachen, indem wir sorge und mildern die Auswirkungen des sogenannten
den Einkommensteuertarif zu einem Stufentarif um- Hartz IV ab.
bauen. Betriebsübergänge erleichtert: Die bisherigen Rege-
Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz setzt die lungen zur Unternehmensnachfolge waren insbesondere
neue Koalition Impulse für mehr Beschäftigung. Mit für Handwerk und Mittelstand oft schwer erfüllbar. Wir
diesem ersten Schritt stärkten wir bereits zum 1. Januar machen sie krisenfest und planungssicher. So kann die
2010 insbesondere Familien und Mittelstand. Daneben Zukunft vieler Betriebe und ihrer Arbeitnehmer schon
wurden im Koalitionsvertrag weitere Schritte vereinbart, heute gesichert werden.
die zeitnah umgesetzt werden. Abschreibung verbessert: Wir führen eine Regelung
zur Sofortabschreibung von Wirtschaftsgütern bis
Die viel kritisierte Mehrwertsteuersenkung im Hotel- 410 Euro ein und lassen ein Wahlrecht zur Bildung eines
und Gaststättengewerbe zeigt nun aber erstaunlicher- Sammelpostens für alle Wirtschaftsgüter zwischen 150
weise erste positive Wirkungen. Drei Monate nach Ein- und 1 000 Euro zu. Das schafft mehr Flexibilität für die
führung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes planen Unternehmen und trägt zur Vereinfachung der Abschrei-
knapp 3 000 in einer Befragung erfasste Hotels Investi- bungen bei.
tionen in Höhe von insgesamt einer halben Milliarde
Euro (507 Millionen Euro). Diese Investitionen betref- Forschung unterstützt: Bildung, Ausbildung, Wissen-
fen vor allem Modernisierungen, Neuanschaffungen und schaft und Forschung sind unser wichtigster Rohstoff.
Umbauten. Für Arbeitnehmer bedeutet das fast 2 700 Wissenschaft und Forschung brauchen mehr Flexibilität
neue Vollzeitarbeitsplätze und mehr als 1 300 neue Aus- und Gestaltungsspielraum. Wir werden mit einem natio-
bildungsplätze. Nicht zu vergessen bei dieser Betrach- nalen Stipendienprogramm den Anteil der Stipendiaten
tung ist das schwierige konjunkturelle Umfeld dabei und von 2 auf 10 Prozent erhöhen. Die Zusammenarbeit zwi-
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(A) schen Hochschulen und außeruniversitären Forschungs- sieren soll, dazu hört man aus dem Bundesfinanzminis- (C)
einrichtungen werden wir stärken. terium nichts. Wahrscheinlich dürfen es wieder die Bür-
gerinnen und Bürger ausbaden.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Es geht heute um Das ist mit der Linken nicht zu machen. Nötig sind
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Was bedeutet das nach Meinung der Linken eine Stabilisierung der öffent-
eigentlich? Ziel dieses Gesetzes ist, mit Steuerentlastun- lichen Einnahmen und eine sozial gerechtere Politik, die
gen für Wachstum zu sorgen. Damit berührt es eine unten gibt und oben nimmt und Steuer- und Lohndum-
zentrale Fragestellung. Kann Wachstum durch Steuer- ping verhindert. Daher fordert die Linke eine gerechtere
senkungen erzeugt werden? Hierzu hat die SPD eine Einkommensbesteuerung, Zurücknahme der steuerli-
Große Anfrage an die Bundesregierung gestellt, deren chen Entlastungen für Unternehmen sowie einen gesetz-
Antwort uns leider noch nicht vorliegt. lichen Mindestlohn. Dieser erhöht letztendlich auch die
Aber wir können trotzdem feststellen: Die Bundes- Einnahmen der Sozialkassen und stabilisiert sie.
regierung argumentiert bisher immer, dass Haushalts- Steuern sind die Grundlage, damit der Staat handeln
konsolidierung letztendlich durch ein erhöhtes Wirt- kann, damit er für Bürgerinnen und Bürger Schulen,
schaftswachstum erreicht werden soll, wobei Universitäten, Schwimmbäder, Kindergärten sowie Kul-
Wirtschaftswachstum durch Steuersenkungen erzeugt tureinrichtungen bereitstellen kann. Die Linke sagt, dass
werden soll. Hier könnte man doch erwarten, dass sie, soziale Gerechtigkeit nur hergestellt werden kann, wenn
wenn sie schon solch eine Annahme vertritt, diese auch Steuern in gerechter Form erhoben werden. Das heißt,
mit theoretischen oder praktischen Erfahrungen stützt. starke Schultern müssen mehr tragen als schwächere.
Aber weit gefehlt, sie kann es nicht. Dies gab sie in einer
früheren Antwort auf eine SPD-Anfrage zu. Sie habe
kein verlässliches Mittel zur Abschätzung der Auswir- Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
kungen von Steuerrechtsänderungen auf Wachstum und NEN): Mit dem Klientelbeglückungsgesetz haben Sie,
Steuereinnahmen. liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
Ende letzten Jahres Teile ihrer Wahlkampfversprechen
Da stellt sich vielen Menschen die Frage: Woher eingelöst und Steuern gesenkt. Haben Sie damit jedoch
nimmt die Bundesregierung die Annahme, Steuersen- ihr erklärtes Ziel – nämlich Wachstum zu beschleunigen –
kungen würden zu Wachstum führen? Vielleicht schaut erreicht?
sie in die Glaskugel?
Modellrechnungen von Experten des Sachverständi-
Zu dieser irrigen Annahme der Bundesregierung kann genrates zeigen: Die Steuersenkungen für Hoteliers, Un-
(B) ich Ihnen nur sagen: Die in den letzten zehn Jahren statt- ternehmen, Familien und Erben erhöhen die Wirtschafts- (D)
gefundenen Steuerrechtsänderungen haben nicht zu leistung in Deutschland um gerade einmal maximal
Wachstum, sondern zu einer stärkeren Verschuldung des 0,07 Prozent. Der Sachverstand der Experten – und da-
Bundes, der Länder und der Kommunen geführt. Dies rauf beruft sich ja vor allem die Kanzlerin so gerne –
stellte eine Studie des Institutes für Makroökonomie und fasst die Bewertung für das sogenannte Wachstumsbe-
Konjunkturforschung, IMK, fest. Bezüglich der Auswir- schleunigungsgesetz in einer simplen Note zusammen:
kungen durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz Ungenügend!
stellte das IMK auch fest, dass dem Staat bis 2013 jährli-
che Steuereinnahmen von über 8 Milliarden Euro entge- Schauen wir uns die realen Zahlen an: Nach Verab-
hen werden. schiedung des sogenannten Wachstumsbeschleunigungs-
gesetzes haben sie die Wachstumsprognosen für 2010
Dies verschärft die Lage der öffentlichen Haushalte nicht erhöht. Wenn überhaupt, dann erwarten Sie einen
weiter. Zu dem von Ihnen vielfach angepriesenen Selbst- winzigen Impuls mit einer faktisch nicht wahrnehmba-
finanzierungseffekt kann ich Ihnen sagen: Auch hier gab ren Auswirkung auf die wirtschaftliche Dynamik. Und
es Untersuchungen, die bestätigen, dass sich Steuernach- dafür waren Sie bereit, den exorbitanten Preis von 8,5
lässe für Unternehmen und Haushalte nicht selbst finan- Milliarden Euro zu zahlen! Jährlich! Eine ungeheure
zieren. Überhaupt kein Selbstfinanzierungseffekt ver- Verschwendung von Steuergeldern in dieser schwierigen
bleibt, wenn der Staat die Steuern senkt, gleichzeitig Zeit, in der die Wissenschaftler, ganz deutlich der Bun-
aber die Ausgaben kürzt. Von daher sollten Sie sich end- despräsident und jetzt auch der eigene Finanzminister ei-
lich von ihrer Steuersenkungsideologie verabschieden. gentlich nur ein Thema kennen: die Konsolidierung der
Diese hat die letzten zehn Jahre die öffentlichen Haus- Haushalte. Die Schuldenbremse, die im Grundgesetz
halte genug ruiniert. Wenn Sie also nicht auf uns oder verankert ist, und die damit verbundene Konsolidie-
das IMK hören wollen, dann folgen Sie doch wenigstens rungsaufgabe lassen keinen Spielraum für Steuersenkun-
den Empfehlungen des Sachverständigenrates, der der- gen. Laut der heutigen Steuerschätzung des Bundes-
zeit eine Steuersenkung ebenfalls für unverantwortlich finanzministeriums weisen die gesamtstaatlichen
hält. Steuereinnahmen bis 2013 fast 50 Milliarden Euro weni-
ger aus als geplant.
Die heute erschienene Steuerschätzung rechnet insge-
samt mit 38,9 Milliarden Euro weniger an Steuereinnah- Und dann die Verteilungswirkung: Von der Anhebung
men bis 2013, wobei ein Großteil der Ausfälle auf die der Kinderfreibeträge profitieren überproportional die
von Ihnen zu verantwortenden Steuerrechtsänderungen reichen Familien. Die Erben wurden entlastet, und die
zurückzuführen ist. Wer die Einnahmeausfälle kompen- Hoteliers bekamen ihre Klientelgeschenke. Als ob die
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(A) Auseinanderentwicklung von Vermögen und Einkom- Einbruch wäre noch größer ausgefallen, hätte die Bun- (C)
men in einem anderen Land stattfinden würde! Hier desregierung nicht rasch und umfangreich reagiert. Die
zeigt sich die Handschrift der FDP, die immer noch nicht Maßnahmenpakete zur Stützung der Finanzmärkte und
kapiert hat, dass wir mit einer Stärkung der niedrigen der Konjunktur haben deutlich zur Stabilisierung der
Einkommen – gerade da gibt es viele echte Leistungsträ- wirtschaftlichen Lage beigetragen. Für 2010 kann jetzt
ger! – Kaufkraft und Binnenkonjunktur stärken müssten. sogar wieder mit einem leicht positiven Wachstum von
rund 1,4 Prozent gerechnet werden. Die Wende ist ge-
Klar ist: Wachstum durch ziellose Steuersenkung glückt.
funktioniert nicht. Es ist eine Illusion. Sie fördert Fehl-
entwicklungen, und am Ende fehlen uns Einnahmen, die Noch deutlicher sehen Sie den Erfolg unserer Politik,
wir vor allem in den Kommunen so dringend brauchen: wenn Sie auf den Arbeitsmarkt schauen. Alle Experten
für den Klimaschutz, für die Bildung, für die öffentliche wurden von der positiven Entwicklung überrascht.
Daseinsvorsorge, für Investitionen, die ein nachhaltiges, Geschickte Politik hat verhindert, dass die schlimmsten
qualitatives Wachstum bewirken. Vorhersagen eintrafen. Wir sind viel besser durch diese
Krise hindurchmarschiert als die meisten anderen euro-
Wir Grünen wollen ein nachhaltiges qualitatives päischen Länder. In der Medizin gilt: „Wer heilt, hat
Wachstum, ein ökologisches und sozialverträgliches recht.“ Wenn ich diesen Maßstab an unsere Politik an-
Wachstum. Wir haben das an dieser Stelle schon oft lege, kann ich nur sagen: Wir haben das Richtige getan.
durchdekliniert: Wir brauchen eine aktive grüne Indus-
triepolitik, um den ökologischen Transformationspro- Zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Das Wachs-
zess unserer Wirtschaft zu beschleunigen. Mit neuen tumsbeschleunigungsgesetz wird von Ihnen immer wie-
Schulen, mit verstärkten Aufwendungen für eine energe- der auf den abgesenkten Mehrwertsteuersatz für Über-
tische Sanierung, mit einer zielgerichteten Förderung nachtungen reduziert. Dies ist aber nur eine – und noch
neuer Technologien – ich erinnere nur an das Thema nicht einmal die wichtigste – der Maßnahmen, die das
Elektromobilität –, damit schaffen wir ein nachhaltiges Gesetz ausmachen. Fiskalisch wesentlich bedeutsamer
Wachstum. Mit einem höheren Ausbildungsstand junger sind beispielsweise die Erhöhung des Kindergeldes und
Menschen, mit mehr regenerativen Energien, mit einer die Erhöhung der Kinderfreibeträge. Die spürbare Kin-
leistungsfähigeren Infrastruktur, damit stärken wir die dergelderhöhung nützt vor allem Familien mit kleinen
Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, damit erzeugen und mittleren Einkommen. Sie können diese Entlastung
wir Wachstum. für den Konsum nutzen und so zur Stärkung der Binnen-
nachfrage beitragen.
Mit blinden Steuersenkungen bekommen Sie das
nicht hin. Es wäre gut, wenn Sie das endlich einsehen Aber auch für die Unternehmen wurden steuerliche
(B) würden und von Ihren unsäglichen Steuersenkungsfanta- Entlastungen sowie gezielte Korrekturen umgesetzt, die (D)
sien abrücken würden. die Anpassung an die krisenbedingten Folgen erleich-
tern. Diese Korrekturen zugunsten von Unternehmen
waren wichtig, und sie haben geholfen, die Krise leichter
Hartmut Koschyk (Parlamentarischer Staatssekre-
zu überwinden, weil sie schnell kamen. Das Wachstums-
tär beim Bundesminister der Finanzen): Die SPD be- beschleunigungsgesetz hat damit nicht nur eine Nachfra-
zweifelt in der vorliegenden Großen Anfrage, dass steu- gebelebung erzeugt; verbesserte Investitionsbedingun-
erliche Maßnahmen ein Instrument zur Bewältigung der gen stärken auch die Wachstumsgrundlagen auf Dauer.
Krise sein können. Noch im vergangenen Jahr hat sie
genau diesen Kurs mitgetragen, jetzt weiß sie nicht Zur Doppelstrategie. Die Krise hat deutliche Spuren
mehr, warum. in den Haushalten aller Gebietskörperschaften hinterlas-
sen. Wir müssen deshalb schnell auf einen Konsolidie-
Zur Theorie. Sie fragen uns hier nach theoretischen rungspfad zurückkehren. Die grundgesetzlich verankerte
Konstrukten und nach dem Titel des Lehrbuchs, aus dem Schuldenbremse erfordert in den nächsten Jahren erheb-
wir die Erkenntnisse für unser wirtschaftspolitisches liche Konsolidierungsanstrengungen im Bundeshaus-
Konzept ziehen. Kein Lehrbuch hat diese Krise vorher- halt. Eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte
gesagt, und in keinem Lehrbuch steht, wie man diese wird aber ohne Wachstum nicht gelingen.
Krise überwinden kann. Gehen Sie bitte davon aus, dass
die Berater der Bundesregierung alle wirtschaftspoliti- Die Bundesregierung setzt deshalb auf eine Doppel-
schen Theorien kennen, die auch Sie kennen, und diese strategie: Wir stärken die Wachstumskräfte durch steuer-
Theorien widersprechen sich ja vielfach. Politik muss liche Entlastungen und halten uns an eine klare, regelge-
aber handeln, und zwar oft auf einer empirisch und theo- bundene Konsolidierungsstrategie. So haben wir unsere
retisch unsicheren Grundlage. Die Bundesregierung ver- Arbeit auch begonnen. Für alle Maßnahmen des Koali-
folgt dabei nicht dogmatisch ein theoretisches Kon- tionsvertrages gilt deshalb ein Finanzierungsvorbehalt.
strukt. Wir haben die zueinanderpassenden Elemente Den Bogen zwischen Wachstumsanreizen und Konsoli-
kombiniert und so mit wichtigen Impulsen der deutschen dierung zu schlagen, ist die große finanzpolitische He-
Wirtschaft durch die Krise geholfen. rausforderung dieser Legislaturperiode, und diese Auf-
gabe kann diese Bundesregierung besser bewältigen als
Deutschland wurde durch die hohe Auslandsverflech- jede andere.
tung besonders hart von der Weltwirtschaftskrise getrof-
fen. Nie zuvor schrumpfte in der Bundesrepublik das Wir bekennen uns zu soliden öffentlichen Finanzen,
Bruttoinlandsprodukt um 5 Prozent in einem Jahr. Dieser auch weil sie notwendige Voraussetzungen für dauerhaft
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3963

(A) günstige Wachstums- und Beschäftigungsbedingungen fentlichen. Wir brauchen in Europa einen umfassenden (C)
sind. Umgekehrt gilt ebenso: Wirtschaftswachstum und Rechts- und Aufsichtsrahmen für die Finanzmärkte. Die
ein Anstieg der Beschäftigung schaffen die besten Vo- Umsetzung der EU-Verordnung leistet einen wichtigen
raussetzungen für tragfähige öffentliche Finanzen. Beitrag hierfür. Ratingagenturen spielen jetzt und in Zu-
Wachstum und Konsolidierung gehen Hand in Hand. kunft eine essenzielle Rolle in unserer Finanzwelt. Wir
Wer hier einen grundsätzlichen Widerspruch sieht, zeigt sind angewiesen auf die Einschätzungen von Experten.
nur, dass er selbst mit der gestellten Aufgabe überfordert Gerade aufgrund der besonderen sich daraus ergebenden
wäre. Verantwortung und des wichtigen Stellenwerts von Ra-
tings muss man diese mit der notwendigen Sensibilität
Diese Bundesregierung wird beides leisten: Wir wer- behandeln und einzelne Urteile kritisch hinterfragen. In-
den die Bürger entlasten, und wir werden die öffentli- teressenkonflikte bei der Bewertung, offensichtliche
chen Haushalte konsolidieren. Verstöße gegen das Gebot der Trennung von Beratung
und Bewertung hinterlassen Zweifel an der Qualität der
Ratings. Eine stufenweise Abkehr von der bedingungs-
Anlage 5 losen Akzeptanz dieser Ratings ist unabdingbar, und des-
Zu Protokoll gegebene Reden halb ist es auch notwendig, dass Marktteilnehmer parallel
eigene Risikobewertungen vornehmen müssen.
zur Beratung des Entwurfs eines Ausführungs-
gesetzes zur Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 Mithilfe dieser EU-Verordnung werden Ratingagen-
des Europäischen Parlaments und des Rates turen mit einem klar definierten Bußgeldkatalog zu mehr
vom 16. September 2009 über Ratingagenturen Disziplin gezwungen und über ihre Verantwortung be-
(Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung) lehrt. Auch wenn dieser Katalog von verschiedenen Sei-
(Tagesordnungspunkt 12) ten als zu mild eingestuft wird, so beinhaltet er aus mei-
ner Sicht ein klares Signal: Wir sind überzeugt und fest
entschlossen, Verstößen entschieden entgegenzuwirken.
Peter Aumer (CDU/CSU): Es besteht ein breiter
Gerade weil sich der Markt der Ratingagenturen durch
Konsens darüber, dass die weltweiten Finanzmärkte neu
einen stark eingeschränkten Wettbewerb charakterisie-
geordnet und reguliert werden müssen. Ein ganz ent-
ren lässt, bedarf es einer effizienten, zielgerichteten Re-
scheidender Bestandteil ist dabei die internationale Kon-
gulierung der Ratingagenturen, und gerade deswegen
trolle der Ratingagenturen.
bedarf es einer Aufsicht.
Den Ratingagenturen wird in der Finanzmarktkrise
ein folgenreiches Versagen zum Vorwurf gemacht, da sie Grundlegende Voraussetzungen werden durch das
(B) die schlechte Marktlage in ihren Ratings nicht früh ge- heute zur Abstimmung stehende Ausführungsgesetz ge- (D)
nug zum Ausdruck gebracht haben. Bei Zuspitzung der schaffen. Mit der BaFin haben wir eine zentrale und neu-
Krise hätten die Ratings angepasst werden müssen, was trale Aufsichtsbehörde, die die Ratingagenturen im
nicht oder nicht rechtzeitig erfolgt ist. So wurde ein Sys- Blick behält und Verstöße frühzeitig erkennen muss.
tem vermeintlicher Sicherheit geschaffen, das es zukünf- Dies ist zweifelsohne ein Schritt in die richtige Rich-
tig auszuschließen gilt. Mit der im Jahr 2009 auf den tung.
Weg gebrachten EU-Verordnung haben wir in Europa Das Aufbrechen des Oligopols der Ratingagenturen
nun die Möglichkeit, einen ersten wichtigen Schritt in erscheint mir langfristig besonders wichtig. Es muss eine
die richtige Richtung zu gehen. nichtstaatliche europäische Ratingagentur geben, die
Uns allen muss natürlich bewusst sein, dass diese Ver- dem Oligopol der bestehenden Ratingagenturen ange-
ordnung nicht alle Schwachstellen der Finanzmärkte be- messen begegnet. Es ist sehr bedenklich, dass die Kredit-
heben kann – es gibt kein Allheilmittel im Umgang mit würdigkeit europäischer Staaten allein vom Urteil dreier
der Finanzkrise. Ein solches Ziel wäre mit einer derarti- Ratingagenturen mit Sitz in New York abhängig ist. Ne-
gen Verordnung auch zu hoch gegriffen und somit nicht ben dem Vorteil der räumlichen Nähe zu den bewerteten
realistisch; aber sie ist dennoch ein wichtiger Schritt in Firmen und Staaten könnten mit einer eigenen europäi-
die richtige Richtung. schen Ratingagentur transparente Strukturen geschaffen
und mehr Unabhängigkeit sichergestellt werden.
Mit diesem Ausführungsgesetz können Zeichen ge-
setzt werden, um die Vertrauenswürdigkeit und die Neu- Für ein funktionierendes und stabiles Finanzsystem,
tralität der Einschätzungen von Ratingagenturen zu ge- das nicht nur der Wirtschaft, sondern auch den Bedürf-
währleisten, um auch so das Vertrauen in die nissen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und
Finanzmärkte wieder nachhaltig zu stärken. Nur ein ge- Europas gerecht wird, brauchen wir einen international
meinsamer Regulierungsansatz bietet die nötigen Vo- orientierten Aufsichts- und Regulierungsrahmen. Die
raussetzungen, um unternehmerische Verantwortung und Umsetzung der vorliegenden EU-Rating-Verordnung ist
Verlässlichkeit unter den Ratingagenturen zu fördern ein wichtiges Instrument auf dem Weg zur Umsetzung
und eben auch zu fordern und um in Zukunft mehr eines solchen Systems.
Transparenz zu schaffen. Dazu gehört es, dass die Agen-
turen ihre Tätigkeit auch für die Öffentlichkeit transpa- Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Das Europäische
renter gestalten. Sie müssen angewandte Methoden, his- Parlament und der Rat haben im Herbst 2009 die soge-
torische Ausfallquoten von Ratingkategorien oder eine nannte EU-Ratingverordnung verabschiedet. In dieser
Liste ihrer größten Kunden in Zukunft regelmäßig veröf- Verordnung wird die Regulierung von Ratingagenturen
3964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) geregelt. Ich denke, ich muss angesichts der vergange- Vor allem die Fragen nach den Wettbewerbsstruktu- (C)
nen zwei Jahre nicht näher erläutern, warum diese Ver- ren und den Interessenkonflikten sind noch nicht ausrei-
ordnung notwendig war. chend beantwortet worden. Deswegen setzen sich die
Regierungsfraktionen für eine weitere Verschärfung der
Die Überprüfung der Einhaltung der Regeln der Ra- Regulierungen sowie für die Schaffung einer unabhängi-
tingverordnung obliegt zunächst den nationalen Auf- gen europäischen Ratingagentur ein.
sichtsbehörden. Hierfür ist vom Bundestag der rechtli-
che Rahmen zu schaffen. Darüber hinaus muss der Die Arbeit und das Verhalten der Ratingagenturen
Bundestag „wirksame, verhältnismäßige und abschre- sind das eine. Auf der anderen Seite steht allerdings das,
ckende Sanktionen“ festlegen, um Verstöße gegen die was wir aus den Ratingagenturen gemacht haben. – Aber
Ratingverordnung zu ahnden. Im vorliegenden Gesetz- der Reihe nach: Warum sind eigentlich Ratingagenturen
entwurf werden genau diese Punkte umgesetzt: gegründet worden? Es ging doch darum, dass Banker
und Kaufleute eine zweite, eine unabhängige, eine an-
Die Aufsicht über die Ratingagenturen soll der Bun- dere Meinung haben wollten, bevor Kredite gegeben
desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, ob- bzw. Anleihen und andere Finanzprodukte gekauft wur-
liegen. Die operative Durchführung der Aufsicht soll den. Zwei Meinungen – eine davon von einem unabhän-
durch geeignete Wirtschaftsprüfungsgesellschaften er- gigen Experten, das hört sich gut an und verbessert zwei-
folgen. Verstöße gegen die Ratingverordnung sollen mit felsohne das Urteil.
Bußgeldern von 200 000 bis 1 Million Euro geahndet
Aus dieser zweiten Meinung ist aber leider allzu oft
werden. Jede Ratinggesellschaft muss sich bei der BaFin
die einzige Meinung geworden. Urteile von Ratingagen-
registrieren lassen.
turen wurden überhöht. Auf ein eigenes Urteil wurde
Der Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzge- verzichtet. Wir haben dies in der ersten Finanzkrise sehr
bers ist bei diesem Ausführungsgesetz gering – Eile ist deutlich gesehen. Es wurden Produkte allein auf Basis
geboten –; die Mitgliedstaaten sollen bis zum 7. Juni die von Ratingurteilen gekauft. Verstanden wurden sie von
Voraussetzungen 2010 für die Überwachung der Rating- vielen Käufern wohl nicht.
verordnung geschaffen haben. Der Finanzausschuss hat Wir haben diese Entwicklung als Gesetzgeber nicht
daher mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen diesem gestoppt, sondern gefördert, indem wir Ratingagenturen
Gesetzesentwurf zugestimmt. zum Beispiel bei der Festlegung von Eigenmitteln von
Ob die EU-Ratingverordnung ausreicht, um die funk- Kreditinstituten oder bei der Beleihbarkeit von Anleihen
der EZB eine wichtige Rolle zugeteilt haben.
tionalen Schwächen des gegenwärtigen Ratingsystems
(B) zu beseitigen, ist hier und heute nicht der Punkt. Dies Für mich heißt die Schlussfolgerung daraus: Banker (D)
sollten und müssen wir an anderer Stelle diskutieren. und Kaufleute müssen sich wieder ihr eigenes Urteil bil-
Heute geht es einzig und allein darum, durch die Festle- den. Das Urteil von Ratingagenturen darf und kann auch
gung der Aufsichtsstrukturen den Einstieg in eine effi- gerne als zweite Meinung danebenstehen, sollte aber
ziente Regulierung von Ratingagenturen auch hier in niemals das einzige Beurteilungskriterium sein. Dies gilt
Deutschland zu ermöglichen. Insofern ist es für mich un- es, über die Regulierung von Ratingagenturen hinaus
verständlich, wenn sich die Oppositionsfraktionen die- notfalls auch gesetzlich klarzustellen.
sem nützlichen und notwendigen Gesetzentwurf verwei-
gern, und zwar mit der Begründung, dass sie in dieser Die EZB hat in den letzten Tagen gezeigt, wie dies in
Vorlage gerne noch weitere Punkte wie den Anleger- der Praxis gehen kann: Die EZB hat beschlossen, das
schutz unterbringen möchten. Wir sind gerne bereit, mit Länderrating für Griechenland als Kriterium für die Be-
Ihnen darüber zu diskutieren, aber nicht im Rahmen die- leihung von Staatsanleihen auszusetzen, da sie den Kon-
ses Gesetzgebungsverfahrens; denn jetzt ist Eile gebo- solidierungsmaßnahmen in Griechenland vertraut. Sie
ten, um die Ratingagenturen endlich zu regulieren. Die hat ihr eigenes Urteil über die Kreditwürdigkeit von
Verbesserung des Anlegerschutzes ist im Übrigen auch Griechenland getroffen – dabei aber die Urteile der Ra-
ein Anliegen der Bundesregierung, für das sie schon ein tingagenturen im Blick gehabt. Die zweite Meinung
Diskussionspapier herausgegeben hat. Denn wir sehen, wurde erwogen, die eigene Meinung war letztlich ent-
dass es notwendig ist, weitere Maßnahmen zu ergreifen. scheidend.
Die fehlerhafte Arbeit von Ratingagenturen war eine we- Zum Abschluss vielleicht noch einige Anmerkungen
sentliche Ursache für die Finanzkrise. zu einer europäischen Ratingagentur. Das Projekt lohnt
den Schweiß der Edlen, wie es so schön heißt. Es lohnt
Die wesentlichen Kritikpunkte an den Ratingagentu-
sich deswegen, weil ein Markt, den drei Anbieter unter
ren sind – neben dem Vorwurf, Marktentwicklungen viel sich aufgeteilt haben, nicht gesund ist. Eine Alternative
zu spät erkannt zu haben –: mangelnde Transparenz be- wäre die wettbewerbsrechtliche Zerschlagung der beste-
züglich der Beurteilungsmethoden und -daten, man- henden Agenturen, eine andere der staatlich geförderte
gelnde Wettbewerbsstrukturen – drei große amerikani- Aufbau einer eigenen europäischen Agentur.
sche Agenturen haben den Markt unter sich aufgeteilt –,
Interessenkonflikte, insbesondere zwischen Beratungs- Wir sollten von dieser Agentur aber keine Wunder-
und Bewertungsleistungen, mangelnde Möglichkeiten, dinge erwarten. Auch die Urteile einer europäischen Ra-
Ratingagenturen bei Fehlverhalten in die Haftung zu tingagentur basieren auf subjektiven Einschätzungen
nehmen. und mathematischen Modellen, sind also fehleranfällig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3965

(A) Eine europäische Ratingagentur, die ernst genommen gie – die Fakten sollten daher nicht überbewertet wer- (C)
werden will, muss unabhängige und keine politischen den.“ Schaut man sich die Arbeit der Agenturen in der
Urteile fällen. Deswegen halte ich es für gefährlich, die Vergangenheit an, dann wird man das Gefühl nicht los,
prozyklische Wirkung von Ratingurteilen zu kritisieren. hier hat man ein Branchenmotto gefunden.
So hatten die unlängst abgestuften Länder schlechte
Fundamentaldaten. Es wäre auch die Aufgabe einer eu- Auch in den USA stehen Ratingagenturen aktuell er-
ropäischen Ratingagentur gewesen, dies öffentlich zu neut in der Kritik, weil sie mit ihren Einschätzungen
adressieren und das Ratingurteil gegebenenfalls anzu- weit danebenlagen. So nahm ein Bundesgericht in New
passen, egal ob dies die Krise verschärft oder nicht. Ich York nun eine Klage gegen die beiden Agenturen
kann in diesem Zusammenhang im Übrigen nur davor Standard & Poor’s sowie Moody’s und die deutsche Mit-
warnen, die EZB zu einer Ratingagentur für Länder aus- telstandsbank IKB an. Die Vorwürfe der Kläger zielen
zubauen. Dies birgt Interessenkonflikte und gefährdet gegen das Kerngeschäft der Unternehmen: die Bewer-
die Unabhängigkeit der EZB. tung von Finanzprodukten. Im konkreten Fall steht ein
strukturiertes Anlageprodukt im Mittelpunkt, das 2007
Für heute kann ich nur alle Fraktionen bitten, den vor- von der IKB aufgelegt und von den Agenturen mit Spit-
liegenden Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen. Das zennoten versehen wurde. Im August 2008 musste das
wird die dringend benötigte Regulierung der Rating- unter dem Namen „Rheinbrücke“ vermarktete Produkt
agenturen auf den Weg bringen, sie unter Aufsicht stel- mit großem Verlust für die Anleger abgewickelt werden.
len und Sanktionen der Ratingagenturen bei Verstößen Sie konnten von ihren ursprünglich investierten 1,1 Mil-
ermöglichen. Das Gesetz gibt uns nicht die abschlie-
liarden Dollar nur noch 55 Prozent retten.
ßende Lösung der Ratingproblematik, ist aber ein guter
Einstieg für weitere Maßnahmen. Es trägt dazu bei, die Wer so dramatisch fehlerhaft arbeitet – und dies ist
Finanzmärkte für uns alle ein wenig sicherer zu machen. nur ein Beispiel von vielen –, der darf nicht solchen Ein-
fluss auf das Wirtschaftsgeschehen von Staaten haben,
Manfred Zöllmer (SPD): Der Fall Griechenland wie es am Beispiel Griechenlands exemplarisch deutlich
zeigt noch einmal sehr eindrücklich die Notwendigkeit wird. Dies löst doch häufig erst das Problem aus, vor dem
einer Reform des Ratingagenturunwesens. Warum Unwe- sie warnen wollen. Es ist absolut prozyklisch. Ratingagen-
sen? Dies lässt sich sehr gut an den aktuellen Ereignissen turen verschärfen häufig Krisen, statt sie zu verhindern.
rund um Griechenland erklären: In der letzten Woche, am Warum lassen wir es eigentlich zu, dass solche Dilettan-
Dienstag, war ich gerade vor Ort in Griechenland, als die ten einen so großen Einfluss haben?
Ratingagentur Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit
des Landes auf Ramschniveau heruntergestuft hat. Dabei Sehen wir uns einmal an, was durch den vorliegenden
(B) gab es keinen sachlich nachvollziehbaren Grund, warum Gesetzentwurf der Bundesregierung geändert werden soll. (D)
das Griechenland-Downgrading ausgerechnet letzte Wo- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die nationale
che erfolgen musste – keinen! Umsetzung der im September 2009 in Kraft getretenen
EU-Ratingverordnung – 1060/2009/EG – vorgenom-
Das Rating für griechische Anleihen sank gleich um men. Mit der EU-Verordnung wollen die Mitgliedstaaten
drei Stufen, obwohl es positive Einsparzahlen für den die Ratingagenturen als wichtige Finanzmarktakteure
griechischen Staatshaushalt gegeben hatte, immerhin besser überwachen und vor allem mehr Transparenz
40 Prozent im ersten Quartal. Angeblich reichten die schaffen. So müssen sich in der EU tätige Ratingagentu-
Einsparungen nicht. Und dies mitten im Prozess der Ver- ren ab Juni 2010 bei der Finanzaufsicht des jeweiligen
handlungen der griechischen Regierung mit Vertreten Landes registrieren lassen und ihre Geschäfte offenlegen.
des IWF und der EZB vor Ort. Das Rating wurde noch Um registriert zu werden, haben sie international festge-
mit negativem Ausblick versehen, das heißt, eine weitere legte Anforderungen zu erfüllen. Außerdem müssen sie in
Abstufung ist für die Ratingagentur denkbar. Das, was mindestens einem Mitgliedstaat niedergelassen sein.
die Agentur für Griechenland befürchtet hatte, wurde
durch das Herabstufen der Bonität dann ausgelöst. Das Ausführungsgesetz sieht die Bundesanstalt für Fi-
Es geht also nicht darum, wie es eine Zeitung schrieb, nanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, als Aufsichtsbehörde
den Überbringer einer schlechten Nachricht zu kritisieren. in Deutschland vor, bei der sich Agenturen registrieren
Ich kritisiere, dass die schlechte Nachricht, vor der man und ihre Geschäfte offenlegen müssen. Auch Verstöße
warnen wollte, erst produziert wurde. Wer garantiert uns gegen die EU-Ratingverordnung kann die BaFin künftig
eigentlich, dass dies nicht im Zusammenspiel mit be- anhand eines Bußgeldkataloges ahnden. Für die Verwen-
stimmten Akteuren auf den Finanzmärkten erfolgte? dung von Ratings aus Ländern außerhalb der EU schreibt
Wer rechtzeitig im Besitz einer solchen Nachricht ist, die Union außerdem besondere Anforderungen vor.
kann daraus sehr hohen Gewinn ziehen. Die Börsen und
Um Interessenkonflikte zu vermeiden, dürfen Rating-
der Euro haben natürlich entsprechend reagiert.
analysten zudem nicht mehr Kunden beraten und sie
Wenn Ratingagenturen nur nach objektiven Kriterien gleichzeitig bewerten. Ferner verpflichtet die Verordnung
vorgehen, warum sind dann die Bewertungen der Agen- Ratingagenturen zur regelmäßigen Überprüfung ihrer
turen so unterschiedlich? Bei Moody’s hat Griechenland Ratings und Methoden. Für strukturierte Finanzinstru-
noch eine A-Benotung. Vielleicht geht es ja bei den Ra- mente müssen die Agenturen gesonderte und klar gekenn-
tingagenturen nach dem Motto eines Wirtschaftswitzes, zeichnete Ratingkategorien angeben. Das sind Verbesse-
der da lautet: „50 Prozent der Wirtschaft sind Psycholo- rungen, die dringend notwendig sind.
3966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Die Frage ist: Reicht das aus? Wenn wir uns die Er- nen Kunden bewertete und eben dazu auch beriet. Durch (C)
gebnisse des Hearings einmal vor Augen führen, dann die EU-Ratingverordnung werden diese Probleme ange-
können wir feststellen: Dies ist ein Schritt in die richtige gangen. Die enthaltenen Verhaltensnormen und eine ver-
Richtung, aber auch nicht mehr. Die Bundesregierung stärkte Aufsicht darüber werden dazu führen, dass die
macht eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vorgaben, Agenturen ihre Rolle auf den Finanzmärkten künftig
nicht mehr. Wichtige Probleme bleiben damit ungelöst. besser wahrnehmen werden können.
Ratingagenturen werden auch künftig für ihre Urteile Die Situation bezüglich Griechenlands zeigt nun
von den Beurteilten bezahlt. Das ist und bleibt der größte auch, dass wir hier einer europäischen Dimension der
Fehler im System. Die Gefahr, dass Risiken falsch einge- Problematik gegenüberstehen, weshalb es wichtig war,
schätzt werden, bleibt damit bestehen. Die vorgesehene die Thematik auf europäischer Ebene anzugehen und
Trennung von Rating und Beratung ist ein erster Schritt, nun national umzusetzen, womit die Bundesregierung
greift aber zu kurz. Sie lässt sich zu leicht durch gesell- praktisch den Zug aus Brüssel auf die Schiene gesetzt
schaftsrechtliche Konstruktionen aushebeln. Rating- hat und der Dringlichkeit entsprechend auch keine Zeit
agenturen agieren wie ein Finanz-TÜV, haften aber nicht verloren hat. Die Bundesregierung nimmt ihre Verant-
für das Ergebnis. Der – für andere Verstöße – vorgese- wortung in der Krise wahr.
hene Bußgeldrahmen erfüllt das Kriterium „Peanuts“,
vor dem Hintergrund von Milliarden Umsätze der großen Zugegebenermaßen gibt es mit dem Zugverkehr bei
Ratingagenturen. dem Zug aus Brüssel nun aber Schwierigkeiten, wie es
Bahnreisende tagtäglich erleben – die Sache hat Macken
Auch die Frage: „Wie bekommen wir mehr Wettbe- und läuft noch nicht so richtig rund. Nun ist Deutschland
werb in den Markt“ wird nicht angegangen. Es fehlt die aber keine Insel, und der Zugverkehr bricht an der Küste
Konkurrenz einer alternativen europäischen unabhängigen ab. Nein, der Ratingmarkt muss nicht national, sondern
Agentur. europäisch optimiert werden. Probleme bereiten uns
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein erster Schritt weiterhin die Oligopolstruktur aus im Wesentlichen drei
zur Verbesserung von Qualität, Unabhängigkeit und privatwirtschaftlich organisierten amerikanischen Unter-
Transparenz. Aber er ist nicht ausreichend; das zeigt die nehmen, die erheblichen wirtschaftlichen Einfluss ha-
aktuelle Entwicklung. Die systemischen Risiken der Ra- ben, und der Umstand, dass der Anbieter der Finanzpro-
tingagenturen werden nicht angegangen. Hier sind Chan- dukte die Agentur bezahlt, von der er beurteilt werden
cen vertan worden. Wir werden uns deshalb enthalten. soll, was doch wieder zu Interessenkonflikten der Agen-
tur führen kann. Denn wer beißt schon gerne die Hand,
Es scheint nach den eingangs geschilderten Ereignissen die einen füttert?
(B) in Bezug auf Griechenland inzwischen auch der EU-Kom- (D)
mission zu dämmern, dass Verbesserungen notwendig Die Bundesregierung wird, wie Bundeskanzlerin
sind. So äußerte sich der EU-Kommissar Barnier dieser Merkel am Mittwoch in ihrer Regierungserklärung be-
Tage: Wir müssen weitergehen, um die Auswirkungen der tonte und wie es unser Koalitionsvertrag vorsieht, natür-
Ratings auf das gesamte Finanz- und Wirtschaftssystem lich am Ball bleiben und etwa die Prüfung der Gründung
zu sehen. – Recht hat er. Überschrieben war die Meldung einer europäischen Ratingagentur als Gegenpol zum bis-
mit: EU zeigt sich offen für Nachjustierung bei Rating- herigen Oligopol auf dem Ratingmarkt vornehmen.
agenturen. – Vielleicht gelingt es dann ja doch noch, die
Natürlich ist dies ein sehr kniffliges Thema, und die
angesprochenen Schwachpunkte zu beseitigen.
EU müsste etwas schaffen und dabei Staatsnähe vermei-
den, um eben glaubwürdig und dem Vorwurf der Staats-
Björn Sänger (FDP): Die Griechenlandkrise zeigt, wirtschaft nicht ausgesetzt zu sein. Eine Möglichkeit
dass hinsichtlich Ratingagenturen dringender Hand- wäre da eine unabhängige Stiftung für Finanzprodukte,
lungsbedarf besteht. Die Zahlungsfähigkeit Griechen- wobei hier die Bezahlung von Ratings zu klären wäre.
lands wurde schon über längere Zeit in Zweifel gezogen. Doch durch die Unabhängigkeit würde sich die Stiftung
Trotzdem erhielt die Bonität des Landes Spitzenwertun- Glaubwürdigkeit bewahren.
gen durch die drei großen Ratingagenturen. Dann wurde
bekannt, dass die griechische Haushaltsdefizitquote ge- Für alle so oder so Beteiligten auf dem Ratingmarkt
schönt war, und erst nach geraumer Zeit folgte die Ab- ist auch eine Verschärfung der Haftung anzustreben. Wie
wertung. Die fiel dann aber so drastisch aus, dass die Re- bereits erwähnt, sind die Ratingbewertungen Meinungs-
finanzierung Griechenlands auf dem Anleihemarkt fast äußerungen; doch darf sich damit nicht einfach aus der
unmöglich wurde. Die Märkte sind, wie man sieht, gera- Verantwortung für Probleme gestohlen werden, die solch
dezu hörig, was die „reinen Meinungsäußerungen“ – wie ein Rating hervorrufen kann. Für eine Meinung ist man
die Agenturen nicht müde werden zu betonen – betrifft, nicht haftbar, aber für die korrekte Anwendung der
und verlassen sich auf die Ratings und blenden andere durch die Ratingverordnung nun offenzulegenden Me-
Indikatoren weitgehend aus. thodik sollte man es schon sein.
Das war den Marktteilnehmern zu einem gewissen Weiterhin müssen, unabhängig von einem europäi-
Grad auch nicht vorzuwerfen, mangelte es bisher doch schen Gegenpol zum jetzigen amerikanischen Oligopol,
an Transparenz, und Bewertungen wurden trotz mangel- insgesamt Rahmenbedingungen für mehr Wettbewerb
hafter oder fehlender Daten vorgenommen. Zudem wa- geschaffen werden, und deshalb sind bei solchen Rege-
ren Interessenkonflikte möglich, wenn eine Agentur ei- lungen Bedürfnisse von kleineren auf dem Markt befind-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3967

(A) lichen oder in den Markt strebenden Agenturen beson- Auch bei der vermeintlichen Unterwerfung der Ra- (C)
ders im Auge zu behalten. tingagenturen unter eine staatliche Finanzaufsicht bleibt
es letztlich bei Augenwischerei. Die konkreten jährli-
All dies muss nun durch die Mitwirkung aller Fraktio- chen Prüfungen werden im Auftrag der BaFin von priva-
nen erörtert werden. Begleitet durch diese wichtige Dis- ten Wirtschaftsprüfern durchgeführt. Dabei wird sich
kussion wird die Bundesregierung auf ihrem Weg zur Si- sehr schnell dasselbe Kartell der Big Four herausbilden,
cherung unserer Finanzmärkte weiter voranschreiten. nämlich KPMG, PricewaterhouseCoopers, Deloitte und
Ernst & Young, die den Markt unter sich aufteilen. Und
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Um es gleich klarzu- wie genau die hinschauen, wissen wir spätestens seit den
machen: Wir lehnen das Gesetz ab. In der ersten Lesung Bilanzskandalen in den USA und seit den lupenreinen
hatten wir hier bereits erhebliche Zweifel und Kritik an- Prüfberichten für Banken wie die IKB, Lehman Brothers
gebracht. In der zwischenzeitlichen Anhörung des Fi- oder die HRE, die von diesen Prüfungsgesellschaften
nanzausschusses wurde unsere Kritik bestätigt, und aus ausgestellt wurden.
unseren Zweifeln wurde Gewissheit. Ich komme gleich Der Gesetzgeber muss endlich aufhören, den Ratings
zu den Details. der Agenturen in gesetzlichen Regeln, wie zum Beispiel
im Basel-Abkommen, eine besondere Funktion und
Die EU-Ratingverordnung und das Ausführungs-
Glaubwürdigkeit zuzuweisen. Wir brauchen endlich eine
gesetz sind im Vergleich zum bestehenden Regelungsbe-
öffentliche europäische Ratingagentur, die das Kartell
darf glatter Hohn. Die Bundeskanzlerin wird seit dem
von Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch aufbricht und
G-20-Gipfel in Washington im November 2008 nicht dem Diktat der Finanzmärkte Paroli bietet.
müde, zu wiederholen, Staaten dürften nicht länger von
Akteuren auf den Finanzmärkten erpressbar sein. Die
Krise in Griechenland zeigt, dass die Bundesregierung Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
mit diesem Ziel erbärmlich gescheitert ist, weil sie nicht Das Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung ist
einmal den beherzten Versuch unternommen hat, mit der kein großer Wurf. In einem Zwischenschritt wird die
Regulierung anzufangen. Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht mit der
Beaufsichtigung weniger neuer Verhaltensregeln für
Wir reden hier von den Ratingagenturen, also den Ratingagenturen beauftragt, bevor die europäische Wert-
Finanzmarkt-Auguren, die in allen relevanten Finanz- papierbehörde diese Aufgabe ab 2011 übernimmt. Der
krisen der vergangenen 15 Jahre falsche Einschätzungen gewählte Ansatz, Interessenkonflikte offenzulegen, löst
abgegeben haben. Ich frage Sie: Wie sehr und wie oft die damit verbundenen Probleme nicht ausreichend, so-
müssen eigentlich Institutionen versagen, bevor man zu weit keine alternativen, möglichst unabhängigen Bewer-
tungen und Informationen erhältlich sind.
(B) der Erkenntnis gelangt, dass sie ihrer Aufgabe nicht (D)
gewachsen sind?
So sinnvoll es ist, dass Ratingagenturen keine Beratung
Mit dem Herunterstufen Griechenlands haben die Ra- mehr für Unternehmen, die zugleich bewertet werden,
tingagenturen massiv Öl ins Feuer gegossen und eine durchführen dürfen und so aussagekräftig die offenge-
sich selbst erfüllende Prophezeiung ausgesprochen, legten Methodiken, Modelle und Annahmen der Rating-
nämlich dass Griechenland an den Märkten keinen Kre- agenturen sein mögen, kann das nicht darüber hinweg-
dit mehr bekommt. Aufgrund der geradezu tyrannischen täuschen, dass das Kernproblem bleibt. Ratingagenturen
Machtkonzentration der Ratingagenturen werden wir lei- haben nach wie vor eine zu große Bedeutung am Kapi-
der nie erfahren, ob es für Griechenland auch einen an- talmarkt und wirken wie aktuell im Fall Griechenland
deren Weg gegeben hätte. Die Ratingagenturen haben krisenverschärfend.
Fakten geschaffen, die jetzt in Form dramatischer sozia- Wieder einmal haben die Ratingagenturen die Markt-
ler Belastungen auf den unteren und mittleren Einkom- lage nicht früh genug in ihren Bewertungen zum Aus-
mensgruppen in Griechenland lasten. Anschaulicher druck gebracht und ihre Bewertungen nicht rechtzeitig
kann man die Diktatur der Finanzmärkte kaum in Au- angepasst. Das plötzliche Herabsetzen einer Länder-
genschein nehmen. bewertung gleich um mehrere Stufen wirkt wie ein Start-
Nun zu den Kritikpunkten am Gesetz. Die Bundes- signal auf Spekulanten. Wir können gerade bei Portugal
regierung behauptet, dass das Gesetz Interessenkonflikte und Spanien wieder beobachten, wie die Gefahr eines
löst, weil die Ratingagenturen nicht länger in eigener Sa- Überschwappens der griechischen Schuldenkrise steigt.
che beraten dürften. Das ist nur sehr vordergründig rich- Ratingagenturen sind nicht die harmlosen Überbringer
tig. Tatsächlich enthält das Gesetz Schlupflöcher so groß der Botschaft, sondern können Trends mitentwickeln.
wie Scheunentore. Sobald das Beratungs- und Bewer- Ganz besonders problematisch war die Rolle der Rating-
tungsgeschäft in zwei separate Gesellschaften innerhalb agenturen bei strukturierten Finanzprodukten.
eines Ratingunternehmens aufgespalten wird, läuft das Dieses Muster müssen wir jetzt dringend durchbrechen.
Gesetz komplett ins Leere. Das haben in der Anhörung Wir meinen daher, es ist höchste Zeit für eine europäische
im Übrigen auch die Sachverständigen moniert, die nicht öffentlich-rechtliche Ratingagentur, die ein Gegenge-
von uns benannt worden waren. Wolfgang Gerke vom wicht zu den drei Monopolisten am Markt bildet.
Bayerischen Finanz Zentrum hat zum Beispiel vorge-
schlagen, man solle den Ratingagenturen die Beteiligung Nun endlich muss die politische Aufgabe gelöst werden,
an einer Ratingberatungsgesellschaft verbieten, um die- die Rolle von Ratings in einem insgesamt verbesserten
ses Schlupfloch zu schließen. Die Reaktion der Koali- und umfassenderen Informationssystem auf ein positives
tion: Schulterzucken und Nichtstun. Maß zu stutzen und mehr Vielfalt in den Markt zu bringen.
3968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Dafür sind auch Veränderungen bei der Europäischen – Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das (C)
Zentralbank und bei den bankenaufsichtlichen Regelun- Arbeitslosengeld II
gen zu beschließen. Dafür gilt es auch, die kartellähnli-
che und missbrauchsanfällige Markt- und Machtstruktur (Tagesordnungspunkt 17)
der drei großen Agenturen zu brechen.
Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Bislang hat
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hatte sich bereits das SGB II zwischen dem Einkommen eines Arbeit-
im Juni 2008 für die Gründung einer europäischen Ra- suchenden und dem Einkommen eines Schülers aus ei-
tingagentur ausgesprochen. Bisher sind ihren Worten nem Ferienjob keinen Unterschied gemacht. Dies wurde
aber keinerlei Taten oder Initiativen gefolgt. Das Ziel in in den letzten Wochen und Monaten zu Recht von allen
Koalitionsverträgen aufzuschreiben und in Sonntagsreden im Bundestag vertretenen Fraktionen kritisiert und eine
im Mund zu führen, reicht eben nicht.
entsprechende Korrektur angemahnt.
In unserem Entschließungsantrag zeigen wir auch die Da es bis zu den Sommerferien auch nicht mehr weit
Schwächen des Ausführungsgesetzes in der Umsetzung ist und viele Schülerinnen und Schüler schon jetzt Pläne
des Anlegerschutzziels und der Veröffentlichungspflichten schmieden, wie sie sich in dieser Zeit etwas Taschengeld
von Sanktionen auf. Der deutsche Gesetzgeber hat die verdienen können, freue ich mich, dass wir jetzt eine
bestehende Befugnis, Sanktionen zu veröffentlichen,
Lösung gefunden haben, die nicht nur zweckmäßig, son-
nicht genutzt, um ein überfälliges Transparenzregime in
dern auch unbürokratisch ist: Ab dem 1. Juni 2010 kön-
deutschen Gesetzen zu verankern. Auch die Zielsetzung der
EU-Ratingverordnung, dem Anleger- und Verbraucher- nen Einkommen aus Ferientätigkeiten bis zu einer
schutz Rechnung zu tragen, wurde nicht aufgegriffen. Grenze von 1 200 Euro pro Jahr gänzlich freigestellt
werden. Diese neue Regelung wird auf dem Wege einer
Wir benennen weiter die seit dem Enron-Skandal im Verordnung erlassen, das heißt, wir gehen den schnellen
Jahr 2001 bekannten, aber unbearbeiteten strukturellen De- und direkten Weg.
fizite: fehlender Wettbewerb, die ungeeignete Finanzie-
rungsbasis für Bewertungen und die zu große Abhängigkeit Durch die Festsetzung eines Grenzbetrages, bis zu
der Banken von Ratings schon bei Standardprüfungen. dem Einkommen anrechnungsfrei bleiben kann, haben
wir zudem klargestellt, dass wir nach wie vor der An-
Und schließlich fordern wir, verpflichtende und um- sicht sind, dass Ferien vorrangig der Erholung dienen
fassendere Offenlegungs- und Informationsvorschriften sollen. Eine komplette Freistellung – wie von den Lin-
für relevante Kapitalmarktinformationen gesetzlich zu ken gefordert – ist abzulehnen; denn damit würde dem
regeln. Dies liegt im öffentlichen Interesse und schafft schlichten „Knetemachen“ höchste Priorität eingeräumt.
die Voraussetzungen, dass Aufsicht, Anleger, Analysten Das wäre ein falsches Signal an die jungen Menschen.
(B) und Investoren sich eine fundierte Meinung zur Güte der (D)
Ratings und den zugrundeliegenden Aktiva, Instituten Auf der anderen Seite wurde aber der Freibetrag so
und Ländern bilden können. hoch angesetzt, dass Leistungsbereitschaft und Fleiß der
jungen Menschen nicht im Keim erstickt, sondern auch
Vor allem im Verbriefungsmarkt bleiben die Offenle- belohnt werden. So ermöglicht die Neuregelung bei-
gungspraktiken in Verkaufsprospekten und Investoren- spielsweise den Schülerinnen und Schülern, bei einem
mitteilungen hinter denen auf dem Markt der Unterneh- Stundenlohn von 10 Euro 30 Stunden in der Woche zu
mensschuldverschreibungen zurück. Als gemeinsamer arbeiten, und zwar in einem Zeitraum von vier Wochen.
Ansatz sollten relevante Informationen präzise gesetzlich Ich denke, dass hiermit ein guter Kompromiss gefunden
bestimmt und obligatorisch, fortlaufend und breit offen- wurde; denn er berücksichtigt den Aspekt der Erholung
gelegt werden sowie von unabhängigen Dritten verifiziert wie auch den Aspekt des Leistungsanreizes in einem
werden. Im Vorfeld sind notwendige Definitionen und verantwortbaren und ausgewogenen Maße.
Ermittlungsmethoden europäisch zu vereinheitlichen.
Die Neuregelung bei den Ferienjobs kann aber nur ein
Die Finanzmärkte benötigen nicht nur eine Detailkor- kleiner Baustein zur Förderung der jungen Menschen im
rektur, sondern einen grundlegenden Wandel von Ziel- SGB II sein. Solange es noch immer junge Menschen
setzung, Strukturen und Akteuren. gibt, die als Berufsziel „Hartz IV“ angeben, solange die
Quoten derjenigen, die ohne Abschluss die Schule ver-
Es ist entscheidend, dass wir jetzt zu grundlegenden
lassen, in einigen Bundesländern noch immer im zwei-
Veränderungen kommen. Bei den Ratingagenturen bleibt
stelligen Bereich liegen, solange immer wieder Mel-
dabei noch viel zu tun.
dungen durch die Presse gehen, dass vorhandene
Ausbildungsplätze aufgrund mangelnder Ausbildungs-
reife der Bewerberinnen und Bewerber nicht besetzt
Anlage 6 werden konnten, können und dürfen wir die Hände nicht
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: in den Schoß legen. Gefragt sind alle gesellschaftlichen
Kräfte, aber natürlich in erster Linie auch die Politik.
Beschlussempfehlung und Bericht zu den An-
trägen: Deshalb freue ich mich, dass die Bundesregierung
jetzt einen wichtigen Schritt in dieser Richtung unter-
– Mehr Chancengleichheit für Jugendliche – nommen hat: Am 21. April wurde eine stärkere Förde-
Ferienjobs nicht als regelmäßiges Einkom- rung für Jugendliche im SGB II vereinbart mit dem Ziel,
men anrechnen jedem erwerbsfähigen Jugendlichen innerhalb von sechs
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3969

(A) Wochen einen Ausbildungsplatz oder eine qualifizierte „Legen Sie zügig einen entsprechenden Gesetzentwurf (C)
Beschäftigung anzubieten. vor!“
Bei uns geht Gründlichkeit vor. Die Ferienjobs sind
Paul Lehrieder (CDU/CSU): In Teilen ihrer Begrün- ein Teil der großen SGB-II-Reform. Dazu hatte ich in
dung haben Linke und SPD mit ihren Anträgen recht. meiner Rede vom 26. November 2009 schon ausgeführt:
Mit allen Fraktionen dieses Hauses bin auch ich der Mei- „Wir haben bis Mitte des Jahres eine Lösung bei den
nung: Eigeninitiative von Schülern darf nicht blockiert Hinzuverdienstgrenzen – nicht mehr und nicht weniger“.
werden. Nur im Kontext mit den Hinzuverdienstmöglichkeiten
Der Ferienjob ist in der Regel der erste Kontakt mit sind die Ferienjobs zu sehen.
der Arbeitswelt. Im Idealfall führt er später zum ersten Sie haben von uns Pragmatismus und Schnelligkeit
Arbeitsverhältnis. Ferienjobs helfen, eigene Fähigkeiten gefordert – dann seien auch Sie pragmatisch. Springen
realistisch einzuschätzen, und geben Selbstbewusstsein
Sie über Ihren Schatten und stimmen Sie unserem Maß-
für die Bewerbungsphase. Nicht zuletzt machen Ferien-
nahmenpaket zu, wenn es im Plenum behandelt wird.
beschäftigungen Jugendlichen Mut, deren Eltern auf
Dieses Maßnahmenpaket begleitet die Ferienjobregelung
Hartz IV angewiesen sind und die eigenes Erwerbsein-
der Bundesregierung und umfasst auch das Beschäfti-
kommen aus ihrem familiären Umfeld nicht oder zu wenig
gungschancengesetz. Damit Ihnen die Zustimmung später
kennen. Sie können Perspektivlosigkeit und Resignation
leichter fällt, möchte ich es den Kollegen von der Opposi-
vorbeugen helfen.
tion kurz noch einmal vorstellen: Neben der Ferienjob-
Niemand kann wollen, dass die SGB-II-Gesetzgebung regelung, die als Rechtsverordnung erlassen wird, sieht
einen gegenläufigen, die Schüler demotivierenden Effekt es unter anderem vor: die Verlängerung der Sonderregelun-
entwickelt. Das SGB II hat sich als lernendes System gen zur Erstattung der Sozialbeiträge für das Kurzarbei-
bewährt – auch mit Blick auf die gegenwärtige Wirt- tergeld um 15 Monate bis Ende März 2012, die Verlän-
schaftskrise. Was gesetzlich geregelt ist, muss aber nicht gerung von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten für
sakrosankt sein. ältere Beschäftigte und Berufseinsteiger, die Fortführung
der Möglichkeit für arbeitslose Existenzgründer und
Deshalb war auch der Aspekt der Ferienjobs in die Auslandsbeschäftigte, sich freiwillig in der Arbeitslo-
Generalüberprüfung des SGB II miteinbezogen. Im senversicherung abzusichern, die Verbesserung der Ar-
Sinne einer umfassenden Regelung ist die Bundesregie- beitsmarktchancen für junge Menschen, Alleinerzie-
rung längst tätig geworden – gründlicher, als Linke und hende und ältere Arbeitsuchende sowie die Verbesserung
SPD es hier vorschlagen. Die christlich-liberale Koalition der Hinzuverdienstmöglichkeiten in der Grundsicherung
(B) hat jetzt ein Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, in für Arbeitsuchende, um stärkere Anreize zur Aufnahme (D)
das auch der Aspekt der Ferienjobs eingebunden ist. Die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu
Koalitionsfraktionen haben entschieden, Ferienjobs bei geben.
Kindern von Hartz-IV-Empfängern bis zu 1 200 Euro
künftig nicht mehr auf die Bezüge der Eltern anzurechnen. Das neue Maßnahmenpaket ist damit ein weiteres In-
Das gilt für Jobs von längstens vier Wochen je Kalender- strument, um der Wirtschafts- und Finanzkrise ent-
jahr. Diesen Betrag pauschal für das ganze Jahr anzuset- schlossen entgegenzutreten. Unser Ziel ist es, aus der
zen, war die richtige Entscheidung. Krise heraus neue Brücken zu mehr Beschäftigung zu
bauen und gezielt die zu unterstützen, die es auf dem Ar-
Rechtzeitig vor den Sommerferien geben wir damit beitsmarkt besonders schwerhaben. Um ihnen helfen zu
allen Jugendlichen das Signal: Es lohnt sich, aktiv zu können, bevorzugen wir Lösungsmechanismen, die si-
werden und sich selbst etwas dazuzuverdienen. Schul- cherlich wichtige Einzelaspekte wie die Ferienjobs nicht
pflichtige Kinder hilfebedürftiger Eltern werden damit isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang betrachten.
weitgehend anderen Schülern gleichgestellt, deren Eltern
nicht hilfebedürftig sind. Mit ihrer Ferienarbeit können
sie sich eigene Wünsche erfüllen. Der Führerschein oder Katja Mast (SPD): Es ist schon erstaunlich, was un-
das Moped aus eigener Tasche, das ist damit auch für Ju- ser Antrag zu den Ferienjobs in den vergangenen Wo-
gendliche aus Hartz-IV-Haushalten möglich. chen ins Rollen gebracht hat. Was haben Sie, Kollegin-
nen und Kollegen von Schwarz-Gelb, nicht alles für
In der Ausschusssitzung vom 24. Februar 2010 hatten Gründe vorgebracht, warum Sie unserem Antrag nicht
die Kollegen von den Grünen eine pragmatische Lösung zustimmen können! Was wollten Sie nicht alles im Zuge
in der Sache „Anrechnung von Ferienjobs“ gefordert. dieser Debatte in Kommissionen beraten!
Liebe Kollegen von den Grünen, das brauchen Sie nicht
von uns zu fordern. Pragmatisch im Sinne des Gemein- Und währenddessen? Ist wieder Monat um Monat
wohls sind wir immer. Vernünftigen und sinnvollen An- verstrichen, und wieder wussten die Jugendlichen aus
liegen verweigern wir uns nicht. ln der Plenardebatte am Familien, die von Arbeitslosengeld II leben, nicht, ob ihr
28. Januar 2010 zum selben Thema hat mich der Kollege Lohn vom Ferienjob angerechnet wird oder nicht. Auch
Markus Kurth von den Grünen direkt angesprochen. Ich konnten Sie keine Antwort auf die Frage vieler Jugendli-
zitiere: „Haben Sie nicht vor zwei Monaten den Ein- cher aus Arbeitslosengeld-II-Familien geben, ob ihr ers-
druck erweckt, eine Lösung des Problems stünde unmit- ter Kontakt mit der Berufswelt weniger wert ist als die
telbar bevor?“ Herr Birkwald von den Linken hatte in der- Berufserfahrung von Jugendlichen, deren Eltern nicht
selben Sitzung von der Bundesregierung gefordert: auf Sozialleistungen des Staates angewiesen sind.
3970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Und dann haben Sie die Jugendlichen immer wieder Dafür brauchen wir – und das ist unser Verständnis – (C)
öffentlich verunsichert. Erst wurde in der Sendung Hart Rechtsansprüche statt Lippenbekenntnisse in Form
aber fair gesagt, das müsse man regeln, dann kam ein neuer Eckpunkte. Die SPD fordert einen Rechtsanspruch
striktes Nein zu jeglicher Regelung. Anschließend prä- auf Ausbildung, und zwar für alle, die innerhalb der ers-
sentierten Sie einen Vorschlag, der vorsah, die Hinzuver- ten drei Jahre nach der Schule keinen Ausbildungsplatz
dienstgrenze im Jahr auf 2 000 Euro zu erhöhen, gleich- finden. Die Bundesregierung sieht hier keinen Hand-
zeitig aber die 100 Euro Freibetrag pro Monat lungsbedarf. Die Bundesregierung sagt nüchtern: Dies
abzuschaffen. Im April schließlich waren die Ferienjobs ist derzeit nicht Gegenstand politischer Planungen. –
plötzlich wieder Teil Ihrer Sozialstaatsdebatte, die Teil- Aber wie wollen Sie denn die Ausbildungsmisere behe-
habe verhindert und keine Perspektiven schafft. ben? Es geht um unsere Zukunft, um unsere Jugend.
Ich sage Ihnen von Schwarz-Gelb: Das war wahrlich Ein zweiter Punkt ist in diesem Zusammenhang wich-
keine sozialpolitische Glanzleistung. Das war Abwarten tig: Wer junge Menschen in Arbeit bringen will, der
und Aussitzen. Sie haben die berechtigten Anliegen der muss auch dafür sorgen, dass genügend arbeitsmarkt-
Jugendlichen nicht ernst genommen. Da kann die zu- politische Instrumente zur Verfügung stehen, um Ju-
ständige Ministerin noch so viel versprechen, was sie für gendlichen eine Chance zu geben, gerade auch den Ju-
junge Erwachsene ändern will. Im Detail lösen sich gendlichen, die es ein wenig schwerer als andere haben.
diese Versprechen schnell in Luft auf. Ohne die SPD- Immer noch sind über 40 Prozent der Ausbildungsplatz-
Bundestagsfraktion hätten Sie, Frau von der Leyen, sich suchenden sogenannte Altbewerber. Sie haben sich be-
nicht bewegt. Ohne unseren konkreten Vorschlag hätte reits mindestens ein Jahr lang um einen Ausbildungs-
Schwarz-Gelb keine Idee gehabt, wie durch den Ferien- platz bemüht und keinen gefunden. Viele von ihnen
job der Anreiz zur Berufsorientierung für alle Jugendli- geben nach jahrelanger, vergeblicher Suche auf.
chen gleich wird.
Um diesen Jugendlichen eine Chance zu geben, haben
Der Entwurf für die entsprechende Verordnung zur wir, unter Federführung unseres damaligen Bundesar-
Anrechnung von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II beitsministers Olaf Scholz, den Ausbildungsbonus ein-
liegt jetzt vor. 1 200 Euro sind für Jugendliche bis geführt. Dieser Bonus ist bis zum 31. Dezember dieses
25 Jahre zukünftig zusätzlich anrechnungsfrei. Das ist Jahres befristet. Sie wollen ihn klammheimlich auslau-
gut und längst überfällig. Die Bundesregierung nennt als fen lassen, obwohl der Bedarf nach wie vor da ist. Ich
Beispiel einen vierwöchigen Ferienjob à 30 Stunden mit fordere Sie, Frau von der Leyen, auf: Schaffen Sie auch
einem Stundenlohn von 10 Euro. Das von der Bundesre- hier endlich Klarheit und lassen Sie die Jugendlichen mit
gierung gewählte Beispiel zeigt: Schwarz-Gelb ist im- besonderen Problemen nicht im Regen stehen.
(B) mer noch weit weg von der Realität der Jugendlichen. (D)
Wer in den Sommerferien bei einem Mittelständler, bei- Es ist gut, dass jeder Jugendliche unabhängig von sei-
spielsweise in Baden-Württemberg, mit anpackt, der ar- nem Elternhaus ab Sommer bessere Anreize zur Berufs-
beitet in der Regel 40 Stunden. Der Jugendliche kommt orientierung durch einen Ferienjob hat. Aber was Sie
so schnell über die Freigrenze, die jetzt in die Verord- von Schwarz-Gelb am selben Tag mit Ihren Eckpunkten
nung geschrieben wird. Dieser bittere Beigeschmack zu sogenannten besseren Arbeitsmarktchancen für Ju-
bleibt. gendliche vorgelegt haben, überzeugt nicht. Auch an
dieser Stelle werden wir von der SPD-Bundestagsfrak-
Unser Vorschlag, dem Sie heute zustimmen können, tion den Stein ins Rollen bringen müssen – wir wollen
geht weiter. Vier Wochen Ferienjob bei angemessener ein Recht auf Ausbildung statt Lippenbekenntnissen.
Bezahlung anrechnungsfrei zu gestalten, das ist unsere
Vorstellung vom fairen Umgang mit der ersten Berufs-
Pascal Kober (FDP): Dass wir hier heute die An-
orientierung. Heute können Sie dem zustimmen.
träge der SPD und der Linken zum Thema „Anrechnung
Die Debatte um die Ferienjobs zeigt auch: Die Bun- von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II“ beraten, ver-
desregierung hat keine Antwort darauf, wie sie Jugendli- wundert doch ein wenig. Warum sie sie nicht von der Ta-
chen echte Brücken in den Arbeitsmarkt bauen will, da- gesordnung haben absetzen lassen, ist mir ein Rätsel.
rauf, wie wir es schaffen, den jungen Menschen, die sich Denn das Bundeskabinett hat am 21. April dieses Jahres
derzeit in Warteschleifen befinden, ein faires Angebot zu durch die Dritte Verordnung zur Änderung der
unterbreiten. Wir Sozialdemokraten wollen mehr als das Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung die Unge-
Gefühl, gebraucht zu werden. rechtigkeit, die wir bisher hatten, aufgehoben. Die Unge-
rechtigkeit bestand darin, dass Kinder aus ALG-II-Be-
Die Zahlen können einen nicht kaltlassen: Die Bun- darfsgemeinschaften von dem, was sie in Ferienjobs
desagentur für Arbeit hat 2009 alleine 12 200 Neuzu- verdienen, nur einen Bruchteil behalten dürfen. Das
gänge in Warteschleifen gezählt. Rund 1,5 Millionen führte dazu, dass von zwei Kindern, die die gleiche Ar-
junger Menschen zwischen 20 und 30 Jahren haben gar beit in den Ferien machen und dabei 1 000 Euro verdie-
keinen Berufsabschluss. Wir nehmen diese Zahlen und nen, eines 1 000 Euro behalten darf und das andere, das
vor allem jedes einzelne Gesicht dahinter sehr ernst. Nur mit seiner Familie unverschuldet in einer Bedarfsge-
so schaffen wir echte Chancen für einen Einstieg in den meinschaft lebt, nur 260 Euro. Diesen Zustand hat die
beruflichen Aufstieg. Nur so ist Teilhabe am sozialen Bundesregierung nun verändert. Damit sind die Anträge
und gesellschaftlichen Leben möglich. von SPD und Linken gegenstandslos.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3971

(A) Die Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit schen kümmert. Ihre Anträge haben sich damit durch un- (C)
und Soziales tritt am 1. Juni 2010 in Kraft und damit ser Handeln erübrigt. Deswegen lehnen wir sie ab.
noch vor dem Beginn der ersten Sommerferien in Bre-
men, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen am Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Hinhalten,
24. Juni dieses Jahres. Damit hat die christlich-liberale rausschieben und feist für sich vereinnahmen – das ist
Koalition wieder einmal bewiesen, dass sie die Pro- die Gangart der schwarz-gelben Bundesregierung, der
bleme, die Rot-Grün im Bereich der Grundsicherung für sich die SPD angeschlossen hat. Aber wir wollen nicht
Arbeitsuchende hinterlassen hat, entschieden anpackt nachtragend sein: Halten Sie ihr Fähnchen ruhig in den
und im Sinne der Menschen löst. Deshalb ist es gut, dass Wind – wir sorgen für den Sturm!
nach der Verordnung das Einkommen aus einer Tätigkeit
von Schülerinnen und Schülern allgemein- oder berufs- Links wirkt! Allein der Beharrlichkeit seitens der Lin-
bildender Schulen, die das 25. Lebensjahr noch nicht ken ist es zu verdanken, dass die Hartz-IV-Parteien nun
vollendet haben und die in den Schulferien für höchstens reagieren und endlich das Ferienjobärgernis anpacken.
vier Wochen je Kalenderjahr ausgeübt wird, bis zu Das hat viel zu lang gedauert!
1 200 Euro pro Jahr anrechnungsfrei wird.
Im August 2008 haben wir von der Großen Koalition
Mit der neuen Regelung durch die Verordnung sehen aus SPD und den Unionsparteien im Rahmen einer Klei-
wir ein Kernelement liberaler Gerechtigkeitsvorstellun- nen Anfrage wissen wollen, ob sie bereit wären, Ein-
gen verwirklicht. Sie wird gerne zusammengefasst unter kommen aus Ferienjobs nicht auf Hartz IV anzurechnen.
dem Motto „Leistung muss sich lohnen“. Dies gilt nun Was taten SPD und CDU/CSU? Sie leugneten das Pro-
endlich auch für die Schülerinnen und Schüler aus Be- blem und taten nichts. Stattdessen heuchelten Volker
darfsgemeinschaften, die einer Ferientätigkeit nachge- Kauder und Klaus Wowereit im August 2009 in der Sen-
hen. dung Hart aber fair Betroffenheit. Unseren Antrag, end-
lich zu handeln und Schluss zu machen mit der Anrech-
Maßgeblich sind für uns Liberale die Erfahrungen, nung der Ferienjobs auf Hartz IV, lehnte die Große
die Jugendliche bei der Aufnahme einer solchen Tätig- Koalition schlicht ab – und die FDP konnte sich gerade
keit machen können. Es geht dabei um erste Erfahrungen mal dazu durchringen, sich zu enthalten. Nach der Bun-
des Gelingens, die Entwicklung von Selbstbewusstsein destagswahl haben wir das Thema wieder aufgegriffen
und das Erlernen von Vertrauen in die eigenen Fähigkei- und erneut in den Bundestag getragen. Und was ist pas-
ten. Viel zu oft hören wir von Familien im Bezug von siert? Die Unionsparteien und die FDP haben den Antrag
Arbeitslosengeld II, deren Kinder als Berufswunsch abgelehnt, und die SPD hat sich nur enthalten. Das ist
„Hartz IV“ nennen. Dies ist für uns ein alarmierendes Si- angesichts des Problems nichts anderes als Parteipolitik
(B) gnal, dem wir entgegentreten müssen. Dadurch, dass wir auf dem Rücken von Jugendlichen aus armen Familien, (D)
die Anrechnung der Ferienjobs jetzt gerechter gestalten, und das ist nicht akzeptabel.
gehen wir einen entscheidenden Schritt in die richtige
Richtung. Nicht zu vergessen ist, dass der Ferienjob Jetzt endlich will die Bundesregierung auf dem Wege
auch oft der erste Kontakt zur Arbeitswelt ist. Diese Er- einer Verordnung Einkommen aus Ferienjobs teilweise
fahrung ist nicht zu vernachlässigen. freistellen. Damit hat sich der Antrag der SPD erledigt.
Aber damit hat sich der Antrag der Linken noch nicht
Ziel der Verordnung, die das Kabinett beschlossen erledigt.
hat, ist es, für junge Menschen gezielte Anreize zur Auf-
nahme von Ferienjobs zu schaffen. Es werden Schülerin- Zwei Ziele müssen wir mit einer Ferienjobregelung
nen und Schüler hilfebedürftiger Eltern denjenigen für Jugendliche erreichen, deren Familien von Hartz IV
gleichgestellt, deren Eltern nicht hilfebedürftig sind: Sie betroffen sind: Wir wollen Schutz und Motivation. Wir
können die Einnahmen aus ihrer Arbeit weitgehend für wollen die Jugendlichen nicht entmutigen, sondern er-
eigene Wünsche verwenden. Viele von uns kennen aus muntern, ihr eigenes Geld zu verdienen. Wir brauchen
eigener Erfahrung oder aus dem familiären Umfeld, einen Sozialstaat, der es den Einzelnen ermöglicht, ei-
welch tolles und wichtiges Erlebnis es ist, vom ersten gene Entscheidungen zu treffen. Denn nur wer tatsäch-
selbstverdienten Geld etwas zu kaufen. Dies prägt einen lich etwas zu entscheiden hat, kann Verantwortung über-
jungen Menschen. Es prägt sein Verhältnis zur Markt- nehmen. Im System Hartz IV gibt es für die Betroffenen
wirtschaft, und zwar nachhaltig und positiv. nichts zu entscheiden – weder für die Eltern noch für die
Kinder. Hier setzen wir an. Denn wir Linken wissen
Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von SPD und – und weisen immer wieder darauf hin –, dass Motiva-
Linke, haben in der Vergangenheit Lösungen eingefor- tion das eine, Schutz aber gerade bei Kindern und Ju-
dert. Wir hatten Ihnen gesagt, dass wir dies sorgfältig gendlichen das andere Ziel sein muss.
prüfen und regeln würden. Dies haben wir nun getan und
das Problem gelöst. Gerade Sie, liebe Kolleginnen und Deswegen ist uns sehr wichtig, nicht über das Ziel hi-
Kollegen der SPD, hatten in den vergangenen Jahren die nauszuschießen und die Balance zu halten. Der Jugend-
Chance zur Änderung des Problems. Dies haben Sie schutz muss eingehalten werden; denn eine reguläre
nicht getan, obwohl Sie den Arbeitsminister gestellt ha- Schulbildung ist wichtiger als der schnell und früh
ben. verdiente Euro. Deswegen ist es richtig, die Verdienst-
möglichkeiten von Schülerinnen und Schülern strikt
Wir haben nun gehandelt und gezeigt, dass sich die nach Alter der Schülerinnen und Schüler und Dauer des
christlich-liberale Koalition um die Belange der Men- Jobs zu begrenzen. Ja, wir wollen den Arbeitsmarkt
3972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) regulieren – aber selbstverständlich nur mit Sinn und etwas dazuverdient, um sich einen solchen Wunsch zu (C)
Verstand. Vier Wochen im Jahr, wie es das Jugendar- erfüllen? Ich finde, das ist so. Ich selbst bin auch in Fe-
beitsschutzgesetz vorsieht, reichen. Wozu also zusätzlich rienjobs an die Arbeitswelt herangeführt worden. Ich
die Einkommenshöhe beschränken? Die Bundesregie- habe erste Einblicke gewonnen und gleichzeitig gelernt,
rung schlägt nun vor, dass Schülerinnen und Schüler dass ich mit meiner Hände Arbeit etwas erreichen kann.
innerhalb der vier Wochen maximal 1 200 Euro verdie- Ist das nicht eine Erfahrung, die alle Jugendlichen ma-
nen dürfen und beispielsweise bei einem Stundenlohn chen sollten, auch die, die leider häufig nicht in der eige-
von 10 Euro 30 Stunden pro Woche arbeiten sollen. nen Familie erleben dürfen, welche sozialen Kontakte
Diese Verdienstbegrenzung auf 1 200 Euro lehnen wir die Einbindung in die Arbeitswelt schafft und welche
ab! Chancen in Arbeit liegen, die Jugendlichen, deren Eltern
ALG II beziehen?
Meine Damen und Herren von Union und FDP, Sie
haben da etwas vollkommen falsch verstanden. Wir Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungs-
müssen einen Mindestlohn festlegen – da sind Ihre fraktionen, heute haben Sie die Gelegenheit, dafür zu
10 Euro genau richtig –, aber doch keinen Durch- sorgen, dass Ferienjobs für Jugendliche anrechnungsfrei
schnitts- oder Höchstlohn. Ich fordere Sie auf: Streichen bleiben. Ich kann Sie nur noch einmal auffordern, diese
Sie die Verdienstgrenze für jobbende Schülerinnen und Chance zu nutzen, denn Ihre Argumente dagegen ste-
Schüler, die im Hartz-IV-System stecken! Schutz und chen nicht. Kollege Kober von der FDP hat sogar gesagt,
Motivation brauchen eine Arbeitszeitbegrenzung, aber die Linke griffen ein Kernelement liberaler Gerechtig-
keine Verdienstgrenze. keitsvorstellungen auf, das die FDP gerne unter dem
Motto „Leistung muss sich lohnen“ zum Ausdruck
brächte. Aber zustimmen wollte Kollege Lehrieder von
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich der CDU/CSU-Fraktion dann doch nicht, um keinen ge-
glaube, ich habe hier ein Déjà-vu; denn wir haben doch setzgeberischen Flickenteppich zu schaffen. Da frage ich
schon im November 2009 und im Januar 2010 darüber den Kollegen: Was ist denn jetzt anders an dem ins Kabi-
gesprochen, dass Ferienjobs nicht mehr auf das ALG II nett eingebrachten Vorschlag? Ist der gleiche Teppich,
angerechnet werden sollen. Leider ist seit dem nichts ge- wenn Sie ihn weben, kein Flickenteppich? Machen Sie
schehen. Schon damals haben wir Grüne gesagt, dass es Schluss mit dieser Herumdrückerei und nutzen Sie die
nicht sein kann, dass Jugendliche die deprimierende Er- Chance zur Veränderung. Streichen Sie die unsinnigen
fahrung machen, dass ihnen das erste selbstverdiente Sanktionen und erhöhen Sie die Anreize für junge Men-
Geld wieder genommen wird. Deshalb haben wir den schen, sich etwas dazuzuverdienen. Zögern Sie nicht und
Anträgen von SPD und Linken im Ausschuss für Arbeit stärken Sie das Selbstbewusstsein des und der einzelnen
(B) und Soziales zugestimmt, die hier Änderungen gefordert (D)
jungen Menschen.
haben; denn sie sind in der Sache richtig und vernünftig.
Wir haben hier keine Differenz mit diesen beiden Frak-
tionen.
Anlage 7
Gegen die Anträge gestimmt haben da allerdings die
Kolleginnen und Kollegen aus CDU/CSU und FDP, die Zu Protokoll gegebene Reden
sich jetzt damit brüsten, dass sie den Jugendlichen einen zur Beratung:
Freibetrag für Ferienjobs von 1 200 Euro einräumen
wollen. Man muss schon sagen, dass die Lernkurve die- – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
ser Kolleginnen und Kollegen nur sehr langsam ansteigt. Antrag: Menschenrechtsschutz im Handels-
Zweimal waren die Ferienjobs Thema in der Sendung abkommen der Europäischen Union mit
Hart aber fair, und es hat diese beiden Sendungen ge- Kolumbien und Peru verankern
braucht, in der die Vertreter der Koalition vorgeführt
worden sind, bis sie sich dazu entschieden haben, end- – Beschlussempfehlung und Bericht zu den
lich im Kabinett zum Freibetrag von 1 200 Euro zu kom- Anträgen:
men. Eine stramme Leistung finde ich aber, dass sie es
– VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in
bis heute nicht geschafft haben, diese Lösung der Pro-
Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Un-
blematik hier in den Bundestag einzubringen, sodass wir
abhängigkeit Lateinamerikas solidarisch
darüber abstimmen können und endlich dafür sorgen
unterstützen
können, dass sich Jugendliche mit dem ersten selbstver-
dienten Geld Wünsche erfüllen können, die sie sich – Klimaschutz und gerechten Handel mit
sonst nicht erfüllen könnten. Lateinamerika und der Karibik voran-
bringen
Ein neues Fahrrad, einen neuen Computer oder die
viel zitierte Gitarre können sich Kinder von ALG-II- – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Empfängerinnen und -empfängern nicht leisten, weil das Antrag: Menschenrechte in Kolumbien auf
Geld dafür schlicht und einfach fehlt. Es reicht ja schon die Agenda setzen – Freihandelsabkommen
für Bekleidung und Schulbedarf nicht, wie im Februar EU-Kolumbien stoppen
sogar das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat. Ist es
da nicht verständlich, dass man sich gern im Ferienjob (Tagesordnungspunkt 18 a bis c)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3973

(A) Anette Hübinger (CDU/CSU): Heute debattieren ration im Wissenschaftsbereich und die Durchführung (C)
wir zum zweiten Mal über Anträge von Bündnis 90/Die von gemeinsamen Forschungsprojekten.
Grünen und der Fraktion Die Linke anlässlich des in der
Die Bundesregierung unterstützt bereits diese Koope-
nächsten Woche in Madrid zum sechsten Mal stattfin-
ration, wie am deutsch-brasilianischen Wissenschafts-
denden EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfels. Die Staats-
jahr 2010/2011 zu erkennen ist. – So viel in Kürze zum
und Regierungschefs werden zusammentreffen, um über
Gipfel in Madrid.
die großen globalen Herausforderungen wie Armutsbe-
kämpfung, fortschreitenden Klimawandel und den stei- Nun zu den Anträgen der Oppositionsfraktionen. Alle
genden Energiebedarf zu diskutieren und nach gemein- drei Oppositionsparteien beschäftigen sich in ihren An-
samen Handlungswegen zu suchen. trägen mit den Freihandelsabkommen zwischen der EU
und den Ländern Peru und Kolumbien, die in Madrid be-
Die nunmehr seit zehn Jahren bestehende strategische
schlossen werden sollen. Die SPD und die Grünen wol-
Partnerschaft zwischen diesen beiden Regionen, die ge-
len den Menschenrechtsschutz in den Handelsabkom-
meinsame Werteorientierung und unser gemeinsames
men verankert wissen. Die Achtung der Menschenrechte
Verständnis von Demokratie bilden dafür eine gute Ba-
ebenso wie das Rechtsstaatsprinzip sind im Vertrag auf-
sis. Sie sind auch die Grundlage für eine künftig intensiv
geführt. Darüber hinaus enthält das Freihandelsabkom-
gelebte Partnerschaft.
men Sanktionsmöglichkeiten bei Zuwiderhandlung. Da-
Die geopolitische Bedeutung Lateinamerikas und der mit gehen in diesem Punkt beide Anträge nach Ansicht
Karibik hat in den vergangenen Jahren stark zugenom- der CDU/CSU ins Leere.
men. Sowohl politisch als auch wirtschaftlich spielen die Die Fraktion Die Linke lehnt die Abkommen auf-
Länder Lateinamerikas eine wachsende Rolle, was auch grund von Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien
das Selbstbewusstsein dieser Länder gestärkt hat. und Peru gänzlich ab. Aus ideologischer Sicht geben sie
Der wachsende Wohlstand ist aber für viele latein- einer sozialistischen Wirtschaftsordnung, die mit freiem
amerikanische Staaten auch mit großen Herausforderun- Handel nichts anzufangen weiß, den Vorzug. Auch bele-
gen verbunden. Insbesondere die Sicherung einer ad- gen sie in ihrem Antrag zum wiederholten Mal ihre se-
äquaten Energieversorgung wird in den kommenden lektive Sichtweise in Bezug auf Menschenrechtsverlet-
Jahren für diese Länder ein Schlüsselthema sein, wenn zungen, die sie zum Beispiel in Kolumbien und
es darum geht, auch in Zukunft weiteres wirtschaftliches Honduras beklagen, aber in Kuba und Venezuela nicht
und soziales Wachstum zu erreichen und die Armut zu anprangern. Weiter werden die altbekannten Ressenti-
reduzieren. ments der Linken gegenüber den Vereinigten Staaten im
Antrag bedient. Die Kolleginnen und Kollegen von der
(B) Daher widmet sich der diesjährige Gipfel besonders Fraktion Die Linke begeben sich damit in eine politische (D)
dem Themenbereich Innovation und Technologie für Einbahnstraße, die nicht den Bedürfnissen der Men-
eine nachhaltige Entwicklung und soziale Inklusion. schen, sondern einem ideologischen Konzept folgt, das
Denn zum einen sind Innovation und Technologie nicht den Menschen das Paradies verspricht, aber sie der Hölle
nur für Europa Wachstums- und Wohlstandsvorausset- ein Stück näher bringt, wie es die Geschichte lehrt.
zungen, sondern ebenso für die Staaten Lateinamerikas
und der Karibik, und zum anderen liegen in diesen Be- Der Antrag der Grünen enthält neben den Forderun-
reichen die Lösungsansätze, um die Herausforderungen gen zu den Freihandelsabkommen weitere, die sich auf
des Klimawandels, der Energiesicherung und der Ar- Klima, Umweltschutz und multilaterale Kooperation be-
mutsbekämpfung in Einklang bringen zu können. ziehen, die die CDU/CSU-Fraktion in weiten Bereichen
ähnlich sieht. Jedoch enthält der Antrag im Bereich
Schon im Vorfeld des Gipfels trafen sich in der ver- Energie Forderungen im Hinblick auf Atomenergie, die
gangenen Woche in Berlin führende Vertreter aus Poli- wir aus zwei Gründen so nicht mittragen können. Ers-
tik, Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Ein Grund für tens achten wir die Souveränität der lateinamerikani-
das Treffen war, die Weltklimakonferenz in Cancún vor- schen Staaten, auch in ihrer Energiepolitik, und zweitens
zubereiten und zu gemeinsamen Positionen zu kommen. sind bereits Entscheidungen auf deutscher Seite gefallen,
Ein weiterer war, sich über den Ausbau von erneuerba- die über die europäische Schiene nicht korrigiert werden
ren Energien auszutauschen. Gerade im Bereich der er- sollen.
neuerbaren Energien ist der technologische Entwick-
lungsstand in Europa sehr weit fortgeschritten, und Die CDU/CSU-Fraktion lehnt die Anträge der Oppo-
deutsche Technologien gehören zur Weltspitze. Dieses sitionsparteien aus den genannten Gründen ab.
Potenzial wollen wir bei der künftigen Kooperation mit Ich wünsche dem Gipfel in Madrid viel Erfolg. Ich er-
unseren lateinamerikanischen Partnern einbringen. Der hoffe mir, dass der vertiefte politische Dialog in eine
Ausbau dieser Technologie bedeutet neue Arbeitsplätze konkrete, breit angelegte Kooperation mündet.
und auch wachsenden Wohlstand. Voraussetzung dafür
sind jedoch gewaltige finanzielle Investitionen. Deshalb
müssen wir uns ebenso für Rahmenbedingungen stark Michael Frieser (CDU/CSU): Die Oppositionsfrak-
machen, die diese – auch von privater Seite – ermögli- tionen haben zum VI. Gipfeltreffen zwischen der Euro-
chen. päischen Union und den Ländern Lateinamerikas in
Madrid zwei qualitativ höchst unterschiedliche Anträge
Der Transfer von Technologie allein reicht aber nicht zur Beratung vorgelegt. Einige Forderungen scheinen
aus. Hinzukommen muss der Austausch und die Koope- auf den ersten Blick schlüssig, doch der zweite Blick
3974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) fördert – wie so oft – auch hier die Probleme ans Tages- tisch zu einem Handeln aufrufen, welchem die deutsche (C)
licht. Botschaft in Bogotá regelmäßig nachgeht und welches
die kolumbianische Seite zu schätzen weiß.
Der Antrag der SPD zur Verankerung des Menschen-
rechtsschutzes im Handelsabkommen der Europäischen Es lässt sich beim besten Willen aus meiner Sicht
Union mit Kolumbien und Peru ist ausgesprochen nichts wesentlich Neues im Antrag der SPD entdecken,
zurückhaltend und diplomatisch formuliert. was eine Zustimmung rechtfertigen würde. Das ist der
Im Gegensatz dazu ist der Antrag der Fraktion der erste Grund, weshalb wir den Antrag nicht befürworten
Linken von einem globalisierungskritischen, revolutio- werden.
nären Pathos getragen. Der Antrag zielt nicht auf eine Doch diese Forderungen sind aus meiner Sicht nicht
Beförderung der Menschenrechte, sondern trägt abstruse der Knackpunkt dieses Antrags. Der Knackpunkt ist die
Thesen und Behauptungen über Wirtschaftsprozesse, Verknüpfung von Handelspolitik und Menschenrechts-
den Weltmarkt und die Armut vor. Die Aussagen stecken politik, welche im Übrigen in beiden Anträgen auf-
voller Widersprüche und instrumentalisieren die Angst taucht. Das ist eine Vorstellung von Außenpolitik, die
vor einem wirtschaftlichen Strukturwandel. Den Verfas- nicht funktioniert. Es ist ein Kardinalfehler, zu denken,
sern geht es eindeutig um Globalisierungskritik und dass mit einer Sanktionierung von Handelskooperatio-
nicht um Menschenrechte. Der Titel ist irreführend. nen eine Verbesserung der menschenrechtlichen Situa-
Seine Forderungen lehnen wir ab. tion innerhalb eines Landes erreicht werden könne. Wir
Dass der Antrag der SPD-Fraktion ausgewogener mussten in den 1990er-Jahren schmerzlich erfahren, dass
scheint, ist der Tatsache geschuldet, dass die Sozialde- die Verkettung von Wirtschafts- und Menschenrechts-
mokraten in ihrem Antrag weder die kolumbianische politik nicht die erwünschte politische Wirkung entfaltet.
Regierung noch die peruanische Regierung für Men- Dies zeigte ganz besonders eindrucksvoll die Praxis der
schenrechtsverletzungen verantwortlich machen. Wohl- gemeinsamen Politik der EU-Staaten gegenüber Staaten
weislich geschieht dies, weil es in Kolumbien nicht die wie China, Russland, Iran und Irak. Bekenntnisse zur
Regierung ist, die die schweren Menschenrechtsverlet- Demokratie und zur Einhaltung politischer und bürgerli-
zungen zu verantworten hat. Es sind die Paramilitärs und cher Rechte wurden zu reinen Lippenbekenntnissen. Die
Guerillas, wie die marxistischen Organisationen FARC rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und
und Ejército de Liberación Nacional, ELN, und Nachfol- Joschka Fischer hat in Bezug auf China und Russland
georganisationen, wie die Autodefensas Unidas de Co- dies schmerzlich lernen müssen und dann von einer Ver-
lombia, AUC, die Verbrechen wie Massaker, Vertreibun- knüpfung von Handelspolitik und Menschenrechtspoli-
gen, Tötungen, Vergewaltigungen und Erpressung tik abgesehen.
(B) verüben. Es sind nichtstaatliche Gruppen, die für das Auch die US-Administrationen haben diese Tatsache (D)
Klima der Angst in dem Land verantwortlich sind. nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes erst lernen
Dies kann man in den Länderberichten von Human müssen und verzichten heute darauf. Populistische Reso-
Rights Watch nachlesen. Ich lege diese Berichte den lutionen aus dem Repräsentantenhaus ändern an dieser
Kollegen der Opposition als Lektüre ans Herz. Unter Haltung der US-Administrationen nichts; das sollte auch
Präsident Uribe hat Kolumbien eine insgesamt positive die Opposition im Deutschen Bundestag zur Kenntnis
Entwicklung im Feld der Menschenrechte gemacht. Prä- nehmen. Eine Aussetzung oder ein Zur-Disposition-Stel-
sident Uribe steht in dem von einem jahrzehntelangen len von Handelsabkommen bewirkt das Gegenteil des
bürgerkriegsähnlichen Konflikt zerrissenen Land für ein Erwünschten. Der Einfluss auf die innenpolitische Situa-
hartes Durchgreifen gegen die kolumbianischen Guerilla- tion in den Staaten nimmt ab. Die Verfasser des SPD-
organisationen. In den Berichten über die Menschen- Antrages erkennen dieses Problem, wenn sie schreiben:
rechtssituation in Peru kritisiert Human Rights Watch „Die Regierungen von Kolumbien und Peru wehren sich
den „überzogenen“ Umgang der Polizei mit der opposi- grundsätzlich gegen die Verknüpfung von Handels- und
tionellen Vertretern der indigenen Bevölkerung sowie Menschenrechtsfragen.“ Doch sie ziehen nicht die richti-
mit Straftatverdächtigen. In einigen Provinzen stellt Hu- gen Konsequenzen aus ihrer Erkenntnis.
man Rights Watch die Einschüchterung von Journalisten
In der Frage, wie Freihandelsabkommen gerade in
fest.
den schwierigsten Situationen helfen können, unter-
So müssen die Feststellungen der Antragsteller zu- scheidet sich die Fraktion der CDU/CSU von den Vor-
mindest gegenüber Peru als alarmistisch bezeichnet wer- stellungen der Antragsteller ganz grundsätzlich. Aus
den. In umfangreichen Ausführungen möchte die SPD- unserer Sicht haben Freihandelsabkommen eine ent-
Fraktion, dass der Bundestag die Bundesregierung zu bi- wicklungspolitische Bedeutung, da sie Entwicklungslän-
lateralen Gesprächen mit den Regierungen in Bogotá dern den Zugang zu den Märkten von Industrieländern
und Lima auffordert. Auf bilateraler Ebene soll die Bun- öffnen, indem Zölle, nicht-tarifäre Handelshemmnisse
desregierung erreichen, dass in beiden Ländern der Dia- wie Ein- und Ausfuhrverbote sowie Kontingente abge-
log zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren schafft werden. Aus diesem Grund fördert die WTO die
intensiviert wird mit dem Ziel, Menschenrechte zu för- Abschlüsse von Freihandelsabkommen und Freihandels-
dern. Dies alles ist jedoch bereits Teil des täglichen Ge- zonen. Aus diesem Grunde verhandelt die EU mit Staa-
schäfts der deutschen Botschaft in Kolumbien und somit ten in Afrika, in der Karibik und im Pazifik über den Ab-
der Bundesregierung. Der Bundestag muss die christ- schluss von Freihandelsabkommen. Wenn ein Land für
lich-liberale Bundesregierung nicht vordergründig kri- die Schaffung von Märkten „bestraft“ oder zumindest
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3975

(A) vom Warenaustausch abgehalten wird, dann bedeutet Genau deshalb bietet sich mit dem Handelsabkom- (C)
dies, dass sich die Situation der einfachen Arbeitnehmer men im Interesse der Menschenrechte, im Interesse der
und damit der Ärmsten verschärft. Ich glaube nicht, dass Verfolgten und Opfer die Möglichkeit, auf die Regierun-
dies Ziel der deutschen Außen- und Menschenrechts- gen Druck auszuüben, mit ihren Aussagen auch wirklich
politik sein kann. ernst zu machen; ernst zu machen mit der Einhaltung
fundamentaler Menschenrechte und ernst zu machen mit
Kurzum: Die Forderung der Fraktionen SPD und der Aufarbeitung der Verbrechen. Denn Kolumbien hat
Linke, die Bundesregierung solle innerhalb der Europäi- nicht nur ein hohes wirtschaftliches Interesse an diesem
schen Union für ein Ende der laufenden Verhandlungen Abkommen. Ein solches Abkommen mit der Europäi-
zu einem Freihandelsabkommen zwischen Europa und schen Union würde die kolumbianische Regierung inter-
Kolumbien sowie Peru eintreten, unterstützen wir nicht. national erheblich aufwerten, ihre Politik legitimieren.
Das war auch einer der wesentlichen Gründe, warum die
Wolfgang Gunkel (SPD): Wir dürfen uns nichts Parlamente der USA, Kanadas und Norwegens ähnliche
vormachen: In Peru und in Kolumbien, in den beiden Handelsabkommen mit Kolumbien nicht ratifiziert haben.
Ländern, mit denen die Europäische Union jetzt ein Das sind Parlamente, die nicht unter Verdacht stehen,
Freihandelsabkommen unterzeichnen will, werden Men- Handelsinteressen leichtfertig zurückzustellen. Aber mit
schenrechte auf eklatante Weise verletzt. Menschen wer- Hinweis auf die katastrophale Menschenrechtslage in
den von ihrem Land vertrieben, weil sie den wachsenden Kolumbien sind diese Parlamente bislang nicht bereit,
Großplantagen oder dem Bergbau im Weg sind. Gewerk- einem solchen Abkommen zuzustimmen.
schaftsaktivisten verschwinden für immer, und jeder
weiß, sie sind nicht mehr am Leben. Nicht zuletzt die Gewerkschaftsbewegung – allen voran
die deutschen Gewerkschaften – hat eindeutig Position
In Peru wird die politische Opposition unterdrückt. gegen ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien bezogen.
Wer unter Strafverdacht steht, muss Folter und Miss- Die Gewerkschaften fordern vor allem Sicherheit und
handlungen befürchten. Journalistinnen und Journalisten Garantie der fundamentalen Menschenrechte ihrer Gewerk-
werden bedroht und mundtot gemacht. Bei den Protesten schaftskolleginnen und -kollegen. In den letzten 15 Jah-
indigener Bevölkerungsgruppen gegen die Landpolitik ren sind in Kolumbien weit mehr als 2 000 Gewerk-
und Vertreibung im Juni 2009 haben mehr als 50 Men- schafter ermordet worden.
schen ihr Leben verloren.
Kommt das Handelsabkommen jetzt ohne klare und
In Kolumbien werden Verteidiger von Menschenrechten eindeutige Bedingungen zur Einhaltung der Menschen-
vehement eingeschüchtert, ihre Familien werden bedroht, rechte, ohne Ausstiegsklausel bei Nichteinhalten von Zu-
(B) oder sie werden kurzerhand von Paramilitärs erschossen. sagen zustande, so ist das ein Zeichen an die Regierung in (D)
Dafür gibt es den perfiden Begriff „Extralegale Hinrich- Kolumbien, dass ein „Weiter-so“ möglich ist, dass die
tungen“. Ebenfalls in Kolumbien wurden junge Männer Staaten der Europäischen Union ihr nicht ernsthaft Einhalt
von Soldaten erschossen, dann in Guerillero-Uniform ge- gebieten wollen. Und das ist ein Zeichen an die USA, an
kleidet und als gefallene Terroristen deklariert. 2 000 Fälle Kanada und an Norwegen, dass man für Wettbewerbs-
dieser „Falsos Positivos“ – falsche Gefallene – sind bis- vorteile im Welthandel anderen Prinzipien folgt. Der Ab-
lang bekannt. Mütter und Anwälte der Ermordeten sind schluss des Freihandelsabkommens könnte Anlass für
ihres Lebens nicht sicher, wenn sie um Aufklärung der die Parlamente der USA, Kanadas und Norwegens sein,
Morde kämpfen. Eine ordentliche Ermittlung und Straf- ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken.
verfolgung findet nicht statt.
Auch die Art und Weise, wie das Handelsabkommen
Ich war mehrmals in Kolumbien, ich habe mir jenseits zustande gekommen ist, wird dem Anspruch einer trans-
der offiziellen Besucherrouten – unterstützt von Menschen- parenten Politik unter Beteiligung aller Akteure aus der
rechtsaktivisten, dem katholischen Hilfswerk Misereor Zivilgesellschaft nicht gerecht. Die Verhandlungen fanden
und anderen Hilfsorganisationen – die Situation vor Ort mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen statt.
angesehen. Ich kann bestätigen, was die UN-Hochkom- Eine politische Debatte über Inhalte und Ziele hat es zu
missarin für Menschenrechte in ihrem Bericht zu Kolum- keinem Zeitpunkt gegeben, Verbände, Gewerkschaften
bien festgestellt hat. Sie kritisiert die fehlende unabhän- und Nichtregierungs-Organisationen wurden auf beiden
gige Kontrolle der dortigen Geheimdienste in deren Seiten nicht einbezogen. Der fertige Vertragstext wurde
Zusammenarbeit mit dem Militär. Sie beklagt die Gefahren dem Europäischen Parlament – sozusagen zum Abni-
für Menschenrechtsverteidiger und die außergerichtli- cken – am 31. März dieses Jahres auf den Tisch gelegt.
chen Hinrichtungen. Es gibt kein Opfergesetz für Opfer Das ist nicht unser Anspruch an Politik, an eine parla-
von sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Gewalt, das mentarische Demokratie.
internationalen Grundstandards standhält.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich
Angesichts dieser katastrophalen Menschenrechtslage glaube Sie geben uns weitgehend recht, stimmen unse-
muss es für die Opfer wie Hohn klingen, wenn die FDP rem Antrag aber aus vorgeschobenen Gründen nicht zu.
behauptet, dass seitens der kolumbianischen Regierung Wenn ich Ihre Argumente in der Beschlussempfehlung
glaubhaft erklärt worden sei, dass es zwar noch immer des Ausschusses für Menschenrechte lese, so lese ich im
Menschenrechtsverletzungen gebe, aber das Land in den Grundtenor vorsichtige Zustimmung. Sie attestieren uns
letzten Jahren erhebliche Fortschritte in der Aufarbeitung „Zurückhaltung“ und „Diplomatie“. Ihre Einwände sind
dieser Vorgänge gemacht habe. Das ist eher nicht der Fall. rein formaler Natur, wenn Sie bemängeln, dass „Men-
3976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) schenrechte als Texte in Handelsabkommen nichts zu su- Nun zum Antrag der SPD zum Thema Menschen- (C)
chen hätten“ und man die Situation in Kolumbien und rechtsschutz in Handelsabkommen der EU mit Kolum-
Peru „nicht in einen Topf werfen“ dürfe. Ich denke, diese bien und Peru. Es ist natürlich wichtig, kritische Men-
Einwände sind nicht schwerwiegend genug, um die schenrechtsfragen zu thematisieren. Dies geschieht
große Chance verstreichen zu lassen, im Zuge der Ver- sowohl für Kolumbien als auch für Peru vonseiten der
handlungen mit Peru und Kolumbien dort die Garantie Bundesregierung und der EU. Bereits in den Verhand-
grundlegender Menschenrechte voranzubringen. Wir ha- lungen für das Abkommen zwischen der EU und Kolum-
ben dabei die Unterstützung der Parlamente der USA, bien bzw. Peru hat sich die Bundesregierung dafür ein-
Kanadas und Norwegens. Mit unserem Antrag kann der gesetzt, dass es Menschenrechtsverpflichtungen enthält.
Deutsche Bundestag in diesem Sinne ein deutliches Zei- Auch im Abkommen selbst wurde Wert darauf gelegt,
chen setzen und gleichzeitig die Parlamentarier im Euro- dass der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
päischen Parlament ermutigen, dem Freihandelsvertrag und den geltenden Rechtsstaatsprinzipien Rechnung ge-
nicht zuzustimmen. tragen wird: In der Präambel und in Art. I ist jeweils ein
ausdrücklicher Hinweis auf die Bedeutung der Men-
Denn wir sind nicht der Meinung der FDP, die in un- schenrechte enthalten. Nur muss auf der anderen Seite
ternehmerischen Tätigkeiten eine Chance sieht, um auf ebenso bedacht werden, dass es in einem Handelsab-
eine Verbesserung der Menschenrechtsstandards hinzu- kommen vorwiegend um die Regelung der gegenseitigen
wirken. So jedenfalls begründen die Liberalen die Ableh- wirtschaftlichen Beziehungen geht und dass diese Bezie-
nung unseres Antrags. Der Markt kann nicht alles regeln, hungen von gleichberechtigten Partnern ausgehandelt
und die Durchsetzung von Menschenrechten kann ganz werden. Sie sprechen in Ihren Anträgen unisono von
bestimmt nicht auf dem freien Markt verhandelt werden. dem gewachsenen Selbstbewusstsein der Staaten Latein-
Ohnehin laufen wir Gefahr, unsere Glaubwürdigkeit im amerikas und der Karibik. Ich stimme mit Ihnen darin
grundlegenden Bekenntnis für die Einhaltung universeller überein, dass es für die jeweiligen Länder wichtig ist,
Menschenrechte zu verlieren, wenn wir unsere Außenbe- selbstbestimmt über ihre Außenhandelspolitik zu ent-
ziehung in erster Linie von Wirtschaftsinteressen leiten scheiden. Deshalb ist es aber an uns Europäern, zu ak-
lassen. Wir können nicht bei Menschenrechtsverletzungen zeptieren, dass es auf der anderen Seite auch diesen
in dem einen Land wegsehen und uns einreden, durch Staaten obliegt, ihre Verträge und Abkommen selbst-
Handel dort Wandel herbeizuführen, und gleichzeitig ständig abzuschließen.
Menschenrechtsverletzungen in dem anderen Land an-
klagen, das uns politisch missliebig ist. Menschenrechte Für uns Europäer bietet das Freihandelsabkommen
sind unteilbar und universell gültig. Sie sind nicht verhan- auf der einen Seite die Gelegenheit, wichtige Gesprächs-
delbar. An diesem Leitmotiv müssen wir unsere Politik kanäle offenzuhalten, über die wir gegenüber Regierun-
(B)
messen lassen. gen auch Menschenrechtsanliegen kommunizieren kön- (D)
nen. Dies muss selbstverständlich entsprechend genutzt
werden, um die zu Recht kritisierte Menschenrechtslage
Harald Leibrecht (FDP): Es liegen heute Abend in Kolumbien und Peru zu verbessern. Eine Nichtunter-
vier Anträge vor. Zwei davon haben wir bereits vergan- zeichnung des Freihandelsabkommens wäre auf der an-
gene Sitzungswoche debattiert. Meine Kollegin Marina deren Seite nicht in unserem Sinne; denn dies würde in
Schuster hat zu dem Antrag der Linken zum Thema EU- erster Linie den Wirtschaftssektor treffen und nicht die
Lateinamerika-Gipfel und dem Antrag der Grünen zum politische Führung des Landes.
Klimaschutz und Handel mit Lateinamerika die wich-
tigsten Aspekte aus liberaler Sicht bereits genannt hat. Bezüglich der Menschenrechtslage in Kolumbien, die
Daher möchte ich hier nur noch auf die zwei anderen im Antrag der Linken thematisiert wird, muss ich Sie,
Anträge eingehen. liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, korri-
gieren. Die Bundesregierung hat sich mit Nachdruck in
Einen Satz kann ich mir zum Antrag der Linken nicht den Verhandlungen für das Abkommen zwischen der EU
verkneifen: Obwohl ich einiges von Ihren Initiativen und Kolumbien dafür eingesetzt, dass es Menschen-
mittlerweile gewohnt bin, habe ich mich bei Ihrem An- rechtsverpflichtungen enthält. Die EU bringt im politi-
trag zum EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel wirklich er- schen Dialog sowie im kürzlich eingerichteten bilatera-
schrocken; darüber, wie undifferenziert Sie über die len Menschenrechtsdialog mit den kolumbianischen
Lage der Menschen in Venezuela und Kuba sprechen Behörden regelmäßig ihre Menschenrechtsanliegen zum
und sie als Musterstaaten darstellen. Ich frage mich, wie Ausdruck, und auch die EU-Kommission hat in diesem
Sie die Probleme der Misswirtschaft von Hugo Chávez, Zusammenhang die kolumbianische Regierung auf ver-
die politischen Gefangenen und vielfachen Menschen- mehrte Anstrengungen gedrängt, um beispielsweise Ge-
rechtsverletzungen einfach beiseiteschieben können. Sie werkschafter und Angehörige von Opferverbänden zu
sprechen immer von Solidarität und Gerechtigkeit – schützen.
doch diese Werte scheinen Sie nicht allen Menschen
gleichermaßen zugestehen zu wollen. Wenn es Staaten Betrüblich finde ich auch, dass in jedem außenpoliti-
wie Kuba, Venezuela oder China sind, die Menschen- schen Antrag Antiamerikanismus mitschwingt. Da frage
rechtsverbrechen begehen, dann legen Sie zweierlei Maß ich mich tatsächlich, ob Sie überhaupt in der Lage sind,
an. Dieser politische Doppelstandard diese Doppelmoral ausgewogene Entscheidungen zu treffen, oder ob Sie
ist unerträglich und widerspricht der Universalität der nicht vielmehr Informationen und Erkenntnisse ignorie-
Menschenrechte. ren, um Ihrem ideologischen Kompass zu folgen. Das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3977

(A) bringt uns in Deutschland als Teil der internationalen unter Einschluss von Honduras mit? Angesichts des Um- (C)
Gemeinschaft nicht weiter. standes, dass die zuständigen Bundesministerien mittler-
weile von der FDP geleitet werden, die damals den
Lassen Sie mich noch einige Worte zur Lateiname- Putsch in Honduras offen unterstützt hat, ist anzuneh-
rika-Politik sagen. Zu lange ist das Potenzial einer Zu- men, dass die Bundesregierung diesen Kurs der EU nicht
sammenarbeit der EU mit Lateinamerika vernachlässigt nur mit trägt, sondern aktiv befördert hat.
worden. Ich freue mich, dass unter dieser Bundesregie-
rung das stiefmütterliche Dasein Lateinamerikas in der Die Fraktion Die Linke fordert: Keine Einladung für
deutschen Außen- und Entwicklungspolitik beendet Lobo! Der für Madrid geplante Abschluss des Assoziie-
wird. Mit dem neuen Lateinamerika-Konzept, das der- rungsabkommens der EU mit Zentralamerika muss
zeit ressortübergreifend ausgearbeitet wird, unterstreicht gestoppt werden.
die Bundesregierung zudem die neue Kohärenz der deut-
Dasselbe gilt für das Freihandelsabkommen, das die
schen Außen- und Entwicklungspolitik. Der Abschluss
EU in Madrid mit Kolumbien und Peru abschließen will.
der Handelsabkommen ist gerade auch für unsere latein-
Der jüngste Skandal um die Aktivitäten des kolumbiani-
amerikanischen Partner wichtig. Natürlich müssen
schen Geheimdienstes DAS, der in Brüssel Menschen-
Deutschland und die EU dabei ihren Beitrag leisten und
rechtsorganisationen und kritische Europaabgeordnete
Handelspolitik auch im entwicklungspolitischen Sinne
ausspioniert hat, wirft ein grelles Schlaglicht auf die
sinnvoll gestalten. Dazu gehören selbstverständlich auch
Situation in Kolumbien. Menschenrechtsverteidiger,
die Reduktion von Zollhemmnissen und der Abbau von
Friedensaktivisten und Gewerkschafter sind dort ständi-
Agrarsubventionen.
gen Bedrohungen ausgesetzt, politische Morde und Ver-
Natürlich ist dies kein einfaches Unterfangen. Die la- treibungen immer noch an der Tagesordnung. Von der
teinamerikanischen Staaten sind, politisch und wirt- Bundesregierung, die sich die Wertorientierung auf die
schaftlich gesehen, sehr divers und stehen vor den unter- Fahnen ihrer Außen- und Entwicklungspolitik geschrie-
schiedlichsten Herausforderungen: Armutsbekämpfung, ben hat, ist hierzu keine kritische Stellungnahme zu
soziale Ungleichheit, der Kampf gegen Kriminalität und vernehmen. Auch hier zeigt sich: Die wirtschaftlichen
Drogen, Klimaschutz und, und, und. Hier müssen wir Interessen gehen vor.
mit dem Instrument der Entwicklungszusammenarbeit Die Linke solidarisiert sich mit den sozialen Bewe-
mehr Möglichkeiten für nachhaltige Entwicklung schaf- gungen, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen in
fen. Jedes der lateinamerikanischen Länder muss eigen- Honduras, Kolumbien und Peru, die für ihre Rechte
ständige Managementprozesse entwickeln, um diese He- kämpfen und die von der EU fordern: Keine Freihan-
rausforderungen zu bewältigen – und Deutschland und delsabkommen mit Kolumbien und Peru! Keine politi-
(B) die EU können und müssen dabei wichtige Partner sein. sche Unterstützung für den kolumbianischen Präsidenten (D)
Auch gerade weil die lateinamerikanischen Staaten zwar Uribe! Für ein Ende der US-militärischen Präsenz auf
den Willen, aber noch nicht den Weg zu einer funktio- den Niederländischen Antillen, die eine direkte Bedro-
nierenden regionalen Integration gefunden haben, kann hung für Venezuela darstellen! Wir fordern das EU-Mit-
die EU hier einen wichtigen Beitrag leisten. gliedsland Niederlande auf, diese Unterstützung einzu-
stellen.
Heike Hänsel (DIE LINKE): Der EU-Lateiname-
rika-Gipfel, der übernächste Woche in Madrid stattfin- Der UNASUR-Gipfel gestern, auf dem mehrere süda-
den wird, steht unter keinem guten Stern. Die Europäi- merikanische Staaten gedroht hatten, den EU-Latein-
sche Union hat es mit ihrer Arroganz der Macht amerika-Gipfel in Madrid zu boykottieren, zeigt: Die
geschafft, fast die gesamte lateinamerikanische Staaten- lateinamerikanischen Staaten sind nicht mehr bereit, die
gemeinschaft gegen sich aufzubringen. Jetzt droht der Politik der Europäischen Union einfach so hinzuneh-
Gipfel zu platzen, weil die spanische EU-Ratspräsident- men. Sie haben mittlerweile starke Strukturen für eine
schaft trotz Protest der lateinamerikanischen Regierun- eigenständige regionale Integration gebildet. Teile und
gen den illegitimen honduranischen Präsidenten Porfirio herrsche – diese Zeiten sind für die Europäische Union
Lobo nach Madrid eingeladen hat. in Lateinamerika vorbei.

Als in Honduras der demokratisch gewählte Präsident Die regionale Integration, die sich auf der Grundlage
Manuel Zelaya aus dem Amt geputscht wurde, haben dieser neuen Solidarität in Lateinamerika vollzieht, hat
sich die lateinamerikanischen Regierungen hinter ihn den Menschen viel gebracht: den komplementären Aus-
und gegen den Putsch gestellt. Bis heute weigern sie sich tausch von Gütern und Dienstleistungen statt Freihandel
zu Recht, den unter den Bedingungen des Putschregimes und Verdrängungswettbewerb, die solidarische Bereit-
aus höchst umstrittenen Wahlen hervorgegangenen Prä- stellung von gegenseitiger Hilfe statt neoliberale Ent-
sidenten Lobo anzuerkennen. wicklungskonzepte aus dem Norden, eine eigenständige
Stimme auf dem internationalen Parkett statt Gängelung.
Vor diesem Hintergrund stellt die Zusammenarbeit Das betrifft auch die Klimapolitik. So kamen Ende April
der EU mit Honduras einen skandalösen Vorgang dar mehr als 30 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum
und zeigt: Die EU stellt ganz offen ihre Wirtschaftsinte- Klimagipfel der Völker nach Bolivien. In der Abschluss-
ressen über die Achtung von Demokratie und Menschen- erklärung wurde das kapitalistische System für den Kli-
rechten. Deshalb frage ich die Bundesregierung, wie sie mawandel verantwortlich gemacht, das die Menschen zu
sich dazu verhält. Unterstützt sie die Einladung an Lobo reinen Konsumenten und Arbeitskräften mache und die
nach Madrid? Trägt sie die Assoziierungsverhandlungen Natur zerstöre. Gefordert wird deshalb ein weltweites
3978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Referendum über das derzeit herrschende Weltwirt- oder Bolivien. Jetzt geht es um die Fortentwicklung und (C)
schaftssystem und ein Klimagerichtshof für klimaschäd- den Ausbau demokratischer Strukturen und die Intensi-
liches Verhalten von Staaten. Dies sind zukunftswei- vierung der wirtschaftlichen und politischen Zusammen-
sende Projekte. arbeit der Länder hin zu Gemeinschaften in Mittelame-
rika, dem Andenraum oder ganz Südamerika. In diesem
Ein Wort zum Antrag der Grünen. Wem zu Kuba Dialog sind häufig unsere europäischen Erfahrungen bei
nichts anderes einfällt, als die arrogante unilaterale Poli- der Entwicklung von der Europäischen Wirtschafts-
tik des sogenannten gemeinsamen Standpunkts der EU gemeinschaft zur Europäischen Union gefragt. Armuts-
zu wiederholen, die ja sogar innerhalb der EU nur noch bekämpfung geschieht nicht nur durch Notprogramme.
von Hardlinern wie der Bundesregierung verteidigt wird, Das kann wichtig sein nach Naturkatastrophen wie Erd-
hat nicht allzu viel vom sozialen Aufbruch in Lateiname- beben in Haiti oder Verwüstungen durch Wirbelstürme
rika verstanden. Da kann ich nur sagen: In Lateiname- wie „Mitch“. Gerade habe ich in Posoltega in Nicaragua
rika wird diese Haltung auf wenig Verständnis stoßen, ein erfolgreiches Projekt besucht, bei dem 1 000 Men-
dort tritt Kuba als einer der wichtigsten Akteure der schen ein Dach über dem Kopf und Staatsland zur Ei-
regionalen Integration und als bedeutender Geber im Ge- genversorgung mit deutscher Hilfe verschafft wurden.
sundheits- und Bildungssektor auf. Die Linke fordert
Anerkennung für diese solidarische Leistung der Kuba- Viel wichtiger sind faire und gerechte Handelsbezie-
nerinnen und Kubaner. In einer gleichberechtigten hungen. Mit absolutem Freihandel, wie dies der große
Zusammenarbeit mit Kuba steckt viel Potenzial für die Bruder USA und europäische Länder immer wieder ver-
Entwicklung in ganz Lateinamerika – das hat sich nach langen und zum Teil auch durchgesetzt hatten, haben die
dem Erdbeben in Haiti gezeigt, wo viele internationale Völker schlechte Erfahrungen gemacht. Vor allem in der
Helfer auf die langjährigen kubanischen Strukturen vor Landwirtschaft wurden eigene Ökonomien zur Selbst-
Ort zurückgreifen konnten. versorgung und bescheidenen Export zu Tode konkur-
riert. So lohnte sich der Anbau von Mais im Urland des
Nach mehr als 500 Jahren kapitalistischer Ausbeu- Mais Mexiko bald nicht mehr. Subventionierte Agrar-
tung und 200 Jahre nach dem Beginn der politischen produkte machen noch heute die lokalen Märkte kaputt,
Unabhängigkeit brechen die Menschen in Lateinamerika wie jetzt noch 5 000 Tonnen Milchpulver aus Europa.
auf zu einer „zweiten Unabhängigkeit“, die ihnen end- Den Bauern bei uns mag es gefallen, aber die Bauern in
lich auch die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lateinamerika müssen eigene Produktion mangels Ren-
Eigenständigkeit bringen soll. Die Linke formuliert in tabilität aufgeben. Anbau von Genprodukten, Palmöl
ihrem Antrag eine solidarische Haltung zu diesem Auf- und Biosprit ruinieren die Landwirtschaft zur Selbstver-
bruch. Für den 11. Mai haben wir Vertreterinnen und sorgung und die biologische Vielfalt.
(B) Vertreter linker Regierungen und sozialer Bewegungen (D)
zu einer öffentlichen Anhörung in den Bundestag einge- Freihandelsabkommen mit einzelnen Ländern wie
laden, und wir starten ein Solidaritätsschiff auf der jetzt mit Kolumbien und Peru sind nicht der richtige
Spree. Ich lade Sie alle sehr herzlich dazu ein. Sie kön- Weg. Regionale Abkommen sind die sinnvolle Alterna-
nen viel von Lateinamerika lernen. tive zur umfassenden WTO-Liberalisierungsagenda. Da-
mit ist eine sanfte Heranführung an den Weltmarkt mög-
lich. Nicht nur ökologische Landwirtschaft braucht vor
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
allem in der Anfangszeit häufig gezielte Förderung und
NEN): Der Lateinamerika-Gipfel übernächste Woche in
Schutz. Dies gilt für die Landwirtschaft insgesamt. Am
Madrid bietet die Chance für einen Neuanfang der Be-
ökologischen Anbau und fairen Handel haben wir als
ziehungen zu den Ländern Südamerikas, einem Konti-
Verbraucher und die Produzenten in den Ländern Latein-
nent im Wandel, eine gute Gelegenheit, den Dialog über
amerikas ein gemeinsames Interesse. Dies muss in den
Klimaschutz, Armutsbekämpfung, Menschenrechte und
Handelsabkommen zu finden sein.
Demokratie zu intensivieren und die Ergebnisse der Dis-
kussion in die Verhandlungen einfließen zu lassen. Die EU verlangt dagegen eine weitgehende Öffnung
des Dienstleistungsmarktes, aber auch Regelungen zum
Wichtig ist, dass der Dialog nicht hochnäsig und be-
staatlichen Schutz von Investitionen, die rechtliche Gleich-
lehrend geführt wird, sondern mit Respekt gegenüber
behandlung ausländischer Investoren und die Durchset-
den Gesprächspartnern und auf gleicher Augenhöhe. Zu
zung von Patenten. In diesen Forderungen spiegeln sich
Recht fordern dies Botschafter oder andere Gesprächs-
weitgehend die Wünsche der europäischen multinationa-
partner aus Lateinamerika immer wieder ein, wie zuletzt
len Konzerne wider.
in der Fachkonferenz der Grünen gestern Nachmittag
hier im Bundestag oder bei meinem Treffen mit Abge- Die Landwirtschaft spielt bei den EU-Forderungen nur
ordneten in Nicaragua Mitte April oder in Kolumbien im eine untergeordnete Rolle. Die EU-Kommission sieht
vergangenen Jahr. Zutreffend sind ihre Hinweise auf ei- hier bei Milchprodukten gute Chancen für europäische
gene Leistungen, die sich sehen lassen können. Exporteure. Dabei ist keine Rede vom Abbau oder der
Streichung der Agrarsubventionen. Das ist kein fairer
Nicht wenige Völker des Kontinents haben sich von Handel.
Militärmachthabern und Diktaturen befreit. Einige ha-
ben in einem mühsamen Diskussionsprozess Verfassun- Stattdessen fordern wir mit vielen lateinamerikani-
gen erarbeitet, die in vielen Punkten vorbildlich sind wie schen NGOs und Verbänden unter anderem einen deutli-
etwa die Sicherung der Rechte der indigenen Völker und chen Schuldenerlass sowie eine echte Garantie für die
der kulturellen Diversität der Gesellschaft in Ecuador Rechte und Förderung von kleinbäuerlichen Betrieben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3979

(A) Die Menschenrechte sind kein Luxusgut nur für reiche Anlage 8 (C)
Länder. Gerade in meinen Gesprächen mit Vertretern
von Menschenrechtsorganisationen in Nicaragua und Zu Protokoll gegebene Reden
Kolumbien wurde dies immer wieder betont. Ohne Men- zur Beratung des Antrags: Alle BND-Akten
schenrechte gibt es keine nachhaltige Entwicklung der zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen (Zu-
Gesellschaft. Meinungs- und Pressefreiheit, die Mög- satztagesordnungspunkt 5)
lichkeit, sich frei und ungehindert in Gewerkschaften
und politischen Parteien zu organisieren, sind genauso
wichtig wie die persönliche Sicherheit für Leib und Le- Clemens Binninger (CDU/CSU): Die aktive Be-
ben, persönliches Hab und Gut. In El Salvador und schäftigung mit unserer Geschichte und der Verantwor-
Guatemala sind tägliche Überfälle, Morde, Straflosigkeit tung, die uns daraus erwächst, ist eine wichtige Aufgabe,
der Täter und das Fehlen öffentlicher Sicherheit das der wir uns stellen müssen und der wir uns auch stellen.
Haupthindernis für die wirtschaftliche und gesellschaft- Die Bundesregierung unterstützt diese wichtige Aufgabe
liche Entwicklung der Länder. auf vielfältige Weise. Bekannte Einrichtungen, die der
Bund fördert, sind das Deutsche Historische Museum in
Deshalb verlangen wir in unserem heutigen Antrag Berlin, das Haus der Geschichte in Bonn, das Zeitge-
eine verbindliche Menschenrechtsklausel in Abkommen schichtliche Forum in Leipzig, die Topographie des Ter-
für die Verhandlungen auf dem EU-Lateinamerika-Kari- rors und das jüngst ins Leben gerufene Zentrum gegen
bik-Gipfel. Völlig unverständlich ist, wieso dieser An- Vertreibungen. Die wichtigste Einrichtung ist jedoch das
trag gestern im Ausschuss für wirtschaftliche Zusam- Bundesarchiv in Koblenz, das auch die historischen Ak-
menarbeit und Entwicklung abgelehnt wurde. Ohne eine ten des Bundesnachrichtendienstes verwaltet.
solche Klausel sind die Beteuerungen der Bedeutung der
Menschenrechte nicht glaubwürdig. Zu einem partner- Arbeitsgrundlage des Bundesarchivs ist das Bundes-
schaftlichen Verhältnis gehört der Einsatz für die Einhal- archivgesetz. Darin ist ganz klar und völlig eindeutig ge-
tung der Menschenrechte. Bedrohte Menschenrechtsak- regelt, dass die Verfassungsorgane und Behörden des
tivisten wie in Kolumbien, die vom Geheimdienst des Bundes alle Unterlagen, die sie zur Erfüllung ihrer öf-
Präsidenten überwacht und beobachtet wurden, müssen fentlichen Aufgaben einschließlich der Wahrung der Si-
auf unsere Unterstützung bauen können. Thema auf dem cherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ih-
Gipfel sollten durchaus auch Meldungen sein, dass die- rer Länder nicht mehr benötigen, dem Bundesarchiv
ser Geheimdienst, DAS, das UN-Hochkommissariat für oder dem jeweils zuständigen Landesarchiv zu überge-
Menschenrechte in Genf sowie Abgeordnete des Men- ben haben. Als Bundesoberbehörde unterliegt selbstver-
schenrechtsauschusses des EU-Parlaments ausspioniert ständlich auch der Bundesnachrichtendienst den Bestim-
(B) haben soll und gegen sie gearbeitet hat. Der kolumbiani- mungen des Bundesarchivgesetzes. Das heißt ganz (D)
schen Wochenzeitung La Semana zufolge unterhielt oder konkret, dass diejenigen Unterlagen, die der Bundes-
unterhält der kolumbianische Geheimdienst in Brüssel nachrichtendienst zur Erfüllung seiner Aufgaben nicht
eine Dependance, um Informationen über Abgeordnete mehr benötigt, dem Bundesarchiv in Koblenz als Ar-
zu sammeln, die sich kritisch zur Politik in Kolumbien chivgut übergeben werden. Dieser Verpflichtung kommt
äußern, um sie gezielt zu denunzieren. Wenn das stimmt, der Bundesnachrichtendienst nach. Er hat bisher rund
ist das ein Skandal und widerspricht der kolumbiani- 2 000 Akten, 300 Mikrofilme, 74 000 Fotos und
schen Selbsteinschätzung, wonach sich die Verhältnisse 129 000 Negative abgegeben.
im Lande rechtsstaatlich entwickelt haben sollen. Diese beeindruckenden Zahlen, meine Damen und
Klimaschutz kann nur erfolgreich sein, wenn er welt- Herren von der Linken, machen deutlich, dass das Bun-
weit unterstützt wird. Dazu ist ein völkerrechtlich ver- desarchiv in Koblenz die selbstverständliche Endstation
bindliches Kioto-Nachfolgeabkommen erforderlich. Wenn aller regierungsbehördlichen Akten ist, selbstverständ-
Wälder in Lateinamerika zur Lunge der Welt gehören, lich auch der Akten des Bundesnachrichtendienstes. Die
müssen wir auch gemeinsam dafür sorgen, dass sie wei- Zahlen belegen außerdem – und um diese Frage geht es
terlebt und atmet. Die Kosten müssen wir gemeinsam tra- heute –, dass der Bundesnachrichtendienst sich keines-
gen, etwa durch Einrichtung eines Green Fund. wegs der Aufarbeitung seiner Geschichte widersetzt,
sondern sich aktiv darum bemüht. Archivgut aus dem
Der Lateinamerika-Gipfel ist der richtige Ort, um Bundesnachrichtendienst erfährt im Bundesarchiv keine
diese und weitere Klimaschutzanstrengungen, wie etwa Sonderbehandlung, sondern wird wie alle anderen regie-
die Emissionen um 15 bis 30 Prozent zu vermindern, auf rungsbehördlichen Akten archiviert. Das bedeutet, die
die Tagesordnung zu setzen, ebenso wie die Forderun- Unterlagen sind Journalistinnen und Journalisten ge-
gen des alternativen Umweltgipfels vom 20. April 2010 nauso wie Historikerinnen und Historikern in der Regel
in Cochabamba aufzunehmen. Die Bundesregierung hat nach Ablauf der allgemeinen gesetzlichen Schutzfristen
die Möglichkeit, wenigstens einen Teil des in Kopenha- zugänglich.
gen Versäumten nachzuholen.
Naturgemäß unterliegen bestimmte Unterlagen staat-
Der Gipfel in Madrid kann erfolgreich sein, wenn er licher Behörden strengen Geheimschutzbestimmungen.
zusammen mit Wirtschafts- und Handelsfragen Armuts- Einzelne Akten des Bundesnachrichtendienstes können
bekämpfung, Klima, Menschenrechte und Demokratie beispielsweise nicht veröffentlicht werden, weil sie von
zum Thema macht und in allen Bereichen zu substanziel- befreundeten Nachrichtendiensten stammen, die eine
len und nachhaltigen Vereinbarungen kommt. Veröffentlichung ablehnen. In anderen Fällen ist eine
3980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Veröffentlichung nicht möglich, weil sie den Schutz von sche Bundestag hat mit dem Parlamentarischen Kon- (C)
Informanten oder anderen Personen gefährden würde. trollgremium eine Einrichtung, in der Vertreter aller
Solche Akten durch Sperrerklärungen zu schützen ist Fraktionen, auch der Linken, über die Arbeit der Nach-
sinnvoll, und ich sehe keinen vernünftigen Grund, an richtendienste informiert werden. Sollte es vonseiten der
dieser Praxis irgendetwas zu ändern. Ich sehe dagegen Linken Informationsbedarf geben, schlage ich vor, dies
die reale Gefahr, dass Informanten und befreundete im Parlamentarischen Kontrollgremium auf die Tages-
Dienste uns zukünftig weit weniger Informationen zur ordnung zu setzen, anstatt in wilde Spekulationen zu
Verfügung stellen würden, wenn wir diese Praxis ändern verfallen.
sollten.
Der Antrag der Linken ist daher abzulehnen.
In Ihrem Antrag nehmen Sie konkret auf die Akten
des Bundesnachrichtendienstes zum Fall Adolf
Eichmann Bezug. Nachdem eine Journalistin Informa- Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Licht ins
tionen zu Adolf Eichmann im weitesten Sinne angefragt Dunkel der Vergangenheit unseres Auslandsnachrichten-
hatte, verweigerte das Bundeskanzleramt dem Bundes- dienstes zu bringen, muss ein gemeinsames Bemühen
nachrichtendienst die Freigabe der betreffenden Akten. der Regierung wie des gesamten Parlaments sein. Denn
Wesentliche Gründe für die Sperrerklärung waren Nach- nur dann, wenn auch endlich bei den Sicherheitsbehör-
teile für das Wohl des Bundes durch die Beeinträchti- den offen darüber berichtet und geredet werden kann,
gung auswärtiger Beziehungen, die durch die Offen- wie insbesondere in der Gründungszeit während der
legung entstehen würden, sowie der Schutz von Infor- Adenauer-Ära Altnazis wieder Platz gefunden haben,
manten. Dagegen hatte die Journalistin geklagt. Das werden wir Lehren für die Zukunft ziehen können. Wer
Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss, der die unschöne Anfangsgeschichte vertuschen will, der
am 30. April 2010 bekannt gegeben wurde, die vorgetra- verhindert Vertrauen, schürt Misstrauen und Zweifel,
genen Geheimhaltungsgründe nicht als solche infrage gibt Raum für Spekulationen und Unterstellungen. Wer
gestellt, aber eine stärkere konkrete Zuordnung zu den sie aber aufarbeitet, der schafft Vertrauen und ist sicher-
jeweiligen Aktenbeständen gefordert. Grundsätzlich hat lich alles andere als ein Nestbeschmutzer.
das Gericht den Aspekt der fortdauernden Schutzwür- Vorbildlich und mutig hat BKA-Präsident Ziercke be-
digkeit bestimmter personenbezogener Daten, etwa in reits die hässlichen Seiten der Geschichte seiner Behörde
Bezug auf Informanten, aber anerkannt. wissenschaftlich analysieren lassen. Der Präsident des
Die öffentliche Darstellung nachrichtendienstlichen Bundesnachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, treibt seiner-
Handelns findet naturgemäß im Spannungsfeld zwischen seits die Aufarbeitung der Geschichte des BND voran.
notwendigem Geheimschutz und wünschenswerter So ist es auch sein Verdienst, dass das Bundeskanzleramt
(B)
Transparenz statt. Diese Feststellung gilt selbstverständ- 500 000 Euro in 2010 dafür bereitgestellt hat. Im März (D)
lich auch für die historische Darstellung. Dass der Bun- dieses Jahres wurden erstmals geheime Akten zum
desnachrichtendienst hier nicht mauert, sondern dort, wo Thema freigegeben. Wer also seriös nach Transparenz
es möglich ist, die Öffentlichkeit über sein Handeln in- fragt, muss auch dies in Rechnung stellen und darf nicht
formiert, hat er in der jüngsten Vergangenheit immer in boshafter Weise Verweigerung unterstellen.
wieder unter Beweis gestellt. Zum 20-jährigen Jubiläum
Übrigens: Zur ganzen Wahrheit gehört die Erinnerung
des Mauerfalls im vergangenen Jahr hat der Bundes-
daran, dass nicht nur westliche Dienste – vielleicht da
nachrichtendienst dem Bundesarchiv beispielsweise
und dort unvermeidlicherweise – auf ehemalige Nach-
durch eine Schutzfristverkürzung ermöglicht, Erkennt-
richtenoffiziere des Hitlerreiches zurückgriffen, sondern
nisse aus den Wendejahren schon heute der Öffentlich-
auch der KGB war munter unterwegs, um sie anzuwerben.
keit zugänglich zu machen. Konsequent wurden auch
Akten zur Tätigkeit ehemaliger Angehöriger des Reichs- Nun ist das mit geheimen Nachrichtendiensten aber
sicherheitshauptamts, der Gestapo, des Sicherheitsdiens- so eine Sache. Sie agieren nämlich naturgemäß geheim,
tes und der Geheimen Feldpolizei für den Bundesnach- wie vielleicht manchen entgeht, die gerne – stets verbun-
richtendienst zugänglich gemacht. Sie liegen der den mit dunklen Andeutungen und üblen Unterstellun-
Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Auf- gen – völlige Offenheit und Transparenz dort fordern.
klärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigs-
burg vor, die eng mit dem Bundesarchiv zusammenar- Sie werden kaum ein Land auf der Erde finden, das
beitet. Dies zeigt, dass keine Rede davon sein kann, der seine Nachrichtendienste so umfassend und tiefgehend
Bundesnachrichtendienst oder das Bundeskanzleramt parlamentarisch kontrollieren lässt. Damit fahren wir
behinderten die historische Forschung oder die Aufar- gut. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte sind wir ja
beitung der Vergangenheit. Genau das Gegenteil ist der auch gebrannte Kinder, die verhindern wollen, dass
Fall: Zur Aufarbeitung seiner Geschichte verfügt der „Schlapphüte“ ein Eigendasein führen. Mit dem Parla-
Bundesnachrichtendienst alleine in diesem Jahr über fi- mentarischen Kontrollgremium, dessen Rechte wir in der
nanzielle Mittel in Höhe von rund 500 000 Euro. vergangenen Wahlperiode auf Initiative der damaligen
Regierungsfraktionen erheblich ausgebaut haben, verfügen
Spekulationen, wie sie die Linke jetzt mit ihrem An- wir zum Beispiel über ein gutes, wenn auch nicht perfek-
trag betreibt, der Bundesnachrichtendienst habe die Er- tes Instrument, um dies zu verhindern.
greifung nationalsozialistischer Verbrecher vereitelt,
schaden dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland Das Verfassungsgericht hat außerdem die Rechte des
und entbehren überdies jeglicher Grundlage. Der Deut- Deutschen Bundestages im vergangenen Jahr weiter ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3981

(A) stärkt. Das gehört genauso zur Wahrheit wie die ständig che Frage dieser historischen Aufdeckung kann und sollte (C)
nötige Mahnung, doch mehr Transparenz walten zu lassen. auch, wenn Akten im Einzelfall aus nachvollziehbaren
Gründen nicht freigegeben werden können, über das für
Wahr ist und bleibt aber auch: Nicht alles kann einfach die Dienste zuständige Gremium des Bundestages, das
so in die Öffentlichkeit gezerrt werden, wenn wir unsere PKGr, erfolgen. Zusätzliche finanzielle Mittel sind hierzu
Sicherheitsinteressen, die Funktionsfähigkeit unserer nicht erforderlich. Die historischen Lehrstühle der Uni-
Dienste, die im Auftrag unseres freiheitlichen Rechts- versitäten und andere Forschungseinrichtungen werden,
staates ihre Pflicht tun, sowie den Austausch mit ihren wenn mehr Aktenmaterial zugänglich wird, diese Mög-
Partnern nicht gefährden wollen. In diesem Spannungs- lichkeit auch ohne die von den Linken beantragten Sub-
feld bewegt sich in Wahrheit die Auseinandersetzung sidien zu nutzen wissen.
mit der Geschichte wie der Gegenwart des BND.
Anstatt also billig ideologische Feindbilder zu pflegen, Jan Korte (DIE LINKE): Am kommenden Samstag
dürfen wir unserem Auslands- wie unserem Inlandsge- jährt sich zum 65. Mal der Jahrestag der Befreiung vom
heimdienst gelegentlich auch einmal Danke sagen für NS-Faschismus. Damit endete auch die industrielle Ver-
ihre Pflichterfüllung für unser Land, zum Beispiel beim nichtung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden. Der Ho-
Schutz unserer Soldaten im Ausland und bei der Abwehr locaust war ein Zivilisationsbruch, und er wurde arbeits-
von Angriffen islamistischer oder anderer Terroristen. teilig, bürokratisch und mit bis ins Detail ausgefeilten
Fahrplänen in die Todesfabriken durchgeführt. Und klar
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Linken grei- war auch: In diesen größten Massenmord aller Zeiten
fen nach dem jüngst erfolgten Urteil des Bundesverwal- waren viele, sehr viele verwickelt, und noch mehr wuss-
tungsgerichtes über die BND-Akten zum Eichmann-Pro- ten, was geschieht – spätestens seit Ende 1941. Voran-
zess ein Thema auf, das die FDP-Fraktion bereits in der gegangen war eine beispiellose, systematische Entrech-
letzten Wahlperiode des Bundestages aufgegriffen hat: tung von Jüdinnen und Juden, nach biologischen
die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in den Nach- Kriterien, die schließlich in den Massenmord führte.
richtendiensten. Wir haben dazu eine Kleine Anfrage ge-
stellt, die die damalige Bundesregierung im Dezember Mittlerweile gibt es eine hervorragend erschlossene
2007 beantwortet hat. Die FDP steht nach wie vor dazu: Quellenlage über den Nationalsozialismus, den Zweiten
Weltkrieg und den Holocaust. Besonders das Standard-
Die Aufarbeitung der Vergangenheit insbesondere per- werk Raul Hilbergs hat die Einzigartigkeit des Holocaust
soneller Kontinuität von Geheimdiensten unter dem natio- dokumentiert. In den letzten Jahrzehnten rückte dement-
nalsozialistischen Regime und dem frühen BND bleibt sprechend der Umgang mit dem NS-Regime in der Bun-
ein wichtiges Anliegen. desrepublik in den Fokus der Wissenschaft und eben (D)
(B)
Diese Aufarbeitung ist grundsätzlich wichtig und auch der Politik.
richtig. Allerdings gehen die Vorstellungen der Linken Der heute vorliegende Antrag „Alle BND-Akten zum
doch zu weit. Schon die Begrifflichkeit der Linken Thema NS-Vergangenheit offenlegen“ macht deutlich,
stimmt bedenklich, denn die Formulierung „deutscher dass die Politik der Wissenschaft hinterherhinkt. Die
Faschismus“, mit der die Linke den DDR-Brauch fort- massenhafte Verstrickung von Behörden und Personen
setzt, die historisch richtige Bezeichnung „Nationalso- in die Verbrechen des Nationalsozialismus und ihre
zialismus“ zu vermeiden, schafft eine irreführende Nähe spätere Rolle in Politik und Verwaltung der Bundesrepu-
zum italienischen Faschismus, der zu einem verharmlo- blik sind in sehr vielen Teilen erforscht und belegt. Dies
send-relativierenden Verständnis der NS-Zeit führen geschah allerdings nicht freiwillig: Jede kritische
könnte. Zugleich leugnet er den sozialistisch-revolutio- Erschließung, jede juristische Verfolgung von NS-Ver-
nären Anspruch des NS-Regimes, der konstituierend für brechen und jede öffentliche Auseinandersetzung muss-
sein Profil und seinen Erfolg bei den breiten Massen in ten stets erstritten werden. Und das hatte Gründe: Der
Deutschland war und den die jüngere Forschung heraus- Politikwissenschaftler Professor Joachim Perels hat die
gearbeitet hat. 50er-Jahre beschrieben: „Die Signatur der frühen 50er-
Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass Jahre wurde aber überwiegend, wie gerade neuere For-
die Akten des Falles Eichmann durch den BND nicht schungen gezeigt haben, von einer Politik des Verges-
komplett gesperrt werden dürfen. „Nicht komplett sper- sens, vor allem der Staatsverbrechen und der Abwehr
ren“ heißt aber auch: nicht komplett freigeben. Hier ihrer Ahndung, bestimmt, die von der evangelischen und
muss aus Gründen des Staatswohls und im Interesse der katholischen Kirche, von der Mehrheit der Bevölkerung
Funktionsfähigkeit des Dienstes sicherlich genau im und der öffentlichen Meinung getragen wurde.“
Einzelfall geprüft werden, was für die Öffentlichkeit
freigegeben werden kann. Dementsprechend wurde fast kein NS-Richter verur-
teilt, die meisten schwer NS-belasteten Beamten kehrten
Allerdings haben auch wir Liberalen uns gegen die re- in die Verwaltungen zurück, und viele Gestapo-Beamte
striktive Aktenvorlagepraxis auch des BND positioniert. bildeten das Personal von Polizei und Ermittlungsbehör-
Keine komplette Freigabe heißt jedoch nicht, dass wir et- den. Die Zahl der inhaftierten Kriegsverbrecher sank
was verschleiern oder vertuschen wollen. Aufarbeitung von 1950 bis 1952 von 3 400 auf 1 258 Personen, wie
ist wichtig und mit dem gegebenen historischen Abstand der Historiker Norbert Frei belegt. Schon zwei Jahre
auch in vielen Fällen im Hinblick auf den Persönlich- nach Gründung der BRD waren zum Beispiel 66 Prozent
keitsschutz Betroffener problemlos geworden. Aber man- der führenden Beamten des Auswärtigen Amtes ehema-
3982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) lige NSDAP-Mitglieder, mehr als 25 Prozent der Abtei- zielle Maßnahmen Eichmann beizeiten gewarnt worden (C)
lungsleiter der Ministerien ebenso. Globke und Oberlän- und wiederum entflohen wäre?“ – Und sie stellt fest:
der waren nur die Spitze des Eisberges. Ein wesentlicher „Nicht zuletzt vertrat mit Werner Junkers ein ehemaliger
Teil der Funktionseliten des NS-Regimes, der Wehr- Nationalsozialist, der schon im Auswärtigen Amt der
macht, der Justiz und der Wirtschaft nahm wichtige NS-Zeit tätig gewesen war, die Deutsche Botschaft in
Schlüsselstellungen im neuen Staat ein. Die Hauptflos- Buenos Aires.“ Diese Fragen und Zusammenhänge müs-
kel fast aller in den Terror Verstrickten lautete: Hitler sen endlich offengelegt werden.
war es! Ein Schuldeingeständnis, Reue oder gar der All diese Fragen müssen beantwortet werden. Wir
Wille, die Verbrechen und die individuelle Verstrickung sollten gerade auch den vielen jungen Wissenschaftlerin-
politisch und juristisch aufzudecken – leider Fehlan- nen und Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, die
zeige. Geschichte weiter aufzuarbeiten. Daher wird die Bun-
Diese ausgewählten Punkte machen deutlich, wie desregierung in dem heute eingebrachten Antrag aufge-
schwer die kritische Aufarbeitung des NS-Regimes, ins- fordert – dies sind die Kernforderungen –, erstens den
besondere was ihre Funktionseliten und deren Rolle in freien Zugang zu BND-Akten, die im Zusammenhang
der Bundesrepublik angeht, gewesen ist und welche Hin- mit personellen Kontinuitäten zum NS-Regime stehen,
dernisse hiergegen aufgebaut wurden. Es zeigt, dass eine zu gewährleisten und zweitens alle Akten im Zusam-
Auseinandersetzung, Forschung und politischer Ent- menhang mit der juristischen Verfolgung von NS-Ver-
scheidungswillen notwendig sind. brechen und besonders mit dem Fall Eichmann der Wis-
senschaft und Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Nachdem beispielsweise das BKA mit der wissen-
schaftlichen Aufarbeitung der Verstrickung von Mitar- Die Bundesregierung sollte ein Interesse an einer wei-
beitern in das NS-System eine große Resonanz erfahren teren kritischen Aufarbeitung dieses Kapitels der Ge-
konnte, geht es im vorliegenden Antrag um die Rolle des schichte haben. Der vorliegende Antrag ist ein weiterer
Schritt für eine kritische Auseinandersetzung beim Um-
BND und die heutige Frage: Warum mauern die Bundes-
gang mit der NS-Vergangenheit in der Geschichte der
regierung und der BND bei der vollständigen Offenle-
Bundesrepublik Deutschland. Zugleich kann er die Mög-
gung der Akten, in denen es um die Verstrickung von
lichkeit bieten, zu diskutieren, wie mit der NS-Zeit in der
NS-Tätern bei der Gründung der Organisation Gehlen, Bundesrepublik umgegangen wurde und wird. Und er ist
der Vorläuferorganisation des BND geht? als Aufforderung zu verstehen, alle noch nicht unter-
Heute, fast genau auf den Tag 65 Jahre nach Ende des suchten Verstrickungen und verdrängten Zusammen-
Krieges, muss mit solch einer Behinderungspraxis end- hänge in staatlichen Stellen und der Wirtschaft aufzude-
lich Schluss sein. Es sollte in diesem Haus Einigkeit cken.
(B) darüber herrschen, dass die rückhaltlose Aufarbeitung (D)
der NS-Vergangenheit zentral für unsere Demokratie ist Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
und dass sie in den letzten 60 Jahren viel zu zögerlich Es wird Sie nicht überraschen: Der Antrag, die BND-
und langsam voranging. Wir sollten heute dafür plädie- Akten zur NS-Vergangenheit zu öffnen, findet unsere
ren, alle Beschränkungen der wissenschaftlichen Aufar- volle Unterstützung. Wir haben dafür mindestens zwei
beitung der Geschichte des BND im Zusammenhang mit gute Gründe. Grund Nummer eins: Die zeitgeschichtliche
personellen Kontinuitäten zum NS-Regime und seiner Forschung braucht die Eichmann-Akten. Dazu ist schon
Rolle in der Bundesrepublik bei der Verfolgung von NS- viel Richtiges gesagt worden. Eichmann wurde in Argen-
Tätern aufzuheben. tinien sehr wahrscheinlich gedeckt, und wie wir alle wis-
sen, gab es viele Eichmänner in Deutschland und etliche,
In diesem Zusammenhang ist von besonderem Inte- die ihnen nach dem Krieg geholfen haben, möglicher-
resse, ob und welche Rolle der BND im Fall Eichmann weise auch im BND. Das muss breit erforscht werden.
spielte. Es kann ja kein Zufall sein, dass der bewun- Es geht also um die Rolle des BND, es geht um seine
dernswerte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer NS-vorbelasteten Mitarbeiter aus der Organisation Gehlen.
seine Ermittlungsergebnisse eben nicht mit deutschen Aber es geht gerade nicht um den Quellenschutz oder die
Stellen und Geheimdiensten austauschte. Bauer reiste Zusammenarbeit mit anderen Diensten. Wir sprechen
nach Israel, um sich dort mit dem Generalstaatsanwalt hier über zeitgeschichtliche Vorgänge, über die wir drin-
Haim Cohn auszutauschen, was schließlich zu konkreten gend mehr wissen müssen.
Schritten führte. Diese Umstände und die Frage, ob deut-
sche Stellen und Dienste gegen eine Verfolgung Eich- Jetzt könnten sie als Bundesregierung und vor allem
manns agierten, muss endlich aufgeklärt werden. Der könnte das Kanzleramt ein Zeichen setzen. Sie könnten
Bundestag ist es auch mutigen Menschen wie Fritz die historische Aufarbeitung selbst in die Hand nehmen, die
Bauer schuldig, alles offenzulegen, was diese Frage auf- dazu notwendigen Mittel bereitstellen und unabhängige
klären kann. Offenbar hatte der BND damals Informatio- Historiker mit der Auswertung beauftragen – Joschka
nen über Eichmann und verschwieg sie gegenüber den Fischer hat das im Auswärtigen Amt getan. Aber sie ver-
Justizbehörden. weigern sich dem, und sie sperren sogar die Akten für die
wissenschaftliche Forschung. Es ist ein Unding, dass eine
Die Autorin Irmtrud Wojak schreibt über Bauers Er- Bürgerin erst zum obersten deutschen Verwaltungsgericht
mittlungen gegen Eichmann: „Fritz Bauer informierte gehen muss, damit Informationen von öffentlichem In-
den israelischen Geheimdienst und seinen Regierungs- teresse über Vorgänge im BND aus den 50er- und 60er-
chef Georg August Zinn über den Aufenthaltsort Eich- Jahren auch wirklich an die Öffentlichkeit gelangen.
manns – niemanden sonst. Fürchtete er, dass durch offi- Mein Kollege Christian Ströbele fragte die Bundesregie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3983

(A) rung, warum sie das tut. Sie hat geantwortet, dass sie das auf Bundes- als auch auf Landesebene immer wieder (C)
Interesse der Öffentlichkeit mit sicherheitspolitischen Gegenstand von Anträgen, parlamentarischen Anfragen
Belangen – ich zitiere wörtlich – „sorgfältig abwägen und kontrovers geführten Diskussionen, insbesondere
würde“. Was ist denn das für eine Abwägung, wenn sie vor dem Ablauf der ursprünglichen Regelungsfrist zum
am Ende immer Nein sagen? Das ist allenfalls ein sorg- 31. Dezember 2009.
fältiges Mauern.
Auch heute ist das Thema Bleiberecht wieder Gegen-
Das Schlimmste ist aber, dass das Boykottieren und der stand einer Debatte im Deutschen Bundestag. Zugrunde
falsch verstandene Schutz der Geheimdienste bei Ihnen liegt dieser Debatte zum einen ein Gesetzentwurf der
schon System hat. Und das ist der zweite Grund, warum Fraktion Die Linke, mit dem das Aufenthaltsgesetz in ei-
wir dem Antrag zustimmen werden. Sie haben bei den nigen Punkten geändert werden soll, und zum anderen
Eichmann-Akten vor dem Bundesverwaltungsgericht ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Mit
verloren, weil sie Geheimdienstbelange pauschal höher diesem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert,
als Auskunftsrechte bewerten. Die Begründung, die das einen Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsge-
Gericht gegeben hat, sollte ihnen verdächtig bekannt setzes vorzulegen.
vorkommen. So wichtig sind die Informationen nicht, sagt
das Bundesverwaltungsgericht, und wenn es schützens- Die Linke fordert eine Änderung des § 25 Aufent-
werte Belange in Einzelfällen gibt, kann man deswegen haltsgesetz dahin gehend, Ausländern statt einer Dul-
noch nicht den gesamten Aktenbestand sperren. Das ist dung eine sofortige Aufenthaltserlaubnis zu erteilen,
es aber, was Sie immer wieder tun. Schon in der vergange- wenn die Abschiebung rechtlich oder tatsächlich unmög-
nen Wahlperiode haben Sie eine Klage unserer Fraktion lich ist. Allein die zu weite Formulierung würde Miss-
vor dem Bundesverfassungsgericht verloren. Auch da brauch Tür und Tor öffnen.
hatten Sie, wie jetzt wieder, pauschal die Wünsche der
Dienste erfüllt. Damit haben Sie das Fragerecht des Par- Außerdem fordert sie die Einfügung eines neuen
laments verletzt. Wenn es tatsächlich echte und nicht nur § 25 a Aufenthaltsgesetz – Aufenthaltserlaubnis bei län-
behauptete Geheimhaltungsbedürfnisse geben sollte, gerfristigem Aufenthalt –, der die Gewährung eines dau-
dann gibt es immer noch die Möglichkeit, diese geforder- erhaften Bleiberechts für diejenigen Personen vorsehen
ten Auskünfte im Parlamentarischen Kontrollgremium soll, die seit fünf Jahren in Deutschland leben – für be-
abzugeben. Aber bei dieser Missachtung sind wir Parla- sonders schutzbedürftige Personen bereits früher. Eine
mentarierinnen und Parlamentarier in guter Gesellschaft. besondere nachvollziehbare Begründung für die Fünf-
Denn Sie handhaben es bei den Bürgerinnen und Bürgern jahresfrist bietet der Entwurf und seine Begründung al-
genauso. Am Dienstag hat Ihnen der Bundesbeauftragte lerdings nicht.
für den Datenschutz und die Informationsfreiheit vorge- Die gesetzliche Altfallregelung der §§ 104 a, 104 b
(B) rechnet, dass die Ministerien sich allzu oft auf schützens- (D)
Aufenthaltsgesetz soll aufgehoben werden. Stattdessen
werte „Regierungstätigkeit“ berufen und Informationen
sollen gemäß einem neu einzufügenden § 25 a Aufent-
verweigern, diese Verweigerung aber in zwei Dritteln
haltsgesetz bereits erteilte Aufenthaltserlaubnisse ohne
der geprüften Fälle mindestens rechtlich zweifelhaft ist.
die Bedingungen einer eigenständigen Lebensunterhalts-
Ich fasse zusammen: Wir müssen uns dringend mit sicherung als Aufenthaltserlaubnis fortgelten.
den braunen Wurzeln des BND auseinandersetzen; das ist
längst überfällig. Und die Auskunftsverweigerung ist bei Nicht zuletzt soll § 2 Abs. 3, der die Sicherung des
Ihnen leider kein Einzelfall. Das ist bei Ihnen Methode. Lebensunterhalts regelt, dahin gehend ergänzt werden,
Welches Rechtsstaatsverständnis haben Sie eigentlich, dass der Erwerbstätigenfreibetrag bei der Ermittlung des
wenn Sie Ihre eigenen Gesetze nicht anwenden? Diese Einkommens keine Berücksichtigung finden soll. Dies
Bundesregierung tut so, als stünde das Recht auf Informa- würde dazu führen, dass Transferleistungen als Einkom-
tionsfreiheit nicht im Grundgesetz. Das muss aufhören. men gewertet werden müssten.
Begründet wird der Gesetzentwurf im Wesentlichen
damit, Kettenduldungen zu vermeiden. Die Ergänzung
Anlage 9 in § 2 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz wird darauf gestützt,
Zu Protokoll gegebene Reden dass nach derzeitiger Rechtslage in vielen Fällen selbst
bei voller Erwerbstätigkeit die eigenständige Lebensun-
zur Beratung: terhaltssicherung nicht möglich sei.
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wird die
Aufenthaltsgesetzes (Bleiberechtsregelung/ Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur
Vermeidung von Kettenduldungen) Änderung des Aufenthaltsgesetzes vorzulegen. Inhalt-
– Antrag: Für eine wirksame und stichtagsun- lich entspricht dieser Antrag in dem Punkt Bleiberecht
abhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung dem Gesetzentwurf der Linken. Weiterhin wird unter an-
im Aufenthaltsgesetz derem gefordert, die Kriterien für die eigenständige Si-
cherung des Lebensunterhalts sowie bei den Deutsch-
(Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7) kenntnissen abzusenken. Zudem soll die Regelung in
§ 104 a Abs. 3 Aufenthaltsgesetz gestrichen werden, wo-
Helmut Brandt (CDU/CSU): Das Thema Bleibe- nach begangene Straftaten eines in häuslicher Gemein-
recht für langjährig in Deutschland lebende ausreise- schaft lebenden Familienmitglieds die Versagung der
pflichtige Ausländer war in den letzten Jahren sowohl Aufenthaltserlaubnis für andere Familienmitglieder zur
3984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010

(A) Folge hat, zusammenfassend also eine deutliche Herab- lehne ich ebenfalls vehement ab. Wir alle haben in den (C)
senkung der Kriterien für ein dauerndes Bleiberecht, mit letzten Jahre die Erfahrung gemacht, dass Sprache der
der Folge, dass dieses von der Bevölkerung als unakzep- Schlüssel zur Integration schlechthin ist. Es ist deshalb
tabel empfunden werden muss. auch nicht im Interesse der Betroffenen selbst, die An-
forderungen an deren Sprachkenntnisse noch weiter he-
Wir stimmen mit Sicherheit darin überein, dass die rabzusetzen. Ohnehin sind die jetzigen Anforderungen
aus der Bleiberechtsregelung in bestimmten Fällen resul- als Mindeststandard anzusehen.
tierenden Kettenduldungen für die Betroffenen und auch
für die Allgemeinheit einen sehr unbefriedigenden Zu- Mit der Verlängerung der Altfallregelung haben die
stand darstellen. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass in Betroffenen eine faire Chance erhalten. Sie müssen diese
sehr vielen Fällen die Ursache für die Kettenduldungen aber auch nutzen und sich aktiv um die Sicherung des ei-
von den Betroffenen selbst herbeigeführt wird. Insofern genen Lebensunterhalts sowie den Erwerb befriedigen-
sehe ich es als sehr problematisch an, dass der hier vor- der Sprachkenntnisse kümmern. Aus meiner Sicht
liegende Gesetzentwurf sowie der Antrag die Vorausset- spricht deshalb einiges dafür, zunächst den Erfolg der
zungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels an Ge- durch den IMK-Beschluss erfolgten Verlängerung der
duldete im Vergleich zur Altfallregelung des § 104 a Altfallregelung bis Ende 2011 abzuwarten, als unmittel-
AufenthG in einem nicht vertretbaren Umfang herabset- bar nach der Verabschiedung dieses Beschlusses die ge-
zen will. setzlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines Auf-
enthaltstitels an Geduldete zu erweitern.
In der Konsequenz führen die Forderungen zu einem
bedingungslosen Daueraufenthaltsrecht. Die in diesen
Fällen auf der Grundlage des geltenden Rechts beste- Rüdiger Veit (SPD): Wir sprechen heute erneut über
hende Ausreisepflicht der Betroffenen liefe damit ins ein Thema, das wir nun schon wahrlich oft behandelt ha-
Leere. Und die Frage, die sich mir dann aufdrängt, ist: ben. Doch ist dies eine notwendige Wiederholung; denn
Können wir eine solche Konsequenz als Gesetzgeber ak- nach wie vor leben in Deutschland rund 89 000 Men-
zeptieren und widerspricht dies nicht auch dem Gerech- schen mit einer Duldung, viele von ihnen seit vielen Jah-
tigkeitsgefühl der Allgemeinheit? ren. Zwar haben wir mit den vorangegangenen Altfallre-
gelungen bereits einiges erreicht. Die eben genannten
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Wenn man auch Zahlen liegen weit unter den Zahlen, mit denen wir noch
eine Lösung des Problems weiter anstreben sollte, so 2007 konfrontiert waren, als wir in der Großen Koalition
stellen die hier vorgelegten Forderungen keine sachge- die gesetzliche Altfallregelung beschlossen haben. Und
rechte Lösung dar. Insbesondere der Verzicht auf die Vo- dennoch, das Problem der Kettenduldungen ist längst
raussetzung der eigenständigen Lebensunterhaltssiche- nicht gelöst.
(B) rung würde eine Sogwirkung mit nicht vorhersehbaren (D)
Konsequenzen für die Stabilität der sozialen Sicherungs- Deshalb hat meine Fraktion bereits im vergangenen
systeme entfalten und die kommunale Ebene mit weite- Dezember einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem wir
ren zusätzlichen Kosten belasten. langjährig hier lebenden geduldeten Menschen eine Per-
spektive bieten möchten. In diesen Tagen haben nun auch
Den aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise er-
die beiden anderen Oppositionsfraktionen ihre eigenen
schwerten Bedingungen für die Aufnahme und Fortset-
Vorschläge vorgelegt. Im Interesse der Sache und dieses
zung einer Erwerbstätigkeit trägt der jüngste IMK-Be-
wichtigen Themas kann ich dies nur begrüßen. Ich
schluss Rechnung. Die Lebensunterhaltssicherung der
möchte deshalb hier nicht im Detail auf die Unterschiede
Betroffenen war und ist Kern jeder Bleiberechtsregelung
zwischen den vorliegenden Vorschlägen eingehen. Dass
und muss es meiner Meinung nach auch künftig bleiben.
wir Sozialdemokraten unseren Gesetzentwurf für den
Der Erfolg am Arbeitsmarkt als wesentliche Vorausset-
durchdachteren und weiterführenderen, für den besser zu
zung für die wirtschaftliche Integration muss auch wei-
realisierenden halten, brauche ich an dieser Stelle nicht
terhin entscheidender Maßstab für die Beantwortung der
ernsthaft zu betonen, zumal die „Reden“ heute wiederum
Frage sein, wer dauerhaft in Deutschland bleiben darf,
und bedauerlicherweise lediglich zu Protokoll gegeben
obwohl ein legaler Anspruch nach den einschlägigen ge-
werden. Ich verweise daher auf meine Einbringungsrede
setzlichen Bestimmungen nicht besteht (kein Bleiberecht
vom 17. Dezember 2009. Der Interessierte kann also im
durch Aussitzen).
entsprechenden Plenarprotokoll nachlesen und im Übri-
Das bedeutet in der Konsequenz auch, den Aufenthalt gen auch unseren Entwurf eines Gesetzes zur Altfallrege-
derjenigen beenden zu können und zu müssen, die kei- lung (Drucksache 17/207 vom 15. Dezember 2009) mit
nerlei Bemühungen um ihre Integration nachgewiesen dem heute eingereichten vergleichen.
haben. Diese Maxime ist im wohlverstandenen Interesse
gerade auch jener, die sich in Deutschland legal aufhal- Ich möchte vielmehr eine Gemeinsamkeit herausstel-
ten beziehungsweise sich ernsthaft um ihre Integration in len: Die Regierungskoalition irrt, wenn sie meint, dass
Deutschland bemüht haben. Ansonsten ist nämlich der die von den Innenministern der Länder beschlossene
Ehrliche der Dumme. Und solch eine Ungerechtigkeit Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe aus
birgt meiner Meinung nach einen gesellschaftlich nicht dem vergangenen Dezember das Problem insoweit löst,
vertretbaren Zündstoff. als wir es bis Ende Dezember 2011 liegen lassen können.
Das können wir aus mehreren Gründen nicht. Zum einen
Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, die An- ist auch diese Verlängerung eine Stichtagsregelung. Wir
forderungen an die Sprachkenntnisse herabzusetzen, sind aber davon überzeugt, dass es einer nicht stichtags-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 40. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2010 3985

(A) bezogenen, einer sogenannten rollierenden Regelung be- Die Linke immer wieder fordert, de facto auf jegliche (C)
darf: Unabhängig von einem fixierten Datum müssen Zuwanderungssteuerung zu verzichten. Vielmehr er-
Menschen nach mehreren Jahren, in denen sie hier Wur- weist Die Linke damit den Bemühungen um Ausländer-
zeln geschlagen, Kinder bekommen und sich in die hie- integration einen Bärendienst. Wer einem schrankenlo-
sige Gesellschaft integriert haben, die Chance auf eine sen Daueraufenthaltsrecht in vermeintlich humanitärer
Perspektive in Deutschland bekommen. Zum anderen Gesinnung das Wort redet, riskiert die steigende Ableh-
haben wir im vergangenen Herbst mit ansehen müssen, nung von Zuwanderern in der Bevölkerung.
dass die Koalition sich aus ihrer Verantwortung als Ge-
setzgeber gestohlen hat. Sie hat die Betroffenen bis zum Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigen-
letzten Moment zittern lassen, bis die Innenministerkon- ständigen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist sehr wohl
ferenz – vor allem auf Betreiben der SPD-regierten Län- ein wichtiges Kriterium der Bleiberechtsregelung. Das
der, deren Verantwortlichen ich an dieser Stelle noch dient der Integration. Zuwanderer sind zu fördern, aber
einmal ausdrücklich dafür danken möchte – einer Ver- selbst auch klar gefordert. Die deutsche Sprache, Demo-
längerung der Fristen zugestimmt hat. Die SPD-Bundes- kratie und der Rechtsstaat, die Grund- und Menschen-
tagsfraktion hatte sich zuvor vergeblich bemüht, die rechte sind das für alle geltende Fundament unserer Ge-
Union zu Zeiten der Großen Koalition davon zu über- sellschaft.
zeugen, diese notwendige Verlängerung im Deutschen Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz
Bundestag zu verabschieden. von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozial-
Vielleicht gelingt es ja diesmal – ich gebe die Hoff- systeme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und
nung jedenfalls nicht auf –, mithilfe von externem Sach- die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie
verstand in einer öffentlichen Anhörung die augenblick- falsche Erwartungen weckt und statt Engagement nur
lich regierende Koalition endlich von der tatsächlichen Anspruchsdenken fördert.
Notwendigkeit schnellen gesetzgeberischen Handelns in Wir Liberalen wollen dagegen eine neue Kultur des
Fragen des Bleiberechts zu überzeugen. Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf
Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Per-
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Innenminis- spektiven eröffnet.
terkonferenz hat Ende letzten Jahres die Bleiberechtsre-
gelung um zwei Jahre verlängert. Die FDP hat das nach- Ulla Jelpke (DIE LINKE): Der Bundesinnenminister
drücklich begrüßt. Die Vereinbarung der Innenminis- und die Regierungsfraktionen haben erklärt, dass sie
terkonferenz und auch die progressiven Äußerungen vor keine Korrekturen beim Bleiberecht beabsichtigen, so-
und während der Innenministerkonferenz sind eine gute lange die IMK-Regelung von Ende 2009 gilt. In anderen (D)
(B)
Basis. Das gibt uns Zeit, eine dauerhafte Regelung zu Worten: Sie wollen bis zum Jahr 2012 untätig bleiben!
finden, die das Problem der Kettenduldungen nachhaltig
löst. Darüber hinausgehende Vorschläge sind derzeit Ak- Diese Seelenruhe können Sie von uns nicht verlan-
tivismus. gen. Denn weit über 100 000 Menschen müssen weiter-
hin in aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit leben, obwohl
Die Sachlage bleibt unverändert: Wenn bei lange ge- sie bereits seit mehr als sechs Jahren in Deutschland
duldeten, gut integrierten Ausländern eine Abschiebung sind. Immer noch werden Familien mit Kindern, aber
nicht mehr vertretbar ist, muss dieser Tatsache durch auch alte und kranke Menschen, die faktisch längst zu
eine vernünftige und unbürokratische Regelung Rech- Inländern geworden sind, morgens von der Polizei aus
nung getragen werden. Die Kettenduldungen müssen ihren Betten geholt und gewaltsam in absolutes Elend
einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden; wir brau- abgeschoben. Das Schicksal dieser Menschen zwingt
chen für alle, insbesondere auch für die bisher „Gedulde- uns als Parlament dazu, schnell eine wirksame, humani-
ten“, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. täre Lösung zu finden – die Innenminister der Länder
Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleibe- sind zu einer solchen Tat nicht fähig oder willens! Eine
rechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren gesetzgeberische Untätigkeit bis 2012 kann schon des-
Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen, andererseits halb nicht mit der aktuellen IMK-Regelung begründet
aber die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern, werden, weil diese – wie auch die sogenannte Altfallre-
dass diese auch nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerin- gelung von 2007 – einen Stichtag enthält, der Personen
nen und Bürgern findet. vom Bleiberecht ausschließt, obwohl sich ihre Situation
in nichts von der unterscheidet, für die ein Handlungsbe-
In den Vorlagen wird zwar tapfer das erstgenannte darf erkannt wurde. Infolge des Stichtags 1. Juli 2007
Problem thematisiert, aber keine Lösung für das zweite entstehen also täglich neue Härtefälle.
aufgezeigt. Tatsächliche Integration in Deutschland
muss das zentrale Kriterium sein. Der eigenständige Trotz dreier Bleiberechtsregelungen seit 2006 hat sich
Lebensunterhalt ist dabei von entscheidender Bedeu- an der Gesamtproblematik nichts Grundlegendes geän-
tung. dert: Die Zahl der langjährig Geduldeten liegt immer
noch bei fast 60 000, und ihr Anteil an allen Geduldeten
Im Antrag der Linken wird die Notwendigkeit einer ist mit 64 Prozent so hoch wie nie. Die SPD hat im Ge-
eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen genzug für ihre Zustimmung zu erheblichen Verschär-
verneint, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland fungen im Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht in
suchen. Es hilft niemandem weiter, wenn die Fraktion Aussicht gestellt, dass bis zu 60 000 Menschen von der
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(A) sogenannten Altfallregelung würden profitieren können. mentarischen Bleiberechtsbewegung im Wesentlichen (C)
Doch wie ist die tatsächliche Bilanz? Gerade einmal angeschlossen haben. Noch zu Beginn der letzten Wahl-
6 500 Personen konnten bis heute eine relativ sichere periode hatten die Grünen eine Gesetzesänderung vorge-
Aufenthaltserlaubnis aufgrund eigenen Einkommens er- schlagen, die lediglich eine „Kann-Regelung“ darstellte
langen. Weitere 5 000 erhielten einen Aufenthalt, weil ihr und die einen Ausschlussstichtag ebenso vorsah wie die
Lebensunterhalt zumindest überwiegend ohne staatliche grundsätzliche Forderung nach eigenständiger Lebens-
Unterstützung gesichert war. Vielleicht 12 000 – statt der unterhaltssicherung. Auch die SPD bewegt sich inzwi-
versprochenen 60 000 – Menschen haben also ein Blei- schen in eine richtige Richtung, allerdings hat ihr später
berecht erhalten. Das ist eine mehr als dürftige Bilanz, Wandel in Oppositionszeiten angesichts der von mir ge-
auch wenn dieses Ergebnis angesichts der viel zu hohen schilderten Vorgeschichte einen etwas schalen Beige-
gesetzlichen Hürden absehbar war und von uns vorher- schmack.
gesagt wurde. Es bedurfte deshalb auch eines erneuten
Ich hoffe, dass wir durch eine Anhörung des Innen-
IMK-Beschlusses, um zahlreichen Betroffenen eine
ausschusses zu den von der Opposition vorgelegten Vor-
„zweite Chance“ zu geben – nur „auf Probe“, versteht
schlägen auch die Regierungsfraktionen aus ihrer
sich.
Lethargie reißen und von der Notwendigkeit baldiger
Ich möchte an dieser Stelle auf eine Personengruppe Gesetzesänderung überzeugen können. Wir brauchen
aufmerksam machen, die in der bisherigen Bleiberechts- eine wirksame Bleiberechtsregelung, die diesen Namen
debatte noch gar keine Rolle spielte. Es geht um knapp auch verdient!
70 000 zur Ausreise verpflichtete Personen, die aktuell
nicht einmal über eine Duldung verfügen. Drei Viertel Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
von ihnen, knapp 53 000 Menschen, leben bereits seit NEN): Die gesetzliche Altfallregelung der §§ 104 a und
mehr als sechs Jahren in Deutschland. Auch sie sind in 104 b des Aufenthaltsgesetzes und die Verlängerung der
ihrer großen Mehrheit aufgrund des langen Aufenthalts Aufenthaltserlaubnis auf Probe nach § 104 a Abs. 1 Satz 1
längst „heimisch“ geworden in Deutschland. Auch ihnen Aufenthaltsgesetz durch Beschluss der Innenminister-
wird ein Aufenthaltsrecht jedoch versagt, genauso wie konferenz vom Dezember 2009 sind wegen ihrer restrik-
den gut 56 000 Langzeit-Geduldeten. Dass sie nicht ein- tiven Ausgestaltung nicht dazu geeignet, die weithin kri-
mal förmlich geduldet werden, dürfte in den meisten tisierte Praxis der „Kettenduldungen“ wirksam zu
Fällen rechtswidrig sein. Denn wenn eine Ausreisever- beenden. Dies belegt die weiterhin anhaltend hohe Zahl
pflichtung nicht in absehbarer Zeit konkret durchsetzbar langjährig in Deutschland geduldeter Personen.
ist, so entschied das Bundesverwaltungsgericht bereits
im Jahr 1997, muss eine schriftliche Duldung erteilt wer- Beide Regelungen berücksichtigen aufgrund des zen-
(B) den. Es ist unzulässig, diese Menschen lediglich faktisch tralen Kriteriums der eigenständigen Lebensunterhalts- (D)
zu dulden und sie mit dem Entzug ihrer Duldungsbe- sicherung humanitäre Härtefälle nicht ausreichend; denn
scheinigung unter Druck zu setzen und zur „freiwilli- gerade alte und kranke Menschen, die auf dem Arbeits-
gen“ Ausreise zwingen zu wollen. Die Rechtswidrigkeit markt keine Chance haben, sowie kinderreiche Familien
dieser Praxis wird offenkundig, wenn die Zahl der werden von der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen.
70 000 zur Ausreise verpflichteten Personen ohne Dul- Stichtagsregelungen führen überdies immer wieder zu
dung der Zahl von knapp 8 000 Abschiebungen im letz- neuen humanitären Härtefällen. Daher ist eine dauer-
ten Jahr gegenüber gestellt wird. Unsere Vorschläge hafte gleitende Bleiberechtsregelung notwendig, die
beziehen deshalb diese zur Ausreise verpflichteten Men- auch auf zukünftige Fälle Anwendung finden kann.
schen mit ein. Deshalb fordern wir im vorliegenden Antrag die Bun-
desregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der
Die Linke legt einen Gesetzentwurf vor, mit dem die
vorsieht, dass einem geduldeten Ausländer oder einer ge-
Probleme der Kettenduldung und des verweigerten Auf-
duldeten Ausländerin eine Aufenthaltserlaubnis erteilt
enthaltsrechts – und noch ein paar weitere mehr – ein für
wird, wenn er oder sie sich seit mindestens fünf Jahren
alle Mal gelöst werden sollen, und zwar im Sinne der
geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis
Betroffenen und nach humanitären Kriterien! Geändert
aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten
werden muss vor allem die misslungene Regelung nach
hat. Wenn der Ausländer oder die Ausländerin zusammen
§ 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes, um das Entstehen
mit einem oder mehreren minderjährigen ledigen Kin-
immer neuer Kettenduldungen schon im Ansatz verhin-
dern in häuslicher Gemeinschaft lebt, soll die Aufent-
dern zu können. Zudem bedarf es eines Rechtsanspruchs
haltserlaubnis nach drei Jahren erteilt werden. Besonders
auf einen sicheren Aufenthaltstitel, wenn die Betroffe- schutzbedürftigen Personen, insbesondere unbegleiteten
nen nach längerem Aufenthalt faktisch längst integriert Minderjährigen, durch kriegerische Auseinandersetzun-
sind. Unser Gesetzentwurf enthält, darauf möchte ich gen in ihrer Heimat traumatisierten Personen oder Opfern
hinweisen, bei Weitem noch nicht alles Notwendige, um von rassistischen Gewalttaten oder Menschenhandel, soll
zu einer grundlegend anderen Politik kommen zu kön- die Aufenthaltserlaubnis nach zwei Jahren erteilt werden.
nen. Die Stichworte Residenzpflicht, Arbeitsverbote und
Diskriminierungen infolge des Asylbewerberleistungs- Weiterhin darf das Kriterium der eigenständigen Si-
gesetzes mögen an dieser Stelle zur Erläuterung des cherung des Lebensunterhalts keine unüberwindbare
enormen Handlungsbedarfs genügen. Wir freuen uns, Hürde darstellen. Ernsthafte Bemühungen, den Lebens-
dass sich die Grünen mit ihrem aktuellen Antrag mittler- unterhalt überwiegend zu sichern, müssen ausreichend
weile den Forderungen der Linken und der außerparla- sein. In diesem Punkt unterscheiden wir uns von der
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(A) Linksfraktion, die vollständig auf das Kriterium der Le- Ende Dezember 2009 lebten trotz mehrerer Bleibe- (C)
bensunterhaltssicherung verzichten will. Wir wollen rechtsregelungen erneut circa 89 500 Menschen in
Ausnahmen von diesem Erteilungskriterium für Perso- Deutschland in einer rechtlichen Grauzone: rechtlich ge-
nen, die wegen ihres Alters, einer körperlichen, geistigen duldet, aber ohne legales Aufenthaltsrecht. Fast 57 000
oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder, weil von ihnen leben bereits länger als sechs Jahre hier. Viele
sie mit minderjährigen ledigen Kindern in häuslicher dieser Personen sind Kriegsflüchtlinge, die kein Asyl er-
Gemeinschaft leben, wegen der Kinderbetreuung von hielten, aber nicht abgeschoben werden können. Inzwi-
ernsthaften Bemühungen zur überwiegenden Sicherung schen haben sich diese Menschen in der Regel in
des Lebensunterhalts abgehalten waren. Deutschland integriert. Dies gilt erst recht für die hier
geborenen und aufgewachsenen Kinder und Jugendli-
Es dürfen keine unverhältnismäßigen Anforderungen chen – für sie ist Deutschland das Zuhause. Doch selbst
an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten gestellt wer- nach jahrelangem Aufenthalt droht ihnen die Abschie-
den. Allenfalls fortgesetzte, vorsätzliche und schwerwie- bung, häufig in ein Land, das ihnen völlig fremd ist.
gende Verletzungen von Mitwirkungspflichten sollten
zum Ausschluss von der Erteilung einer Aufenthaltser- Eine Abschiebung nach langjährigem Aufenthalt ist
laubnis führen können. Insbesondere die Frage, ob eine nicht nur eine unzumutbare Härte – mit tragischen Fol-
Passlosigkeit selbst verschuldet ist, ist oftmals nicht ein- gen für den Einzelnen und seine Familie. Ein solches
deutig zu beantworten. Asylfolgeanträge sind in vielen Vorgehen steht auch in Widerspruch zu den humanitären
Fällen aufgrund der politischen Entwicklungen im Her- Grundsätzen, denen deutsche Politik verpflichtet ist, und
kunftsland oder einer Änderung der Rechtsprechung widerspricht allen integrationspolitischen Überlegungen.
sinnvoll und gerechtfertigt. Das Ausschöpfen des Auch die circa 37 000 Personen, denen bis Ende 2009
Rechtsweges darf im Rechtsstaat nicht negativ sanktio- eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe erteilt wurde, leben
niert werden. weiter in einem Schwebezustand. Zwar kann ihre Aufent-
haltserlaubnis unter gewissen Voraussetzungen nach dem
Keinesfalls darf die in § 104 a Abs. 3 Aufenthaltsge-
Beschluss der IMK bis Ende 2011 verlängert werden. An-
setz festgeschriebene Regelung, nach der die ganze Fa-
gesichts der für das Jahr 2010 erwarteten weiteren nega-
milie von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus-
tiven Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf
geschlossen ist, sobald ein mit dieser in häuslicher
den Arbeitsmarkt bleibt ihre aufenthaltsrechtliche Situa-
Gemeinschaft lebendes Familienmitglied bestimmte
tion jedoch höchst ungewiss.
Straftaten begangen hat, übernommen werden. Im Übri-
gen müssen bei der Festlegung von Ausschlusstatbestän- Das weitere Schicksal dieser Menschen, die seit Jah-
den wegen der Verurteilung nach einer im Bundesgebiet ren hier in Deutschland leben, darf uns nicht kaltlassen.
(B) begangenen vorsätzlichen Straftat Taten, die nach dem Ich hoffe daher, dass es in den weiteren parlamentari- (D)
Aufenthaltsgesetz oder dem Asylverfahrensgesetz nur schen Beratungen einen breiten Konsens für eine wirk-
von Ausländerinnen und Ausländern begangen werden same, stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsre-
können, außer Betracht bleiben. gelung geben wird.
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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