Sie sind auf Seite 1von 152

Plenarprotokoll 17/74

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

74. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Vizepräsi- Renate Künast (BÜNDNIS 90/


denten Dr. Hermann Otto Solms . . . . . . . . . 8049 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8072 C
Wahl des Abgeordneten Siegmund Ehrmann Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . 8076 C
als stellvertretendes Mitglied im Stiftungsrat
Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8077 C
der Kulturstiftung des Bundes . . . . . . . . . . 8049 B
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8080 C
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8049 B
Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8080 D
Absetzung der Tagesordnungspunkte VI b
und c . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8049 D Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8081 A
Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 8049 D Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8083 B
Petra Merkel (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 8086 D
Tagesordnungspunkt I (Fortsetzung):
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
a) Zweite Beratung des von der Bundesregie- (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8088 B
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Feststellung des Bundes- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . 8089 B
haushaltsplans für das Haushaltsjahr Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 8090 B
2011 (Haushaltsgesetz 2011)
(Drucksachen 17/2500, 17/2502) . . . . . . . 8050 A Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8091 A
b) Beschlussempfehlung des Haushaltsaus-
schusses zu der Unterrichtung durch die Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . 8092 A
Bundesregierung: Finanzplan des Bun- Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/
des 2010 bis 2014 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8092 B
(Drucksachen 17/2501, 17/2502, 17/3526) 8050 A

Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 8092 C


8 Einzelplan 04
Bundeskanzlerin und Bundeskanzler- Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8094 D
amt
(Drucksachen 17/3504, 17/3523) . . . . . . . 8050 B
9 Einzelplan 05
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . 8050 C
Auswärtiges Amt
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . 8055 C (Drucksachen 17/3505, 17/3523) . . . . . . . 8092 C
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 8063 A Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8092 D
Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 8066 D Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . 8097 A
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8098 C Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8137 B


Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8100 D Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8139 C
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8102 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8140 C
Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . 8104 A Robert Hochbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8141 D
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 8106 B Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8142 D
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8106 D
Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . 8107 A Tagesordnungspunkt VI:
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . 8107 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
zes zu dem Übereinkommen des Euro-
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8108 C
parats vom 16. Mai 2005 zur Verhütung
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ des Terrorismus
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8109 D (Drucksache 17/3801) . . . . . . . . . . . . . . . 8144 D
Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8111 B
Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 8112 C Zusatztagesordnungspunkt 1:
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ a) Antrag der Abgeordneten Agnes
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8114 A Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 8115 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kulturelle
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 8116 D Bildung von Bundesseite nachhaltig för-
dern – Auflegung eines Förderpro-
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 8118 C gramms „Jugendkultur Jetzt“
Rüdiger Kruse (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8120 B (Drucksache 17/3066) . . . . . . . . . . . . . . . 8144 D
Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8121 C b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-
Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,
Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . 8122 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8123 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kein
Atommüllexport nach Russland
Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8123 C (Drucksache 17/3854) . . . . . . . . . . . . . . . 8145 A
Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . 8124 B
Tagesordnungspunkt VII:
10 Einzelplan 14
a) Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesministerium der Verteidigung Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
(Drucksachen 17/3513, 17/3523) . . . . . . . 8124 D eines Gesetzes über die Feststellung des
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD) . . . 8125 A Wirtschaftsplans des ERP-Sonderver-
mögens für das Jahr 2011 (ERP-Wirt-
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 8126 C schaftsplangesetz 2011)
Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 8128 B (Drucksachen 17/3119, 17/3835) . . . . . . . 8145 A

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . 8130 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des


Ausschusses für Menschenrechte und Hu-
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8132 D ordneten Volker Beck (Köln), Tom
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), wei-
Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . 8133 D terer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einigkeit
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . 8135 C über die Definition des Tatbestandes
des Aggressionsverbrechens im IStGH-
Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 8136 B
Statut erzielen
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 17/1767, 17/3889) . . . . . . . 8145 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8136 C
c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . 8137 A menarbeit und Entwicklung zu dem An-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 III

trag der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Tagesordnungspunkt II:


Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der
Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
GRÜNEN: Pakistan nach der Flut lang-
kräfte an der EU-geführten Operation
fristig unterstützen und Schulden um-
wandeln Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
(Drucksachen 17/3206, 17/3779) . . . . . . . 8145 C
Seerechtsübereinkommens der Vereinten
d)–j) Nationen von 1982 und der Resolutionen
1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008)
Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Okto-
schusses: Sammelübersichten 164, 165, ber 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember
166, 167, 168, 169 und 170 zu Petitionen 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009
(Drucksachen 17/3664, 17/3665, 17/3666, und nachfolgender Resolutionen des
17/3667, 17/3668, 17/3669, 17/3670) . . . . 8145 D Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in
Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion
11 Einzelplan 23 2008/851/GASP des Rates der Europäi-
schen Union vom 10. November 2008, dem
Bundesministerium für wirtschaftliche Beschluss 2009/907/GASP des Rates der
Zusammenarbeit und Entwicklung Europäischen Union vom 8. Dezember
(Drucksachen 17/3519, 17/3523) . . . . . . . 8146 C 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des
Rates der Europäischen Union vom 30. Juli
Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8146 D 2010 und dem erwarteten Beschluss des
Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8148 C Rates der Europäischen Union vom 13. De-
zember 2010
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 8149 C (Drucksache 17/3691) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8169 B
Volkmar Klein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8151 A Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8169 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8152 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8170 D
Georg Schirmbeck (CDU/CSU) . . . . . . . . 8153 B
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
Johannes Selle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8154 B AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8171 A
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8156 A Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 8171 D
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . 8157 C Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8157 C BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8173 B

Dirk Niebel, Bundesminister Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 8174 C


BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8157 D Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8175 B
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 8158 A Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 8175 C
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . 8159 C Katja Keul (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8176 A
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8160 B
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8177 A
Dirk Niebel, Bundesminister
BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8160 D
Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8161 B Tagesordnungspunkt III:

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8162 B der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8163 A tion „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisie-
rung des Friedensprozesses in Bosnien und
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/
Herzegowina im Rahmen der Implementie-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8164 C rung der Annexe 1-A und 2 der Dayton-
Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8164 D Friedensvereinbarung sowie an dem
NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 8165 A Aufgaben, auf Grundlage der Resolution
Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . 8165 C des Sicherheitsrates der Vereinten Natio-
nen 1575 (2004) und Folgeresolutionen
Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8167 C (Drucksache 17/3692) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8178 A
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. Werner Hoyer, Staatsminister und 1373 (2001) des Sicherheitsrats der
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8178 B Vereinten Nationen
(Drucksache 17/3690) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8185 C
Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8179 B
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister
Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8185 D
BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8180 D
Michael Groschek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 8187 A
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8181 D
Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 8182 C
BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8188 C
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8183 A
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . 8189 D
Katja Keul (BÜNDNIS 90/
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8183 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8190 D
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8184 C
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8191 D
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
Tagesordnungspunkt IV: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8192 C
Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . 8193 A
des Einsatzes bewaffneter deutscher Streit-
kräfte bei der Unterstützung der gemeinsa-
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8193 D
men Reaktion auf terroristische Angriffe
gegen die USA auf Grundlage des Arti-
kels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
Anlage
und des Artikels 5 des Nordatlantikver-
trags sowie der Resolutionen 1368 (2001) Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 8195 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8049

(A) (C)

Redetext

74. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-


Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. fahren
Ergänzung zu TOP VI
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
begrüße Sie alle herzlich. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weite-
Unser Kollege und Vizepräsident Dr. Hermann Otto rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Solms feiert heute seinen 70. Geburtstag. DIE GRÜNEN
(Beifall) Kulturelle Bildung von Bundesseite nachhaltig
fördern – Auflegung eines Förderprogramms
Aus diesem Anlass ist das Präsidium des Bundestages
„Jugendkultur Jetzt“
bereits heute früh zu einer Sondersitzung zusammenge-
treten, – Drucksache 17/3066 –
(B) (D)
(Heiterkeit) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
in der mir die Anregung vorgetragen wurde, ob ich aus Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
diesem besonderen Anlass ausnahmsweise die Glück- Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
wünsche in Reimform vortragen könnte. Ich fand die
Anregung plausibel, habe davon aber Abstand genom- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
men wegen des strikten Prinzips der Gleichbehandlung, Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,
auch wenn ich die Fröhlichkeit ahne, die eine solche weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
künftige Dauervariante im Plenum des Deutschen Bun- NIS 90/DIE GRÜNEN
destages erzeugen könnte.
Kein Atommüllexport nach Russland
Lieber Hermann Otto Solms, ganz herzliche Gratula-
tion zu diesem Ehrentag, verbunden mit allen guten – Drucksache 17/3854 –
Wünschen für die nächsten Jahre und dem Dank für eine Überweisungsvorschlag:
besonders gute, freundschaftliche Zusammenarbeit in Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
den 30 Jahren, die Sie nun dem Deutschen Bundestag Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
angehören.
(Beifall) ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FPD
Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass die ehemalige
Kollegin Monika Griefahn ihr Amt als stellvertretendes Zurückweisung des Einspruchs des Bundesra-
Mitglied im Stiftungsrat der Kulturstiftung des Bun- tes gegen das Sechste Gesetz zur Änderung des
des aufgibt. Als Nachfolger wird der Kollege Siegmund Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
Ehrmann vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- – Drucksachen 17/41, 17/137, 17/143, 17/355 –
den? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der Kollege
Ehrmann als stellvertretendes Mitglied in den Stiftungs- Die Tagesordnungspunkte VI b und c werden abge-
rat der Kulturstiftung des Bundes gewählt. setzt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
geführten Punkte zu erweitern: aufmerksam:
8050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Der in der 69. Sitzung des Deutschen Bundestages (Beifall bei der SPD) (C)
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
abschätzung (18. Ausschuss) zur Mitberatung überwie- Herr Kollege Solms, auch von mir einen ganz herzli-
sen werden: chen Glückwunsch. Wenn ich Sie anschaue, dann muss
Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz ich schließen, dass dieser Bundestag der reinste Jung-
Kuhn, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer brunnen sein muss. Freuen wir uns alle darüber.
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (Heiterkeit)
DIE GRÜNEN
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Menschenwürdiges Dasein und Teilhabe für Herren! Hoffnung macht sich breit in Deutschland,
alle gewährleisten
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Aber
– Drucksache 17/3435 – nicht bei der SPD!)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Hoffnung, dass die Krise überstanden ist, dass der Auf-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schwung länger anhält als nur ein paar Monate. Wir alle
Ausschuss für Bildung, Forschung und wünschen uns parteiübergreifend und fraktionsübergrei-
Technikfolgenabschätzung fend, dass diese Hoffnung in Erfüllung geht. Auch auf
Sind Sie auch damit einverstanden? – Das ist offen- der Regierungsbank macht sich Hoffnung breit, aber
sichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. eine andere Hoffnung, die Hoffnung nämlich, dass die
Erinnerung verblasst und dass die Menschen vergessen,
Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesord- was diese Koalition seit der Bundestagswahl tagtäglich
nungspunkt I – fort: angerichtet hat und weiter anrichtet.
a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung (Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die CSU und der FDP: Oh!)
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2011 (Haushaltsgesetz 2011) Aber ich sage Ihnen voraus: Diese Hoffnung wird verge-
bens sein, sie wird sich als Kinderglaube erweisen. Die
– Drucksachen 17/2500, 17/2502 – Menschen – das wissen Sie doch am besten –, die Sie
vor einem Jahr gewählt haben, haben vielleicht von poli-
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haus-
tischer Führung oder von der Einlösung von Wahlver-
haltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrich-
sprechen geträumt. Was haben sie bekommen? Einen
(B) tung durch die Bundesregierung (D)
Albtraum, Regierungschaos ohne Ende.
Finanzplan des Bundes 2010 bis 2014
(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/
– Drucksachen 17/2501, 17/2502, 17/3526 – CSU und der FDP: Oh!)
Berichterstattung: So viel Durcheinander, so viel Orientierungslosigkeit, so
Abgeordnete Norbert Barthle viel Unernst war noch nie.
Carsten Schneider (Erfurt)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Albtraum Ar-
Otto Fricke
beitslosigkeit!)
Roland Claus
Alexander Bonde – Ja, und dagegen haben wir etwas getan, lieber Herr
Kollege Kauder. –
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.8 auf:
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir!)
Einzelplan 04
Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt Der Schreck darüber, wie sich das im Augenblick dar-
stellt, sitzt tief bei vielen Menschen. Der Schreck hält an.
– Drucksachen 17/3504, 17/3523 –
Gerade in der Krise 2008 und 2009 haben die Menschen
Berichterstattung: doch erfahren, dass man sich in einer solchen Situation
Abgeordnete Norbert Barthle auf eine Regierung mit Ernsthaftigkeit, mit Kompetenz
Rüdiger Kruse und mit Verantwortung verlassen kann. Das ist gerade
Petra Merkel (Berlin) einmal anderthalb Jahre her. Da ist wieder Vertrauen
Dr. h. c. Jürgen Koppelin entstanden, das vorher verloren gegangen war. Das Dra-
Dr. Gesine Lötzsch matische ist doch, dass diese Koalition innerhalb eines
Priska Hinz (Herborn) Jahres dieses frisch gewachsene Vertrauen restlos ver-
schleudert hat.
Wir werden über den Einzelplan 04 später namentlich
abstimmen. Zuerst findet aber die Aussprache statt. (Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/
Dazu ist zwischen den Fraktionen eine Zeit von dreiein- CSU]: Geschichtsklitterung nennt man das!)
halb Stunden vereinbart worden. – Auch dazu höre ich
Die Menschen haben gesehen, dass es darauf ankommt,
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
wer in einer Regierung ist, nicht darauf, dass es eine
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen gibt. Sie haben in den letzten Monaten erfahren, dass es
Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion das Wort. auch anders sein kann, dass es Regierungen gibt, die um
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8051
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) den eigenen Bauchnabel kreisen, statt sich um die wirk- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
lichen Aufgaben zu kümmern, und die schamlos – das DIE GRÜNEN)
taten Sie zu Beginn Ihrer Regierungszeit – die eigene
Wer sich den Brief einmal ein bisschen genauer ange-
Klientel bedienen, statt sich um das Gemeinwohl zu
schaut hat, den Sie da haben abdrucken lassen, der ahnt
kümmern. Das hat sich tief bei den Menschen einge-
ungefähr, warum das alles so weitergeht. Das beginnt
brannt.
schon mit dem Zeitpunkt, zu dem dieser Brief abge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten druckt worden ist. Ich weiß nicht, ob es das jemals gab.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich finde es unglaublich, dass hier Steuergeld benutzt
wird, um einen Parteitag der CDU zu finanzieren und zu
Sie alle reden ganz gerne von den bürgerlichen Tu- promoten.
genden. Das haben wir in diesem ersten Jahr gemerkt.
Alle, die dort sitzen, hätten viele Gelegenheiten gehabt, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
jeden Tag des ersten Jahres dieser Regierungszeit diese DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Tugenden zu leben: Mut, Verlässlichkeit, Gewissenhaf- LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]:
tigkeit, Pflichtbewusstsein, Fairness und Loyalität unter- Schamlos!)
einander – ich könnte die Aufzählung fortsetzen. Aber Das ist leider nicht der einzige Widerspruch, auf den
will jemand in diesem Saale wirklich ernsthaft behaup- ich hier in diesem Hause hinzuweisen habe. Wir reden
ten, das seien die Markenzeichen dieser Regierung? über den Haushalt. Der vorgelegte Haushalt sieht eine
Neuverschuldung von 48 Milliarden Euro vor. Gleich-
(Zurufe von der CDU/CSU: Ja!)
zeitig versprechen Sie in diesem Brief, Sie wollten in
Die Menschen lachen doch inzwischen, wenn sie das hö- diesen Tagen solide Finanzen sichern. Ich fordere Sie,
ren. Wenn Sie von bürgerlichen Tugenden reden, ist das meine Damen und Herren von den Regierungsfraktio-
eine Karikatur. Das können Sie nicht ernst meinen. nen, auf, erst einmal die Millionenausgaben für diese
teuren Anzeigenkampagnen zu sparen, mit denen Sie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ihre eigenen parteipolitischen Ziele promoten. Dafür ist
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das Geld nicht vorgesehen.
Sie, Frau Merkel, überschätzen Ihre Lage. Vergan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gene Woche haben Sie gesagt: Der Stil war vielleicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
verbesserungsfähig, aber die Ergebnisse stimmen. Außerdem steht in diesem Brief: „Wir sparen an vie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) len Stellen, aber nicht an der Zukunft.“ Hier im Bundes-
tag, Frau Merkel, haben Sie in jeder Plenarsitzung die
(B) (D)
Sie haben auch noch die Frechheit besessen, diese Platti- Chance, Politik zu erklären, und das ganz kostenlos. Da
tüde in einem Brief millionenfach in allen Zeitungen ab- oben sitzen Journalisten, die schreiben das sogar auf,
zudrucken. auch kostenlos. Ihr Risiko ist nur: Sie werden nachprü-
fen, ob das stimmt, was Sie hier sagen.
(Sören Bartol [SPD]: Eine Schweinerei ist das!
Steuergeldverschwendung!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dann haben Sie in diesem Brief geschrieben: „Jetzt
geht der Blick nach vorne.“ „Sapperlot!“, habe ich ge- Sie werden morgen schreiben: Das, was Sie hier als
dacht, „So will sie sich also aus der Affäre stehlen.“ Ich Haushalt vorlegen, bedeutet die zweithöchste Nettoneu-
finde, das ist auf der einen Seite dreist, auf der anderen verschuldung in der Geschichte der Republik; trotz Wirt-
Seite ignorant. Ich spüre doch: Die Menschen wollen im schaftsboom mehr Schulden als unter Theo Waigel am
Augenblick keine neuen Versprechungen hören, nicht Ende der Regierung Kohl, und damals war immerhin
eine, nicht zwei, nicht drei, nicht vier. Was sie vielmehr noch die deutsche Einheit zu finanzieren.
erwarten, das ist eine Erklärung für das Trauerspiel, das Wir müssen unseren Blick aber nicht nur auf diesen
wir in diesem ersten Jahr erlebt haben. Sie wollen wis- Haushalt, sondern auch auf die mittelfristige Finanz-
sen, wann diese Koalition endlich in der Regierung an- planung richten. Milliardenschwere Löcher sind jetzt
kommt und warum man Ihnen glauben soll, dass es bes- schon abzusehen. Wann drohen wohl die größten Lö-
ser wird. cher? Genau im Jahr nach der nächsten Bundestagswahl
2014. Dann sind Luftbuchungen in der Größenordnung
Aber es wird doch nicht besser; das haben wir doch von 11 Milliarden Euro vorgesehen: globale Minderaus-
letzte Woche gesehen. Vor dem Koalitionsausschuss ha- gaben, nicht ausreichende Mittel für die Bundeswehrre-
ben Sie selbst Ankündigungen gemacht. Sie haben die form, und so geht das weiter. Steuereinnahmen aus dem
Öffentlichkeit informiert, was dort angeblich alles auf Wachstum fallen Ihnen allen hier von den Regierungs-
der Tagesordnung steht. Aber als Sie zusammengesessen fraktionen in den Schoß. Sie nehmen Luftbuchungen
haben, als es ernst wurde, gab es dann wieder einen vor. Das entspricht weder bürgerlicher Tugend, noch ist
Komplettausfall. Das, was ich schon gesagt habe, gilt: es ehrlich.
Aus dem Herbst der Entscheidungen, den Sie angekün-
digt haben, ist wieder einmal eine Woche der Vertagung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
geworden. Diese Art von Regierungsverweigerung, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
diese Art von Führungsverweigerung können wir diesem Volker Kauder [CDU/CSU]: Reden Sie mal
Land nicht noch drei Jahre zumuten. zur Sache!)
8052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) Das Ganze ist auch kein Geheimnis. Ich sage das, um (Beifall bei der SPD) (C)
gleich zu der Erklärung zu kommen, warum dieser
Haushalt so aussieht: Ich weiß natürlich, Frau Merkel, Er hat gegen das Konjunkturprogramm, gegen das In-
dass viele in den Regierungsfraktionen, besonders von vestitionsprogramm für Gemeinden, gegen die Brücke
Ihrem Koalitionspartner FDP, sich schon wieder an für die Automobilindustrie und gegen das Kurzarbeiter-
Steuersenkungen orientieren. Wenn ich die Zeitungen geld gestimmt. Das alles hat funktioniert, aber es wäre
richtig lese, dann tun Sie selbst im Augenblick so, als doch mit der FDP nicht gekommen. Das ist doch die
seien Sie dagegen. Aber ich wette, heimlich werden Sie Wahrheit.
für das Wahljahr schon eine Steuersenkung vorbereiten. (Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/
Herr Schäuble legt – man erkennt es, wenn man genau CSU]: Da können wir nicht klatschen, weil das
hinschaut – dafür ja schon Reserven an. Das geht nach Quatsch ist!)
dem Motto: die Schuldenbremse ein bisschen aushöhlen,
42 Milliarden Euro mehr Spielraum für Schulden schaf- Dann kommt noch eines hinzu. Wir werden im Laufe
fen, um dann pünktlich im Wahljahr Steuersenkungen zu des heutigen Tages noch häufiger über Europa reden.
machen. Auch da ein interessanter Blick auf Ihren Koalitionspart-
ner, Frau Merkel, und, weil wir über Irland reden, auch
Nur, das ist erkannt. Die Bundesbank, der Bundes-
ein Blick auf Irland: Es war doch Ihr Koalitionspartner,
rechnungshof, der Sachverständigenrat – sie alle mah-
der hier in diesem Hause Irland immer zum Modellpart-
nen. Hören Sie auf, an dieser Stelle zu tricksen. Wenn
ner in der Europäischen Union erklärt hat. Er hat erklärt,
Spielraum vorhanden ist, dann haben Sie die Neuver-
daran müssten wir uns alle orientieren. Das war doch für
schuldung zu reduzieren. So ist das vorgesehen, so ha-
Sie von der FDP das leuchtende Beispiel für ungehinder-
ben wir es gemeinsam in die Verfassung geschrieben.
ten Wirtschaftsliberalismus. Dort gab es einen Regie-
(Beifall bei der SPD) rungschef – nicht mehr lange – aus Ihrer eigenen Partei-
enfamilie. Ich bin froh, dass wir uns daran nicht
Aber Fakt ist: Sie halten sich nicht daran, meine Damen orientiert haben.
und Herren von der Regierung.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)

Das ist einer der Gründe, weshalb die Menschen Ihnen – das Ich bin froh, dass die FDP damals nicht in der Regierung
spüren Sie doch – nicht glauben. Sie glauben Ihnen nicht saß, sonst säßen wir heute in demselben Schlamassel wie
nach drei kompletten Kurswechseln innerhalb von sie- Irland.
ben Jahren. Frau Merkel, vor sieben Jahren waren Sie (Beifall bei der SPD)
(B) marktradikale Vorkämpferin beim Leipziger Programm. (D)
Zu Zeiten der Großen Koalition wären Sie am liebsten Wir reden ja nicht nur über die Fraktionen hier im
sozialdemokratischer gewesen als die Sozialdemokraten. Deutschen Bundestag, sondern auch über die Menschen,
Ein Jahr später kommen Sie jetzt als neue Konservative für die Politik gemacht wird. Wenn diese Ihren Satz vom
daher. Deshalb frage ja nicht nur ich mich, sondern fra- „Aufschwung XXL“ hören, dann fragen sie sich doch:
gen sich viele in der Öffentlichkeit: Was ist der Kom- Was bedeutet das eigentlich für mich? Wann kommt die-
pass? Wofür steht diese Regierung? Was ist das Ziel? Wo ser Aufschwung XXL bei mir an? Was wird eigentlich
wollen Sie hin? Was ist Ihre Vorstellung von Gesell- aus den Versprechen der Regierungsparteien, dass am
schaft? Mal hü, mal hott und jeden Tag neuer Streit: mal Ende mehr Netto vom Brutto übrig sein soll? Die wissen
Brüderle gegen Röttgen, mal Westerwelle gegen doch inzwischen, dass das eine grandiose Täuschung
Guttenberg und immer Seehofer gegen alle. Dieser war. Sie wissen doch, dass sie zum 1. Januar nächsten
kleinkarierte, eitle Profilierungsstreit statt ernsthafter Jahres mehr Beiträge bezahlen müssen, aber nicht mehr
Politik verleidet den Menschen Politik, und das bringt Netto haben werden.
sie weg von der Politik. Das schadet allen, meine Damen
und Herren. Ich sage Ihnen mit Blick auf die Gesundheitsreform:
Da hätten wir keine Überhöhung mit bürgerlichen Tu-
(Beifall bei der SPD) genden gebraucht. Angebliche Gesundheitsreformen mit
Reden und Handeln, das liegt halt bei dieser Regie- Beitragserhöhungen hätten auch andere gekonnt.
rung ein deutliches Stück auseinander, und diesen Wi- (Beifall bei der SPD)
derspruch empfinden die Menschen doch. Herr Brüderle
klopft sich öffentlich auf die Schultern und sagt: Das, Aber das ist ja noch gar nicht der Punkt, wenn es um Ge-
was wir da haben – wir werden das heute ja noch ein sundheit geht. Der eigentliche Punkt ist ja, in welche
paarmal hören –, ist Aufschwung XXL. Richtung diese Reformschritte, die wir da gegenwärtig
erkennen, die aber den Namen „Reform“ nicht verdie-
(Beifall bei der CDU/CSU und FDP)
nen, wirklich gehen und welches Ziel damit verfolgt
– Dann können Sie gleich nochmal klatschen, wird. Das, was da gemacht wird, ist doch entgegen allen
Versprechungen alles andere als fair. Das ist – lassen Sie
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sagen Sie es erst
es mich vorsichtig sagen – nicht mehr, aber auch nicht
mal! Das entscheiden wir dann schon selber!)
weniger als die Aufkündigung des Solidarprinzips im
weil ich Ihnen sage: Derjenige, der so redet, hat gegen Gesundheitswesen. Darüber reden wir, und darüber müs-
alles gestimmt, was diesen Aufschwung begründet hat. sen wir auch heute reden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8053
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Menschen, die 4 Euro verdienen, sagen: Das ist zwar be- (C)
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE dauerlich, aber holt euch den Rest vom Amt und tretet da
GRÜNEN) als Bittsteller auf?
Ich erinnere mich noch sehr gut an die ersten Wochen Wie stärkt es den Gemeinsinn, wenn Sie den Lang-
und Monate dieser Regierung: Es konnte Ihnen, noch be- zeitarbeitslosen den Rentenversicherungsbeitrag strei-
vor Sie wussten, wohin Sie wollten, gar nicht schnell ge- chen?
nug gehen, das Beitragslimit für die Arbeitgeberseite Ich kann doch diese Liste mühelos fortsetzen. Schon
hier im Hause durchzusetzen. Die Folge davon haben nach einem Jahr wird so deutlich: Das ist keine Politik
doch alle vor Augen. Sie wissen doch, was Sie tun. Alle für mehr Gemeinsinn, sondern in allen Politikfeldern
Lasten, alle künftigen Kostensteigerungen, sei es bei den gibt es politische Vorschläge und am Ende auch Gesetze,
Arzneimitteln, sei es aufgrund einer besseren medizini- mit denen Sie die Spaltung dieser Gesellschaft vertiefen.
schen Versorgung, all die steigenden Kosten lasten Sie Die Folgen davon können Sie beobachten.
einseitig nur noch den Versicherten auf. Dazu kommen
Zusatzbeiträge. Dazu kommt das neu eingeführte Prin- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef
zip, in Vorkasse treten zu können. Wir werden dann, Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
wenn Sie Ihre angebliche Arbeit erledigt haben, nicht
Ich rede nicht von Stuttgart, und ich rede auch nicht
mehr über dasselbe Gesundheitswesen reden. Was Sie
nur von Gorleben. Aber zumindest da kann man be-
machen, ist die Aufkündigung des Solidarprinzips; das
obachten, dass die Menschen inzwischen ganz offenbar
schafft Patienten erster, zweiter und neuerdings sogar
Schwierigkeiten haben, parlamentarische Beschlüsse
dritter Klasse. Sie schwadronieren von Fairness. Ich sage
und demokratische Verfahren zu akzeptieren.
Ihnen, das ist verantwortungslos, was Sie da auf den
Weg bringen. Bezogen auf die Laufzeitverlängerung sage ich Ihnen:
Sie wird kein einziges Problem der Energieversorgung
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Zukunft lösen. Was Sie auslösen – da bin ich mir
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE völlig sicher –, ist Planungsunsicherheit in den nächsten
GRÜNEN) Jahren in der gesamten Energiewirtschaft. Sie verursa-
Nach dem Parteitag der CDU konnte man sehen, dass chen Investitionsruinen bei den kleineren Energieversor-
sich viele Kommentatoren mit der Frage beschäftigten: gern, insbesondere bei den Stadtwerken. Frau Merkel,
Warum kettet sich eigentlich die CDU, warum kettet sich Sie wissen schon jetzt: Sie werden selbst bei den unions-
die Parteivorsitzende der CDU auf diesem Parteitag ei- geführten Ländern, spätestens aber beim Bundesverfas-
gentlich an die FDP als Partner? Ich habe die kritische sungsgericht mit diesem Gesetzesvorhaben scheitern.
(B) Frage gar nicht verstanden. Für mich ist das völlig klar: All das ist schon jetzt absehbar. (D)
Für diese Politik – ich habe die Folgen eben beschrie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
ben – gibt es keinen anderen Partner hier im Hause als
die FDP. Deshalb ist das doch alternativlos, wie sich Das sind aber nur die Konsequenzen im Bereich der
zeigt. Energiepolitik.
(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ Wenn wir über Demokratie und unser Gemeinwesen
CSU]: Deshalb seid ihr ja so schwach mit reden, kommt es auch darauf an, welche Folgen dies ab-
20 Prozent!) seits der Energiepolitik haben wird. Ich sage Ihnen: Sie
von den Regierungsfraktionen begreifen einfach nicht,
Ich finde, angesichts dessen, was wir gerade exempla- dass der Atomkonsens von 2000 die neue Energiepolitik
risch im Bereich der Gesundheitspolitik erleben – die – Sie alle setzen sich drauf und tun so, als hätten Sie sie
Folgen davon werden Sie in den nächsten Jahren noch erfunden – überhaupt erst möglich gemacht hat.
spüren –, sollten wir etwas nüchterner über bürgerliche
Tugenden reden. Wir sollten auch etwas nüchterner hin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schauen, wenn Sie über Gemeinsinn reden, aber in DIE GRÜNEN)
Wahrheit das Gegenteil tun. Sie reißen alte gesellschaftliche Großkonflikte, die die-
Was nützt es dem Gemeinwohl – ich frage Sie noch ses Land in den 80er- und 90er-Jahren fast zerrissen ha-
einmal allen Ernstes –, wenn wir nicht vorhandenen Ver- ben, ohne Not wieder auf.
teilungsspielraum nutzen, nein, ausbeuten, um ein paar Meine Damen und Herren von den Regierungsfrak-
Hotelbesitzern ein paar Millionen Euro zuzuwenden? tionen, Sie müssen begreifen: Die Menschen wollen eine
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Energieversorgung ohne Atommüll; sie wollen jedoch
CSU und der FDP) nicht den Rückmarsch in die 90er- oder 80er-Jahre. Da
bin ich völlig sicher.
Was nützt es dem Gemeinwohl, wenn Sie vier Ener-
gieversorgern die Laufzeiten für deren Atomkraftwerke (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
verlängern? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des
Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Richtig!)
Zum Schluss ein Wort zu Europa. Ich glaube, die
Wie fördert es den Gemeinsinn, wenn Sie den Min- Lage ist ernst, und zwar nicht allein wegen Griechenland
destlohn flächendeckend verweigern und denjenigen und Irland. Ich schaue mit einiger Sorge auf das große
8054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) europäische Einigungswerk. Es liegt im Moment in Apa- (Otto Fricke [FDP]: Das Handelsblatt ist (C)
thie. Die europäischen Führungsmächte sind aus meiner regierungsfreundlich?)
Sicht nicht an Bord. Wo sie an Bord sind – in Klammern:
Deauville –, da haben die anderen nicht den Eindruck, Merkels Politik … führt zu Unsicherheit und Un-
als ginge es um Europa. frieden. Angela Merkel ist stark gegen die Schwa-
chen. Der Weg, den sie einschlägt, führt nicht nach
Um da nicht missverstanden zu werden: Es ist völlig Europa.
klar, dass eine deutsche Bundeskanzlerin, eine deutsche
Regierung deutsche Interessen hat, die sie in Brüssel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
vertreten darf und muss; das war immer so. Der Unter- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
schied ist nur: Wir werden zurzeit offenbar nicht verstan-
Natürlich werden Sie sagen – das verstehe ich ja –: Das
den. Das kann doch nicht nur an den anderen liegen; da-
ist das Handelsblatt; das ist starker Tobak. – Nur, igno-
für spricht wenig.
rieren dürfen wir und erst recht Sie das nicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Wege aus der europäischen Krise – das ist meine
Überzeugung – führen nicht über vordergründige Schuld-
Das hängt offenbar damit zusammen, dass wir es mit den zuweisungen und nicht über Paternalismus. Sie können
taktischen Spielchen ein wenig übertrieben haben – ich nur über eine neue europäische Politik führen. Wann,
habe das schon einmal am Beispiel der Finanzmarkt- wenn nicht in Zeiten der Krise, ist der richtige Zeitpunkt,
steuer durchbuchstabiert –: Wir tun so, als würden wir um daran zu arbeiten, was eine gemeinsame europäische
wollen, aber hintenherum sagen wir, dass es eigentlich Wirtschafts- und Finanzpolitik sein könnte?
gar nicht unsere Absicht ist. Die anderen Länder merken,
wenn eine Regierung Nutzen daraus zieht, dass der Bou- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
levard gegen die südeuropäischen Partner vom Leder Wann, wenn nicht jetzt, ist der richtige Zeitpunkt für ei-
zieht. Die kleinen Länder werden vor den Kopf gesto- nen ernsthaften Versuch einer Annäherung der Steuer-
ßen, wenn man nicht auf Augenhöhe mit ihnen spricht. politiken? Dabei geht es nicht um die Stellen nach dem
Mir macht es Sorgen, wenn ich sehe, wie viel Empö- Komma, natürlich nicht, aber über die Arten der Besteu-
rung und Abneigung uns mittlerweile von vielen euro- erung, die Korridore für das Maß der Besteuerung muss
päischen Partnern entgegenschlägt. man doch jetzt reden. Ich bin sicher, auch Partner wie
die Iren sehen das heute anders als vor zwei Jahren.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das waren
Sie!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D)
Frau Merkel, das müssen auch Ihre Sorgen sein. Seien
Sie einen Augenblick ernsthaft. Sie wissen genau, dass Zu all dem höre ich nichts. Stattdessen höre ich Beleh-
sich da etwas im europäischen Rahmen verändert. Es rungen. Das bringt Europa nicht neu zusammen. Ich weiß
muss auch Ihre Sorge sein, wenn uns der Verdacht entge- selbst: Europa und die europäische Integration sind keine
genschlägt, wir hätten unser Interesse an Europa verloren Selbstläufer, waren es auch in der Vergangenheit nicht. Es
oder hätten gar – das wäre vielleicht noch schlimmer – hat sich aber etwas verändert – deshalb müssen wir ge-
aus einem ökonomischen Kalkül heraus ein Interesse an nauer hinschauen –: Die Fliehkräfte in Europa haben
einer Renationalisierung. Ich behaupte nicht, dass das ganz ohne Zweifel zugenommen. Dass nationalpopulisti-
stimmt. Ich behaupte, dass wir auf der europäischen sche Strömungen in Europa stärker geworden sind, auch
Ebene von vielen unserer Partner nicht verstanden wer- das wird in diesem Hause keiner bestreiten. Ich unter-
den. Wenn das so ist, dann liegt auch das in der Verant- stelle, dass es keiner gut findet, dass sie in einigen euro-
wortung dieser Regierung. päischen Ländern die Regierungspolitik schon mitbe-
stimmen. Ich sage nur: Wenn wir nichts dagegen tun,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden solche nationalpopulistischen Strömungen nicht
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auf Dauer an uns vorbeiziehen. Es ist Ihre Verantwortung,
Meine Erfahrung ist jedenfalls: Man kann in Europa auch die Verantwortung der Bundesregierung – dabei
Mehrheiten erzwingen und dabei gleichzeitig doch können Sie mit unserer Unterstützung rechnen –, gerade
scheitern, wenn man nämlich auf dem Weg zu einer Ent- jetzt der europäischen Idee eine neue Kraft zu geben. Ich
scheidung allzu viele Verletzte hinterlässt, wenn man zu- weiß, dass das nicht im Trend liegt, aber es drängt, wenn
lässt, dass die heimischen Medien Ressentiments gegen wir nicht alle Schaden nehmen wollen. Nehmen Sie diese
einige Partner schüren, Verantwortung an!

(Zuruf von der CDU/CSU: Das gab es bei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Schröder nicht?) DIE GRÜNEN)
vor allen Dingen, wenn man mit den Partnern zu sehr Frau Merkel, Sie haben sich entschieden, nach mir zu
von oben herab spricht. reden.
Damit Sie es nicht missverstehen: Das sind nicht (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP –
meine Worte. Das eher regierungsfreundliche Handels- Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Wie
blatt schreibt: soll es denn sonst gehen?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8055
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) Ich ahne, was Sie sagen werden: Der Fraktionsvorsit- ändert. Es bleibt dabei: Dieses Land wird weit unter sei- (C)
zende der SPD hat tüchtig geschimpft, aber er hat nicht nen Möglichkeiten regiert. Das liegt in Ihrer Verantwor-
gesagt, was die SPD anders machen würde. tung, und an den Quittungen wird schon geschrieben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Herzlichen Dank.
van Essen [FDP]: Genau so ist es!)
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei
Um es ganz klar zu sagen – Sie dürfen jetzt bei jedem Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Satz klatschen –: Mit uns gäbe es diese Gesundheits- GRÜNEN)
reform nicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Präsident Dr. Norbert Lammert:
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Wort erhält nun die Bundeskanzlerin, Frau
Dr. Angela Merkel.
Wir haben Ihnen gezeigt, wie man eine Gesundheits-
reform machen und dabei das Solidarprinzip erhalten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
kann. Wir haben Ihnen gezeigt – das ärgert Sie doch –, Abg. Sigmar Gabriel [SPD] nimmt in der vor-
wie man eine Gemeindefinanzreform machen kann, deren Reihe Platz)
ohne den Gemeinden das Geld wegzunehmen.
(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/ Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der
CSU]: Oje! Vor allem in Nordrhein-Westfa- Rede von Herrn Steinmeier hat sich Herr Gabriel lieber
len!) ganz nach hinten gesetzt, damit man sein Gesicht nicht
sieht.
Noch mehr ärgert Sie, dass wir die Blockaden, die Sie in
den 90er-Jahren im Bereich der Energiepolitik geschaf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
fen haben, aufgelöst und eine neue Energiepolitik in die- Er ist Vorsitzender, sitzt aber ganz hinten – toll.
sem Land überhaupt erst möglich gemacht haben.
(Sigmar Gabriel [SPD]: Wissen Sie, Sie waren
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schon mal besser!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo denn? Träu- Lieber Herr Steinmeier, nach Ihrer Rede habe ich nur
mer!) ein einziges Bedürfnis: endlich eine Rede über die Zu-
kunft Deutschlands zu halten,
Was ich Ihnen auch sagen kann: Mit uns, mit der
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
SPD, gäbe es das Programm „Soziale Stadt“ nicht nur
als Überschrift und Symbolik in diesem Haushalt, son- über die Zukunft eines tollen Landes mit wunderbaren
dern es wäre mit Substanz erfüllt, weil es nicht reicht, Menschen, denen ich nicht nur in meinem Brief gedankt
Beton zu finanzieren, wenn man es mit der Integration habe, sondern denen ich ausdrücklich auch heute von
ernst meint. dieser Stelle aus noch einmal danken möchte dafür, wie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sie sich in den Zeiten der Krise verhalten haben, wie sie
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ihren Beitrag für unser Land geleistet haben. Herzlichen
Dank dafür!
Entscheidend aber ist: Bei uns gäbe es die fixe Idee
von Steuersenkungen als Selbstzweck nicht. Politik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
heißt Entscheiden, und entscheiden muss man über Prio-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir führen die
ritäten. Ich prophezeie Ihnen: Bildung und Integration,
vierte Haushaltsdebatte in diesem Jahr. Im März, als wir
das sind die beiden Themen, die darüber entscheiden
über den Haushalt 2010 debattiert haben, sah es so aus,
werden, ob uns das nächste Jahrzehnt gelingt. Das muss
als würden wir einigermaßen aus der Krise herauskom-
finanziert werden, aber Sie tun das nicht. Sie erfüllen
men. 1,4 Prozent Wachstum war die Prognose. Interna-
Ihre eigenen Versprechungen nicht.
tionale Zeitungen, zum Beispiel der Economist, haben
(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ schon damals geschrieben: Deutschland scheint besser
CSU]: Das ist ein wirklicher Unfug!) aus der Krise herauszukommen, als man ahnen konnte. –
Aber heute können wir sagen – das zeigt, welche Verän-
Regieren ist mehr, als eine Koalition zu führen. Der derung noch im Gange ist –: Wir werden wahrscheinlich
Haushalt, den Sie hier vorstellen, mag zum vorläufigen im Jahre 2010 3,4 Prozent Wachstum haben, 2011 wie-
Überleben des schwarz-gelben Bündnisses beitragen; der fast 2 Prozent, und auch für die folgenden Jahre kön-
aber er ist ohne jede eigene Idee von Zukunft. Das steht nen wir, wenn wir alles richtig machen, auf vernünftige
für Weiterwursteln in guten Zeiten; aber für schwere Wachstumspfade hoffen.
Zeiten taugt das nicht, was Sie hier vorstellen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die jetzige Situation – ich freue mich darüber, dass
wir besser durch die Krise gekommen sind als andere – Das bringt mit sich, dass – das ist das Wichtigste – die
schafft riesige Chancen; aber jede dieser Chancen haben Menschen Arbeit haben, jedenfalls sehr, sehr viele. Die
Sie im ersten Jahr Ihrer gemeinsamen Regierung verstol- Zahl der Arbeitslosen ist unter 3 Millionen gesunken.
pert. Dieser Haushalt spricht dafür, dass sich das nicht Für das nächste Jahr heißt die Prognose: im Durchschnitt
8056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) 2,9 Millionen. Das darf uns nicht ruhen lassen. Wenn wir das ist schön. Aber wir müssen unsere Maßstäbe an der (C)
über Gerechtigkeit in diesem Lande sprechen, dann kön- Schuldenbremse ausrichten; es ist gut, dass wir sie im
nen wir sagen: Heute haben mehr Menschen Arbeit als Grundgesetz haben.
vor der Krise. In Ostdeutschland haben mehr Menschen
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Halten Sie
Arbeit, als das seit 1991 der Fall war. Die Arbeitslosig-
sich auch daran?)
keit ist die geringste seit 1991. Vor allen Dingen ist ein
Absinken der Langzeitarbeitslosigkeit zu verzeichnen. Und es ist gut, dass wir uns genau daran orientieren.
Nach langer Zeit ist nun endlich ein Effekt eingetreten.
Da müssen wir weitermachen; da liegen unsere Aufga- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ben für die Zukunft. Da sind wir auf einem guten Weg, Die Sache wird ja auch nicht besser dadurch, dass Sie
auf dem wir aber nicht haltmachen, sondern weitergehen hier Stunde um Stunde wiederholen, dass wir das nicht
werden. Das ist unsere Aufgabe. täten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Von selbst
Wie konnten wir so durch die Krise kommen? Was lernen Sie es ja nicht!)
macht unser Land aus? Es ist doch völlig klar: In einem Jahr, in dem sich die
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da Daten unablässig verändern,
sind Sie selber verwundert, nicht?) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Dann kann
Das ist einerseits eine innovative Wirtschaft mit einem man sie aktualisieren!)
starken industriellen Kern; das ist ein dynamischer Mit- glücklicherweise einmal zum Positiven, müssen Sie ei-
telstand; das sind leistungsstarke Arbeitnehmerinnen nen Punkt nehmen, an dem Sie ansetzen. Wenn es nach
und Arbeitnehmer, und das ist eine verlässliche Sozial- Ihnen gegangen wäre, hätten wir schon vor der Wahl in
partnerschaft. Das ist genau das, was wir als gelebte Nordrhein-Westfalen den Haushalt aufstellen sollen. So
soziale Marktwirtschaft bezeichnen können, eine so- haben Sie damals doch geredet.
ziale Marktwirtschaft, die im Übrigen auf der Welt oft
etwas belächelt wurde. Jetzt, nach der Krise, werden wir (Thomas Oppermann [SPD]: Das wäre jeden-
von vielen Ländern auf der Welt genau um diese gelebte falls ehrlicher gewesen!)
soziale Marktwirtschaft beneidet. Nein, wir haben ihn dann aufgestellt, wenn man ihn nor-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) malerweise aufstellt, nämlich im Juni und im Juli. Das
ist der Bezugspunkt. Wenigstens diejenigen bei Ihnen,
Das haben wir gemeinsam geschafft, das haben wir die Finanzpolitik betreiben, wissen, dass man die mittel- (D)
(B)
uns gemeinsam erarbeitet. Ich stehe auch gar nicht an, zu fristige Finanzplanung an einem bestimmten Tag festle-
sagen: Daran haben natürlich nicht nur die jetzige Regie- gen muss und dass sie nicht mehr Gegenstand der Bera-
rung und die Vorgängerregierung, sondern sogar die Re- tungen im Deutschen Bundestag ist.
gierung, die die Agenda 2010 erfunden hat – genau auch
die –, ihren Anteil. Das Problem des betreffenden Teils (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Die Steuerschät-
des Hauses ist nur, dass Sie davon am liebsten gar nicht zungen arbeiten wir immer ein!)
mehr sprechen möchten, dass Sie sich so schnell davon- Das ist die Wahrheit, und deshalb haben wir uns so ent-
stehlen wollen, wie Sie nur können. Das ist Ihr Problem. schieden. Das werden wir auch weiter machen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Man kann eben nicht Erfolge einheimsen und sich Zuruf von der SPD: Oh!)
gleichzeitig nicht zu dem, was man gemacht hat, beken- Das, was wir an Konsolidierung machen, ist Zukunfts-
nen. Deshalb müssen wir darüber sprechen. politik; denn da geht es um Generationengerechtigkeit,
Aber wir müssen auch darüber sprechen, dass sich na- um Spielräume.
türlich auch im Haushalt 2011 noch deutlich die Spuren Um das noch einmal vor Augen zu führen: Wir haben
dieser seit Jahrzehnten größten internationalen Finanz- heute für Zukunftsausgaben 28 Prozent des Haushalts
und Wirtschaftskrise zeigen. Dazu gehört, dass unsere
zur Verfügung, 1991 waren es 43,4 Prozent. In diese
Schuldenquote von 66 Prozent im Jahr 2008 auf über
Richtung müssen wir wieder kommen. Da kann es uns
75 Prozent angestiegen ist, dass wir in diesem Jahr ein
nicht allein beruhigen, dass wir sagen: Wir haben für
Defizit von etwa 4 Prozent haben werden und dass wir
2011 jetzt 10,6 Prozent Investitionen; das ist mehr, als
50 Milliarden Euro – plus oder minus; das kann ich
wir seit Jahren hatten. Deshalb sage ich auch: Wir sparen
heute noch nicht genau sagen – Schulden machen wer-
nicht an der Zukunft, sondern diesen Haushalt kenn-
den, also eine unglaubliche Summe von Schulden. Des-
zeichnet, dass wir für die Zukunft sparen, für den Aus-
halb heißt die Aufgabe natürlich, dass wir da besser wer-
bau von Kinderbetreuung, für Bildung und Forschung,
den müssen. Wir können uns nicht damit herausreden,
für die Erhöhung der Investitionsquote. Das ist das Cha-
dass wir sagen: Im Euro-Bereich, zum Beispiel, gibt es
rakteristikum unseres Haushalts.
eine mittlere Verschuldung von 6,7 Prozent. Da sind wir
besser. – Okay, das ist schön. Wenn wir nach Großbritan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
nien oder in die Vereinigten Staaten von Amerika Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Die sinkt
schauen, stellen wir fest, dass wir auch besser sind. Auch um 1 Milliarde!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8057
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) Wir haben – auch das noch einmal zur Erinnerung; Wenn die Haushalte konsolidiert sind, wenn wir Spiel- (C)
das hat natürlich auch zu dem Wirtschaftswachstum bei- räume haben, machen wir das. Aber wir können heute
getragen – zu Beginn des Jahres massive Steuerentlas- nicht sagen, wann genau. Deshalb werden wir diese
tungen gehabt. Dinge Schritt für Schritt abarbeiten.
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Mövenpick- (Thomas Oppermann [SPD]: Schritt für Schritt
Steuer!) seitwärts!)
Diese wurden teilweise schon in der Großen Koalition Deutschland ist ein Beispiel für das, was wir uns unter
beschlossen. Hinzugekommen ist das Wachstumsbe- Stabilitätskultur vorstellen. Nach unserer festen Über-
schleunigungsgesetz. zeugung ist jetzt auch eine Ausstiegsstrategie aus den
Konjunkturmaßnahmen, die wir in großem Umfang ge-
Wir werden weiter an den Fragen der Steuern arbei-
macht haben, notwendig. Es zeigt sich, dass Deutschland
ten. Wir brauchen eine bessere Ausstattung der Gemein-
diesen Schritt gehen muss, auch und gerade im Blick auf
den. Dafür werden wir Lösungen vorschlagen. Das ist
Europa. Denn wir haben in Europa eine Situation, die
ein drängendes Problem.
deutlich zeigt, dass Stabilitätskultur überall gelebt wer-
(Thomas Oppermann [SPD]: Aber wann den muss. Wir haben schwierige Monate hinter uns.
denn? Da wäre doch heute der richtige Tag da-
Herr Steinmeier, das, was Sie dazu gesagt haben,
für!)
kann mich wirklich nicht zufriedenstellen.
Es ist schon wirklich abenteuerlich,
(Johannes Kahrs [SPD]: Aber er hat recht!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
In Europa ist man heute noch entsetzt, dass 2004 der Sta-
dass Sie, die Sie damals durch Steuerreformen den Kom- bilitätspakt aufgeweicht wurde, und zwar auf Vorschlag
munen Gewerbesteuern en masse gestohlen haben, uns der Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder. Re-
jetzt hier sagen, Sie wüssten, wie man eine Gemeindefi- den Sie einmal mit dem Präsidenten der EZB!
nanzreform macht. Das ist doch wirklich abenteuerlich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Thomas Oppermann [SPD]: Sie weiß gar Dann haben Sie die politische Entscheidung getroffen,
nicht, wovon sie redet! – Petra Merkel [Berlin] dass Griechenland in den Euro-Raum soll.
[SPD]: Das ist doch unglaublich!) (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Waren Sie
Wir werden Vorschläge zur Steuervereinfachung denn dagegen?)
(B) (D)
machen. Es hat sich gezeigt, dass das eine eher komplizierte Ent-
(Thomas Oppermann [SPD]: Wo sind die scheidung war. Als es im Frühjahr dieses Jahres darum
denn?) ging, dass Verantwortung gezeigt werden muss, haben
Sie sich unter fadenscheinigen Begründungen enthalten;
Diese werden am 1. Januar 2012 in Kraft treten. Die Be- Sie haben sich in einer zentralen Stunde Europas zwei-
ratungen dazu laufen. Wir können viel im deutschen mal enthalten. Darüber wird die Geschichte richten; sie
Steuerrecht vereinfachen. Ein erstes Paket werden wir wird zeigen, was man davon zu halten hat.
vorschlagen. Es wäre schön, wenn vielleicht auch Ihre
Länder die Bereitschaft zeigen würden, sich an der Fi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nanzierung zu beteiligen.
Wir haben im Frühjahr dieses Jahres in der Europäi-
(Thomas Oppermann [SPD]: Fragen Sie erst schen Union einen Euro-Rettungsschirm gespannt. Dass
einmal Ihre eigenen Länder!) Irland jetzt einen Antrag stellt, Teil dieses Schirms zu
werden, ist genau die Verhaltensweise, für die wir vorge-
Denn unser Spielraum könnte viel größer sein, wenn das sorgt haben. Wir haben gesagt: Die Stabilität des Euro
nicht nur als Aufgabe des Bundes gesehen würde, son- als Ganzes muss gesichert sein. Deshalb werden wir
dern wenn sich auch alle Länder dafür mitverantwortlich – das haben die Finanzminister gesagt – den Antrag Ir-
fühlen würden. lands positiv betrachten, natürlich immer in einer Kondi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tionalität, die deutlich macht, welche Schritte ein Land
tun muss, um auf den Pfad einer stabilen Währung zu-
Wir haben eine ganz klare Priorität. Wir sagen: Haus- rückzukehren.
haltskonsolidierung kommt zuerst. Aber deshalb haben
wir das Thema „einfaches, gerechtes und niedriges Steuer- Man sieht doch, welche Anstrengungen die griechi-
system“ sche Regierung unternimmt. Man sieht auch – das haben
die Kommunalwahlen jetzt gezeigt –, dass die Menschen
(Lachen der Abg. Petra Merkel [Berlin] in Griechenland diese Anstrengungen sogar honorieren.
[SPD]) Ich sage das, obwohl unsere Partnerpartei dort dabei
gerade für kleine und mittlere Einkommen nicht verges- nicht der Gewinner ist. Die Menschen wollen, dass die
sen. Dinge beim Namen genannt werden, dass man nicht den
Kopf in den Sand steckt, dass man ihnen nicht nach dem
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mund redet. Sie wollen, dass die Entscheidungen gefällt
8058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) werden, die notwendig sind. Das ist genau das, was auch (Joachim Poß [SPD]: Ja! Und warum? Dazu (C)
wir für unser Land machen. haben Sie viel beigetragen! – Jürgen Trittin
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mal mit Ihrem Regierungssprecher, mit Herrn
Wir alle wissen – ich finde, darüber sollten wir in al- Seibert!)
ler Ruhe und Verantwortung in diesem Hause diskutie-
Wir stehen jetzt vor einer ganz entscheidenden Frage.
ren –: Wir haben einen Krisenmechanismus bis zum
Wir haben am Anfang der Krise oft gesagt: Es darf nicht
Jahre 2013. Wir wissen auch – das sagt uns unsere euro-
sein, dass die Politik nicht das Primat hat. Die Wirtschaft
päische Verantwortung –: Wir brauchen für die Zeit da-
hat der Politik und den Menschen zu dienen und nicht
nach einen permanenten Krisenmechanismus.
umgekehrt.
Im Augenblick arbeiten wir, auch im Hinblick auf Ir-
land, all die Fehler der Vergangenheit ab. Deshalb ist es (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Ach! Das ist ja
auch richtig, zu sagen: Die Krise ist noch nicht vorbei. mal was ganz Neues! – Jürgen Trittin [BÜND-
Aber wir müssen jetzt Vorkehrungen treffen, damit diese NIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine neue Erkenntnis
Fehler nicht wieder passieren. Dabei geht es um die Fi- ereilt Frau Merkel! – Thomas Oppermann
nanzmarktarchitektur; da haben wir vieles erreicht. Da- [SPD]: Aha! Kein Beifall bei der Koalition!)
bei geht es um die Tatsache, dass wir den Stabilitätspakt Jetzt stehen wir an genau dieser Stelle. Jetzt findet
geschärft haben; auch da haben wir vieles erreicht, mehr, ganz konkret und jeden Tag ein gewisses Ringen darum
als man vielleicht vor einem Jahr hätte denken können. statt: Hat die Politik den Mut, auch diejenigen, die damit
Das vielleicht Wichtigste ist aber nicht, dass jetzt die Geld verdienen, mit ins Risiko zu nehmen, oder ist der
Defizite strenger überwacht werden und auch die Ge- Handel mit Staatsanleihen der einzige Bereich der Wirt-
samtverschuldung in den Blick des Stabilitäts- und schaft auf der Welt, in dem man kein Risiko eingehen
Wachstumspaktes kommt. Das Wichtigste ist aus meiner muss? Wir haben uns entschieden. Ich bitte Sie darum:
Sicht, dass auch makroökonomische Kriterien wie Lohn- Unterstützen Sie uns dabei.
stückkosten und das Verhältnis von Sozialausgaben und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Investitionsquote in die Betrachtung der europäischen
Länder hineinkommen. Wir sind auf dem Weg, eine ge- Hier geht es um die Frage des Primats der Politik, hier
meinsame, kohärente Wirtschaftspolitik zu schaffen, die geht es um die Frage der Grenzen der Märkte, und hier
sich nach unseren Vorstellungen – ich hoffe, da stimmen geht es um eine klassische Frage der sozialen Marktwirt-
Sie uns zu – nicht an den Schlechtesten, sondern an den schaft im 21. Jahrhundert. Genau so ist es.
(B) Besten orientieren sollte, damit unser Kontinent insge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bei- (D)
samt stark wird.
fall bei Abgeordneten der SPD – Jürgen Trittin
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Was für
eine Begeisterung bei der FDP! – Thomas
Jetzt zum Krisenmechanismus für die Zukunft. Hier
Oppermann [SPD]: Na ja! Ich finde, die FDP
stehen wir vor einem Problem, wo die Entscheidung
klatscht eher verhalten!)
nicht einfach ist. Die christlich-liberale Koalition hat
sich aber entschieden. Wir sagen: Im Rahmen eines per- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles spielt sich
manenten Krisenmechanismus müssen auch die priva- in einer Welt ab, in der, wie ich es oft gesagt habe, die
ten Gläubiger, das heißt diejenigen, die an hohen Zin- Karten nach dieser Krise neu gemischt sind. Zwei Drittel
sen und mit Staatsanleihen Geld verdienen, beteiligt des Wachstums in diesem Jahr kommen aus China, aus
werden, und zwar in dem Sinne, dass sie Verantwortung Schwellenländern und Entwicklungsländern, nur ein
übernehmen. Drittel kommt aus den klassischen Industrieländern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Bettina Hagedorn [SPD]: Ja! Dann machen Sie NEN]: Aha! Mit zwei Dritteln haben Sie also
mal!) nichts zu tun?)
– Ja. Ich bitte Sie nur, dass wir darüber ganz redlich ge- – Ja, so ist es, Herr Trittin.
meinsam miteinander sprechen.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Joachim Poß [SPD]: „Redlich“? Das müssen NEN]: Okay! Das wollen wir nur mal festhal-
Sie gerade sagen! Sie haben die Dinge doch ten!)
gerade verdreht! Vorhin! – Gegenruf des Abg.
Volker Kauder [CDU/CSU]: Poß, Ruhe!) – Ja. – Herr Trittin hat der deutschen Öffentlichkeit ge-
rade mitgeteilt, dass wir, da zwei Drittel des Wachstums
– Herr Poß, ich kann es gerne wiederholen, damit auch
in Schwellenländern und Entwicklungsländern stattge-
Sie die Richtung mitbekommen.
funden haben, mit zwei Dritteln nichts zu tun hatten. Das
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU ist richtig, weil wir noch kein Schwellenland und kein
und der FDP) Entwicklungsland sind.
Die Märkte sind, wie es immer so schön heißt, beun- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
ruhigt, wenn man so etwas ausspricht. CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8059
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) Dafür ist die christlich-liberale Koalition der Garant: Mit für wir sind, und erzählen nicht unentwegt, wogegen wir (C)
uns wird Deutschland auch kein Entwicklungsland. Bei sind.
Ihnen bin ich mir nicht ganz so sicher, meine Damen und
Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Schauen wir uns doch die Alternativen an! Über die
der FDP) Linke will ich nicht weiter sprechen. Sie geben dauernd
Geld aus, das Sie nicht haben. Über die SPD habe ich
Als wir beim G-20-Treffen in Südkorea gewesen sind, schon etwas gesagt: Sie sind heute hier und morgen dort.
haben wir festgestellt, mit welcher Dynamik die Länder Sie verabschieden sich von all den relevanten Entschei-
Asiens an ihrer Zukunft arbeiten, in die sie optimistisch dungen, die zukunftsfähig gewesen sein könnten, und
blicken. Sie sind innovationsfreudig und bildungshung- zwar in einem affenartigen Tempo, dass es einem ganz
rig. Genau daraus ergibt sich der Auftrag der christlich- schwindlig wird und man sich fragt, wie das weitergehen
liberalen Koalition. Wir haben ein starkes Deutschland. soll.
Unser Auftrag heißt: Wir wollen, dass Deutschland stark
bleibt. Das ist der Auftrag unserer Koalition. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage nur: Rente mit 67, Agenda 2010.
Genau das werden wir in dieser Legislaturperiode Fragen Sie doch einmal den Ulmer Oberbürgermeis-
machen; dafür haben wir unseren Auftrag bekommen. ter, wie er zu Stuttgart 21 und neuen Bahnstrecken steht.
Wir werden 2013 Rechenschaft darüber ablegen, was Dann werden Sie Ihre Antwort bekommen.
wir auf diesem Weg geschafft haben. Und die Grünen? Sie sind sozusagen ziemlich fest mit
Wir sind erstens für eine starke Wirtschaft, zweitens dem Wort „dagegen“ verbandelt. Das wollen Sie ka-
für einen starken Staat und drittens für ein starkes Ge- schieren. Sie sagen, Sie seien für erneuerbare Energien.
meinwesen. Das sind die Pfeiler unserer Politik. Aber wo immer eine Hochspannungsleitung gebaut wer-
den muss – das sind viele Kilometer –, wo immer ein
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neuer Bahnhof entsteht, wo immer irgendetwas Neues
neten der FDP – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: passiert, wo Pumpspeicherkraftwerke, zum Beispiel in
Genau in der Reihenfolge!) Bayern, entstehen, sagen Sie: Erneuerbare Energien, ja;
Ja – darüber haben wir in diesem Herbst viele Debat- neue Netzleitungen, nein; Pumpspeicherkraftwerke in
ten geführt –, wir haben kontroverse Entscheidungen ge- Bayern, nein. – So geht es nicht! Das ist nicht die rich-
fällt. Aber wir sind der Meinung, dass wir damit die tige Antwort.
(B) Weichen in die richtige Richtung gestellt haben. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ja, wir müssen noch weiter Überzeugungsarbeit für
Sie wollen angeblich für den Zugverkehr sein und
das leisten, was wir tun, weil es natürlich kontrovers dis-
mehr Verkehr auf die Schiene verlagern. Aber wo immer
kutiert wird und weil es darüber auch Auseinanderset-
ein neuer Bahnhof gebaut wird, sind Sie dagegen, egal
zungen gibt. Wir werden zu den Menschen gehen und sie
ob es hier in Berlin-Ostkreuz oder bei Stuttgart 21 ist.
davon überzeugen, dass das, was wir tun, richtig ist.
Ja, wir sind bereit, auch ganz neue Wege zu gehen, (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bei denen man nicht genau weiß, was das Ergebnis ist. NEN)
Wir sind aber überzeugt: Wer keine neuen Wege geht, Wo immer eine neue ICE-Strecke entsteht, sind Sie auch
wird in die Vergangenheit gehen, und Deutschland wird dagegen. Gucken Sie doch einmal nach Hannover, Ber-
zurückfallen. Genau das wollen wir nicht. lin und Hamburg. Nein, meine Damen und Herren, so
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – geht es nicht! So werden Sie nicht durchkommen.
Thomas Oppermann [SPD]: Bisher war es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
doch so!)
Sie sind natürlich für den Sport – wer wollte das
Wir wollen ein Land sein, in dem sich Leistung und nicht? – und wahrscheinlich auch dafür, Sport in das
Arbeit lohnen, Grundgesetz aufzunehmen. Aber wenn es um Olympi-
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sche Spiele in Deutschland geht, dann sind Sie natürlich
Siehe Mindestlohn!) dagegen.
damit wir die Kraft für die Solidarität in unserer Gesell- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
schaft haben. Genau das ist immer das Wechselspiel in der FDP)
der sozialen Marktwirtschaft.
Wenn es so weitergeht, werden die Grünen für Weih-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nachten sein, aber gegen die davor geschaltete Advents-
der FDP) zeit.
Wir verschließen nicht die Augen vor der Realität. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
Wir stecken nicht den Kopf in den Sand, sondern wir der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE
stellen uns mutig den Herausforderungen, mit denen wir GRÜNEN]: Ich lach’ mich ab! Ist die ko-
es zu tun bekommen. Wir haben den Mut, zu sagen, wo- misch, die Kanzlerin!)
8060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
auch damit befassen, was Sie den Menschen sagen und NEN]: Wir warten ja darauf!)
wozu Sie die Menschen ermutigen. Lesen Sie einmal
nach, was Ihr Landesvorsitzender Kretschmann in Ba- – Nun bleiben Sie einmal ruhig. Beherzigen Sie doch
den-Württemberg sagte, einmal, dass Sie die Probleme der Zukunft nicht lösen
werden, noch nicht einmal die, die Sie in der Vergangen-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heit verursacht haben. Das ist doch der Punkt: Sie drü-
NEN]: Den hätten Sie gerne!) cken sich angeblich im Geiste der Nachhaltigkeit vor der
Verantwortung.
als er gefragt wurde, ob er garantieren könne, dass die
Grünen aus dem Projekt Stuttgart 21 aussteigen. Er (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das trifft über-
sagte: haupt nicht zu! – Thomas Oppermann [SPD]:
Lösen Sie erst einmal die Probleme der Ge-
Das kann ich nicht garantieren. … Wir können ja
genwart!)
aussteigen nur zu einem verantwortbaren Preis.
Solch ein Versprechen abzugeben, das wäre nicht Sie sind gegen die Erkundung von Gorleben und be-
seriös. klagen, dass es kein Endlager gibt. Das ist diese Zwei-
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – deutigkeit, das sind Schäden aus der Vergangenheit, die
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bereits angerichtet sind. Darauf müssen Sie eine Antwort
Aha!) geben. Das haben Sie nicht getan.

Ich finde es schon ziemlich waghalsig – um es einmal (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
ganz vorsichtig auszusprechen –, Menschen zu Demon- Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
strationen gegen etwas zu ermutigen, um dann im Klei- NEN]: Welcher Atomkonzern hat Ihnen das auf-
nen zu sagen: Wenn es darauf ankommt, können wir geschrieben? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/
euch gar nicht garantieren, dass wir das verhindern kön- DIE GRÜNEN]: Also Erhalt der Schöpfung
nen. – Ich finde, das müsste er viel lauter sagen. durch Salzkavernen!)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Das ist bei Ihnen Thema für Thema gleich.
Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie sprechen über nachhaltiges Wirtschaften. Dabei
NEN]: Sie verhindern doch die Entscheidung! können Sie doch nicht die Augen davor verschließen,
Sie blockieren das doch! Sie schicken die Was- dass im Jahre 1950 sechs Arbeitnehmerinnen und Ar-
serwerfer!) beitnehmer für einen Rentner gearbeitet haben und er
(B) Um es noch einmal in einer anderen Variante zu sa- zehn Jahre lang Rente bekommen hat. Heute arbeiten (D)
gen, weil Sie vielleicht meinen, das sei zu holzschnitt- drei Arbeitnehmer für einen Rentner, und er bekommt
artig und zu grobschlächtig, zitiere ich Ihnen, was ges- 18 Jahre lang Rente. Im Jahre 2030, also in 20 Jahren,
tern im Feuilleton in der Süddeutschen Zeitung werden zwei Menschen für einen Rentner die Rente erar-
Interessantes geschrieben wurde: beiten müssen, und er bekommt sie über 20 Jahre lang.
Wenn man dann sagt, wie die SPD es tut, jetzt setze man
Die Ökologie ist das größte System der Welt; Tech- die schrittweise Einführung der Rente mit 67 erst einmal
nik, Kultur oder Ökonomie sind darin Teilgebiete. fünf Jahre aus, dann mutet man den zukünftigen Genera-
Es ist richtig, dass die Fragen der Nachhaltigkeit tionen etwas zu, was wir nicht wollen; denn wir wollen
alle anderen Themen dominieren. Wenn wir ihrem Generationengerechtigkeit. Sie stecken den Kopf in den
grundsätzlichen Bedenkentum aber alle Kräfte der Sand, Sie stellen sich den Realitäten nicht, Sie reden
Euphorie opfern, werden wir kaum in der Lage drum herum. So kommen wir nicht voran.
sein, die Probleme der Zukunft zu lösen. Nicht ein-
mal die, die wir selbst im Glauben an die Zukunft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
verursacht haben. Genauso ist es beim Thema Gesundheit. Herr
Das ist eine andere Variante, mit der auf das hingewiesen Steinmeier, ich weiß, dass Sie es eigentlich wissen. Sie
wird, was Sie gerade zerstören. wissen nur nicht, wie Sie das bei sich rüberbringen kön-
nen. Die Gesundheitskosten werden steigen, weil die
Wir wollen nachhaltige Politik; der Bundestag wird medizinischen Möglichkeiten größer sind, weil wir
hier in einer Enquete-Kommission über nachhaltiges heute Dinge tun können, an die man früher überhaupt
Wachstum diskutieren. Wir zerstören aber die Fähigkeit nicht gedacht hat, und weil unsere Bevölkerung gleich-
zur Zukunft, wenn wir den Bedenkenträgern folgen. zeitig älter wird.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf von der SPD: Solidarisierung à la
NEN]: Wer hat sie vorgeschlagen? – Jürgen Rösler!)
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer
hat die Kommission denn vorgeschlagen, Frau Deshalb ist es doch ganz logisch, dass man die aus-
Bundeskanzlerin?) schließliche Kopplung an die Arbeitskosten nicht auf-
rechterhalten kann.
– Ich gebe Ihnen ja nur gute Hinweise. Guten Hinweisen
von Ihnen schließen wir uns immer an; aber die gibt es (Thomas Oppermann [SPD]: Aber die Kopplung
leider nur sehr selten. an die Arbeitnehmereinkommen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8061
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) Sie wissen auch, dass der Ausgleich für die ansteigenden (Zurufe von der SPD) (C)
Kosten viel gerechter aus dem Steuersystem als aus den
– Sie brauchen gar nicht so zu schreien. Wir sind zu Ge-
sozialversicherungspflichtigen Beiträgen geleistet wer-
sprächen bereit; das habe ich Ihnen immer wieder ge-
den kann. Das – und nichts anderes – ist doch das, was
sagt.
wir machen. Wir legen eine Oberbelastungsgrenze von
2 Prozent des eigenen Einkommens fest. Diese Grenze (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
haben Sie in vielen Fällen genauso gewählt.
Wir brauchen nicht nur eine starke Wirtschaft, wir
(Zurufe von der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE brauchen auch einen starken Staat. Wir dürfen nicht ver-
GRÜNEN und der LINKEN) gessen, dass die Beratungen heute in einer Umgebung
stattfinden, wie wir sie lange nicht hatten. Besucherin-
– Sie haben so eine Angst, dass Sie verstehen könnten, nen und Besucher können den Reichstag im Augenblick
was wir machen, dass Sie immer gleich schreien und nicht besuchen. Ich bedanke mich beim Bundestagsprä-
einfach nicht zuhören. Aber das wird sich nicht durch- sidenten, dass er gestern ganz deutlich gemacht hat: Wir
setzen. Sie müssen Antworten auf die Zukunft finden. werden uns von unserer Arbeit trotz terroristischer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bedrohung nicht abbringen lassen.
Zu Ihrer Milchmädchenrechnung. Auf dem Grünen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Parteitag ist ja das Allerbeste passiert. Man hat zum Aber klar ist auch – das haben uns die Paketbomben im
Schluss die Kommission „Ehrlich machen“ gegründet. Flugfrachtverkehr gezeigt –: Die Bedrohungen sind lei-
Was war Ihr ganzer Parteitag, wenn Sie hinterher eine der real. Wir müssen uns auf sie einstellen. Ich möchte
Kommission „Ehrlich machen“ gründen müssen? War der Polizei danken, den Sicherheitskräften insgesamt,
das alles die Unwahrheit oder unehrlich, oder was? Das aber auch den Bürgerinnen und Bürgern, die das alles
ist doch unglaublich. gefasst und im Wissen um den Wert der Demokratie und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – unserer Freiheit akzeptieren und einerseits aufmerksam,
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- andererseits aber eben auch nicht ängstlich sind. Ich
NEN]: Da hat man Ihnen Quatsch aufgeschrie- kann die Worte des Bundesinnenministers nur wiederho-
ben!) len: Es gibt Grund zur Sorge, aber keinen Grund zur
Hysterie.
Wir werden über die Neuregelung der Hartz-IV-
Sätze miteinander sprechen. Wir haben eine verfas- Wir werden in diesem Bereich ganz eng – das haben
sungsgemäße Berechnung. wir jetzt schon gesehen – mit anderen Ländern zusam-
menarbeiten müssen. Globalisierung ist nicht nur im
(B) (Zurufe von der SPD: Nein! – Dr. Dagmar (D)
Wirtschaftsbereich, sondern globale Vernetzung ist auch
Enkelmann [DIE LINKE]: Das sehen die Ex- im Sicherheitsbereich wichtig. Wir werden die für uns
perten anders!) notwendigen Antworten finden müssen, wie wir für Ge-
Sie haben uns bis heute nicht gesagt, was genau Sie da- setze, die in der Koalition besprochen und die geregelt
ran bezweifeln. werden müssen – ich nenne das Thema Vorratsdaten-
speicherung –, richtige und gute Lösungen finden, und
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Rechnungshof! wir werden international mehr Verantwortung überneh-
Bundesbank! Sachverständigenrat!) men.
Lieber Herr Steinmeier, ich sage Ihnen eines: Es geht um Ich möchte mich beim Bundesaußenminister ganz
Menschen und gerade um Kinder und ihr Bildungspaket herzlich bedanken. Es ist gelungen – –
zum 1. Januar nächsten Jahres. Ich kann nur sagen: Ma-
chen Sie keine Spielchen, sondern lassen Sie uns ehrlich (Widerspruch bei der SPD)
darüber reden. – Mein Gott, das ist von Bundeskanzler Schröder einge-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- leitet worden. Wir haben die Außenpolitik in guter, be-
NEN]: Ist das jetzt die Einladung zum Ge- währter Kontinuität fortgeführt und uns um den Sicher-
spräch, oder was?) heitsratssitz für die Jahre 2011 und 2012 bemüht. Wir
waren erfolgreich. Ich finde, darüber können wir uns alle
Wenn Sie es verweigern, mit der zuständigen Ministerin freuen; wir sollten das Beste daraus machen.
darüber zu sprechen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
(Thomas Oppermann [SPD]: Sie haben doch bei Abgeordneten der SPD)
das Gespräch verweigert! – Renate Künast
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich warte auf Wir brauchen natürlich auch in der Sicherheitspolitik
die Einladung!) der NATO neue Ansätze und neue Vernetzungen. Wir
haben in Lissabon mit dem Bundesaußenminister und
weil Sie noch hundert Sachen mit lösen wollen, die gar dem Bundesverteidigungsminister einen sehr erfolgrei-
nicht in deren Arbeitsbereich fallen, dann kann ich nur chen NATO-Gipfel gehabt. Die NATO hat ein neues
sagen: Das ist kein seriöses Herangehen. Es geht hier um Strategisches Konzept aufgelegt. Die NATO hat gezeigt,
das Schicksal von Hartz-IV-Empfängern und von Kin- dass sie ein politisches Bündnis ist. Dazu hat ganz we-
dern in Familien mit Hartz IV. Da sind auch Sie in der sentlich der Schritt Frankreichs im letzten Jahr beigetra-
Verantwortung. gen, wieder Vollmitglied der NATO zu werden. Nur da-
8062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) durch ist es überhaupt möglich, heute Themen wie heitsratsresolution gegen den Iran mit auf unserer Seite (C)
Afghanistan, die Frage der Übergabe in Verantwortung, war. Diese Partnerschaft muss ausgebaut werden. Sie
das Thema der vernetzten Sicherheit, der Notwendigkeit wird ausgebaut werden, und wir werden dadurch ein
eines parallelen, politischen Prozesses zu den militäri- Mehr an Sicherheit haben.
schen Aktionen in der NATO zu besprechen.
Wenn wir jetzt zu einem freiwilligen Wehrdienst
Meine Damen und Herren, wir stellen uns auch den übergehen, was auch Folgen für den Zivildienst im Zu-
neuen Herausforderungen. Dazu gehört auch Cyber sammenhang mit dem Freiwilligendienst hat, dann brau-
Defense, wie es so schön heißt, also der Schutz unserer chen wir ein Freiwilligengesetz, das die Ministerin
Datensysteme. Präsident Obama sagt, dass Amerikas Kristina Schröder vorgestellt hat. Das bringt mich zu
wirtschaftlicher Wohlstand im 21. Jahrhundert von der dem nächsten Punkt; denn wir wollen damit nicht nur et-
Sicherheit der Datennetze abhängt, und hat ein Cyber- was technisch neu regeln, sondern auch einen Impuls ge-
security Office eingerichtet. Die britische Regierung hat ben und einen richtigen Schritt hin zu einem Gemeinwe-
Cyber-Defense-Programme angekündigt und will in vier sen tun, wie wir es uns vorstellen. Wir wollen, dass diese
Jahren 400 Millionen Pfund dafür ausgeben. Wir ma- Gesellschaft dadurch menschlicher wird, dass Menschen
chen selbstverständlich auch etwas. Wenn der Fraktions- sich für andere Menschen engagieren.
vorsitzende der Grünen zu dem Thema nichts anderes (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sagt als: „Wollen Sie Google bombardieren?“, dann kann
ich nur sagen: Dümmer geht’s nimmer, lieber Herr Ich glaube, viele junge Menschen werden dazu bereit
Trittin. sein, sei es in der Bundeswehr, sei es im Freiwilligen-
dienst, sei es im Freiwilligen Sozialen oder im Freiwilli-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gen Ökologischen Jahr, das junge Menschen ableisten.
des Abg. Peer Steinbrück [SPD]) Aber wir laden Menschen aller Altersgruppen ein, sich
Auch wir als christlich-liberale Koalition reagieren im Ehrenamt und in Freiwilligendiensten zu engagieren.
auf die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Es gibt sehr viel zu tun, und der Staat wird gerade in ei-
Der Bundesverteidigungsminister hat eine Sicherheits- ner Gesellschaft, die älter wird, Menschlichkeit nicht so
analyse vorgelegt. Wir haben die Entscheidung getroffen vermitteln können, wie wir uns das wünschen, jedenfalls
– mit „wir“ meine ich vor allem die Unionsfraktion; die nicht alleine. Wir brauchen einen starken Staat; aber wir
FDP hatte diese Entscheidung schon früher getroffen –, brauchen auch starke Bürger, die sich für andere Bürge-
dass wir die Wehrpflicht nicht abschaffen, sondern aus- rinnen und Bürger engagieren. Das ist unsere Vorstel-
setzen und in einen freiwilligen Wehrdienst überfüh- lung von Gemeinwesen.
ren. Die Kommandeurstagung dieses Jahres in Dresden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) zum Thema „20 Jahre Armee der Einheit“ – übrigens eine (D)
riesige gemeinsame Erfolgsgeschichte von uns allen – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir sind
war sicherlich eine ganz wesentliche Weichenstellung uns nicht in allen Fragen einig. Aber ich glaube, dass wir
dafür, wie sich die Bundeswehr in der Zukunft entwi- uns den Themen gestellt haben. Wir haben Entscheidun-
ckelt. gen gefällt, und wir werden weitere Entscheidungen fäl-
len. Was das Thema Arbeitsmarkt angeht, dürfen wir
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was auf die uns mit 2,9 Millionen Arbeitslosen nicht zufrieden ge-
Bundeswehr zukommt, ist nicht irgendeine Reform, son- ben. Wir haben angesichts des demografischen Wandels
dern das ist das Ankommen im 21. Jahrhundert. Das ist vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Bundes-
die Antwort auf die neuen Bedrohungen, die nicht mehr republik Deutschland seit den 70er-Jahren wieder die
an den Grenzen des Bündnisses NATO bestehen, son- Chance, zu sagen: Vollbeschäftigung kann Realität wer-
dern Bedrohungen, die aus Staaten kommen, die ihrer den.
Verantwortung nicht nachkommen können, die vom Ter-
rorismus kommen oder die durch die Proliferation von (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Steinmeier ist dafür
Massenvernichtungswaffen entstehen: völlig neue Pro- ausgelacht worden im Wahlkampf!)
bleme, vor denen wir stehen. Deshalb war ich sehr froh, Deshalb werden wir gerade von den Jüngeren fordern,
dass es uns in Lissabon beim Russland-NATO-Rat ge- wenn sie nicht gefördert werden wollen, genau diesen
lungen ist, deutlich zu machen: Russland ist bei der Be- Weg zu gehen; denn der demografische Wandel kann
kämpfung all der Bedrohungen, denen wir gegenüberste- auch als Chance für unser Land genutzt werden.
hen, nicht mehr unser Gegner, wie es im Kalten Krieg
war, sondern Russland kann und wird Partner sein. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hat sich ganz massiv dort demonstriert. Wir packen die Probleme also an, zusammen mit un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie seren internationalen Partnern. Wir machen eine Politik
des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE aus dem Blickwinkel unserer Kinder, weil wir uns der
GRÜNEN]) Zukunft verpflichtet fühlen. Deshalb darf ich Ihnen sa-
gen: Die christlich-liberale Koalition ist auf einem Weg,
Wir mussten gestern wieder erleben, dass diese Bedro- um Deutschland, das immer stark war, auch stark blei-
hungen nicht abstrakt sind. Die Raketenangriffe von ben zu lassen. Sie ist auf einem Weg, der deutlich macht:
Nordkorea auf Südkorea haben uns allen gezeigt, wie Die Bundesrepublik Deutschland war nicht nur ein Er-
fragil die Sicherheit in einigen Bereichen unserer Welt folgsmodell. Sie wird auch in Zukunft ein Erfolgsmodell
ist. Wir erwähnen, dass Russland auch bei der Sicher- sein. – Diesem Auftrag fühlen wir uns verpflichtet. Da
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8063
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) werden wir auch keine Widerstände scheuen. Da werden (Beifall bei der LINKEN) (C)
wir Entscheidungen treffen. Ich sage Ihnen dazu: Es
macht uns sogar noch gemeinsam Spaß. Ich komme zum ersten Versprechen. Das heißt: „Wir
sichern die Finanzen“. Sie selber haben gesagt: Keine
Herzlichen Dank. Bundesregierung hat bisher mehr Schulden gemacht als
Sie. Der Einwand, dass nicht die Regierung daran schuld
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
sei, sondern die Finanzkrise, ist unredlich. Ich darf dazu
der FDP)
den Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz zitieren,
der es folgendermaßen auf den Punkt bringt:
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch Stattdessen wird das Geld wahllos den Banken hin-
für die Fraktion Die Linke. terhergeworfen, und die zahlen sich dafür Milliar-
den an Boni und Dividenden aus. Wir Steuerzahler
(Beifall bei der LINKEN) werden praktisch ausgeraubt, um die Verluste eini-
ger sehr wohlhabender Leute zu verringern. Das
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): muss sich dringend ändern.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Nach dem Willen der Kanzlerin sollte es der Herbst Aber Sie haben das nicht geändert. Das ist ein Fehler,
der Entscheidungen werden. Es wurde der Herbst der Frau Merkel.
Fehlentscheidungen. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen ganz deutlich: Die Vollkaskomentalität
Die Verlängerung der Laufzeiten für marode Atomkraft- der Banker stinkt zum Himmel. Sie müssten endlich die-
werke, die Einführung der Kopfpauschale, das Festhal- ser Mentalität etwas entgegensetzen, anstatt sie immer
ten an der Rente erst ab 67 und jetzt noch ein Bundes- wieder zu unterstützen. Sie haben Ihr erstes Versprechen
haushalt, der mit dem größten Kürzungspaket in der gebrochen. Das ist die Wahrheit und die Antwort auf Ih-
Geschichte der Bundesrepublik die Konjunktur aus- ren Brief.
bremsen und die soziale Spaltung in unserem Land vo- (Beifall bei der LINKEN)
rantreiben wird – alles Fehlentscheidungen.
Das zweite Versprechen heißt: „Wir schaffen die Bil-
(Beifall bei der LINKEN) dungsrepublik“. Sie wollen also die Bildungsrepublik
Diese Bundesregierung hat es geschafft, ihren eigenen schaffen. Ich frage Sie: Warum geben Sie dann den Fa-
Weltrekord einzustellen, in kürzester Zeit eine maximale milien nicht genügend Geld? Wäre es nicht sinnvoller,
(B)
Zahl an Fehlentscheidungen zu treffen. Das macht Ihnen dafür zu sorgen, dass die Familien ein höheres Einkom- (D)
keiner so leicht nach, Frau Merkel. men erhalten, damit sie selbst entscheiden können, wie
sie ihre Kinder fördern? Nein, Sie wollen diese Selbstbe-
stimmung nicht zulassen. Sie wollen lieber einen büro-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
kratischen Bevormundungsapparat schaffen, der nach
Einen Augenblick bitte, Frau Lötzsch. – Ich darf die Gutdünken Bezugsscheine verteilt. Das ist nicht unser
Kolleginnen und Kollegen, die der weiteren Debatte Menschenbild. Das ist kein Menschenbild von freien,
nicht folgen können oder wollen, selbstbestimmten Menschen, sondern das ist ein autori-
(Zuruf von der LINKEN: Ignorant!) täres, bürokratisches Menschenbild. Das lehnen wir ab.
bitten, den Plenarsaal zu verlassen, damit sichergestellt (Beifall bei der LINKEN)
ist, dass die Rednerin die nötige Aufmerksamkeit erhält.
Von einer Bildungsrepublik sind wir noch Lichtjahre
(Beifall bei der LINKEN) entfernt, solange Kitaplätze vor allem im Westen Man-
gelware sind, solange die soziale Herkunft über den
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Schulweg entscheidet und solange Studiengebühren ge-
Vielen Dank, Herr Präsident. zahlt werden müssen. Damit haben Sie auch das zweite
Versprechen gebrochen. Das ist die Wahrheit und die
Nun hat die Kanzlerin einen offenen Brief geschrie- Antwort auf Ihren Brief, Frau Merkel.
ben, um das Bild der Bundesregierung aufzupolieren.
Portokosten: 2,8 Millionen Euro. Das ist wohl der teu- (Beifall bei der LINKEN)
erste Brief, der jemals verschickt wurde. Ich sage mir: Das dritte Versprechen ist besonders absurd. Sie
Wer eine 2,8-Millionen-Euro-Briefmarke aufklebt, der schreiben:
muss doch wohl panisch sein vor Angst.
Wir sichern die Energieversorgung. Sie soll zuver-
(Beifall bei der LINKEN) lässig, bezahlbar und umweltfreundlich sein.
Wir als Opposition haben nicht das Geld, derartige of- Darüber werden sich all diejenigen wundern, die gerade
fene Briefe in allen Zeitungen zu veröffentlichen. Ei- in diesen Tagen von ihrem Energieversorger eine saftige
gentlich wäre eine Gegenanzeige dringend erforderlich Preiserhöhung bekommen haben. Also ist auch dieses
gewesen. Bei der Zigarettenwerbung sind Gegenanzei- Versprechen schon gebrochen.
gen schon zwingend vorgeschrieben. Ich glaube, das ist
etwas, was auch in der Politik bitter nötig wäre. (Beifall bei der LINKEN)
8064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. Gesine Lötzsch


(A) Mit dem Atomdeal der Bundesregierung sind weitere lung bekommen? Das hat mit sozialer Marktwirtschaft (C)
Extraprofite für die Konzerne langfristig garantiert. Sie, gar nichts mehr zu tun. Das ist schnöder Kapitalismus
Frau Merkel, haben auf Kosten der Sicherheit der Men- und Ausbeutung.
schen in unserem Land abgeschriebene Atomkraftwerke
(Beifall bei der LINKEN)
dem radioaktiven Kartell überlassen. Wenn Sie diese ti-
ckenden Zeitbomben als zuverlässig bezeichnen, Frau Wir als Linke fordern, dass Löhne zum Leben reichen
Merkel, dann ist das mehr als grob fahrlässig. Auch das müssen. Deshalb brauchen wir endlich den Beschluss
dritte Versprechen haben Sie also gebrochen. über den gesetzlichen Mindestlohn.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Ihr viertes Versprechen lautet: Das Gesundheitswesen Wir wollen, dass Leiharbeit eingeschränkt wird. Leih-
bleibt bezahlbar. – Das ist nun wirklich Hohn. Die ge- arbeiter müssen mindestens genauso bezahlt werden wie
rade beschlossene Kopfpauschale wird die Zweiklas- die Stammbelegschaft.
senmedizin, die schon existiert, weiter verschärfen. Wir
müssen uns die Zahlen genau anschauen. Steigen die (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Ausgaben der Krankenkassen um nur 4 Prozent pro Jahr, Wir wollen, dass junge Menschen endlich wieder ihre
dann wird ein Versicherter schon im Jahr 2013 21 Euro Zukunft planen können, dass sie nicht Spielball von Ar-
pro Monat zusätzlich zahlen müssen. Gehen wir ein paar beitgebern werden und mit befristeten Verträgen und
Jahre weiter: Im Jahre 2019 werden es dann bereits Praktika hingehalten werden. Wir wollen, dass auch
104 Euro Kopfpauschale sein. Nun kommen Sie mir Menschen mit über 60 Jahren noch eine Chance auf ei-
nicht mit Ihrem Sozialausgleich! Den werden Sie näm- nen vernünftigen Arbeitsplatz bekommen und nicht vor-
lich den Kürzungshaushalten opfern, ihn als Sparmasse zeitig mit hohen Rentenabschlägen in den Ruhestand ab-
verwenden. Sie streuen den Menschen Sand in die Au- geschoben werden. Ihre Bilanz ist eindeutig: Noch nie
gen. wurden so viele gute Arbeitsplätze in schlecht bezahlte
Sie haben schon jetzt alle vier Versprechen gebro- und unsichere umgewandelt.
chen. Das ist eine Schande, Frau Merkel. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Damit sich möglichst viele Menschen mit solchen un-
Um Ihre Arbeit als Bundeskanzlerin aber umfassend zumutbaren Arbeitsverhältnissen abfinden, wurde von
und gerecht bewerten zu können, sollten wir nicht nur der rot-grünen Schröder-Regierung Hartz IV geschaf-
auf dieses eine Jahr zurückblicken. Sie sind schließlich fen. Wir sollten nicht vergessen, wer die Tür für alle
(B) schon seit fünf Jahren im Amt. Deshalb ist es Zeit für diese Veränderungen und die Dinge, die Sie jetzt durch- (D)
eine Fünfjahresbilanz. Sie selbst haben sich darum ge- setzen können, geöffnet hat. Gegen die Willkür von
drückt; das wurde in der Presse festgehalten. Bilanz der Hartz IV hat das Bundesverfassungsgericht eindeutig
Arbeitsmarktpolitik: Die Bundesregierung feiert ihre Recht gesprochen. Doch die Bundesregierung – das
Arbeitsmarktpolitik als großen Erfolg und plakatiert zeigt die Debatte der letzten Monate – scheint jede Ach-
auf teuren Werbeflächen die Zahl 3 Millionen. Auch hier tung vor dem höchsten Gericht der Bundesrepublik ver-
wäre eine Gegenanzeige angebracht. Dafür braucht man loren zu haben. Die Statistiken wurden so lange zurecht-
gar nicht viel Platz. Sie könnte einfach heißen: Vorsicht! gebogen, bis die Vorgaben des Finanzministers erfüllt
Bilanzfälschung! – Ich frage Sie: Warum unterschlägt waren. Nun wollen Sie die Menschen mit 5 Euro zusätz-
die Bundesregierung mehr als 1 Million Arbeitslose? Sie lich abspeisen. Diese 5 Euro werden schon durch die
hat einfach Menschen aus der Statistik gestrichen, weil Strompreiserhöhung aufgefressen. Das ist wirklich eine
sie Leiharbeiter sind, weil sie 1 Euro pro Stunde bekom- schändliche und verlogene Politik.
men, weil sie in Weiterbildung sind oder weil sie unter (Beifall bei der LINKEN)
die 58er-Regel fallen. Tatsächlich – das sagen nicht nur
wir, sondern das hat auch die Bundesagentur für Arbeit Wir als Linke fordern eine deutliche Erhöhung des
berechnet – haben wir in Deutschland nicht nur 3 Millio- Arbeitslosengeldes II. Wir haben dazu entsprechende
nen, sondern mehr als 4,8 Millionen Arbeitslose. Ich Anträge gestellt. Wenn Sie auf uns nicht hören wollen,
frage Sie: Was ist von einer Regierung zu halten, die dann hören Sie doch wenigstens auf die Wohlfahrtsver-
Menschen einfach aus der Statistik verschwinden lässt, bände. Handeln Sie, und erhöhen Sie in einem ersten
um besser auf Plakaten prahlen zu können? Ich sage: Schritt die Regelsätze von Hartz IV mindestens auf das
nichts. Niveau, das die Wohlfahrtsverbände fordern, nämlich
416 Euro pro Monat. Wir als Linke wollen 500 Euro pro
(Beifall bei der LINKEN) Monat; aber gehen Sie doch wenigstens den ersten
Ihr Credo, Frau Merkel, war: Sozial ist, was Arbeit Schritt.
schafft. – Ist es wirklich sozial, wenn immer mehr Men- (Beifall bei der LINKEN)
schen in den größten Niedriglohnsektor Europas ge-
drängt werden? Ist es wirklich sozial, wenn Menschen Zur Bilanz Ihrer Rentenpolitik. Die OECD stellt fest,
von ihrer Hände Arbeit nicht leben können und wenn dass die Bundesrepublik bei den Renten für Niedrigver-
über 1 Million Menschen zum Amt gehen müssen, um diener auf Platz 30 ist. Wir als Linke haben immer davor
aufzustocken? Ist es wirklich sozial, wenn immer mehr gewarnt, dass der Niedriglohnsektor die Rente zerstören
Menschen nur noch Zeitverträge und keine feste Anstel- wird. Die Grundlage für eine gute Rente sind gute
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8065
Dr. Gesine Lötzsch
(A) Löhne. Diese Wahrheit kann man nicht oft genug aus- laufzeit gegen die Interessen der Mehrheit durchgesetzt, (C)
sprechen. Darum brauchen wir endlich einen gesetzli- und die Pharmaindustrie und die privaten Krankenkas-
chen Mindestlohn und eine vernünftige Lohnpolitik in sen haben ihre Leute in Führungspositionen und die Ge-
diesem Land. sundheitsreform nach ihren Vorstellungen dem Minister
ins Gesetzblatt diktiert. Natürlich ist auch die Rüstungs-
(Beifall bei der LINKEN) lobby auf ihre Kosten gekommen. Sie schafft es immer
Das Wort „Altersarmut“ war schon fast aus dem wieder – wir haben das beim Einzelplan 14 zu diskutie-
Sprachgebrauch verschwunden. Sie haben durch ständige ren –, zu Wucherpreisen ihre Produkte der öffentlichen
Rentenkürzungen dafür gesorgt, dass Altersarmut wieder Hand aufzudrücken. Noch nie hatten Lobbygruppen
ein zentrales Problem geworden ist. solch einen Einfluss auf eine Regierung. Darum fordern
wir: Damit muss endlich Schluss sein. In diesem Zusam-
(Zuruf von der LINKEN: Pfui!) menhang fordern wir ein Verbot von Unternehmensspen-
Ich will Ihnen einige wenige Zahlen nennen. Rentner, den an Parteien. Das wäre ein erster Schritt, um zu einer
die im Jahr 2006 in den Ruhestand gegangen sind, haben vernünftigen Politik zu kommen.
im Vergleich zu Rentnern, die im Jahr 2000 in Rente ge- (Beifall bei der LINKEN)
gangen sind, 14,5 Prozent weniger Rente. Was tun Sie
gegen die wachsende Altersarmut? Überhaupt nichts. Im Ich sage Ihnen auch: Lobbyisten haben weder in den
Gegenteil: Sie erhöhen das Renteneintrittsalter auf Ministerien noch im Bundestag etwas zu suchen; denn
67 Jahre. Das ist genau die falsche Politik, und der stel- Lobbyisten entscheiden niemals im Sinne der Mehrheit.
len wir uns entgegen. (Zurufe von der FDP)
(Beifall bei der LINKEN) Unsere Aufgabe als demokratisch gewählte Abgeordnete
Jetzt kommt wieder das Argument der Generationen- ist, im Sinne der Mehrheit zu entscheiden, und nicht,
Einzelinteressen zum Zuge zu verhelfen. Das ist eine Sa-
gerechtigkeit. Ich sage Ihnen: In diesem Land gibt es
che, mit der wir uns niemals abfinden werden.
zwischen den Generationen tausendmal mehr Gerechtig-
keit als zwischen den hundert deutschen Milliardären (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der
und den Leistungsträgern in dieser Gesellschaft, den FDP)
Krankenschwestern, Verkäuferinnen und Verkäufern, In-
Die Kanzlerin hat durch ihren Schulterschluss mit den
genieurinnen und Ingenieuren und Lehrerinnen und Leh-
Lobbyisten der Demokratie einen großen Schaden zuge-
rern.
fügt. Immer mehr Menschen glauben – das ist ein Pro-
Wir als Linke wollen eine Rentenversicherung, in die blem, mit dem sich alle ernsthaft beschäftigen sollten,
(B) alle einzahlen und aus der ein Rentner im Osten nicht auch die Zwischenrufer von den Hinterbänken der FDP, (D)
weniger bekommt als ein Rentner im Westen. Von ihrer deren Namen ich nicht kenne –,
Rente sollen alle nach einem langen Arbeitsleben in (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Würde alt werden können. So sieht eine vernünftige Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na, na! Also,
Rentenversicherung aus und nicht so, wie Sie sich das jetzt ist mal gut!)
ausgedacht haben.
dass Politiker nicht mehr gewählt werden, sondern von
(Beifall bei der LINKEN) Lobbyisten bestellt werden. Das ist eine bedrohliche
Nebenbei bemerkt: Die Rentenzahlung beginnt für die Entwicklung, die wir alle gemeinsam stoppen sollten. Je-
Hälfte aller DAX-Vorstände vertragsgemäß bereits mit denfalls wir, die Linke, stellen uns dieser Lobbyisten-
der Vollendung des 60. Lebensjahres. Das sind genau die politik entschlossen entgegen.
gleichen Leute, die allen anderen erzählen, sie müssten (Beifall bei der LINKEN)
länger arbeiten. So viel Verlogenheit ist wirklich uner-
träglich. Frau Merkel, Sie sind auch auf die Außen- und Si-
cherheitspolitik eingegangen. Augenscheinlich glaubt
(Beifall bei der LINKEN) die Bundesregierung immer noch, dass die Sicherheit
Betrachten wir die Bilanz Ihrer Demokratiepolitik. Deutschlands von der NATO, von der Bundeswehr oder
Ich kann es nur so einschätzen, dass Sie unser Land in von einem Raketenschutzschirm abhängt. Das war viel-
eine Vermummungsdemokratie treiben. leicht vor 20 Jahren noch so. Doch heute ist unsere Si-
cherheit vielmehr von ökologischen und ökonomischen
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Prozessen abhängig. Umso unverständlicher ist es da-
Was?) rum, dass die Bundesregierung weiter Geld für diesen
Krieg in Afghanistan ausgibt. Wie viele Menschen sol-
Damit meine ich nicht die Erster-Mai-Demonstranten
len dort noch ihr Leben verlieren? Kein einziges Pro-
auf den Straßen Berlins, sondern die Lobbyisten, die mit
blem wurde gelöst; unzählige neue Probleme wurden er-
allen Mitteln versuchen, die Partikularinteressen gegen
zeugt. Wir haben immer davor gewarnt: Der Krieg gegen
die Interessen der Mehrheit durchzusetzen. Diese ver-
den Terror wird dazu führen, dass der Terror nach
mummten Demokraten, die Lobbyisten, haben bei fast
Deutschland kommt. Der erste Schritt der Terrorabwehr
allen wichtigen Entscheidungen der letzten fünf Jahre ih-
ist für uns, dass wir endlich die Bundeswehr aus Afgha-
ren Einfluss durchdrücken können: Die Bankenlobby
nistan abziehen.
hat ihren 480-Milliarden-Euro-Rettungsschirm bekom-
men, die Atomlobby hat die Verlängerung der Atom- (Beifall bei der LINKEN)
8066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. Gesine Lötzsch


(A) Sie, Frau Merkel, hätten vor fünf Jahren bei Ihrem Amts- am meisten engagiert? Über viele Verbindungen die (C)
antritt den Abzug der Bundeswehr vorbereiten müssen; Deutsche Bank.
doch das haben Sie nicht getan. Sie haben den Krieg ein-
Also haben Sie sich, Frau Merkel, wieder einmal für
fach so weiterlaufen lassen. Das ist die schlimmste Un-
die Interessen von Herrn Ackermann eingesetzt, und Sie
terlassung Ihrer Amtszeit. Wenn Sie eine wichtige Ent-
wollen jetzt hier den Eindruck erwecken, wir würden
scheidung treffen wollen, dann beschließen Sie endlich
den Menschen in Irland helfen. Ich glaube, das ist genau
zusammen mit den anderen Regierungsmitgliedern den
der falsche Weg. Wir als Linke sind solidarisch mit den
Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Ich glaube, im
Menschen in Irland. Wir können uns nicht damit einver-
Parlament würde sich eine Mehrheit dafür finden.
standen erklären, dass dort ein rigider Sparkurs gefahren
(Beifall bei der LINKEN) wird, nur um das Geld von Herrn Ackermann und seinen
Freunden zu retten. Das ist mit uns nicht zu machen. Ich
Ich sage Ihnen auch: Ich will nicht, dass sich junge finde, viel, viel mehr Menschen sollten öffentlich da-
Leute entscheiden, entweder arbeitslos zu werden oder rüber sprechen und diese Wahrheit zum Ausdruck brin-
zur Bundeswehr zu gehen und in Afghanistan ihr Leben gen.
zu lassen. Ich will, dass die Soldatinnen und Soldaten
nach Hause zu ihren Familien zurückkommen. Ich (Beifall bei der LINKEN)
würde mich freuen, wenn es möglich wäre, dass viele Dann sage ich Ihnen noch einmal etwas zu Ihren gro-
von ihnen zu Weihnachten hier sind und nicht dort ge- ßen Worten zu Europa: Europa ist mehr als der Euro.
fährdet sind. Das ist nämlich mein Anspruch, und der Wer das Schicksal Europas nur unter dem Blickwinkel
unterscheidet sich sehr, sehr wesentlich von Ihren An- des Euro sieht, der hat die europäische Idee nicht ver-
sprüchen, wie ich an Ihren Zwischenrufen merke. standen. Wir als Linke wollen ein Europa der Menschen.
Wir wollen ein Europa der Sozialunion, und wir wollen
(Beifall bei der LINKEN)
ein Europa, wo die Menschen nicht gegeneinander aus-
Ich muss auch das sagen: Mir ist keine einzige erfolgrei- gespielt werden, ein Europa, wo sich jeder frei entwi-
che Abrüstungsinitiative der Bundeskanzlerin in Erinne- ckeln kann und wo nicht große Staaten kleinen Staaten
rung. Über die anderen Minister will ich jetzt aus Zeit- etwas diktieren. Es ist schon von Kollegen angesprochen
gründen nicht sprechen. worden: Der Ruf Deutschlands innerhalb der Europäi-
schen Union ist durch diese Regierung nicht verbessert,
Ich vermisse wirkliches Engagement. Frau Merkel, sondern verschlechtert worden. Damit wollen wir nichts
Sie haben wieder – blumig und wortreich – davon ge- zu tun haben.
sprochen. Aber Sie sprechen nur, Sie machen nichts, was
(B) wirklich zur Regulierung der Finanzmärkte führt. Der (Beifall bei der LINKEN) (D)
Bankenrettungsschirm – wir erinnern uns – wurde inner- Wir als Linke müssen nach fünf Jahren Kanzlerschaft
halb einer Woche durch den Bundestag gepeitscht. Die Merkel feststellen: Unser Land ist nicht sozialer, nicht
Einführung einer Finanztransaktionsteuer lässt aller- gerechter und nicht sicherer geworden. Diese Regierung
dings schon seit mehr als zwei Jahren auf sich warten. ist weder christlich noch liberal, wie sie sich gerne dar-
Immer mehr Menschen stellen sich doch die Frage: Wa- stellt. Sie ist auch nicht sozial gerecht. Wir sagen Ihnen:
rum konnten eigentlich die Banken von Ihnen, Frau Es ist endlich Zeit für einen politischen Wechsel.
Merkel, in einem nationalen Alleingang gerettet werden,
aber warum ist die Bundesrepublik Deutschland nicht in Vielen Dank.
der Lage, wenigstens mit der Regulierung der Banken (Anhaltender Beifall bei der LINKEN)
zu beginnen? Das ist ein offensichtlicher Widerspruch.
Augenscheinlich wollen Sie das nicht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der LINKEN) Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Birgit
Homburger.
Es wäre doch viel vernünftiger, wenn man einen Kon- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
kurrenzvorteil hier in Deutschland dadurch gestalten
würde, dass wir hier sichere, regulierte Bankenplätze ha-
Birgit Homburger (FDP):
ben und nicht ständig in der Situation sind, dass der
Steuerzahler für Großbanken zahlen muss. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben mit Erfolg mehr Netto vom Brutto
In dieser Woche ist da etwas ganz Pikantes passiert. durchgesetzt, und, verehrter Herr Steinmeier, das gilt
Regierungssprecher Seibert hat auf einer Pressekonfe- auch für das Jahr 2011.
renz davon gesprochen, wie engagiert deutsche Banken
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Lachen
in Irland sind, und hat insbesondere auf die Deutsche
bei Abgeordneten der LINKEN)
Bank verwiesen. Anstatt dass die Deutsche Bank sagt:
„Der Mann tut was für uns“, reagierte sie mit Empörung Der Steuerzahlertag 2010 lag zehn Tage früher. Der
und verlangte, dass er sich entschuldigt. Warum? Weil Konjunkturmotor ist angesprungen. Wir machen große
niemand erfahren sollte, was wir aber inzwischen in vie- Anstrengungen zur Verschärfung des EU-Stabilitätspak-
len Zeitungen lesen können – darum wird hier auch kein tes, um eine harte Gemeinschaftswährung zu garantie-
Geheimnis verraten –, dass deutsche Banken mit über ren. Wir haben die Haushaltskonsolidierung zugunsten
100 Milliarden Euro in Irland engagiert sind. Und wer ist künftiger Generationen vorangetrieben. Wir haben zu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8067
Birgit Homburger
(A) sätzlich in Bildung und Forschung investiert. Wir haben Ich rede hier von der Chance unseres Landes, von der (C)
bei Hartz IV dafür gesorgt, dass das Schonvermögen Zukunftsfähigkeit unseres Landes, und diese heißt:
verdreifacht wird. Schwarz-Gelb.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Deutschland ist das Comeback des Jahres 2010.
Im Sinne von „Leistung muss sich lohnen“ haben wir da- (Lachen der Abg. Claudia Roth [Augsburg]
für gesorgt, dass Kinder aus Hartz-IV-Familien das Geld, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
das sie bei einem Ferienjob verdienen, auch behalten
dürfen. Das ist dadurch erreicht worden, dass wir Unternehmen
haben, die innovationsfähig sind, dass wir fleißige Ar-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben. Es ist auch
der CDU/CSU) dadurch erreicht worden, dass die Gewerkschaften zu-
Wir sorgen für mehr Datenschutz für Arbeitnehmer und rückhaltend waren. Wir haben aber auch durch kluge
Verbraucher. Und wir stärken Solidarität, Wettbewerb Rahmenbedingungen diese Entwicklung unterstützt.
und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Das heißt, meine Damen und Herren, wir entlasten der CDU/CSU)
Familien, wir fördern Studierende, wir schaffen Gerech- Das bedeutet: Wir haben Subventionen reduziert und
tigkeit für Hartz-IV-Empfänger, wir unterstützen Sparer, auch Wirtschaftshilfen. Wir machen Schluss mit Steuer-
wir stabilisieren die Staatsfinanzen zugunsten zukünfti- geld für Konzerne. Sie, Herr Steinmeier, haben vorhin
ger Generationen, hier vorgetragen, dass Sie das Ganze gerne so weiterge-
(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) führt hätten. Sie hätten Opel gerne zu einem Zeitpunkt,
als klar war, dass sie das Geld gar nicht mehr brauchen,
wir verbessern die Chancen für Arbeitnehmer, wir stär- dieses persönlich hinterhergetragen. Wir haben mit unse-
ken die Patientinnen und Patienten, wir schützen die rem Wirtschaftsminister Rainer Brüderle dafür gesorgt,
Verbraucher. Für diese Menschen machen wir Politik. dass die Milliarden von Opel zurückgeholt werden. Das
ist eine Wirtschaftspolitik für Arbeitsplätze und für Zu-
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie machen kunft in Deutschland.
gegen die Menschen Politik!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Sie nennen es Klientel, wir nennen sie Bürger. Sie sind der CDU/CSU – Petra Merkel [Berlin] [SPD]:
(B) dagegen, wir sind dafür. Wir sind für Fortschritt, Sie sind Das sehen die Schwarzen aber auch anders!) (D)
für Stillstand. Wir werden uns von Ihnen nicht abhalten
lassen, die Zukunft dieses Landes weiter zu gestalten. Frau Lötzsch trauert der Fünfjahresbilanz hinterher.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Hätten Sie
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Schrecklich, einmal eine gemacht!)
schrecklich!) Frau Künast schwadroniert über den Umbau der Indus-
Was tut die Opposition? Sie stellen falsche Behaup- triegesellschaft; den wollen Sie ja inklusive der Schlüs-
tungen auf. Sie frönen unverantwortlichem Populismus. selbranchen erreichen. Dazu kann man nur sagen: Gott
Sie beschimpfen und verunglimpfen. sei Dank, Frau Künast, entscheiden Sie nicht, was in
deutschen Unternehmen produziert wird oder nicht. Die
(Zuruf von der LINKEN: Mit Recht!) Planwirtschaft ist weltweit gescheitert, zuletzt vor
20 Jahren hier in diesem Land. Planwirtschaft ist nicht
Das, was Frau Roth auf dem Parteitag der Grünen gesagt
besser, nur weil sie von den Grünen kommt und nicht
hat, ist, wie ich finde, der Gipfel. Sie, Frau Roth, haben
mehr aus dem Politbüro.
gesagt, und es nicht dementieren lassen:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich rede von der Schande unseres Landes, und die
heißt Schwarz-Gelb. Wir machen außerdem eine Gesundheitspolitik, die
dieses System zukunftsfähig macht. Sie haben, Herr
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und Steinmeier, den Arbeitgeberanteil in der gesetzlichen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Krankenversicherung angesprochen. Ja, wir haben ihn
Wer solche Worte wählt, Frau Roth, über den ist alles ge- festgeschrieben, weil wir nicht wollen, dass Arbeits-
sagt. plätze in Deutschland durch steigende Zusatzkosten ge-
fährdet werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das Mär-
chen glauben Sie selber nicht!)
Nicht diese Bundesregierung spaltet das Land, Ihre Op-
positionsarbeit ist eine Gefahr für das Land. Darüber hinaus haben wir dafür gesorgt, dass es einen
Sozialausgleich geben wird, der solidarischer und ge-
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Am rechter ist als alles, was es bisher gab. Wir schaffen ei-
liebsten hätten Sie keine! Ich weiß!) nen automatischen Sozialausgleich, der über das Steuer-
8068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Birgit Homburger
(A) system finanziert wird. Das heißt, alle Bürgerinnen und Warum wollen Sie diesem Land eigentlich kein Winter- (C)
Bürger in diesem Land tragen dazu bei. märchen gönnen? Die Universalbegründung der Dage-
gen-Partei lautet: Es ist nicht ökologisch, zu teuer, nicht
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
genügend transparent, mangelnde Einbindung der Bür-
der CDU/CSU – Herbert Behrens [DIE
ger.
LINKE]: Nicht alle!)
(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sie haben die Vorkasse angesprochen. Sie ist eine Er-
NEN]: Das sind doch alles gute Gründe,
findung der Opposition; es gibt keine Vorkasse. Nie-
oder?)
mand in diesem Land muss erst zahlen, bevor er zum
Arzt gehen kann. Meine Damen und Herren von der Op- Dieses Begründungsmuster kennen wir von Ihnen,
position, Sie bauschen da eine Lüge auf. meine sehr verehrten Damen und Herren von den Grü-
nen, auch bei Stuttgart 21 und beim Thema Castortrans-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
porte; jetzt gilt das auch noch für die Olympiade in Mün-
der CDU/CSU)
chen. Es geht Ihnen nicht um die Sache; es geht Ihnen
Im Gegenteil: Wir haben dafür gesorgt, dass es keine um Protest. Wir werden das deutlich machen, damit die
Leistungskürzungen gibt. Wir haben dafür gesorgt, dass Menschen in diesem Land merken, woran sie bei Ihnen
im Gesundheitssystem Kosten eingespart werden. Wir sind.
haben nun einmal Milliardendefizite von Frau Schmidt
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
geerbt.
Sie sind – das ist nichts Neues – auch gegen
(Joachim Poß [SPD]: War Frau Merkel nicht
Stuttgart 21. Sie haben jetzt auf Ihrem Bundesparteitag
dabei?)
einen Beschluss dazu gefasst. Wenn man die Vorschläge,
Wir nehmen jetzt Einsparungen bei den Kosten vor und die Sie da abliefern, etwas näher verfolgt – ich komme
sorgen dafür, dass die Leistungen für die Versicherten er- aus Baden-Württemberg –, hat man zwischenzeitlich den
halten bleiben. Eindruck, dass jeder Keller mit einer Modelleisenbahn
ein Planungsbüro für Stuttgart 21 ist.
Dabei haben wir etwas in einem Bereich geschafft,
bei dem Sie sich in all den Jahren Ihrer Regierungstätig- Wenn ich mir das betrachte, Frau Künast, dann er-
keit nicht getraut haben, ihn anzufassen: Durch eine kenne ich, dass es einem bestimmten Muster folgt.
frühe Nutzenbewertung bei neuen Präparaten wird das Schauen Sie einmal nach Hamburg: Was haben Sie da-
Preismonopol der pharmazeutischen Unternehmen ge- mals vor der Wahl alles versprochen? Sie wollten den
brochen. Bau des Kohlekraftwerks Moorburg verhindern. An-
(B) schließend hat eine grüne Umweltsenatorin, Frau (D)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Hajduk, genau dieses Kraftwerk genehmigt. Sie halten
NEN]: Was?)
uns permanent moraltriefende Vorträge. Sie spielen sich
Dadurch sinken die Preise. Davon profitieren die Versi- als Moralinstanz dieser Republik auf.
cherten in Deutschland.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
Ich kann Ihnen nur sagen: Neun Jahre Ulla Schmidt GRÜNEN]: Frau Homburger, jetzt reicht es
lassen sich nicht in einem Jahr reparieren. langsam! Kommen Sie mal runter!)
(Beifall bei der FDP) Die grüne Hochmoral, die Sie ständig vor sich hertragen,
ist nichts anderes, Frau Roth, als eine Lebenslüge.
Es verdient Respekt, was Philipp Rösler in diesem einen
Schauen Sie den Tatsachen endlich ins Gesicht und sa-
Jahr erreicht hat. Damit ist der Einstieg in ein zukunfts-
gen Sie deutlich, wofür Sie eigentlich stehen! Das, was
festes Gesundheitswesen geschafft.
Sie versprechen, können Sie nicht halten, und Sie wer-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den es auch in Zukunft nicht halten.
der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Sie von den Grünen sind dagegen; das haben Sie ge- der CDU/CSU)
rade noch einmal dazwischengerufen. Das ist nichts
Wir versuchen, Deutschland in allen Bereichen zu-
Neues. Sie sind gegen alles.
kunftsfähig zu machen. Eine der großen Reformen, die
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wir vor uns haben, ist die Reform von Hartz IV. Diese
Machen Sie sich locker!) Koalition steht für eine uneingeschränkte Solidarität mit
den Bürgern. Wer Hilfe braucht, kann sich auf die Soli-
Die Grünen sind die neue Dagegen-Partei. Jetzt sind Sie
darität der Gesellschaft verlassen. Für uns gilt aber auch:
auch noch gegen Olympia. Ich finde es bemerkenswert,
Diejenigen, die diese Hilfe erwirtschaften, können sich
welche Stimmung beispielsweise bei der Fußballwelt-
genauso auf unsere Solidarität verlassen.
meisterschaft hier in Deutschland herrschte: Da war von
einem Sommermärchen die Rede; es war ein Riesener- (Beifall bei der FDP)
folg.
Deshalb werden wir sehr genau darauf achten, dass der
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Regelsatz streng nach den Regeln des Gesetzes und un-
NEN]: Weil Berlin immer so gutes Wetter ge- ter Ausnutzung des Wertespielraums festgesetzt wird.
liefert hat!) Das heißt, dass wir darauf achten, dass diejenigen, die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8069
Birgit Homburger
(A) Hilfe brauchen, diese Hilfe bekommen, aber wir achten So wie er gescheitert ist, werden auch Sie mit den Uto- (C)
genauso darauf, dass diejenigen, die ihr Geld durch harte pien, die Sie auf Ihrem Parteitag beschlossen haben,
Arbeit verdienen, am Ende mehr haben als diejenigen, scheitern.
die nichts tun.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Bonde [BÜND-
der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie stellen doch den
Wirtschaftsminister in Baden-Württemberg,
Das gilt auch für die Bildungsleistungen für Kinder. der alles verhindert!)
Wir haben in diesem Hause oft genug gehört, da müsste
man etwas tun. Wir tun es jetzt. Sie sind gegen Kernkraftwerke. Sie sind gegen Koh-
lekraftwerke. Sie sind gegen Wasserkraftwerke. Sie sind
(Zuruf von der LINKEN: Leider!) gegen Hochspannungsleitungen, die wir brauchen, um
Wir sorgen dafür, dass Bildungsleistungen endlich auch den Strom, der aus erneuerbaren Energien gewonnen
für Kinder aus Hartz-IV-Familien gewährt werden, wird, zum Verbraucher zu bringen. Wenn man immer
nur dagegen ist, dann kann man die Zukunft nicht gestal-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten. Es geht um die Modernisierungsfähigkeit, um die
NEN]: Weil Sie ein Messer auf der Brust ha- Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Deshalb können wir
ben!) Ihnen nur zurufen: Kommen Sie endlich aus Ihrer Ku-
weil wir wissen, dass Bildung die soziale Frage unserer schelecke heraus, und stellen Sie sich der Realität, liebe
Zeit ist, weil wir wollen, dass es eine Möglichkeit zum Kolleginnen und Kollegen von den Grünen!
Aufstieg durch Bildung gibt. Wenn wir das wollen, dann (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
müssen wir die Kinder stärken. Genau das tun wir mit der CDU/CSU)
dem, was wir vorgesehen haben, indem wir das Geld
treffsicher so einsetzen, dass es bei den Kindern an- Sie stellen auch permanent falsche Behauptungen auf.
kommt. Wir sind der Meinung, dass in diesem Land kein Sie behaupten, wir würden den Energiekonsens aufkün-
Kind verloren gehen darf und Kinder aus Hartz-IV-Fa- digen. Da wird überhaupt nichts aufgekündigt. Wir ma-
milien endlich die entsprechende Unterstützung bekom- chen im Übrigen genau das, was wir vor der Wahl ange-
men müssen. kündigt haben. Schon damals haben Sie versucht, uns zu
diskreditieren. Es hat aber nichts genützt. Wir haben von
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den Wählerinnen und Wählern den klaren Auftrag be-
der CDU/CSU) kommen, die Energieversorgung in Deutschland zu-
(B) Das ist gelebte Gemeinwohlpolitik. kunftsfähig zu machen. Sie ziehen Ihre Legitimation aus (D)
Umfragen und Stimmungen. Wir ziehen unsere Legiti-
Das gilt auch für die Energiepolitik. Das neue Ener- mation aus einer Wahl.
giekonzept, das erste Gesamtkonzept seit 1973, ist ein
zentraler Baustein für die Zukunftsfähigkeit dieses Lan- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
des. Wir bauen eine tragfähige Brücke in das Zeitalter der CDU/CSU)
der erneuerbaren Energien. Im Gegensatz dazu machen Unsere Politik gefährdet nicht den Ausbau der erneu-
die Grünen Wohlfühlpolitik. erbaren Energien. Sie vollendet die Energiewende.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aha!)
Unser Energiekonzept ist nicht der Ausstieg aus dem
Sie haben auf Ihrem Parteitag beschlossen, dass Sie er- Ausstieg, sondern der realistische Einstieg ins Zeitalter
reichen wollen, dass der Anteil der erneuerbaren Ener- der erneuerbaren Energien.
gien im Jahr 2030 bei 100 Prozent liegt.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: NEN]: Erneuerbar!)
Sehr gut! Das sind noch Ziele!)
Wir handeln; die Grünen träumen. Mit Träumerei kann
Man hat ein bisschen den Eindruck, dass die Umfragen man ein Land nicht gestalten.
Sie besoffen machen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE der CDU/CSU)
GRÜNEN]: Sie haben doch keine Ahnung!)
Bei der Energiepolitik kann man meinetwegen unter-
Der grüne Oberbürgermeister von Freiburg, Herr Salomon, schiedlicher Auffassung sein.
hat im Jahr 2004 erklärt, er wolle den Anteil der erneuer-
baren Energien bis zum Jahr 2010 auf 10 Prozent erhö- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
hen. Das Ergebnis ist: Er hat eine Erhöhung von 3,4 Pro- Das ist aber großzügig!)
zent auf 3,7 Prozent erreicht. Er ist kläglich gescheitert.
Allerdings erwarte ich dann auch, dass man sich ehrlich
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verhält. Da ist aber bei den Grünen komplett Fehlan-
NEN]: Sie haben es verhindert! Das ist die zeige. Angesichts der Vorkommnisse bei den Castor-
Wahrheit! Sie sind Landesvorsitzende!) transporten ist ein Zitat von Herrn Trittin aus dem Jahr
8070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Birgit Homburger
(A) 2001 legendär. Er schrieb seinerzeit an die Grünen-Basis wände auch noch verständlich vorzutragen, die im Au- (C)
in Niedersachsen: genblick durch die Gleichzeitigkeit der Zwischenrufe
selbst im Protokoll nicht zu erfassen sind.
Nur weil jemand seinen Hintern auf die Straße
setzt, finden wir das noch nicht richtig. … Genauso (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
verhält es sich mit Aktionen gegen die notwendige NEN]: Die sehen uns alle ganz genau! –
Rücknahme von Atommüll aus Frankreich. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die Rede ist schlimmer als Schottern!)
Heute finden wir Herrn Trittin an vorderster Front bei
Demonstrationen gegen die Castortransporte.
Birgit Homburger (FDP):
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sa- Herr Präsident, ich werde an dem Punkt noch einmal
gen Sie doch mal was Neues!) beginnen, an dem die Grünen eben nicht mehr zuhören
Die gesetzlichen Verpflichtungen gelten nicht nur, wenn wollten. Meine sehr verehrten Damen und Herren von
Rot-Grün regiert. Sie gelten auch für die jetzige Bundes- den Grünen, Ihre Philosophie stellt den Protest auf der
regierung. Deshalb sage ich Ihnen: Die Heuchelei in Straße über die Legitimität parlamentarischer Verfahren.
Deutschland hat einen Namen. Sie heißt Trittin. Dieses Handlungsmuster kennen wir an verschiedenen
Stellen. Ich bin der Meinung, dass Menschen in diesem
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Land einen Anspruch auf Verlässlichkeit haben. Deshalb
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden wir an der Rechtsstaatlichkeit festhalten und
NEN]: Mövenpick!) nicht akzeptieren, dass die letzte Instanz in diesem Land
Wir Liberale setzen uns dafür ein, dass jeder, der eine die Sitzblockade ist.
andere Meinung hat, diese andere Meinung äußern kann. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Das ist ein demokratisches Grundrecht. Deswegen sind der CDU/CSU)
wir der Meinung, dass auch friedliche Demonstrationen
geschützt werden müssen. Wir gehen die Erneuerung Deutschlands entschlossen
an, und zwar in allen Bereichen.
Liebe Freunde von den Grünen,
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fürchten viele in diesem Land!)
Wir sind nicht Freunde von Ihnen!)
Das gilt auch für die Bundeswehrreform. Wir haben im
der Aufruf zum sogenannten Schottern im Rahmen die- Koalitionsvertrag vereinbart, dass eine Strukturkommis-
ser Demonstrationen bedeutet, dass es eine Gefährdung sion eingesetzt wird. Wir haben durchgesetzt, dass zu-
(B) nicht nur für Castortransporte gibt, sondern auch eine nächst einmal die Wehrpflicht auf sechs Monate redu- (D)
Gefährdung für den normalen Bahnverkehr, der über ziert wird.
diese Schienen fährt. Schottern ist kein Kavaliersdelikt,
sondern ein Straftatbestand. Wenn Sie für friedliche De- Das hat zu einem Rutschbahneffekt geführt und auch
monstrationen sind, dann hätte ich von Ihnen erwartet, zu einem neuen Nachdenken im Verteidigungsministe-
dass Sie dann auch eine klare Linie ziehen und sich deut- rium. Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem wir endlich
lich von denjenigen distanzieren, die zu Straftatbestän- nach vielen Jahren der Diskussion eine neue, zukunftsfä-
den aufgerufen haben. Dieses Verhalten ist nicht hin- hige Struktur für die Bundeswehr auf den Weg bringen
nehmbar. Ich erwarte, dass sich die Grünen klar zur und vor allen Dingen die Wehrpflicht aussetzen. Das be-
Demokratie erklären. deutet, dass es ein Meilenstein für die junge Generation
ist. Tausende junge Männer werden im nächsten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- Sommer eben nicht mehr zur Kleiderkammer der Bun-
chen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – deswehr gehen, sondern direkt in die Hörsäle und in die
Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Berufsschulen gehen können.
Frau Künast, Sie reden in diesem Zusammenhang von (Thomas Oppermann [SPD]: Hauptsache, Sie
einer Sternstunde der Demokratie. Was meinen Sie ei- finden dort einen Platz!)
gentlich damit? Die 131 verletzten Polizisten? Die Mil-
lionen Euro, die für die Schutzmaßnahmen ausgegeben Das, meine Damen und Herren, ist ein Erfolg, und es er-
wurden? Zum Thema Schottern haben Sie sich nicht ge- öffnet wiederum neue Chancen für die junge Generation
äußert und sich nicht klar davon distanziert. Demokratie in Deutschland.
heißt Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen und die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Durchführung sauberer rechtsstaatlicher Verfahren, und der CDU/CSU)
zwar von der politischen Entscheidung bis zur gerichtli-
chen Überprüfung. Der Haushalt, den wir in dieser Woche abschließend
beraten, ist ein Wendepunkt in der Haushaltspolitik.
(Beifall bei der FDP)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja,
auch das haben wir so befürchtet!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Einen Augenblick bitte, Frau Homburger. – Die De- Wir arbeiten mit Ausgabenkürzungen statt mit Ausga-
batte, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht noch eine benausweitung. Wir senken die Neuverschuldung im
Weile weiter, sodass viele Möglichkeiten bestehen, Ein- Bund um 40 Prozent, während unter gleichen wirtschaft-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8071
Birgit Homburger
(A) lichen Rahmenbedingungen Rot-Grün in NRW die Ver- auch um das Ersparte der kleinen Leute. Wir haben hier (C)
schuldung um 35 Prozent erhöht. Das ist die Realität. eine Vorbildfunktion, die wir wahrnehmen, ganz anders
Wir werden bis 2014 80 Milliarden Euro gegenüber als Sie seinerzeit im Jahr 2004, als Sie dafür gesorgt ha-
dem Entwurf von Ihrem Herrn Steinbrück einsparen. ben, dass der Stabilitätspakt in Europa gelockert wurde.
Das ist die Realität, und es ist sozialer und gerechter als Das war einer der Momente, die dazu geführt haben,
alles, was Sie in Ihrer Regierungszeit beschlossen haben. dass wir heute in dieser Krise sind.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD:
der CDU/CSU) Ah!)
Wir werden die Neuverschuldung weiter reduzieren. Wir werden dafür werben, dass der Stabilitätspakt ver-
Sie haben hier immer wieder eingewandt, man könnte schärft wird.
das schon jetzt tun und man könnte noch viel mehr tun.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich will Ihnen einmal sagen, meine sehr verehrten Da-
NEN]: Sagen Sie mal was zu Irland! Das war
men und Herren von der SPD:
doch immer unsere Zukunft!)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an
– Verehrter Herr Trittin, ich komme gerade zum Beispiel
die SPD gewandt: Nun hört mal zu!)
Irland.
Sie haben über Jahre in diesem Land Regierungsverant-
wortung getragen. In dieser Zeit gab es viele wirtschaft- Was die Frage Irland angeht: Hier zeigt sich, dass wir
lich gute Jahre mit sprudelnden Steuereinnahmen. In über die Entscheidungen, die wir im Frühjahr gefällt ha-
ben, für die Krise gewappnet sind.
keinem einzigen dieser Jahre haben Sie es geschafft, die
Ausgaben zu reduzieren – in keinem einzigen. Trotz (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Milliarden Mehreinnahmen haben Sie die Ausgaben al- NEN]: Da sind doch Ihre steuerpolitischen
lein von 2005 bis 2009 um 30 Milliarden Euro gestei- Vorstellungen verwirklicht worden! – Gegen-
gert. ruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]:
Schlimmer geht es nimmer!)
(Thomas Oppermann [SPD]: Mit Ihrem Koali-
tionspartner!) Ich stelle an dieser Stelle fest, dass wir uns der Verant-
wortung gestellt haben, während Sie von der Opposition
Der letzte, der dieser Koalition haushaltspolitische Vor-
dagegen gestimmt oder sich kraftvoll enthalten haben.
schläge und Ratschläge geben sollte, ist die SPD.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Thomas Oppermann [SPD], an die CDU/CSU NEN]: Sie waren doch gegen alles!)
(B) (D)
gewandt: Und da klatschen Sie mit! Sie beklat- Das war alles, was Sie gemacht haben. Sie schlagen sich
schen noch die Kritik an Ihnen! – Gegenruf in die Büsche, wir haben die Verantwortung übernom-
des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) men.
Deshalb hat die Haushaltskonsolidierung für uns (Beifall bei der FDP)
oberste Priorität. Wir stehen bei den Staatsausgaben auf
der Bremse, und wir werden noch in diesem Jahr eine Wir brauchen deshalb Krisenmechanismen,
Steuervereinfachung auf den Weg bringen, die vor allen (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dingen den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land NEN]: Was lernen Sie aus Irland? – Petra
nutzt. Merkel [Berlin] [SPD]: Was lernen Sie denn?)
(Thomas Oppermann [SPD]: Da sind wir aber die die Beteiligung privater Gläubiger vorsehen. Wir als
sehr gespannt!) Koalition hier im Deutschen Bundestag wollen – das ha-
Wir werden – auch die Bundeskanzlerin hat das gesagt – ben wir deutlich gemacht – einen Zukunftsmechanis-
alles dafür tun, dass wir in dieser Legislaturperiode die mus, der dafür sorgt, dass es eine Art Umschuldung, eine
Spielräume erarbeiten, die wir brauchen, um eine Entlas- Art Insolvenzordnung für Staaten gibt. Ich bin der tiefen
tung der unteren und mittleren Einkommensgruppen in Überzeugung, dass wir dafür sorgen müssen, dass mehr
Deutschland zu ermöglichen. Verantwortlichkeit in diesen Bereich zurückkehrt. Des-
halb werden wir uns auf europäischer Ebene genau hier-
(Thomas Oppermann [SPD]: Als Wahl- für einsetzen.
geschenk!)
Was Sie hier tun, ist doppelt unverantwortlich. Bei der
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, Herr Oppermann, Rettung tauchen Sie ab, und hinterher gibt beispiels-
und wir werden uns auch von Ihnen davon nicht abhalten weise Herr Gabriel Interviews, in denen er den Euro ka-
lassen. puttredet. Herr Steinmeier schlägt sich in die Büsche,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – wenn es um die Abstimmung geht, gibt uns aber hier in
Thomas Oppermann [SPD]: Sie schottern un- seiner Rede Belehrungen, wie man es besser machen
seren Sozialstaat!) soll.
Es geht um die Stabilisierung des Euro. Auch des- (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Sie ha-
halb ist die Haushaltskonsolidierung von zentraler Be- ben die gemeinsame Entschließung verhin-
deutung. Dabei geht es um Europa, aber es geht eben dert!)
8072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Birgit Homburger
(A) Ich bin der Auffassung, dass wir einen starken Euro zu Veränderungen und zu Verantwortung. Das ist der (C)
brauchen. Wir brauchen solide Haushalte, strenge Stabi- Unterschied zur Opposition in diesem Haus.
litätskriterien und einen dauerhaften Krisenmechanis-
mus, um einen harten Euro zu erreichen. Diese Koalition Vielen Dank.
kämpft für einen harten Euro und gegen eine Transfer- (Anhaltender Beifall bei der FDP sowie bei
union. Sie sind herzlich eingeladen, sich dieser Verant- Abgeordneten der CDU/CSU)
wortung zu stellen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Petra Pau:
der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die
DIE GRÜNEN]: Wir haben schon lange eine Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Transferunion! Was ist die Europäische Union
anderes als eine Transferunion?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Neue Herausforderungen erfordern kluges und beson-
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nenes Handeln. Das gilt auch für die aktuelle Sicher-
heitslage. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben volles Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden und de- möchte erst einmal nach oben schauen.
ren gute Ermittlungsarbeit, die sie in den letzten Jahren (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ja! Schauen Sie
immer wieder bewiesen haben. Wir sind der Meinung, ab und zu ruhig mal nach oben! – Dr. Hans-
dass die vorhandenen Gesetze konsequent genutzt und Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Ein Stoß-
Vollzugsdefizite abgebaut werden müssen. Wir als Ko- gebet kann nie schaden! – Weiterer Zuruf: Es
alition haben in der letzten Woche nochmals bewiesen: ist keiner da!)
Wenn es notwendig ist, schnell zu handeln, dann tun wir
das. Als sich gezeigt hat, dass bei der Frachtkontrolle – Ja. – Dort oben laufen während unserer Sitzungen nor-
Probleme bestehen, haben wir im Haushaltsausschuss malerweise Menschen, aus diesem Lande, aus ganz
sofort dafür gesorgt, dass 450 neue Stellen vorgesehen Europa und aus vielen anderen Ländern, die eines genie-
werden, durch die die Kontrolle und die Sicherheit ge- ßen: dass der Deutsche Bundestag das einzige Parlament
währleistet werden. Das ist ein Beispiel für das sofortige, ist, das so frei ist, dass man sich nicht einmal anmelden
entschlossene Handeln, das diese Koalition auszeichnet. muss, bevor man sich dort vorne in die Schlange stellt,
um wenig später aus dem Reichstag hinaus- und auf uns
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hinabzuschauen.
der CDU/CSU)
(B) Ich glaube – zumindest mir geht es in den letzten Ta- (D)
Der reflexartige Ruf nach schärferen Gesetzen sorgt
gen so –, das ist etwas, das wir immer im Kopf haben
nicht für mehr Sicherheit. Deshalb, denke ich, sollten
müssen: Das ist aufgrund der Erkenntnisse im Zusam-
wir die Lage ruhig analysieren und die nötigen Maßnah-
menhang mit dem Terrorismus im Moment nicht mög-
men ergreifen. Denn Angst ist die stärkste Waffe des
lich. Aber ein Gefühl sollte uns heute verbinden. Auch
Terrors. Terroristen zielen auf unsere freiheitliche Ge-
wenn wir hier tagen wie immer und arbeiten wie immer,
sellschaft. Sie wollen Angst, Schrecken und weniger
sollten wir wissen: Dies ist ein freies Parlament in einem
Freiheit; das ist das Ziel der Terroristen. Ich bin der Auf-
freien Land, das wird es immer bleiben, und das Dach
fassung, dass wir hier in diesem Hause gemeinsam dafür
wird wieder geöffnet werden.
sorgen sollten, dass sie das nicht erreichen. Ich danke an
dieser Stelle ganz ausdrücklich dem Bundesinnen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
minister de Maizière, aber auch der Justizministerin bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP so-
Leutheusser-Schnarrenberger, die in Ruhe und Beson- wie bei Abgeordneten der LINKEN)
nenheit reagiert und die nötigen Maßnahmen auf den
Weg gebracht haben. Ich möchte an dieser Stelle dem Bundesinnenminister
danken.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Ja! Das finde
ich auch!)
Schwarz-Gelb trägt Verantwortung für unser Land.
Wir handeln entschlossen und treffen Entscheidungen, Wir sind bei diversen Themen nicht einer Meinung. Ich
auch wenn sie unpopulär sind. Das ist der Unterschied will mich aber dafür bedanken, dass Sie die Dinge mit
zwischen Rot-Rot-Grün und Schwarz-Gelb: Wir gestal- der Ihnen typischen Ernsthaftigkeit und Seriosität ganz
ten Deutschland, Sie sind für den Stillstand. Wir wollen ruhig angegangen sind, das, was nötig war, erklärt haben
Deutschland zukunftsfähig machen, Sie wollen den und das tun, was notwendig und rechtlich zulässig ist.
Rollback in alte Rezepte von gestern. Wir übernehmen Ich glaube, das hilft uns auch, um aus dieser Situation
Verantwortung, Herr Kuhn, Sie drücken sich vor Ent- herauszukommen. Später werden wir unsere Debatten
scheidungen und schlagen sich in die Büsche. Wir haben – wir wissen schon, welche – natürlich weiterführen.
Kraft und Mut für Richtungsentscheidungen, Sie ma- Dennoch sage ich Ihnen insofern meinen und unseren
chen eine Wohlfühlpolitik, versprechen allen alles und herzlichen Dank.
ziehen sich in Ihre Kuschelecke zurück.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Wachstum, Bildung, Zusammenhalt – dafür steht bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-
diese Koalition, dafür arbeiten wir. Wir haben den Mut geordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8073
Renate Künast
(A) Nun zum Haushalt und zu Ihrer Rede, Frau Bundes- Frau Merkel, Sie haben vorhin – auch ich bin in der (C)
kanzlerin. Sie sind ans Redepult getreten und haben ge- Lage, Pirouetten zu drehen, aber man muss erst einmal
sagt, Sie möchten jetzt endlich eine Rede für die Zukunft auf die Idee kommen, so zu denken –
halten.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Vorführen!
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja! Das hat sie Machen Sie mal!)
auch!)
etwas zur globalen Natur und zur Nachhaltigkeit erzählt.
Eine solche Rede haben Sie aber nicht gehalten. Dies Nachdem Sie da oben in den philosophischen Sphären
war keine Rede für die Zukunft. herumgereist sind, kamen Sie wieder herunter und sag-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten: Deshalb muss Gorleben gebaut werden. – Frau
sowie bei Abgeordneten der SPD) Merkel, nachhaltig ist das nicht, weil man dann nämlich
gar nicht erst damit angefangen hätte.
Ich will Ihnen auch erklären, warum. Das, was Sie ge-
sagt haben, war nicht wirklich der Zukunft verpflichtet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie haben in den letzten Monaten im Übrigen eine an- sowie bei Abgeordneten der SPD)
dere These vertreten. Als Sie mit Schwarz-Gelb so rich- Denn das ist eine Risikotechnologie, gar nicht davon zu
tig tief im Sumpf saßen, haben Sie gesagt: Nun kommt reden, wenn man dies verlängern würde.
der Herbst der Entscheidungen. – Entscheiden allein ist
aber keine Qualität, Frau Merkel. Es kommt auch auf Sie machen es immer nach der Methode: Der Regie-
den Inhalt und die Richtung der Entscheidungen an. rungssprecher erzählt vorher schon einmal, was Sie an-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geblich alles erreicht haben, damit möglichst viele es
sowie bei Abgeordneten der SPD) schreiben. Ich nehme das so wahr: Wenn der Regie-
rungssprecher angekündigt hat, was Sie tun werden, tre-
Ja, Sie haben sich entschieden. Sie haben sich ent- ten Sie an das Redepult, spitzen den Mund, und heraus
schieden – gegen eine zukunftssichere Energiepolitik in kommt ein verzagter Pfiff.
Deutschland. Sie haben sich entschieden – gegen Solida-
rität in der Gesundheitspolitik. Sie haben sich entschie- (Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
den – gegen sozialen Zusammenhalt. Sie spalten das Immerhin!)
Land. Das ist nicht der Zukunft, sondern das ist dem – Immerhin, das stimmt. Gar kein Ton wäre noch
Vergangenen verpflichtet, Frau Merkel. schlimmer. – Ich sage Ihnen: So kann die Zukunft unse-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – res Landes nicht organisiert werden.
Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
(B)
Was erzählen Sie denn da für einen Quatsch, Sie haben sich überlegt, nachdem Sie nicht wussten, (D)
Frau Künast?) wer Sie jeweils sind – es gibt ja nicht wenige, die Pro-
bleme haben, zu sagen: „Wer bin ich und wenn ja, wie
Sie haben gesagt: starke Wirtschaft, starker Staat, viele?“, auch als Partei; die Grünen trifft es gerade nicht,
starkes Gemeinwesen. Dass die FDP bei all dem mit- aber die CDU weiß es nicht; Sie rufen ständig etwas
macht – ich wiederhole: „starkes Gemeinwesen“ und Neues aus –:
„starker Staat“ –, wage ich zu bezweifeln. Aber egal! Sie
haben nichts von all dem organisiert. Sie haben im letz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ten Jahr Klientelgeschenke verteilt. Wenn wir „Möven- Einmal sind Sie Mitte, liberal, um ihnen das Wasser ab-
pick“ hören, zucken wir alle zusammen. Keiner denkt zugraben. Dann sind Sie wieder konservativ und wollen
mehr an Eis, sondern alle denken nur noch an Steuerpri- das Bürgertum in den Großstädten erreichen. Dann ist
vilegien. wieder das große C dran. Jetzt ist die große Geschichte:
(Jörg van Essen [FDP]: So ein Unsinn!) Immer auf die Grünen. Wir nehmen den Handschuh
gerne auf, den Sie werfen: Immer auf die Grünen. Ich
Sie machen eine gnadenlose Klientelpolitik: für die bin sowieso der Überzeugung, dass dieses Land, wenn es
Pharmaindustrie, für den Profit der Atomkonzerne, für
sich um seine Zukunft Gedanken macht, im Wesentli-
die Privilegien einiger weniger in der Gesundheitspoli-
chen zwischen zwei Konzepten zu entscheiden hat: Ih-
tik. Die Folgen dieser Politik haben Sie selbst beschrie-
rem und unserem, schwarz oder grün.
ben, Frau Merkel. Ich möchte zitieren, was Sie auf Ihrem
Parteitag gesagt haben: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen uns nicht zu wundern, dass sich viele Schauen wir uns einmal an, wohin die Reise geht. Sie
Menschen angewidert von den politischen Parteien sprechen immer vom großen C, dem Christlichen. Dann
und den Politikern abwenden, wenn die Politik ih- müssten Sie aber einmal den Haushalt richtig konsolidie-
rerseits selbst das Gespür für die Grenzen des An- ren und dabei das große C mitnehmen. Ist es christlich,
stands verliert. nur bei den Ärmsten zu sparen?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Gegenruf
Thomas Oppermann [SPD]: Das war eine rich-
des Abg. Thomas Oppermann [SPD]: Das ist
tige Erkenntnis!)
langweilig, nicht? – Petra Merkel [Berlin]
Das ganze erste Jahr Schwarz-Gelb zeigte: Sie haben das [SPD]: Was ist das für eine Reaktion, Herr
Gespür für den Anstand, für die Menschen verloren. Kollege Kauder?)
8074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Renate Künast
(A) – Ich weiß, jetzt ruft Herr Kauder gleich wieder: Sie den- ist. Wir brauchen Freibäder. Wir brauchen Kinder, die (C)
ken immer nur an die Hartz-IV-Leute. – Nein, nicht im- das Seepferdchen machen können, damit sie schwimmen
mer nur, aber auch. Und ich denke an die Zukunft. lernen. Das ist der soziale Alltag in Deutschland. Dafür
brauchen die Kommunen Geld, und das wollen Sie ihnen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nehmen. Das ist nicht christlich, und das ist auch nicht
Warum streicht man eigentlich diesen Eltern, nicht aber Zukunft.
der erwerbslosen Ehefrau das Elterngeld? Auch das ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
keine Ersatzleistung, oder, meine Herren? Sie haben das
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger sowie die Renten-
beiträge gestrichen und die Mittel zur Qualifizierung um Sie haben etwas zu Europa gesagt; auch Frau Merkel
16 Milliarden Euro gekürzt. Das soll Zukunft sein? Das hat hier etwas darüber berichtet. Ich habe jetzt nicht die
organisiert die Arbeitslosigkeit der Zukunft. Das organi- Zeit, die gesamte Europapolitik aufzumachen, und
siert die tiefe Armut im Rentenalter. Das ist nicht Zu- möchte deshalb an dieser Stelle nur auf Irland eingehen.
kunft, sondern ganz blöde alte Denke. Ich sage Ihnen eines: Irland zeigt – das negieren Sie auch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht –, wohin unvernünftige neoliberale Wirtschafts-
sowie bei Abgeordneten der SPD) politik führt. Es ist richtig, das Land zu stützen. Wir als
Grüne haben das hier gerade auch bei der Debatte über
Sie sagen, dieser Haushalt sei angeblich christlich Griechenland sehr klar gesagt. Wir haben damals gesagt:
ausgewogen. Na toll! Die Brennelementesteuer wird Wir diskutieren einmal nicht über Frau Merkel, sondern
vollständig absetzbar. Die Ausnahmen bei der Ökosteuer über Griechenland, über die Europäische Union und
bleiben alle erhalten. Um sie zu finanzieren, sollen die über den Euro, den wir schützen wollen. Darum ging es,
Menschen mehr Steuern für das Rauchen zahlen. Das ist und darum geht es auch bei Irland.
irgendwie schräg. Ich will nicht behaupten, Rauchen sei
gesund. Um eines mache ich mir aber Sorgen, Frau Merkel:
Es geht ja um die Steuersätze dort. Nach dem Gipfel von
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das wäre ja noch Deauville und Ihrem Alleingang, dem Überraschungs-
schöner!) coup zusammen mit Sarkozy, wird es für Deutschland
nicht einfacher, in Richtung Irland zu sagen, was jetzt zu
Im Gegenteil: Die Nichtraucherregelungen gefallen auch
tun ist.
mir. Sie meinen, die einen, die nicht einmal internatio-
nale Konkurrenz und Wettbewerb haben, dürften die (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
Ökosteuerausnahmen nicht verlieren. Bei den anderen So ein Käse! Das hat doch damit überhaupt
(B) sagt man: Ihr müsst jetzt einmal einen Solidarbeitrag nichts zu tun! Das ist doch Unfug!) (D)
leisten.
Das wird das sein, was Sie jetzt leisten müssen: Irland
(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Die Steuer- muss bei der Steuerharmonisierung einen Schritt weiter-
subventionen haben Sie doch eingeführt, Frau gehen und darf nicht sagen, sie bleiben bei den
Künast!) 12,5 Prozent. Es muss klar sein, was unter dem Begriff
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Ihr Haushaltsentwurf „geeignete Maßnahmen“ zu verstehen ist, die zu ergrei-
ist der soziale und ökologische Offenbarungseid und fen sind, damit sich so etwas nicht wiederholt, und dass
kein Zukunftsversprechen. die Iren entsprechende Maßnahmen ergreifen. Das ist
nicht einfach, weil ich sehe, dass die Grünen im Augen-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN blick die einzigen sind, die an dieser Stelle agieren.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das müssen Sie
Sie sprechen von 48 Milliarden Euro neuen Schulden. einmal erklären! – Dr. Hans-Peter Friedrich
Aber Sie haben vergessen, was Sie noch alles an Neben- [Hof] [CDU/CSU]: Darüber wird doch ver-
schauplätzen versteckt haben. handelt! Das ist Gegenstand des Rettungs-
Dann beglückt uns noch der von Frau Homburger im- schirms!)
mer so gelobte Herr Brüderle. Er schwadroniert schon Sie sollten sich an dieser Stelle auch nicht zu laut äu-
wieder über Steuersenkungen. Und Ihr Herr Lindner ßern. Hans Eichel hat sich damals als Bundesfinanz-
– das ist der Ersatzmann, damit Westerwelle nicht so oft minister immer an der, wie ich zugebe, nicht einfachen
gesehen wird – Steuerharmonisierung in Europa versucht.
(Lachen und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
GRÜNEN) Eichel, oh ja!)
profiliert sich immer mit seinen Gewerbesteueralbträu- Wer hat ihn damals kritisiert? Der rechte Teil des Hau-
men. ses. Auch hier wäre also ein bisschen Demut angebracht.
Was in diesem Land sozial ist und wie der Alltag or- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ganisiert wird, wird in den Kommunen entschieden. sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker
Wir brauchen Kindergärten, Schulen, Horte, Sozialarbei- Kauder [CDU/CSU]: Ach ja!)
ter und Stadtteilarbeit, und zwar nicht erst dann, wenn
der Stadtteil bereits in einem total miserablen Zustand – Ja, schon.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8075
Renate Künast
(A) Zurück zum Kern des Haushaltes. Worum geht es in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
der Debatte? In der Debatte heute muss es darum gehen, sowie bei Abgeordneten der SPD)
eine wirkliche Haushaltskonsolidierung aufzulegen
und einen Dreiklang zu praktizieren: durch Einsparun- Rein in die regionalen Bildungspartnerschaften, Sozial-
gen, durch die sozial ausgewogene Steigerung von Ein- arbeiter mit einbeziehen, damit die Probleme der ganzen
nahmen und durch gezielte Investitionen in Bildung, Familie bearbeitet werden können und die Kinder Zeit,
Klima und Soziales. Sie haben aber keinen Haushalt der Raum, Gefühl und Energie haben, sich zu bilden. Dazu
Gestaltung vorgelegt, sondern einen Haushalt alter, ver- bieten Sie nichts an, außer dass Sie immer über den
gangener Klientelpolitik. Wegfall von Gewerbesteuern schwadronieren, statt end-
lich einmal für eine verlässliche Finanzierung der Kom-
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ein munen zu sorgen.
Blödsinn!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Ausnahmen der Ökosteuer habe ich schon er- sowie bei Abgeordneten der SPD)
wähnt. Warum gehen Sie an den Spitzensteuersatz nicht
ran? Warum führen Sie keine einmalige Vermögensab- Frau Merkel, wir haben Ihnen zusammen mit der SPD
gabe ein? Warum besteuern Sie Kapital nicht tatsächlich geschrieben, wir seien an dieser Stelle bereit, zu reden.
genauso wie Arbeitseinkommen? Wie sieht es mit den Dabei muss es dann aber wirklich um regionale Bil-
Investitionen aus? Welche Leitlinien haben Sie eigent- dungspartnerschaften und um die Fragen gehen, wie
lich hinsichtlich der Investitionen der Zukunft? Wo innerhalb des Hartz-IV-Konzeptes eigentlich die Regel-
schaffen Sie eigentlich Arbeitsplätze? sätze berechnet werden und was Sie für Langzeitarbeits-
lose tun, weil Hartz IV nur ein Übergang sein soll. Die-
Frau Merkel hat hier heute über Bildung und über sen Übergang in das andere muss man dann bitte schön
Hartz IV geredet. Bezüglich der Verhandlungen zur Um- auch organisieren.
setzung des BGH-Urteils zu Hartz IV sind Sie uns mit
ein paar harten Sätzen angegangen. Ich sage Ihnen aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eines: Ein bisschen Demut täte Ihnen hier gut. sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schon wieder!) Frau Merkel, Sie reden hier immer über die Zukunft,
Jede Rednerin und jeder Redner tut so, als würde die aber an keiner Stelle sagen Sie wirklich, wie das Land in
CDU/CSU-FDP-Koalition jetzt endlich für die großen Zukunft organisiert sein soll.
Strukturen in der Bildung sorgen. Mal halblang! Auf- Wie soll es denn in 10, 20, 30 Jahren aussehen? Keine
grund einer miserablen Bildungspolitik in diesem gan- Idee, kein Mut, immer nur so kleine sektorale Felder, die
(B) zen Land und fehlender Chancen für jedes Kind sind Sie angegangen werden. Bei dem ganz großen Feld Elektro- (D)
durch den BGH dazu verpflichtet. mobilität machen Sie einen Elektroauto-Gipfel. Sie zie-
(Zuruf der Abg. Birgit Homburger [FDP]) hen das also auf den kleinsten und auch unökologischs-
ten Teil. Frau Merkel, Deutschland verschläft an dieser
– Das hat mit Hartz IV gar nichts zu tun. Sie verstehen Stelle seine Zukunft. Wenn man in diesem Bereich die
schon wieder nichts. Sie verstehen von gar nichts etwas, Arbeitsplätze in der Automobilindustrie halten will,
Frau Homburger. wenn man mehr Arbeitsplätze schaffen will, dann muss
(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: man jetzt an den systematischen Strukturwandel im Be-
Wollen Sie das Gymnasium abschaffen oder reich Verkehr ran. Das heißt Elektromobilität. Dazu ge-
nicht, Frau Künast?) hören das Auto, das Fahrrad, der Roller, die Vernetzung
der Angebote, die Bahn, der öffentliche Verkehr. Dazu
Aufgrund der miserablen Bildungspolitik in diesem haben Sie in Wahrheit gar nichts. Wo ist die Forschungs-
Land und der fehlenden Strukturen, wodurch nicht je- initiative für das vernetzte Konzept? Wo sind die Prä-
dem Kind die gleiche Chance gegeben und nicht jedes mien für entsprechende Autos? Wir haben ein fertiges
Kind gefördert wird, wenn es Defizite hat, hat der BGH Konzept dazu. Ich sage Ihnen: Bei der Elektromobilität
gesagt: Es gehört zur persönlichen Entfaltung und zum stehen sich zwei Konzepte gegenüber, das schwarze und
Recht der Kinder, dass sie zum Beispiel gefördert wer- das grüne. Unseres geht aber in die Zukunft.
den und Nachhilfe bekommen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
Deshalb wollen Sie das Gymnasium abschaf- Schauen wir uns das Thema Energie an: ihr Konzept,
fen!) unser Konzept. Frau Merkel, Sie haben gesagt, die
Atomenergie sei eine Brückentechnologie. Das war sie
Sie haben jetzt die Sachleistungen angesprochen. Sie aber schon, bevor Sie die Laufzeitverlängerung gemacht
müssen das Urteil umsetzen; das ist nicht Ihre eigene haben – aus lauter Not, um wieder herauszukommen.
Idee. Mir fehlt dabei aber eine zusätzliche Idee von Ih- Wir setzen auf 100 Prozent erneuerbare Energie bis
nen. Allein die Umsetzung des Urteils hinsichtlich der 2050. Sie reden mittlerweile immer vom Zeitalter der er-
Sachleistungen bedeutet doch keine Bildungspolitik in neuerbaren Energie, das übrigens mit dem EEG und
diesem Land. Sie müssen jetzt gezielt in die Bildungsin- nicht mit Ihnen angefangen hat, um es einmal klar zu sa-
frastruktur investieren und dürfen nicht nur für einen gen.
Wildwuchs an einzelnen Maßnahmen und mehr Büro-
kratie sorgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
8076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Renate Künast
(A) Aber bei Ihnen heißt die Antwort: 2050 30 Prozent Strom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C)
import. So wollen wir die Zukunft Deutschlands nicht Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Unred-
organisieren. Wir wollen unabhängig werden. lichkeit der Grünen! – Zuruf von der FDP: Un-
redlich!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Zuruf von der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Wir wollen in der Entwicklung der Technologie vorne Kollegin Künast, gestatten Sie eine Frage des Kolle-
sein, und es geht. Da muss man aber Mut haben und darf gen Schlecht?
nicht reine Lobbygeschenke verteilen.
100 Milliarden Euro Zusatzgewinne an die Atom- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
energie, an die Atomkonzerne. Davon müssen sie allen- Ja.
falls, wenn es hoch kommt, 30 Milliarden Euro ausge-
ben. Meine Damen und Herren, das ist nicht Zukunft, Michael Schlecht (DIE LINKE):
das ist alte Klientelpolitik, wie sie schon unter Helmut Frau Künast, Sie haben vorhin selbst gesagt, dass Sie
Kohl gemacht wurde. Sie setzen sie fort, Frau Merkel. in der Lage sind, Pirouetten zu drehen. Das, was Stutt-
gart 21 betrifft, hört sich jetzt ein bisschen so an.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Zuruf von der CDU/CSU: Wenn das stimmen (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
würde, würden die Aktien hochgehen! Tun sie NEN]: Da müssen Sie Herrn Maurer fragen! –
aber nicht! – Weitere Zurufe von der CDU/ Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
CSU) NEN)
Das Bundesverfassungsgericht wird das so nicht beste- – Der ist schon seit zehn Jahren bekehrt. Der ist schon
hen lassen. Es wird auch keinen politischen Bestand viel früher bekehrt, als die Grünen dazu bekehrt worden
über 2013 hinaus haben, und das ist auch gut so. sind. Das ist überhaupt kein Problem.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Unterhalten sich
jetzt die Grünen mit den Linken?)
Sie reden hier für meine Begriffe verdächtig wenig
Ich will eine Frage stellen, Frau Künast. Das ist eine
über die Frage von Konzepten für Bereiche. Das machen
Frage, die viele Menschen, die ich auf den Demonstra-
Sie im Energiebereich nicht. Ich sage Ihnen: Im Ver-
tionen in Stuttgart, in Straßenbahnen usw. treffe, bewegt,
kehrsbereich hängen Sie sich immer an der Frage von
(B) Stuttgart 21, diesem Bahnhof, fest. Es freut mich, dass nämlich: Was machen die Grünen eigentlich, wenn sie (D)
gemäß den Umfragen am 27. März tatsächlich einen gro-
Sie dazu etwas sagen. Frau Merkel, es freut mich auch,
ßen Wahlerfolg erzielen sollten? Was machen die Grü-
dass Sie unseren Spitzenkandidaten dort, Herrn
nen tatsächlich? Werden sie dann Stuttgart 21 beerdigen,
Kretschmann, erwähnen und ihn zitiert haben. Er hat ge-
ja oder nein? Das ist die Frage, und alles andere sind Pi-
sagt: Wir versprechen nichts, aber wir werden alles dafür
rouetten.
tun, dass Stuttgart 21, dieser Bahnhof, nicht kommt.
(Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Parole ist
Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sie wissen aber „Oben bleiben“, nicht „Beerdigen“!)
genau, dass Sie Verträge einhalten müssen!)
Deshalb haben wir ja einen Stopp weiterer Baumaßnah- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
men gefordert. Wissen Sie, Frau Merkel, das unterschei- Herr Schlecht, ich habe gedacht, das gerade gesagt zu
det uns von Ihnen: Wir versprechen nur das, was man haben, will aber auf alle Fälle auf eines verweisen, weil
auch halten kann. So klug sind wir auch geworden. Sie von Bekehren gesprochen haben: Grüne müssen Sie
nicht bekehren. Bekehren Sie lieber Herrn Maurer. Er
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – hat damals, als er noch in der SPD war, für Stuttgart 21
Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – gekämpft.
Zuruf von der CDU/CSU: Auf der Straße blei-
ben!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich gebe zu, wir haben in Moorburg etwas versprochen
und die Gerichtsentscheidung unterschätzt, die da noch Ich sehe Herrn Maurer übrigens selten in solchen Debat-
ansteht. Deshalb sagen wir bei Stuttgart 21: Klar, wir ten. Wie kommt das?
versuchen alles, was geht. Nachdem wir das Verb abgearbeitet haben, will ich
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sie wissen, Ihnen eines sagen: Wir führen rechtliche Prüfungen
dass es nicht geht! – Weiterer Zuruf des Abg. durch. Wir nehmen alles in den Blick, und wir haben
Jörg van Essen [FDP]) auch die Schlichtungsgespräche mit angeregt, um klar-
zumachen, dass das, was die Bürgerinnen und Bürger als
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie bei sinnlose Maßnahme ansehen, die sie nicht wollen und
Ihren Steuersenkungen Ihren Grips einmal ähnlich an- für die sie kein Geld verplempern wollen, nicht Realität
strengen würden, wäre das Land weiter. wird. Auch deshalb wollen wir die Wahl gewinnen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8077
Renate Künast
(A) (Jörg van Essen [FDP]: Ja oder nein?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
neten der FDP)
Ich finde es richtig, wenn jetzt in Stuttgart oder Ba-
den-Württemberg diskutiert wird, ob man das Geld nicht
besser für den Güterverkehr ausgeben sollte, als die Gi- Volker Kauder (CDU/CSU):
galiner über die Straßen fahren zu lassen. Ich finde es Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
richtig, dass an der Stelle gesagt wird: Was wir tun kön- gen! Gleich zu Anfang das Gemeinsame, Frau Künast:
nen, um eine Weiterentwicklung hinsichtlich der Rechts- Ja, es ist richtig, dass wir unter den Erkenntnissen des
lage und Auftragslage zu verhindern, tun wir. Bundesinnenministers unsere Arbeit in diesem Parla-
ment so konsequent weitermachen wie bisher. Wir lassen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns von niemandem in unserer Arbeit und in unserem
sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörg van Leben beeinflussen. Das hätten die Terroristen gerne.
Essen [FDP]: Das war doch ein Geeiere hoch Genau das machen wir nicht. Darin sind wir einer Mei-
drei!) nung. Herzlichen Dank für diese Gemeinsamkeit, liebe
Gerade Sie von der FDP sollten aufgrund von Kolleginnen und Kollegen.
Stuttgart 21 und anderen Projekten eines erkennen, näm- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lich dass die Basta-Politik und die Politik für die Besser- neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
verdienenden ein Ende hat. Nach 60 Jahren Grundgesetz GRÜNEN)
lassen sich die Menschen es nicht mehr gefallen – das
sehen wir in Stuttgart und anderswo –, Ich bin auch dem Bundesinnenminister dankbar für
seine kluge, zurückhaltende, aber doch klare Aussage,
(Zuruf von der FDP: Sie waren schon mal bes- dass wir alle wachsam sein müssen. Das gilt für uns alle.
ser, Frau Künast!) Ich bin all denjenigen dankbar, die in Sicherheitsdiens-
dass man ihnen 15 Jahre alte Entscheidungen überstülpt. ten hier im Deutschen Bundestag sowie draußen auf un-
Sie haben an 365 Tagen im Jahr eine Meinung, nicht nur seren Straßen und Plätzen durch ihre Präsenz zeigen:
dann, wenn Wahlen bevorstehen. Dieser Staat tut, was er kann. Wir setzen alles daran, um
Sicherheit in unserem Land zu gewährleisten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie haben einen Haushalt vorgelegt, der an keiner
Stelle den Fragen Genüge tut: Wo ist das Konzept für die Aber es wird dann sicher auch Diskussionen darüber
Fachkräftezuwanderung? Wo bleibt die gezielte Ar- geben: Was müssen wir in Konsequenz der Erkenntnis
beit mit Migrantinnen und Migranten? Wo ist das Punk- tun, dass Sicherheit zu garantieren immer auch ein Pro-
(B) tesystem? Damit setzen Sie sich auch nicht durch. Jeden- zess ist? Da warten wir natürlich auf die Anregungen (D)
falls ist für mich nichts erkennbar. Sie reden immer nur und Vorschläge, die der Bundesinnenminister diesem
laut darüber. Wo ist das Punktesystem, das Fachkräften Parlament auch im Zusammenhang mit der Neustruktu-
Zuwanderung ermöglicht? rierung geben wird. Ich habe heute Morgen in einem In-
terview bereits darauf hingewiesen.
Wo ist eine Gesundheitspolitik, die dem C gerecht
wird, Frau Merkel? Das ist doch eine sozial kalte Ge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
sundheitspolitik der FDP, mit der Privilegien aufrechter- GRÜNEN]: Aber nicht die Pressefreiheit ein-
halten werden. Sie wollen das bei der Pflegeversiche- schränken!)
rung genauso machen. Wir wollen mehr Solidarität statt Aber das Entscheidende, meine sehr verehrten Damen
weniger und deshalb eine Bürgerversicherung. und Herren, ist doch, dass wir dieses Land auf allen Ebe-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen, in allen Bereichen weiter nach vorne bringen, wie
es die Bundeskanzlerin angesprochen hat. Frau Künast,
Das Fazit Ihres Haushaltes ist: Schwarz-Gelb richtet Sie irren ganz gewaltig; denn Sie haben Freude am Al-
das Land nicht neu aus. Die entscheidenden Aufgaben ten, wir haben Freude am Neuen. Wir bringen unser
werden nicht angegangen, weder bei den Fachkräften Land voran.
noch beim Umbau der Wirtschaft, bei der Bildungspoli-
tik und den erneuerbaren Energien, nirgendwo. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Wahr ist: Sie setzen die Zukunft des Landes aufs
Spiel. Sie sind dem Alten verpflichtet. Das macht den Wenn es um irgendeine Investition geht, dann sind
Unterschied aus. Sie sind dem Alten verpflichtet. Wir Sie immer dagegen. Sie sind die Dagegen-Partei, die ge-
werden von der Zukunft gezogen. Deutschland hat wahr- gen alles ist.
lich mehr Zukunft verdient. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE Wenn ich mir einmal anschaue, was Sie auf Ihrem Par-
GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Dünner teitag alles so beschlossen haben
Beifall! Wirklich berechtigter dünner Beifall!)
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sehr guter Parteitag!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Volker und was ich in den letzten Tagen auch zum Energiekon-
Kauder. zept von Ihnen gehört habe, dann muss ich sagen: Das
8078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Volker Kauder
(A) ist der Markenkern ideologisch geprägter Politik. Dazu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- (C)
einmal ein Beispiel. derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN)
Sie beschließen auf einem Parteitag Ausgaben in der
Größenordnung von 50 bis 60 Milliarden Euro. Dann Deswegen kann ich nur sagen: Es ist gut, dass Sie in der
kommt der Schwabe Kuhn und stellt den Antrag, sich Opposition sitzen und dass Christlich-Liberal dieses
das einmal genauer anzuschauen, weil man gar nicht Land regiert und es auf eine neue Basis stellt.
weiß, welche Auswirkungen das hat. Er wird runterge- Dieser Bundeshaushalt bildet dafür eine Grundlage.
bügelt nach dem Motto: Sei ruhig, Kuhn, das interessiert Jetzt kommt das Thema, das Sie in allen Reden ange-
gar nicht. Wichtig ist nicht die Frage, was das kostet, sprochen haben. Sie behaupten, dieser Haushalt sei so-
sondern wichtig ist, ob es unseren ideologischen An- zial nicht ausgewogen.
sprüchen gerecht wird. – Das ist das Thema bei Ihnen,
Frau Künast. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das
stimmt auch!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Er ist gar nicht gebügelt, er sitzt Vizepräsidentin Petra Pau:
noch hier!) Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Bonde?
Ein Land wird im Wettbewerb mit anderen Ländern
auf dieser Erde, insbesondere mit Asien, nur dann eine Volker Kauder (CDU/CSU):
wirkliche Chance haben, wenn es sein Energieproblem Wenn ich mir diesen Haushalt anschaue, kann ich nur
löst. Energiepolitik macht diese Regierung unter Be- sagen: Wer so etwas sagt, verfehlt die Wahrheit haar-
rücksichtigung der Realität, der Tatsachen und nicht der scharf. Wir geben über 50 Prozent, also jeden zweiten
Ideologie. Der Oberbürgermeister der Grünen in Frei- Euro, für soziale Maßnahmen aus.
burg hat gesagt, sie wollen den Anteil erneuerbarer
Energien im Jahre 2010 auf 10 Prozent erhöht haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist ein schönes Ziel. Schöne Ziele kann man sich Das ist doch nicht sozial unausgewogen. Auch in der So-
setzen. Wo ist er angekommen? Bei 3,7 Prozent. Das ist zialpolitik und insbesondere in der laufenden Diskus-
die Wahrheit. sion über Hartz IV erkenne ich bei den Grünen den Mar-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kenkern ideologiegeleiteter Politik.
NEN]: 17 Prozent in Deutschland!) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) So können wir kein Land – besonders mit Blick auf die NEN]: Das Elterngeld!) (D)
18-jährigen Menschen – in eine Zukunft führen, Frau Sie sagen, den Hartz-IV-Empfängern stehe eine Erhö-
Künast. hung der Regelsätze zu. Dann sprechen und verhandeln
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie mit uns. Aber Ihnen geht es nicht in erster Linie um
die Menschen und um Hartz IV, sondern darum, etwas
Deswegen hat die Bundeskanzlerin völlig recht, wenn aus Ihrem ideologischen Sandkasten mitzubringen. Das
sie sagt, wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass dient aber nicht dem Land, sondern Ihrer Ideologie. Das
dieses Land stark bleibt. Wir wollen die erneuerbaren ist nicht in Ordnung, Frau Künast, um das klipp und klar
Energien ausbauen und sie zum zentralen Energiever- zu sagen.
sorger machen. Dafür brauchen wir für eine gewisse
Phase, für eine Übergangszeit Kohle, und da brauchen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wir auch Kernenergie. Aber jetzt kommt es doch auf Helfen Sie mit, dass das Gesetz, das wir im Bundestag
Folgendes an, liebe Kolleginnen und Kollegen von den verabschiedet haben, umgesetzt werden kann und die
Grünen: Voraussetzung dafür, von jetzt 13 oder 14 Pro- Menschen am 1. Januar nächsten Jahres das Geld be-
zent auf 30, 40 oder 50 Prozent zu kommen – das wissen kommen, das ihnen zusteht!
Sie alle ganz genau –, ist, dass wir die Energieerzeugung
durch Wind auf dem Meer ausbauen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Daran hindert Sie niemand! Sie allein haben
Leider Gottes kann diese Energie nicht auf der Straße die Verantwortung, Herr Kauder!)
oder auf der Schiene durch das Land transportiert wer-
den. Deswegen sagen uns heute die Fachleute, wir brau- Es wird auch etwas für die Bildung getan. Frau
chen rund 3 000 Kilometer neue Leitungen mit einem Künast, Ihre Aussagen zur Bildungspolitik haben mich
Investitionsvolumen von 10 bis 20 Milliarden Euro. Und überhaupt nicht überzeugt. Überall, wo Rot-Grün re-
was erleben wir? giert, wird man zu Experimenten mit Kindern veranlasst,
aber nicht zu einer klugen Politik. Schauen Sie sich an,
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- was gerade in Nordrhein-Westfalen passiert! Sie werden
NEN]: CDU-Bürgermeister!) erleben, dass die Menschen dagegen auf die Straße ge-
hen werden, genauso wie in Hamburg, als Sie diese Poli-
Die Grünen stellen sich hier im Bundestag hin und
tik gemacht haben.
halten große Reden für erneuerbare Energien. Aber vor
Ort, wenn es dann darum geht, die notwendige Infra- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
struktur dafür zu schaffen, wird blockiert und Nein ge- Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sagt. Das sind die Grünen in Deutschland. Das sind Ihre Bürgermeister! Wer regiert denn
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8079
Volker Kauder
(A) in Ascheberg? Wer ist dort Bürgermeister? Ein das andere. Wenn wir nicht zu einer zumindest europa- (C)
CDU-Mann!) weiten Finanztransaktionsteuer kommen – dafür kämpft
doch die Bundesregierung –, dann hat sie keinen Sinn.
– Nachdem Frau Merkel Sie versenkt hat, sind Sie offen-
Es hat daher auch keinen Sinn, den Menschen zu sagen,
bar wieder hochgeschwommen. Ich bemerke, Herr
dass wir sie in Deutschland allein einführen. Wenn Sie
Trittin, dass Sie wieder an der Oberfläche angekommen
das tun, gibt es bald gar keine Börse mehr in unserem
sind.
Land. So geht es nicht. Das ist wiederum ein Beispiel
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ideologiegeleiteter Politik.
Ich bin immer noch da! Beantworten Sie die
Fragen: Wer regiert in Ascheberg? Welcher (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Partei gehört er an? Dazu schweigt er, der Wir sehen auch mit einiger Sorge – die Bundeskanzle-
Volker Kauder! Das ist ihm peinlich!) rin hat es angesprochen –, was sich in unserer Welt in Sa-
In allen Zeitungen können Sie in diesen Tagen etwas chen Sicherheit tut. Wir hoffen, dass die Krise in Korea
lesen, das genau die Realität trifft. Die Bildungspolitik nicht größere Weiterungen hat, sondern dass das, was
ist für die Kinder da und nicht für ideologische Experi- dort in den letzten Tagen geschehen ist, eingedämmt
mente. Danach handeln wir. werden kann. Auch muss ich zum wiederholten Male sa-
gen: Wir sehen mit großer Sorge, wie weltweit und in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diesen Tagen insbesondere im Irak wieder Christen ver-
folgt werden. Das darf uns nicht ruhen lassen. Wir dür-
Wir sehen, dass unser Land aus der Wirtschaftskrise
fen darüber nicht schweigen. Herr Bundesaußenminister,
besser herausgekommen ist als andere Länder. Jetzt muss
ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das zum Thema gemacht
ich Ihnen sagen: Die beste Sozialpolitik, die man machen
haben. Wir müssen aber auch überlegen, was wir kon-
kann, ist diejenige, die dazu führt, dass die Arbeitslosig-
kret tun können. Es kann nicht die Lösung sein, immer
keit zurückgeht und die Menschen wieder Chancen ha-
mehr Christen aus dem Irak nach Deutschland zu holen
ben. Genau das ist hier gemacht worden. Auf dem Weg
und damit im Irak eine christenfreie Zone zu schaffen.
gehen wir weiter. Nicht immer mehr Sozialleistungen,
Wir müssen vielmehr überlegen, wie wir mit dem einen
nicht immer mehr Menschen vom Sozialtropf des Staates
oder anderen Euro den Menschen im Irak helfen können,
abhängig machen, sondern ihnen Chancen geben, das ist
damit sie sicherer vor Übergriffen sind. Dafür bitte ich
die Politik der Regierung Merkel. Diese ist erfolgreich.
um Ihre Unterstützung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Es ist das Modell der sozialen Marktwirtschaft, das Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
(B) sich hier bewährt hat. Aber natürlich ist die soziale GRÜNEN]: Wie viele Flüchtlinge nehmen Sie (D)
Marktwirtschaft von einigen nicht so wahrgenommen denn auf?)
worden, wie es notwendig ist. Deswegen unterstützen
wir, die Regierungskoalition, die Bundesregierung auf In diesen Tagen ist Asia Bibi in Pakistan mit dem Tod
ihrem Weg, der zum Ziel hat, auch private Investoren an bedroht, weil sie sich zum Christentum bekannt hat. Es
den Kosten zu beteiligen. Ludwig Erhard schreibt in sei- ist völlig klar, dass eine wertorientierte Außenpolitik,
nem berühmten Buch Wohlstand für Alle, in dem er die wie sie diese Bundesregierung betreibt, das Thema
Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft festgelegt hat: Christenverfolgung immer als zentrales Thema auf ih-
Erfolg, Risiko und Haftung gehören zusammen. Es darf rer Agenda haben wird.
nicht sein, dass jemand Risiken eingeht und dann die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Steuerzahler haften müssen. Deswegen müssen alle
wissen: Wer Chancen sucht – auch riskante –, muss für Man kann unterschiedlicher Auffassung sein, wie es
sein Verhalten einstehen, wenn es schiefgeht, nicht nur in Zukunft weitergeht, aber eines ist klar: Das, was ich
der Steuerzahler. heute von der Opposition gehört habe, war nicht einmal
im Ansatz ein Zukunftsprogramm. Deswegen bin ich der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesregierung dafür dankbar – die Bundeskanzlerin
Deswegen ist es richtig, wenn die Bundesregierung dies hat es heute gesagt –, dass ihre Themen mehr Chancen,
umsetzen will. Wachstum und weniger Arbeitslosigkeit, mehr Förde-
rung des Gemeinsinns und Werbung für Gemeinsinn
Auch wir wollen natürlich die Finanztransaktion- durch den Aufbau der Freiwilligendienste sind.
steuer. Das ist überhaupt kein Thema.
Eines will ich auch sagen: Wir müssen redlicher mit-
(Lachen bei der SPD) einander umgehen. Es ist richtig, Frau Künast, dass die
Menschen das ganze Jahr über denken und nicht nur bei
– Die, die jetzt lachen, kann ich gerne einmal nach Sin- Wahlen. Aber es ist nach meiner Auffassung auch rich-
gapur mitnehmen. Sie können auch alleine dorthin fah- tig, dass sich unser System der repräsentativen Demo-
ren. Wenn Sie mit den Bankern und den Politikern in kratie grundsätzlich bewährt hat und dass wir allen
Singapur reden, sagen diese: Führt doch am besten in Grund haben, dieses System zu verteidigen und dafür zu
Deutschland allein die Finanztransaktionsteuer ein. werben.
Dann werden wir in Singapur noch reicher und fetter;
denn wir machen auf keinen Fall mit. – Märchen zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
glauben, ist das eine, aber in der Realität zu arbeiten, ist der FDP)
8080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Volker Kauder
(A) Sie aber diskreditieren ein solches System, wenn Sie sa- Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
gen: Entscheidungen, die in Parlamenten getroffen wor- Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Bonde das
den sind, muss niemand in diesem Land akzeptieren. – Wort.
Was die Grünen hier vorgeführt haben, war wirklich
nicht komisch, sondern miserabel. Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Herr Kauder, Sie haben sich in dieser Rede bemüßigt
der FDP) gefühlt, zu behaupten, der Netzausbau scheitere immer
an Grünen. Ich will Sie einmal offen fragen: Reden Sie
Gerade wenn man Bürgerentscheide will, gilt der eigentlich noch mit CDU-Bürgermeistern? Reden Sie
Grundsatz: Deine Rede sei ja, ja oder nein, nein. Das mit der Horde von CDU-Bürgermeistern in Nordrhein-
heißt, die Menschen können die zur Abstimmung ste- Westfalen, die an der Speerspitze von Bewegungen jede
hende Frage mit Ja oder Nein beantworten. Sie suggerie- Form von Netzausbau bekämpft?
ren den Menschen in Baden-Württemberg: Wenn die
Grünen Einfluss auf die Regierungspolitik bekommen, Was ich sagen will, möchte ich an einem anderen Bei-
dann wird der Bahnhof Stuttgart 21 nicht kommen. Hier spiel verdeutlichen. In der Nähe meines Wohnorts, an
stellen Sie sich allerdings hin und sagen: Wir kämpfen der Murg, ist ein großes Pumpspeicherkraftwerk geplant.
dafür; aber wir wissen, dass es Verträge gibt. Ich bin dafür. Der grüne Ortsverband ist dafür. Herr
Kauder, Hose runter, legen Sie die Hand für Ihre CDU-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bürgermeister ins Feuer? Was ist mit Ihren Bürgermeis-
NEN]: Stimmt nicht! Sagen wir doch in Stutt- tern? Wo ist da die Union?
gart überhaupt nicht!)
Sie haben die Frage „Freiburg/Stromanteil/erneuer-
Ich möchte Ihnen entgegnen: Sie können jetzt schon sa- bare Energien“ angesprochen. Sie haben dezent verges-
gen, dass es nichts wird. Es gibt Verträge und Gerichts- sen, zu erwähnen, wer eigentlich den Ausbau der Wind-
entscheidungen. Der Bauherr wird natürlich dafür sor- kraft in der Region Freiburg durch Landesrecht
gen, dass seine Vorhaben umgesetzt werden. Sie verhindert.
täuschen die Menschen, wenn Sie ihnen sagen: Kämpft
für uns; dann kommt dieser Bahnhof nicht. – Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nicht in Ordnung. sowie bei Abgeordneten der SPD)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wer ist die Dagegen-Partei, die dafür sorgt, dass eine
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gemeinde, die auf erneuerbare Energien setzen will, es
Das heißt, Sie bezahlen alle Kostensteigerun- nicht darf? Wer ist die Partei, die dafür sorgt, dass selbst
(B) gen aus dem Bundeshaushalt!) an bestehenden Windkraftstandorten – leistungsfähigere (D)
Windkraftwerke ohne irgendeinen Eingriff in die Natur –
– Nein, Herr Trittin; Sie nicht. nichts ersetzt werden darf? Das ist die CDU. Sie tut dies
aus einer ideologischen Blockade heraus.
Gerade wenn man für Bürgerentscheide ist, muss man
seine Fragen so formulieren, dass sie mit Ja oder Nein zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
beantworten sind.
Dennoch stellen Sie sich hierhin und behaupten so einen
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Unfug. Mit Verlaub, Herr Kauder: Wer die Bibel zitiert,
NEN]: Genau! Dann müssen Sie sich an den muss auch das achte Gebot im Sinn haben.
Bürgerentscheid aber auch halten!)
Herzlichen Dank.
Alles andere ist nicht redlich. Das hat Frau Künast hier
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
an diesem Rednerpult nicht gemacht. Hoffentlich haben
sowie bei Abgeordneten der SPD)
viele Menschen gesehen, wie sie hier herumgeeiert ist
und Pirouetten gedreht hat, um sich vor einer klaren Ant-
wort zu drücken. Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Kauder hat das Wort zur Erwiderung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wir stehen vor schwierigen Aufgaben. Wir stehen NEN]: Die Hose bleibt oben!)
nicht nur in Deutschland vor der Aufgabe, eine gute Zu-
kunft für alle zu organisieren. Wir stehen in der Welt vor
Volker Kauder (CDU/CSU):
der Aufgabe, dafür zu sorgen, dass so etwas wie diese
Lieber Herr Kollege Bonde, wir alle haben jetzt in al-
Finanzmarktkrise möglichst nicht mehr eintritt. Wir ste-
ler Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen, dass die Grü-
hen in der Welt vor der Aufgabe, Frieden und Sicherheit
nen in Zukunft an unserer Seite stehen, wenn es darum
herzustellen. Wie man sieht, ist dies eine ständige Auf-
geht, den Leitungs- und Netzausbau in unserem Land
gabe, die jeden Tag neu bewältigt werden muss. Ich bin
voranzutreiben.
froh, dass wir in dieser Phase der großen Herausforde-
rungen eine christlich-liberale Koalition in diesem Land (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
haben.
Ich freue mich auf eine neue Kampfgemeinschaft mit Ih-
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und nen gegen die Verweigerer vor Ort. Herzlich willkom-
der FDP) men bei denen, die die Zukunft gestalten wollen!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8081
Volker Kauder
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Deswegen ist mein Eindruck, dass wir es eher mit (C)
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Oh, war das dem Herbst der Legendenbildungen zu tun haben. In der
schwach!) heutigen Rede von Frau Merkel – die ja auch ein wenig
wirkte, als spräche sie vor dem Kongress der Jungen
Vizepräsidentin Petra Pau: Union – war viel an Legendenbildung zu finden. Für die
Der Kollege Poß spricht nun für die SPD-Fraktion. Betrachter war, glaube ich, schon interessant, dass Frau
Merkel hier mit den billigsten Witzchen die größte Zu-
(Beifall bei der SPD) stimmung der Koalition erringen konnte, weil dies of-
fenbar das verbindende Band ist, weil in der Substanz
Joachim Poß (SPD): sonst nichts da ist.
Lieber Kollege Kauder, es kann auch schon einmal
staatsbürgerliche Verantwortung und politische Pflicht Im Übrigen, Frau Bundeskanzlerin, in keiner Ihrer
sein, Nein zu sagen, und zwar im Interesse der großen bisherigen Reden im Plenum des Deutschen Bundestags
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Denn für diese haben Sie so oft Reden und Handeln verwechselt – in
Leute wird nach dem „Herbst der Entscheidungen“ alles keiner Ihrer bisherigen Reden in Ihrer fünfjährigen Re-
schlechter und nicht besser. Da ist es politische Pflicht, gierungszeit.
Nein zu sagen. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Sie waren und sind sehr geschickt als Fassadenmale-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
rin, wie es ein Journalist vor kurzem bezeichnet hat, die
Das von Ihnen angeschlagene Pathos – es erinnert ein die schwarz-gelbe Fassade schön anstreicht. Darunter
wenig an einen Flügel der amerikanischen Republikaner – sieht es noch so fürchterlich aus wie vor der Sommer-
hilft da nicht weiter. Sie wollen doch nicht ernsthaft alle, pause. Da hat sich nichts geändert. Der Koalitionsaus-
die Ihre Politik kritisieren, als Zukunftsverweigerer de- schuss in der letzten Woche war noch einmal ein Beleg
nunzieren. Das spricht vielleicht das Gemüt der CDU an, dafür, dass sich bei Ihnen in der Substanz nichts verän-
ist aber im Kern antidemokratisch, meine Damen und dert hat. Beispiele gibt es genug, sie sind auch schon er-
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. wähnt worden.
(Beifall bei der SPD) Sie reden von der notwendigen Entlastung der
Von Redlichkeit sollte man nicht sprechen, wenn die Kommunen und machen das Gegenteil: Streichung bei
eigene Aussage mit den Fakten nicht übereinstimmt. der Städtebauförderung, bei energetischer Gebäudesa-
Das, was wir bei dem Beispiel der Finanztransaktion- nierung, Schwächung der Gewerbesteuer schon zu Jah-
(B) steuer von dieser Koalition ein halbes Jahr lang an resanfang, Unklarheit über die Zukunft der Gewerbe- (D)
Theater – zwischen FDP und CDU/CSU und innerhalb steuer.
der Parteien – erlebt haben, war nicht mehr zu toppen.
Die Kommunen brauchen aber jetzt Hilfe, und zwar
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Richtig!) schon im Haushalt 2011.
Das war der Grund, Herr Schäuble, warum Ihre Regie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
rung auf europäischer Ebene nicht handlungsfähig war, der LINKEN und der Abg. Renate Künast
als es um entscheidende Fragen der Finanzmarktregulie- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
rung ging.
Vielen Kommunen brennt der Pelz, und Sie erlauben
(Beifall bei der SPD) sich Auseinandersetzungen. Die FDP will doch nach wie
Wenn sich dann die Frau Bundeskanzlerin hier auch vor etwas anderes bei der Gewerbesteuer, und die CDU/
mit einem gewissen Pathos hinstellt und den Primat der CSU ist zerrissen. Herr Schäuble macht keinen Hehl da-
Politik gegenüber Wirtschaft und Finanzindustrie unter- raus, dass er sowieso immer gegen die Gewerbesteuer
streicht, dann ist das doch – um den Begriff der Redlich- war, sich jetzt allerdings der Regierungsräson oder den
keit aufzugreifen – auch unredlich, weil diese Koalition, Versprechungen an die kommunalen Spitzenverbände
jedenfalls Teile davon, genau für das Gegenteil steht, die folgend anders verhält. Was ist das für eine Aufstellung
FDP sich weitgehend verweigert hat und Sie, Herr gegenüber den Kommunen, den Städten und Gemein-
Schäuble, sich offensichtlich auch gegen Ihren eigenen den, in denen über die Lebensqualität der Menschen in
Willen für die Finanztransaktionsteuer aussprechen unserem Lande entschieden wird?
mussten. Sie haben ja beim Wirtschaftsrat der CDU ge-
sagt, dass das nicht Ihrer eigenen Überzeugung entspre- (Beifall bei der SPD)
chen würde. So wurden sie jedenfalls zitiert. Zu dem Einwand von Frau Merkel, zu bedenken, was
Was ist das für eine Politik, wenn sich die Regie- in den Jahren 2003 und 2004 gewesen ist, kann ich als
rungskoalition des größten Landes in Europa in zentra- Verhandlungsführer der SPD im Vermittlungsausschuss
len Fragen, die darüber entscheiden, wie die nächste Ihnen sagen, was da war. Einige von Ihnen in der Union
Krise, wenn sie denn kommt, zu bewältigen ist – sie soll sind damals mit dem Ziel in die Verhandlungen gegan-
ja durch Prävention verhindert werden –, so aufstellt, gen, die Gewerbesteuer ganz abzuschaffen. Das ist die
wie Sie sich das erlaubt haben? Das geht doch überhaupt Wahrheit über die Situation damals.
nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
8082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Joachim Poß
(A) Das nächste Beispiel: Investitionen. Die Frau Bun- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Renate (C)
deskanzlerin hat behauptet, die Investitionen würden ge- Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
steigert. Ja, aber die Investitionen im hier zu verabschie-
denden Haushalt sind um 1 Milliarde Euro geringer als Bis in den Mai hinein war Frau Merkel weder für ir-
zum Zeitpunkt der Aufstellung dieses Haushaltes. Wer gendetwas, noch war sie gegen irgendetwas. Sie brachte
schreibt Ihnen denn so etwas in die Reden hinein? Nicht stattdessen immer ganz schicke Formulierungen; Bei-
einmal Faktensicherheit ist bei der Bundeskanzlerin und spiele dafür gibt es genug. Sie war genau betrachtet ei-
dieser Regierung gegeben. gentlich bis in den Sommer hinein als Regierungschefin
gar nicht vorhanden. Das heißt, sie hat ihre Funktion als
(Beifall bei der SPD) Regierungschefin faktisch nicht ausgeübt. In der Tat, ein
verlorenes Jahr für Deutschland, aber noch mehr: Das
Billige Polemik zum wiederholten Male – auch das ist größte europäische Land fast ein Jahr ohne wirkliche
wieder ein Beispiel für Legendenbildung – hinsichtlich Führung! Was sind das für Zustände, meine Damen und
der Veränderungen 2005 beim europäischen Stabilitäts- Herren?
und Wachstumspakt! Ich empfehle Ihnen die Lektüre der
wissenschaftlichen Äußerungen, die es dazu gibt. Ich (Beifall bei der SPD)
kann Ihnen sogar einen Buchtipp mit Seitenangabe ge- Das ist Fakt. Auch das war ein Grund für das Wahldesas-
ben; diesen habe ich gestern Abend auch schon dem ter von CDU und FDP in NRW.
Kollegen Barthle bei einer Diskussionsveranstaltung ge-
geben. Höchstgefährlich war dieses Verhalten im Frühjahr
im Fall der Griechenland- und Euro-Krise. Hier hätte
Ohne die damals vorgenommenen Veränderungen Europa eine starke und geradlinige Bundeskanzlerin ge-
beim Stabilitäts- und Wachstumspakt hätten wir in der braucht, um die immer dramatischer werdenden Ereig-
Großen Koalition nicht gemeinsam, Frau Merkel, die nisse zu kanalisieren und die Dinge mit zu ordnen. Aber
Konjunkturpakete zur Abwehr der Krise schnüren kön- über Wochen wurde im Kanzleramt geschwankt, ge-
nen, wären wir nicht so erfolgreich gewesen. Das ist die schwiegen und blockiert. Hinter den Kulissen tobte der
Wahrheit. Kampf mit dem Bundesfinanzministerium, weil Herr
Schäuble im Gegensatz zu Frau Merkel erkannt hatte,
(Beifall bei der SPD)
dass Griechenland zügig zu helfen war, weil ansonsten
Im Zuge der damaligen Veränderungen haben wir einen alles noch schlimmer würde.
sogenannten präventiven Arm einbauen können. Das Wir kennen den weiteren Verlauf: Es gab Äußerungen
heißt, es gab damit in Europa genau den Mechanismus, in der Bild-Zeitung, dass man Griechenland aus der EU
(B) auf den wir uns hier bei der Schuldenbremse gemeinsam rausschmeißen sollte; eine Einladung an die Spekulan- (D)
verständigt haben. Was gibt es denn daran zu kritisieren? ten, wie alle Sachkundigen wissen.
Nichts gibt es daran zu kritisieren!
Als die Dinge dann Anfang Mai in Brüssel Spitz auf
Ihre Kritik ist nichts anderes als billige parteipoliti- Knopf standen, war Frau Merkel unvorbereitet und ohne
sche Argumentation, weil man sich in der Sachpolitik Plan. Ihr Auftritt in Brüssel war peinlich und hat
nicht vorwärts bewegen kann. Das ist der wahre Grund. Deutschlands Ansehen in Europa und der Welt nachhal-
tig geschädigt. Das sind die Wahrheiten, über die zu re-
(Beifall bei der SPD)
den ist.
Der sogenannte Herbst der Entscheidungen ist nun (Beifall bei der SPD – Georg Schirmbeck [CDU/
schon fast vorüber. Da ist die Frage erlaubt: Haben wir tat- CSU]: Wo leben Sie eigentlich?)
sächlich eine neue Frau Merkel erlebt? Die Frage lautet ja
nicht, ob wir eine forschere Kanzlerin erleben – heute Da hilft es auch nicht, dass Sie und Ihre Hilfstruppen
Morgen haben wir eine forschere Kanzlerin erlebt –; die seitdem mit großem Einsatz versuchen, Ihr Versagen
Frage lautet vielmehr, ob wir eine bessere Kanzlerin als – das Versagen der Bundeskanzlerin und der Bundes-
im ersten Dreivierteljahr der schwarz-gelben Regie- regierung – in einer entscheidenden Phase für Europa zu
rungskoalition erleben. einer wohlüberlegten und zielführenden Strategie umzu-
deuten. Es ist eine Legende, wenn Ihre Meinungsmacher
Wir haben nach der Bundestagswahl eine Kanzlerin behaupten, es sei vor allem die deutsche Kanzlerin, die
erlebt, die sich mit erkennbarem Desinteresse durch die seit Jahresbeginn beständig für Stabilität in der Euro-
Koalitionsverhandlungen gequält hat. Zone kämpfe.
(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Schmarrn!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau so ist es!)
Dementsprechend sieht der Koalitionsvertrag von Es ist fraglich, ob Ihr Kurs, die Stabilität des Euros
Schwarz-Gelb auch aus. In ihm wird kaum eine Frage, und der Euro-Zone nahezu ausschließlich über stärkere
kaum ein Konflikt gelöst. Das sieht man auch am Ergeb- und automatisierte Sanktionen sichern zu wollen, in die-
nis des Koalitionsausschusses von letzter Woche. Frau ser Form richtig ist. Die größer werdenden ökonomi-
Merkel hatte sich schon zu Beginn in eine strategische schen Unterschiede und Ungleichgewichte in Europa
Falle begeben. Am Anfang stand die Lüge des Wahl- werden von Ihnen nur am Rande behandelt. Kolleginnen
kampfs: Nettoentlastung. Diese Lüge lastet heute noch und Kollegen, wir müssen endlich zu einer stärkeren
auf Ihnen, und zwar zu Recht, meine Damen und Herren. wirtschaftspolitischen Koordinierung in Europa kom-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8083
Joachim Poß
(A) men. Hierzu erwarten wir und vor allem die Partner in Sosehr uns das erschreckt und sosehr wir gemeinsam (C)
Europa endlich weiterführende Vorschläge der deut- an einer Verbesserung der Situation in ganz Europa ar-
schen Kanzlerin; diese kommen aber nicht. Wir brau- beiten, haben wir doch Grund, froh darüber zu sein, dass
chen diese Vorschläge aber dringend, um die Euro-Krise Deutschland besser aus dieser Krise gekommen ist und
– Irland ist ein aktuelles Beispiel – auf Dauer in den wir den Menschen dramatische Einschnitte ersparen
Griff zu bekommen. können. 41 Millionen Erwerbstätige, das ist Beschäfti-
gungsrekord in diesem Land und ein Hinweis darauf,
Frau Merkel als Kanzlerin der Euro-Stabilität zu ins-
dass dieses Land und die Wirtschaft in Deutschland
zenieren, das ist ein Versuch der Geschichtsklitterung
wettbewerbsfähig sind.
und Legendenbildung. In Wahrheit haben Sie, Frau
Merkel, mit Ihrer speziellen Art, die Dinge zu behan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
deln, mit dem Feuer gespielt. Jetzt geht es im gleichen
Stil weiter. Meine Damen und Herren, das ist immer Nur, wenn man wettbewerbsfähig bleiben will, muss
noch die Frau Merkel, wie wir sie kennen; sie hat sich man etwas dafür tun. In der Politik, also im staatlichen
nicht geändert; sie hat nur ihren Stil ein wenig verändert. Bereich, und in der Wirtschaft muss man modernisieren,
verbessern, reformieren, flexibler werden und neue Im-
Ein Wort zu Irland. Ich habe Zitate von Herrn pulse geben. Genau darüber reden wir in diesem Haus.
Westerwelle und anderen dabei, die Irland wegen seines Vonseiten der Opposition kommt aber nichts dazu, kein
wirtschaftspolitischen Weges und des Steuerdumpings konstruktiver Vorschlag. Sie sind die destruktivste Op-
als ein leuchtendes Beispiel für gelungene Wirtschafts- position seit Jahrzehnten in diesem Haus.
und Finanzpolitik gelobt haben. Ich sage ohne Genug-
tuung: Der keltische Tiger ist sehr schnell zum bedürfti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gen Kätzchen mutiert, und zwar wegen der falschen
Deutschland ist auch deswegen spitze, weil die Lin-
Ideologie, zum Beispiel in Steuerfragen. Insofern bin ich
ken, die Roten und die Grünen in Deutschland nicht re-
froh, dass die FDP bis zum letzten Jahr hier in Deutsch-
gieren.
land nicht mitregieren konnte; sonst wären wir vielleicht
dort, wo Irland heute ist. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Genau!)
(Beifall bei der SPD) 2002 ging Spott durch Europa. Deutschland, so hieß es,
Jetzt noch ein Wort zum Inland und zur Innenpolitik. ist der kranke Mann Europas. Zur Hochzeit Ihrer Regie-
Da gab es in der Tat Entscheidungen. Aber allein des- rung hatten wir 5 Millionen Arbeitslose.
halb, weil endlich etwas entschieden wird, wird die (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Aber Sie wissen
Situation für die große Mehrheit der Bürgerinnen und auch, warum!)
(B) (D)
Bürger noch nicht besser; es kommt darauf an, was ent-
schieden und wie gehandelt wird. Das merken die Men- Zur Hochzeit Ihrer Regierung gab es ein Aufweichen des
schen in Deutschland. Auch die sogenannte Mitte will Stabilitätspaktes. Herr Poß, zu dem, was Sie hier erzäh-
zum Beispiel eine sozialverträgliche Konsolidierung. len: Damals, vor sechs Jahren, war von Konjunkturpake-
Auch wir Sozialdemokraten stehen für eine Konsolidie- ten noch nicht die Rede.
rung; wir haben dazu konkrete Konsolidierungsvor-
schläge gemacht. Aber wenn es in unserer Gesellschaft (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nicht sozialverträglich zugeht, dann drohen auf Dauer NEN]: Ich finde das eigentlich super: Das ist
gesellschaftliche Unruhe und Spaltung. Das ist Ihre Poli- doch die Merkel-Rede noch einmal!)
tik dieses Herbstes; sie muss gestoppt werden. Wahr ist, dass Sie damals nicht die politische Kraft hat-
(Anhaltender Beifall bei der SPD) ten, Einsparungen vorzunehmen und die richtige Politik
zu machen. Das war der Grund, warum Sie den Stabili-
tätspakt aufgeweicht haben.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Hans-Peter Friedrich hat jetzt das Wort für die CDU/ (Joachim Poß [SPD]: Der Bundesrat, der alles
CSU-Fraktion. blockiert hat!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei der FDP) Sozialisten neigen dazu, Verträge aufzuweichen, statt
konsequente Politik umzusetzen. Das war der wahre
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Grund dafür.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Damen und Herren! Auch diese Haushaltswoche steht
unter dem Eindruck der Folgen und Nachwirkungen Während Ihrer Regierungszeit wurde Griechenland in
der Finanzkrise. Wir schauen nach Griechenland, wo die Währungsunion aufgenommen.
die Menschen in allen Bereichen – im privaten und im
öffentlichen Sektor – Einschnitte hinnehmen müssen. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wir wis-
Wir schauen nach Portugal und Spanien, wo Sparpro- sen: Die SPD ist an allem schuld! Sie können
gramme – auch von den europäischen Partnern verordnet – aufhören! Es ist angekommen!)
umgesetzt werden müssen. Wir schauen nach Irland, wo – Nein, die SPD ist nicht schuld.
zum Teil verzweifelte junge Leute nach ihrer Perspek-
tive in ihrem Heimatland fragen. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Doch!)
8084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)


(A) Ich weiß, dass Sie damals nichts dagegen machen konn- weiter in Richtung der Einkommen von Normalverdie- (C)
ten. Wenn ein Land auf dem Abstiegsplatz steht, hat es nern verschieben würde.
in Europa nichts mehr zu melden. So war das damals.
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das stimmt
Deswegen ärgert es Sie auch, dass die Sache heute ganz
nicht!)
anders ist, dass Europa heute von Deutschland und einer
deutschen Regierungschefin geführt wird. Das ist die Helmut Schmidt hat in seiner letzten Rede als Kanzler
Wahrheit, und darauf sind wir stolz. – mehr oder weniger mit bitterer Selbsterkenntnis – ge-
sagt: Geholt haben wir das Geld bei den Arbeitnehmern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Was ha-
Die Bundesbank und die OECD bescheinigen, dass
ben Sie gesagt? Können Sie gerade noch mal
wir in Deutschland das Fundament für einen langen Auf-
erläutern, was das war? Das war doch Unsinn!
schwung gelegt haben. Der Export läuft gut, und auch
Können Sie das gerade noch mal erklären?)
darauf können wir als Deutsche stolz sein. Unsere Pro-
dukte werden in der Welt gebraucht, und sie werden in Das ist die einzige Konstante der SPD-Finanzpolitik, die
der Welt gekauft. Deswegen werden Arbeitsplätze ge- ich in den letzten Jahrzehnten erkennen konnte: Sie ha-
schaffen. Dann kommt der Vorsitzende der Linkspartei, ben das Geld immer bei den Arbeitnehmern geholt.
der glorreiche Herr Ernst, der heute wahrscheinlich ir-
gendwo im Land mit dem Porsche unterwegs ist, Voraussetzung dafür, dass Deutschland in Europa an
der Spitze bleibt, ist gesundes Wirtschaften. Dazu ge-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: hört eine solide und gute Haushaltspolitik. Wir haben die
Billig!) Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. Ich bin der
SPD- und der FDP-Fraktion sehr dankbar dafür, dass
und sagt im Tagesspiegel am 11.11. allen Ernstes, in den dies möglich war. Es ist europaweit, vielleicht sogar
Stabilitätspakt müsse eine Exportüberschussbremse auf- weltweit ein Paradigmenwechsel in der Parlamentsge-
genommen werden. schichte, dass ein Parlament sein Budgetrecht ein-
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) schränkt und nach dem Prinzip handelt „Es soll nur so
viel ausgegeben werden, wie eingenommen wird“.
Eine Exportüberschussbremse bedeutet den Abbau von
Arbeitsplätzen in Deutschland. Aber, liebe Freunde, die Schuldenbremse, die wir ge-
meinsam vereinbart haben, muss auch eingehalten wer-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: „Bin- den.
nenkaufkraft stärken“, heißt das!)
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Jawohl!)
(B) Liebe Freunde von den Linken, von welchem Planeten (D)
kommen Sie eigentlich? Gehen Sie dahin bitte wieder Dass die Grünen sie nicht einhalten wollen, war mir
zurück! schon klar, als sie damals gegen die Schuldenbremse

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Weil Ihre Schuldenbremse schlecht
Exporte und die Schaffung von Arbeitsplätzen sind war!)
vielen Tausenden von Langzeitarbeitslosen in diesem
Land in den letzten Monaten zugutegekommen. Sie ha- und damit gegen die Zukunft des Haushaltes in Deutsch-
ben wieder einen Arbeitsplatz gefunden. Dazu hat auch land gestimmt haben.
die Funktionsfähigkeit der Institutionen beigetragen. Die (Jörg van Essen [FDP]: Sie sind halt die Dage-
Jobcenterreform von Frau von der Leyen hat sich auch in gen-Partei!)
dieser Frage positiv ausgewirkt.
Sie haben nicht das Kreuz, Politik für die nächste Ge-
Ihr Gerede von einem unsozialen Haushalt können neration zu machen und den Menschen auch einmal un-
Sie sich wirklich sparen. Ich sage Ihnen, was unsozial angenehme Wahrheiten zu sagen. Das war auf dem Par-
wäre: Unsozial wäre es, eine Massenzuwanderung nach teitag, den die Grünen hinter sich haben, wieder spürbar:
Deutschland zu organisieren und den Menschen, die Weichspül- und Wohlfühlparolen, wo immer man hinge-
Schwierigkeiten haben, hier Arbeit zu finden, das Leben schaut hat, aber keine Substanz an den Stellen, wo es um
noch schwerer zu machen. die Wahrheit geht. Zur Wahrheit gehört eben auch, dass
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) man nicht jedes Jahr Konjunkturpakete verabschieden
kann, sondern dass irgendwann diese Pakete gegenfinan-
Unsozial gegenüber den Menschen, die jeden Tag zur ziert werden müssen. An dieser Stelle sind wir.
Arbeit gehen, wäre es, die Hartz-IV-Sätze immer weiter
anzuheben, bis sich jeder Geringverdiener in diesem (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Land fragt, ob er eigentlich der Dumme ist, weil er arbei- Gucken Sie mal nach oben! Es schneit! – Ge-
tet. genruf des Abg. Norbert Barthle [CDU/CSU]:
Es schneit, und ihr seid gegen die Wintersport-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) olympiade!)
Unsozial, lieber Herr Steinmeier und lieber Herr Poß, Wir müssen aus den Konjunkturpaketen aussteigen und
wäre es, wenn man Ihrer Steuerpolitik folgen würde und zur Normalität in der Finanzpolitik zurückfinden. Das ist
wenn man das Erreichen des Spitzensteuersatzes immer gesundes Wirtschaften.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8085
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten der Kernkraftwerke aufführen. Ich verwahre mich (C)
gegen die Unterstellung, dass ich, wenn ich dieser Ver-
Für ein gesundes Wirtschaften braucht man eine sta- längerung zugestimmt habe und sie für richtig halte, die
bile Währung. Für die Wirtschaft, aber auch für den pri- Interessen der Stromkonzerne vertreten würde.
vaten Sparer ist dies ein zentrales Thema. Rot-Grün hat
nicht nur den Stabilitätspakt, den Theo Waigel damals (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
geschmiedet hat, aufgeweicht und Griechenland in die NEN]: Nicht aller! Nur vier! – Alexander
Euro-Zone gelassen, sondern Rot-Grün hat auch mit gro- Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lob-
ßem Brimborium die Finanzmärkte in Deutschland dere- byist! – Zuruf von der SPD: Aber nur das!)
guliert. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie die Hedge-
fonds zugelassen haben. Ich weise diese Unterstellung zurück. Wann immer Sie
nicht recht bekommen, wann immer Menschen andere
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Auffassungen haben, fangen Sie an, sie zu diskreditieren
NEN]: Wie viele gibt es denn hier? Wie viele und zu diskriminieren.
gibt es woanders?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Jetzt geht es darum, dass wieder Vertrauen in unsere
Währung aufgebaut wird. Wie baut man dieses Ver- Ich sage Ihnen: Die Interessen der Stromkonzerne
trauen auf? Man baut es erstens dadurch auf, dass man sind mir scheißegal.
strukturschwächeren Ländern Sanierungsprogramme (Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
verordnet und ihnen sagt: Ihr müsst auf das Stabilitäts- DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜND-
niveau aller anderen Länder in Europa kommen. – Da- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Satz nehmen Sie
durch baut man Vertrauen in eine Währung auf, die von noch zurück!)
diesen Volkswirtschaften abhängt.
Was mir nicht egal ist, sind die Arbeitsplätze in der In-
Zweitens baut man Vertrauen dadurch auf, dass man dustrie im energieintensiven Bereich, da, wo die Men-
einen Euro-Rettungsschirm zur Verfügung stellt, der den schen für dieses Land Werte schaffen. Die Arbeitsplätze
Menschen zeigt: Wir geben euch Hilfe, und zwar Hilfe sind mir nicht egal.
zur Selbsthilfe. Wir haben nicht vor, eure Ausgaben zu
finanzieren, aber wir ermöglichen Stabilität in eurem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Land, damit ihr euch selber helfen könnt.
Aber offensichtlich sind Ihnen von den Grünen diese
Wir schaffen Vertrauen schließlich dadurch, dass wir Arbeitsplätze völlig egal. Denn Ihnen ist Ideologie wich-
Kontrollmechanismen einrichten, die dafür sorgen, dass tiger als eine gesunde Grundlage der Wirtschaft in die-
(B) die Stabilitätskriterien eingehalten werden. sem Land. Schämen Sie sich dafür! (D)
Unser Ja zum Euro ist klar, aber auch unser Nein zur (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Transferunion. Jedes Land in der Europäischen Union NEN]: Wir wollen mehr Arbeitsplätze! Wir
muss seine Hausaufgaben machen. wollen 300 000, nicht 30 000! Sie können
nicht rechnen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gesundes Wirtschaften heißt aber auch, für eine gute – Frau Künast, ich will Ihnen mal sagen, wie Sie hier
und sichere Energieversorgung zu sorgen. Im Mittel- Ideologie betreiben. Sie haben an die lieben Freundinnen
punkt unserer Energiepolitik steht der Ausbau der erneu- und Freunde auf dem Parteitag einen Aufruf geschrie-
erbaren Energien. Die erneuerbaren Energien stehen des- ben, die Atompolitik mit allen Mitteln zu bekämpfen.
wegen im Mittelpunkt, weil wir wollen, dass in diesem Was meinen Sie denn damit, „mit allen Mitteln“? Könn-
Bereich die Wertschöpfung dezentral, also auch in der ten Sie endlich mal zur Kenntnis nehmen, dass die
Fläche, erfolgt, sodass wir eine dezentrale Stromproduk- Mehrheit in diesem Haus, gewählt von der Mehrheit der
tion und Stromversorgung haben. deutschen Bevölkerung, eine Entscheidung getroffen
hat? Sie können in diesem Haus mit Mitteln, die Sie als
Wenn man eine dezentrale Stromproduktion betreibt, Parlamentarier haben, selbstverständlich dagegen sein.
dann gehört dazu, dass man Leitungen baut, um den
Strom dorthin zu bringen, wo man ihn braucht. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Auch als Bürgerin!)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ach nee?) Aber erklären Sie mir mal, was „mit allen Mitteln“ be-
deuten soll!
Vor dieser Realität drücken Sie sich. Sie von den Grünen
glauben, dass es ausreicht, ein Einspeisegesetz, das Er- (Zuruf von der CDU/CSU): Rechtsbruch?)
neuerbare-Energien-Gesetz, zulasten der Stromverbrau- Da schaue ich nach Gorleben, und es graut mir, Frau
cher zu machen. Aber das reicht nicht aus, sondern Sie Künast, vor Ihren Mitteln.
müssen auch die entsprechende politische Umsetzung all
dieser Vorschläge auf den Weg bringen. Dazu haben Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und hatten Sie nicht die Kraft.
Man braucht bei Ihrem Parteitag nur das Kleinge-
Jetzt sage ich Ihnen etwas zu dem Theater, das Sie druckte zu lesen, alles das, was da so wolkig daher-
hier und an anderer Stelle zur Verlängerung der Laufzei- kommt in tollen Beschlüssen, nicht wahr? Da ist die
8086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)


(A) Rede von Gebäudesanierung. Ja, wir sind auch für Ge- In Niederbayern soll ein Pumpspeicherwerk für die (C)
bäudesanierung. Wir unterstützen sie aktiv und massiv. Speicherung regenerativer Energie gebaut werden, damit
man sie dann abrufen kann, wenn man sie braucht. Wer
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist dagegen und selbstverständlich wie immer an der
NEN]: Sie kürzen sie ja! – Alexander Bonde Spitze der Bewegung? Die Grünen!
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum kür-
zen Sie dann?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber bei den Grünen heißt das Nutzungspflicht für er- Wenn Sie heute in Niederbayern in die Zeitung
schauen, dann lesen Sie dort, dass es eine Initiative ge-
neuerbare Energien in Bestandsgebäuden. Das heißt, je-
gen den Digitalfunk der Feuerwehr gibt. Wer ist an der
der muss zu einem bestimmten Anteil erneuerbare Ener-
Spitze der Bewegung?
gien für sein Häuschen nutzen.
(Zurufe von der CDU/CSU: Die Grünen!)
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist ja wie in Baden-Württemberg! – Natürlich die Grünen!
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das hat doch Frau Gönner auch beschlossen!)
Sie bekennen sich zur Schiene; sie wollen eine Verla-
Außerdem sagen Sie, dass Sie Obergrenzen für den gerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene.
Energieverbrauch einführen wollen. Aber das ist wieder eines dieser Bekenntnisse, denen
keine politischen Taten folgen. Denn sie sagen Nein zur
Ich sage Ihnen mal, was das im Klartext heißt, damit Fehmarnbelt-Querung nach Dänemark, und Sie sagen
die Menschen im Land verstehen, was beide Forderun- Nein zur Y-Trasse von Hannover nach Bremen und
gen – Nutzungspflicht für erneuerbare Energien in Be- Hamburg.
standsgebäuden und Obergrenzen – bedeuten.
Sie sagen überall da, wo sie gefragt sind, Nein. Sie sa-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE gen Nein zu Olympia 2018. Sie sagen Nein; sie sind da-
GRÜNEN]: Baden-Württemberg!) gegen. Sie organisieren den Abstieg dieses Landes. Da-
gegen allerdings haben wir etwas. Deutschland kann
Das bedeutet im Klartext Zwangssanierung von Gebäu- froh sein, dass eine christlich-liberale Regierung in die-
den zulasten der Häuschenbesitzer, Zwangssanierung sem Lande regiert.
auf deren Kosten. Das bedeutet das, was Sie beschlossen
haben. Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
(B) der FDP) (D)
Ich nenne das Enteignung. Wenn Sie einen Menschen
zwingen, sein Häuschen auf seine Kosten für 150 000 Euro Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zur Wärmedämmung zu sanieren, obwohl es nur Petra Merkel hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
100 000 Euro wert ist, dann kann er es nur abreißen. Was
Sie auf Ihrem Parteitag beschlossen haben, ist Enteig- (Beifall bei der SPD)
nung.
Petra Merkel (Berlin) (SPD):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte heute zwei
NEN) Bereiche des Einzelplans 04 erwähnen, nicht nur den
Die Grünen sind auf dem Weg zur Barrikadenrepu- Kulturteil – dazu komme ich gleich –, sondern auch den
blik, ohne Frage. Bereich Integration; denn auch dieser findet sich im
Einzelplan 04. Das ist ein kleiner Etat. Integration ist si-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- cherlich – da sind wir uns alle einig – eine der zentralen
NEN]: Was ist denn mit Ihnen los?) Herausforderungen in unserer Gesellschaft, und zwar
nicht nur bei den Reden am Sonntag. Bei jeder Gelegen-
Die grüne Botschaft lautet: dagegen sein. Die grüne Zu- heit, ob im nationalen Integrationsplan oder im Migra-
kunft ist Stillstand. Sie haben auf Ihrem Parteitag den tionsbericht der Bundesregierung, werden kulturelle
Ausbau von Stromleitungen beschlossen. Wenn ich nach Bildung und Vermittlung, Kulturaustausch, bürger-
Thüringen schaue, dann sehe ich die Fraktionsvorsit- schaftliches Engagement und soziale Teilhabe als
zende der Grünen an der Spitze der Bewegung gegen Schlüsselfaktoren für Integration hervorgehoben. Dazu
den Bau einer 380-kV-Leitung in Thüringen. Das ist die gehört natürlich auch der Erwerb der deutschen Sprache.
Wahrheit. Wenn es konkret wird, sind Sie dagegen.
Die Ernsthaftigkeit der Integrationspolitik ist in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Haushaltsplänen abzulesen. Abgesehen von der Tatsa-
che, dass viele im nationalen Integrationsplan angekün-
In Datteln in Nordrhein-Westfalen soll ein neues Koh- digte Maßnahmen bis heute nicht umgesetzt, geschweige
lekraftwerk gebaut werden, sauberer als die anderen, die denn finanziell ausreichend ausgestattet sind, werden
da bisher stehen, und Sie hintertreiben in der Minder- wichtige Programme und Förderungen des Bundes deut-
heitsregierung, der Sie angehören, den Bau dieses Kraft- lich gekürzt. Beim Beauftragten der Bundesregierung
werks mit allen Mitteln. für Kultur und Medien gibt es zum Beispiel den Titel
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8087
Petra Merkel (Berlin)
(A) „Kulturelle Vermittlung“, für den statt 2 Millionen Euro Seite viele Kommunen, die sich in einer schwierigen (C)
wie in diesem Jahr nur noch 1,2 Millionen Euro einge- finanziellen Situation befinden. Wir begrüßen, dass hier-
stellt werden. Dazu sage ich: Na gut, da kann man wohl- für 2 Millionen Euro mehr in den Haushalt eingestellt
wollend sein. Das ist ein frisches Programm, das in die- worden sind. Ich finde, das ist gut gelaufen.
sem Jahr gestartet ist. Es befindet sich also noch in den
Startlöchern. Aber die Mittel wurden abgesenkt. Meine Fraktion hat in der Bereinigungssitzung des
Haushaltsausschusses sowohl der Erhöhung der Mittel
Beim Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt- für die Bundeskulturstiftung als auch der Aufstockung
entwicklung wurde – darüber haben wir bereits disku- der Mittel für den Denkmalschutz zugestimmt. 15 Mil-
tiert; das wird auch Thema bleiben – das Programm „So- lionen Euro mehr für den Denkmalschutz ist gut ange-
ziale Stadt“ gestutzt. Die Mittel wurden von immerhin legtes Geld. Die geplanten massiven Kürzungen im Be-
95 Millionen Euro auf 28,5 Millionen Euro gekürzt. reich des Denkmalschutzes wären ein gravierender
Künftig wird die Verwendung der Mittel auch noch auf Fehler gewesen. Dadurch wäre nicht nur die Erhaltung
investive Maßnahmen begrenzt. Viele Projekte zur Inte- der kulturellen Substanz gefährdet, sondern dadurch wä-
gration und im Quartiersmanagement in den Ballungs- ren auch Arbeitsplätze und Investitionen riskiert worden.
räumen sind nun wirklich gefährdet.
In der Großen Koalition haben wir ein Sonderpro-
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Investitions- gramm aufgelegt, das sehr erfolgreich war, den kleinen
haushalt, nicht Sozialetat!) national bedeutsamen Denkmälern zugutekam und auf
unglaublich große Resonanz stieß. Die Investitionen des
Sehen wir im Haushalt des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend nach! Die Ju- Bundes wurden durch die Beteiligung der Länder und
gendfreiwilligendienste sind massiv von Kürzungen be- Kommunen sowie Dritter multipliziert. Wie gut, dass
troffen. Im Haushalt des Bundesministeriums des Innern dieses Programm – seine Bedingungen werden noch
könnten die Integrationskurse durchaus erheblich mehr festgelegt – fortgesetzt wird! Es freut mich, dass es ge-
Mittel vertragen, damit Wartezeiten auf Deutschkurse lungen ist, den Denkmalschutz mit 15 Millionen Euro
von mehreren Monaten vermieden werden. zusätzlich zu stärken. Auch dem haben wir zugestimmt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ausdrücklich zu begrüßen sind außerdem die vom
der LINKEN) Haushaltsausschuss bewilligten Mittel zur Bewältigung
der Hochwasserschäden vom August dieses Jahres, so-
Integrationspolitik, die ernst gemeint ist, sieht anders wohl für den Fürst-Pückler-Park Bad Muskau als auch
aus. für das Kloster St. Marienthal in Ostritz. Darin waren
sich alle Fraktionen einig, nachdem wir dieses Thema in
Gerade durch die Förderung konkreter, auf Integra- den Berichterstattergesprächen erwähnt haben. 5 Millio- (D)
(B) tion und Teilhabe ausgerichteter Angebote werden Men-
nen Euro als Soforthilfe sind super.
schen aller Altersgruppen und Herkunft häufig erst in die
Lage versetzt, an unserer Gesellschaft teilzuhaben und (Zustimmung des Abg. Joachim Poß [SPD])
sich einzubringen. Frau Staatsministerin Böhmer, ich
schätze Sie als engagierte Politikerin. Was sagen Sie ei- Ich komme zu Tarabya. Viele Kolleginnen und Kol-
gentlich zu dem, was in den Haushalten der anderen legen aus dem Unterausschuss Auswärtige Kultur- und
Ministerien passiert? Integrationspläne und Integrations- Bildungspolitik, dem Auswärtigen Ausschuss und dem
gipfel reichen nicht aus, wenn notwendige aktive Inte- Ausschuss für Kultur und Medien haben sich dafür ein-
grationsprogramme so gekürzt werden, wie diese gesetzt. Tarabya ist ein wunderschönes Projekt, das von
schwarz-gelbe Regierung es tut. Sie sind eher eine Frau allen Seiten große Unterstützung erfahren hat,
der leisen Töne. Aber eines ist jetzt dringend erforder- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
lich: Mischen Sie sich bitte hörbarer ein! Unsere Unter- GRÜNEN]: Nicht von der FDP!)
stützung haben Sie.
wenn auch von dem einen oder anderen Kollegen – ich
(Beifall bei der SPD) sehe gerade Herrn Koppelin an – vielleicht nicht so sehr.
Ich komme zur Kultur. Waren Sie es, Herr Staats- Immerhin gibt es einen gültigen Beschluss des Deut-
minister Neumann, oder waren es Ihre Kolleginnen und schen Bundestages. Daran muss sich das Ministerium
Kollegen aus den Fraktionen, die in der Bereinigungssit- halten.
zung des Haushaltsausschusses noch eine Schippe drauf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
gelegt haben? Wie dem auch sei, ich freue mich darüber, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
auch über die Fraktionsgrenzen hinweg. Dass insgesamt
27 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt Alle Fraktionen haben diesem Vorschlag zugestimmt.
wurden, ist ein feiner Erfolg für die Kultur. Die Mittel für die bauliche Sanierung der zur Nutzung
der Künstlerakademie festgelegten Häuser sind bereitge-
Besonders freut mich, dass offensichtlich auch unsere stellt worden. Wir werden darauf achten, dass diese Mit-
Anregungen aufgenommen worden sind. Es wurden Pro- tel wirklich für die festgelegten Häuser verwendet und
jekte und Titel verstärkt, die der SPD sehr am Herzen für die Umsetzung des Konzepts der Künstlerakademie
liegen. So war zum Beispiel die Aufstockung der Mittel genutzt werden.
für die Bundeskulturstiftung eine zentrale Forderung
meiner Fraktion. Die Kulturstiftung des Bundes fördert (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
auf der einen Seite viele wichtige, national bedeutsame KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
Projekte in der Fläche. Dies entlastet auf der anderen NEN)
8088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Petra Merkel (Berlin)


(A) Anfang September dieses Jahres hatte das Auswärtige Herzliche Gratulation zu diesem medialen Ritterschlag, (C)
Amt ein verändertes Nutzungskonzept für das Gelände Herr Staatsminister!
Tarabya in Istanbul vorgelegt, das allerdings nicht getra-
gen wurde. Es ist erstaunlich, welch ein Kraftakt für eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
gute Idee aufgewandt werden muss. Manchmal habe ich der FDP)
den Eindruck, dass Verwaltungsgerangel stärker ist als
Kulturpolitik in Deutschland ist Kernkompetenz im
ein Beschluss des Deutschen Bundestages. Aber wir ge-
Bundeskanzleramt. Sie ist ein zentrales Regierungsanlie-
ben nicht auf.
gen. Sie dokumentiert die ideellen Werte, die es in unse-
Im kommenden Haushaltsjahr muss nachgelegt wer- rer Gesellschaft zu fördern gilt: Toleranz, Verständnis,
den. Für den Betrieb der Künstlerakademie Tarabya ste- Kritikfähigkeit und Mitverantwortung. Sie ist sinnerfül-
hen nicht ausreichend Mittel zur Verfügung, für die Sti- lend, identitätsstiftend und trägt zur Lebensfreude bei.
pendien ebenfalls nicht. Insofern sage ich Ihnen, Herr Deshalb ist ihre Förderung und Finanzierung gerechtfer-
Außenminister, auch wenn Sie im Augenblick nicht in tigt.
diesem Raum sind: Hier können wir Ihre Unterstützung
gebrauchen. Es wäre angebracht, dass auch Sie sich für Die Kulturpolitik des Bundes geht mit gutem Beispiel
dieses Projekt starkmachen. voran. In den fünf Neumann-Jahren ist der Kulturetat
von 915 Millionen Euro auf 1,16 Milliarden Euro ange-
Ich danke den Staatsministern, die für diesen Etat zu- stiegen. Ich finde, das ist ein großartiger Erfolg.
ständig sind, den Mitarbeitern der Verwaltung für ihre
Unterstützung, den Kolleginnen und Kollegen für die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Diskussion und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. der FDP)
Schönen Dank. Das Filmland Deutschland hat etwas davon gehabt:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mit dem Filmförderfonds und hochklassigen Filmschaf-
der LINKEN) fenden befinden wir uns jetzt in der europäischen Spit-
zenklasse.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Musikland Deutschland hat etwas davon gehabt:
Wolfgang Börnsen hat das Wort für die CDU/CSU- Mit der Initiative Musik wurden unabhängig von der
Fraktion. Klassik Hunderte neue Projekte im Bereich der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 50 000 Pop- und Jazzgruppen angestoßen.

(B) Das Medienland Deutschland hat etwas davon ge- (D)


Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): habt: Mit der klugen Initiative „Ein Netz für Kinder“
Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Petra Merkel, wird erstmalig in dieser Form bei Heranwachsenden das
ich schätze Kollegen, auch und gerade aus der Opposi- Demokratieverständnis gefördert.
tion, die fairerweise auch kulturpolitische Erfolge öffent-
lich anerkennen. Das ist nicht selbstverständlich. Sie Auch im sechsten Neumann-Jahr wird an der Kultur
sind eine rühmliche Ausnahme. nicht gekürzt. Damit kann die Digitalisierung der Kinos
verwirklicht werden. Das bedeutet nicht nur erstklassige
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kinos in den Metropolen, sondern auch in der Fläche.
der FDP – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Da Die mittelständische Kinowirtschaft wird gestärkt. Da-
sind wir uns doch immer einig, Herr Börnsen!) mit können die Veranstalter des 500-jährigen Reforma-
Gestern vor zehn Jahren berichtete die Berliner Zei- tionsjubiläums 2017 sicher sein: Das Martin-Luther-
tung: Jahr kann als Ereignis von Weltrang gewürdigt werden.
Experten gehen davon aus, dass 5 Prozent der weltweit
Kultur-Staatsminister Naumann verlässt das rot- 400 Millionen Protestanten 2017 das Mutterland der
grüne Kabinett. Protestanten besuchen werden. Das ist eine kulturpoliti-
Er geht lieber zur Wochenzeitung Die Zeit. sche und kulturhistorische Herausforderung.
Fast auf den Tag genau heute vor fünf Jahren hat Kul- Bereits jetzt ist unser Land nach Frankreich auch we-
turstaatsminister Neumann sein Amt angetreten. Von gen seines Kulturreichtums das zweitbeliebteste Reise-
ihm ist nicht bekannt, dass er aussteigen will. Im Gegen- land in Europa. Gut 90 Milliarden Euro werden durch
teil, ihm macht diese Arbeit Freude: weil er Erfolg hat, den Kulturtourismus eingenommen, und fast 2 Millionen
weil er sich der Unterstützung der Bundeskanzlerin si- Menschen sichert er den Arbeitsplatz. Folgerichtig wird
cher sein kann und weil er eine breite gesellschaftliche im Kulturetat 2011 auch der Denkmalschutz weiter ge-
Zustimmung erfährt. stärkt. 550 Kulturdenkmäler von nationaler Bedeutung
wurden allein durch diese staatliche Förderung für uns
Die Süddeutsche Zeitung zog vor sechs Tagen fol-
alle gesichert. Tausende weitere kommen hinzu, ange-
gende Bilanz:
stoßen und finanziert durch großartige Bürger und Pri-
Bernd Neumann, der Kulturstaatsminister des Bun- vatinitiativen. Ihnen und den vielen Millionen Men-
des, ist im Kabinett Merkel ein fester Erfolg … schen, die unserer Gesellschaft im kulturellen Ehrenamt
Keiner der Vorgänger hat mit solchem Erfolg die verantwortungsbewusst Wissen und Wärme geben, gilt
Interessen seiner Klientel gewahrt. unser Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8089
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
(A) Durch die Neumann-Jahre wurde rückblickend auch Das ist auch gar nicht so ungewöhnlich. Auch wir tun (C)
der Kultur- und Kreativwirtschaft bei uns zum Durch- das immer dann, wenn es angebracht ist.
bruch verholfen. Diese Boombranche stellt bei 63 Mil-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Machen Sie mal!
liarden Euro Wertschöpfung bereits jetzt über 1 Million
Es ist angebracht!)
Arbeitsplätze. Die Neumann-Jahre haben den großen
Museen, gerade auch hier in Berlin, den Gedenkstätten Der Kulturhaushalt 2011, der uns heute ungekürzt
und den Diktaturmahnmalen Profil und Perspektive ge- und sogar um 27 Millionen Euro erhöht vorgelegt wird,
geben. verdient unseren Respekt, auch wenn wir dabei in Rech-
nung stellen, dass von den zusätzlich bewilligten 27 Mil-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
lionen Euro über 15 Millionen Euro für den Denkmal-
NEN]: Neumann glaubt das selber nicht! Er ist
schutz vorgesehen sind, die wiederum im Haushalt des
ganz erstaunt!)
Bauministeriums gestrichen wurden.
Auch ein Beweis für ernsthafte Kulturförderung ist (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aha!)
die Beibehaltung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes
für Kulturgüter. Dafür treten wir auch weiterhin ein. Das ist schon ein kleiner Etikettenschwindel. Es bleibt
aber verdienstvoll, dass auf diese Weise der Schutz der
(Beifall der Abg. Agnes Krumwiede [BÜND- Kultur in den verarmten Kommunen betrieben wird, den
NIS 90/DIE GRÜNEN]) ein anderes Ministerium kalt zur Disposition gestellt hat.
Was Bernd Neumann für 2011 vorausblickend ange- (Beifall bei der LINKEN)
kündigt hat, findet die Unterstützung der gesamten
Union: die bundesweite Einrichtung von Zeitzeugenbü- Die massiven Kürzungen in der Städtebauförderung
ros, die Beibehaltung der Stasiüberprüfung bis 2019, die und beim Denkmalschutz sind schwerwiegende Fehlent-
Schaffung eines Denkmals für Freiheit und Einheit, um scheidungen. Darauf haben wir immer wieder hingewie-
auch an die glücklichen Epochen unserer Geschichte zu sen. Diese Fehlentscheidungen werden durch die 15 Mil-
erinnern, und die Verwirklichung der Stiftung „Flucht, lionen Euro im Kulturhaushalt natürlich nur zu einem
Vertreibung, Versöhnung“, die durch die anerkennens- Teil revidiert, womit wir beim eigentlichen Problem die-
werte polnische Beteiligung ihre Arbeit jetzt endlich auf- ser Debatte sind: Der Abstand zwischen dem, was der
nehmen kann. Auch die Fortentwicklung der Künstlerso- Bund kulturell ermöglicht, und dem, was die Kommunen
zialkasse gehört dazu. Deren Stabilisierung war der erste für die Kultur leisten können, wird immer größer. Die
Schritt, weitere müssen folgen. Linksfraktion ist nach wie vor der Auffassung, dass der
Bund finanzpolitisch umsteuern und die kulturelle Infra-
Schließen möchte ich mit einem Appell und einem struktur in unseren großen und kleinen Städten, auf dem
(B) Dank. (D)
Land und in den Armutsvierteln retten muss,
Mein Appell gilt der Opposition. Sagen Sie nicht, wie (Beifall bei der LINKEN)
angekündigt, Nein zu mehr Geld für die Kultur, und ge-
ben Sie nicht die parlamentarische Gemeinsamkeit in der und zwar aus nationaler Verantwortung und auch aus
Kulturpolitik auf. Damit würden Sie der Kulturpolitik Verantwortung als Verursacher; denn die Misere der
und den Kulturschaffenden unseres Landes schaden. Kommunen ist eine Folge der absoluten Misswirtschaft
der Regierung, und das wissen Sie hier auch.
Mein Dank gilt den Initiatoren und Machern der
Europäischen Kulturhauptstadt 2010, der Stadt Essen (Beifall bei der LINKEN)
und der gesamten Ruhrregion. Sie haben unser Kultur- In diesem Zusammenhang begrüßen wir, dass die
land würdig, vital, locker und wunderbar ideenreich re- Kulturstiftung des Bundes zusätzliche 2 Millionen
präsentiert. Euro erhält. Wir setzen uns seit Jahren für diese Einrich-
(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) tung ein, weil sie nach unserer Ansicht eine Schlüssel-
rolle im Verhältnis zwischen Bund, Ländern und Kom-
Herzlichen Dank von uns allen. munen spielen sollte. Mit der Förderung von national
bedeutsamen Projekten überall im Land werden die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kommunen entlastet. Wichtig dabei ist aber, dass die
Länder diese Modellprogramme dann auch übernehmen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und fortsetzen.
Das Wort hat Dr. Lukrezia Jochimsen für die Fraktion
Wir brauchen einen kooperativen Kulturföderalis-
Die Linke.
mus. Ohne ihn wird die Kulturkrise, die Bedrohung der
(Beifall bei der LINKEN) Theater, der Bibliotheken, der Museen und der soziokul-
turellen Zentren, in den nächsten Jahren in den Ländern
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): und den Kommunen nicht zu bewältigen sein.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Natürlich kann die Opposition auch loben, lieber Herr Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Kollege Börnsen. NEN])
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Also machen Sie Wir brauchen mehr nationale Verantwortung für diese
mal!) Kultur. Diese kulturelle Vielfalt kann nur von Bund,
8090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) Ländern und Kommunen gemeinsam erhalten werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
Dafür müssen wir endlich auch die gesetzlichen Grund- der CDU/CSU)
lagen schaffen. Wir fordern seit Jahren beharrlich die
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Be-
Verankerung des Staatsziels Kultur und eine Gemein-
reinigungssitzung des Haushaltsausschusses ist es gelun-
schaftsaufgabe Kultur im Grundgesetz.
gen, der Kultur einen Aufwuchs von 27 Millionen Euro
(Beifall bei der LINKEN) zu sichern. Dafür ein herzlicher Dank an die Haushalts-
politiker.
Das muss jetzt endlich geschehen – in diesen Zeiten der
Not. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Und noch etwas muss geschehen in diesen Zeiten der
Not: Wir müssen genau hinsehen, wofür die hart um- Als sächsischer Abgeordneter bin ich natürlich beson-
kämpften Mittel ausgegeben werden. Da kann ich Ihnen, ders stolz darauf, dass wir den hochwassergeschädigten
Herr Staatsminister, den Vorwurf einfach nicht ersparen, Kultureinrichtungen in Sachsen auch 2011 unter die
dass Sie Millionen für die Bundesstiftung „Flucht, Ver- Arme greifen können. So erhalten der Fürst-Pückler-
treibung, Versöhnung“ ausgeben. Mit einem Stiftungsrat Park in Bad Muskau und das Kloster St. Marienthal in
ohne Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ostritz 5 Millionen Euro zur Beseitigung gravierender
mit einem Wissenschaftlichen Beirat ohne Vertreter der Flutschäden.
Roma und Sinti widerspricht diese Institution eindeutig (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
ihrem Stiftungszweck,
Auch die Finanzausstattung der Kulturstiftung des
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Bundes ist durch die Bereinigungssitzung um 2 Millio-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE nen Euro auf 37 Millionen Euro gestiegen. Dies ermög-
GRÜNEN) licht, zahlreiche laufende Projekte weiter zu fördern und
den wir hier in diesem Haus verabschiedet haben. Ich neue, innovative Projekte in die Förderung aufzuneh-
frage: Wie lange wollen Sie dieses Gebilde – als Bun- men. So werden gerade Kommunen in die Lage versetzt,
desstiftung wohlgemerkt – der Öffentlichkeit gegenüber ambitionierte Projekte umzusetzen, die für sie allein so
vertreten und finanzieren? 2,5 Millionen Euro im Jahr nicht durchführbar wären.
2011 – spätestens da endet das Lob für den Kulturhaus- Auch die zusätzlichen 15 Millionen Euro, die der
halt; denn mit diesen Millionen ließe sich wahrlich Bes- Substanzerhaltung und Restaurierung von unbewegli-
seres für die Kultur unseres Landes bewirken. chen Kulturdenkmälern dienen, kommen Kommunen
Ich danke Ihnen. und vor allem den Ländern zugute.
(B) (D)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Weitere 5 Millionen stehen für die Förderung kultu-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE reller Einrichtungen zur Verfügung, wie beispielsweise
GRÜNEN) für den Bundesverband Freier Theater, worauf wir Libe-
rale besonders stolz sind.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Das Wort hat Reiner Deutschmann für die FDP-Frak- der CDU/CSU)
tion.
Auch mit dem Kulturetat des Bundeswirtschaftsminis-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten teriums sind wir auf einem guten Weg. Die Kultur- und
der CDU/CSU) Kreativwirtschaft wird trotz des Auslaufens der Sonder-
mittel aus dem Konjunkturprogramm mit 3,5 Millionen
Reiner Deutschmann (FDP): Euro gefördert. Erst vorgestern wurde das achte Regio-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten nalbüro der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft in
Kolleginnen und Kollegen! Stuttgart eröffnet. Somit steht inzwischen ein bundeswei-
tes Angebot zur Verfügung.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Aber jetzt! Gas geben!)
CDU/CSU)
Der Haushalt 2011 steht ganz im Zeichen der Haushalts-
Zu guter Letzt möchte ich noch einmal die Haushälter
konsolidierung. Das erfordert auch vom Bund, dass er
positiv nennen; denn durch sie ist es gelungen, auch im
Maßnahmen ergreift, um die Staatsfinanzen endlich wie-
Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik ei-
der auf solide Füße zu stellen. Dies erfüllt die christlich-
nen Aufwuchs zu erzielen. Somit kann die hervorra-
liberale Koalition und setzt dabei klare Prioritäten.
gende Arbeit des Goethe-Instituts im Bildungs- und Kul-
Deshalb ist es besonders zu begrüßen, dass sich die turbereich im Ausland weiter fortgesetzt werden.
Koalition deutlich dazu bekennt, die Bereiche Bildung,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Forschung und eben auch Kultur aus dem Sparkorridor
Volker Kauder [CDU/CSU]: Koppelin! Ja-
herauszunehmen; denn in diesen Bereichen entstehen die
wohl!)
Ideen, die unser Land so erfolgreich machen. Auch des-
halb begreift sich Deutschland zu Recht als Kulturna- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir setzen
tion. um, was wir versprochen haben. Dieser Haushalt ist ein
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8091
Reiner Deutschmann
(A) klares positives Signal für die Kultur. Trotz genereller Beruf. Ab April 2011 ist die Weiterführung der Stiftung (C)
Einsparungen räumt die christlich-liberale Koalition der nicht mehr gesichert. Unseren Haushaltsantrag zur För-
Kultur höchste Priorität ein. derung von TANZ-Transition hat die Regierung abge-
lehnt.
Danke.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) NEN]: Unerhört!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich bin fassungslos, dass Sie bei einem Etat von
Die nächste Rednerin ist Agnes Krumwiede für 1 Milliarde Euro keine 50 000 Euro für den Tanz übrig
Bündnis 90/Die Grünen. haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und der SPD)
Kollegen! Die Bereinigungssitzung hat dem Kulturetat Unsere Tanzkultur ist von genauso großer gesamtstaatli-
für 2011 einige Überraschungseier beschert: 5 Millionen cher Bedeutung wie der Wagner-Kult. Rein aus Prinzip
Euro mehr zur Verstärkung kultureller Förderung, und ohne Empathie für die Kreativen Vorschläge der Op-
2 Millionen Euro zusätzlich für die Bundeskulturstif- position abzuschmettern, dient nicht den Künstlerinnen
tung. Überraschungseier haben nur leider einen Nach- und Künstlern in Deutschland und auch nicht unserer de-
teil: Man weiß nicht genau, was drin ist. Mittel für die mokratischen Kultur.
Kultur zu organisieren, ist das eine. Genauso wichtig
wäre aber, Transparenz darüber zu schaffen, was mit die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sen Geldern passieren soll. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Immerhin wollen Sie unseren Antrag umsetzen, den
Der Kulturhaushalt bleibt nebulös, was die gezielte Bundesverband Freier Theater mit 100 000 Euro zu un-
Unterstützung von Künstlern und die kulturelle Förde- terstützen. Auch die FDP ist stolz auf diesen Antrag der
rung betrifft. Konkret dagegen sind die Geschenke an Grünen.
Herrn Neumanns Klientel, an die deutschen Vertriebe-
nenverbände oder an seinen Wahlkreis Bremen. Mit der (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜND-
Begründung „gesamtstaatliche Bedeutung“ bekommt die NIS 90/DIE GRÜNEN])
(B) Bremer Kunsthalle 5 Millionen Euro für einen Anbau. Vielleicht steckt hinter den 2 Millionen Euro für die Bun- (D)
Das Kabinett darf auch 2011 wieder als Finanzierungs-
partner über den roten Teppich der Bayreuther Festspiele deskulturstiftung auch unser Vorschlag, ein Förderpro-
schreiten. Im nächsten Jahr erhält Bayreuth 2,3 Millio- gramm für Jugendkultur aufzulegen. Unser Konzept
nen Euro vom Bund. möchte Workshops mit pädagogisch erfahrenen Künst-
lern an Bildungseinrichtungen fördern. Denn Bildungs-
(Beifall des Abg. Dr. Hans-Peter Friedrich gutscheine ohne Anreize sind sinnlos. Ein Kind, das den
[Hof] [CDU/CSU] – Volker Kauder [CDU/ Wert von Musik nie vermittelt bekommen hat, wird sich
CSU]: Ist doch richtig!) wohl kaum für Musikschulgutscheine begeistern können.
Deshalb sind mehr kostenlose und kreative Angebote an
Wir Grüne sind keine Antiopernpartei; aber es tut uns
den Schulen und Jugendzentren notwendig.
leid um all die Festspiele, Bühnen und Museen, die von
Kürzungen bedroht sind und leider nicht das Privileg ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
samtstaatlicher Bedeutung zugesprochen bekommen. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Im Rahmen des Streichkonzerts der Bundesregierung
innerhalb der Städtebauförderung wurde das Programm
Warum werden eigentlich immer die Kulturevents mit
„Soziale Stadt“ zusammengeschrumpft. Die Projektför-
Bundesmitteln vergoldet, die sowieso schon glänzen?
derung wurde gestrichen. Unser Konzept zur Stärkung
Zwei Drittel der Theater- und Tanzschaffenden in
von Jugendkultur wäre eine geeignete Lösung, trotz-
Deutschland sind arm. Sie leben unterhalb der Armuts-
dem kulturelle und integrative Projektförderung in be-
grenze.
nachteiligten Stadtbezirken zu ermöglichen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Da hat sie recht!)
Kultur hat ihren eigenen Wert, unabhängig vom wirt-
Auf unsere Anregung hin hat sich der Kulturausschuss schaftlichen oder gesellschaftlichen Nutzen. Die aktive
zum ersten Mal in seiner Geschichte ausführlich mit dem Teilnahme an Kunst kann helfen, Defizite unserer Leis-
Thema Tanz beschäftigt. Wegen der enormen körperli- tungs- und Stressgesellschaft zu kompensieren. Fantasie,
chen Belastung ist die Karriere für die meisten Tänzer Selbstvertrauen, mehr Respekt und Toleranz: All das
mit 35 beendet. Umschulungsmaßnahmen in einem dem kann vielseitig verstandene Kulturförderung positiv be-
Tanz verwandten Beruf bekommen sie in der Regel vom einflussen. Mehr Raum, Zeit und Mittel für Jugendkultur
Arbeitsamt nicht finanziert. Die Stiftung TANZ-Transi- bedeuten weniger seelische Obdachlosigkeit bei Kindern
tion unterstützt Tänzer beim Übergang in einen neuen und Jugendlichen.
8092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)


Frau Kollegin! Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur na-
mentlichen Abstimmung über den Einzelplan 04 in der
Ausschussfassung.
Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme gleich zum Schluss. – Die Mittel zur Auf- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
legung unseres Förderprogramms sind jetzt dank Ihnen, vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen be-
Herr Neumann, vorhanden. Bitte setzen Sie sich dafür setzt? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann eröffne ich
ein, dass unser Förderprogramm „Jugendkultur Jetzt“ die Abstimmung.
durch die Bundeskulturstiftung aufgelegt wird.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Danke schön.
Ist eine Kollegin oder ein Kollege im Saal, die ihre
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bzw. der seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und
KEN) bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Darf ich Sie bitten, wenn Sie die Debatte nicht weiter-
Jürgen Koppelin das Wort. verfolgen wollen, Ihre Gespräche vor dem Saal zu füh-
ren, damit wir uns auf die weitere Diskussion konzen-
trieren können?
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
Frau Kollegin, ich bin als Haushälter für den Etat des Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.9 auf:
Staatsministers für Kultur zuständig. Ich will auf Ihre Kri- Einzelplan 05
tik zu den Wagner-Festspielen eingehen. Man kann es so Auswärtiges Amt
sehen, wie Sie es dargestellt haben. Aber ich bekenne
mich dazu, dass ich diese Mittel mit freigegeben habe. – Drucksachen 17/3505, 17/3523 –
Grund war – ich war selber noch nie bei den Wagner-Fest-
Berichterstattung:
spielen –, dass ich jedes Jahr sehe, wie Claudia Roth mit
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
strahlendem Gesicht zu den Wagner-Festspielen geht,
Klaus Brandner
und ich dachte, ich täte etwas Gutes.
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
(B) (Heiterkeit) Michael Leutert (D)
Sven-Christian Kindler
Ich dachte, ich setze mich dafür ein, dass nicht nur Frau
Claudia Roth, sondern auch andere Grüne zu den Interfraktionell wurde vereinbart, darüber zwei Stun-
Wagner-Festspielen gehen können. Ich habe mich jetzt den zu diskutieren. – Ich sehe, damit sind Sie einverstan-
durch Sie belehren lassen. Schade; das nächste Mal muss den. Dann werden wir so verfahren.
ich das dann entsprechend berücksichtigen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wort der Kollege Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Klaus Brandner (SPD):


Zur Antwort Frau Krumwiede. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich zum Haushalt des Auswärtigen Amtes komme,
Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Ich muss betonen, dass auch ich Wagner sehr gerne Haushaltsreferats im Auswärtigen Amt mit Dr. Morhard
mag. Ich war noch nie bei den Festspielen, weil ich noch an der Spitze ganz herzlich danken. Ich möchte mich da-
nie eine Karte bekommen habe. Das ist bei den Wagner- für bedanken, dass sie uns mit Informationen zum Haus-
Festspielen immer sehr problematisch. Darüber müssen halt des Auswärtigen Amtes zuverlässig, schnell und um-
wir uns vielleicht an anderer Stelle noch einmal unter- fangreich nicht nur während der Haushaltsberatungen,
halten. sondern über das ganze Jahr versorgt haben. Ich möchte
Das wollte ich auch gar nicht ins Verhältnis setzen. mich auch bei den Mitberichterstattern bedanken – ich
Ich frage mich, warum zum Beispiel in die Wagner-Fest- glaube, es war ein faires Miteinander, das wir vorgelebt
spiele 2,3 Millionen Euro fließen. Warum fließen die haben. Insbesondere möchte ich unserem Hauptberichter-
Gelder des Bundes immer dorthin, wo sowieso schon al- statter, dem Kollegen Frankenhauser, der erkrankt ist,
les schillert, und nicht dorthin, wo man eigentlich mehr herzliche Genesungswünsche von dieser Stelle aus schi-
kulturelle kreative Teilhabe bräuchte, zum Beispiel in cken.
die Jugendkultur? Das wollte ich damit sagen. (Beifall)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) 1) Ergebnis Seite 8094 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8093
Klaus Brandner
(A) Mein Dank gilt aber auch Ihnen, Herr Minister, für (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (C)
die Gesprächsbereitschaft und den guten Kontakt. Da ich Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])
gerade das Positive anspreche: Wir haben uns sehr da-
rüber gefreut, dass Deutschland in den Sicherheitsrat der Der Haushalt ist nicht nur ungerecht, er ist auch in
Vereinten Nationen gewählt wurde und dass Sie die Ar- Teilen unsolide; denn die Sondermittel aus dem Bundes-
beit der von Ihren Vorgängern eingesetzten und unter- ministerium für Bildung und Forschung, die in Höhe
stützten unabhängigen Historikerkommission – Das Amt von 50 Millionen Euro an das Auswärtige Amt gehen
und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten sollten, werden zum Stopfen von Haushaltslöchern ge-
Reich und in der Bundesrepublik – zum Abschluss ge- nutzt, und das, obwohl sie zusätzlich, zweckgebunden
bracht haben und darüber sehr offensiv berichtet haben. ausgegeben werden sollten. Sie sollten nicht einfach um-
geleitet werden, sondern im Bereich der Auswärtigen
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Bildungs- und Forschungspolitik dem Ziel dienen, zum
Ich finde, das ist eine späte, aber beispielhafte Aufarbei- Beispiel Aktivitäten der deutschen Auslandsschulen, die
tung der Geschichte. Andere Ministerien sollten sich da- zusätzliche Investitionen zum Nutzen der proklamierten
ran durchaus messen lassen und dieses Thema aufgrei- „Bildungsrepublik Deutschland“ dringend benötigen, zu
fen. finanzieren. Hier ist zu Unrecht fast gar nichts angekom-
men. So machen wir aus der Bildungsrepublik Deutsch-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) land eine Kürzungsrepublik. Ich glaube nicht, dass wir
Für den Haushaltsplan 2011 des Auswärtigen Amtes das sein wollen.
kann ich eine solche Anerkennung leider nicht ausspre- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
chen. Das können Sie von uns nicht erwarten. Vorab: Ich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
finde, der Haushalt des Auswärtigen Amtes ist deutlich
unterfinanziert. Um es klar zu sagen: Das ist kein Spar- Viele Auslandsschulen fürchten um ihre Existenz.
haushalt, sondern ein Kürzungshaushalt, der unseren Uns haben viele Briefe von Schulen in Europa, Süd-
Anforderungen nicht gerecht wird. afrika und Südamerika erreicht. Sie alle mussten oder
müssen die Schulbeiträge deutlich erhöhen oder Kredite
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
aufnehmen, um die Existenz ihrer Schule zu sichern. Das
Er ist ungerecht, teilweise unsolide und widersprüchlich. alles geschieht, weil von dem Anteil des Auswärtigen
Er ist ungerecht, weil Kürzungen zulasten der Ärmsten Amtes am Sonderprogramm für Bildung und Forschung
der Welt gehen, während innenpolitisch unsinnige Steuer- gar nichts dort ankommt, wo es eigentlich hinfließen
geschenke gemacht wurden und weitere geplant sind. Er sollte. Deshalb ist es zynisch, zu behaupten, dass diese
ist ungerecht, weil die Mittel für die humanitäre Hilfe, Bundesregierung zusätzlich in Bildung und Forschung
(B) die Flüchtlingshilfe im Ausland und für Maßnahmen des investiert. Im Auswärtigen Amt ist jedenfalls nichts da- (D)
humanitären Minenräumens um fast 15 Prozent gekürzt von zu sehen. Wer unter „zusätzlich“ versteht, dass ge-
werden. Er ist ungerecht, weil Mittel für Demokratisie- kürzt wird, der hat die Grundrechenarten nicht gelernt.
rungs- und Ausstattungshilfe und für Maßnahmen zur
Förderung der Menschenrechte um fast 43 Prozent ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
kürzt werden. Er ist ungerecht, weil die Mittel für Kri- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
senprävention, Friedenserhaltung und Konfliktbewälti- In Afghanistan leisten wir einen notwendigen Bei-
gung um fast 30 Prozent gekürzt werden. trag. Es ist jedoch kein Zeichen für eine solide und zu-
Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass die Unter- verlässige Haushaltspolitik, wenn die zusätzlichen Mit-
stützung einzelner Länder immer dann unterbleiben oder tel für die Befriedung und Stabilisierung Afghanistans
reduziert werden kann, wenn sich die Situation verbes- nicht mehr zusätzlich zur Verfügung gestellt werden,
sert hat, wenn Fortschritte oder Veränderungen eingetre- sondern zulasten anderer Maßnahmen, zum Beispiel der
ten sind. Aber solche Fortschritte oder Veränderungen Krisenprävention, gehen.
sind eben nicht in großem Maße eingetreten. Im Gegen-
teil: Es gibt in vielen Bereichen noch größere Bedarfe als Von Ihnen, Herr Minister, und den Kolleginnen und
zuvor. Ich denke dabei insbesondere an Pakistan und die Kollegen der Koalitionsfraktionen hätte ich im Haus-
ärmsten Länder Afrikas, zum Beispiel Simbabwe und haltsausschuss mehr Engagement erwartet. Man hätte
die Länder in der Region der Großen Seen. Die Mittel diesen zusätzlichen Aufgaben Rechnung tragen müssen.
für diese Länder werden gekürzt, wofür wir kein Ver- Eine der Vorrednerinnen hat ausgeführt, wie das Engage-
ständnis haben. Wir empfinden das als ungerecht, und ment von Herrn Staatsminister Neumann dazu geführt
das sollte so deutlich angesprochen werden. hat, dass während der Beratungen im Haushaltsaus-
schuss zusätzlich 27 Millionen Euro für Kultur im Etat
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Kanzleramts bewilligt wurden. Ich hätte mir ein sol-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE ches Engagement auch im Bereich des Auswärtigen ge-
GRÜNEN) wünscht, damit für die notwendigen Ausgaben die erfor-
Das hat mit sinnvoller Haushaltskonsolidierung derlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden können.
nichts zu tun; vielmehr hat es Signalwirkung, wenn der (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Haushalt insgesamt um circa 3 Prozent, aber die Mittel
für Krisenprävention, für Demokratisierungshilfe und Geärgert hat mich der Umgang mit der Kulturakade-
für Friedenserhaltung um bis zu 43 Prozent gekürzt wer- mie Tarabya. Ursprünglich sind 6 Millionen Euro vom
den. Das ist schlichtweg unangemessen. Parlament bewilligt worden. 14 Stipendiaten sollten dort
8094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Klaus Brandner
(A) tätig werden. Dann gab es ein erweitertes Konzept der Die Erkenntnis ist gut. Ich teile sie uneingeschränkt. (C)
Staatsministerin, wonach nur noch vier Appartements Aber vor diesem Hintergrund ist der Haushaltsplan bei-
umgebaut werden sollten. Mit dem restlichen Geld sollte nahe fahrlässig zu nennen; denn die Mittel für die Maß-
die Botschaft renoviert werden. Es gab ein ständiges Hin nahmen zur Krisenprävention, Friedenserhaltung und
und Her und eine diffuse Informationspolitik. Im Unter- Konfliktbewältigung werden um fast 30 Prozent gekürzt.
ausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik Das ist ein Widerspruch, den diejenigen aufklären müs-
wurde gesagt, die Haushälter hätten das Projekt verhin- sen, die letztlich für diese Politik stehen.
dert, obwohl sie gar nicht mit dem Projekt befasst waren.
Ich könnte noch weitere Beispiele nennen. Bevor ich
Überhaupt erfuhr man vieles nur über Dritte. Klar war
zum Schluss komme, will ich aber zwei oder drei posi-
nur: Hier wurde konsequent der Wille des Parlaments
tive Dinge ansprechen.
missachtet. Unabhängig davon, was jeder Einzelne von
der Kulturakademie Tarabya denkt: So kann man mit
dem Parlament nicht umgehen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des
Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Klaus Brandner (SPD):
In den Beratungen des Haushaltsausschusses hat es
Letztlich können doch Sie selbst, Herr Bundesminis- Veränderungen zum Besseren gegeben: Im Hinblick auf
ter, mit dem Haushalt nicht zufrieden sein; denn er ist die humanitären Hilfen, die deutschen Auslandsschulen,
widersprüchlich in zentralen Fragen Ihres eigenen An- die deutschen Auslandsdienstlehrkräfte und das ZIF
spruchs. Sie haben in Ihrer Grundsatzrede auf einer Ver- wurden deutliche Verbesserungen erzielt; ich will das
anstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige hier ausdrücklich anerkennen.
Politik am 21. Oktober 2010, also im letzten Monat, ge-
sagt: Das alles ist aber bei weitem nicht genug. Gerade in
der Außenpolitik kann man mit wenig Geld vieles bewir-
Abrüstung ist endlich wieder als Zukunftsthema der ken. Kontinuität und Zuverlässigkeit müssen zu unserer
internationalen Politik anerkannt. Außenpolitik gehören. Ich bleibe dabei: Der Haushalts-
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: So ist es!) entwurf ist, insgesamt gesehen, ungerecht, weil bei den
Ärmsten gekürzt wird, er ist unsolide, weil Gelder für
Ich freue mich, wie viel Dynamik die vergangenen Bildung und Forschung zweckentfremdet werden, und er
Monate über in die Diskussion über Abrüstung, ist widersprüchlich, weil entgegen der Ankündigung von
Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung gekom- einer Schwerpunktsetzung bei der Abrüstungspolitik bei
(B) men ist. der zivilen Krisenprävention und bei Schwerpunktregio- (D)
Weiter haben Sie, Herr Westerwelle, gesagt: „… deut- nen gekürzt wird. Aus diesem Grunde können wir dem
sche Außenpolitik ist Abrüstungspolitik.“ Im Haushalts- Haushalt nicht zustimmen.
plan erkenne ich jedoch nur eine Dynamik nach unten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Genau hier wird um 32 Prozent gekürzt, obwohl sich der der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Bedarf des Handelns deutlich vergrößert hat. Hier be- GRÜNEN)
steht ein eklatanter Widerspruch zwischen dem, was ge-
sagt, und dem, was in der Praxis materiell hinterlegt
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
wird.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
Liebich [DIE LINKE]) rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Haushaltsaus-
Der Haushalt widerspricht Ihnen, auch beim Thema schusses zum Einzelplan 04, dem Geschäftsbereich der
Krisenprävention. Der Bundesminister sagt: Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes, bekannt:
In unserer globalisierten Welt können zerfallende abgegebene Stimmen 588. Mit Ja haben gestimmt 314,
und gescheiterte Staaten und regionale Konflikte
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
unsere Sicherheit unmittelbar beeinträchtigen. Kri-
der FDP)
senbewältigung fernab unserer Grenzen ist heute
ein fast alltäglich gewordener Beitrag zur Sicher- mit Nein haben gestimmt 274. Enthaltungen gab es
heit innerhalb unserer Grenzen. keine. Damit ist der Einzelplan 04 angenommen.

Endgültiges Ergebnis Ja Dorothee Bär Manfred Behrens (Börde)


Abgegebene Stimmen: 588; Thomas Bareiß Dr. Christoph Bergner
CDU/CSU Norbert Barthle Peter Beyer
davon
Ilse Aigner Günter Baumann Steffen Bilger
ja: 314 Peter Altmaier Ernst-Reinhard Beck Clemens Binninger
nein: 274 Peter Aumer (Reutlingen) Peter Bleser
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8095
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Dr. Maria Böhmer Franz-Josef Holzenkamp Dr. Georg Nüßlein Andrea Astrid Voßhoff (C)
Wolfgang Börnsen Joachim Hörster Franz Obermeier Dr. Johann Wadephul
(Bönstrup) Anette Hübinger Henning Otte Marco Wanderwitz
Norbert Brackmann Thomas Jarzombek Dr. Michael Paul Kai Wegner
Klaus Brähmig Dieter Jasper Rita Pawelski Marcus Weinberg (Hamburg)
Michael Brand Dr. Franz Josef Jung Ulrich Petzold Peter Weiß (Emmendingen)
Dr. Reinhard Brandl Andreas Jung (Konstanz) Dr. Joachim Pfeiffer Sabine Weiss (Wesel I)
Helmut Brandt Dr. Egon Jüttner Sibylle Pfeiffer Ingo Wellenreuther
Dr. Ralf Brauksiepe Bartholomäus Kalb Beatrix Philipp Karl-Georg Wellmann
Dr. Helge Braun Hans-Werner Kammer Ronald Pofalla Peter Wichtel
Heike Brehmer Steffen Kampeter Christoph Poland Annette Widmann-Mauz
Ralph Brinkhaus Alois Karl Ruprecht Polenz Klaus-Peter Willsch
Gitta Connemann Bernhard Kaster Eckhard Pols Elisabeth Winkelmeier-
Leo Dautzenberg Siegfried Kauder (Villingen- Daniela Raab Becker
Alexander Dobrindt Schwenningen) Thomas Rachel Dagmar Wöhrl
Thomas Dörflinger Volker Kauder Dr. Peter Ramsauer Dr. Matthias Zimmer
Marie-Luise Dött Dr. Stefan Kaufmann Eckhardt Rehberg Wolfgang Zöller
Dr. Thomas Feist Roderich Kiesewetter Katherina Reiche (Potsdam) Willi Zylajew
Enak Ferlemann Eckart von Klaeden Lothar Riebsamen
Ingrid Fischbach Ewa Klamt Josef Rief FDP
Hartwig Fischer (Göttingen) Volkmar Klein Klaus Riegert Jens Ackermann
Dirk Fischer (Hamburg) Jürgen Klimke Dr. Heinz Riesenhuber Christian Ahrendt
Axel E. Fischer (Karlsruhe- Axel Knoerig Johannes Röring Christine Aschenberg-
Land) Jens Koeppen Dr. Norbert Röttgen Dugnus
Dr. Maria Flachsbarth Dr. Kristina Schröder Dr. Christian Ruck Daniel Bahr (Münster)
Klaus-Peter Flosbach Manfred Kolbe Erwin Rüddel Florian Bernschneider
Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Rolf Koschorrek Albert Rupprecht (Weiden) Sebastian Blumenthal
(Hof) Hartmut Koschyk Anita Schäfer (Saalstadt) Nicole Bracht-Bendt
Michael Frieser Thomas Kossendey Dr. Wolfgang Schäuble Klaus Breil
Erich G. Fritz Gunther Krichbaum Dr. Annette Schavan Rainer Brüderle
Hans-Joachim Fuchtel Dr. Günter Krings Dr. Andreas Scheuer Ernst Burgbacher
Alexander Funk Rüdiger Kruse Karl Schiewerling Marco Buschmann
Ingo Gädechens Bettina Kudla Norbert Schindler Sylvia Canel
Dr. Peter Gauweiler Dr. Hermann Kues Tankred Schipanski Helga Daub
(B) Dr. Thomas Gebhart Günter Lach Georg Schirmbeck Reiner Deutschmann (D)
Norbert Geis Dr. Karl A. Lamers Christian Schmidt (Fürth) Dr. Bijan Djir-Sarai
Alois Gerig (Heidelberg) Patrick Schnieder Patrick Döring
Eberhard Gienger Andreas G. Lämmel Dr. Andreas Schockenhoff Rainer Erdel
Josef Göppel Dr. Norbert Lammert Dr. Ole Schröder Jörg van Essen
Peter Götz Katharina Landgraf Bernhard Schulte-Drüggelte Ulrike Flach
Dr. Wolfgang Götzer Ulrich Lange Uwe Schummer Otto Fricke
Ute Granold Dr. Max Lehmer Armin Schuster (Weil am Dr. Edmund Peter Geisen
Reinhard Grindel Paul Lehrieder Rhein) Hans-Michael Goldmann
Hermann Gröhe Ingbert Liebing Detlef Seif Heinz Golombeck
Michael Grosse-Brömer Matthias Lietz Johannes Selle Miriam Gruß
Markus Grübel Dr. Carsten Linnemann Reinhold Sendker Joachim Günther (Plauen)
Manfred Grund Patricia Lips Dr. Patrick Sensburg Dr. Christel Happach-Kasan
Monika Grütters Dr. Jan-Marco Luczak Bernd Siebert Heinz-Peter Haustein
Dr. Karl-Theodor Freiherr Dr. Michael Luther Thomas Silberhorn Manuel Höferlin
zu Guttenberg Karin Maag Johannes Singhammer Elke Hoff
Olav Gutting Dr. Thomas de Maizière Jens Spahn Birgit Homburger
Florian Hahn Hans-Georg von der Marwitz Carola Stauche Dr. Werner Hoyer
Holger Haibach Andreas Mattfeldt Dr. Frank Steffel Heiner Kamp
Dr. Stephan Harbarth Stephan Mayer (Altötting) Erika Steinbach Michael Kauch
Jürgen Hardt Dr. Michael Meister Christian Freiherr von Stetten Dr. Lutz Knopek
Gerda Hasselfeldt Dr. Angela Merkel Dieter Stier Pascal Kober
Dr. Matthias Heider Maria Michalk Gero Storjohann Dr. Heinrich L. Kolb
Mechthild Heil Dr. h. c. Hans Michelbach Stephan Stracke Gudrun Kopp
Ursula Heinen-Esser Dr. Mathias Middelberg Max Straubinger Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Frank Heinrich Philipp Mißfelder Karin Strenz Sebastian Körber
Rudolf Henke Dietrich Monstadt Lena Strothmann Holger Krestel
Michael Hennrich Marlene Mortler Michael Stübgen Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Jürgen Herrmann Dr. Gerd Müller Dr. Peter Tauber Heinz Lanfermann
Ansgar Heveling Stefan Müller (Erlangen) Antje Tillmann Harald Leibrecht
Ernst Hinsken Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Hans-Peter Uhl Sabine Leutheusser-
Peter Hintze Dr. Philipp Murmann Arnold Vaatz Schnarrenberger
Christian Hirte Bernd Neumann (Bremen) Volkmar Vogel (Kleinsaara) Lars Lindemann
Karl Holmeier Michaela Noll Stefanie Vogelsang Christian Lindner
8096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Dr. Martin Lindner (Berlin) Dr. Peter Danckert Manfred Nink Dr. Diether Dehm (C)
Michael Link (Heilbronn) Martin Dörmann Thomas Oppermann Heidrun Dittrich
Dr. Erwin Lotter Elvira Drobinski-Weiß Holger Ortel Werner Dreibus
Oliver Luksic Garrelt Duin Aydan Özoğuz Dr. Dagmar Enkelmann
Horst Meierhofer Sebastian Edathy Heinz Paula Klaus Ernst
Patrick Meinhardt Siegmund Ehrmann Johannes Pflug Wolfgang Gehrcke
Gabriele Molitor Dr. h. c. Gernot Erler Joachim Poß Nicole Gohlke
Jan Mücke Petra Ernstberger Dr. Wilhelm Priesmeier Diana Golze
Petra Müller (Aachen) Karin Evers-Meyer Florian Pronold Annette Groth
Burkhardt Müller-Sönksen Elke Ferner Dr. Sascha Raabe Dr. Gregor Gysi
Dr. Martin Neumann Gabriele Fograscher Mechthild Rawert Heike Hänsel
(Lausitz) Dr. Edgar Franke Gerold Reichenbach Dr. Rosemarie Hein
Dirk Niebel Dagmar Freitag Dr. Carola Reimann Inge Höger
Hans-Joachim Otto Peter Friedrich Sönke Rix Dr. Barbara Höll
(Frankfurt) Michael Gerdes Dr. Ernst Dieter Rossmann Andrej Hunko
Cornelia Pieper Martin Gerster Karin Roth (Esslingen) Ulla Jelpke
Gisela Piltz Iris Gleicke Michael Roth (Heringen) Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Christiane Ratjen- Marlene Rupprecht Katja Kipping
Günter Gloser
Damerau (Tuchenbach) Harald Koch
Ulrike Gottschalck
Dr. Birgit Reinemund Anton Schaaf Jan Korte
Angelika Graf (Rosenheim)
Dr. Peter Röhlinger Axel Schäfer (Bochum) Jutta Krellmann
Kerstin Griese Katrin Kunert
Dr. Stefan Ruppert Michael Groschek Bernd Scheelen
Björn Sänger Marianne Schieder Caren Lay
Michael Groß Sabine Leidig
Frank Schäffler Wolfgang Gunkel (Schwandorf)
Jimmy Schulz Werner Schieder (Weiden) Ralph Lenkert
Hans-Joachim Hacker Michael Leutert
Marina Schuster Bettina Hagedorn Ulla Schmidt (Aachen)
Dr. Erik Schweickert Silvia Schmidt (Eisleben) Stefan Liebich
Klaus Hagemann Ulla Lötzer
Werner Simmling Michael Hartmann Carsten Schneider (Erfurt)
Judith Skudelny Olaf Scholz Dr. Gesine Lötzsch
(Wackernheim) Thomas Lutze
Dr. Hermann Otto Solms Hubertus Heil (Peine) Swen Schulz (Spandau)
Joachim Spatz Ewald Schurer Ulrich Maurer
Rolf Hempelmann Dorothee Menzner
Dr. Max Stadler Dr. Barbara Hendricks Frank Schwabe
Torsten Staffeldt Dr. Martin Schwanholz Cornelia Möhring
Gustav Herzog Kornelia Möller
Dr. Rainer Stinner Rolf Schwanitz
Gabriele Hiller-Ohm Niema Movassat
Stephan Thomae Stefan Schwartze
(B) Petra Hinz (Essen) Wolfgang Nešković (D)
Florian Toncar Rita Schwarzelühr-Sutter
Frank Hofmann (Volkach) Petra Pau
Serkan Tören Dr. Carsten Sieling
Dr. Eva Högl Sonja Steffen Jens Petermann
Johannes Vogel
Christel Humme Dr. Frank-Walter Steinmeier Richard Pitterle
(Lüdenscheid)
Josip Juratovic Christoph Strässer Yvonne Ploetz
Dr. Daniel Volk
Oliver Kaczmarek Kerstin Tack Ingrid Remmers
Dr. Guido Westerwelle
Johannes Kahrs Dr. h. c. Wolfgang Thierse Paul Schäfer (Köln)
Dr. Claudia Winterstein
Dr. h. c. Susanne Kastner Franz Thönnes Michael Schlecht
Dr. Volker Wissing Dr. Ilja Seifert
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Ulrich Kelber Wolfgang Tiefensee
Lars Klingbeil Rüdiger Veit Kathrin Senger-Schäfer
Hans-Ulrich Klose Ute Vogt Raju Sharma
Nein Dr. Bärbel Kofler Dr. Marlies Volkmer Kersten Steinke
Daniela Kolbe (Leipzig) Andrea Wicklein Sabine Stüber
SPD Fritz Rudolf Körper Heidemarie Wieczorek-Zeul Alexander Süßmair
Nicolette Kressl Waltraud Wolff Dr. Kirsten Tackmann
Ingrid Arndt-Brauer
Angelika Krüger-Leißner (Wolmirstedt) Frank Tempel
Rainer Arnold Dr. Axel Troost
Heinz-Joachim Barchmann Ute Kumpf Uta Zapf
Christine Lambrecht Dagmar Ziegler Alexander Ulrich
Doris Barnett Kathrin Vogler
Dr. Hans-Peter Bartels Christian Lange (Backnang) Manfred Zöllmer
Dr. Karl Lauterbach Brigitte Zypries Johanna Voß
Klaus Barthel Halina Wawzyniak
Sören Bartol Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka DIE LINKE Harald Weinberg
Bärbel Bas Katrin Werner
Dirk Becker Gabriele Lösekrug-Möller Jan van Aken
Kirsten Lühmann Jörn Wunderlich
Uwe Beckmeyer Agnes Alpers
Caren Marks Sabine Zimmermann
Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Dietmar Bartsch
Gerd Bollmann Katja Mast Herbert Behrens BÜNDNIS 90/
Klaus Brandner Hilde Mattheis Karin Binder DIE GRÜNEN
Willi Brase Petra Merkel (Berlin) Matthias W. Birkwald
Bernhard Brinkmann Ullrich Meßmer Steffen Bockhahn Kerstin Andreae
(Hildesheim) Dr. Matthias Miersch Christine Buchholz Marieluise Beck (Bremen)
Edelgard Bulmahn Franz Müntefering Eva Bulling-Schröter Volker Beck (Köln)
Ulla Burchardt Dr. Rolf Mützenich Dr. Martina Bunge Cornelia Behm
Martin Burkert Andrea Nahles Roland Claus Birgitt Bender
Petra Crone Dietmar Nietan Sevim Dağdelen Alexander Bonde
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8097
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Viola von Cramon-Taubadel Uwe Kekeritz Monika Lazar Krista Sager (C)
Ekin Deligöz Katja Keul Nicole Maisch Manuel Sarrazin
Katja Dörner Memet Kilic Agnes Malczak Dr. Gerhard Schick
Hans-Josef Fell Sven-Christian Kindler Jerzy Montag Dorothea Steiner
Dr. Thomas Gambke Maria Klein-Schmeink Kerstin Müller (Köln) Dr. Wolfgang Strengmann-
Kai Gehring Ute Koczy Beate Müller-Gemmeke Kuhn
Katrin Göring-Eckardt Tom Koenigs Ingrid Nestle Hans-Christian Ströbele
Britta Haßelmann Sylvia Kotting-Uhl Dr. Konstantin von Notz
Dr. Harald Terpe
Bettina Herlitzius Oliver Krischer Omid Nouripour
Winfried Hermann Agnes Krumwiede Friedrich Ostendorff Markus Tressel
Priska Hinz (Herborn) Fritz Kuhn Dr. Hermann Ott Jürgen Trittin
Ulrike Höfken Stephan Kühn Lisa Paus Daniela Wagner
Dr. Anton Hofreiter Renate Künast Brigitte Pothmer Wolfgang Wieland
Bärbel Höhn Markus Kurth Tabea Rößner Dr. Valerie Wilms
Ingrid Hönlinger Undine Kurth (Quedlinburg) Claudia Roth (Augsburg) Josef Philip Winkler

Nun hat das Wort der Kollege Michael Link für die anderen ganz besonders im Bereich der auswärtigen
FDP-Fraktion. Politik, aber auch der Europapolitik beschäftigen wer-
den. Das ist zum einen die Wahl Deutschlands in den
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Es ist ein wirk-
der CDU/CSU)
licher Verhandlungserfolg der Bundesregierung, der
Bundeskanzlerin und des Bundesaußenministers, dass es
Michael Link (Heilbronn) (FDP): gelungen ist, für die nächsten zwei Jahre im Sicherheits-
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich fand rat Politik mitzugestalten.
es von Ihnen sehr fair, Herr Brandner, dass Sie eingangs
das Thema Vergangenheitsbewältigung angesprochen Wir als christlich-liberale Koalition haben immer ge-
haben. In der Tat ist die Frage, wie sich eine Institution sagt: Wir stehen auch und gerade im internationalen Be-
wie das Auswärtige Amt an diese schwierige, an diese reich für Verantwortungsübernahme. Wo täte man das
schlimmste Zeit in der deutschen Geschichte erinnert, besser als im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen?
sehr wichtig. Genauso wie Sie begrüßen wir, dass der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) Bundesaußenminister dieses Thema in der Reihe mit sei- (D)
nen Vorgängern – das will ich ganz bewusst sagen; denn Daran anschließend komme ich – das ist zwar ein
es ist etwas, was uns über die Parteigrenzen hinweg kleiner Rückblick, aber lassen Sie es mich dennoch an-
eint – offensiv angegangen ist. Wir müssen uns mit die- sprechen – auf das Strategische Konzept der NATO. Das
sem Thema noch weiter befassen. Er hat an die von ihm ist ein ganz wichtiger Punkt. Auch hier sind wichtige
eingesetzte Kommission die Frage formuliert, wie in Zu- Durchbrüche gelungen. Natürlich hätte man sich mehr
kunft mit Nachrufen auf und Bildern von in nationalso- wünschen können. Aber positiv ist, dass wir all die Be-
zialistische Verbrechen verwickelten Angehörigen des drohungen durch das Internet – Cyberattack, Cyberwar –
Auswärtigen Amtes umgegangen werden soll. Wir be- in Zukunft nicht nach Art. 5, sondern nach Art. 4 hand-
grüßen das sehr und freuen uns, dass die Arbeit an die- haben werden. Damit ist auch klargestellt, dass es nicht
sem Thema weitergeht. zunächst eine Sache des Militärs, sondern der zivilen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Einrichtungen ist, das zu bekämpfen. Das ist ein ganz
der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des wichtiger Punkt dieses neuen Strategischen Konzeptes
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der NATO, durchgesetzt vom Außenminister.

Kolleginnen und Kollegen, beim Haushalt an sich ist Lassen Sie mich dazu sagen: Ich halte es für einen
die Einigkeit allerdings schon wieder weg, denn Sparen großen Erfolg, dass wir eine ausgewogene, fordernde,
muss sein, Herr Brandner. Haushalt ist kein Wunschkon- aber auch offene Sprache Russland gegenüber gefunden
zert, und gute Politik muss auch nicht unbedingt viel haben. Wir haben es jetzt geschafft – das ist auch ein
Geld kosten. Stück Verhandlungserfolg der Bundesregierung –, dass
in Zukunft zusammen mit Russland gemeinsame Bedro-
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE hungsanalysen erstellt werden. Das ist also ein Schritt
GRÜNEN]: Sie hatten doch mal ein Sparbuch, auf Russland zu. Deswegen erwarten wir jetzt aber auch,
das Liberale Sparbuch!) dass sich Russland bewegt und seine Kooperationsbe-
Sparziele gelten auch für das Auswärtige Amt. Auch das reitschaft bei Frozen Conflicts zeigt. Konkret fielen mir
Auswärtige Amt erbringt einen Anteil an den Sparzielen. da einige Beispiele ein.
Das begrüßen wir. Mein Kollege Djir-Sarai wird nachher
Der OSZE-Gipfel in Astana steht bevor. Wir haben
ausführlicher auf die eigentlichen Haushaltsaspekte ein-
uns hier im Hause gemeinsam darüber gestritten, wie wir
gehen.
mit diesem Gipfel umgehen sollen. Aber eines ist klar:
Ich will ein paar Dinge zu den großen Themen sagen, Russland hat das Potenzial, uns in Astana positiv zu
die uns sehr wahrscheinlich im nächsten Jahr vor allen überraschen. Beim Transnistrienkonflikt wäre viel Raum
8098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Michael Link (Heilbronn)


(A) dafür. Wir möchten wirklich gemeinsam mit der russi- Sie verrichten einen Dienst, der oft auch sehr gefährlich (C)
schen Seite zu einer Lösung dieser Frozen Conflicts ist. Wir danken zu Recht den Soldatinnen und Soldaten.
kommen, und mit Transnistrien sollten wir anfangen. Aber wir sollten auch unseren Diplomatinnen und Diplo-
maten für den Dienst danken, den sie für uns in der gan-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zen Welt auf ihren Posten leisten.
Ein anderer Bereich – da fehlt mir die Zeit, ihn aus-
Vielen Dank.
führlich zu erwähnen – ist das Thema Menschenrechte.
Das Urteil oder auch Nicht-Urteil – jedenfalls möchte (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ich es nicht als solches bezeichnen, wo auch immer es
geschrieben wird – im Chodorkowski-Prozess steht kurz Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
bevor. Die Menschenrechtslage in Russland ist ein Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Frak-
Thema, wo wir auch weiterhin sehr genau hinschauen tion Die Linke.
müssen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Lassen Sie mich in der verbleibenden Zeit noch kurz Stefan Liebich (DIE LINKE):
zum Thema Europäische Union kommen. Mir macht es Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
große Sorgen, wie wir mit dem Thema EU umgehen. An- Unser Außenminister sagt, dass deutsche Außenpolitik
gesichts der immer kritischer werdenden Stellungnahmen Friedenspolitik und Abrüstungspolitik ist und dass
zu Europa – nicht nur in Deutschland, sondern in der gan- unser Land seine Politik der militärischen Zurückhaltung
zen Europäischen Union –, angesichts der Anti-EU-Tira- fortsetzen will.
den, die immer mehr werden, stelle ich mir die Frage:
Werben wir eigentlich genug für die europäische Idee? (Otto Fricke [FDP]: Da hat er recht!)
Erklären wir sie richtig? Vermitteln wir ihre Bedeutung Das ist der Anspruch, an dem er sich auch messen lassen
ausreichend? muss.
Schon gibt es einige, die der Renationalisierung das (Otto Fricke [FDP]: Messen lassen kann!)
Wort reden. Lassen Sie mich das ganz deutlich sagen:
Zunächst geht es bei denen, die das wollen, um die Re- Die Zahlen in diesem Haushalt sprechen leider eine ganz
nationalisierung des Euro. Der nächste Schritt wäre eine andere Sprache.
Auflösung bzw. Desintegration der Europäischen Union.
Mehr als 7 000 Soldatinnen und Soldaten befinden
Das kann auf keinen Fall im deutschen Interesse sein –
sich im Ausland, die meisten im Krieg in Afghanistan.
(B) im europäischen ohnehin nicht. Lassen Sie uns jetzt (D)
Bei der zivilen Konfliktprävention, also der Vermeidung
– ganz besonders in der Griechenland- und Irlandkrise –
von Kriegen, bevor sie ausbrechen, für die wichtige Ar-
ganz klar gemeinsam dagegen Stellung nehmen und
beit der Vereinten Nationen, bei der Auswärtigen Kultur-
deutlich sagen: Wir haben die Instrumente; wir haben sie
und Bildungspolitik wird hingegen weniger Geld ausge-
für drei Jahre geschaffen, um auch einen Fall wie Irland
geben als in der Vergangenheit. Das beim Millenniums-
bewältigen zu können. Aber bitte, machen wir uns nichts
gipfel abgegebene Versprechen Deutschlands, 0,7 Prozent
vor: Wir dürfen diesen Rettungsschirm nicht einfach
seines Bruttosozialprodukts für Entwicklungszusam-
verlängern. Wir müssen im Gegenteil intensiv daran ar-
menarbeit zu investieren, ist gebrochen worden. Da
beiten, wie wir diesen Rettungsschirm durch etwas
klingt die Forderung an andere Länder schon seltsam,
Neues ersetzen, und zwar durch etwas, was eben nicht
dass sie ihre Wirtschaft öffnen sollen. Die Menschen in
auf Dauer das Risiko der Marktteilnehmer sozialisiert
den Entwicklungsländern fragen sich: Was tut ihr im
und auf die Steuerzahler abschiebt, sondern das die Be-
Westen für mehr Handelsgerechtigkeit? Wirtschaftliche
teiligung der Gläubiger, insbesondere der privaten, si-
Öffnung ist keine Einbahnstraße.
cherstellt. Denn als Liberaler ist für mich eines klar:
Kein Markt ohne Risiko. Dieses Risiko muss wieder auf (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
den Finanzmärkten eingepreist werden; denn ansonsten neten der SPD)
werden wir mit der sozialen Marktwirtschaft der Euro-
päischen Union und insbesondere mit dem Euro tatsäch- Nun gibt es ja eine Standardantwort auf die Opposi-
lich in noch viel ernsthaftere Probleme kommen. tionskritik; der Kollege Link hat sie auch gerade gege-
ben, indem er gesagt hat: Sparen muss sein. Nun ist der
Deshalb steht für meine Fraktion ganz vorne – das ist Sparzwang, dem auch das Außenministerium unterliegt,
für sie ganz wichtig – der Punkt: Wir müssen unbedingt nicht gottgegeben. Die Schuldenbremse, die hier be-
diesen Rettungsschirm durch etwas Neues, durch einen schlossen wurde, ist selbst gewähltes Elend. Die Bun-
robusten Mechanismus ersetzen, bei dem nicht einfach deskanzlerin sagt ja immer wieder, so ein Instrument
wieder Rettung vor Eigenverantwortung steht. In Zu- gibt es nur in einem Land auf der Erde, und es wird auch
kunft muss ganz klar Eigenverantwortung vorne stehen. nur in einem Land auf der Erde genutzt. Da kann man ja
Das wird eines der Megathemen des nächsten Jahres einmal fragen: Warum eigentlich?
sein.
Keine Schuldenbremse zu haben, heißt nicht automa-
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin: Ich möchte den tisch, dass der Haushalt aus dem Ruder laufen muss. Die
Diplomatinnen und Diplomaten des Auswärtigen Amtes von Rot-Rot regierten Bundesländer Berlin und Meck-
auch im Namen der FDP-Fraktion ganz herzlich danken. lenburg-Vorpommern haben gezeigt, wie man die Aus-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8099
Stefan Liebich
(A) gaben auf das Niveau der Einnahmen reduzieren kann, gesagt, die Wahl sei ein Erfolg. Ich denke, ein Erfolg (C)
ganz ohne Verfassungsklimbim, mit reinem politischen wird sich daran messen lassen müssen, was Sie dort im
Willen. Das gelang dort nämlich bis zum Beginn der Sicherheitsrat tun.
Finanz- und Wirtschaftskrise.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der LINKEN) neten der SPD)
Diese Länder hatten übrigens eine Option nicht, die Was bedeutet für Sie die Stärkung der Vereinten Na-
Sie haben: Sie können die großen Vermögen, die Erb- tionen, wenn Sie ausgerechnet dort kürzen? Bei den Bei-
schaften, die Einkommen auf vernünftige Art und Weise trägen für das Flüchtlingskommissariat UNHCR, beim
besteuern, statt Hoteliers zu entlasten. Statt einer Schul- Kinderhilfswerk UNICEF, bei humanitären UN-Pro-
denbremse wäre eine Steuersenkungsbremse im Grund- grammen und bei der Unterstützung von palästinensi-
gesetz sinnvoll gewesen. Dann müsste sich Herr schen Flüchtlingen kürzen Sie in diesem Haushalt. Sie
Schäuble in dieser Frage auch nicht mit der FDP herum- fahren in den Gazastreifen – dabei geht es um eine gute
ärgern, und es wäre genug Geld da, Gutes zu tun. Initiative –, aber bei der Finanzierung der UN-Mission
(Beifall bei der LINKEN) für die palästinensischen Flüchtlinge vor Ort ist
Deutschland nur dreizehntgrößter Geldgeber und kürzt
Was haben Sie also in Ihrem Haushalt angestellt? Es die Mittel im vorliegenden Haushalt zusätzlich um
gibt einen Abbau bei der Auswärtigen Kultur- und Bil- 20 Prozent. Was wollen Sie eigentlich im UN-Sicher-
dungspolitik. Dabei ist das doch ein wichtiges Potenzial heitsrat? Geht es nur um den ständigen Sitz für Deutsch-
für die Arbeit Deutschlands im Ausland. Im Regierungs- land?
entwurf, Herr Westerwelle, waren Streichungen beim
Goethe-Institut und Eingriffe in dessen Budget gegen (Otto Fricke [FDP]: Es geht um Verantwor-
jede wirtschaftliche Logik vorgesehen. Das war Kürzung tung! Geht es bei Ihnen nur um Geld?)
bei der Bildungspolitik, obwohl sie angeblich nicht statt-
finden sollte. Man muss es fast glauben; denn all unsere Anträge zu
diesen Fragen wurden abgelehnt. Dabei ist dort jeder in-
Obwohl es ungewöhnlich ist, möchte ich hier meinem vestierte Euro besser angelegt als für Eurofighter, Leo-
Kollegen, dem CSU-Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler, pard und neue U-Boote.
recht herzlich danken.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Herr Westerwelle, forcieren Sie Ihre Anstrengungen
Er hat als Vorsitzender des Unterausschusses für Aus- – ich weiß, dass Sie einige unternommen haben –, damit
wärtige Kultur- und Bildungspolitik nicht einfach nur Indien, Lateinamerika und Afrika endlich einen ständi- (D)
(B)
feurige Reden gegen den Regierungsentwurf gehalten, gen Sitz im Sicherheitsrat bekommen, anstatt auf einen
sondern er hat parteiübergreifende Beschlüsse zur Ver- dritten ständigen Sitz für die Europäische Union zu hof-
besserung erwirkt. Das ist selbstbewusste Parlaments- fen.
arbeit eines Koalitionsabgeordneten im besten Sinne.
Schade, dass Sie nicht von selbst auf die Idee gekommen Der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konflikt-
sind. lösung und Friedenskonsolidierung“ – er ist hier bereits
angesprochen worden – ist ein wichtiges Instrument
(Beifall bei der LINKEN)
deutscher Außenpolitik. Er wird maßgeblich von der Zi-
Trotzdem sind viele Kürzungen übrig geblieben. Die vilgesellschaft bestimmt. Es ist unvorstellbar: Ausge-
Künstlerakademie Tarabya ist hier mehrfach erwähnt rechnet dort wollen Sie die Mittel um ein Drittel kürzen.
worden; ich kann mich dem nur anschließen. Bei der Solche gravierenden Fehlentscheidungen lehnen wir na-
Deutschen Welle droht Jobabbau. Als Berliner Abgeord- türlich entschieden ab.
neten schmerzt mich natürlich, dass 20 Prozent der Regel-
förderung für das Haus der Kulturen der Welt gestrichen (Beifall bei der LINKEN)
werden sollen. Dem Kommentar von Rüdiger Schaper Ein Punkt ist bereits vom Kollegen Brandner ange-
aus dem Tagesspiegel ist nichts hinzuzufügen. sprochen worden: Die eingesparten Mittel werden in den
… allmählich zeigt sich doch eine Linie. Die Libe- Afghanistan-Pakt verschoben. Auch wir sind dafür, dass
ralen haben keine rechte Freude an auswärtiger sich Deutschland in Afghanistan engagiert, nicht militä-
Kulturpolitik, risch, aber finanziell. Man wird aber hinterfragen dürfen,
was Sie mit dem Geld finanzieren: Aufbau einer Gendar-
(Widerspruch des Abg. Patrick Kurth merie zum Zwecke der Aufstandsbekämpfung, undefi-
[Kyffhäuser] [FDP]) nierte Umfeldstabilisierung im Norden und faktisch
jedenfalls haben sie … in einem Jahr fast so viel an- militärisch relevante Infrastrukturmaßnahmen an Flug-
gesägt, wie Westerwelles sozialdemokratischer häfen. All das ist nicht im Sinne der Erfinder der zivilen
Vorgänger Steinmeier aufgebaut hat. Konfliktprävention. In Afghanistan wäre eine tatsächli-
che „Übergabe in Verantwortung“ – nicht das, was Sie
Herr Westerwelle, sehr geehrte Damen und Herren, so nennen – statt einer Strategie des fortgesetzten Krie-
nur eine Organisation legitimiert Völkerrecht. Das ist ges der richtige Weg.
nicht das Treffen der G 8; das sind die Vereinten Natio-
nen, die UNO, in deren Sicherheitsrat unser Land ab Ja- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Karl-
nuar Stimmrecht haben wird. Der Kollege Link hat eben Georg Wellmann [CDU/CSU]: Träumer!)
8100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Stefan Liebich
(A) Einige unserer Kolleginnen und Kollegen hatten ges- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (C)
tern die Gelegenheit, den ISAF-Kommandeur General des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Petraeus zu treffen. Er hat die Strategie als Anakonda-
strategie bezeichnet: Es geht also darum, die Aufständi- Das sieht man auch im Kleinen und Konkreten: Die
gen zu zerquetschen. Ich glaube, so wird man keinen Ausgaben für Abrüstung in Ihrem Haushalt sind abge-
Frieden gewinnen. senkt worden. Ich weiß – wir hatten darüber schon dis-
kutiert –, dass die Atom-U-Boote der Sowjetunion in
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Murmansk bald fertig zerlegt sein werden. Aber statt die
entsprechenden Mittel zu streichen, könnte man gleich
Politische Lösungen sind erforderlich; das wäre ein ech- mit den amerikanischen Atomwaffen in Büchel in
ter Strategiewechsel. Rheinland-Pfalz weitermachen. Das wäre echte Abrüs-
Die Schauspielerin Jutta Wachowiak hat zutreffend tung.
gesagt, dass Frauen zwar nicht die besseren Menschen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
sind, aber genauso viele. Deswegen wollen und müssen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
sie selbstverständlich genauso an Entscheidungen betei-
ligt werden. Es wird also Zeit, dass mit der Umsetzung Vorgestern hat der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon
der UN-Resolution 1325 zu Frauenrechten Ernst ge- die Herausforderungen beschrieben, er hat sie „die gro-
macht wird. Herr Westerwelle, es wäre gut, wenn Sie ßen Drei“ genannt: Klimawandel, Kampf gegen Armut,
hier einen eigenen konkreten Aktionsplan vorlegten, für Hilfe bei Naturkatastrophen. Das sind die eigentlichen
den entsprechende Mittel bereitgestellt werden. Ich will Herausforderungen. Hier hat die Bundesregierung bisher
durchaus anerkennen, dass es in Ihrem Haus, im Aus- versagt.
wärtigen Amt, durchaus Lob für die Förderung von
Frauen gibt; es wäre aber schön, wenn Sie Ihr Engage- Wir werden weiter sinnvolle Ansätze bei der Kon-
ment auf diesem Feld ausweiten würden. fliktprävention und der Abrüstung unterstützen, wenn
Sie handeln. Die Grundlinie einer aktiven und nachhaltig
Ich möchte etwas zum Thema Menschenrechte sa- friedlichen Außenpolitik fehlt aber leider. Deshalb kön-
gen. Ich teile Ihre Kritik an den Menschenrechtsverstö- nen wir Ihrem Haushaltsentwurf nicht zustimmen.
ßen im Iran. Wir alle sind mit unseren Gedanken bei
Sakine Aschtiani, die zum Tod durch Steinigung verur- Vielen Dank.
teilt wurde, und appellieren an die Machthaber in Tehe- (Beifall bei der LINKEN)
ran, dieses Urteil nicht zu vollstrecken.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(B) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (D)
Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz für
geordneten der CDU/CSU und der FDP) die CDU/CSU-Fraktion.
Auch an anderen Orten der Erde sind deutliche Worte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gefragt. Deutschland darf nicht schweigen, wenn in der
von Marokko besetzten Westsahara Protestcamps ge-
Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
räumt, mindestens ein Dutzend Menschen getötet und
Hunderte verletzt werden. Ich schlage vor, dass sich der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese
Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Haushaltsplanberatungen finden in einer besonderen At-
Löning, vor Ort ein Bild macht. Wirtschaftliche Interes- mosphäre in Deutschland statt. Wir bemerken überall
sen wie bei den Planungen für das Solarthermiekraft- eine starke Polizeipräsenz auf den Straßen. Das sind Vor-
werk Desertec dürfen uns nicht die Augen vor einer kehrungen gegen den internationalen Terrorismus,
Menschenrechtsverletzung wie dieser verschließen las- und das macht einmal mehr deutlich, dass auch wir in
sen. Deutschland von dieser Geißel der Menschheit, so
möchte ich es einmal nennen, betroffen sind. Von den
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ersten Anschlägen Ende der 90er-Jahre auf amerikani-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE sche Botschaften in Ländern Afrikas über den schreckli-
GRÜNEN) chen Anschlag am 11. September 2001 auf das World
Trade Center und das Pentagon und die Anschläge in
Abrüstung ist das wichtigste Thema. Hier geht es um London und Madrid bis zur Gegenwart hat uns der inter-
ein gutes Ziel, das wir unterstützen. Nach einem Viertel nationale Terrorismus immer wieder vor neue Heraus-
der Legislaturperiode wird man aber fragen dürfen, was forderungen gestellt. Zum Glück haben wir es dank un-
den Ankündigungen folgt. Herr Kollege Link hat auf den serer Sicherheitsdienste bisher vermeiden können, dass
NATO-Gipfel in Lissabon Bezug genommen. Sie, Herr solche Anschläge in Deutschland verübt wurden. Ich
Westerwelle, haben hohe Erwartungen geweckt. Sie und möchte mich an dieser Stelle bei allen, die bei den Si-
Barack Obama finden eine nuklearwaffenfreie Welt gut; cherheitsbehörden, aber auch in der präventiven Außen-
ich auch. Wer nicht? Ich dachte aber an etwas mehr ent- und Sicherheitspolitik dazu beigetragen haben, dass wir
sprechendes Handeln. Die Antwort der NATO ist ein das bisher so hinbekommen haben, bedanken.
milliardenschwerer Raketenschutzschirm. Keiner weiß,
gegen wen er gerichtet ist. Erfahrungsgemäß wird so et- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
was meist teurer und unnützer als geplant. Das ist das bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
Gegenteil von Abrüstung. NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8101
Ruprecht Polenz
(A) Nun gibt es Stimmen in Deutschland, auch bei uns im weil Somalia nicht in der Lage ist, die eigenen Küsten- (C)
Parlament, die sagen: Wenn wir uns nicht einmischen gewässer zu schützen.
würden, wenn wir nicht in Afghanistan wären, wenn wir
uns im Nahen Osten nicht engagierten, dann hätten wir Wir werden heute auch die Diskussion über die Mis-
Ruhe vor dem internationalen Terrorismus; nach dem sion Althea in Bosnien führen. Auch hier zeigt sich, ge-
Motto: Wenn wir niemandem etwas tun, dann tut uns nauso wie im Fall des Kosovo, die große Kontinuität
auch niemand etwas. deutscher Außenpolitik. Die damalige Interventionsent-
scheidung, mit der NATO die Albaner im Kosovo vor
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Die den Serben zu schützen, war eine Entscheidung der rot-
Chancen wären größer!) grünen Bundesregierung, die von der Opposition unter-
stützt worden ist. Wir sind heute noch dabei, mit den
– Herr Gehrcke, es gibt keine groteskere Verkennung der Folgen dieser richtigen Entscheidung so umzugehen,
Wirklichkeit und keine größere Verkehrung von Ursache dass der Balkan in die Lage versetzt wird, sich selbsttra-
und Wirkung als die, die diesem Argument, das gele- gend zu stabilisieren. Eine Folge ist letztendlich auch
gentlich leider auch von der Linksfraktion verwandt – das ist das Versprechen aus dem Stabilitätspakt für den
wird, zugrunde liegt. Balkan, das die Europäische Union gegeben hat –, dass
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einmal alle Länder dieser Region der Europäischen
Union beitreten können.
Der Terrorismus lebt von der Unschuld der Opfer.
Deshalb gibt es nur die Antwort, ihm gemeinsam, ge- Wir haben einen wichtigen Zwischenerfolg dahin ge-
schlossen, fest und gelassen entgegenzutreten, wie wir hend erreicht – da möchte ich dem Außenminister gratu-
das bisher gemacht haben. Deutschland übernimmt Mit- lieren –, dass Serbien – diesem Land fällt die Anerken-
verantwortung für die internationale Sicherheit, weil in nung des Kosovo und die Kenntnisnahme der damit
einer globalisierten Welt ein Wagenburgdenken – wir verbundenen Fakten nach wie vor sehr schwer – bei der
kapseln uns ab und schließen uns ein – nicht zu mehr Si- Vollversammlung der Vereinten Nationen auf einen Kurs
cherheit führt. Das ist ein völlig unrealistischer Ansatz. des Dialogs mit der Europäischen Union über diese
Frage eingeschwenkt ist. Auch hier gibt es also eine
Die deutsche Außenpolitik hat eine große Kontinuität große Kontinuität deutscher Außenpolitik.
aufzuweisen, über mehrere Regierungen hinweg. Neh-
men Sie das Beispiel Afghanistan: Das ist ein Beleg da- Wer heute Morgen die Zeitung gelesen hat, der wird
für, wie wir internationale Verantwortung mit überneh- festgestellt haben, dass sich das Weltgeschehen nicht nur
men, wie wir mit für internationale Sicherheit sorgen, bei uns abspielt. Die Menschen in Asien machen sich
Sorgen vor einem neuen Korea-Krieg. Da haben wir als
(B) damit Afghanistan, so hat es General Petraeus gestern Deutsche und als Europäer relativ wenige Möglichkei- (D)
als Ziel unserer Aufgabe beschrieben, nicht wieder
Rückzugsraum für den internationalen Terrorismus wer- ten, Einfluss zu nehmen. Einmal wieder schauen alle
den kann. Augen auf Washington und in diesem Falle auch auf Pe-
king.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aber mit wenig Erfolg!) Wir haben darüber nachgedacht, was der Ausgang der
amerikanischen Kongresswahlen für die Fähigkeit der
Die Übergabe in Verantwortung, auf die wir in Afgha- Amerikaner bedeutet, sich außenpolitisch zu engagieren.
nistan jetzt gemeinsam zusteuern, ist natürlich abhängig Egal welche Schlussfolgerungen man da im Einzelnen
von den Fähigkeiten Afghanistans einerseits und der ziehen möchte, ist für mich eines klar: Die Europäer
Entwicklung der Sicherheitslage im Land andererseits. werden im Zweifel eher mehr als weniger Verantwor-
Wir werden darüber im Zusammenhang mit den Fort- tung übernehmen müssen. Wir werden nicht alles auf die
schrittsberichten der Regierung – der erste wird in neuer Amerikaner abladen können, die jetzt auch bei der Lö-
Form im Dezember vorgelegt – im Parlament zu disku- sung der Korea-Krise in starkem Maße gefordert sind.
tieren haben. Eher mehr Verantwortung für Europa heißt natürlich
auch: eher mehr Verantwortung für Deutschland.
Mir kommt es darauf an, zu betonen, dass wir eine
große Kontinuität in der Außenpolitik haben, ausgehend Das gilt auch mit Blick auf den Nahen Osten, wo die
von dem Beschluss der damaligen rot-grünen Bundes- Europäer sicherlich nicht diejenigen sein können, die es
regierung, dass wir uns in Afghanistan engagieren, über den Palästinensern und Israelis leichter machen können,
die jeweiligen Mandatsverlängerungen bis heute. Wenn Frieden zu schließen. Aber wir können an dieser Stelle
ich diese Kontinuität erwähne, ist das gleichzeitig ein hilfreich sein. Ich hoffe, dass die Verhandlungen in den
Appell an diejenigen, die diese Politik seinerzeit einge- nächsten drei Monaten zu einer Einigung über den
leitet haben und sich jetzt in der Opposition möglicher- Grenzverlauf führen; denn eine solche Einigung zwi-
weise einen schlanken Fuß machen wollen, weil sie schen Israel und einem palästinensischen Staat würde
nicht bereit sind, die Verantwortung für die internatio- endlich die Abwärtsspirale stoppen, in der sich der Frie-
nale Sicherheit zu tragen. Das werden wir bei den weite- densprozess spätestens seit Beginn der zweiten Intifada
ren Diskussionen über die Mandatsverlängerungen, ins- im Jahre 2000 befindet.
besondere im Zusammenhang mit Afghanistan, sehen.
Lassen Sie mich noch etwas zum Iran sagen. Der Iran
Heute werden wir noch über Atalanta diskutieren. Da- legt – das wissen alle, die mit iranischen Politikern spre-
bei geht es um die Pirateriebekämpfung vor Somalia, chen – größten Wert darauf, dass er mit Würde und Res-
8102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Ruprecht Polenz
(A) pekt behandelt wird und dass man ihm auf Augenhöhe keine Änderung der Politik mit diplomatischen bzw. (C)
begegnet. Aber er muss sich dann auch entsprechend politischen Mitteln erreichen. Denn dazu gehört auch der
verhalten und zunächst die Menschenwürde der eigenen direkte Kontakt zwischen Parlamentariern und ihren
Bürgerinnen und Bürger respektieren. Counterparts in Teheran.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Dazu gehört, dass Wahlen so durchgeführt werden, dass bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
dieser Respekt vor den eigenen Bürgerinnen und Bür- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
gern und ihrer Entscheidung zum Ausdruck kommt.
Dazu gehört auch, dass die barbarischste Form der To- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
desstrafe, die Steinigung, ohne Wenn und Aber abge-
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
schafft wird.
legin Marieluise Beck das Wort.
(Beifall im ganzen Hause)
Natürlich darf die Steinigung von Frau Aschtiani nicht Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
vollzogen werden. Wir fordern, dass sie einen fairen NEN):
Prozess bekommt. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Polenz hat eben von einer Geißel der Mensch-
Was die beiden deutschen Journalisten angeht, will heit gesprochen, dem totalitären Fundamentalismus. Es
ich an dieser Stelle Folgendes sagen: Es ist eigentlich ein gibt eine zweite Geißel, mit der wir auch in diesen Tagen
Akt der Selbstverständlichkeit, dass für sie die Möglich- konfrontiert werden; das ist die der atomaren Bewaff-
keit besteht, sich zu Weihnachten mit ihren Familien zu nung und der Proliferation. Wenn uns die Nachrichten
treffen. Wenn sie eine Ordnungswidrigkeit begangen ha- vom neu aufbrechenden Konflikt zwischen Nordkorea
ben sollten, dann muss dies in einem schnellen, geordne- und Südkorea so beunruhigen, dann auch deshalb, weil
ten und fairen Verfahren festgestellt und zu einem Ab- wir wissen, dass wir es bei Nordkorea mit einem diktato-
schluss gebracht werden, damit die beiden Journalisten rischen Regime zu tun haben, das die Atomwaffe zur
möglichst bald zurück in Deutschland sein werden. Verfügung hat.
Zur Nuklearpolitik. Auch hier besteht eine große Wenn wir etwas weiter schauen und an die Debatte
Kontinuität in der deutschen Außenpolitik. Die „EU-3 von heute Morgen denken und die Debatte über die
plus 3“-Verhandlungen kommen jetzt wieder in Gang. Energieversorgung wirklich ernst nehmen, dann müssen
Es wird darum gehen, vom Iran Garantien für eine dau- wir uns klarmachen, dass Energiepolitik nicht nur Innen- (D)
(B)
erhaft friedliche Ausrichtung seines Atomprogramms zu politik, sondern auch Außenpolitik ist und dass es sogar
bekommen. eine Steigerung der Geißel der atomaren Bewaffnung
Als Erstes wird es um Transparenz gehen. Diese gibt. Dies hat mit der Energiepolitik zu tun. Denn wenn
Transparenz liegt im eigenen iranischen Interesse. Denn weltweit der Weg in den Ausbau atomarer Energie
mangelnde Transparenz birgt schon jetzt das Risiko, eingeschlagen werden würde, würde das zweifellos als
dass ein nukleares Wettrüsten in der Region einsetzt, nächste Etappe die Wiederaufbereitung bedeuten und
weil die umliegenden Länder nicht genau wissen, was damit – das ist noch eine Spirale höher – das Zur-Verfü-
der Iran tatsächlich im Schilde führt. Deshalb hoffe ich gung-Stehen von Plutonium, und das in einer Welt, in
sehr, dass die Verhandlungen zu einem Erfolg führen. der wir es mit Failed States und diktatorischen Regimen
zu tun haben, bei denen wir nicht wissen, ob sie über
Der amerikanische Verteidigungsminister Gates hat ihre destruktive Kraft nach außen hinaus sogar zur
gesagt: Die einzige langfristige Lösung, iranische Nu- Selbstdestruktion bereit sind, sodass jeglicher Schutz für
klearwaffen zu vermeiden, ist die Einsicht des Irans ein internationales Zusammenleben entfallen würde.
selbst, dass Atomwaffen nicht in seinem Interesse lie-
gen. – Die Sanktionspolitik soll diese Einsicht befördern, Insofern sind die Atomenergie und – daran gekoppelt –
indem sie deutlich macht: Erstens. Iran isoliert sich. die Plutoniumwirtschaft ein zentraler Punkt, wenn wir
Zweitens. Die Weltgemeinschaft steht gegen dieses Pro- international und in Strategien denken, mit denen wir
gramm. Drittens. Die politischen und moralischen Kos- uns von den Geißeln der Menschheit befreien können.
ten werden durch die Sanktionen erhöht. Viertens. Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
machen gleichzeitig ein Kooperationsangebot für den
Fall, dass der Iran seine Politik ändert. Dass im Fall von Nordkorea und Südkorea die USA,
Russland und China – hoffentlich gemeinsam – agieren
Letzter Satz. Als Parlamentarier – daran möchte ich und die USA und Russland China dabei überzeugen
ausdrücklich festhalten – dürfen wir den Gesprächsfaden – wir wissen, dass es den Haupteinfluss auf Nordkorea
zum Iran auch weiterhin nicht abreißen lassen, trotz aller hat –, ist gut.
Probleme, die es im Augenblick gibt. Ich sage das des-
halb, weil mich, wie wahrscheinlich viele andere Kolle- Ich bin damit noch einmal beim Gipfel von Lissabon.
gen, viele Briefe und E-Mails erreicht haben, in denen Es ist in der Tat ein gutes Signal, wenn das Ende des
die Reisen unserer Kollegen kritisiert wurden. Ich weise Kalten Krieges ausgerufen wird, obwohl ich meine, wir
das zurück. Die Reisen waren sinnvoll, und wir müssen sollten Präsident Gorbatschow gegenüber etwas fairer
auf diesem Weg weiterarbeiten, sonst werden wir im Iran sein. Wir würden nicht hier in diesem Haus sitzen, wenn
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8103
Marieluise Beck (Bremen)
(A) es das Ende des Kalten Krieges nicht schon gegeben Schandfleck Guantánamo. Aber dieser kritische Blick auf (C)
hätte, ein Ende, das viel mit der wunderbaren Politik von die demokratischen Grundsätze des eigenen Militärs
Präsident Gorbatschow zu tun gehabt hat. Nichtsdesto- muss auch für den zukünftigen Partner Russland gelten.
trotz begrüßen wir uneingeschränkt jeden Schritt in der
Präsident Kadyrow hat in unglaublicher Offenheit in
Kooperation mit Russland. Ich sage das als jemand, die
einem Interview, das die taz vor zwei Tagen dankens-
sehr viel in Russland ist, die eine kritische Begleiterin
werterweise abgedruckt hat, ganz unmissverständlich
dieses Landes ist, die sehr viele enge Verbindungen in
gezeigt, womit wir es in Russland auch zu tun haben,
dieses Land hat.
nämlich mit einem Präsidenten, der, angesprochen auf
Die Jubelschlagzeilen aus Lissabon bedürfen einer die Überfälle in Tschetschenien, sagt:
genaueren Betrachtung. Denn sowohl in den USA als
auch in Russland ist nicht klar, ob es weiterhin eine in- Mein Heimatdorf Zentoroi ist ein sehr sicherer Ort.
nenpolitische Deckung für einen Entspannungskurs Wer reingeht, kommt nicht mehr raus.
geben wird. Ich nenne die gruselige Tea-Party-Bewe- Weiter:
gung in den USA, die Obamas Spielräume einengt. Auch
bei Russland wissen wir nicht, ob Medwedew Präsident So war es auch beim Überfall auf das Parlament.
bleiben wird und ob Ministerpräsident Putin seinen Ent- Ein paar Dutzend sind übrig, die werden wir auch
spannungskurs wirklich deckt. ausschalten. Das können wir gut.

Wie sieht das Ost-West-Verhältnis derzeit aus? Tat- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein Partner
sächlich gibt es in Teilen der russischen Bevölkerung für unsere Politik. Es muss sich noch unendlich viel be-
nach wie vor ein Gefühl der Bedrohung durch die wegen, damit wir auch im Bereich der Militärs tatsäch-
NATO. Teile der Militärs und auch der Politik denken lich eine Partnerschaft mit Russland haben.
noch in Bedrohungskategorien. Es gibt den Begriff der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Einkreisung durch die NATO, wobei manchmal nicht
ganz klar ist, wo dieser Begriff instrumentalisiert und wo Es gibt auch in Bezug auf die innere Verfasstheit des
solch eine Einkreisung ernsthaft empfunden wird. Die russischen Militärs viel zu tun. Das sieht man, wenn man
Überwindung dieser Gräben kann man jedenfalls nur sich mit den Müttern der Soldaten in Sankt Petersburg
durch ständige Kommunikation und Transparenz schaf- trifft. Diese haben sich zusammengetan, weil es eine
fen. große Zahl von Selbstmorden von jungen Menschen im
russischen Militär als Folge der ritualisierten Gewalttä-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tigkeit gibt. Das alles muss angegangen werden. Dies
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und darf es beim Militär in demokratischen Staaten nicht ge-
(B) der FDP) ben. Darauf muss die NATO achten. Ich sage noch ein- (D)
Wir als Deutschland müssen die kleinen Länder zwi- mal: Auch wenn die NATO und ihre Mitgliedsländer von
schen den ehemaligen Blöcken im Blick behalten, die dem Weg abweichen, haben wir die Verpflichtung, sie
leidvolle historische Erfahrungen gemacht haben, auch immer wieder zurückzuholen. Das muss eine unmissver-
durch das niederträchtige Zusammenwirken von Hitler ständliche Basis sein: Willkür passt nicht zu demokrati-
und Stalin. Wir müssen ihnen zugestehen, dass sie unter schen Staaten.
das Dach der NATO gestrebt sind. Hier gibt es einen ers- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ten wichtigen Punkt in der Auseinandersetzung mit der FDP)
Russland: Wir müssen Russland unmissverständlich
klarmachen, dass es ein souveränes Recht auf Entschei- Ich möchte zum Schluss noch ganz kurz auf das
dung gibt und dass die Kategorie des „nahen Auslands“, Thema Terrorismus eingehen. Hier gibt es tatsächlich
wie sie von Russland verwandt wird, zu diesem Recht eine schicksalhafte Verbindung zwischen Russland und
von souveränen Staaten nicht passt. dem Westen. Keiner von uns ist davon unberührt. Das ha-
ben die Festnahmen gestern gezeigt. Wenn Belgier, Nie-
Ich füge hinzu: Es ist auch keine vertrauensbildende derländer, Marokkaner, russische Staatsangehörige und
Maßnahme, dass die konsentierte OSZE-Mission nach tschetschenische Kämpfer zusammen festgenommen
wie vor nicht in Südossetien auftreten darf. Das ist nicht werden, wissen wir, dass wir in einem Boot sitzen.
in Ordnung. Hier wäre ein erster Schritt, mit dem Russ-
land zeigen kann und muss, wie ernst man es dort mit Es geht um den Kampf eines totalitären Denkens ge-
der Entspannungspolitik und der Politik der Gemeinsam- gen die Grundwerte von Aufklärung und Humanität,
keiten meint. Werte des Westens, die aber auch für Russland gelten.
Wenn wir diesem totalitären Denken gemeinsam auf
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grundlage der wundervollen Werte, die die Würde des
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Menschen bewahren, gemeinsam entgegenwirken, dann
der FDP) haben wir einen guten roten Faden für die nächsten
Die NATO ist mehr als ein Militärbündnis. Sie ist eine Jahre.
Gemeinschaft demokratischer Staaten. Das führt zu
Schönen Dank.
schmerzhaften Prozessen im Westen. Wir haben politisch
die Verantwortung, dass dieser schmerzhafte Blick ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wagt wird. Ich nenne Verfehlungen innerhalb der NATO sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
wie CIA-Geheimgefängnisse, Foltervorwürfe und den SPD und der FDP)
8104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall der Abg. Michael Groschek [SPD], (C)
Nächster Redner ist der Kollege Karl-Georg Stefan Liebich [DIE LINKE] und Sven-
Wellmann für die CDU/CSU-Fraktion. Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es ist unser aller Anstrengung wert, dass unser Stand-
Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): punkt im Hinblick auf die Bedeutung des Bündnisses
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- auch dem neu gewählten Senator aus Illinois oder dem
finden uns gegenwärtig in einer Phase großer internatio- Congressman aus dem mittleren Westen vermittelt wird.
naler Konferenzen: des G-20-Gipfeltreffens in Korea, Das transatlantische Bündnis hat uns Deutschen Si-
des NATO-Gipfels in Lissabon und des OSZE-Gipfels in cherheit, Stabilität und Wohlstand garantiert und wird
Astana, der in der nächsten Woche stattfindet. Bei all dies auch zukünftig tun. Deshalb dürfen wir nicht nur
diesen Gipfeltreffen spielen die Amerikaner eine we- seine Vorteile in Anspruch nehmen, sondern müssen
sentliche Rolle. Deshalb ist die enge Zusammenarbeit auch Verantwortung übernehmen; Ruprecht Polenz hat
zwischen uns und den Amerikanern so wichtig. Sie ist darauf hingewiesen. Das gilt auch mit Blick auf Afgha-
für uns von existenziellem Interesse. Das hat mit unserer nistan. Die aktuelle Sicherheitslage in unserem Land
Sicherheit und mit der Tatsache zu tun, dass wir poten- zeigt, wie wichtig es ist, den Terrorismus, wo es möglich
ziellen Bedrohungen ausgesetzt sind, gegen die wir uns ist, an seinem Ursprung und nicht bei uns zu Hause zu
alleine nicht verteidigen könnten. Das hat aber auch viel bekämpfen.
mit gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Ge-
schichte zu tun. Ich sage das ausdrücklich als jemand, Das gilt auch für unsere Verantwortung im Rahmen
der in Westberlin aufgewachsen ist und nicht vergessen internationaler Missionen, etwa der Operation Atalanta
wird, dass es die Amerikaner waren, die gewährleistet am Horn von Afrika. Dieser Mission haben auch die
haben, dass wir in einer freien Welt leben und aufwach- Grünen zugestimmt. Deshalb finde ich die Diskussionen
sen konnten und nicht Teil von Ulbrichts oder Honeckers über Handelskriege, die hier angeblich geführt werden,
Spießerdiktatur wurden. völlig absurd. Der Kollege Trittin regt sich immer beson-
ders schön künstlich auf und behauptet, irgendjemand
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sei darauf aus, Kriege zur Durchsetzung von Handelsin-
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE teressen zu führen.
GRÜNEN]: Und die uns von den Nazis befreit
haben!) (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja! Das wurde doch offen so ge-
Wir wissen, dass wir diese Freundschaft pflegen müs-
(B) sagt! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ (D)
sen. Europa ist nicht mehr der zentrale Bezugspunkt der
DIE GRÜNEN]: Ist es nicht so?)
Amerikaner. Das ist inzwischen eher der pazifische
Raum, sind eher Indien und China. Wer die Wahlen in – Herr Ströbele, mit dieser Behauptung hat der Kollege
Amerika vor zwei Jahren erlebt hat, konnte geradezu Trittin schon dem Ansehen des früheren Bundespräsi-
körperlich spüren: Außenpolitik spielte überhaupt keine denten schweren Schaden zugefügt.
Rolle; alles drehte sich um Wirtschaft und Arbeitsplätze.
Vor diesem Hintergrund war die Botschaft, die Präsident (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wie bitte?
Obama nach dem NATO-Gipfel ausgesandt hat, eine Wer dem Ansehen des Bundespräsidenten
gute Botschaft. Sie machte deutlich, dass er von einer schweren Schaden zugefügt hat, dazu sollten
engen Zusammenarbeit zwischen Europa und den USA Sie sich lieber nicht äußern!)
ausgeht. Er sagte, dass die Partnerschaft mit den europäi- Unsere Aktion am Horn von Afrika ist keine sozialpoliti-
schen Verbündeten ein Eckpfeiler des amerikanischen sche Aktion, sondern wir schützen unsere Handelsrou-
Engagements ist. ten. Was denn sonst?
Durch den Sieg der Republikaner bei den Midterm
(Beifall des Abg. Philipp Mißfelder [CDU/
Elections vor drei Wochen wurde die Rolle des amerika-
CSU])
nischen Parlaments gestärkt. Ob uns das Wahlergebnis
gefällt oder nicht, es wird für Präsident Obama jeden- Darf ich daran erinnern, dass unser Wohlstand und vor
falls nicht einfacher. Wir, die wir hier sitzen, müssen ge- allem 9 Millionen Arbeitsplätze in der Exportwirtschaft
rade auf parlamentarischer Ebene den Austausch mit den von unserem Außenhandel abhängen?
Amerikanern suchen:
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Dann fan- GRÜNEN]: Na also! Es geht doch um Arbeits-
gen Sie mal an!) plätze! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/
weil viele neue Abgeordnete in den Kongress eingezo- DIE GRÜNEN]: Genau das meinten wir ja! Es
gen sind, weil es unter den Wahlsiegern auch populisti- geht um Arbeitsplätze und wirtschaftliche In-
sche Tendenzen gibt und dies nicht zu isolationistischen teressen!)
Reflexen führen darf, weil die Ratifikation des START- Als Gewerkschaft würde ich gegen den Unsinn, den
Vertrages gefährdet ist und weil unser Standpunkt, dass Trittin da erzählt hat, mobil machen.
der Iran-Konflikt nur mit friedlichen Mitteln gelöst wer-
den kann, richtig bleibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8105
Karl-Georg Wellmann
(A) Ich habe mir heute früh einmal etwas angetan und re- Keller haben, fehlt Ihnen jede Regierungsfähigkeit, (C)
cherchiert, wie die Linkspartei zum westlichen Bündnis meine Damen und Herren von den Linken.
steht, Herr Gehrcke.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Dr. Bijan Djir-Sarai [FDP]: Da findet man Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das entscheiden
nichts!) Sie doch nicht! Das entscheiden die Wähler!)
Da liest man: Linkspartei will die Auflösung der NATO.
– Ein Mitglied Ihres Bundesvorstands fordert – wörtlich – Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
die Auflösung des Kriegsbündnisses NATO. Es meint, Herr Kollege Wellmann, gestatten Sie eine Zwischen-
sie sei ein kriegerisches Bündnis und für den Terror ver- frage des Kollegen Gehrcke?
antwortlich.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Mitverant- Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU):
wortlich!) Nein, jetzt nicht.
Jeder weiß – Sie bestätigen das –: Würde die NATO auf- (Zuruf von der LINKEN)
gelöst, wäre das das Ende der nordatlantischen Partner-
schaft; denn die NATO ist das Herzstück dieser Partner- – Ich weiß, dass Ihnen das unangenehm ist, aber ich sage
schaft. es trotzdem.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dass Sie von GRÜNEN]: Lassen Sie doch einmal eine Zwi-
„Herz“ reden, ist schon merkwürdig!) schenfrage zu!)
Erst vor 14 Tagen hat die Vorsitzende der Linkspartei, Ich wundere mich ein bisschen darüber, dass die Grü-
Frau Lötzsch, hier an dieser Stelle eine Rede gehalten, in nen dazu nicht klatschen, kann Ihnen aber gerne erklä-
der sie diesen ganzen lebensgefährlichen Unsinn wieder- ren, warum. Auch ihre Jugendorganisation, die Grüne
holt hat. Das Gegenteil ist richtig: Die NATO ist das er- Jugend, ist für die Auflösung der NATO.
folgreichste Bündnis der Geschichte. Das hat Obama
letzte Woche in der New York Times geschrieben, und er (Beifall bei der LINKEN – Sven-Christian
hat recht. Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da
hat sie recht! – Beifall des Abg. Sven-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der FDP – Sven-Christian Kindler [BÜND- NEN])
(B) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die UNO ist ja wohl (D)
ein bisschen erfolgreicher als die NATO!) In Berlin ist die Grüne Jugend für eine Koalition mit der
Linkspartei: grün-dunkelrot. Da muss Frau Künast ein-
Im Internet wird man zu den Positionen der Linken
mal erklären, mit wem sie in Berlin zukünftig regieren
richtig fündig. Einer der DDR-Mullahs war lange Ehren-
will.
vorsitzender Ihrer Partei und ist heute Vorsitzender Ihres
Ältestenrats, Herr Modrow. Im Internet finden Sie wun- (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Sie von der
derbare Zitate von ihm. Er spricht von den Kriegsplänen Westberliner CDU wollen mit diesen Grünen
des NATO-Staates Bundesrepublik damals gegen seine zusammen regieren! Da haben Sie keine Skru-
friedliebende DDR. Wohlgemerkt, das hat er nicht nur pel! Schlimm! Schlimm!)
damals behauptet – damals sowieso –, sondern er hat es
heute wiederholt. Ihr Ehrenvorsitzender der Linkspartei Von Lissabon sind wichtige Signale der Entspannung
war es, der unser Engagement in Jugoslawien, das, mit und Abrüstung ausgegangen. Vor allem ist die richtige
Verlaub, von einem Grünen-Außenminister verantwortet Botschaft nach Moskau gegangen, nämlich dass Sicher-
wurde, mit dem Einmarsch Hitlers in die Tschechoslo- heit nicht gegen Russland zu erreichen ist, sondern nur
wakei gleichgesetzt hat. Dieses Gerede werden wir nicht mit Russland. Auch die Bundeskanzlerin hat es heute
vergessen. Das verspreche ich Ihnen. früh gesagt: Wir sehen die Russen nicht mehr als Feinde,
sondern als Partner.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Übrigens, Herr Gehrcke: In russischen Regierungs-
Ich kann mich noch gut an die Begeisterung der DKP- zeitungen ist im Moment sehr viel Nachdenkliches über
ler erinnern, die jetzt bei Ihnen, Herr Gehrcke, in der die NATO zu lesen. Darin steht wörtlich, sie habe ihren
Fraktion sitzen, als die Sowjetunion in Afghanistan ein- Mitgliedern Frieden, Wohlstand und Stabilität gebracht.
marschiert ist. Ich kann mich auch noch gut an die Das müsste doch Ihr Weltbild durcheinanderbringen.
Spruchtafeln erinnern, die damals in der DDR auftauch- Sie, der Sie auf der Parteihochschule Moskau gewesen
ten: sind, haben früher auf die Genossen gehört. Dann hören
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Deswegen Sie doch auch heute auf die Genossen in Moskau!
müssen Sie den Mist nicht noch einmal wie-
derholen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das
Waffenbrüderschaft, Klassenbrüderschaft. – Das haben ist nicht mehr die Sowjetunion! Wir sind nicht
wir gelesen. Solange Sie diesen politischen Giftmüll im mehr die DKP! Das ist 20 Jahre her!)
8106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ähnliches gilt in Bezug auf Afghanistan. Ich finde es (C)
Herr Kollege Wellmann, auch Herr Kollege Nouripour immer bemerkenswert, wenn die falschen Argumente,
würde gerne eine Zwischenfrage stellen. die ich gebraucht habe, heute von anderen Seiten wie-
derholt werden. Man kann geschichtlich nicht alles
Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): gleichsetzen; das ist völlig klar. Ich kenne die Argu-
mente von früher, als auch ich leider argumentiert habe:
Nein, ich will zum Ende kommen.
Die Sowjetunion ist in Afghanistan einmarschiert, um
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So groß ist das Mittelalter zu überwinden. – Völlig falsch! Die So-
Ihre Toleranz!) wjetunion ist einmarschiert, um die Menschen dort zu
befreien. – Völlig falsch! Die Sowjetunion ist einmar-
– Dass Sie so toben und schreien, ist ein Beispiel dafür, schiert, um die Frauen in Afghanistan zu befreien. –
dass ich Sie getroffen habe. Das ist doch eine wunder- Völlig falsch! Es waren imperiale Gründe. Ich finde,
bare Bestätigung. man sollte heute nicht den gleichen Unsinn seitenver-
Lissabon war ein Schritt vorwärts in Richtung mehr kehrt wiederholen. Wenn man das tut, dann hat man aus
Sicherheit. Dass die Russen in Person ihres Präsidenten der Geschichte nun wirklich überhaupt nichts gelernt.
teilgenommen haben, war vor allem auch ein Verdienst (Beifall bei der LINKEN)
der Bundeskanzlerin. Sie vor allem hat Vertrauen aufge-
baut und Medwedew überzeugt, dass es sich lohnen Wir alle sollten so couragiert sein, etwas aus der Ge-
würde, an dem Gipfel teilzunehmen. schichte – auch aus der eigenen – zu lernen.
(Beifall des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff Letzter Punkt: Man kann an Herrn Modrow, der
[CDU/CSU]) Ministerpräsident der DDR war, gewiss viel Kritik üben.
Er weiß, dass das auch in unserer Partei der Fall ist. Er
Wir haben ein nachhaltiges Interesse an der Einbin- hat aber seinen Beitrag dazu geleistet, dass die Vereini-
dung Russlands. Wir haben kein Interesse an einem gung Deutschlands friedfertig und nicht mit viel Gewalt
schwachen Russland. Wir brauchen Russland bei der verlaufen ist. Ich finde, auch Ihre Partei müsste sich ein-
Rüstungskontrolle, der Nichtverbreitung und Bekämp- mal einen Ruck geben, das auch hier im Parlament zu
fung des Terrorismus, bei der Klimapolitik und vielem würdigen und zu sagen, dass sie das bei allen Differen-
anderen mehr. Das Vertrauen, das jetzt in Lissabon auf- zen anerkennt. Der Kalte Krieg ist vorbei, die DDR gibt
gebaut worden ist, darf nicht dadurch beschädigt wer- es nicht mehr – man kann zu einem anderen Umgang
den, dass der START-Vertrag im Kongress scheitert. miteinander kommen.
Lassen Sie mich auf den Ausgangspunkt meiner Rede (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
(B) zurückkommen: Lassen Sie uns alle im Dialog mit unse- (D)
Da soll man Sie auch noch loben! –
ren amerikanischen Kollegen daran mitwirken, dass die Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Die
von Obama und der Bundeskanzlerin betriebene Ent- haben so viele Menschen auf dem Gewissen!)
spannungs- und Abrüstungspolitik fortgesetzt wird.
Sie haben das nicht geschafft; aber es war ein bisschen
Ich danke für die Aufmerksamkeit. erheiternd und ermunternd, hier wieder einmal Antikom-
munismus pur zu erleben. Ich habe das, ehrlich gesagt,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schon vermisst, weil es dazu so lange nicht gekommen
ist.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Schönen Dank für Ihren Beitrag.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Gehrcke. (Beifall bei der LINKEN)

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


Herr Wellmann, Sie sind selber schuld, dass ich jetzt Zu einer weiteren Kurzintervention hat die Kollegin
alles erklären muss. Sie hätten es anders haben können. Marieluise Beck das Wort.
Ich fand das schon ein bisschen paradox. Ich gebe zu,
dass ich lange gebraucht habe, um mich davon zu lösen, Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
alles gut zu finden, was Russland macht bzw. die NEN):
Sowjetunion gemacht hat. Dass Sie mir jetzt empfehlen, Herr Kollege Gehrcke, Sie reklamieren hier, dass Sie
dass ich alles gut finden soll, was Russland heute zur sich bewegt haben und dass Sie gelernt haben. Dass man
NATO sagt, finde ich ein bisschen unhistorisch. das kann, ist richtig und muss jedem von uns zugestan-
den werden.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Weil Sie aber beim Thema Afghanistan ein zweites
Akzeptieren Sie: Es gibt hier Bewegung. Da Sie jetzt al- Mal diese Figur bemühen, wobei Sie Äpfel und Birnen
les begrüßen, was die NATO macht, kann ich Ihnen Fol- miteinander vergleichen – das wäre ja noch ein harmlo-
gendes empfehlen: Fangen Sie einmal an, ein bisschen ser Vergleich; Ihr Vergleich ist nicht so harmlos –, haben
kritisch nachzudenken. Dann lösen auch Sie sich davon Sie anscheinend doch nichts gelernt. Ich will Ihnen auch
und werden auch Sie nicht alles gut finden, was Russ- sagen, warum. Da Sie die Intervention bzw. den Ein-
land macht. Hier kann man sich ja bewegen. marsch der russischen Armee, die das afghanische Land
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8107
Marieluise Beck (Bremen)
(A) bis in den letzten Winkel vermint hat und unendlich Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): (C)
viele Tote und Millionen von Flüchtlingen zu verantwor- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ten hat, von denen viele bis heute nicht zurückgekehrt Eine Haushaltsdebatte ist auch Anlass, sich über die Per-
sind, mit einem UN-mandatierten Einsatz vergleichen, spektiven und die operativen Schritte deutscher Außen-
an dem sich 43 Nationen quer durch alle Lager dieser politik zu vergewissern. Wir meinen, angesichts der
Welt beteiligen, haben Sie nichts gelernt. Das möchte ich Konflikte weltweit müssen diese Perspektiven und die
hier doch noch einmal festhalten. operativen Schritte bei Vorrang für Abrüstung, Vorrang
für politische Lösungen für die schweren Konflikte auf
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Welt und bei der Verringerung der Gewaltpotenziale
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) und Gewaltinstrumente liegen. Deshalb möchte ich mich
in meinen Ausführungen auf vier Punkte konzentrieren:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: auf die Notwendigkeit atomarer Abrüstung, auf die Ver-
Herr Kollege Wellmann, bitte. hinderung des Transfers von Kleinwaffen, auf das
Verbot von Streumunition und auf eine notwendige par-
lamentarische Transparenz bei Waffenexportentschei-
Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): dungen.
Herr Kollege Gehrcke, zu Afghanistan hat die Kolle-
gin Beck schon das Richtige gesagt. Sie haben immer Nimmt man die Haushaltszahlen – der Kollege
noch Mühe, einen Einmarsch der Sowjetunion und ein Brandner hat das sehr deutlich dargestellt – als konkre-
Engagement der internationalen Staatengemeinschaft ten Maßstab, muss man übrigens feststellen, dass die-
auseinanderzuhalten. Das finde ich sehr bedauerlich. selbe Bundesregierung, die am 12. Oktober große Ver-
antwortung in Form des Sitzes im UN-Sicherheitsrat
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- übernommen hat, massive Einsparungen auf den wich-
ruf von der LINKEN: Die Argumente sind die- tigsten Feldern der internationalen Friedens- und Sicher-
selben! Die Folgen sind auch dieselben!) heitspolitik plant. Das ist ein eklatanter Widerspruch zu
der eingegangenen Verpflichtung.
Zu Herrn Modrow ließe sich viel sagen. Er war
16 Jahre einer der führenden Funktionäre des DDR-Sys- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
tems, Parteichef in Dresden und damit einer der wich- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
tigsten Männer, der auch gesagt hat, der Bau der Mauer Zu den angesprochenen Punkten. Erstens: atomare
habe zum Frieden beigetragen. Abrüstung. Außenminister Westerwelle hat vor dem
(Zuruf von der LINKEN: Das hat auch Herr NATO-Gipfel den Mund vollgenommen, und er hat sich
(B)
Strauß geschrieben!) nicht durchgesetzt. Das muss er hier auch offen einräu- (D)
men. Sein Kollege Jean Asselborn aus Luxemburg hat
Solche Leute sind bei Ihnen nach wie vor Ehrenvorsit- gesagt: Westerwelles Abrüstungsinitiative war ein Miss-
zende, 16 Jahre. erfolg. Die NATO hat auf dem Gipfel keine klare Festle-
gung getroffen, ob und wie sie die Atomwaffen in
(Zuruf von der LINKEN: Wir haben überhaupt Europa abbauen will.
keine Ehrenvorsitzenden! Was reden Sie?)
Wir sagen: Die NATO braucht nach unserer Überzeu-
Deshalb sage ich: Sie haben Giftmüll im Keller, und Sie gung keine Atomwaffen. Dieses Abschreckungskonzept
sind nicht regierungsfähig. des Kalten Krieges gehört seit 20 Jahren der Vergangen-
heit an. Deshalb müssen auch die taktischen Atomwaf-
(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Außerdem fen vom Boden Europas zurückgezogen werden.
regieren wir in Berlin!)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Ein Letztes. Ich sage es gern noch einmal: Das Nord- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
atlantische Bündnis – das haben wir aus dem furchtba-
ren 20. Jahrhundert gelernt – ist Teil der deutschen Das wäre auch ein Impuls für den weltweiten nuklearen
Staatsräson. Es gewährleistet uns Sicherheit, Sicherheit Abrüstungsprozess. Wir erinnern uns: Die UN hat für die
in Gemeinschaft mit der atlantischen Staatengemein- Zeit der UN-Sicherheitsratspräsidentschaft gefordert, im
schaft. Diejenigen, die dieses Bündnis auflösen wollen, Nahen Osten eine Zone frei von Massenvernichtungs-
gefährden die Sicherheit. Damit werden wir nie überein- waffen zu verwirklichen.
stimmen.
(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – LINKE])
Stefan Liebich [DIE LINKE]: Jetzt wieder in Es gilt zweitens, den illegalen und legalen Transfer
die Gegenwart!) sogenannter Kleinwaffen, zumal nach Afrika, zu ver-
hindern. In den Händen von Gewaltgruppen werden sie
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: genutzt, um Kinder als Soldaten zum Töten zu missbrau-
Nun hat die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul für chen. Kinder sollen aber lernen, Stift und Computer zu
die SPD-Fraktion das Wort. nutzen, um für das Leben und nicht für das Töten zu ler-
nen. Im Jahr 2012 findet die UN-Überprüfungskon-
(Beifall bei der SPD) ferenz zum Kleinwaffen-Aktionsprogramm statt. Ab
8108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Heidemarie Wieczorek-Zeul
(A) Januar 2011 ist Deutschland Mitglied im UN-Sicher- und in der Vernachlässigung friedens- und entwicklungs- (C)
heitsrat. Ich möchte gerne hier und heute wissen: Was politischer Dimensionen.
will die Bundesregierung? Was wollen Sie tun und ini-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Außenminis-
tiieren, damit diese Konferenz ein Erfolg wird und ille-
ter, wenn Sie, weil Sie bei der Bundeswehr in unserem
galen Waffenhändlern endlich das Handwerk gelegt
Land Umstrukturierungen und Einsparungen vorneh-
wird?
men, den Finanzausgleich durch mehr Waffenexporte in
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Welt herstellen wollen, dann exportieren Sie neue
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Konflikte und Gefahren in die Welt, statt Gefahren zu
LINKEN) mindern. Das ist unverantwortlich und hochgefährlich.
Wir warnen ausdrücklich davor.
Drittens. Am 1. August 2010 ist das völkerrechtliche
Verbot von Streumunition in Kraft getreten. Das ist der Vielen Dank.
wunderbare Erfolg einer Initiative von Regierungen, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
aber auch der Zivilgesellschaft. Die Konvention wurde BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
für Deutschland noch von Außenminister Frank-Walter
Steinmeier unterzeichnet. Jetzt geht es um die praktische Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Umsetzung. Es geht um ein konkretes Aktionspro- Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen,
gramm. Es geht darum, dass diese Konvention die Re- Dr. Guido Westerwelle.
gierungen verpflichtet, Opferfürsorge zu leisten. Herr
Westerwelle, Sie haben in Ihrem Haushalt die Mittel für (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
die Opferfürsorge gekürzt, statt sie auszubauen, was not- der CDU/CSU)
wendig gewesen wäre. Streubomben töten und verstüm-
meln noch lange nach ihrem Einsatz. Man kann davon Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
ausgehen, dass die tatsächliche Anzahl von Opfern welt- wärtigen:
weit bei etwa 85 000 liegt. Dabei sind vor allem Kinder Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
betroffen. Deshalb fordern wir, dass die notwendigen Herren! Ich möchte vorab zwei Bemerkungen machen.
Verpflichtungen tatsächlich umgesetzt werden. Zunächst einmal möchte ich mich sehr herzlich bei den
Berichterstattern bedanken. Sehen Sie es mir bitte nach,
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
dass ich mich, ohne die anderen Kollegen zurücksetzen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zu wollen, besonders bei dem Hauptberichterstatter,
Ich komme zum letzten Punkt. Als langjähriges Mit- Herrn Frankenhauser, bedanke. Ich bitte Sie, ihm auch
(B) glied des Bundessicherheitsrates und aus langjähriger meine persönlichen Genesungswünsche zu übermitteln. (D)
und in dem Fall leidvoller Erfahrung dieser Zeit plädiere Ich weiß, dass er gerne an dieser Debatte teilnehmen
ich dafür: Schluss mit der Geheimwirtschaft bei Waffen- würde. Herzlichen Dank für diese Arbeit!
exporten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
LINKE]) NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine zweite Vorbemerkung richte ich an Frau
Die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung Wieczorek-Zeul. Es hat schon etwas Satirisches, wenn
der evangelischen und katholischen Kirche hat gefor- man elf Jahre lang Verantwortung für die Angelegenhei-
dert, dass der deutsche und der internationale Rüstungs- ten des Bundessicherheitsrates gehabt hat
export endlich in öffentliche kontroverse Debatten
Eingang finden. Die Rüstungsexportpolitik muss der tat- (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Deshalb
sächlichen parlamentarischen Kontrolle unterliegen; die habe ich das ja gesagt!)
nachträgliche Information des Deutschen Bundestages und dann nach wenigen Monaten in der Opposition die-
reicht nicht aus. Das ist meine Erfahrung aus der Arbeit jenigen, die jetzt regieren, auf die Anklagebank setzt,
dort. obwohl man selber nichts zustande gebracht hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE der CDU/CSU – Heidemarie Wieczorek-Zeul
GRÜNEN) [SPD]: Was?)
Das ist umso wichtiger, als die Koalition von Schwarz- Ich muss Ihnen sagen, Frau Wieczorek-Zeul: Elf Jahre
Gelb in ihren Koalitionsvereinbarungen festgelegt hat, lang saßen Sie da. Wenn Sie sagen, diese Regierung
dass sie die restriktive Rüstungsexportpolitik, die Rot- schraube die Waffenexporte nach oben, und das hier als
Grün in den Grundsätzen verankert hatte, zugunsten ei- Kulisse aufbauen, dann darf ich einmal auf Folgendes
ner angeblich verantwortungsvollen Rüstungsexport- aufmerksam machen: Jede Waffe, die derzeit ins Aus-
politik aufgeben will. Die Gemeinsame Konferenz Kir- land exportiert wird, wurde nicht von dieser Regierung
che und Entwicklung sieht die Konsequenz daraus in der projektiert, sondern im Schnitt in den sieben Jahren von
vorrangigen Ausrichtung der skizzierten Rüstungs- Rot-Grün. Das geht nämlich nicht von jetzt auf gleich.
exportpolitik der neuen Bundesregierung an außenwirt- Das, was Sie hier heute beklagen, liegt also in Ihrer Ver-
schaftlichen und industriepolitischen Gesichtspunkten antwortung. Das ist abenteuerlich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8109
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ein Recht darauf, in einem eigenen Staat selbstbewusst (C)
leben zu können. Ich habe den Gazastreifen besucht;
Meine Damen und Herren, Deutschland ist vor weni- denn Gaza ist Teil einer Zweistaatenlösung. Wir appel-
gen Monaten in den Sicherheitsrat der Vereinten Na- lieren an alle, die es angeht, erstens auf Gewalt zu ver-
tionen gewählt worden. Das ist ein Erfolg der deutschen zichten, aber zweitens auch zuzulassen, dass die Bürge-
Außenpolitik; aber es ist noch viel mehr ein Erfolg rinnen und Bürger in Gaza in vollem Umfange wieder in
Deutschlands in der Welt. Es ist ein Vertrauensbeweis. den Handelsaustausch mit ihrer Umgebung eintreten
Es zeigt, welches hohe Ansehen wir haben. Noch nie- können. Import und Export müssen wieder zugelassen
mals musste sich Deutschland einer solchen Abstim- werden.
mung stellen, in der es mehr Kandidaten als Plätze gab.
Wir haben uns im ersten Wahlgang in einer geheimen (Beifall im ganzen Hause)
Abstimmung mit einer Zweidrittelmehrheit gegen sehr Der zweite Bereich, den ich in diesem Zusammenhang
respektable Kandidaten durchgesetzt. Das zeigt, dass das ansprechen möchte, ist Iran. Wenn man hier vor einem
Ansehen Deutschlands in der Welt hoch ist. Daran haben Jahr über Iran gesprochen hat, dann ist die Frage gestellt
sehr viele Anteil, aber auch die Regierung. Ich denke, worden: Schafft es die internationale Politik, eine ge-
bei allem, was eine Opposition immer mäkeln muss, meinsame Haltung der Völkergemeinschaft zustande zu
könnten Sie dies auch anerkennen. Wir können stolz sein bringen? Genau das ist uns gelungen. Das ist nicht allein
auf das Ansehen, das Deutschland in der Welt genießt. der Erfolg der deutschen Bundesregierung und deutscher
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- Außenpolitik. Es ist auch dem umsichtigen und vor allen
ruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Trotz Dingen auch klugen und abgewogenen Verhalten vieler
Schwarz-Gelb!) Beteiligter in der Welt geschuldet. Wir haben auf vielen
Konferenzen Russland und China überzeugen können, im
Natürlich geht es im Sicherheitsrat der Vereinten Na- Sicherheitsrat mit uns gemeinsam zu stimmen.
tionen besonders um die Frage der Konfliktprävention
und der Konfliktlösungen. Die Welt ist alles andere als Wir haben in Europa im Kreis der 27 Mitgliedstaaten
friedlich. Deswegen will ich an dieser Stelle klar zum dafür gesorgt, dass die Sanktionen gemeinsam getragen
Ausdruck bringen: Wir sind sehr besorgt über die gestri- werden. Das hat vor wenigen Monaten niemand für
gen Vorfälle auf der koreanischen Halbinsel. Den nord- möglich gehalten. Das zeigt: Die Welt ist in Bewegung,
koreanischen Artillerieangriff auf die Insel Yeonpyeong und die Welt will nicht zusehen, dass sich der Iran ato-
verurteilen wir scharf. Eine solche Aggression ist durch mar bewaffnet. Eine atomare Bewaffnung des Irans ist
nichts zu rechtfertigen. Die internationale Staatenge- für die internationale Völkergemeinschaft nicht akzepta-
meinschaft lässt sich nicht erpressen. Wir fordern Nord- bel; das können wir nicht akzeptieren. Deswegen brau-
(B) korea auf, das Waffenstillstandsabkommen zu beachten chen wir eine geschlossene Haltung der internationalen (D)
und zu völkerrechtsmäßigem Handeln zurückzukehren. Völkergemeinschaft in diesem Zusammenhang. Ich be-
Deshalb hat das Auswärtige Amt heute den nordkoreani- grüße, dass es zu dieser geschlossenen Haltung gekom-
schen Botschafter einbestellt. Die besonnene Reaktion men ist.
des südkoreanischen Präsidenten Lee begrüßen wir aus- Wir wollen nicht, dass sich immer mehr Staaten ato-
drücklich. Ich darf darauf setzen, dass das die Haltung mar bewaffnen. Dabei geht es nicht um irgendwelche
nicht nur der Regierung, sondern des ganzen Hauses ist. fernen Regionen, sondern um unsere Sicherheit hier in
(Beifall im ganzen Hause) Deutschland. Je mehr Staaten sich atomar bewaffnen,
desto instabiler wird die Welt und desto größer ist die
Es gibt viele regionale Konflikte, und wir werden in Gefahr, dass Terroristen Zugriff auf Nuklearwaffen be-
den nächsten beiden Jahren im Weltsicherheitsrat eine kommen. Man mag sich gar nicht ausmalen, welch eine
Menge Arbeit haben. Wir werden uns in Kürze mit dem Gefährdung das für die Menschheit darstellte. Deswegen
Sudan befassen. Wir haben im Auswärtigen Ausschuss setzt die Bundesregierung auf nukleare Nichtverbreitung
ausführlich darüber gesprochen. Heute Abend werden und auf Abrüstungspolitik. Es sind zwei Seiten dersel-
wir uns mit den Mandaten auseinandersetzen. Wir wis- ben Medaille.
sen, dass das auch in einem Zusammenhang mit regiona-
ler Instabilität steht. Somalia, die Probleme im Jemen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
das ist uns allen hier bekannt. Wir können auf die De-
batte am heutigen Abend verweisen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Zwei Bereiche möchte ich aber besonders herausgrei- Kollegin Malczak?
fen. Das ist zum einen der Nahe Osten. Wir befinden
uns in einer sehr wichtigen und sehr schwierigen Ent-
scheidungsphase, was die wiederaufgenommenen direk- Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
ten Friedensgespräche angeht. Die Bundesregierung ap- wärtigen:
pelliert an alle Beteiligten, alles zu unterlassen, was Bitte schön.
diese ohnehin schwierigen Friedensgespräche gefährden
könnte. Wir setzen darauf, dass eine Zweistaatenlösung Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
von allen Beteiligten forciert wird und dass in diese Herr Minister, Sie haben meine vollste Unterstützung
Richtung verhandelt wird. Israels Sicherheit ist für uns für diesen Satz, den Sie schon häufiger gesagt haben.
nicht verhandelbar. Aber auch die Palästinenser haben Auch die Kanzlerin hat heute in der Debatte betont, dass
8110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Agnes Malczak
(A) die Proliferation von Massenvernichtungswaffen eine der den und dass Anwälte Zugang haben. Ich möchte Ihnen (C)
größten Gefahren auf der Welt darstellt. Deshalb möchte versichern, dass wir alles daransetzen, dass diese beiden
ich Ihnen die Frage stellen, warum dann die Haushalts- deutschen Staatsbürger so schnell wie möglich wieder in
mittel für Abrüstung von 61 Millionen auf 41,8 Millio- unser Land zurückkehren. Dies ist die klare Erwartungs-
nen, also um rund ein Drittel, gekürzt werden. Als wir Sie haltung der Bundesregierung und – darin bin ich sicher –
das in den Ausschüssen gefragt haben, haben Sie darauf nicht nur der Fraktionen, die sie tragen.
hingewiesen, dass zum Beispiel die mit Russland verein-
barten Projekte zur Vernichtung von Chemiewaffen aus- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
laufen. Aber gerade weil die Proliferation von Massen- des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD])
vernichtungswaffen ein so großes Problem ist, reicht der Wir haben aber auch in Europa verschiedene Fragen
Hinweis auf auslaufende Projekte zur Begründung nicht zu besprechen. Ich werde an dieser Stelle das Thema
aus. Es gibt mehr als genug andere mögliche Projekte zur Afghanistan nicht weiter ausführen. Es ist oft angespro-
Vernichtung von Waffen, ob es sich dabei um Streumuni- chen worden. Nur ein kleiner Hinweis sei mir erlaubt.
tion, Chemiewaffen oder andere Waffentypen handelt. Auch Wir haben oft grundsätzlich über Wahlen gesprochen.
im nuklearen Bereich gibt es zahlreiche unterstützens- Heute sind die Wahlergebnisse bekannt geworden. Wenn
werte Initiativen und Konferenzen, die für den Beitritt zu man in Rechnung stellt, dass zum ersten Mal Wahlen in
bestimmten, für die Abrüstungspolitik wichtigen Verträ- afghanischer Verantwortung stattfinden, dann ist es be-
gen werben. Deshalb frage ich Sie, ob die Kürzungen zu merkenswert, dass die afghanischen Stellen selbst den
Ihrer Aussage passen, dass Abrüstung ein Schwerpunkt Vorwürfen des Wahlbetrugs konkret nachgehen. Das hat
Ihrer Politik ist und dass die Proliferation von Massenver- auch Konsequenzen, und es wird nichts vertuscht. Viel-
nichtungswaffen eine der größten Gefahren darstellt. mehr decken afghanische Stellen selbst Wahlbetrug auf.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie So wurden zum Beispiel 27 Abgeordneten die Mandate
des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) aberkannt, weil sie nicht rechtmäßig zustande gekom-
men sind. All das muss man, wenn man die Lage diffe-
renziert bewertet, anerkennend feststellen.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich möchte zuerst da-
rauf aufmerksam machen, dass es aus meiner Sicht un- Das sind Fortschritte, die gesehen werden müssen, neben
zulässig ist, den Haushalt dieses Jahres ausschließlich all den Rückschlägen, die es natürlich auch gibt.
mit dem Haushalt letzten Jahres zu vergleichen; denn Es gibt aber auch Konflikte in Europa. Ich nenne
man muss schon den Schnitt der letzten fünf Jahre sehen, Transnistrien und Georgien. Die Rede des Präsidenten (D)
(B) wenn man ein Kapitel des Haushaltes fair bewerten
vor dem Europäischen Parlament ist angesprochen wor-
möchte. Wir liegen ziemlich genau im Schnitt der letzten den. Es war eine wichtige, bemerkenswerte Rede. Im
fünf Jahre bzw. sogar noch etwas darüber. Es ist richtig, westlichen Balkan – Herr Kollege Polenz war so freund-
dass diese Politik fortgesetzt wird. Das gilt übrigens aus- lich, darauf hinzuweisen – haben wir große Fortschritte
drücklich für den Bereich der Auswärtigen Kulturpoli- machen können. Es ist uns gelungen, Serbien zu einem
tik, auf den bereits eingegangen wurde. Dieser Ansatz Politikwechsel in Sachen Kosovo zu bewegen. Das ist
steigt im nächsten Jahr sogar im Vergleich zu dem für ein gemeinsamer Erfolg Europas.
dieses Jahr. Das wird gerne vergessen, wenn man nur auf
die absoluten Zahlen schaut. Entscheidend ist natürlich auch – damit will ich
schließen –, was aus Europa wird. Ich will dazu ganz
Auf Ihre Frage nach der Abrüstung möchte ich Ihnen
klar eine Erklärung für die Bundesregierung, aber auch
genau antworten. Was steckt dahinter? Das Kapitel, das
für mich ganz persönlich abgeben. Man hat es im Au-
Sie ansprechen, beinhaltet zum Beispiel das Ausgaben-
genblick nicht leicht, wenn man nach Europa schaut.
programm für die Vernichtung von Massenvernichtungs-
Trotzdem kann ich uns nur raten, Europa zu keiner
waffen in Russland. Es geht hier um gemeinsame Part-
Stunde in der Substanz infrage zu stellen. Wenn wir hier
nerschaften, die vor zehn Jahren mit Russland begründet
über regionale Konflikte sprechen, über die des westli-
worden sind. Wir haben Geld dafür gegeben, dass Russ-
chen Balkans beispielsweise, dann kann ich nur dazu
land Massenvernichtungswaffen abrüstet und vernichtet. aufrufen, nicht nur zu fragen, welche Schwierigkeiten
Nun stellen wir aber fest, dass diese Programme nach
wir mit Europa haben, sondern auch daran zu denken,
zehn Jahren auslaufen werden. Wir sind der Überzeu-
welches Glück wir mit Europa haben. Dass wir hier
gung: Mittlerweile ist Russland wirtschaftlich in der friedlich leben können, von Freunden umgeben sind, hat
Lage, die Vernichtung der eigenen Massenvernichtungs-
vor allen Dingen etwas mit Europa zu tun. Auch dass wir
waffen selbst zu finanzieren. Auch Russland muss hier
wieder als Mitglied der europäischen Gemeinschaft und
seinen Beitrag leisten. Deswegen wird dieser Ansatz zu- der Völkergemeinschaft anerkannt sind, hat etwas mit
rückgeführt.
Europa zu tun. Wenn die deutsche Bundesregierung da-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) für sorgen will, dass auch private Gläubiger an den Kos-
ten der Krise beteiligt werden, also nicht jedes Investi-
Was den Iran angeht: Aus unserer Sicht ist es von gro- tionsrisiko auf den Steuerzahler abgewälzt werden kann,
ßer Bedeutung, an den Iran zu appellieren, dass die beiden
deutschen Staatsbürger, die dort derzeit in Haft sitzen, (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das machen
möglichst umfassend – auch konsularisch – betreut wer- Sie doch!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8111
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) dann ist das die beste Wahrnehmung europäischer Inte- damit Sand in die Augen gestreut werden. Sie, Herr Au- (C)
ressen. Nicht nur die Interessen deutscher Steuerzahler ßenminister, wissen, dass ein Großteil dieses Geldes ver-
werden wahrgenommen, sondern es werden die Interes- loren sein wird. Bereits jetzt sprechen Börsenanalysten
sen aller europäischen Steuerzahler wahrgenommen. davon, dass die Umschuldung kommen wird, auch im
Deswegen weise ich die Kritik von Präsident Barroso in Fall Irland. Dann werden auch die Bürgschaften fällig.
aller Form hier im Deutschen Bundestag zurück. Tatsache ist: Sie lassen den deutschen Steuerzahler für
die verbrecherischen Geschäfte der Finanzinvestoren
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – und Banken bezahlen.
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: In Brüssel wird das anders gese- (Beifall bei der LINKEN – Sven-Christian
hen!) Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was
ist denn die Alternative? Konkret!)
Abrüstungspolitik ist eine wichtige Frage. Ob es Ih-
nen gefällt oder nicht, wir müssen feststellen, dass wir in Ich habe heute Morgen gelesen, dass Frau Merkel be-
der Abrüstungspolitik Fortschritte gemacht haben. Es reits 2011, also bereits nachdem Sie Milliarden Steuer-
mag Ihnen nicht genug sein, was jetzt bei dem NATO- gelder an die Banken herausgereicht haben, die privaten
Gipfel herausgekommen ist. Sie finden für jede Position Gläubiger beteiligen will. Ich kann das nur noch als Zy-
immer einen Kronzeugen. Aber eines stelle ich fest: Die nismus bezeichnen. Für wie dumm hält die Bundesregie-
letzte strategische Schrift der NATO wurde 1999 verab- rung die Bevölkerung eigentlich? Sie wissen es, also sa-
schiedet. Damals, als Sie Verantwortung trugen, hat die gen Sie es hier auch.
Abrüstung keine Rolle gespielt. Dieses Mal ist sie ein
zentrales Anliegen der NATO. So viel Abrüstung gab es (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: So ist das!)
in der NATO noch nie. Eine wirkliche Gläubigerhaftung ist selbstverständlich
(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Nur aufge- nicht vorgesehen. Diese unverantwortliche Politik muss
schrieben! Nichts passiert!) endlich beendet werden. Die Profiteure müssen endlich
zur Kasse gebeten werden.
Wir werden diesen Weg fortsetzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Banken müssen zahlen und nicht die Bürgerinnen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und Bürger.
Aber bei Frau Merkel und Herrn Westerwelle habe
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ich da wenig Hoffnung. Sie wollen ihrem Freund Herrn
(B) Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Ackermann von der Deutschen Bank schlicht nicht das (D)
Alexander Ulrich das Wort. Geschäftsmodell zerstören. Dieses Geschäftsmodell ist
(Beifall bei der LINKEN) simpel: Verluste werden sozialisiert, sprich: die Verluste
der Banken bezahlen in Deutschland die Beschäftigten,
die Rentnerinnen und Rentner, die Studierenden und die
Alexander Ulrich (DIE LINKE): Hartz-IV-Empfänger. Genau nach diesem Prinzip wollen
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie auch in Irland verfahren.
Auch ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf Europa len-
ken. Das Thema passt gut in die Haushaltswoche hinein. (Beifall bei der LINKEN)
Nach dem Griechenland-Paket folgte in diesem Jahr das Mit dem EU/IWF-Paket soll der Mindestlohn in Irland
Euro-Rettungspaket. Damals hieß es, die 750 Milliar- gekürzt werden. Gespart werden soll ganz unten in der
den Euro – davon allein fast 150 Milliarden Euro von Gesellschaft, gerade bei den Kindern. Frau Merkel, Herr
deutscher Seite – würden bereitgestellt, damit sie nie- Westerwelle, Sie werden sich damit sicher einen Namen
mals in Anspruch genommen werden müssten. Kein hal- in der europäischen Geschichte machen: als Robin Hood
bes Jahr später leisten die Bundeskanzlerin und die Bun- der Reichen. Das ist Ihr Prinzip, das Ihre gesamte Politik
desregierung den Offenbarungseid. Jetzt soll Irland mit durchzieht: Ich gebe den Reichen und nehme den Ar-
deutschen Steuergeldern in Höhe von über 25 Milliar- men. Für dieses Prinzip steht auch das Kürzungspaket in
den Euro geholfen werden. Deutschland.
Aber wollen Sie wirklich Irland helfen? Nein. Ihnen (Beifall bei der LINKEN)
geht es wie bei Griechenland allein darum, die deutschen
Banken und die Spekulanten zu retten. Man möchte Ih- Diese unverantwortliche Politik führt Europa in den Ab-
nen dazu in Anlehnung an Bertolt Brecht zurufen: Was grund. Ob in Griechenland, Spanien, Portugal, Deutsch-
ist schon ein Überfall auf eine Bank im Vergleich zur land, jetzt Irland: überall massive Umverteilung von un-
Rettung einer Bank? Nach diesem Motto verfährt diese ten nach oben. Die breiten Schultern werden geschont.
Bundesregierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam haben
Wieder soll der Steuerzahler den Schaden bezahlen, Sie von CDU/CSU über FDP, SPD bis zu den Grünen
den er nicht angerichtet hat, und wieder versucht die der Öffentlichkeit immer erzählt, mit dem Vertrag von
Bundesregierung, die Menschen zu täuschen. Da geistert Lissabon würde Europa auch sozialer. Jetzt ist dieser
Herr Brüderle durch die Talkshows und spricht davon, Vertrag fast ein Jahr in Kraft. Ist Europa sozialer gewor-
dass es nur Bürgschaften wären. Wieder soll den Leuten den? Viele Menschen in Europa empfinden die Frage
8112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Alexander Ulrich
(A) nach einem sozialen Europa angesichts der anhaltenden Ute Granold (CDU/CSU): (C)
Krise und angesichts dessen, dass für sie vom bescheide- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
nen Aufschwung nichts im Geldbeutel übrig bleibt, dass gen! Die Haushaltsmittel für die Menschenrechtsbil-
die Wirtschafts- und Finanzkrise europaweit zum weite- dung, Demokratieunterstützung, Rechtsstaatlichkeit und
ren Sozialabbau genutzt wird, dass die Verursacher der humanitäre Soforthilfe ressortieren im Haushalt des
Krise genauso spekulieren wie vorher, nur noch als Zy- Auswärtigen Amtes. Deshalb freue ich mich, dass ich
nismus. die Möglichkeit habe, als Mitglied des Ausschusses für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe für die Union ei-
(Beifall bei der LINKEN) nige Worte zu sagen.
Die EU verkommt immer mehr zu einem Bankenret- Demokratie, Menschenrechtsbildung, Menschen-
tungsverein. Es geht nur noch und ausschließlich um rechte und Rechtsstaatlichkeit sind ein zentrales Thema
wirtschaftliche Interessen. Der Vertrag von Lissabon unserer wertegebundenen Außenpolitik. Das ist im
funktioniert geradezu als Brandbeschleuniger in der Koalitionsvertrag vereinbart, und daran lassen wir uns
Krise. Allein dass es ein Verbot von Kapitalverkehrskon- messen. Für die Repräsentanten unseres Staates gilt dies
trollen im Vertrag von Lissabon gibt, heizt die Krise ge- ebenso. Die Bundeskanzlerin sprach zum Beispiel in
radezu an. China die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die
Laogai-Lager an. Der Außenminister spricht die Pro-
Was haben Sie in den letzten zwei Jahren an Finanz-
zesse in Russland – oder auch andere Fragen – an. Ich
marktregulierungen in Europa auf den Weg gebracht? So erinnere hier auch – das habe ich schon einmal gesagt –
viel wurde uns auch hier im Bundestag versprochen, und an Ihre Einführungsrede, Herr Minister Westerwelle,
nichts davon haben Sie gehalten. Alles waren nur Sonn- beim Menschenrechtsrat in Genf. Dieser ist eine wich-
tagsreden; alles war Wischiwaschi. Ein paar schwache tige Einrichtung als Institution der UN, die sich weltweit
Aufsichtsbehörden mehr in Brüssel werden den nächsten um die Menschenrechte kümmert. All das ist ein wichti-
Crash nicht aufhalten können. Wieder sind Sie vor den ger Baustein unserer Politik.
Finanzinvestoren eingeknickt.
Wir Parlamentarier sind – über alle Fraktionen hin-
Angesichts dieses Desasters brauchen wir nicht weni- weg – weltweit unterwegs, um den Finger in die Wunde
ger als eine demokratische Neugründung der Europäi- zu legen, wenn es um massive Menschenrechtsverlet-
schen Union. zungen, fehlende Rechtsstaatlichkeit oder Demokratie
geht. So haben wir in den vergangenen Wochen und Mo-
(Beifall bei der LINKEN)
naten einige Brennpunkte besucht, über die ich kurz
Wir brauchen ein Europa, in dem die sozialen Rechte sprechen möchte.
(B) endlich Vorrang vor dem Kapital erhalten. Wir brauchen (D)
Zunächst aber, Herr Bundesaußenminister, einen Satz
ein Europa, bei dem nicht weiter die Bürgerinnen und zum Menschenrechtsrat in Genf. Da steht ja nun im
Bürger mit massivem Sozialabbau die Zeche für die nächsten Jahr ein Review an, das heißt die Überprüfung
Krise zu bezahlen haben. Wir brauchen endlich die Fi- der Arbeit des Menschenrechtsrates. Sie ist – wie bei der
nanztransaktionsteuer anstatt Kürzungen im Sozialbe- Menschenrechtskommission zuvor – unbefriedigend.
reich. In Irland muss die Einnahmeseite verbessert wer- Durch die Blockbildung und das Nord-Süd-Gefälle ist es
den. Dort muss endlich das ruinöse Steuerdumping, schwierig, die wirklichen Menschenrechtsverletzungen
insbesondere bei den Unternehmensteuern, beendet wer- aktuell bzw. zeitnah im Menschenrechtsrat zu diskutie-
den. ren. Teilweise ist es – wenn ich an die Diskussion über
Sri Lanka denke – so absurd, dass unser Anliegen ins
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Verkehrte gedreht wird.
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]) Hier geht es darum, mit anderen behutsam dafür zu
werben, dass die Arbeit im Menschenrechtsrat effektiver
Ich komme zum Ende. Ich möchte mit einer Aussage wird, dass die Brennpunkte diskutiert werden und dass
von Hans-Werner Sinn enden, der wahrlich kein Linker die Sonderberichterstatter unabhängig bleiben und
ist. Er – Hans-Werner Sinn! – sagte gestern im Früh- nicht gegängelt werden. Wir bitten Sie – der Ausschuss
stücksfernsehen, dass es nicht sein kann, dass die Deut- wird im Februar 2011 wieder zum Menschenrechtsrat
sche Bank Geld aus Deutschland abzieht, sich in Irland fahren –, die Position der Deutschen, vielleicht auch zu-
verspekuliert und dann der deutsche Steuerzahler das be- sammen mit unserem Menschenrechtsbeauftragten
zahlen muss. Recht hat er. Aber genau das hat die deut- Markus Löning – wir finanzieren das ja auch mit –, noch
sche Bundesregierung vor. einmal deutlich zu machen. Das wäre uns ein großes An-
liegen.
Vielen Dank.
Ich möchte hier einige wenige Staaten erwähnen, die
(Beifall bei der LINKEN) für uns im Blickpunkt standen. Das war und ist der Irak,
der hier schon mehrfach angesprochen wurde. Sie haben,
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Außenminister, zugesagt, die neue irakische Regie-
Die Kollegin Ute Granold ist nun die nächste Redne- rung zu unterstützen, was die Situation der Minderheiten
rin für die CDU/CSU-Fraktion. – hier insbesondere die der Christen, um die wir uns sehr
gekümmert haben, aber auch die der muslimischen Min-
(Beifall bei der CDU/CSU) derheiten – im Staat angeht. Hier geht es darum, den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8113
Ute Granold
(A) Menschen, die im Irak bleiben, trotz der schweren Men- Wir sind dieser Tage in Ägypten gewesen. Dort ste- (C)
schenrechtsverletzungen eine Perspektive zu geben. Die hen Ende des Monats Wahlen an. Dort gibt es Probleme
deutsche Unterstützung ist zugesagt. Es geht aber auch mit dem freien Zugang der Opposition zu den Wahlen
darum, dass die Menschen, die Binnenflüchtlinge sind und mit durchgängig vorkommender Folter. Das geht
– es sind mehr als 1 Million, die in den Norden des Irak quer durch die Polizei und die Sicherheitskräfte. Die
geflüchtet sind –, eine wirtschaftliche Grundlage erhal- Menschen sind nicht sicher vor Folter und Misshand-
ten, ihre Kinder Bildung erfahren und sie zu einem ruhi- lung. Blogger werden inhaftiert. Auch hier konnte durch
geren Leben kommen. das Herstellen von Öffentlichkeit und Gespräche, aller-
dings nicht mit der Regierung – von dieser Seite wurden
Es gibt auch viele, viele Flüchtlinge aus dem Irak, die Gespräche mit uns abgesagt –, sondern mit vielen ande-
in die Nachbarländer – nach Syrien, Jordanien, in die ren wie zum Beispiel NGOs, dafür gesorgt werden, dass
Türkei und den Libanon – geflohen sind, unter schwie- der eine oder andere im Nachhinein freigelassen wurde.
rigsten Bedingungen dort leben und keine Perspektive
haben, in die Heimat zurückzukehren. Auch diesen Men- Wenn ich an den Iran denke, ist auch hier vieles an-
schen muss geholfen werden. Ich danke dem ehemaligen zusprechen; zum Teil wurde dies hier schon getan. Ich
Innenminister Wolfgang Schäuble sehr – Deutschland bin sehr dankbar, dass wir in der nächsten Woche hier im
war da führend –, dass wir die Möglichkeit hatten, auf Bundestag eine große Debatte über den Iran führen wer-
EU-Ebene 10 000 irakische Flüchtlinge zu uns zu holen den. Es liegen Anträge von der Koalition und auch von
und ihnen zu helfen. In Deutschland sind 2 500 ange- der Opposition vor, die sich mit der Situation zum Bei-
kommen, die sehr gut integriert sind. spiel der Bahai und der Vollstreckung von Todesstrafen
beschäftigen. Wir hatten eben gerade von einem Fall ge-
Die Situation ist sehr schwierig, wir lesen jeden Tag
hört: Hier ist die Steinigung einer Frau vom Tisch; der
von neuem über Ermordungen insbesondere von Chris-
Tod durch den Strang ist offenbar auch vom Tisch, wie
ten. Die Perspektive ist erschütternd und schwierig. Wir
heute im Fernsehen gemeldet wurde. Das heißt aber
werben dafür, dass wir diesen Menschen ein weiteres
Mal helfen. Das ist ein Teil unseres christlichen Glau- noch lange nicht, dass die Frau aus dem Gefängnis ent-
bens und unserer Kultur. Diese Menschen bedürfen un- lassen wird. Das heißt auch noch lange nicht, dass ihr
serer Unterstützung. Sohn und der Anwalt, die beide auch inhaftiert sind, frei-
kommen. Hier gilt es, wie auch im Fall der beiden Bun-
Ein anderes Thema: Indien. Wir waren in Indien. Der desbürger, die inhaftiert sind, dafür zu sorgen – die Bun-
Kollege Kober von der FDP ist jetzt nicht mehr da. Wir desregierung kümmert sich bereits intensiv darum –,
wollten nach Indien einreisen und dort auch auf die dass die Menschen freigelassen werden.
schwierige Situation bezüglich der Menschenrechte – ins-
(B) besondere die Religionsfreiheit betreffend – hinweisen. Wir als Menschenrechtler – in dieser Position spreche (D)
Es ist schwierig, hierzu als Abgeordneter nach Indien zu ich gerade zu Ihnen – können dadurch, dass wir Öffent-
reisen. Wir sind mit kirchlicher Unterstützung in das lichkeit schaffen, sehr viel erreichen. Viele Staaten der
Land gekommen. Indien ist die größte Demokratie der Welt schauen nämlich auf Deutschland. Deutschland hat
Welt. Die Menschenrechte, auch die Religionsfreiheit, einen guten Ruf in der Welt, gerade auch hinsichtlich
sind in der Verfassung verankert; trotzdem gab es seiner Menschenrechtspolitik. Dieses Pfand sollten wir
schwierige Situationen für die Muslime im Westen von nutzen und immer wieder darauf hinweisen, dass für uns
Indien. 2 000 Muslime wurden umgebracht. Die örtliche Einhaltung der Menschenrechte, Demokratie und die
Regierung war in dieses Massaker involviert. Aufgrund Rechtsstaatlichkeit ganz wichtig sind; denn ohne Rechts-
unserer Intervention kam es letztlich dazu – so wurde es staatlichkeit gibt es keine Menschenrechte und damit
uns dieser Tage aus Indien berichtet –, dass der Innen- keinen Schutz für Menschen. Das betrifft Afghanistan
minister in Haft genommen wurde. Die Regierung war ebenso wie China. Bezüglich des Rechtsstaatsdialogs
also aktiv involviert in Menschenrechtsverletzungen. mit China wurde ja dieser Tage ein weiteres Dreijahres-
programm aufgelegt, was ich für sehr wichtig halte. Es
In Ostindien dagegen werden Christen schikaniert wurde gerade schon angesprochen, wie wichtig die Rolle
und umgebracht. Es handelt sich um einige Tausend. Da von China in der Auseinandersetzung in Korea ist.
wurden 300 Kirchen zerstört. Die Menschen sind auf der
Flucht. Darüber muss diskutiert werden, weil die meis- All das sind für uns wichtige Aufgaben und Anliegen.
ten gar nicht wissen, dass Indien auch diese zweite Seite Wir möchten auch in Zukunft, natürlich zusammen mit
hat. Die Zentralregierung hat Probleme, da durchzugrei- dem Auswärtigen Amt, das für uns eine maßgebliche
fen. Stelle darstellt, dafür sorgen, dass Menschenrechte und
Rechtsstaatlichkeit in der Welt verankert und verteidigt
Unsere Aufgabe ist es, den Finger in die Wunde zu le- werden. Für die Unterstützung des ganzen Hauses über
gen und Öffentlichkeit zu schaffen. Es war dank der die Ressorts hinweg wären wir Ihnen – ich denke, ich
kirchlichen Nachrichten in Asien, aber auch hier bei uns darf das auch für meine Kollegen im Ausschuss sagen –
möglich geworden, dass in den Medien diese massiven sehr dankbar.
Menschenrechtsverletzungen thematisiert wurden. Wenn
wir sehen, dass Schritt für Schritt Erfolge erzielt werden, Vielen Dank.
sind wir auf einem guten Weg.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND-
neten der FDP) NIS 90/DIE GRÜNEN])
8114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
Nächste Rednerin ist die Kollegin Viola von Cramon- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Taubadel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. der SPD)
Tatsache ist leider auch, dass sich die Bundesregie-
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE rung bei dem neuen Rettungsmechanismus immer noch
GRÜNEN): gegen eine europäische Lösung stemmt, und zwar vehe-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ment. Jetzt muss ich Sie fragen: Welches Modell von
Verehrte Damen und Herren! Ich möchte jetzt wieder Europa schwebt Ihnen vor, wenn Sie weiterhin auf inter-
den Bogen zurück zur Europapolitik schlagen. Wir ha- gouvernementale Lösungen setzen, damit wir am Ende
ben gestern vom Kollegen Altmaier unter anderem den hier in Deutschland in die Wirtschafts- und Finanzpolitik
Vorwurf gehört, die vereinigte Opposition habe in der der anderen Mitgliedstaaten hineinregieren? Das ist für
Haushaltsdebatte zur Irland-Frage geschwiegen, obwohl uns auf Dauer definitiv keine Lösung. Wir wollen, dass
die Medien derzeit über nichts anderes schreiben. Das ist nicht das deutsche Finanzministerium die Steuersätze in
allerdings nur eine Seite der Medaille. Offensichtlich Irland oder in Griechenland bestimmt. Vielmehr sind das
nimmt der Kollege Altmaier die aktuelle Europadebatte Fragen, die in Brüssel unter der Federführung der Kom-
nur sehr selektiv wahr; denn in der europäischen Öffent- mission konzipiert und anschließend vom Rat verhandelt
lichkeit wird nicht nur über Irland diskutiert, sondern werden müssen.
seit Wochen wird in Europa auch darüber geredet und
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein Länder-
vor allen Dingen auch geschrieben, wie viel Schaden
finanzausgleich! Sagen Sie es doch!)
und auch Kollateralschaden Frau Merkel bei ihren letz-
ten Auftritten in Brüssel angerichtet hat. – Nein, dazu kommt es nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir brauchen eine einheitliche Bemessungsgrund-
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten lage für die Körperschaftsteuer sowie Mindeststeuer-
der SPD) sätze für die Europäische Union; das wurde fraktionsüber-
greifend in das EP eingebracht und heute so beschlossen.
Die private Beteiligung ist, wie wir gehört haben, ein
hehrer Anspruch. Dem stimmen wir zu. Die Durchfüh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rung dieses Vorhabens war allerdings mangelhaft. Es ist Das Europäische Parlament ist der richtige Ort für die
schon ein diplomatisches Kunststück, alle anderen Mit- demokratische Kontrolle der Wirtschafts- und Finanz-
gliedstaaten, die Kommission und die Europäische Zen- politik. Das wäre ernst gemeinte Europapolitik.
tralbank gegen sich aufzubringen.
(B) Eine Anekdote dazu: In Brüssel wurde jetzt von ei- (D)
Vielleicht haben Sie in der Regierung lange über nem Institut, dem Bruegel-Institut, ein Vorschlag zu ei-
diese Aufgabenverteilung nachgedacht und dem Außen- nem europäischen Krisenmechanismus vorgelegt. Zur
minister bei dieser Frage bewusst die Kompetenzen für Erläuterung: Das Bruegel-Institut wird im Rahmen eines
Europa abgenommen. Das Ergebnis der Kanzlerinnen- Staatsvertrags zu gleichen Teilen vom französischen und
diplomatie ist aber in jedem Fall verheerend. vom deutschen Finanzministerium unterstützt. Genau
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie diesem Institut wurde in der letzten Bereinigungssitzung
des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen der Zuschuss
gestrichen. Insofern ist nicht nachzuvollziehen, dass Sie
Ich habe mich gefreut, dass Herr Westerwelle eben sich noch immer ein proeuropäisches Fähnchen anste-
geraten hat, „Europa zu keiner Stunde in der Substanz cken; denn bei keinem anderen Institut wird die europäi-
infrage zu stellen“. Kollege Link hat davon gesprochen, sche Perspektive besser widergespiegelt als beim Brüs-
dass Renationalisierungstendenzen eine Gefahr für das seler Bruegel-Institut. Jetzt fragt man sich natürlich in
gesamte Projekt darstellen. Ich möchte aber kurz auf den Europa: Welche Symbolpolitik mag dahinterstehen? Wir
Vorwurf des Kollegen Altmaier zurückkommen, wir hät- wissen es nicht: War es nur Dummheit oder Unwissen-
ten seinerzeit bei der Abstimmung über den Euro-Ret- heit oder haben die Mitgliedstaaten recht, die darin einen
tungsschirm mit fadenscheinigen Argumenten nicht für weiteren Beleg für eine antieuropäische Verschwörung
den Rettungsschirm gestimmt. Das mag beim ersten der Deutschen vermuten? Alle drei Varianten ehren uns
Hinhören so klingen, als wären die wirklichen Europäer nicht. In jedem Fall ist es ein Politikum, das einmal mehr
bei den Christdemokraten oder vielleicht noch bei den zeigt, wie wenig Verständnis insbesondere bei der FDP
Liberalen zu finden. für die Verlässlichkeit der deutsch-französischen Zusam-
(Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: So ist es menarbeit vorhanden ist. Eine Kürzung der Mittel für
doch! Richtig! – Sven-Christian Kindler solch ein Institut ist das eine; aber das Streichen der Mit-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CDU war tel und eine komplette Demontage ist nicht zu akzeptie-
mal die Europapartei! Heute nicht mehr!) ren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Allerdings hat uns das monatelange Zögern zu Jahresbe-
ginn, ob man Griechenland nun helfen wolle oder nicht, Deutschland wird bereits ausreichend der europäi-
in Europa viel politisches Kapital gekostet, und es hat schen Demontage bezichtigt. Es kommen schon die ers-
die Kosten für die Rettung nach Aussagen aller Experten ten Stimmen auf, dass Deutschland auch beim EU-Haus-
unnötig erhöht. halt ab 2014 mit einer Schaufensterpolitik tricksen will.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8115
Viola von Cramon-Taubadel
(A) Anstatt den Haushalt sukzessive zu erhöhen, sucht man Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE (C)
hier in Berlin nach Möglichkeiten, um das 1-Prozent- GRÜNEN):
Ziel offiziell zu erreichen, aber aufgrund der zusätzli- Ja. – Dort sorgt ein Finanztransfer zwischen den Ein-
chen Verwaltungskosten für den Rettungsschirm die tat- zelstaaten genau für den Ausgleich, den wir in der EU
sächliche Summe im Haushalt, die für EU-Politik zur dringend benötigen.
Verfügung steht, jährlich abzuschmelzen. Das geht aus
unserer Sicht nicht. Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wer sich in Europa umschaut und umhört, der wird
allerdings nicht weniger, sondern immer mehr Projekte
sehen, die für die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Union unersetzlich sind. Konkret geht es um grenzüber- Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler für die
schreitende Kommunikationsnetze, den Ausbau der CDU/CSU-Fraktion.
europäischen Energieinfrastruktur und vor allem um (Beifall bei der CDU/CSU)
Projekte für den Klimaschutz. Dafür ist aber mehr und
nicht weniger Geld notwendig. Weil diese Infrastruktur
Geld kostet, sollten wir uns an dieser Stelle endlich ein- Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU):
mal eine ehrliche Debatte erlauben. Hier geht es um eine Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
historische Aufgabe. Die Bürgerinnen und Bürger wol- Herren Kollegen! Ich rede hier über die Auswärtige Kul-
len sich nicht weiter für dumm verkaufen lassen. Denn tur- und Bildungspolitik, die zu Unrecht als Nebenthema
es geht nicht um eine unbegrenzte Transferunion – Herr der auswärtigen Politik abgehandelt wird. Wenn die
Silberhorn, damit komme ich auf Ihre Äußerungen zu- Deutschen im Ausland gut dastehen wollen, dann nen-
rück –, sondern um ein Bekenntnis zu einer klar definier- nen sie sich das Volk der Dichter und Denker. Kein
ten europäischen Solidarität. Thema ist besser geeignet als dieses, um zu prüfen, ob
wir diesem Ruf gerecht werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich traue mich kaum, es zu sagen: Vielen Dank, Herr
Die Probleme sind vorhanden. Wir wollen eine ehrli- Liebich, für die freundlichen Worte. Ich kann sie an
che Debatte. Es geht um fiskalischen Föderalismus. Es meine Kolleginnen und Kollegen von den auswärtigen
geht um ernst gemeinte europäische Wirtschafts- und Arbeitskreisen der Koalition und an die Haushaltspoliti-
Finanzpolitik. Das möchte ich kurz erläutern. ker weitergeben. Sie gehören zu der Oppositionsfrak-
tion, die die Regierung zuordnungsgemäß am schärfsten
(B) kritisiert. Als berufener Zeuge sagen Sie damit, dass wir (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: aus den Haushaltsberatungen besser herauskommen, als
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Redezeit. wir hineingegangen sind. Das ist doch ein großer parla-
mentarischer Erfolg.
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
GRÜNEN): des Abg. Klaus Brandner [SPD] – Sven-
Sofort. Letzter Absatz. Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das war vorher ein sehr schlechter Ent-
wurf!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Dass es dabei auch Kontroversen gab, spricht doch eher
Nein, letzter Satz. dafür. Mein Kollege Harald Leibrecht, mein Stellvertre-
(Heiterkeit) ter als Unterausschussvorsitzender, ist heute leider nicht
da. Ich bitte, ihm das auszurichten. Die Kollegin Frau
Staatsministerin Cornelia Pieper ist aber anwesend. Sie
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE können beiden den Orden für Tapferkeit vor dem
GRÜNEN): Freunde verleihen; denn sie haben in den letzten Wochen
Der Finanzminister unterliegt einem echten Denkfeh- in dieser Richtung wirklich sehr gut mitgehalten. Ich
ler, wenn er behauptet, Deutschland könne man nicht als hoffe, dass ihnen das jetzt nicht schadet.
maßgeblichen Exporteur an den Pranger stellen, wenn (Beifall des Abg. Thomas Silberhorn [CDU/
die Handelsbilanz der EU in Gänze ausgeglichen sei. CSU])
Aus seiner Sicht heißt das, man schaue sich ja auch nicht
die Exportbilanz von Kalifornien an, wenn man über die Die vorgesehenen gravierenden Einschnitte waren
USA rede. Aber genau das ist der entscheidende Unter- nicht verhältnismäßig. Wären sie bei meinen Kollegen
schied. Man kann Kalifornien nicht mit Deutschland so durchgegangen, hätte die Auswärtige Kulturpolitik
vergleichen, weil es in den USA den fiskalischen Föde- als Zukunfts- und Bildungsaufgabe an Bedeutung verlo-
ralismus längst gibt. ren. Die CDU/CSU-Fraktion hat aus der Zeit der Großen
Koalition in diesem Bereich eine gute Bilanz mitgenom-
men; das will ich ausdrücklich sagen. Diese Arbeit setz-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ten wir mit der FDP fort. Angesichts geringerer Mittel,
Kommen Sie bitte zum Schluss. die zur Verfügung stehen, war das nicht einfach, aber es
8116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. Peter Gauweiler


(A) ist uns gelungen. Das ist ein Erfolg der ganzen Regie- deutsche Schule im Ausland kann beispielsweise För- (C)
rung. dermittel in Höhe von 8 000 bis 10 000 Euro erhalten.
Für eine solche Schule wäre es eine Katastrophe, wenn
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sie aufgrund der plötzlich gekürzten Förderung ihre Sa-
Insbesondere ist es gelungen, die Kürzungen beim nitäranlagen nicht hätte reparieren können. Wir sehen es
Deutschen Akademischen Austauschdienst zu vermei- daher als Ziel einer zukunftsorientierten Haushaltspolitik
den. Es ist auch gelungen, die Mittel für das Auslands- der stärksten Wirtschaftsmacht Europas an, dass in die-
schulwesen zu erhöhen. Dass wir zusätzlich 8 Millionen sem wirtschaftlich ohnehin extrem schmalen Bereich
Euro für die Förderung der deutschen Sprache im Aus- – ich als erfahrener Polemiker muss mich zurückneh-
land durch das Goethe-Institut bekommen haben, war men, Vergleiche anzustellen, wenn in anderen Zusam-
ein ganz großer Schritt nach vorne. menhängen über Milliardenbeträge gesprochen wird –
Kürzungen ausgenommen bzw. die „Ultissima Ratio“
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sein sollten.
Ich finde es auch richtig, dass die bei der Auslandskul- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei
turarbeit der Kirchen zunächst vorgesehenen Kürzungen Abgeordneten der SPD und der LINKEN!)
zurückgenommen worden sind. Wir wissen inzwischen
lagerübergreifend, welche Bedeutung diese Arbeit hat. Ich möchte auch daran erinnern, dass die Leistung der
Ich freue mich, dass die beiden Kirchen mit ungekürzten Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik im Bereich der
Haushalten ihre Arbeit in diesem Bereich im nächsten Krisenprävention nicht hoch genug eingeschätzt werden
Jahr fortsetzen können. kann.

Lassen Sie mich noch kurze Anmerkungen zu einigen Als ich 1968 in die Politik eingestiegen bin, hätte ich
weiteren Themen machen. Wir müssen der Förderung mir nicht gedacht, als alter Antikommunist einmal von
der deutschen Sprache besondere Beachtung schenken. einem Vertreter der Linkspartei gelobt zu werden.
Es hat überhaupt keinen Sinn, uns deklaratorisch an (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
Unterschriftensammlungen, in denen die Aufnahme der DIE GRÜNEN]: Darüber sollten Sie einmal
deutschen Sprache ins Grundgesetz gefordert wird, zu nachdenken, Dr. Gauweiler!)
beteiligen, wenn wir gleichzeitig die Mittel für die För-
derung der deutschen Sprache im Ausland kürzen wür- Im Jahr 1968 hätte ich mir auch nicht vorstellen können,
den. Das wäre völlig unverantwortlich. Deswegen ist es mich im Jahre 2010 einmal darüber freuen zu können,
richtig, dass das Gegenteil getan worden ist. dass bei der Tausendjahrfeier der Stadt Hanoi, die vor
wenigen Tagen stattfand, Beethovens Ode an die Freude
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in deutscher Sprache aufgeführt werden würde. (D)
neten der FDP)
Vielen herzlichen Dank.
Ich bin auch froh, dass die Verbindungen des Goethe-
Instituts mit dem Deutschen Akademischen Austausch- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
dienst wieder gestärkt worden sind. Es ist auch groß- LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD
artig, dass in der Zwischenzeit in Osteuropa, in der soge- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
nannten GUS, der Anteil der deutschsprechenden
Menschen auf 38 Prozent gestiegen ist. Ich denke, dass Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
wir unsere diesbezüglichen Anstrengungen eher aus- Nun hat der Kollege Christoph Strässer das Wort für
bauen sollten. die SPD-Fraktion.
Das Geld ist vorhanden. Es war ein Erfolg des Bun-
destages und seines Kulturausschusses, dass der Etat des Christoph Strässer (SPD):
Staatsministers bei der Bundeskanzlerin erhöht worden Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ist. Heute ist in einem anderen Zusammenhang auf die Ich fand das von Herrn Dr. Gauweiler zum Schluss Ge-
Debatte hinsichtlich der vom Grundgesetz festgelegten sagte bemerkenswert. Ich kann nur sagen: Die Nachwir-
Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern in kungen der 68er erreichen sogar Sie und Hanoi. Das ist
Sachen Kultur schon hingewiesen worden. In einem doch eine gute Entwicklung, das ist doch wunderbar.
Punkt ist das Grundgesetz ganz eindeutig: Die Auswär- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
tige Kultur- und Bildungspolitik liegt in der ausschließli-
chen Zuständigkeit des Bundes. Es kann doch nicht sein, Ich möchte gern zu zwei Dingen Stellung nehmen, die
dass in dem umstrittenen Bereich die Ansätze verdoppelt zum Teil schon eine Rolle gespielt haben. Ich meine das
werden, während in dem Bereich, für den der Bund Thema Menschenrechte, das aus meiner Tätigkeit heraus
zweifelsohne zuständig ist, Kürzungen als selbstver- bei mir im Vordergrund steht, und den Bereich, der lei-
ständlich angesehen werden. Ich bin froh, dass dies ab- der Gottes nur am Rande, wenn überhaupt, mit zwei Be-
gewehrt worden ist. merkungen eine Rolle gespielt hat, nämlich das Thema
Afrika.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
des Abg. Klaus Brandner [SPD]) Das kann natürlich zwei Gründe haben. Der eine
Grund ist – ich hoffe nicht, dass das der Fall ist –, dass
Ich möchte Sie auf eine Anregung des entsprechen- Afrika für die deutsche Bundesregierung, für den Deut-
den Arbeitskreises meiner Fraktion hinweisen: Eine schen Bundestag keine Rolle spielt. Der Kollege Fischer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8117
Christoph Strässer
(A) ist gestern Abend zum Vorsitzenden der Deutschen jedenfalls meine Meinung – einen Sitz im Weltsicher- (C)
Afrika-Stiftung gewählt worden. Noch einmal herzli- heitsrat hat. Aber jetzt kommt die Kehrseite der Me-
chen Glückwunsch dazu! daille. Ich möchte einmal fragen, ob dieser Erfolg, zu
dem ich Sie übrigens beglückwünsche – ohne jeden
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Zweifel –, erzielt worden wäre, errungen worden wäre,
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
wenn die Menschen, die uns dort in der Versammlung im
SES 90/DIE GRÜNEN)
ersten Wahlgang gewählt haben, gewusst hätten, was wir
Ich denke, dass wir uns darüber klar werden müssen, mit diesem Haushalt beschließen sollen, meine Damen
dass die Entwicklung auf unserem Nachbarkontinent den und Herren. Denn eines ist doch klar: Die erste Amts-
Frieden in Europa und den Frieden auf der ganzen Welt handlung der Bundesregierung und des Deutschen Bun-
massiv beeinflussen wird. Deshalb hätte ich es mir ge- destags nach Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat ist
wünscht, etwas mehr darüber zu hören, was diese Bun- Kürzung in allen Bereichen, die die Vereinten Nationen
desregierung in den nächsten Wochen und Monaten betreffen.
plant. Wir haben ja Ende des Monats den EU-Afrika-
Gipfel in Libyen. (Edelgard Bulmahn [SPD]: Wohl wahr!)

(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Ob das nun bei den denjenigen auf Zustimmung stößt,
Nächste Woche!) die uns da gewählt haben, wage ich sehr zu bezweifeln.
– Nächste Woche geht er los, am 27. November. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Wir warten im Parlament und in den Fraktionen auf der LINKEN)
das schon im April zugesagte Afrika-Konzept, das uns Ich hätte mir gewünscht, meine Damen und Herren,
vor der Sommerpause zur Verfügung stehen sollte. dass das in den parlamentarischen Beratungen passiert
Nichts ist auf dem Tisch. Ich würde mir wünschen, Herr wäre, was wir in den vergangenen Jahren gerade im
Außenminister, dass Sie uns einmal über das unterrich- Menschenrechtsausschuss immer hinbekommen haben,
ten, was Sie dort im Kontext der EU erreichen wollen. nämlich zumindest an der einen oder anderen Stelle
Es gibt eine Fortsetzung der EU-Strategie, die zum ers- nachzubessern, an der einen oder anderen Stelle aufzu-
ten Mal – das ist gut, und das ist richtig – Afrika als ei- satteln, auch in Zeiten, wo gekürzt werden muss.
nen Partner auf Augenhöhe angesehen hat. Es wäre si-
cherlich angemessen, wenn wir in diesem Hohen Haus Aber das ist schon angekündigt worden: Bei der rela-
auch einmal über diese Themen diskutieren würden. tiv geringen prozentualen Absenkung des Haushalts ins-
Denn Afrika ist unser Nachbarkontinent, und er braucht gesamt sind Absenkungen zwischen 30 Prozent und
(B) eine Zukunft mit unserer Unterstützung auf Augenhöhe. 50 Prozent in Bereichen der wesentlichen menschen- (D)
In vielen Bereichen sind wir da aus meiner Sicht noch rechtlichen Fragen das Gegenteil von glaubwürdiger
nicht auf dem Stand der Dinge. Menschenrechtspolitik. Das beschädigt die Menschen-
(Beifall bei der SPD) rechtspolitik und die Außenpolitik der Bundesrepublik
Deutschland in der Sicht des Auslandes ganz massiv.
Eine weitere Bemerkung betrifft den zweiten Bereich, Dass das mit Ihrer Zustimmung, ohne Widerstand in die-
der natürlich auch etwas mit Afrika zu tun hat. Das ist sem Parlament durchgeht, finde ich beschämend. Das
die Frage: Wie arbeitet diese Bundesregierung eigentlich muss ich einmal ganz deutlich sagen.
im Bereich der Menschenrechte? Frau Granold, Ihren
Ausführungen bin ich sehr aufmerksam gefolgt, hatte al- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
lerdings den Eindruck, dass das mehr eine Regierungs- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
erklärung war als eine Stellungnahme aus dem Parla- GRÜNEN)
ment heraus. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass
Ich will Ihnen auch zwei konkrete Beispiele nennen,
Sie all das, was diese Bundesregierung macht – auch aus
Ihrer Erfahrung aus den vergangenen Beratungen im in denen wir gerade in den letzten Jahren gemeinsam ge-
Menschenrechtsausschuss –, so uneingeschränkt gut fin- arbeitet haben. Das eine ist das Beispiel humanitäres
den, wie Sie es hier dargestellt haben. Minenräumen mit den Bereichen Konfliktprävention
und Nachsorge von Konflikten. Ich will Ihnen sagen,
Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen. Sie haben be- dass wir in den letzten Jahren bei jedem Haushalt aufge-
gonnen – da habe ich gedacht, jetzt wird es spannend – sattelt haben, mit Diskussionsergebnis und Votum des
mit den Schwerpunkten der Menschenrechtspolitik: Kri- Menschenrechtsausschusses. In diesem Jahr wird in die-
senprävention, Demokratieförderung, Institutionenauf- sen Bereichen gekürzt.
bau und all diesen wunderbaren Dingen, die wir gemein-
sam im Ausschuss diskutieren und für die wir immer Was heißt das denn? Frau Wieczorek-Zeul hat darauf
wieder einstehen. Aber was ist denn die Realität? Sie sa- hingewiesen: Wir haben Erfolge erzielt bei der Ächtung
gen: Die Bundeskanzlerin und der Außenminister fahren von Landminen, bei der Ächtung von Streumunition.
durch die Welt und erklären überall, wie wichtig es sei, Das kann doch aber, bitte schön, nicht bedeuten, dass wir
die Menschenrechte einzuhalten. Auch das ist richtig; uns jetzt um die Altlasten zumindest nicht mehr in dem
niemand wird dem widersprechen. Maße kümmern, wie wir das in den letzten Jahren getan
haben.
Es ist für die Menschenrechtspolitik auch gut und
richtig, dass die Bundesrepublik Deutschland – das ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
8118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Christoph Strässer
(A) Ich glaube, auch hier machen wir einen Fehler in der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
humanitären Arbeit, der uns noch schwer zu schaffen Das Wort hat nun Kollege Bijan Djir-Sarai für die
machen wird. FDP-Fraktion.
Ich will einmal ein Beispiel nennen, das mich jetzt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ganz konkret betrifft. Daran kann ich das sehr deutlich der CDU/CSU)
machen. Ich werde auf Einladung des Ministers für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Anfang Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP):
Dezember unter anderem nach Sambia fahren. Wir be- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle
kommen Sicherheitshinweise aus dem Auswärtigen wissen, dass die Debatten zur Verabschiedung des Haus-
Amt. In diesen Sicherheitshinweisen steht, man solle haltes viel mehr beinhalten als nur das Vortragen eines
bitte schön vorsichtig sein, im Grenzbereich zwischen Zahlenwerkes.
Sambia und der Demokratischen Republik Kongo seien (Beifall bei der FDP)
nicht gekennzeichnete Minenfelder. Diese Hinweise be-
kommen wir als Abgeordnete, die dorthin fahren. Jetzt Diese Debatte ist auch mehr als eine lieblose Aufzählung
überlegen Sie sich einmal bitte, was mit den Kindern, von angeblich verantwortungslosen Kürzungen. Diese
mit den Menschen passiert, die keine Hinweise bekom- Aufzählung haben wir heute von Ihnen ausreichend ge-
men, die in diesem Bereich arbeiten oder spielen und in hört. Ich nehme die Forderungen sehr ernst – das können
diese Minenfelder rennen. Sie verlieren Gliedmaßen und Sie mir glauben – und mache mir meine Gedanken da-
werden für ihr Leben verstümmelt. Dennoch sagen wir, rüber.
dass wir die Mittel für diesen Bereich kürzen. Ich finde (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
das zynisch. Das kann der Bundestag eigentlich nicht zu- GRÜNEN]: Und?)
lassen.
Aber bei Ihren Forderungen fehlt leider eine realistische
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Betrachtung der aktuellen Lage.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ein letzter Punkt: Förderung von UN-Institutionen. der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler
Einige Beispiele sind schon genannt worden. Kollege [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es weni-
Leutert von der Linkspartei und Kollege Haibach von ger Gewalt in der Welt? Gibt es weniger Waf-
der Union waren 2007 unter anderem im Gazastreifen. fen in der Welt?)
Im Jahre 2007 war die humanitäre Situation dort schon Ich werde Ihnen sagen, warum, Herr Kollege. Schul-
(B) desaströs. Ich finde es ausgesprochen gut, dass Sie dort- (D)
denbremse und Haushaltskonsolidierung sind große He-
hin gefahren sind, aber Sie müssten sich doch Gedanken rausforderungen für unser Land und natürlich auch für
darüber machen, was dort passiert, und zwar nicht nur die Außenpolitik unseres Landes. Wir brauchen heute
bezogen auf den Zugang und ein Ende der Blockade, konstruktive Vorschläge zur Haushaltskonsolidierung
sondern auch konkret bezüglich der Kinder, die aufgrund auf der einen Seite und zukunftsweisenden Außenpolitik
der Kürzungen bei UNRWA nicht mehr zur Schule ge- auf der anderen Seite.
hen können.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
Unverdächtige Menschenrechtsorganisationen, mit GRÜNEN]: Haben wir gemacht im Haushalts-
denen wir gesprochen haben, haben uns gesagt: Im Mo- verfahren! Haben Sie abgelehnt! Sie waren da-
ment habt ihr hier Hamas – das war 2007 –; wenn das so gegen!)
weitergeht mit der Rückführung der humanitären Hilfe, – Herr Kollege, nicht so aggressiv, Sie sind doch Pazi-
mit der Einschränkung des Zugangs und insbesondere fist. Bleiben Sie doch locker.
mit der Benachteiligung von Kindern, haben wir hier in
zehn Jahren nicht mehr Hamas, sondern al-Qaida. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE
Meine Damen und Herren, wenn das die Konsequenz LINKE]: Deswegen muss er als Pazifist doch
aus einer wirklich nicht stark den Haushalt belastenden nicht stumm sein!)
Ausgabenpolitik ist, bin ich wieder bei Ruprecht Polenz, Bei der Aufstellung des Haushaltes 2011 haben wir
der zu Recht gesagt hat: Krisenprävention ist das beste sehr genau darauf geachtet, dass wir diesen Prinzipien
Mittel zur Verhinderung von Terrorismus. Wenn dieser treu bleiben. Deutsche Außenpolitik ist wertegebunden
Haushaltsetat um ein Drittel gekürzt wird, dann kann ich und interessengeleitet. Deutsche Außenpolitik ist ziel-
nur darauf hinweisen, dass die Bekämpfung des Terro- orientiert und nachhaltig. Der im Haushalt 2011 zu leis-
rismus mit krisenpräventiven Mitteln nicht erfolgreich tende Einsparbetrag fällt uns nicht leicht; das möchte ich
sein wird. Wir müssen hier umkehren, sonst müssen wir betonen. Wir sparen aber nicht mit dem Rasenmäher.
später mit militärischen Mitteln Schäden beseitigen; das Zur Realisierung der Sparbeschlüsse war eine starke
wollen wir alle nicht. Deshalb ist dieser Haushalt in die- Priorisierung nötig. Das galt insbesondere für den Be-
sem Punkt aus meiner Sicht absolut unzureichend. reich der politischen Ausgaben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eine haushaltspolitische Realität ist ganz klar die Si-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tuation in Afghanistan. Der Ansatz von 180 Millionen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8119
Dr. Bijan Djir-Sarai
(A) Euro wird jetzt vollständig aus dem Haushalt des Aus- nicht wundern, wenn Sie danach weniger Geld (C)
wärtigen Amtes getragen; das hat für uns Priorität. haben!)
90 Millionen Euro mussten daher in anderen Bereichen
erwirtschaftet werden. Wir haben Verantwortung in Unsere Außenpolitik ist auch in multilaterale Strate-
Afghanistan übernommen. Vordringliches Ziel ist jetzt, gien eingebunden. So zahlen wir – das ist im Haushalt
dass wir diese möglichst bald an die Afghanen überge- des Auswärtigen Amtes kein kleiner Posten – Pflichtbei-
ben können. träge an internationale Organisationen wie die Vereinten
Nationen und die EU; auch dies gehört zur deutschen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Außenpolitik. Als großer Beitragszahler hat Deutschland
der CDU/CSU) einen maßgeblichen Anteil an den humanitären Hilfs-
maßnahmen von EU-Kommission und Vereinten Natio-
Unsere Prioritäten sind eindeutig. Sie liegen neben nen.
der Region Afghanistan/Pakistan im zukunftsträchtigen
Bereich der Bildung und Forschung. Die Einsparungen (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
in diesem Bereich sind im Vergleich zu den Gesamtein- GRÜNEN]: Die auch gekürzt werden!)
sparungen von 2,8 Prozent im Gesamthaushalt des Aus-
wärtigen Amtes unterproportional ausgefallen. Das sehe Diese Hilfsgelder, die von Deutschland multilateral ge-
ich als ein klares Bekenntnis. Wir wollen, dass auch in zahlt werden, dürfen wir nicht außen vor lassen.
Zukunft deutsche Bildungs- und Kulturarbeit im Aus- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
land erhalten bleiben. GRÜNEN]: Da wird auch gekürzt!)
Ich möchte ein Beispiel, das noch nicht allzu lange
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
her ist, nennen. Die jüngsten Entwicklungen in Pakistan
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des zeigen die Bedeutung der humanitären Hilfe für das
Kollegen Nouripour? Auswärtige Amt. Neben den eigenen Hilfsausgaben hat
die Bundesrepublik Deutschland über EU und Vereinte
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Nationen weitere mehr als 15 Millionen Euro bereitge-
Nein. stellt. So federn wir notwendige Einsparungen im Haus-
haltsansatz für humanitäre Hilfe ab. Mit diesem Ansatz
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: für 2011 bleiben wir aber reaktionsfähig und flexibel.
Oh! – Schade!)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Sven-
Dieses Budget hat in den vergangenen Jahren eine Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) überproportionale Mittelaufstockung erfahren. Wir lie- NEN]: Aber Sie kürzen! Gekürzt wird mit Ih- (D)
gen mit dem Ansatz für 2011 immer noch über dem Ni- rer Hilfe!)
veau der Jahre vor 2008 und sind voll handlungsfähig.
Das ist ein Erfolg, meine Damen und Herren. Zum Ver-
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE gleich: Noch bis 2007 betrugen die Mittel des Auswärti-
GRÜNEN]: Das sind Haushaltstricksereien gen Amtes für diesen Bereich nur circa 50 000 Euro.
bei der Berechnung!)
(Christoph Strässer [SPD]: Wie hoch waren sie
Einschränkungen können wir teilweise durch Sondermit- denn 2010?)
tel für Bildung und Forschung abfedern.
Der vorliegende Haushaltsentwurf des Auswärtigen
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Amtes für 2011 sieht insgesamt Einsparungen in Höhe
GRÜNEN]: Alles Haushaltstricksereien! Es von 2,8 Prozent vor;
gibt keine zusätzlichen Mittel!)
(Christoph Strässer [SPD]: Und wie viel bei
Dieses Geld setzen wir im Auslandsschulwesen, für der humanitären Hilfe?)
Auslandslehrer, für Schulbeihilfen, für Stipendien und
für Wissenschaftsbeziehungen ein. das ist vorbildlich. Einsparungen liegen im Budget vor-
rangig bei den politischen Ausgaben. Denn die Pflicht-
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE beiträge für die Mitgliedschaft in internationalen Organi-
GRÜNEN]: Aber nicht zusätzlich! Das ist sation steigen von Jahr zu Jahr.
ganz wichtig!)
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
Außerdem stellen wir sicher, dass bei allen Bildungs- GRÜNEN]: Ja, ja! Dann wird lieber bei Kri-
titeln im Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bildungs- senprävention und Konfliktbewältigung gestri-
politik uneingeschränkt das Niveau des Haushaltes von chen!)
2010 erhalten werden kann. In Zeiten der Haushaltskon-
solidierung geht leider nicht alles, was wünschenswert Auch die Betriebsausgaben sind nur sehr moderat gestie-
ist. Das ist realistisch und weitsichtig. gen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Unsere Auslandsvertretungen sind wichtig. Sie sind
der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler eine der Kernaufgaben des Auswärtigen Amtes im Aus-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie erst land. Diesen Service für Deutsche im Ausland wollen
die Steuern für Hotels senken, müssen Sie sich und werden wir nicht einschränken.
8120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zente zu setzen? Wie gehen wir mit der Erkenntnis, dass (C)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des die Freiheit auch bei uns elementar bedroht ist, um?
Kollegen Strässer?
(Christoph Strässer [SPD]: Wir kürzen einfach
die Mittel für Prävention!)
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP):
Nein. – Lassen Sie uns doch debattieren und gemeinsam nach
Lösungen suchen. Ich glaube, Sie hätten vor diesem Hin-
(Christoph Strässer [SPD]: Ach, bitte! – Klaus tergrund keinen anderen Haushalt aufgestellt, als wir es
Brandner [SPD]: Nur keine Zwischenfragen! getan haben.
Seine Rede hat ihm doch das Amt aufgeschrie-
ben! Das merkt doch jeder!) (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Nein! Stimmt nicht! Wir haben
Dennoch werden wir ab dem kommenden Jahr auch in andere Vorschläge gemacht! Die haben Sie
diesem Bereich Sparpotenziale ausschöpfen können. aber abgelehnt!)
Meine Damen und Herren, wir sind froh, unter den Das ist durchaus normal. Das ist Regierungsverantwor-
gegebenen Rahmenbedingungen eine verantwortungs- tung.
volle Haushaltspolitik betreiben zu können. Das genau
ist und bleibt unsere Pflicht. Hier sind auch Sie von den Grünen gefordert. Ihr
freundliches, weltoffenes Modell nach dem Motto:
Herzlichen Dank. „Wenn ich nett bin und freundlich auf die Menschen zu-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gehe, dann werden auch alle anderen lächelnd auf mich
Klaus Brandner [SPD]: Schön abgelesene zugehen“ funktioniert in dieser Welt leider nicht. Das ha-
Amtsrede! So einer ist sich für nichts zu ben wir erfahren.
schade! – Sven-Christian Kindler [BÜND- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Haushaltstricksereien GRÜNEN]: Was hat das denn mit unseren
und Kürzungen, das ist Ihr Haushalt!) Vorschlägen zu tun? – Klaus Brandner [SPD]:
Bei uns klappt das aber!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Wir haben auch erfahren müssen, dass es nicht mehr
Das Wort hat nun Kollege Rüdiger Kruse für die
der Konflikt zwischen zwei Systemen ist, die beide ge-
CDU/CSU-Fraktion.
danklich aus Europa stammen. Auch der Marxismus-Le-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ninismus – sosehr man ihn ablehnen mag – ist ein euro- (D)
(B)
päischer Gedanke.
Rüdiger Kruse (CDU/CSU): Jetzt sind wir aber mit Dingen konfrontiert, die nicht
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- europäisches Gedankengut sind und die nicht in einem
ren! Hätte ich diese Rede nach der Bereinigungssitzung langen Dialog und nicht in parlamentarischer Diskussion
des Haushaltsausschusses vor etwa 14 Tagen gehalten, entstanden sind.
hätte ich vermutlich hauptsächlich darüber gesprochen,
wo wir als Parlamentarier zu Recht unsere Akzente ge- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
setzt haben. Wir haben zum Beispiel gesagt: Wir wollen GRÜNEN]: Aber Menschenrechte sind uni-
für die Förderung der deutschen Sprache im Ausland versell!)
8 Millionen Euro mehr ausgeben. – Das ist nach wie vor – Richtig, die Menschenrechte sind universell. Sie sind
ein wichtiger Punkt. plötzlich universell bedroht.
Aber in der Zwischenzeit hat sich etwas verändert Sie erinnern sich vielleicht: In den 90er-Jahren gab es
– auch Sie haben es wahrscheinlich gemerkt, als Sie in einmal das Thema „Ende der Geschichte“. Das war die
dieser Woche nach Berlin gekommen sind –: Das Er- Illusion, dass wir in eine überaus friedliche und ruhige
scheinungsbild des Regierungsviertels hat sich verän- Phase entlassen werden würden, in der es zwar noch ein
dert. Als ich heute Morgen mit einem Mitarbeiter die paar Kleckerstaaten gibt, die undemokratisch sind, aber
kurze Strecke vom Reichstag zum Paul-Löbe-Haus ge- das würde man mit der Zeit aufräumen. Und das ist
gangen bin, wurde ich kontrolliert, und alles war nett plötzlich nicht mehr so, sondern wir müssen uns vertei-
und freundlich. Es hat aber etwas gefehlt: Da standen digen.
keine Menschen. Die Transparenz, die auch in diesem
Gebäude sichtbare Kultur der Transparenz, ist plötzlich Worum geht es? Es geht immer um den Konflikt: In-
weg. Das gilt sowohl für das Paul-Löbe-Haus als auch dividuum als Erstes oder Staat als Erstes?
für die Reichstagskuppel, die momentan für Besucher
geschlossen ist. Das alles hat sich verändert. Der chinesische Kapitalismus, für den man noch ein
neues Wort erfinden muss, weil das kein normaler Kapi-
Mit Blick auf die Zukunft – denn nach der Haushalts- talismus ist, ist ein System, das grundsätzlich anders ist
aufstellung ist vor der Haushaltsaufstellung – müssen als unser System und das auch ohne Freiheitsrechte wirt-
wir uns fragen: Was müssen wir im Kulturbereich zu- schaftlich erfolgreich ist. Sie wissen, was mit Ihren
künftig tun? Welche Debatte müssen wir gemeinsam freien Reden passieren würde, wenn Sie sie in China hal-
führen und in welchen Dialog eintreten, um neue Ak- ten würden. Das ist etwas, was wir beide nicht wollen;
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8121
Rüdiger Kruse
(A) denn wir beide wollen, dass Sie Ihre freien Reden hier (Beifall bei der SPD) (C)
halten können und dass das auch zukünftig möglich ist.
Es gibt noch andere Ismen, die uns bedrohen und mit Dr. Eva Högl (SPD):
denen wir umgehen müssen. Dabei muss die Kultur eine Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
Rolle finden und auch zugewiesen bekommen. Diese ist lenke zum Schluss unserer Haushaltsdebatte noch ein-
sicherlich anders, als es früher einmal war, als man ge- mal den Blick auf Europa. Vor allen Dingen stelle ich als
sagt hat: Kultur im Auswärtigen zeigen ist, man bringt Allererstes die Frage: Wo ist eigentlich das Auswärtige
den Franzosen einmal bei, dass Deutschland nicht nur Amt in der Europadebatte?
Wagner ist. – Das ist eine nette Geschichte. Das Gleiche
gilt für Amerika oder Japan. Das Ganze ist nämlich auch (Beifall bei der SPD – Georg Schirmbeck
ein bisschen wirtschaftsfördernd. Dementsprechend [CDU/CSU]: Das ist doch vollständig anwe-
kann man das einmal stärker und einmal weniger stark send!)
machen. Herr Bundesminister, Sie sind für Europa zuständig;
Wir müssen uns jetzt überlegen: Wie überzeugen wir das wissen wir. Aber das, Herr Bundesminister
andere Kulturen davon, dass dieses freiheitliche Mo- Westerwelle, was Sie an das Ende Ihrer Rede gepresst
dell ein Gewinn für alle ist, und zwar unabhängig davon, haben, die drei Sätze, die Sie sich zum Thema Europa
welcher Religion sie angehören, weil dieses freiheitliche abgerungen haben, ist weit davon entfernt, auch nur an-
Modell ein Vorteil ist? satzweise eine Perspektive für Europa zu formulieren.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
GRÜNEN]: Es gibt keinen Kampf der Kultu- DIE GRÜNEN)
ren!) Ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, neige überhaupt
– Ich rede nicht vom Kampf der Kulturen. Ich rede da- nicht zu Dramatik. Aber die Situation, in der wir uns in
von, dass es entweder Freiheit oder Unfreiheit gibt. Europa befinden, ist dramatisch. Bei unseren Debatten
über die Europapolitik geht es nämlich nicht mehr nur
Ich glaube, dass das, was wir an Kultur in Deutsch- um Details der europäischen Integration. Es geht in der
land und auch in Europa haben, gerade in der Auseinan- Euro-Krise nicht nur um die Bankenrettung und die Ret-
dersetzung besteht. Kultur ist in Deutschland nicht tung von Staatsfinanzen, sondern es geht um Europa als
staatstragend. Kultur ist oftmals ein Ärgernis, und auch solches. Es geht um das, was Europa ausmacht, nämlich
Kunst ist oftmals ein Ärgernis. Das bedeutet aber auch, Solidarität und Zusammenhalt.
etwas über die Gesellschaft zu erfahren. Viele Leute är-
(B)
gern sich darüber, und auch Politiker sind sauer, wenn In der Europadebatte haben wir unsere Identifikation (D)
im Schauspielhaus in Hamburg nackte Menschen andert- mit diesem genialen Zukunftsprojekt verloren. Ich darf
halb Stunden auf der Bühne frieren und sie nicht sehen, hier an das erinnern, was der Kollege Manfred Link zu
welchen Sinn das haben soll. Das gibt es in totalitären Beginn unserer Debatte und was auch Kollege
Systemen nicht. Wellmann gesagt hat, dass Europa nämlich nicht mehr
Bezugspunkt der USA ist. Dafür, dass wir in solch einer
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Situation sind und dass wir das beklagen müssen, ist
neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE aber die Bundesregierung verantwortlich.
GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Wir haben das große Privileg mit der Kultur, dass sie DIE GRÜNEN)
uns wehtut, dass sie uns ärgert und dass wir sie vielleicht
nicht verstehen. Was man jetzt exportieren muss, ist die- Die Bundesregierung ist dafür verantwortlich, dass
ses Bild von einer Gesellschaft, in der die Menschen Deutschland nicht mehr Motor, sondern Bremse in Eu-
zum Beispiel solche Äußerungen über Theater, über bil- ropa ist. Die Bundesregierung ist auch dafür verantwort-
dende Künste oder auch über Musik machen können, da- lich, dass wir die kleinen Länder aus dem Blick verlie-
mit ihre Individualität leben und sich in einem kollekti- ren. Es ist gut, wenn Deutschland und Frankreich sich
ven System nicht zurückstellen müssen. Ich glaube, das verständigen, aber es ist schlecht, wenn wir die kleinen
ist die große Auseinandersetzung. Länder außer Acht lassen. Es hat die deutsche Europa-
politik immer ausgezeichnet, dass wir versuchen, sie un-
Darum wäre es wertvoll, wenn wir darüber redeten, abhängig von dem Motor Deutschland/Frankreich auch
welchen Beitrag Kultur leisten kann und wie wir sie in Übereinstimmung mit den kleinen Ländern und ihren
dann ausstatten müssten. Dafür haben wir jetzt ein Jahr Interessen zu bringen.
lang Zeit. Das ist eine Aufforderung an uns alle.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen ge-
Herzlichen Dank. meinsam beklagen, dass es in der Europapolitik fast aus-
schließlich nur noch um nationale Interessen geht. Über-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
all und insbesondere in Deutschland werden die
nationalen Interessen vor die europäischen Interessen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gestellt. Dadurch wird Europa in Gänze infrage gestellt.
Das Wort hat nun Kollegin Eva Högl für die SPD- Das ist eine ganz dramatische Kehrtwende der deutschen
Fraktion. Europapolitik, die sich immer gerade dadurch ausge-
8122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. Eva Högl


(A) zeichnet hat, dass ganz anders dort herangegangen der Krise, indem wir einen Akzent auf die soziale Si- (C)
wurde. cherheit setzen.
Angesichts der Krise will ich kurz auch noch einmal (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sven-
hervorheben, worum es in der Krise nicht gehen kann. Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Es ist jetzt in der Krise nicht hilfreich, mit Empfehlun- NEN])
gen an einzelne Mitgliedstaaten zu reagieren, zum Bei-
spiel den Griechen vorzuschreiben, das Renteneintritts- Meine letzte Bemerkung. Wir müssen die Zivilgesell-
alter zu erhöhen, oder den Iren vorzuschreiben, die schaft stärken – auch das ist notwendig – und eine euro-
Steuern zu erhöhen. päische Öffentlichkeit schaffen. Ein wichtiger Beitrag
dazu ist – insofern will ich versöhnlich schließen –, dass
(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Genau das es im Haushalt gelungen ist, Akzente auf eine stärkere
müssen wir tun!) zivilgesellschaftliche Beteiligung und die europäische
Öffentlichkeit zu setzen. Wir haben damit einen Beitrag
Es ist auch nicht hilfreich, mit Stimmrechtsentzug zu
zur Stärkung der europäischen Arbeit geleistet. Herr
drohen.
Bundesminister, das ist ein kleiner, wichtiger Beitrag,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aber ich hätte mir in diesem Sinne viel mehr Akzente im
DIE GRÜNEN) Bundeshaushalt gewünscht.
Gerade wir als föderales Land sollten uns noch einmal Vor allen Dingen wünsche ich mir, dass Sie Europa
vor Augen führen, was es heißen würde, wenn wir etwa sehr viel offensiver gestalten und für Europa werben, an-
den Bundesländern vorschreiben würden, im Bundesrat statt immer nur zu sagen, was Sie nicht wollen und was
nicht mehr mitstimmen zu dürfen, wenn sie in der Bil- Sie verhindern wollen.
dungspolitik oder in der Kulturpolitik etwas täten, was
uns auf der Bundesebene nicht passte. Vielen Dank.

Das sind keine Lösungen. Wir brauchen mehr und (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sven-
nicht weniger Europa – auch und gerade zur Bewälti- Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gung der Krise. NEN] – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]:
Das sagt er doch gar nicht!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir haben entscheidende Fehler gemacht. Auch da- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ran möchte ich kurz erinnern: Wir haben es bisher nicht Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen
(B) geschafft, eine Koordination der Wirtschafts-, der Fi- Michael Link das Wort. (D)
nanz- und vor allem auch der Sozialpolitik zu erreichen.
Das ist ein riesengroßes Manko, das uns jetzt in der Eu- Michael Link (Heilbronn) (FDP):
ropapolitik auf die Füße fällt.
Frau Kollegin Högl, unsere gute Zusammenarbeit im
Wir haben auch die Chance vertan – ich habe das hier Ausschuss, wo wir uns übrigens auch mit Vornamen
im Haus schon mehrfach gesagt –, mit dem Programm kennen,
Europa 2020 ein wirkliches Zukunftsprogramm zu for-
mulieren, mit dem wir Europa fit für den Wettbewerb (Zurufe von der FDP: Oh!)
mit anderen Regionen machen. Die Chance war da, und wird sicherlich nicht dadurch getrübt, dass ich Sie an ei-
diese Bundesregierung hat genau diese Chance vertan. nige Fakten erinnere.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sven- Zu der von Ihnen angemahnten guten Zusammenar-
Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beit mit den kleinen Ländern der EU. Wenn es eine Par-
NEN]) tei gibt, die dazu überhaupt keinen Nachholbedarf hat,
Mir ist noch ein Punkt wichtig, weil wir hier ja in der dann ist es die Freie Demokratische Partei.
Haushaltsdebatte sind. Sparen durch Sozialabbau ist (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Wie
kein Rezept. Das, was wir hier erlebt haben, der Sozial- ist das zu verstehen?)
abbau – gerade gestern wurde das bei dem Haushalt für
Arbeit und Soziales wieder deutlich –, ist weder ein Re- Der Bundesaußenminister hat in seinem ersten Amts-
zept für uns hier in Deutschland noch ein Rezept für die jahr alle 27 Mitglieder der Europäischen Union besucht.
anderen Mitgliedstaaten noch ein Rezept für Europa ge- Der Außenminister der Sozialdemokratischen Partei hat
nerell. Wir müssen sparen – das wissen wir –, und auch das innerhalb eines Jahres nicht hinbekommen.
in Europa muss gespart werden, aber wir müssen intelli-
gent sparen. Bundeskanzler Schröder hat damals, insbesondere in
der Situation nach 2004, die neuen Mitglieder der Union
Wenn uns daran gelegen ist, für Europa und für einen auf eine Art und Weise behandelt, die man nur als undi-
gemeinsamen Weg zu werben und die Bürgerinnen und plomatisch und brüsk bezeichnen kann. Das sogenannte
Bürger auf diesem Weg mitzunehmen, dann brauchen Direktorium hat Schröder gemeinsam mit den großen
wir klare Signale in Richtung eines sozialen Europa und Mitgliedstaaten vorgelebt. Deshalb hat die SPD selber
nicht nur Sonntagsreden. Wir brauchen dann eine prakti- erst einmal enorme Hausaufgaben aufzuarbeiten. Wir
sche Politik. Diese zeigt sich auch in der Bewältigung räumen bei den Nachbarn der Europäischen Union teil-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8123
Michael Link (Heilbronn)
(A) weise heute noch das an Misstrauen auf, was damals un- Bettina Kudla (CDU/CSU): (C)
ter anderem Bundeskanzler Schröder angerichtet hat. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Axel und Herren! Wir sind nun am Schluss der Debatte zur
Schäfer [Bochum] [SPD]: Falsch!) Beratung des Einzelplans 05 des Auswärtigen Amtes.
Der Außenminister hat es zwar bereits erwähnt, aber las-
sen Sie mich noch einmal darauf hinweisen, was zu Be-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ginn des Einzelplanes aufgezählt ist.
Frau Kollegin Högl, Sie haben Gelegenheit zur Ant-
wort. Danach dient der Auswärtige Dienst … einer dauer-
haften, friedlichen und gerechten Ordnung in Eu-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Duzen Sie ihn ropa und zwischen den Völkern der Welt, …
noch?)
Der Aufbau eines vereinten Europa ist Kernaufgabe.
Wesentlicher Faktor eines vereinten Europa ist die ge-
Dr. Eva Högl (SPD):
meinsame Währung innerhalb der 16 Euro-Staaten und
Lieber Michael – ich sage es so, obwohl wir uns hier die Wechselbeziehungen zu den an den Euro-Kurs ge-
als Kollegin und Kollegen nicht duzen –, ich entschul- bundenen Staaten der EU.
dige mich, dass ich einen falschen Vornamen genannt
habe. Das ist vielleicht dem Engagement in der europa- Lassen Sie mich kurz auf die Funktionsweise der
politischen Debatte geschuldet. Das tut der gemeinsa- Euro-Zone im Hinblick auf die aktuelle Situation in
men guten Zusammenarbeit keinen Abbruch, hoffe ich. Irland eingehen. Meine Damen und Herren, der Bun-
Ich hoffe, dass ich mich bei einer Tasse Kaffee oder ei- deshaushalt enthält keine Ausgaben für den sogenannten
nem Glas Wein entsprechend entschuldigen kann. Euro-Rettungsschirm. Diese Tatsache möchte ich deut-
lich hervorheben. In dem im Mai dieses Jahres beschlos-
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – senen Rettungsschirm garantieren die Euro-Staaten ge-
Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Noch ein meinsam mit dem IWF und auf Basis des EU-Haushaltes
Schnäpschen dazu?) bestimmte Hilfsmaßnahmen.
Ich weise allerdings zurück – jetzt komme ich zur Sa-
che –, dass die SPD-Europapolitik die kleinen Länder in Ich möchte unterstreichen, dass es aktuell nicht um
Europa nicht genügend berücksichtigt hat. Ich habe es die Bereitstellung von Geldern durch die Euro-Staaten
extra noch einmal so deutlich gemacht: Es ist eine Konti- geht; es geht vielmehr um die Anwendung von Hilfs-
nuität der gesamten deutschen Europapolitik gewesen, mechanismen, die im Mai beschlossen worden sind. Ziel
(B) dass wir die kleinen Länder entsprechend würdigen, ins des Rettungsschirms ist, vorübergehend mit Garantien (D)
Boot holen, obwohl wir nie nachgelassen haben, deutlich zu helfen, um schwierige Situationen in einzelnen Euro-
zu machen, dass natürlich die großen Länder – etwa Staaten zu überwinden und damit Vermögensverluste für
Frankreich oder Deutschland – eine Motorfunktion in die Bevölkerung Europas zu vermeiden.
Europa haben. Ich möchte auch auf die Ausführungen der Linken
Ich beklage – ich spiele insbesondere auf das an, was eingehen, weil in den Raum gestellt wurde, dass die
heute schon angesprochen worden ist –, dass das, was Bundesregierung leichtfertig mit Steuergeldern umgehen
insbesondere zwischen Präsident Sarkozy und Kanzlerin würde. Sie wissen genau, dass sich im Jahr 2008 die
Merkel vereinbart wurde, völlig außer Acht lässt, welche Staaten weltweit verständigt haben, keine systemrele-
Interessen die kleinen Länder haben. Da hätte man viel vanten Banken mehr in die Insolvenz gehen zu lassen,
mehr ins Boot holen können. Man hätte nicht nur viel um das Vermögen der Bevölkerung zu schützen. Ich
sensibler agieren können, sondern müssen. Das war die denke, daran sollten wir uns auch weiter halten. Natio-
Aussage, die ich in meiner Rede getroffen habe. nale Alleingänge sind nicht angebracht. Man muss aus
vergangenen Wirtschaftskrisen wie der von 1929 die
Wenn wir uns gemeinsam darauf verständigen, dass Lehren ziehen.
wir zu dieser Kontinuität der Europapolitik zurückkeh-
ren, die meines Erachtens ein Erfolgsrezept der deut- Man muss jetzt unaufgeregt an die Problemlösungen
schen Europapolitik war und wieder sein sollte, dann ha- herangehen. Es gilt, die einheitliche Wirtschafts- und
ben wir in diesem Punkt eine Verständigung erreicht. In Währungsunion weiterzuentwickeln. Die Probleme in
diesem Sinne wäre es gut, wenn wir da auch die FDP an Irland kommen unter anderem daher, dass man in Irland
der Seite hätten viel zu schnell eine wirtschaftliche Angleichung an an-
dere Staaten erreichen wollte, teils mit sehr niedrigen
Vielen Dank. Steuersätzen, teils mit einer unverantwortlichen Kredit-
vergabe.
(Beifall bei der SPD)
Jedes Extrem ist schlecht. Wichtig ist jetzt, dass wir in
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Europa eine Annäherung der Steuersätze erreichen. Ich
Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSU- betone: eine Annäherung, nicht zwangsläufig eine An-
Fraktion. passung. Wettbewerb zwischen den Regionen muss nach
wie vor möglich sein. Der von der Bundesregierung ein-
(Beifall bei der CDU/CSU) geschlagene Weg ist daher richtig.
8124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Bettina Kudla
(A) Wir müssen auch langfristig die Schwächen der heißt aber nicht, dass alle EU-Staaten denselben Steuer- (C)
Euro-Zone beseitigen, und zwar insbesondere durch fol- satz haben müssen. Das wäre kontraproduktiv.
gende Maßnahmen: Erstens sind Mechanismen und Auf-
lagen des bestehenden Rettungsschirms konsequent (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
anzuwenden, sofern ein Staat entsprechende Hilfen benö- der FDP)
tigt. Zweitens muss eine bessere Bankenaufsicht einge- Man muss doch auch regionale Unterschiede berück-
richtet werden. Die zum 1. Januar 2011 auf europäischer sichtigen.
Ebene geschaffene Finanzaufsicht ist dabei genauso ge-
fordert, wie es die nationalen Aufsichten sind. Das hohe (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
Staatsdefizit in Irland ist vor allem dadurch entstanden, GRÜNEN]: Aber nicht bei 12,5 Prozent!)
dass der Staat die Banken entsprechend stützt. Irland ist kein Industrieland. In Irland gab es nicht die in-
Wirtschaftliche Fehlentwicklungen – sprich: die Bil- dustrielle Revolution. Aber Irland hat sich in den letzten
dung von Blasen – müssen rechtzeitig transparent ge- Jahren zu einem Hightechland entwickelt. Also müssen
macht werden. Des Weiteren – das ist ein ganz wesentli- hier gewisse geringe Unterschiede weiterhin möglich
cher Punkt – muss nach dem Auslaufen des bisherigen sein. Aber ich gebe Ihnen recht, es kann nicht sein, dass
Rettungsschirms 2013 ein neuer, wirksamer Sanktions- der eine Staat auf Kosten des anderen lebt.
mechanismus in Kraft treten. Auch die Verschuldung der Kommunen und der Län-
der fließt in die Maastricht-Kriterien ein. Aufgrund der
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
guten Konjunktur sind hier positive Effekte zu erwarten.
neten der FDP)
Wirtschaftswachstum ist immer noch die beste Form der
Die genannten Ziele werden wir nur dann erreichen, Haushaltskonsolidierung. Unverantwortlich ist es daher,
wenn wir weiterhin konsequent konsolidieren. Die Bun- wenn die Neuverschuldung unter der rot-grünen Landes-
desregierung wird den erreichten Paradigmenwechsel regierung in NRW etwaige positive Effekte hinsichtlich
bei der Staatsverschuldung weiter konsequent umsetzen. der Maastricht-Kriterien bei den Kommunen gleich wie-
der zerstört.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des der FDP – Zurufe von der SPD)
Kollegen Ulrich von der Linksfraktion?
Zentrale Bedeutung in diesem Zusammenhang hat na-
türlich auch die Entwicklung des EU-Haushalts. Beim
Bettina Kudla (CDU/CSU): EU-Haushalt gilt es, die notwendigen Aufgaben mit ei-
(B) Bitte schön. nem effizienten Mitteleinsatz zu finanzieren. (D)

Zum Schluss noch einige Worte zum künftigen


Alexander Ulrich (DIE LINKE): Sanktionsmechanismus, der ab Mitte 2013 in der EU
Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, was die Steuer- gelten soll. Es ist geplant, die Haushalte der europäi-
sätze in Europa angehe, solle es keine Anpassung, son- schen Staaten bis 2013 so weit zu konsolidieren, dass die
dern eine Annäherung geben. Sie haben das mit der Aus- Maastricht-Kriterien eingehalten werden. Das kann man
sage begründet, es müsse auch weiterhin Wettbewerb nur erreichen, wenn die Schuldenbremse auch in ande-
möglich sein. Finden Sie es verantwortbar, dass der ren EU-Staaten umgesetzt wird. Wenn ein Staat diese
Unternehmensteuersatz in Irland bei 12,5 Prozent Kriterien dann immer noch nicht einhält, müssen ent-
liegt? Insofern bedeutet Wettbewerb auch, dass in der sprechende neue Mechanismen greifen. Dazu gehören
Vergangenheit Arbeitsplätze aus Deutschland nach Ir- sowohl die Beteiligung privater Gläubiger als auch wir-
land oder in andere Regionen abwandern konnten. Der kungsvolle Sanktionen.
deutsche Steuerzahler soll das jetzt über den Euro-Ret-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tungsfonds ausgleichen. Halten Sie nicht auch eine An-
passung nach oben für notwendig? Denn es kann nicht
sein, dass der Steuerzahler in Deutschland zunächst die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
durch den ruinösen Steuerwettbewerb wegfallenden Ar- Ich schließe die Aussprache.
beitsplätze zu finanzieren hat und dann auch noch die
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-
Lücken ausgleichen muss, die zum Beispiel dadurch ent-
plan 05, Auswärtiges Amt, in der Ausschussfassung.
standen sind, dass Irland seine Einnahmeseite zu
Wer stimmt für den Einzelplan 05 in der Ausschussfas-
schwach hält?
sung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Wie ist das Einzelplan 05 ist mit den Stimmen der beiden Koali-
beim Rentenalter?) tionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositions-
fraktionen angenommen.
Bettina Kudla (CDU/CSU): Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.10 auf:
Herr Kollege, ich glaube, ich habe es klar und deut- Einzelplan 14
lich gesagt: Selbstverständlich müssen die Steuersätze Bundesministerium der Verteidigung
in den Ländern erhöht werden, in denen extreme Unter-
schiede zum EU-Durchschnitt zu verzeichnen sind. Das – Drucksachen 17/3513, 17/3523 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8125
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Berichterstattung: terlegt ist noch den sicherheitspolitischen Erfordernissen (C)
Abgeordnete Bartholomäus Kalb unseres Landes entspricht. Es ist also ganz sicher keine
Klaus-Peter Willsch Antwort auf die von Frau Merkel heute Morgen erwähn-
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) ten neuen Bedrohungen und Aufgaben.
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Dr. Gesine Lötzsch Dass die Einsparungen an Personal nicht mit entspre-
Alexander Bonde chenden Einsparungen im Haushalt gleichzusetzen sind,
zeigt sich bereits an folgender Rechnung: Die Ausgaben
Zum Einzelplan 14 liegt ein Entschließungsantrag der für Personal und Versorgung belaufen sich auf circa
Fraktion Die Linke vor, über den wir am Freitag nach 52 Prozent des Gesamthaushalts, nämlich 37,9 Prozent
der Schlussabstimmung abstimmen werden. für Personal und 14,3 Prozent für Versorgung. Bei einer
1-prozentigen Besoldungs- und Tarifanpassung ein-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für schließlich der Pensionen ergeben sich jährliche Mehr-
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich ausgaben in Höhe von 130 Millionen Euro. Bei 3 Pro-
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. zent werden es 400 Millionen Euro sein, die in den
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen nächsten Jahren im Einzelplan 14 unterlegt werden müs-
Bernhard Brinkmann für die SPD-Fraktion das Wort. sen. Wie gesagt, weniger Soldatinnen und Soldaten so-
wie weniger ziviles Personal reduzieren zwar punktuell
(Beifall bei der SPD) die Personalausgaben. Gleichzeitig steigen allerdings die
Versorgungskosten überproportional.
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD):
Jede Reform benötigt – das wissen wir aus der Ver-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und gangenheit – eine Anschubfinanzierung, diese Reform
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Bun- ganz besonders; denn eine Umsetzung der Kommis-
deswehr steht mit dem angekündigten Reformvorhaben sionsvorschläge ist mit den in der mittelfristigen Finanz-
vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte. Die planung vorgesehenen Haushaltsmitteln nicht möglich.
Empfehlungen der Weise-Kommission machen sehr Wie erwähnt, gehen selbst das Finanzministerium und
deutlich, wo die Probleme liegen, und zeigen darüber hi- das Kanzleramt davon aus, dass die beabsichtigten Ein-
naus auch den haushalts- und finanzpolitischen Spiel- sparungen in Höhe von 8,3 Milliarden Euro bis 2014
raum der nächsten Jahre auf. nicht zu erzielen sind.
Die Kommission kommt unter anderem zu dem Er-
Landauf, landab wird über die dringend erforderliche
gebnis, dass die Bundeswehr künftig nicht mehr Geld
Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr gespro-
(B) brauche als bisher, aber auch keine wesentlichen Ein- chen. Auch hierzu sind Mehrausgaben in Millionenhöhe (D)
sparungen leisten könne. Es ist daher Ihre vordringliche
erforderlich. Wie die Weise-Kommission festgestellt hat,
Aufgabe, Herr Minister zu Guttenberg, dem Parlament
ist es nämlich ein zwingendes Erfordernis, künftig die
zügig aufzuzeigen, wo Sie die avisierten 8,3 Milliarden
Wettbewerbsfähigkeit der Bundeswehr als Arbeitgeber
Euro einsparen wollen. Bisher liegen jedenfalls keine
zu stärken. Das bedeutet unter anderem die Planung und
belastbaren Konzepte vor. Bisher gibt es Zahlen aus dem
Umsetzung von Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Fa-
Bundeskanzleramt und dem Bundesfinanzministerium,
milie und Dienst, für neue Laufbahnen, zur Verstärkung
die eine Größenordnung von 1,5 Milliarden Euro haben.
der Aus- und Weiterbildung sowie für einen erleichterten
Es wird eine Herkulesaufgabe sein, allein diese Lücke in
Übergang in Zivilberufe. Auch das wird künftige Haus-
den Haushalten für 2012 und die Folgejahre zu schlie-
halte mehr als bisher belasten.
ßen. Das ist meines Erachtens fast unmöglich. Allein die
globalen Minderausgaben haben schon dazu geführt, Bei den militärischen Beschaffungen verhält es sich
dass in weiten Teilen der Truppe bestimmte Aufgaben ähnlich. Ich wäre Ihnen, Herr Minister zu Guttenberg,
nicht mehr erfüllt werden können. Hier gibt es noch eini- sehr dankbar, wenn Sie auch hier unter Berücksichtigung
ges zu tun. der künftigen Strukturen unserer Streitkräfte belastbares
Zahlenmaterial vorlegten, das selbstverständlich auch
Wer sich die großen Ausgabenblöcke des Verteidi-
– diese Erfahrung haben wir in der Vergangenheit ge-
gungshaushalts vor Augen führt, muss zu der Überzeu-
macht – eine Preissteigerungsvariante enthalten muss.
gung gelangen, dass selbst bei der vorgesehenen Redu- Äußerste Priorität hat hierbei ohne Wenn und Aber die
zierung des Personals, also der Zahl der Soldatinnen bestmögliche Ausstattung der im Einsatz befindlichen
und Soldaten sowie der zivilen Mitarbeiterinnen und Soldatinnen und Soldaten. Es kann künftig nicht mehr
Mitarbeiter – auch diese Größenordnung steht noch nicht angehen, dass teilweise mehr als zwei Jahre ins Land ge-
fest –, die Personalkosten von derzeit rund 12 Milliarden hen, bevor entsprechende Ausrüstungsgegenstände zur
Euro zwar sinken, aber gleichzeitig ein enormer Anstieg Verfügung stehen.
an Leistungen für Pensionen und Altersversorgung zu
verzeichnen sein wird. Auch hier müssen wir in den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nächsten Monaten zu belastbaren Zahlen kommen. Auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
hier sind Sie, Herr Minister, ausdrücklich gefordert.
Für die Sicherheit der Truppe und die Sicherheit
Die Weise-Kommission zeigt zudem klar auf, dass Deutschlands darf nicht entscheidend sein, was wir uns
das vom Verteidigungsminister favorisierte Modell mit noch leisten können, sondern was auch künftig zwin-
163 500 Soldatinnen und Soldaten weder finanziell un- gend notwendig ist. Das muss finanziert werden.
8126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Bernhard Brinkmann (Hildesheim)


(A) Das Papier der Weise-Kommission ist auch für andere den nächsten Monaten noch auf uns zukommen werden. (C)
Ministerien empfehlenswert. Man sollte Herrn Weise Eine konstruktive Mitarbeit kündige ich hiermit an. Zu
vielleicht einmal beim BMZ einsetzen. Das sollte nach der sind wir sehr gerne bereit.
den Vorstellungen des heutigen Ministers geschlossen
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
werden. In dem Papier wird angeregt, im Ministerium
die Dienstpostenzahl auf circa 1 500 zu reduzieren. (Beifall bei der SPD)
Gleichzeitig soll der alleinige Dienstsitz künftig hier in
Berlin sein. Auch das wird eine Herausforderung sein, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
und das sollte von Ihnen, Herr Minister, so zeitnah wie Das Wort hat nun Klaus-Peter Willsch für die CDU/
möglich vorbereitet werden. CSU-Fraktion.
Bei einem künftigen jährlichen strukturellen Ergän- (Beifall bei der CDU/CSU)
zungsbedarf von voraussichtlich 15 000 Soldatinnen und
Soldaten bei gleichzeitig ausgesetzter Wehrpflicht wer-
den circa 50 000 bis 60 000 Bewerberinnen und Bewer- Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
ber benötigt, um eine entsprechende Auswahl treffen zu Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
können. Das ist ebenfalls eine Herkulesaufgabe, die ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege
nicht ohne weitere Ausgaben zu meistern sein wird. Brinkmann, in Ihrer Rede waren durchaus viele Gemein-
samkeiten mit uns zu erkennen. Das Kleinteilige und
Wer durch das Land fährt und die Streitkräfte besucht, Mäkelige ist natürlich typisch für die Opposition. Schö-
wird vor Ort erfahren, dass die Verunsicherung in der ner wäre es gewesen, wenn Sie die zentralen Punkte, in
Truppe groß ist. Es ist daher unsere gemeinsame Auf- denen wir als Deutscher Bundestag übereinstimmen
gabe, alle Betroffenen im Reformprozess mitzunehmen. – wir schicken gemeinsam die Parlamentsarmee in den
Eine auch künftig hochmotivierte Bundeswehr, zu der Einsatz –, aufgezählt und damit mehr Gemeinsamkeit
auch die vielen zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter demonstriert hätten. Wir mit unserem Minister Karl-
und auch die Reservisten gehören, benötigt so schnell Theodor zu Guttenberg an der Spitze haben jedenfalls
wie möglich Planungssicherheit. gezeigt, dass diese christlich-liberale Koalition die Kraft
zum großen Wurf hat, dass wir in der Lage sind, die tief-
(Beifall bei der SPD)
gehendste Reform unserer Streitkräfte der letzten
Also, Herr Minister zu Guttenberg, ran an die Arbeit! 20 Jahre zu schultern und mutig anzugehen.
Jetzt ist Kärrnerarbeit gefragt. Das passt zu der Jahres- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
zeit und dem Wetter heute. Die Schönwetterzeit ist vor- Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bei. Wir sind gespannt, inwieweit Sie Ihren Zeitplan, NEN]: Bisher nur angekündigt! – Bernhard
(B) was die Vorlage im Kabinett und die weiteren Beratun- (D)
Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: Wo ist der
gen angeht, werden einhalten können. Vielleicht hören große Wurf?)
wir anschließend noch etwas dazu.
Wir haben uns bereits bei der ersten Lesung damit
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um Dank auszu- auseinandergesetzt. Zu Zweifeln an den vorgegebenen
sprechen. Dieser geht in erster Linie an die Soldatinnen Terminen gibt es überhaupt keinen Anlass.
und Soldaten, an die zivilen Helfer sowie insbesondere
an deren Angehörige. Seien Sie versichert: Es wird ge- (Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: Das ist
würdigt, was Sie für unser Land tun. schon zweimal verschoben worden!)
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Wenn Sie meinen Beitrag zur ersten Lesung nachlesen
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) oder wenn Sie sich ihn in Erinnerung rufen, dann werden
Sie feststellen, dass ich angesichts des vorgegebenen
Die Auslandseinsätze werden von der Linkspartei in Zeittableaus – Parteitag CSU, Parteitag CDU, Bericht
einer Art und Weise kritisiert, die – das füge ich ganz der Weise-Kommission – immer wieder betont habe:
selbstbewusst und sehr deutlich hinzu – nicht hinnehm- Wir haben es mit einer Haushaltsaufstellung unter der
bar ist. Bedingung extremer Unsicherheit zu tun, weil wir noch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie nicht genau wissen, wie die Zielstruktur aussieht. Das
bei Abgeordneten der SPD) gilt zum Teil auch noch heute; das haben Sie angespro-
chen. Ich bin dankbar dafür, dass wir durch die Kom-
Denken Sie einmal daran zurück, was Sie bis 1989 alles mandeurtagung in Dresden in dieser Woche etwas mehr
angerichtet haben. Dafür tragen Sie teilweise die Verant- Aufschluss bekommen haben. Nunmehr können wir
wortung. Sie haben versucht, das bei der heutigen außen- munter und mutig auf dem Weg voranschreiten, die
politischen Debatte schönzureden. Streitkräfte so umzubauen, wie es für diese Zeit und für
die Einsatzszenarien, die wir heute haben, notwendig ist.
Ihnen, Herr Minister, und Ihrem Haus herzlichen
Dank für die stets zur Verfügung gestellten Informatio- Zunächst will ich – da schließe ich mich Ihnen aus-
nen. Wir gehen davon aus, dass das auch in Zukunft im drücklich an, Herr Kollege Brinkmann – dem Haus ganz
Sinne einer konstruktiven Zusammenarbeit so bleibt. herzlich danken. Die Zusammenarbeit war vertrauens-
Den Einzelplan lehnen wir ab, nicht nur wegen der von voll. Unsere Informationswünsche wurden umfassend
mir angesprochenen Punkte, sondern auch wegen der erfüllt. Auch im Namen der ganzen Fraktion richte ich
Probleme, die wegen der Verzögerungen und der Un- meinen Dank an die Soldaten. Wir wissen, was im Ein-
wägbarkeiten des Reformvorhabens mit Sicherheit in satz geleistet wird. Wir müssen bekümmert zur Kenntnis
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8127
Klaus-Peter Willsch
(A) nehmen, dass es in diesem Jahr auch Opfer gab; Kame- danken machen, was wir zusätzlich brauchen; denn wir (C)
raden sind gefallen. Wir gehen mit unserer Verantwor- werden für andere Aufgaben Mehraufwendungen haben.
tung, unsere Armee in Einsätze zu schicken, nicht leicht-
Wir werden in die Kasernen bzw. die Unterkünfte et-
fertig um. Wir wissen es wirklich wertzuschätzen, was
was hineinstecken müssen. Wir müssen um Freiwillige
dort – im Einsatz, aber auch bei der Unterstützung in der
sowie um Zeit- und Berufssoldaten werben und dazu den
Heimat – geleistet wird.
Dienst attraktiver machen. Zivilberufliche Qualifika-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie tionsmöglichkeiten innerhalb des Dienstes werden wir
des Abg. Ullrich Meßmer [SPD]) stärken müssen. All das steht vor uns. Dass wir all diese
Fragen heute noch nicht vollständig beantworten kön-
„Vom Einsatz her denken“, so lautet die Überschrift nen, liegt am Wesen des Prozesses, den wir gerade
des Abschlussberichts der Weise-Kommission. Das ist durchlaufen. Insofern bitte ich da um Verständnis und
in der Tat das, was wir in der Organisation der Bundes- konstruktive Zusammenarbeit.
wehr brauchen. Wir haben hervorragende Soldaten, die
Wir haben in den aktuellen Haushaltsberatungen vor
Ausgezeichnetes in vielfältigen Einsatzszenarien leisten.
allen Dingen in einem Bereich finanziellen Nachbesse-
Wann immer man mit Alliierten spricht, wann immer
rungsbedarf gesehen. Das ist der Sanitätsdienst der
man selbst mit der Truppe im Einsatz spricht oder mit
Bundeswehr, der ja für den Soldaten im Einsatz von ex-
Vertretern der Länder, zu deren Schutz sie unterwegs
trem hoher Bedeutung ist. Die Sicherheit zu haben, dass
sind, bekommt man das bestätigt: Auf die Bundeswehr
der Sani kommt und er optimal versorgt wird, ist für den
kann man sich verlassen.
Soldaten, den wir in den Einsatz schicken, wichtig. Des-
Darüber hinaus müssen wir für einsatzfähige Struk- halb haben wir gesagt: Hier geben wir mehr aus. Wir ha-
turen sorgen. Wenn wir schauen, wie die Einsätze ausse- ben umfangreiche Aufstockungen um insgesamt 22 Mil-
hen, stellen wir fest: Das ist die Zukunft der deutschen lionen Euro vorgenommen. Das ist im Übrigen eine
Streitkräfte: in internationalen Einsätzen rund um den Teileinheit, die bei unseren Bündnispartnern sehr hohes
Globus Frieden und Freiheit unseres Vaterlandes schüt- Ansehen genießt. Wir sind der Auffassung: Hier müssen
zen. Dazu gehört auch der Schutz des freien Welthandels wir mehr tun.
als wesentliche Quelle unseres Wohlstands; schließlich Zur Erhaltung und Verbesserung der Einsatzfähigkeit
sind wir eine große Außenhandelsnation. haben wir auch die einsatznahen Bereiche Materialerhal-
tung Schiffe/Boote, Materialerhaltung Luftfahrzeuge
Wenn wir heute noch nicht mit letzter Klarheit sagen und Munitionsbeschaffung mit Aufwüchsen versehen.
können, wie sich das alles haushaltsmäßig abbildet, dann Auch hier steht wieder der Gedanke im Vordergrund, die
liegt das daran, dass wir mitten in diesem Transforma- Soldaten im Einsatz bestmöglich zu versorgen.
(B) tionsprozess sind. Wir müssen zunächst folgende Fra- (D)
gen beantworten: Welche Fähigkeiten wollen wir erhal- Eine Frage, die ich auch beim letzten Mal angespro-
ten? Welche Fähigkeiten wollen wir hinzufügen? Bei chen habe, müssen wir im Zuge der Reform mit in den
welchen Fähigkeiten wollen wir uns darauf verlassen, im Blick nehmen und versuchen, richtig zu beantworten. Der
internationalen Verbund mit den Partnern zu wirken, Einzelplan 14 beinhaltet auch eine industriepolitische
diese Fähigkeiten also unter den Bündnispartnern aufzu- Last für Deutschland. Wir haben eine sehr hochwertige,
teilen? Sie alle wissen: Die NATO hat auf dem Lissabon- hervorragende Wehrindustrie mit Hochtechnologieberei-
Gipfel in der letzten Woche entschieden, sich auf einen chen. Es sind auch viele kleine und mittelständische
gemeinsamen Raketenabwehrschirm zu verlassen und Unternehmen dabei. Hierzu müssen wir sagen: Der Ein-
Russland anzubieten, hierbei zu kooperieren, was ein zelplan 14 muss von industriepolitischen Aufgaben ent-
qualitativ neuer Schritt ist. lastet werden. Wir müssen Wege finden, diese hervorra-
genden Ingenieure und ihre Firmen unabhängiger zu
Die endgültige Festlegung des Streitkräfteumfangs machen, indem sie Möglichkeiten finden, ihre Produkte
kann nun zügig angegangen werden, nachdem CDU wie in der ganzen Welt abzusetzen.
CSU die Aussetzung der Wehrpflicht eindeutig be-
schlossen haben. Das entspricht unserem festen Willen, Es gibt – das kann man als Haushälter nicht ver-
die Truppe, die Streitkräfte, konsequent auf Einsätze schweigen – natürlich beim Thema Beschaffungen aus-
auszurichten. Wir konnten den Vorteil eines sechsmona- geprägte Sorgenkinder. Aber einige Nachrichten der
tigen Grundwehrdienstes nämlich nicht mehr erkennen. letzten Tage zeigen, dass auch Sorgenkinder noch das
Laufen lernen, wenn man ihnen lange genug Zeit gibt
Das hat jetzt Auswirkungen positiver Art auf den und sich mit genügender Hinwendung den Dingen wid-
Haushalt 2011. Je schneller wir zu den Entscheidungen met.
kommen, desto besser. Ein Wunschtermin ist bereits ge-
nannt worden: 1. Juli 2011. Ich hoffe, dass wir diesen (Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]:
Termin einhalten. Wenn es nur noch ein gutes halbes Die Großen ja, die Kleinen nicht!)
Jahr Wehrpflichtige gibt, dann heißt das weniger Sold, In Bezug auf den A400M wurde eine Einigung er-
weniger Ausrüstung, weniger persönliche Ausstattung, zielt.
weniger Unterkunft. Jetzt muss also alles Mögliche
möglichst schnell realisiert werden. Aber wir müssen (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
uns für die Folgejahre – das haben Sie, Herr Kollege NEN]: Mir ist wohler, wenn der fliegt, als
Brinkmann, angesprochen; dafür bin ich Ihnen dankbar; wenn er läuft! – Ralph Brinkhaus [CDU/
lassen sie uns gemeinsam daran arbeiten – darüber Ge- CSU]: Wenn der läuft, wird es gefährlich!)
8128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Klaus-Peter Willsch
(A) Wir versuchen, die Verträge, die wir von Vorgängerre- würde nun auch bei der Bundeswehr und der Rüstung (C)
gierungen übernommen haben, wieder einigermaßen ins sparen.
Lot zu bekommen, und zwar hinsichtlich des kontrahier-
(Dr. h. c. Susanne Kastner [SPD]: Macht er
ten Leistungsspektrums und des Preises. Ich glaube, hin-
auch! Leider!)
sichtlich des A400M können wir dem Haus danken, dass
hier eine strikte Linie gefahren wurde. Manche Partner- Aber weder im vorgelegten Haushalt noch im Plan zur
länder wollten schon von Anfang an sehr viel mehr Geld Reform der Bundeswehr geht es ums Sparen beim Mili-
auf den Tisch legen. Ich glaube, das erzielte Ergebnis ist tär.
noch einigermaßen erträglich.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Der erste NH-90 wurde im Oktober an das Hub-
Die Bundeswehrreform dient der weiteren Militari-
schraubergeschwader in Holzdorf ausgeliefert, und zehn
sierung der Außenpolitik und einer weltweiten Inter-
weitere werden bereits an der Heeresfliegerwaffenschule
ventionspolitik.
Bückeburg im Rahmen der Ausbildung der Piloten ge-
flogen. Die Korvette 130 steht zur Abnahme bereit; die (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei
muss dann eben auch erfolgen. der CDU/CSU)
Kollege Brinkmann, ich wende mich auch an die grü- Das erklärte Ziel ist – Herr von und zu Guttenberg hat es
nen Kollegen: Wir haben ja durchaus verschiedene Dis- häufiger gesagt –, mehr Soldatinnen und Soldaten in
kussionen im Haushaltsausschuss geführt, in denen die Auslandseinsätze schicken zu können. So steigen die
Verantwortung, die sich aus dem Verhältnis zu unserer Militärausgaben 2011 um 440 Millionen auf 31,5 Mil-
Bundeswehr ergibt, in einem sachgemäßen Umgang mit liarden Euro. Damit handelt es sich hier um den dritt-
dem Thema zum Ausdruck kam. Das, was wir anstreben größten Einzelhaushalt. Dazu kommen in anderen
und auf dessen Verwirklichung wir hinarbeiten, ist ein Haushalten versteckte Ausgaben. Nach NATO-Kriterien
großes Reformwerk. Es wäre schön und auch ein wichti- betragen die Ausgaben dann schon 34 Milliarden Euro.
ges Signal an unsere Soldaten, wenn wir diese Reform, Bei der Bundeswehr wird eindeutig nicht gespart,
die wir uns fest vorgenommen haben, hier mit konstruk-
tiver Begleitung durch die Opposition über die Bühne (Beifall bei der LINKEN)
kriegen könnten. ganz anders als im Sozialbereich. Hier müssen die Bür-
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: gerinnen und Bürger mit tiefen Einschnitten rechnen.
Die grüne Krawatte ist ein erstes Signal!) Anscheinend ist das Sparargument ohnehin nur ein
– Nein, Herr Kollege Brinkmann, ich habe die rote ein- politischer Hebel, mit dem die Strukturreform der
(B) fach nicht gefunden, sonst hätte ich heute mal eine rote Bundeswehr der Öffentlichkeit und besonders der (D)
angezogen. So ist es heute eine grüne Krawatte. schwarz-gelben Basis verkauft werden soll. Minister zu
Guttenberg hat ja immer wieder klargemacht, dass es
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: nicht wirklich darum geht, bei der Rüstung zu sparen. So
Nächste Woche!) erklärten Sie, Herr Minister, bereits am 11. Oktober vor
– Okay, ich verspreche Ihnen für die nächste Woche die der Hanns-Seidel-Stiftung:
rote. Die Frage kann nicht sein, was können wir uns leis-
Lassen Sie mich mit Johann Wolfgang von Goethe ten, sondern was ist uns die Sicherheit wert.
schließen. Der hat gesagt: (Elke Hoff [FDP]: Richtig! – Dr. Karl A.
Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch an- Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: Das ist
wenden; es ist nicht genug, zu wollen, man muss doch gut!)
auch tun. Nur, welche Sicherheit ist gemeint? Soziale Sicher-
Auf diesem Wege befinden wir uns. heit sollte allen hier im Parlament viel wert sein.

Vielen Dank, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN – Ernst-Reinhard
Beck [Reutlingen] [CDU/CSU]: Ist sie ja
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch!)
Sozialpolitik oder Gesundheitspolitik nach Kassenlage
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zu betreiben, das ist falsch.
Das Wort hat nun Kollegin Inge Höger für die Frak-
tion Die Linke. (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/
CSU]: Macht auch keiner!)
(Beifall bei der LINKEN)
Sozialpolitik nach Kassenlage ist unsozial.
Inge Höger (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN – Bartholomäus Kalb
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 80 Pro- [CDU/CSU]: Wenn Sie aber nichts in der
zent der Bevölkerung sagen, die Bundesregierung solle Kasse haben? – Dr. Andreas Schockenhoff
bei der Bundeswehr, bei der Rüstung sparen und nicht [CDU/CSU]: Schulden machen ist unsozial! –
beim Sozialen. Verteidigungsminister zu Guttenberg ließ Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Zum
noch im Sommer durch die Bild-Zeitung verkünden, er Thema!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8129
Inge Höger
(A) Es geht ganz offensichtlich auch nicht um die Sicher- machtpolitische und militärische Prioritäten ist nach un- (C)
heit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande; denn serer Ansicht falsch.
durch Ihre Kriegspolitik schaffen Sie neue Gefahren für
(Beifall bei der LINKEN)
die Menschen hierzulande und in den Einsatzgebieten
der Bundeswehr. In Afghanistan ist drastisch zu beobachten, welche fa-
talen Auswirkungen die Kriegspolitik von Bundeswehr
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
und NATO hat. Das haben nicht erst die Bombardierung
Herr Guttenberg, Sie haben Ihre Vorstellung von Si- und die bewusste Inkaufnahme von toten Zivilisten am
cherheit in den letzten Tagen und Wochen sehr deutlich Kunduz-Fluss gezeigt. Immer mehr Soldatinnen und
gemacht. Ihnen geht es vor allem um die Sicherheit der Soldaten bringen immer mehr Unsicherheit, und immer
Interessen von Unternehmen, um den sicheren Zugang mehr Kampfhandlungen führen zu einer Eskalation des
zu Ressourcen, um die Sicherheit der Handelsrouten. Krieges und zu immer mehr toten Soldatinnen und Sol-
daten sowie toten Zivilisten.
(Elke Hoff [FDP]: Und der Linksfraktion! –
Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Und der Rüs- Auch bei den eingesetzten Soldaten zeigt sich eine
tungskonzerne!) Verrohung, die dieser Kriegseinsatz hervorruft.
Sie fordern etwas, was unser Grundgesetz verbietet: Sie (Elke Hoff [FDP]: Das ist ja unglaublich! –
fordern Wirtschaftskriege zur Durchsetzung und Absi- Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Bitte?
cherung der Interessen deutscher Konzerne. Das ist ja unverschämt! – Gegenruf von der
LINKEN: Es ist aber so! – Jürgen Herrmann
(Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! – Unerhört!)
[CDU/CSU]: Sie kennen sich ja auf den Schif-
Dazu sagt die Linke klar und deutlich Nein. fen aus, wo es auch zur Sache geht!)
(Beifall bei der LINKEN – Elke Hoff [FDP]: Ich zitiere, was ein Soldat in einem von der Nachrichten-
So ein Blödsinn!) agentur dapd jüngst veröffentlichten Interview gesagt
hat:
Bei der Berliner Sicherheitskonferenz haben Sie, Herr
Guttenberg, jüngst ganz bewusst ein außenpolitisches Man baut einfach einen Hass gegen die Bevölke-
Tabu in unserem Lande gebrochen. Sie haben betont, rung auf. … Man möchte am liebsten auch alle nor-
dass Sie die Position des früheren Bundespräsidenten malen Afghanen ins Jenseits befördern.
Köhler zur militärischen Interessendurchsetzung teilen.
Allein die Erkenntnis, dass der Einsatz in Afghanistan
(Elke Hoff [FDP]: Ja! Genau richtig!) bei deutschen Soldaten solche Vorstellungen hervorruft,
(B) (D)
Herr Köhler hatte wenigstens noch den Anstand, an- (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Ent-
schließend zurückzutreten. Sie erklärten – Zitat –: schuldigung! Nicht die deutschen Soldaten!)
Der Bedarf der aufstrebenden Mächte an Rohstof- sollte Grund genug für einen sofortigen Abzug sein.
fen steigt ständig und tritt damit mit unseren Be-
(Beifall bei der LINKEN)
dürfnissen in Konkurrenz … Da stellen sich Fragen
auch für unsere Sicherheit, die für uns von strategi- Bitte erzählen Sie nun nicht, die NATO habe ja in Lis-
scher Bedeutung sind. sabon den Rückzug aus Afghanistan bis Ende 2014 be-
schlossen. Es wurde nur der Abzug von Kampftruppen
Mit Herrn Niebel haben Sie einen Entwicklungshilfe-
angekündigt, keineswegs der Abzug aller Soldaten. Das
minister an Ihrer Seite, der Organisationen, die in Kri-
Vorbild für diesen Plan ist der Irak: Dort sind trotz Ab-
senregionen neutral und unabhängig von der Bundes-
zugs der USA immer noch 50 000 US-amerikanische Sol-
wehr arbeiten wollen, gern den Geldhahn zudrehen will.
daten. Sie übernehmen die Gefechte in der Regel nicht
Herrn Niebels Ressort wird gleich im Anschluss behan-
mehr selbst; dies überlassen sie den irakischen Truppen.
delt. Aber die sogenannte vernetzte Sicherheit ist ja lei-
Die internationalen Truppen unterstützen und beraten
der auch ein Thema der Verteidigungspolitik geworden.
die irakischen Truppen bei deren Kampf gegen andere
Die Bundeswehr versucht genauso wie die NATO, die
Iraker. Wie im Irak soll die Kriegsführung auch in
enge Verzahnung von Entwicklungs-, Außen- und Ver-
Afghanistan Stück für Stück auf die einheimische Bevöl-
teidigungspolitik als großen Fortschritt zu verkaufen.
kerung übertragen werden. Das ist kein Friedensplan;
Die NATO hat am Wochenende sogar beschlossen, eine
das ist ein Plan zur Ausweitung eines Bürgerkrieges.
eigene zivil-militärische Planungszelle einzurichten.
Das ist keine Afghanisierung der Sicherheit; das ist eine
Arme Länder brauchen Entwicklungshilfe, die sich an Afghanisierung des Krieges.
den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Notwendig
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
ist eine Außenpolitik, die sich auf Diplomatie stützt und
an einem gerechten Ausgleich zwischen Arm und Reich Die einzige Antwort kann nur sein: Bundeswehr und
interessiert ist. NATO raus aus Afghanistan!
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Eine Vermischung von zivilen und militärischen Instru- Mit dem Rüstungshaushalt werden allein für Waffen-
menten führt zu Unklarheit und Unsicherheit. Eine Un- systeme über 5,2 Milliarden Euro ausgegeben. Darüber
terordnung der verschiedenen zivilen Bereiche unter hinaus hat die Bundeswehr Rüstungsverträge abge-
8130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Inge Höger
(A) schlossen, durch die bereits heute Verpflichtungen für Lassen Sie mich abschließend kurz noch etwas zur (C)
Ausgaben in Höhe von mehr als 46 Milliarden Euro be- aktuellen Terrorhysterie sagen. Der Vorsitzende des
stehen. Das ist unverantwortlich. Bundes der Kriminalbeamten, Klaus Jansen, forderte
gestern:
Das Verteidigungsministerium selbst gibt zu, dass na-
hezu keines der Aufrüstungsprojekte zeitlich und finan- Für den Schutz besonders gefährdeter Einrichtun-
ziell im Rahmen bleibt. Auch die Qualität lässt häufig zu gen, Infrastruktur oder Veranstaltungen muss unter-
wünschen übrig. Durch eine absolut schlampige und stützend die Bundeswehr eingesetzt werden.
häufig verspätete Produktion bietet die Rüstungsindus-
Nur durch Amtshilfe der Bundeswehr lasse sich der
trie aber die Chance eines Ausstiegs. Diese Chance eines
Schutz der Bevölkerung angeblich gewährleisten. So
Ausstiegs aus den Beschaffungsprojekten sollten Sie
verhindern Sie keinen einzigen Terrorangriff, aber Sie
nutzen.
verändern unser Land in eine gefährliche Richtung.
Die Regierung beharrt aber auf dem Kauf des Schüt- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
zenpanzers Puma oder des Kampfhubschraubers Tiger,
obwohl die Industrie bis heute keine fehlerfreien Geräte Die Linke steht für eine Politik, die nicht vom Einsatz
liefern kann. Es gäbe die Möglichkeit einer außerordent- her denkt, weder im Inland noch im Ausland.
lichen Kündigung. Ähnliches gilt für die neuen Fregat-
ten oder den Transporthubschrauber NH-90. (Beifall bei der LINKEN – Holger Haibach
[CDU/CSU]: Das Schlimme ist: Ihre Politik
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Mit den neuen denkt gar nicht! Das ist das Problem!)
Fregatten ist alles in Ordnung!)
Die Linke steht für eine Friedenspolitik, die von der Ab-
Die Beschaffung des Militärtransporters A400M ist rüstung her denkt. Unser Ziel ist eine gerechte und fried-
der teuerste Fall von Pleiten, Pech und Pannen bei der liche Welt ohne Atomwaffen, ohne Rüstung und ohne
Aufrüstung, an dem die Bundesregierung festhält. EADS Militärinterventionen.
hat bereits Anfang des Jahres finanzielle und zeitliche (Beifall bei der LINKEN)
Zugeständnisse erbettelt. Nun will der Rüstungskonzern
das einmalige Angebot machen, nur noch 170 Flugzeuge
zum Preis der ehemals ausgehandelten 180 Flugzeuge zu Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
liefern. Neben anderen Zugeständnissen erhält EADS im Das Wort hat nun Jürgen Koppelin für die FDP-Frak-
Zuge des vorliegenden Haushalts einen Kredit, der nur tion.
dann zurückgezahlt werden muss, wenn ausreichend (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(B) hohe Einnahmen aus dem Export erzielt werden. Dafür (D)
der CDU/CSU)
werden 500 Millionen Euro aus Steuermitteln zur Verfü-
gung gestellt. Damit wird ein privates Risiko öffentlich
abgesichert. Im Ergebnis wird die Aufrüstung der Bun- Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
deswehr über die Ausweitung von Rüstungsexporten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
finanziert. Bald beginnt die Weihnachtszeit. Da darf man sich etwas
wünschen: Ich wünsche mir von den Sozialdemokraten
Das ist wohl kein Zufall. Parallel zum Umbau der und den Grünen, dass sie dafür sorgen, dass solche Poli-
Bundeswehr zur Einsatzarmee sind die Rüstungs- tiker wie Frau Höger unser Land nie regieren. Das wäre
exporte kontinuierlich angestiegen. Ich denke, ohne eine mein Wunsch nach dieser Rede.
Abkehr von der globalen Interventionspolitik wird es
kaum möglich sein, Rüstungsexporte zu verringern und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
zu kontrollieren. Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wie es aussieht, reicht es für Rot-Grün
(Beifall bei der LINKEN) allein! Den Wunsch können wir erfüllen!)
Wenn man über die Bundeswehr redet, muss man Bevor ich zum Haushalt komme, gestatten Sie mir
auch das Bündnis betrachten, in dessen Rahmen die bitte eine Bemerkung – ich glaube, das gehört zur heuti-
meisten deutschen Soldaten im Ausland eingesetzt sind: gen Debatte dazu; ich sehe die Kollegen Gernot Erler,
die NATO. Am letzten Wochenende hat die NATO in Werner Hoyer und andere, die damals mit im Verteidi-
Lissabon ihr neues Strategisches Konzept beschlossen. gungsausschuss saßen –: Vor 20 Jahren wurden zwei
Die Bilanz dieses Gipfels bei den Themen „Abrüstung“ große Armeen, die Bundeswehr und die NVA, die sich
und „Frieden“ ist äußerst mager. Es ist besonders dreist, bis dahin feindlich gegenüberstanden, zusammenge-
die bloße Erwähnung der atomaren Abrüstung als Erfolg führt. Die Tagung der Bundeswehr „20 Jahre Armee der
zu verkaufen. Dabei wird betont – ich zitiere –: Einheit“, die in diesen Tagen in Dresden stattfand, war
beeindruckend. Das gilt auch für die Reden der Bundes-
Solange es Nuklearwaffen auf dieser Welt gibt, kanzlerin und des Bundesministers Guttenberg. Damals,
wird die Nato eine nukleare Allianz bleiben. vor 20 Jahren, sagten viele: Das ist kaum zu bewältigen.
So schafft die NATO keine Bedingungen für die nu- Das dachten auch in meiner Fraktion viele; das gebe ich
kleare Abrüstung, sondern das genaue Gegenteil. ehrlich zu. Dennoch ist es gelungen. Viele waren an dem
Erfolg beteiligt. Stellvertretend möchte ich, weil er wie
(Beifall bei der LINKEN) ich aus dem Bundesland Schleswig-Holstein kommt, den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8131
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
(A) damaligen Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg hatte. Unser Koalitionspartner hat das anerkannt. Sie ha- (C)
nennen. ben sich damit sehr schwer getan.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir als FDP haben in den Koalitionsverhandlungen
durchgesetzt, dass eine Strukturkommission eingesetzt
Man darf auch daran erinnern: Die Zusammenfüh-
wurde. Das Ergebnis liegt nun vor. Ich möchte besonders
rung der beiden Armeen sorgte dafür, dass das größte
dem Vorsitzenden, Frank-Jürgen Weise, unseren ganz
Abrüstungsprogramm stattfand, das es in Europa je ge-
herzlichen Dank aussprechen. Ich denke, ich kann das
geben hat. Beide Seiten waren hochgerüstet. Wir haben
im Namen der Koalition und im Namen des Hauses tun.
abgerüstet noch und noch; das kann man wirklich sagen.
Diese Reform und diese Zusammenlegung waren ein Er- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem
folg. Das war eine Erfolgsgeschichte. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Man sollte noch etwas nicht vergessen: Es waren Anders als frühere Regierungen werden wir diese Ergeb-
Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, denen es in nisse nicht zu den Akten legen. Wir werden umsetzen,
Verhandlungen gelang, dass das gesamte wiederverei- was immer umsetzbar ist, und zwar zügig. Das kann man
nigte Deutschland Mitglied in der NATO bleiben konnte. wohl ausdrücklich zusagen.
Alle in Europa und der Welt hatten Vertrauen zu uns.
Wenn die Bundeswehr, wie angekündigt, zum 1. Juli
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 2011 eine Freiwilligenarmee wird, müssen wir – das ent-
Nur die Linkspartei hat kein Vertrauen. Da haben Sie spricht unserer Auffassung – aus Fürsorgepflicht zuerst
wirklich ein Alleinstellungsmerkmal. an die Angehörigen der Bundeswehr denken, seien sie in
Uniform oder seien sie zivil beschäftigt. Die Bundes-
(Inge Höger [DIE LINKE]: Man hätte die wehr hat als Arbeitgeber eine besondere Fürsorgepflicht.
NATO damals genauso wie den Warschauer Deswegen sage ich: zuerst die Menschen und dann das
Pakt auflösen können!) Material.
Nun stehen wir bei der Bundeswehr erneut vor großen So haben wir es bei den Haushaltsberatungen zum
Aufgaben. Die Bundeswehr wird eine Freiwilligen- Einzelplan 14 gehalten. Teilweise hat es erhebliche Um-
armee. Das ist seit vielen Jahren das politische Ziel der schichtungen zugunsten des Personals gegeben. Die
FDP. Dafür sind wir eingetreten. Freien Demokraten und ich persönlich als Hauptbericht-
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erstatter haben das sehr ernst genommen, was der frü-
NEN]: Sie wollten ihre Aussetzung!) here Wehrbeauftragte Reinhold Robbe in seinem Bericht
über den katastrophalen Zustand des Sanitätswesens ge-
(B) Ich habe großen Respekt vor den Entscheidungen von schrieben hat. Wir haben daher erheblich zugunsten des (D)
CDU und CSU. Das war sicher keine leichte Entschei- Sanitätswesens umgeschichtet. Ich muss den Kollegen
dung auf Ihren Parteitagen. Als Freie Demokraten, als Bonde schon fragen, warum die Grünen so viele Streich-
Ihr Koalitionspartner erkennen wir an, dass Ihnen das anträge – ich habe diese Anträge bei mir; ich kann sie Ih-
nicht leichtgefallen ist. Alle Achtung für diese Entschei- nen zeigen – im Bereich des Sanitätswesens gestellt ha-
dung! So sind wir zu einem guten Ergebnis gekommen. ben. Dies ist ein Fehler, der nicht zu akzeptieren ist;
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten denn gerade beim Sanitätswesen muss draufgepackt und
der CDU/CSU – Bartholomäus Kalb [CDU/ darf nicht gekürzt werden. Wir haben das gemacht.
CSU]: So viel Lob ertragen wir gar nicht!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Ich darf daran erinnern, dass unter Rot-Grün die Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Weizsäcker-Kommission eingesetzt wurde. Das war im NEN]: Ihr müsst euch jetzt entscheiden, ob ihr
Jahr 2000. Was damals aufgeschrieben wurde, ist sehr die Wehrpflicht aussetzt und anpasst oder
interessant. Ich will nur einen Satz zitieren. Schon im nicht!)
Jahr 2000 schrieb die Weizsäcker-Kommission: Ich sage noch einmal: zuerst die Menschen und dann das
In ihrer heutigen Struktur hat die Bundeswehr keine Material.
Zukunft. Ich denke besonders an unsere Bundeswehrangehöri-
Ich frage mich, warum Rot-Grün das damals nicht gen im Auslandseinsatz. Wir danken ihnen sehr. Sie sol-
entsprechend umgesetzt hat. len wissen, dass wir mit dem Bundeswehretat 2011 fi-
nanzielle Schwerpunkte gesetzt haben, um ihren Einsatz
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu unterstützen.
NEN]: Das fragen wir uns auch!)
Bei der Gelegenheit möchte ich ausdrücklich den Fa-
Natürlich habe ich eine Vermutung – das sage ich nicht milienangehörigen unserer Soldaten danken. Wir können
einmal in Richtung der Grünen, sondern in Richtung der manchmal nur erahnen, welche Ängste sie bedrücken.
Sozialdemokraten –: Sie sollen wissen, dass wir auch an sie denken und dass
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir – damit schließe ich alle Fraktionen außer der der
NEN]: Genau!) Linkspartei ein – alles für die Sicherheit unserer Solda-
ten tun. Ich halte es auch für wichtig, dass die Angehöri-
Sie haben die Augen verschlossen und nicht anerkannt, gen wissen, dass wir die Soldaten bei ihrem Auslands-
dass die Wehrpflicht bereits im Jahr 2000 ausgedient einsatz und anschließend, wenn sie zurückkommen,
8132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. h. c. Jürgen Koppelin


(A) nicht im Stich lassen. Das sage ich in aller Deutlichkeit. Zum Abschluss ein Wort an die Sozialdemokraten. (C)
Ich denke dabei vor allem an diejenigen, die krank an ih- Der Kollege Brinkmann, aber auch andere Kollegen von
rer Seele sind, wenn sie zurückkommen. Wir werden al- den Sozialdemokraten im Haushaltsausschuss haben
les für ihre Heilung tun. Denjenigen, die sich bisher sich bei den Beratungen zum Etat des Verteidigungsmi-
nicht offenbart haben, sage ich, dass sie sich nicht zu nisters durchaus positiv eingebracht. Das war gut und
verstecken brauchen. Wir sind bei ihnen. richtig; denn es gibt ja auch viele Gemeinsamkeiten.
Auch manche Idee von den Grünen war okay; das will
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD ich gar nicht abstreiten. Aber ich will an dieser Stelle be-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wusst die Sozialdemokraten ansprechen: Ich bitte Sie,
noch einmal darüber nachzudenken, ob Sie den Etat, wie
Herr Bundesminister, weil wir uns in dieser Frage ei-
der Kollege Brinkmann sagte, ablehnen. Es geht hier
nig sind, bitte ich Sie, dafür zu sorgen, dass bürokrati-
nicht um die Bundesregierung oder um die Koalition. Es
sche Hürden abgebaut werden, die Angehörige der Bun-
geht um unsere Bundeswehr, die eine Parlamentsarmee
deswehr überwinden müssen, wenn es um das Stellen
ist.
von Anträgen bei Versorgungsämtern geht. Es kann
nicht angehen, dass manchmal länger als 18 Monate auf (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
den Bewilligungsbescheid eines Versorgungsamtes ge- NEN]: Um das, was die Bundesregierung mit
wartet werden muss. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. der Bundeswehr macht!)
Hier ist ganz dringend Abhilfe geboten.
Ringen Sie sich zumindest zu einer Enthaltung durch,
(Beifall der Abg. Agnes Malczak [BÜND- am besten zu einem Ja! Das wäre für unsere Soldaten
NIS 90/DIE GRÜNEN]) und für unsere Bundeswehr insgesamt ein tolles Zei-
chen. Ich werbe ganz herzlich dafür.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach wie vor leidet
Herr Bundesminister, wir haben wie vor 20 Jahren
die Bundeswehr unter zu viel Bürokratie. Mit der Um-
große Reformen vor uns. Damals hat die Koalition aus
stellung auf die Freiwilligenarmee muss auch der Kampf
CDU/CSU und FDP die Zusammenlegung von NVA und
gegen die Bürokratie in der Bundeswehr aufgenommen
Bundeswehr, über die ich schon gesprochen habe, ge-
werden, Herr Minister. Das ist wichtig, um die Bundes-
schafft. Wir werden auch die kommende Reform schaf-
wehr attraktiver zu machen. Arbeitsabläufe müssen drin-
fen. Unser Ziel ist eine moderne Bundeswehr.
gend modernisiert werden.
Über den Etat wurde gut beraten; es ist ein guter Etat.
Ich sage noch einmal: zuerst die Menschen und dann Die Freien Demokraten werden dem Einzelplan 14 zu-
das Material. Das gilt auch für die Materialbeschaf- stimmen.
(B) fung. Nur das Material, das der Sicherheit unserer Sol- Herzlichen Dank. (D)
daten dient und das für die Erfüllung des Auftrages not-
wendig ist, sollte beschafft werden. Kollege Brinkmann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
hat sehr zu Recht darauf hingewiesen: Wenn es Anforde-
rungen der Soldaten im Auslandseinsatz in Bezug auf
Materialbeschaffung gibt, dann kann es nicht angehen, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dass die Entscheidung darüber zwei Jahre und länger auf Das Wort hat nun Alexander Bonde für die Fraktion
sich warten lässt. Ich teile die Einschätzung des Kolle- Bündnis 90/Die Grünen.
gen Brinkmann.
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will im Dienste
Alles muss auf den Prüfstand. Das gilt für das
der konstruktiven Stimmung, die gerade beschworen
Jahr 2011 besonders. Auf den Prüfstand gehören auch
wurde, sagen: Wir sind froh, dass endlich wieder Bewe-
die vielen Auslagerungen, die in der Zeit des Ministers
gung in der Reform der Bundeswehr ist. Wir sind froh,
Scharping erfolgt sind. Ich nenne beispielsweise Bun-
dass endlich Dynamik in der Frage aufgekommen ist:
deswehrfuhrpark und Bekleidungswesen. Es muss ge-
Passt die Struktur, passen die Ausgaben in diesem Be-
prüft werden, ob sich diese Entscheidungen für den Bun-
reich?
deshaushalt gerechnet haben. Wir als Freie Demokraten
– auch da sind wir uns einig, Herr Kollege Brinkmann – Die Ansage des Ministers ist: Die Reform kommt, die
haben uns deshalb dazu entschieden, dass die Logistik Wehrpflicht geht. Aber schon bei der Frage, wann, wird
der Bundeswehr nicht privatisiert wird, obwohl wir an- es spannend. Herr Minister, Sie sagen uns: 1. Juli, Ende
sonsten Befürworter von Privatisierungen sind. der Wehrpflicht. Jetzt höre ich, dass die Kanzlerin er-
klärt, das stimme nicht, es gebe keinen Termin. Ich
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten würde Sie bitten, uns nachher, wenn Sie nach vorn kom-
der CDU/CSU und der SPD) men, zu sagen, ab wann die Reform gilt. Das ist für den
Haushalt keine unerhebliche Frage.
Als Hauptberichterstatter für den Einzelplan 14 möchte
ich meinen Kollegen von der Opposition – Frau Lötzsch Es liegen mutige und auch tiefgreifende Reformvor-
von den Linken ist heute nicht anwesend – und meinen schläge auf dem Tisch. Auch wir bedanken uns aus-
Kollegen von der Koalition für die gute Zusammenarbeit drücklich bei Frank-Jürgen Weise und seiner Kommis-
danken. Ich glaube, wir sind trotz unterschiedlicher Auf- sion für vielversprechende Handlungsvorschläge. Ich
fassungen ein gutes Team. will mich auch dafür bedanken, dass mit dem Kommis-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8133
Alexander Bonde
(A) sionsbericht eine harte und schonungslose Analyse auf Reform bekommen, nicht einen reformähnlichen Zu- (C)
dem Tisch liegt, die aufzeigt, dass es zum Teil Dysfunk- stand.
tionen gibt. Es ist eine Analyse, die, was die Aufstellung
des Ministeriums angeht, massiv Fragezeichen bezüg- Die Beratungen zum Haushalt 2011 waren ein Stück
lich der Führungsfähigkeit setzt. Es ist gut, dass das alles unheimlich. Der Haushalt, der hier verabschiedet werden
einmal so deutlich auf dem Tisch liegt. Das unterstützt soll, bildet die gesamten Reformüberlegungen, die die
natürlich auch uns, die wir seit Jahren an dieser Frage ar- Koalition jetzt vorgetragen hat, die Sie überall vortragen,
beiten und Vorschläge machen. nicht ab. Hier wird ein Haushalt verabschiedet, der die
alte Bundeswehr, so wie sie vor der Reform organisiert
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ist, titelscharf weiter durchfinanzieren soll. Zum Teil
SES 90/DIE GRÜNEN) wird eine ganze Reihe von Ausgaben ermöglicht, von
Das ist nun kein Vorwurf an die handelnden Personen denen wir wissen, dass sie nach der Reform nicht mehr
in den Strukturen, sondern ausdrücklich eine Frage der gebraucht werden.
Strukturen und eine Aufforderung an die Politik, Hand- Deshalb frage ich mich schon, weshalb Sie unserem
lungsfähigkeit zu schaffen. Vorschlag, ein Moratorium im Beschaffungsbereich
zu machen, nicht gefolgt sind, weshalb Sie darauf beste-
Jetzt, wo die Reformvorschläge auf dem Tisch liegen,
hen, vor der Reform weiter in Beschaffung und militäri-
geht es natürlich an die Umsetzung. Die Kanzlerin hat
sche Strukturen zu investieren – und dies, obwohl Sie sa-
bei dem Treffen mit der Generalität in Bezug auf die
gen, dass Sie heute noch nicht wissen, wie die Struktur
Bundeswehrreform viel Spaß an der Veränderung ge-
der Bundeswehr nach der Reform sein wird. Das halten
wünscht. Ich habe da eine Menge Spaß. Aber wenn ich
wir für nicht überzeugend. Wir haben die Sorge, dass
die Debatte in der Koalition über die Frage verfolge, wie
hier Strukturen zementiert werden, bevor klar ist, worauf
viel mehr Soldaten es im Rahmen der Reform denn noch
es hinausläuft. Ich könnte jetzt noch viel sagen, zum Bei-
werden, Herr Minister, dann muss ich Ihnen sagen: Sie
spiel zum A400M und zu anderen Beschaffungsprojek-
werden auf dem Weg, der da vor Ihnen liegt, noch eine
ten.
Reihe von Spaßbremsen überzeugen müssen.
Herr Minister, Sie haben die konstruktive Mitarbeit
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
der Opposition, wenn es darum geht, den Reformprozess
SES 90/DIE GRÜNEN)
auf den Weg zu bringen. Aber wir warten noch auf den
Sie sind mit einer Mindeststärke von 163 500 militäri- Reformprozess; bisher gab es nur eine Ankündigung.
schen Angehörigen der Bundeswehr gestartet. Sie sind Der Haushalt, wie er hier vorliegt, ignoriert die Reform.
jetzt, nach dem Wasserstand der koalitionsinternen Bera- Insofern ist er dazu kein Beitrag.
(B) tungen, schon bei 20 000 mehr. Das heißt, wenn Sie die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D)
55 000 Wehrpflichtigen zum jetzigen Stand herausneh-
men, sind Sie bei einer Verkleinerung um 10 000 Kräfte.
Wir sind gespannt, ob Sie die zum Schluss noch halten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
können und wie mutig der Schritt wird. Das Wort hat nun Bundesminister Karl-Theodor zu
Guttenberg.
Vor der Reformanalyse waren Sie ja mutig in der An-
kündigung der Einsparvolumina und der Reformdivi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dende. Da ist aber unklar, was Sie eigentlich liefern kön-
nen. Schon bei Ihrer Mindeststärke von 163 500 war es Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
ja mehr als wackelig, ob Sie die Einsparungen laut Fi- desminister der Verteidigung:
nanzplan, der ja hier zur Debatte steht, der am Freitag Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
verabschiedet werden wird, mit Ihrer Bundeswehrreform Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße
tatsächlich erreichen können. auf der Tribüne Soldatinnen und Soldaten des Fachsani-
tätszentrums in Kiel. Ich begrüße sie gerne, und ich frage
Ich will in Erinnerung rufen: Sie haben zugesagt – im
mich ein wenig, was diese Soldatinnen und Soldaten
Kabinett mit beschlossen und dem Bundestag als Vor-
schlag vorgelegt –, dass Sie im Jahr 2014 durch Ihre vorhin dachten, als Sie, Frau Höger, hier Ihren Redebei-
trag geleistet haben.
Bundeswehrreform 4,334 Milliarden Euro an Einsparun-
gen im Einzelplan 14 erbracht haben werden. Mit dem, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
was jetzt auf dem Tisch liegt, fehlen Ihnen noch bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
3,5 Milliarden Euro. Hierzu wünsche ich eine klare An- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
sage von Ihnen; das können Sie von diesem Pult aus ma-
chen. Wir diskutieren hier ja über den Finanzplan; der Unabhängig vom grundsätzlichen Niveau dieser Rede,
soll mit dem Haushalt verabschiedet werden. Ich will auf das ich gar nicht eingehen möchte, ist es schon er-
von Ihnen wissen: Woher kommen diese 3,5 Milliarden staunlich, wie man sich die Freiheit nehmen kann, Men-
Euro? Ihr bisheriger Reformvorschlag deckt sie nicht ab. schen, die sich grundsätzlich bereit erklären, für den
Dienst an dieser Gesellschaft Leib und Leben zu riskie-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ren, so pauschal zu beleidigen. Das ist unglaublich.
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD
Wir alle haben ein Interesse daran, dass wir am Ende und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu-
– um in Ihrem Sprachgebrauch zu bleiben – eine richtige ruf der Abg. Inge Höger [DIE LINKE])
8134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg


(A) Man kann ja einen harten Streit über viele Punkte füh- sagt, wir müssen hier besser werden; wir müssen hier si- (C)
ren, über die wir zu Recht diskutieren und diskutieren cherlich noch einiges nachlegen.
müssen, aber ein Restmaß an Anstand im Umgang darf,
glaube ich, schon noch gepflegt werden. Deswegen war (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
mir dieser Hinweis wichtig. Ich habe in Dresden deutlich gemacht, was die Bun-
Herr Kollege Koppelin, zunächst einmal danke für die deswehr der Zukunft und in Zukunft leisten soll. Ich
Erwähnung: 20 Jahre Armee der Einheit. Ich glaube, habe auch noch einmal deutlich gemacht, welche nächs-
dass dieser Aspekt gar nicht stark genug hervorgehoben ten Schritte anstehen, welche Entscheidungen der Bun-
werden kann. Ich würde in diesen Kontext gerne noch desregierung anstehen. Die Frage wurde hier ja gestellt
– Herr Brinkmann, Sie haben auch noch einmal darauf
jene einbeziehen, die damals neben den großen, von der
Öffentlichkeit so beachteten und zu Recht gelobten Köp- hingewiesen –: Wann werden die nächsten Schritte als
fen, die das gewährleistet haben, dabei mitgeholfen haben Ausgangspunkt für die Umsetzung gemacht?
– im zivilen Bereich und auf allen Ebenen der Dienst- Das Bundeskabinett wird sich noch im Dezember die-
grade –, dass diese Armee der Einheit so entstehen ses Jahres mit diesem Thema beschäftigen. Mit den ers-
konnte. Hier ist ein großartiges, ein wunderbares Werk ten Grundfragen werden wir uns auch im Koalitionsaus-
gelungen. Ich glaube, wir können hier allgemein dafür schuss befassen, und zwar, wie Sie gefordert haben, so
danken. zeitnah wie möglich. Anderen geht es manchmal etwas
zu schnell, nicht wahr, Herr Arnold? Dazu werden Sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gleich wahrscheinlich noch etwas sagen. Dann werden
Von nahezu allen wurde auf die Verpflichtung hinge- wir sehen, ob das zusammenpasst: Dem einen geht es zu
wiesen, die wir gegenüber den Soldatinnen und Solda- schnell, der andere möchte, dass man sich so zeitnah wie
ten haben. Ein Aspekt, der eine zunehmend wichtige möglich damit beschäftigt. Ich glaube, wir müssen, um
Rolle spielt, ist: Wie können wir Grundvoraussetzungen zu einer möglichst sinnvollen Lösung zu kommen, ver-
schaffen, um nicht nur den sichtbaren körperlichen Ver- antwortungsvoll handeln und dabei das Momentum nut-
wundungen unserer Soldatinnen und Soldaten, die aus zen.
den Einsätzen heimkehren – solche sind ebenso wie Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
fallene leider immer wieder zu beklagen –, sondern auch
den seelischen Verwundungen, die zunehmend eine In diesem Jahr haben wir eine Debatte geführt – es
Rolle spielen, gerecht zu werden? Hier ist der Hinweis war gottlob eine öffentliche Diskussion, die mit und in
wichtig, dass wir in dieser Frage nicht nachlassen dürfen der Gesellschaft stattfand –, in der es um folgende Fra-
und können. gen ging: Was ist die Bundeswehr? Wie hat sie zukünftig
(B) auszusehen? Wie können wir die so wichtige Brücke (D)
Herr Koppelin, Sie haben erwähnt, dass man teilweise
zwischen Bundeswehr und Gesellschaft aufrechterhal-
durch einen unsäglichen Wust von Bürokratie muss, bis
ten?
einem überhaupt eine Anerkennung zuteil wird. Diesen
Punkt haben wir aufgegriffen. Wir haben jetzt – wohl Es ist hocherfreulich, dass der Ausfluss dieser De-
wissend, dass wir in der Strukturreform noch besser wer- batte über die Parteigrenzen hinweg spürbar wurde. Da-
den müssen – unter der Federführung von Staatssekretär durch dass ich in einer zugegebenermaßen sehr provo-
Koppelin eine Anlaufstelle geschaffen, die helfen soll. zierenden Rede in Hamburg in diesem Jahr einen Bezug
zum Budget hergestellt habe, wurde diese Debatte mit
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ausgelöst. Mittlerweile besteht nahezu Einigkeit darin,
NEN]: Das ging ja schnell! Jetzt ist es raus! –
dass wir künftig keine Bundeswehr nach Kassenlage ha-
Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: Das
ben wollen, sondern eine Bundeswehr, die sich über die
sollte noch keiner wissen! Jetzt ist es raus! Das
sicherheitspolitischen Herausforderungen und Erforder-
wäre eine Pressemeldung wert! – Zuruf von
nisse definiert. Deswegen ist das, was vorhin zitiert
der FDP: Noch nicht!)
wurde, völlig richtig. Die Grundfrage lautet: Was ist uns
– Ich meinte Staatssekretär Kossendey. Habe ich die Sicherheit in diesem Lande eigentlich wert? Darauf
Koppelin gesagt? kommt es an. Dem wollen wir gerecht werden.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das war ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk, Herr Was muss eine neu ausgerichtete Bundeswehr leisten
Koppelin. können? Sie muss ihren Auftrag vollumfänglich erfüllen
können. Sie muss einen verlässlichen Beitrag in der Eu-
(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Würde ropäischen Union, im Bündnis und in den Vereinten Na-
passen!) tionen leisten können. Sie muss ein leistungsfähiges In-
– Wenn wir die Federführung so aufteilen könnten, wäre strument deutscher Sicherheitsvorsorge sein, das
das natürlich gut; aber da müsste man auch die Finanzen attraktiv ist. Der Gesichtspunkt der Attraktivität ist von
beachten. Herr Kossendey macht das jedenfalls in Feder- großer Bedeutung. Hier müssen wir bedeutend besser
führung. werden, gerade vor dem Hintergrund der Entscheidun-
gen, die wir getroffen haben. Aber auch unabhängig da-
Ich glaube, es ist gut, dass eine Anlaufstelle geschaf- von muss die Bundeswehr im Wettbewerb mit anderen
fen wurde, die gerade jenen helfen soll. Aber, wie ge- Arbeitgebern in diesem Lande so attraktiv sein, dass sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8135
Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
(A) die besten Köpfe für sich gewinnt. Das muss der An- Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun- (C)
spruch sein. Dafür werden wir uns einsetzen. desminister der Verteidigung:
Kollege Bartels, bitte sehr. – Er darf heute ja nicht re-
Wenn ich sage, dass wir besser werden müssen, heißt den.
das, auch kreative Ansätze, die vielleicht nicht so viel
kosten, zu verfolgen; dass auch dies natürlich Geld kos- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU
ten wird, steht völlig außer Frage. In Dresden habe ich und der FDP)
bereits erste Vorschläge gemacht, die wir mit dem Haus-
halt, den wir im nächsten Jahr verabschieden werden, Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
unmittelbar realisieren können. Ich glaube, es ist ein Doch, jetzt. – Herr Minister, Sie haben die Ankündi-
wichtiges Signal, nicht nur an die Soldatinnen und Sol- gung der Reform damals mit dem Spardiktat der Kabi-
daten, sondern auch und gerade an die zivilen Mitarbei- nettsklausur begründet.
ter der Bundeswehr, dass es uns mit dieser Reform ernst
ist und wir diese Reform nicht als Selbstzweck betrach- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das hat er
ten, sondern sie durchführen, um den Soldaten und den nicht!)
zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr eine Perspektive zu Kollege Bonde hat es angesprochen: Das war mit einer
geben. Eine Perspektive haben sie nämlich verdient. konkreten Zahl verbunden; insgesamt 8,3 Milliarden
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Euro sollten in den nächsten Haushalten eingespart wer-
den. Das wird schwierig, wenn Sie, wie angekündigt, die
Neben einer Erhöhung der Attraktivität der Bundes- Attraktivität der Bundeswehr verbessern wollen, was an-
wehr muss ihr inneres Gefüge intakt und lebendig gehal- gesichts des Wegfalls von Grundwehrdienstleistenden
ten werden. Natürlich besteht an Tagen und Monaten und auch aus anderen Gründen unbedingt notwendig ist,
wie diesen Verunsicherung. Natürlich machen sich die wenn Sie das Ausscheiden von Zeitsoldaten befördern
Menschen Sorgen; das ist nachvollziehbar und verständ- wollen, damit Sie auf die genannten kleineren Zahlen
lich. Gerade deswegen ist es wichtig, dass wir diesen kommen, und wenn Sie den Umzug und Stationierungs-
Prozess stringent durchführen. Wir dürfen aber, wie von fragen mit Geld unterlegen wollen. Durch all das wird es
dem einen oder anderen befürchtet, nichts überstürzen. nicht billiger. Stehen Sie noch zu der Zahl von
Herr Arnold, es wird nichts überstürzt. Vielmehr werden 8,3 Milliarden Euro, oder ist das die Ankündigung von
die einzelnen Schritte verantwortungsvoll geplant und gestern, und morgen gibt es eine neue?
sinnvoll durchgeführt und die entsprechenden Gesetze
gemeinsam mit dem Parlament auf den Weg gebracht. Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
Wir müssen entsprechende Vorschläge vorlegen. Daraus desminister der Verteidigung:
(B) resultierende Verordnungen und die Novellierung beste- (D)
Herr Kollege Bartels, herzlichen Dank. – Es wird
hender Gesetze, etwa im Hinblick auf die Wehrform, schwierig, gerade vor dem Hintergrund, dass wir im
werden wir rasch erarbeiten. Einen ersten Vorschlag Zuge dieser Kabinettsentscheidung den Auftrag hatten
werden wir im Dezember dieses Jahres vorlegen. Die – wir haben den Auftrag auch ausgeführt –, zu zeigen,
entsprechenden Eckpunkte werden folgen. welche Folgen ein Abbau von bis zu 40 000 Berufs- und
In Dresden habe ich auch meine Vorstellungen bezüg- Zeitsoldaten hat und wie wir zu der Ihnen bekannten Mi-
lich des Gesamtumfangs der Streitkräfte zum Ausdruck nimalzahl von 163 500 kamen. Bei der Zahl 163 500, für
gebracht; zu diesem Thema gab es auch sehr viele Im- die man viel beschimpft und auch verkloppt wurde, wäre
pulse aus dem parlamentarischen Bereich. Ich habe eine ein Zahlenrahmen, den man mit etwa 150 000 Soldaten
Zielgröße von 180 000 bis 185 000 Soldatinnen und Sol- erreicht hätte, kaum mehr erreichbar gewesen wäre.
daten genannt. Diesen Umfang kann die Bundeswehr der An der Zahl von 180 000 bis 185 000 Soldaten, von
Zukunft haben, wenn eine substanzielle und nachhaltige der wir jetzt in der Diskussion ausgehen, sind die künfti-
finanzielle Unterfütterung gewährleistet ist. Das ist gen Zahlen zu messen. Darüber wird allerdings jetzt erst
wichtig und muss in diesem Zusammenhang immer wie- zu entscheiden sein. Das geschieht zunächst in der Ab-
der betont werden. stimmung zwischen den Ressorts und im Kabinett und
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- anschließend in den Verhandlungen mit dem Parlament.
NEN]: Geht das mit dem jetzigen Haushalts- Wenn man diese Zahl für sinnvoll hält, dann wird man
und Finanzplan oder nicht?) ihr gerecht werden müssen.

– Im Rahmen des Haushalts 2011 nehmen wir die ersten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Strukturänderungen vor, Herr Kollege Bonde. Das wei- Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
tere Vorgehen werden wir schrittweise an den entspre- frage, und zwar des Kollegen Bonde?
chenden Zahlen festmachen müssen.
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
Und was ist jetzt mit dem Finanzplan?) desminister der Verteidigung:
Nein, vielen Dank. Das können wir nachher noch be-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sprechen, Herr Kollege Bonde.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Volker Kauder [CDU/CSU]: Er hat schon ge-
Kollegen Bartels? sprochen, der Kollege Bonde!)
8136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg


(A) In Bezug auf die Zahl von 180 000 bzw. 185 000 ist (Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Na- (C)
Folgendes wichtig: Ein Mehr über diese 185 000 hinaus türlich! Die ganze Bundeswehr!
müssten wir schlicht an den Realitäten messen und auch
Ich habe aus einem Interview zitiert. Ich habe das getan,
daran, was mit Blick auf die demografische Entwicklung
in diesem Lande machbar, verantwortbar und leistbar ist. weil ich gerade nicht möchte, dass die Soldatinnen und
Das ist eine Einschätzung, die wir nach intensiver Befas- Soldaten in Afghanistan die Zivilbevölkerung als poten-
ziellen Feind betrachten.
sung in diesem Hause gewonnen haben. Hinsichtlich der
Minimalzahl, die für mich – das möchte ich noch einmal (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Jetzt
betonen – immer das absolute Minimum war, muss man machen Sie das Gleiche noch einmal!)
sagen: Wir wollen im Grunde genommen keine Bundes-
wehr, die sich auf Minimallinien begründet, sondern Ich habe das getan, weil wir als Linke nur eine Möglich-
eine Bundeswehr, die tatsächlich ein breites und kluges keit zur Gewährleistung des Schutzes unserer Soldatin-
Fähigkeitsspektrum vorhalten und den Ansprüchen, die nen und Soldaten sehen, nämlich wenn Sie die Soldatin-
ich vorhin genannt habe, gerecht werden kann. nen und Soldaten ganz schnell aus diesem Einsatz nach
Hause holen. Deshalb stimmen wir auch grundsätzlich
All das erfordert insbesondere einen erheblichen Per- gegen diese Auslandseinsätze, damit wir sie nicht in Ge-
sonalumbau und schließt auch Reduzierungen nicht aus fahr bringen.
– das wurde genannt –, und zwar sowohl bei den Zeit- (Beifall bei der LINKEN – Elke Hoff [FDP]:
und Berufssoldaten als auch bei den Zivilbediensteten, Setzen, durchgefallen!)
bei einer bestimmten zu erreichenden Gesamtgröße. Das
kann im Grunde nur bei einer ausgewogenen Alters- und
Dienstgradstruktur gelingen. Nur so lässt sich auch die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Einsatzbereitschaft aufrechterhalten. Um beide Zielset- Kollege Ströbele.
zungen auf sozialverträgliche Weise zu gewährleisten,
untersuchen wir neue gesetzliche, dienstrechtliche und Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
auch tarifrechtliche Instrumente. Dazu werde ich dem- GRÜNEN):
nächst Vorschläge einbringen. Herr Minister, ich habe mich zu Wort gemeldet, weil
ich zu zwei Punkten eine Einlassung von Ihnen ver-
Zur Attraktivität habe ich mich bereits geäußert. misse.
Wichtig erscheint mir noch Folgendes: Veränderungen
müssen dort beginnen, wo wir es früher zum Teil ver- Erster Punkt. Ich gehöre diesem Parlament ja schon
säumt haben. Es kann nicht sein, dass wir die Verände- länger an – schon mehrere Legislaturperioden – und
rungen nur dort ansetzen, wo es möglicherweise am komme mir manchmal ein bisschen wie in einer Geister-
(B) leichtesten erscheint; vielmehr müssen wir im Ministe- debatte vor. Deshalb erwarte ich von Ihnen, dass Sie ein- (D)
rium, an der Spitze, oben beginnen, die Veränderungen mal eine Erklärung dazu abgeben und sich auch bedan-
angemessen zu gestalten, und dürfen uns nicht mit dem kend dazu äußern, dass die grüne Bundestagsfraktion die
Ende der Stufenleiter begnügen, wo dann möglicher- Abschaffung der Wehrpflicht in den letzten Legislatur-
weise das Aussitzen als das Richtige erscheint. Wenn wir perioden immer wieder gefordert hat,
an der Spitze, im Ministerium beginnen, können wir da-
(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Aber nicht
mit ein Zeichen setzen, dass es uns mit dieser Reform
durchgesetzt!)
ernst ist.
während von allen möglichen Mitgliedern dieses Hauses
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – gerade aus der Union und auch von Ihnen selbst – hef-
Ich bin dankbar für das Niveau der Debatte. Ich bin tigste polemische Kritik daran geäußert worden ist. Jetzt
dankbar für vieles, was an Impulsen eingebracht worden tun Sie so, als sei das schon immer das Gelbe vom Ei ge-
ist. Wichtig ist, dass wir das, was wir jetzt gestalten, an wesen,
den Soldatinnen und Soldaten und an den zivilen Mitar- (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das Blau-
beitern ausrichten, denen noch einmal mein herzlicher Gelbe!)
Dank gilt. Kritik an den Strukturen ist nicht Kritik an der
Leistungsbereitschaft und an der Leistungsfähigkeit der ohne einmal einen Augenblick zu verharren und zu sa-
Soldaten und der Mitarbeiter dieser Bundeswehr. Diesen gen, warum Sie das damals ganz anders gesehen und den
Dank und auch Applaus haben sie verdient. Grünen Unrecht getan haben.

Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Den zweiten Punkt mahne ich immer wieder an. Sie
haben auch in dieser Ihrer grundsätzlichen Rede zum
Haushalt – der Verteidigungsminister spricht zum Haus-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: halt – mit keinem Satz etwas dazu gesagt – in der Öffent-
Das Wort zu Kurzinterventionen haben jetzt nachei- lichkeit tun Sie das sonst durchaus –, was nach Ihrer
nander Kollegin Höger und Kollege Ströbele. Auffassung und nach dem Grundgesetz der Bundesrepu-
blik Deutschland in Zukunft die Aufgaben der Bundes-
Inge Höger (DIE LINKE): wehr überall auf der Welt sind. Gehört dazu beispiels-
weise die Sicherung der Handelswege?
Herr Minister zu Guttenberg, ich verwahre mich da-
gegen, ich hätte alle Soldaten pauschal beleidigt. (Elke Hoff [FDP]: Passiert doch schon!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8137
Hans-Christian Ströbele
(A) Gehört dazu beispielsweise die Sicherung der Rohstoff- ben, zeigt ein bisschen das Problem auf. Sie machen sich (C)
zufuhr? Gehört dazu beispielsweise die Sicherung von nicht die Mühe, Politik wirklich zu erklären. Sie sorgen
Arbeitsplätzen in Deutschland, wie Sie das als Verteidi- für eine schnelle Überschrift, statt den Menschen zu sa-
gungsminister bei der Tagung, über die Sie berichtet ha- gen, was gemeint ist. Das fehlt.
ben, angedeutet haben?
(Zuruf von der FDP: Zuhören!)
Bitte sagen Sie mir doch, zu welcher Tagung ich hin-
gehen und welche Zeitung ich lesen muss, damit ich da- Sie haben Herrn Ströbele weder heute noch in der letzten
rüber informiert werde, was der Bundesverteidigungsmi- Debatte präzise geantwortet. Ich möchte das einfach ein-
nister zu diesen Fragen zu sagen hat. mal festhalten.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich glaube, dass Sie mit Ihren auch heute wieder
SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. h. c. Jürgen wohlgesetzten schönen Worten weit von der augenblick-
Koppelin [FDP]: Einfach ins Plenum kom- lichen Wirklichkeit der Bundeswehr entfernt sind. Die
men!) Schere geht sehr weit auseinander. Wer heute die Truppe
besucht und den Bericht des Wehrbeauftragten liest, in
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dem auf 55 Seiten gravierende Mängel aufgezeigt sind,
Herr Minister, Sie haben die Gelegenheit zur Ant- der muss doch wirklich feststellen, dass wir aktuell sehr
wort. ernste Probleme haben.
Es gibt Soldaten, die im Einsatz auf Material warten,
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun- und es werden Übungen abgesagt, weil das Geld nicht
desminister der Verteidigung: zur Verfügung gestellt wird und ein Omnibus nicht be-
Herr Kollege Ströbele, ich bedanke mich dafür, dass zahlt werden kann. Überall, wo wir hinkommen, gibt es
Sie den Begriff „Geisterdebatte“ mit Leben füllen. ernsthafte Sorgen.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Herr Minister, es sind Ihre Probleme. Es ist Ihre Ver-
der FDP) antwortung. Das haben wir Ihnen schon zu Beginn des
Ich darf nur noch einmal darauf hinweisen, dass es Jahres gesagt, als der jetzige Haushalt verabschiedet
sich lohnt, beispielsweise das Papier des Generalinspek- wurde. Die fehlenden 500 Millionen Euro schlagen jetzt
teurs zu lesen, auf das ich oft Bezug genommen habe. im Truppenalltag durch. Herr Koppelin, es ist schon in-
Darin wird genau dieses Spektrum offengelegt. teressant, wie weihevoll Sie sagen: erst der Mensch und
dann das Material. – Sie waren Auslöser dieses ernsthaf-
Sie sagen, Sie lesen und bekommen in der Öffentlich- ten Problems. Sie haben es zu verantworten, und der (D)
(B)
keit mit, was ich tatsächlich damit gemeint habe. Gleich- Minister hat es akzeptiert.
zeitig fragen Sie mich, in welche Veranstaltungen Sie
kommen und welche Zeitung Sie lesen müssen, um zu (Beifall bei der SPD)
erfahren, was ich gemeint habe. Das ist zumindest ein
kleiner Widerspruch. Im nächsten Jahr wird es nicht besser. Der Kollege
Brinkmann hat die ernste Situation im Haushalt des Ein-
Ich habe Ihnen nach Ihrer letzten Kurzintervention zelplans 14 eindrucksvoll dargestellt. Herr Koppelin hat
auf diese Frage geantwortet. sich bei ihm für die gute Zusammenarbeit bedankt. Dies
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE möchte auch ich tun, weil ich gesehen habe, dass sozial-
GRÜNEN]: Nein, Sie haben gesagt, Sie haben demokratische Haushälter verantwortungsvoll mit den
es schon gemacht!) Menschen bei der Bundeswehr umgehen. Herr Koppelin,
noch besser wäre es gewesen, wenn Sie, statt meinem
Ich hoffe, dass Ihr Gedächtnis zumindest für diese drei Kollegen zu danken, seinen Vorschlägen gefolgt wären.
Wochen ausreicht. Die waren nämlich immer seriös gegenfinanziert.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der SPD)
Meine Antwort war relativ ausführlich, Herr Ströbele, Die entscheidende Frage ist aber: Wie geht es lang-
und auf die will ich noch einmal Bezug nehmen. fristig mit der Bundeswehr weiter? Jeder Fachpolitiker
Herzlichen Dank. wusste, dass das Jahr 2010 einen weiteren Schritt bedeu-
ten muss, was Transformation und neue Antworten ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) langt. Angesichts der Entwicklung dieser Debatte in den
letzten Monaten könnten Sozialdemokraten eigentlich
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zufrieden sein, weil Sie, Herr Minister, und die Koalition
Das Wort hat nun Kollege Rainer Arnold für die SPD- sich in vielen wichtigen Punkten exakt auf das zubewegt
Fraktion. haben, was sozialdemokratische Fachpolitiker seit meh-
(Beifall bei der SPD) reren Jahren formuliert haben. Wir könnten zufrieden
sein
Rainer Arnold (SPD): (Volker Kauder [CDU/CSU]: Seien Sie es
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! doch mal! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Da
Herr Minister, die Antwort, die Sie gerade gegeben ha- klatscht noch nicht mal die SPD!)
8138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Rainer Arnold
(A) – langsam; die wissen ja, dass noch etwas kommt, Herr Ähnliches gilt für den Umfang der Streitkräfte. Auch (C)
Kollege –, wenn sich der Herr Minister nicht allzu sehr hier bewegen Sie sich auf die Vorschläge der Sozialde-
in der Rolle des Durchmarschierers gefallen würde nach mokraten zu. Die Zahl von 185 000 Soldaten liegt nahe
dem Motto: schnell, stramm und dann am Ende leider bei dem, was wir für notwendig halten. Wir sollten aber
auch schlecht und falsch. nicht vergessen: Begonnen hat es in der Tat anders. Sie
sagen manchmal, der Generalinspekteur habe diesen
Sie haben von einem Zwiespalt in Bezug auf das
Vorschlag gemacht. Nein, Sie haben ihm den Auftrag
Tempo gesprochen: Wie schnell soll es gehen? Ist es zu
dazu erteilt. Das ganze Kabinett hat gesagt, er solle
hektisch oder zu langsam? – Zunächst sollte man nach-
8,3 Milliarden Euro einsparen und 40 000 Stellen bei
denken, sich mit den Ressorts und dem Parlament ab-
den Zeit- und Berufssoldaten streichen.
stimmen und konzeptionelle Vorarbeiten im Haus leis-
ten; Nun haben Sie eine Korrektur vorgenommen, obwohl
es ursprünglich durchaus ein Modell war, das Sie mit ei-
(Zuruf von der FDP: Das hat er doch ge-
ner Präferenz versehen hatten. Ich finde es spannend,
macht!)
dass der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt
dann kann man ankündigen und umsetzen. Sie, Herr über die Streitkräfte keinen eigenständigen seriösen Vor-
Minister, kündigen zuerst an. Ihr Stil, vorzupreschen und schlag zum Umfang macht, sondern ihm durch Partei-
dann hektisch wichtige Details nachzubessern und im tage und das Parlament gesagt werden muss, wie verant-
Nachhinein Gesetzesarbeit zu leisten, führt nun einmal wortungsvoll mit der Bundeswehr zu verfahren ist. Dies
zu Fehlern. ist doch nicht das Vorgehen eines Ministers, der es mit
der Sicherheitspolitik ernst meint.
Einen haben wir doch alle in diesem Sommer erlebt.
Die kurzfristige Einführung der W 6, der sechsmonati- (Beifall bei der SPD)
gen Grundwehrzeit, war ein gravierender Fehler mit fa-
Die sicherheitspolitische Begründung fehlt nach wie
talen Folgen für die Bundeswehr und die jungen Men-
vor, vor allen Dingen in einem Bereich: Es wird nicht
schen.
genügend darüber gesprochen und reflektiert, welche
(Beifall bei der SPD) Chancen zurzeit in der europäischen Debatte liegen. Es
gibt ein offenes Zeitfenster. Alle Europäer müssen spa-
Wenn Sie jetzt über die Aussetzung der Wehrpflicht
ren. Wer, wenn nicht das große Land Deutschland mit
reden, ist das auch so ein Fall. Sozialdemokraten haben
seinen Vorstellungen, soll die europäische Idee einer
das so ähnlich schon vor drei Jahren gefordert. Aber Sie
stärkeren Verzahnung der Streitkräfte voranbringen?
verspielen die Chance, einen gesellschaftlichen Konsens
Weder der Außenminister noch der Verteidigungsminis-
hinzubekommen, indem Sie eine Insellösung für das
(B) ter bringen entsprechende Impulse in die europäische (D)
Verteidigungsministerium anstreben, das gesellschaft-
Politik ein. Das ist schade. Damit wird eine große
liche Projekt der Jugendfreiwilligkeit nicht stützen und
Chance verspielt.
am Ende möglicherweise nur einen preiswerten Zeitsol-
daten suchen. Das entspricht nicht unseren Vorstellun- (Beifall bei der SPD)
gen.
Wenn wir gerade über europäische Fähigkeiten reden,
Ich habe die große Sorge, dass auch auf der anderen Herr Minister: Wir werden gegen alles andiskutieren,
Seite, beim Zivildienst, nicht genügend an Vernetzung was bei der zukünftigen Reform die europäischen Fähig-
gedacht wird und dass etwas Neues, Eigenständiges ent- keiten beschneidet. Dazu gehört, dass das Heer auch im
steht, statt dass eine Verknüpfung mit den guten vorhan- Sinn eines Großverbandes Bündnisverteidigung leisten
denen Jugendfreiwilligendiensten geschaffen wird. So muss, damit die osteuropäischen Staaten Vertrauen in die
machen Sie die richtige und gute Idee am Ende kaputt. europäische Sicherheitspolitik finden. Dazu gehört eine
Marine, die eben nicht auf Kante genäht werden darf,
Lassen Sie mich auf den Zeitpunkt zu sprechen kom-
wie es gelegentlich zu hören ist. Dazu gehört, dass die
men. Sie haben es angesprochen. Die Träger des Zivil-
Zahl der Transporthubschrauber eben nicht so stark re-
dienstes, die Soldaten in der Truppe und viele andere,
duziert wird, wie es derzeit manche von Ihnen planen.
auch im Parlament, wüssten nun wirklich schon gern,
Dazu gehört, dass das Operation Headquarter bzw. das
wann es losgehen soll. Es hat gravierende Folgen, wenn
Kommando Operative Führung auch europaweit zur
die jungen Menschen ab dem 1. Juli nächsten Jahres
Verfügung stehen kann und vieles andere mehr.
nicht mehr zur Verfügung stehen. Schließlich haben sie
in der Vergangenheit etwas geleistet. Das Datum 1. Juli Deshalb fordere ich Sie auf, Herr Minister: Stoppen
wurde immer wieder genannt. Damit sind Sie wieder Sie diese Planungen! Stoppen Sie den gesamten Prozess,
vorgeprescht. Die Kanzlerin hat Bedenken in Bezug auf und machen Sie endlich verlässliche Vorgaben, die den
Studienplätze, auf anständige Vorbereitung und Alterna- Planern auf der militärischen Seite eine solide Basis für
tiven geäußert, die zu Recht bestehen. die zukünftige Gestaltung der Bundeswehr bieten.
Herr Minister, Sie sollten sich wirklich die Zeit neh- Weiter liegen Vorschläge der Weise-Kommission
men, solche Fragen abzuklären, bevor Sie an die Öffent- vor. Sie enthalten viel Sinnvolles, was die Straffung des
lichkeit gehen. Sonst werden die Reformen schlecht, und Ministeriums betrifft. Manches darin ist aber auch
die gesellschaftliche Chance, Sozialdemokraten im falsch, vor allen Dingen das grundlegende ökonomi-
Grundkonsens hinsichtlich der Sicherheitspolitik zu hal- sierte Denken. Streitkräfte sind etwas anderes als ein
ten, zerstören Sie am Ende auch. Wirtschaftsbetrieb. Sie brauchen Vorsorge, Redundan-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8139
Rainer Arnold
(A) zen und Reserven. Sie haben vorhin die Sanitätssoldaten (Beifall bei der SPD) (C)
angesprochen. Sie brauchen keine Vorschläge, die nur
Scheinlösungen sind. Wir bekommen nicht dadurch Die Bundeswehr braucht einen Minister, der sich für
mehr Ärzte, dass wir den Sanitätsdienst der Streitkräfte- ihre Belange einsetzt, sich um sie kümmert. Am Ende,
basis zuordnen. All diese Punkte sind im Vorschlag der Herr Minister, wird deutsche Sicherheitspolitik nur ge-
Weise-Kommission nicht sehr gut geregelt. lingen, wenn der zuständige Ressortchef auch streitbar
für eine angemessene finanzielle Ausstattung eintritt und
Herr Minister, unser Wunsch lautet: Sortieren Sie sehr etwas erreicht. Herr Minister, am Ende wird die Reform
sorgfältig, und teilen Sie der Truppe mit, dass das Kon- nur gelingen, wenn sie finanziell unterlegt ist. Ihr Erfolg
zept nicht vorsieht, alles zu verändern. Sie sollten der oder auch Misserfolg wird auch daran gemessen, was
Truppe auch einmal sagen: Vieles, was ihr leistet, leistet Sie diesbezüglich in den nächsten Jahren erreichen. Un-
ihr gut. Das gilt es zu bewahren und weiterzuentwickeln. sere Unterstützung, Positives für die Bundeswehr zu be-
wegen, werden Sie haben. Dort, wo dies nicht gelingt
(Beifall bei der SPD)
und wo es nicht seriös untermauert ist, werden wir es so
Dann erst reden wir darüber, was verändert werden kritisieren, wie es notwendig ist.
muss.
Vielen Dank.
Letzten Endes bleibt es dabei: Der Umbau der Bun-
deswehr ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite (Beifall bei der SPD)
ist die Finanzierung. Sie sind der Frage vorhin ausgewi-
chen. Die Kanzlerin hat in Dresden auf die Frage von Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Journalisten gesagt: Es bleibt bei der finanziellen Vor- Das Wort hat nun die Kollegin Elke Hoff für die FDP-
gabe. Das ist eindeutig. Sie, Herr Minister, haben im Fraktion.
September dieses Jahres in Ihrer Hauspostille gesagt: Es
gibt keine Armee nach Kassenlage. Im Mai dieses Jahres (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
haben Sie sich selbst dafür gelobt, dass man bei den der CDU/CSU)
Streitkräften endlich nach der Kassenlage vorgeht.
Wissen Sie, was das Schlimmste ist? Im Augenblick Elke Hoff (FDP):
machen Sie Reformen ohne Kassenlage, freischwebend Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
ohne Bezug zum aktuellen Haushalt, ohne Bezug auch nen und Kollegen! Die Einschätzung, die Herr Kollege
zur mittelfristigen Finanzplanung. Den Soldaten der Arnold hier gerade in bester Oppositionsmanier vorge-
Streitkräfte und den Zivilbeschäftigten haben wir in den tragen hat, kann ich überhaupt nicht teilen. Ganz im Ge-
letzten acht Jahren bei Reformen schon sehr viel abver- genteil, Herr Arnold, ich finde, dass der Minister genau
(B)
langt. Vertrauen in weitere Reformschritte werden die das gemacht hat, was wir als Parlament von ihm erwar- (D)
Soldaten nur behalten, wenn sie sehen, dass die Reform ten können. Er hat uns gesagt, was angesichts der demo-
materiell unterfüttert ist. grafischen Verhältnisse in Zukunft auf die Bundeswehr
zukommt, was möglich ist und was nicht möglich ist. Er
Angesichts der mangelnden finanziellen Untermaue- hat uns auch, wie es sich für einen verantwortungsvollen
rung der Reform empfinde ich es als hämisch, wenn Minister gehört, dargelegt, was in diesem Zusammen-
nicht gar zynisch, wenn Frau Merkel vorgestern bei der hang machbar ist.
Kommandeurstagung den Soldaten entgegenruft, sie
wünsche ihnen viel Spaß bei der weiteren Veränderung. Ich darf Sie an dieser Stelle daran erinnern, dass die
So darf man mit den Menschen bei der Bundeswehr Väter und Mütter unserer Verfassung uns die Verantwor-
nicht umgehen. tung übertragen haben. In Art. 87 a des Grundgesetzes
steht eindeutig, dass für Umfang und Struktur der Bun-
(Beifall bei der SPD) deswehr der Haushalt entscheidend ist. Das heißt, dass
Die größte Herausforderung bleibt aber die Attrakti- das Parlament darüber entscheidet. Ich finde, das ist ein
vität des Dienstes. Auch hier gilt: Wenn wir das ernst Punkt, den man an dieser Stelle sehr deutlich zum Aus-
nehmen, dann reicht es nicht, wenn man es in Sonntags- druck bringen muss.
reden erwähnt. Wir sind sehr dafür, dass das Parlament (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
in Zukunft mit einem Unterausschuss die Attraktivitäts-
steigerungen begleitet, die Regierung auch drängt. Sie haben eben für die Sozialdemokratische Partei re-
klamiert, dass sich der Minister, was den Umfang an-
Herr Minister, die Menschen bei der Bundeswehr geht, auf die Vorstellungen Ihrer Partei zubewegt. Ich
leisten verantwortungsvoll ihren ernsten, manchmal darf daran erinnern, dass sowohl die CDU/CSU-Fraktion
auch gefährlichen Dienst. Deshalb verdienen sie einen als auch meine Fraktion, die FDP, einen Umfang festle-
Dienstherrn, der nicht ständig über Wahrheit und Klar- gen möchten, der in Zukunft den Anforderungen an die
heit redet, sondern danach handelt und jetzt sagt, was Streitkräfte vor dem Hintergrund des demografisch
kommen wird. Sie verdienen allerdings auch mehr als Möglichen gerecht wird. Ich glaube, das ist ein Punkt,
wohlfeile Versprechungen. Es kann nicht sein, Herr den wir heute viel zu wenig beleuchtet haben. Was nützt
Minister, dass ihnen im selben Atemzug das verspro- es, wenn wir mit Zahlen operieren, die wir nachher nicht
chene Weihnachtsgeld wieder gestrichen wird. Das ist unterlegen können?
Teil der Politik dieser Koalition. Dies zerstört Vertrauen
bei den Menschen, die für uns alle diesen schweren (Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Dienst leisten. [FDP])
8140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Elke Hoff
(A) Die Truppe hat Klarheit verdient, und in dieser Klar- ministeriums der Verteidigung, den Soldatinnen und Sol- (C)
heit müssen wir ihr sagen, dass sich Fähigkeiten zukünf- daten sowie dem Minister sehr herzlich dafür danken,
tig daran orientieren müssen, was machbar ist, aber auch dass endlich begonnen wird, den Reformstau, der das Er-
daran, was sicherheitspolitisch verantwortbar ist. Auch gebnis von vielen Jahrzehnten Sicherheits- und Verteidi-
diesbezüglich hat diese Bundesregierung ganz deutlich gungspolitik ist, zu beseitigen. Am Ende der Reise wer-
gesagt, wie sie sich die Zukunft der Bundeswehr vor- den wir genauso wie heute stolz auf unsere Streitkräfte
stellt. sein.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vielen Dank.
der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reform steht
aus verschiedenen Gründen an. Ich bin sehr froh, dass Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wir – durch eine sehr gute Debatte übrigens – davon
Omid Nouripour hat das Wort für Bündnis 90/Die
weggekommen sind, Sicherheitspolitik nach Kassenlage
Grünen.
zu machen. Das haben auch Sie gefordert. Dann müssen
wir jetzt aber auch dazu stehen und dürfen es dem Minis-
ter nicht vorwerfen, wenn er Einsparziele, die die Bun- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
desregierung uns als Vorschlag unterbreitet, letztendlich Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als die
nicht erfüllt. Es ist und bleibt unsere Verantwortung, da- Bundeskanzlerin am Montag davon sprach, dass die
rüber zu entscheiden, in welcher Größenordnung die Truppe endlich Spaß an der Veränderung empfinden
Streitkräfte ihre Aufgabe wahrnehmen. müsse, musste ich an Helmut Kohl denken. Helmut Kohl
hat 1993 ein Unwort, ein Wortungetüm geprägt, nämlich
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das vom kollektiven Freizeitpark. Ich glaube, dass
der CDU/CSU – Alexander Bonde [BÜND- diese Auffassung von unserer Bundeswehr das falsche
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gilt jetzt der Finanz- Verständnis ist. Ich finde, dass man mit unserer Bundes-
plan oder nicht?) wehr so nicht umgehen kann. Im Übrigen bin ich der
Bei einer Reform sozusagen bei laufendem Motor – da Meinung, dass man das Unwort „kollektiver Freizeit-
sitzen wir alle in einem Boot, weil wir gemeinsam die park“ assoziiert, wenn man den Bericht der Weise-Kom-
Streitkräfte in die Auslandseinsätze geschickt haben – mission liest und sich die dort beschriebenen Zustände
müssen wir besonders Rücksicht darauf nehmen, die An- im Verteidigungsministerium vor Augen führt. Natürlich
sprüche zu erfüllen. brauchen wir Veränderungen; das steht außer Frage. Ent-
scheidend ist aber die Herangehensweise.
(B) Das, was heute insbesondere im Bereich der Fürsorge (D)
für unsere verwundeten Soldaten dargestellt wurde, Herr Minister, Sie haben in Dresden mit großem Pa-
wurde gemeinsam von der Bundesregierung und den thos Veränderungen eingefordert. Sie wollen „die selbst
Oppositionsfraktionen mit Ausnahme der Linken auf auferlegten bürokratischen Fesseln“ sprengen. Sie wol-
den Weg gebracht. Deswegen verdienen diese Bundesre- len sich „auf die gemeinsame Führungsphilosophie be-
gierung und insbesondere der Minister unsere Unterstüt- sinnen“. Sie sind nicht angetreten, „um auf halber Weg-
zung. strecke stehen zu bleiben“. Sie fordern eine „Kultur der
Transparenz, des Vertrauens und der Offenheit“. Abge-
Es gibt eine saubere Definition der zukünftigen Auf- sehen von dem Pathos und der Ergriffenheit, die diese
gaben der Bundeswehr. Es ist klar und deutlich, dass Worte zum Ausdruck bringen, frage ich mich, was da-
Krisenverhütung und Krisenprävention nach wie vor nach kommt. Ich sehe erst einmal nicht so viel. Die Rei-
die vorrangige Aufgabe der Bundeswehr sind. Sie muss henfolge Ihrer Strukturveränderungen macht keinen
auch in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe wahr- Sinn. Zuerst müsste über die Aufgaben geredet und eine
zunehmen. Natürlich gibt es Defizite, die zu beseitigen Aufgabenkritik vorgenommen werden. Dann müsste
sind. Aber eine solche Geschwindigkeit, mit der Minis- über die Strukturen geredet werden. Daraus ergibt sich
ter zu Guttenberg gemeinsam mit uns in diesem Jahr an im Übrigen von selbst die Gesamtgröße. Schließlich
die Aufgaben herangegangen ist, habe ich in den letzten kann man über die Standorte reden. Aber Sie machen
vier Jahren, als wir in der Opposition waren, nicht erlebt. das anders. Sie reden zuerst über die Wehrpflicht und
Dabei war die damalige Lage ähnlich schwierig. Ich nehmen einen ganz tiefen Einschnitt mit W 6 vor. Dann
bitte daher darum, die Kirche im Dorf zu lassen. Ich soll nach Ihrer Vorstellung irgendwann einmal – kein
glaube, dass wir Ende bzw. Mitte nächsten Jahres unse- Mensch weiß, wann genau – die Wehrpflicht ausgesetzt
ren Soldatinnen und Soldaten Klarheit darüber verschaf- werden. Dann reden Sie über die Gesamtgröße und die
fen können, wie es weitergeht. Das war eine Forderung. Standorte. Am Ende des gesamten Prozesses soll noch
Diese werden wir erfüllen. Ich bin sehr froh, dass der ein Weißbuch kommen. Das alles macht überhaupt kei-
Kollege von der SPD – mir hat sehr gut gefallen, was Sie nen Sinn.
heute vorgetragen haben – deutlich gemacht hat, dass
auch die Sozialdemokraten bereit sind, die notwendige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Verantwortung in diesem wichtigen Prozess zu überneh-
Sie haben die gesamte Reform auf den Kopf gestellt
men.
und haben sich vor allem um eine Aufgabenkritik he-
Ich möchte an dieser Stelle im Namen meiner Frak- rumgedrückt. Sie haben sehr viele große Überschriften
tion den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundes- produziert. Manche waren sehr fragwürdig. Sie haben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8141
Omid Nouripour
(A) beispielsweise im Dezember letzten Jahres davon ge- in der EU gibt, abkoppeln und die Bundeswehr komplett (C)
sprochen, Auslandseinsätze müssten eine Selbstver- neu aufstellen, stellt sich diese Frage am Ende nicht
ständlichkeit für unsere Gesellschaft werden. Lassen Sie mehr. Das Weißbuch, das Sie uns letztlich vorlegen
sich von mir, von jemandem, der seine Kindheit in ei- werden, ist ausschließlich eine Abbildung der Fakten,
nem Kriegsgebiet verbracht hat, sagen: Militärische Ein- die Sie vorher geschaffen haben, und hat deshalb – das
sätze dürfen und sind zu keiner Zeit und in keinem Land kann ich schon jetzt sagen – seinen Namen nicht mehr
der Welt eine Selbstverständlichkeit. Das sollten sie nie- verdient.
mals sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb vergeht mir der Spaß. Der Kollege Arnold
Das Problem ist, dass Sie das Kleingedruckte außer hat völlig zu Recht gesagt, dass der Spaß aufhört, wenn
Acht lassen. Kollegin Hoff hat gerade davon gespro- ein Versprechen gebrochen wird. So wird zum Beispiel
chen. Wir müssen doch jetzt alle über diesen Etat befin- das Weihnachtsgeld gestrichen, obwohl es versprochen
den. In diesem Etat finde ich die Reform nicht wieder. worden ist. Stattdessen wird das Geld für den A400M
Gerade auf den letzten Drücker wurde W 6 erwähnt. Ich verpulvert.
finde aber keinen Ansatz für eine Reform der Bundes- (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Falsch!)
wehr. Herr Minister, Sie haben in Dresden einige Verän-
derungen genannt, die zum 1. Januar in Kraft treten sol- Das muss man leider so sagen. Das ist Ihr A400M; denn
len. Alle anderen Bereiche, die zu etatisieren sind und Sie hätten im März dieses Jahres die Möglichkeit gehabt,
die man finanzieren muss, finde ich in diesem Haushalt aus dem Projekt auszusteigen. Ich erkenne keinen Frei-
nicht. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie Sie das zeitpark, sondern ich erkenne viele bunte Luftballons.
finanzieren wollen. Ich weiß nicht, wie Sie das unter Be- Vor allen Dingen liegt hier ein Haushalt vor, der mit
rücksichtigung der Grundsätze der Haushaltswahrheit Wahrheit und Klarheit nichts zu tun hat. Darüber täuscht
und Haushaltsklarheit in Zahlen gießen wollen. Als ich auch Ihre Rhetorik nicht hinweg. Deshalb können wir
im Ausschuss nachgefragt habe, war die Antwort sinn- gar nicht anders, als ihn abzulehnen.
gemäß: Unmöglich ist es nicht, dies mit diesem Einzel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
plan hinzubekommen. – Eine solche Antwort trägt nicht Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Das ist aber
unbedingt zu einer Kultur des Vertrauens bei. Es wäre wirklich traurig!)
transparenter, wenn Sie sagen würden, dass Sie eine
große Reform machen wollen. Das aber tun Sie nicht.
Sie fangen im Übrigen erst im Jahr 2012 an; denn die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Robert Hochbaum hat jetzt das Wort für die CDU/
(B) Entscheidungen, die zentral für die Strukturreform der (D)
Bundeswehr sind, werden frühestens zwei bis drei Mo- CSU-Fraktion.
nate gefällt, nachdem der Haushalt vom Hohen Haus be- (Beifall bei der CDU/CSU)
schlossen worden ist.
Sie legen eine Zahlenlotterie vor, die nicht nur ich, Robert Hochbaum (CDU/CSU):
sondern auch viele andere nicht verstehen. Sie bedenken Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
nicht, dass hinter all den Zahlen, die genannt werden, Kollegen! Seit der ersten Lesung zum Haushalt 2011 im
Menschen und ihre Familien stehen. Erst haben Sie eine September hat sich in der verteidigungspolitischen De-
Zahl von 163 500 Soldaten genannt, dann haben Sie zwi- batte bekanntlich einiges getan. Die Ergebnisse der
schenzeitlich auf einer Wahlkampfveranstaltung in Strukturkommission liegen vor, die Aussetzung der
Rheinland-Pfalz die Zahl von 190 000 für sympathisch Wehrpflicht ist in greifbare Nähe gerückt, und die Zah-
erklärt, jetzt sind wir bei 185 000. Der einzige Grund, len zum Umfang der Bundeswehr nehmen immer deutli-
warum die Menschen nicht erkennen, dass aus diesem chere Konturen an. An dieser Stelle möchte ich es nicht
Wirrwarr am Ende möglicherweise nur ein Reförmchen versäumen, unserem Minister recht herzlich für seine
herauskommt – dabei könnte das wirklich eine große Re- klare, zielorientierte wie auch zügige Vorgehensweise zu
form werden –, ist, wenn Sie mich fragen, die Tatsache, danken.
dass die Sozialdemokraten weiterhin so unglaublich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
strukturkonservativ argumentieren. Sie wollen auch jede
noch so kleine Veränderung nicht mittragen. Das führt Jetzt ist es wichtig, die Vorschläge der Kommission
dazu, dass Sie hier den großen Reformator spielen kön- klug zu bewerten, sie reibungslos umzusetzen und ge-
nen. Das hat aber mit einer Bundeswehrreform nicht viel genüber allen Missmutigen und Nörglern den Beweis
zu tun. anzutreten, dass die Reform der Bundeswehr nicht aus-
gesessen wird, sondern dass die begonnene Aufgabe er-
Ich frage mich, ob der Anspruch, den Sie formuliert folgreich zu Ende gebracht wird.
haben, nämlich dass jetzt eine tiefe Zäsur gemacht wer-
den muss, mit der Himmeroder Denkschrift, die Sie (Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: Da
selbst in Dresden zitiert haben, vereinbar ist. Sie haben warten wir mal ab!)
aus dem wichtigen Grundsatzdokument einen Satz zi-
– Warten wir es ab, Sie werden es sehen. –
tiert, nämlich die Frage: Wofür Streitkräfte? – In dem
Augenblick, in dem Sie die Strukturen der Bundeswehr Das Ziel ist klar – der Minister hat es zur Komman-
von den großen Veränderungen, die es in der NATO und deurtagung in Dresden auf den Punkt gebracht –:
8142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Robert Hochbaum
(A) Unsere Bundeswehr muss noch professioneller, kunft mit diesem Verteidigungsminister, mit der Politik (C)
noch schlagkräftiger, noch moderner und attraktiver einer nachhaltigen Preis-Leistungs-Maxime und einem
werden … nachhaltigen und realistischen Projektmanagement der-
artige Miseren verhindern werden.
Damit komme ich zu einem Punkt, der sich seit der
ersten Lesung leider nicht geändert hat: Wieder sind Abschließend ein weiterer Blick in die Zukunft. Ich
deutsche Soldaten in Afghanistan schwer verwundet habe eben von Beschaffungsprozessen, Reformbemü-
worden. Ich meine, man kann gar nicht oft genug darauf hungen und Einsatzorientierung gesprochen. Dies alles
hinweisen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten tagtäg- ist jedoch nur Schall und Rauch, wenn wir es parallel
lich unter Einsatz ihres Lebens für unsere Sicherheit sor- dazu nicht schaffen, den Dienst in der Bundeswehr at-
gen, für die Sicherheit aller Menschen in unserem Land. traktiv zu gestalten; das wissen wir alle. Dies gilt im Be-
Ich glaube, wir alle – Frau Höger, ich nehme Sie gerne sonderen für einen zukünftigen freiwilligen Dienst. Um
aus – sind ihnen dafür zu tiefstem Dank verpflichtet. es auf den Punkt zu bringen: Attraktivität ist der Schlüs-
sel zum Erfolg der Bundeswehr der Zukunft. Dabei muss
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sie – das ist besonders wichtig – für alle Bereiche der
Gerade vor diesem Hintergrund ist es gut und richtig, Gesellschaft interessant bleiben. Viele Vorschläge wur-
ihre Ausrüstung einer ständigen Prüfung zu unterziehen. den bereits gemacht. Sie sind zu prüfen und gegebenen-
Sie müssen optimal geschützt sein, und wir müssen ih- falls umzusetzen. Wir sollten in diesem Zusammenhang
nen diejenige Ausrüstung und diejenigen Waffen zur die bereits seit längerer Zeit im Raum stehende eigene
Verfügung stellen, die sie dringend benötigen. Besoldungs- und Versorgungsordnung für Soldatinnen
und Soldaten erneut debattieren. Ich glaube, dass sie ge-
Da wir uns in der Haushaltsdebatte befinden, möchte rade unter den Aspekten „besondere Situation in den
ich auf das Verhältnis zwischen Sicherheitspolitik und Einsätzen“ und „Attraktivität der Truppe“ eine entschei-
Kassenlage eingehen. Richtig ist – Herr Minister hat es dende Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft
ausgeführt –: Wir machen keine Sicherheitspolitik nach wäre.
Kassenlage. Aber richtig ist auch: Wir werden die Kasse
dabei auf jeden Fall fest im Blick behalten. Denn gerade Sehr geehrte Damen und Herren, „Verantwortung ver-
wenn wir auch in anderen Ressorts Einsparungen vor- pflichtet!“, hat der Minister in Dresden gesagt. Scheuen
nehmen müssen – der Sozialbereich wurde schon ange- wir uns nicht davor, sondern haben wir Mut – nicht
sprochen –, darf der Verteidigungsbereich nicht außen Spaß, Herr Arnold – und Freude an der Gestaltung.
vor bleiben. An der Einhaltung der gesetzlich veranker-
Herzlichen Dank.
ten Schuldenbremse, der Verantwortung für unsere zu-
(B) künftigen Generationen und der damit verbundenen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
Haushaltsdisziplin müssen nämlich auch wir mitarbei-
ten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Was meine ich aber genau mit Sparen? Es geht uns Ernst-Reinhard Beck hat jetzt das Wort für die CDU/
nicht um Sparen um des Sparens willen, vor allem, wenn CSU-Fraktion.
es um unsere Soldaten im Einsatz geht, sondern um ei-
nen effizienten Einsatz der zur Verfügung stehenden Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):
finanziellen Mittel. Die Schlüsselwörter dabei sind Effi-
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
zienz, Effektivität und Einsatzorientierung. Dass da noch
ein wenig Nachholbedarf besteht, das müssen wir jetzt legen! Lieber Herr Kollege Arnold, Sie haben der Bun-
deskanzlerin Zynismus vorgeworfen. Leider waren Sie
leider bei manchen großen Beschaffungsvorhaben
in Dresden nicht dabei. Ich glaube, dass dies das Letzte
schmerzlich erkennen. Sie wurden schon vor vielen Jah-
ren mit Verträgen auf den Weg gebracht – ich will hier ist, was man einer Kanzlerin vorwerfen kann, die zu ei-
ner Bundeswehrtagung geht und dort ein Signal setzt,
nicht anmerken, von wem –
dass die Regierungschefin zu ihren Soldaten, zu ihrem
(Elke Hoff [FDP]: Warum denn nicht? militärischen Führungspersonal steht. Es war im Grunde
Verraten Sie es!) genau das Gegenteil von dem, was Sie jetzt gesagt ha-
ben. Wenn Sie mit den Leuten – Sie waren leider nicht
– ich bin ja fair –, die, vorsichtig ausgedrückt, schon eine da – gesprochen hätten, hätten Sie als Reaktion mitbe-
gewisse Verwunderung auslösen können. Diese Vorha- kommen, dass sie es genauso empfunden haben, wie ich
ben binden nicht nur viel Geld, nein, dringend im Ein- es gerade dargestellt habe.
satz benötigt, stehen sie immer noch nicht zur Verfü-
gung, was noch viel schlimmer ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
An uns ist es jetzt – ich sage es noch einmal –, mit Die Ausführungen des Kollegen Nouripour sind in
Fingerspitzengefühl die vor vielen Jahren getroffenen dieselbe Richtung gegangen. Sie haben nur den Stil des
Entscheidungen und geschlossenen Verträge, wenn Ministers kritisiert. Etwas anderes war es ja nicht, als Sie
rechtlich überhaupt noch möglich, an unsere Kriterien sagten, wir könnten eigentlich zufrieden sein. Dazu
von Effizienz, Effektivität und Einsatzorientierung anzu- würde ich sagen: Seien Sie zufrieden. Inhaltlich habe ich
passen. Was zukünftige Vertragswerke anbelangt, so ha- hier sehr wenig Differenzen in Bezug auf das festge-
ben wir mit diesen Verträgen Beispiele, wie man es eben stellt, was in der Zukunft an neuen Konzepten für die
nicht machen sollte. Ich bin mir sicher, dass wir in Zu- Bundeswehr da ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8143
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)
(A) Herr Kollege Nouripour, Sie haben versucht, hier dar- Bezüglich der Gesamtstärke der Bundeswehr habe (C)
zustellen, dass der Minister keine Aufgabenkritik vor- ich – wie auch Sie, Herr Kollege Arnold – immer für ei-
genommen hat. Das ist einfach nicht richtig. Was ist nen angemessenen militärischen Beitrag plädiert, um da-
denn im Ministerium passiert? Es gab ein Analysedefi- mit unsere nationale Sicherheitsvorsorge und internatio-
zit. Jede der Teilstreitkräfte hat gesagt, wo die entspre- nalen Verpflichtungen abdecken zu können. Der Minister
chenden Mängel sind. Wir haben eine sicherheitspoliti- hat in Dresden einen Zielkorridor von 185 000 bis
sche Analyse des Generalinspekteurs. Und wir haben 190 000 Soldatinnen und Soldaten genannt. Dies ist ak-
eine Strukturkommission eingesetzt, die Vorschläge auf zeptabel und angesichts der Demografie und der Finan-
den Tisch gelegt hat. Was wollen Sie eigentlich noch an zierbarkeit auch realistisch.
Vorarbeiten machen?
Herr Kollege Arnold, ich gebe Ihnen recht, es geht
Ich sage Ihnen noch eines: Der Minister hat den gan- nicht um erfundene Zahlen, sondern 180 000 bzw.
zen Sommer über – in jedem Landesvorstand, in jeder 190 000 sind im Grunde eine sicherheitspolitisch gefor-
Zeitung bzw. in jedem Presseorgan – für seine Reform derte Größe, wenn man vom „Level of Ambition“
argumentiert und gekämpft. Im Grunde ist das also wirk- spricht.
lich nachträgliche Miesmacherei, was Sie hier machen. Ihren Ausführungen zum Thema „Fähigkeiten Heer
Das tut mir außerordentlich leid. und Marine“ können wir uns ausdrücklich anschließen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Das ist überhaupt keine Frage. Auch die europäische Di-
ruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/ mension sollten wir gerade zu einer Zeit, da auch andere
DIE GRÜNEN]) reformieren, nicht aus den Augen verlieren. Auch hier
sehe ich Gemeinsamkeiten zwischen uns.
Meine Kolleginnen und Kollegen, der Einzelplan 14
ist aus gutem Grund aus der Spargeschichte herausgehal- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
ten worden; denn es ist doch klar: Wir erleben in diesen SPD)
Tagen, dass die Bedrohung für unser Land keineswegs Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Reform
abstrakt oder unwahrscheinlich, sondern sehr konkret und wird kurzfristig keine Ersparnisse bringen – ich sage das
spürbar ist. Ich darf darauf hinweisen, dass es die vorran- noch einmal in aller Klarheit –, sondern erst auf längere
gige Pflicht des Staates ist und bleibt, seine Bürgerinnen Sicht im Zuge der Verwirklichung der Gesamtreform.
und Bürger möglichst vor den anstehenden Gefahren zu Um die Reform entsprechend abzusichern, müssen wir
schützen. Die finanzielle Ausstattung von Sicherheits- im nächsten Haushalt deshalb die erforderlichen Finanz-
strukturen ist – darüber besteht ja auch Konsens – die mittel einstellen. Ich sage aber noch einmal: Maßstab für
Voraussetzung für eine effiziente Gefahrenabwehr. Aus den Umfang der Bundeswehr muss immer die Bedro-
(B) diesem Grunde ist eine solide Finanzierung in diesem Be- (D)
hungssituation unseres Landes sein. Dafür steht unsere
reich unabdingbar. Da sind wir ja beieinander. Ich meine Politik. Es geht nicht um ein Wünsch-dir-was, sondern
im Gegensatz zu den Rednern der Opposition, dass dieser um notwendige Fähigkeiten, die von uns als verlässli-
Haushalt – auch vor dem Hintergrund, dass natürlich das chem und leistungsfähigem Partner in der Allianz auch
Schlüsseljahr 2011 für die Zukunft der Reform wichtig in Zukunft erwartet werden.
ist – dem weitgehend Rechnung trägt.
Wir stehen nicht allein mit unseren Überlegungen zur
Es war, meine ich, im Hinblick auf die finanzielle Reform der Sicherheitsstrukturen. Die NATO hat in Lis-
Seite – sie ist auf fünf bis sieben, vielleicht auch auf acht sabon ein neues Strategisches Konzept vorgelegt; darauf
Jahre angelegt – ein Fehler, zu sagen: Es wird auf das re- wurde hingewiesen. Wir als Teil dieser Allianz sind da-
duziert, was im nächsten Jahr ansteht. Das ist nicht se- bei, uns ebenfalls sicherheitspolitisch zukunftsfest auf-
riös, vielmehr müssen wir den gesamten Reformzeit- zustellen.
raum im Auge behalten.
Die Reform der Bundeswehr wird sehr bald konkrete
Verteidigungsminister zu Guttenberg ist die Aufgabe Züge annehmen. Der Minister hat dazu in Dresden seine
der Reform mutig und engagiert angegangen. Er hat – das Vorstellungen dargestellt. Die Vorschläge der Struktur-
sage ich für unsere Fraktion und auch für die andere Ko- kommission liegen auf dem Tisch, ebenso die neue
alitionsfraktion – dabei unsere volle Unterstützung. Ich NATO-Strategie. Der Entschluss, die Wehrpflicht auszu-
würde es außerordentlich begrüßen, wenn bei dieser setzen, ist gefallen. Die notwendigen Voraussetzungen
schwierigen und wichtigen Aufgabe auch ein breiter zum Handeln sind geschaffen. Zentrale Herausforderun-
Konsens im Parlament vorhanden wäre. Bei elementaren gen für die Bundeswehr zeichnen sich bereits jetzt ab.
sicherheitspolitischen Fragen ist dies, glaube ich, kein Mit dem Wegfall der Wehrpflicht muss die Bundes-
Schaden. Ich meine, wir müssen jetzt nach vorne schauen wehr mehr als bisher um junge Menschen werben und
und die Entscheidungen auch zügig umsetzen. als attraktiver Arbeitgeber im Kampf um die klügsten
Herr Kollege Arnold, wenn Sie die Dresdener Rede Köpfe auftreten. Dabei tritt die Bundeswehr in Konkur-
des Ministers zur Hand nehmen, können Sie nicht sagen, renz zu Unternehmen auf dem Markt. Eine wichtige
es sei nichts gesagt worden. Er hat Rahmen und Eck- Aufgabe ist – darauf wurde von allen Rednern hingewie-
punkte gesetzt, die jetzt für die weitere parlamentarische sen –, dass die Maßnahmen zur Attraktivitätssteige-
Arbeit natürlich auch wichtige Zielpunkte sind. rung zügig in Angriff genommen werden. Sie sind – da-
rüber sind wir uns auch im Klaren – nicht zum Nulltarif
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu haben.
8144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)


(A) Die Bundeswehr muss entschlussfreudige, flexible Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): (C)
und belastbare Mitarbeiter gewinnen. Junge Menschen Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
wollen gute Arbeitsbedingungen, fairen Lohn und die
Möglichkeit, Familie und Beruf unter einen Hut zu brin- Meine Gedanken gehen in der nahenden Weihnachts-
gen. Der demografische Wandel und der bereits erkenn- zeit zu unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz.
bare Fachkräftemangel vergrößern die Herausforderun- Auch dieses Jahr werden Tausende von ihnen das Weih-
gen. Wir müssen die Bundeswehr so aufstellen, dass sie nachtsfest und den Jahreswechsel nicht im Kreise ihrer
dieser Anstrengung gewachsen ist – von den Kompeten- Familie und Freunde feiern können. Sie tun dies in dem
zen her, aber auch finanziell. Bewusstsein, unser aller Sicherheit zu dienen. Dabei ver-
trauen sie auf die politische Führung und auf uns, den
Der Verankerung der Bundeswehr in der Gesell- Deutschen Bundestag.
schaft muss auch künftig, meine sehr geehrten Damen
und Herren, unser Augenmerk gelten. Der Soldat wird Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
seltener im Straßenbild auftreten. Damit dies nicht zu Herr Kollege.
wachsender Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber
der Bundeswehr führt, ist ein Bündel von Maßnahmen
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):
denkbar. Dazu müssen die Themen Sicherheit und Vertei-
digung offensiv kommuniziert und prominent in den Me- Wir haben daher eine besondere Verpflichtung gegen-
dien positioniert werden. Die Menschen müssen wissen über den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und
und auch erklärt bekommen, was die Bundeswehr leistet. ihren Angehörigen. Lassen Sie uns dieser Verpflichtung
Sie darf nicht nur in den Medien vorkommen, wenn Sol- gerecht werden.
daten fallen. Vielen Dank.
Wir müssen aber auch ein Stationierungskonzept er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
arbeiten, das die Präsenz der Bundeswehr in der Fläche bei Abgeordneten der SPD)
sichert. Die Bevölkerung muss wissen, dass in ihrer
Nähe Soldaten stationiert sind. Die Gesellschaft soll teil- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
haben am Alltagsleben der Soldaten. Die Bundeswehr Ich schließe die Aussprache.
muss in der Mitte der Gesellschaft sichtbar bleiben.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie plan 14 des Bundesministeriums der Verteidigung in der
bei Abgeordneten der SPD) Ausschussfassung. Wer stimmt für diesen Einzelplan? –
(B) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Einzel- (D)
Nicht zuletzt, meine sehr geehrten Damen und Her- plan 14 bei Zustimmung von CDU/CSU und FDP ange-
ren, muss das Reservistenwesen neu organisiert werden. nommen;
Reservisten sind wichtige Multiplikatoren für die Bun-
deswehr und üben verantwortungsvolle Tätigkeiten in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
den Streitkräften aus. Ihre zivilen Qualifikationen sind der FDP)
noch besser nutzbar zu machen. Wenn das gelingt, kön- SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen
nen die Reservisten Botschafter für die Bundeswehr sein gestimmt.
und zum positiven Bild der Streitkräfte beitragen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt VI a sowie die Zu-
Wir wollen, dass unsere Bundeswehr weiterhin zu satzpunkte 1 a und b auf:
den besten Armeen dieser Welt zählt. Wichtigstes Gut
der Bundeswehr sind die Menschen. Die Einsatzrealität VI a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
bringt es mit sich, dass Soldaten fallen und verwundet gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
werden. Das ist schrecklich, kann aber trotz bester Aus- Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai
rüstung nie völlig verhindert werden. Umso wichtiger ist 2005 zur Verhütung des Terrorismus
der Umgang mit diesen Situationen: Bestmögliche Ver- – Drucksache 17/3801 –
sorgung und Absicherung, auch von Hinterbliebenen
Überweisungsvorschlag:
und Angehörigen, verlangen Fingerspitzengefühl und Rechtsausschuss (f)
Großzügigkeit. Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Viele Veteranen kommen gezeichnet aus dem Einsatz Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zurück. Die sanitätsdienstliche Versorgung von körperli-
ZP 1a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
chen wie seelischen Verwundungen steht ganz oben auf
Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weite-
unserer Agenda; dies ist, glaube ich, unsere gemeinsame
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Auffassung.
DIE GRÜNEN
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kulturelle Bildung von Bundesseite nachhaltig
fördern – Auflegung eines Förderprogramms
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: „Jugendkultur Jetzt“
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. – Drucksache 17/3066 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8145
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Überweisungsvorschlag: Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer (C)
Ausschuss für Kultur und Medien (f) Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und DIE GRÜNEN
Technikfolgenabschätzung
Einigkeit über die Definition des Tatbestandes
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia des Aggressionsverbrechens im IStGH-Statut
Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, erzielen
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
– Drucksachen 17/1767, 17/3889 –
NIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Atommüllexport nach Russland Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
– Drucksache 17/3854 – Christoph Strässer
Überweisungsvorschlag: Marina Schuster
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Annette Groth
Ausschuss für Bildung, Forschung und Ingrid Hönlinger
Technikfolgenabschätzung
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
lung auf Drucksache 17/3889, den Antrag der Fraktion
ten Verfahren ohne Debatte.
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1767 abzu-
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Ge-
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der lung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. SPD angenommen; Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke haben dagegen gestimmt, Enthaltungen gab es
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte VII a bis j auf. keine.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt VII c:
Tagesordnungspunkt VII a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,
über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2011 Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordne-
(B) (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2011) ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
NEN
– Drucksache 17/3119 –
Pakistan nach der Flut langfristig unterstüt-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- zen und Schulden umwandeln
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
schuss) – Drucksachen 17/3206, 17/3779 –

– Drucksache 17/3835 – Berichterstattung:


Abgeordnete Holger Haibach
Berichterstattung: Burkhard Lischka
Abgeordneter Dieter Jasper Helga Daub
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp- Heike Hänsel
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Ute Koczy
17/3835, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Drucksache 17/3119 anzunehmen. Diejenigen, die dem lung auf Drucksache 17/3779, den Antrag der Fraktion
Gesetzentwurf zustimmen wollen, mögen das bitte mit Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3206 abzu-
Handzeichen signalisieren. – Gegenstimmen? – Enthal- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
tung einstimmig angenommen. fehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU
Dritte Beratung und FDP, dagegen gestimmt haben die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen; die SPD-Fraktion hat sich enthalten.
und Schlussabstimmung. Ich bitte die Zustimmenden,
sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung wie- titionsausschusses.
derum einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt VII d:
Tagesordnungspunkt VII b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ausschusses (2. Ausschuss)
richts des Ausschusses für Menschenrechte und Sammelübersicht 164 zu Petitionen
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom – Drucksache 17/3664 –
8146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Tagesordnungspunkt VII j: (C)
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Tagesordnungspunkt VII e:
Sammelübersicht 170 zu Petitionen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
– Drucksache 17/3670 –
ausschusses (2. Ausschuss)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Sammelübersicht 165 zu Petitionen tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
– Drucksache 17/3665 – durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen
haben die Oppositionsfraktionen gestimmt.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.11 auf:
Koalitionsfraktionen und der SPD angenommen. Dage- Einzelplan 23
gen hat die Linke gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen ha- Bundesministerium für wirtschaftliche Zu-
ben sich enthalten. sammenarbeit und Entwicklung
Tagesordnungspunkt VII f: – Drucksachen 17/3519, 17/3523 –
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Berichterstattung:
ausschusses (2. Ausschuss) Abgeordnete Volkmar Klein
Lothar Binding (Heidelberg)
Sammelübersicht 166 zu Petitionen
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
– Drucksache 17/3666 – Dr. Dietmar Bartsch
Priska Hinz (Herborn)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange- Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
nommen. Die Linke vor. Außerdem liegen zwei Entschließungsan-
träge der Fraktion Die Linke und ein Entschließungsan-
Tagesordnungspunkt VII g: trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- wir am Freitag nach der Schlussabstimmung abstimmen
ausschusses (2. Ausschuss) werden.
Verabredet ist, zu diesem Einzelplan eineinhalb Stun- (D)
(B) Sammelübersicht 167 zu Petitionen
den zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Wi-
– Drucksache 17/3667 – derspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Ich eröffne die Aussprache und rufe Dr. Bärbel Kofler
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Die für die SPD-Fraktion auf.
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt, (Beifall bei der SPD)
alle anderen dafür.
Tagesordnungspunkt VII h: Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
legen! Wir debattieren heute über den Einzelplan 23,
ausschusses (2. Ausschuss)
über den Einzelplan des Bundesministeriums für wirt-
Sammelübersicht 168 zu Petitionen schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ich
möchte betonen: Das ist zwar – leider – nicht einer der
– Drucksache 17/3668 – größten Einzelpläne unseres Haushalts, aber es ist ein
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Einzelplan mit ganz herausragender Bedeutung, weil er
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Die das Ziel der internationalen Armutsbekämpfung in den
Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt, alle anderen Mittelpunkt stellt und ein Gradmesser dafür ist, wie sich
dafür. die internationalen Vereinbarungen, die wir als Bundes-
republik Deutschland in den vergangenen Jahren getrof-
Tagesordnungspunkt VII i: fen haben, in unserer Haushaltspolitik widerspiegeln,
wie wir unsere Versprechen umsetzen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Wenn man sich den Einzelplan 23 ansieht, kann man
angesichts der Einzelpläne, über die heute Morgen dis-
Sammelübersicht 169 zu Petitionen kutiert worden ist, fast etwas zynisch feststellen: Die
– Drucksache 17/3669 – Mittel sinken nicht. Das ist aber auch das einzig Gute,
was man dazu sagen kann. Wenn man sich den Regie-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- rungsentwurf anschaut, stellt man fest, dass 3 Millionen
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung Euro mehr geplant waren. In den letzten Tagen haben
durch CDU/CSU, FDP und SPD angenommen. Linke wir erfahren – das ist in Ordnung –, dass infolge der
und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt. Goldverkäufe des IWF bzw. des deutschen Anteils an
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8147
Dr. Bärbel Kofler
(A) diesen Erlösen mehr Geld – um genau zu sein: 146 Mil- Strukturpolitik einsetzen müsste, um also in den Län- (C)
lionen Euro – in diesen Einzelplan fließt. Ich habe über- dern Strukturen zu schaffen, die für die Erhöhung der
haupt nichts dagegen. Mein Problem ist – schon in der Steuereinnahmen und für den Aufbau der Verwaltung
letzten Sitzungswoche habe ich eine entsprechende sorgen und die die Länder befähigen, nachhaltig in Ge-
Frage an die Regierung gestellt –: Was ist die strategi- sundheit und Bildung zu investieren. Dazu gehört auch
sche Ausrichtung? Was ist mit der Einhaltung der inter- der Aufbau von selbsttragenden Mechanismen. Wenn
nationale Zusagen, dass es bei den Mitteln für die Ar- Sie das alles wollen, dann müssen Sie zunächst die not-
mutsbekämpfung einen Aufwuchs gibt? Wie wird die wendigen Mittel zur Verfügung stellen.
Einhaltung dieser Zusage in diesem Haushaltsentwurf
und in der mittelfristigen Finanzplanung dargestellt? Herr Minister, Sie haben im Zusammenhang mit der
Personaldebatte das Beispiel eines Niedrigenergiehauses
(Beifall bei der SPD) verwendet, in das man zuerst investieren müsse, um bes-
sere Wirkungsgrade zu erreichen. Warum versuchen Sie
Leider gibt es dazu vonseiten des zuständigen Minis-
nicht, das auf die Entwicklungspolitik anzuwenden? Wir
teriums, des BMZ, keine Antwort bzw. nur eine ganz
müssen jetzt investieren, um selbsttragende Strukturen
schwammige; darauf werde ich gleich noch eingehen.
in den Ländern aufbauen zu können.
Es gibt aber ein Schreiben des Bundesfinanzministe-
riums, in dem ganz deutlich gemacht wird, dass die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Haushaltsmittel, die im kommenden Jahr zur Verfügung DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Hänsel
stehen – gerade habe ich mich noch darüber gefreut, [DIE LINKE])
dass sie nicht sinken –, in den Jahren 2012 bis 2014
kompensiert werden müssen. Das heißt auf gut Deutsch: Das ist etwas anderes, als PPP-Projekte – gegen die habe
In den nächsten Jahren wird der Etat sinken und nicht ich gar nicht so viel, wie Sie vielleicht vermuten – zu fi-
entsprechend den Zusagen, die wir auf internationaler nanzieren oder Direktinvestitionen der deutschen Wirt-
Ebene gemacht haben, steigen. Es bedarf einer Strategie schaft zu fördern.
des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit Wenn man effiziente und wirksame Projekte voran-
und Entwicklung, wie wir trotzdem die zugesagten Mit- bringen möchte, dann verstehe ich nicht, warum Sie ein
tel bereitstellen und unsere Versprechen einhalten kön- nachweislich gutes und wirtschaftliches Instrument, das
nen. den Menschen nützt, das hilft, ihre Sorgen und Probleme
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu lindern, und das auch volkswirtschaftlich sinnvoll ist
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – nämlich den Globalen Fonds zur Bekämpfung von
HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria –, so im Regen ste-
Wir als Opposition haben Vorschläge gemacht. Ich hen lassen, wie Sie es mit diesem Haushaltsentwurf tun.
(B) nenne als Beispiel die Finanztransaktionsteuer. Wenn Sie (D)
sich diesem Instrument verschließen und ihm nicht zu- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Heike
stimmen können, dann erwarte ich von der Regierung Hänsel [DIE LINKE] – Harald Leibrecht
wenigstens klare Aussagen darüber, was Sie stattdessen [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!)
wollen. Wie wollen Sie den Aufwuchs der notwendigen
– Selbstverständlich stimmt das. Die Fachpolitiker die-
Mittel für die Armutsbekämpfung erreichen? Herr
Leibrecht, weil ich ahne – es ist ja nicht die erste Debatte ser Regierungskoalition müssten sich einmal mit den
über dieses Thema –, dass Sie sagen werden: „Die Wirk- Haushaltspolitikern dieser Koalition ins Benehmen set-
samkeit ist am größten, wenn es die Wirtschaft macht“, zen. Die Entwicklungspolitiker aller Fraktionen hatten
will ich ein paar Punkte zum Thema Wirksamkeit nen- den richtigen Ansatz gewählt, nämlich Verpflichtungser-
nen. mächtigungen für den Globalen Fonds einzustellen, da-
mit Planungssicherheit über das Jahr 2011 hinaus be-
Dieses Thema haben Sie, Herr Minister Niebel, und steht. Das ist die Grundvoraussetzung. Wenn genau das
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, nicht von den Haushaltspolitikern der Koalition gestrichen
erfunden. Über das Thema Wirksamkeit in der Entwick- wird, dann untergraben Sie die Planungsfähigkeit eines
lungszusammenarbeit wird seit Jahren, spätestens seit wirksamen Instrumentes, das dafür sorgt, dass weltweit
Beginn dieses Jahrtausends auf internationaler Ebene de- auftretende Seuchen wie Aids, Tuberkulose und Malaria
battiert. Es geht um internationale Abstimmung und Ge- nachhaltig bekämpft werden.
berharmonisierung. Es geht auch darum – das ist das,
was man immer so schön „Ownership“ nennt –, Ent- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Thilo
wicklungsstrategien gemeinsam mit den Ländern aufzu- Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
stellen. Das führt dazu, dass sich die Länder die Projekte Wenn Sie mir nicht glauben, dass es sich um ein wirk-
zu eigen machen können. Das hat sehr viel mit Wirksam- sames Instrument handelt, möchte ich einmal die Kanz-
keit zu tun; denn nur wenn sich die Länder die Projekte lerin zitieren, die Ende September Folgendes gesagt hat:
zu eigen machen und wenn wir als Geber gut abge-
stimmt auftreten, kann eine wirksame und nachhaltige Die Lösung globaler Aufgaben erfordert globale
Entwicklungspolitik vorangebracht werden. Anstrengungen. Ein Beispiel ist der Globale Fonds
zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Ma-
(Beifall bei der SPD)
laria, ein multilaterales Instrument, das sich be-
Ich habe meine Zweifel, ob Sie in der Debatte das- währt hat. Die Hilfe des Fonds kommt direkt bei
selbe unter Wirksamkeit verstehen wie alle anderen. den Menschen an. Deutschland ist drittgrößter Ge-
Wirksamkeit würde bedeuten, dass man Mittel für die ber, und ich werde mich dafür einsetzen, dass
8148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dr. Bärbel Kofler


(A) Deutschland den Fonds und die Bemühungen um Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
eine Verbesserung der Gesundheitssituation auch Der Kollege Harald Leibrecht hat jetzt für die FDP-
weiterhin auf hohem Niveau unterstützt. Fraktion das Wort.
Richtig. Das sind schöne Worte, aber allein die Taten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
fehlen. der CDU/CSU)
Wie heißt es so schön in der Bibel? An ihren Taten
Harald Leibrecht (FDP):
sollt ihr sie erkennen. Ich denke, dieses Zitat kann man
bei jeder Haushaltsdebatte und auch in dieser in den Mit- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
telpunkt stellen. Herren! Ich freue mich natürlich darüber, dass der Etat
des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen-
(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wenn arbeit und Entwicklung trotz angespannter Haushalts-
schon, dann „Nicht an ihren Worten, sondern lage im nächsten Jahr noch einmal auf eine Gesamt-
an den Taten könnt ihr sie erkennen“! – Holger summe von über 6,2 Milliarden Euro ansteigen wird.
Haibach [CDU/CSU]: Genau! Wenn Sie schon
die Bibel zitieren, dann richtig! – Gegenruf des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD]: Wenn euch da der CDU/CSU)
drüben sonst nichts einfällt!) Das sind im Vergleich zum letzten vollen Kalenderjahr
der sozialdemokratischen Leitung des Ministeriums im-
Wenn wir schon bei dem Punkt sind und uns diesen merhin 370 Millionen Euro mehr – das muss man hier
Haushalt genauer anschauen, dann fällt ja eines auch mal betonen –,
noch auf – aber vielleicht haben Sie da auch einen flapsi-
gen, schnellen Spruch parat, wie man dieses wirklich (Zurufe von der FDP: Hört! Hört!)
ernsthafte Problem aus der Welt schafft –: Sie fahren in
der Welt spazieren und sagen international Gelder zu. und das ist vor dem Hintergrund der Schuldenbremse
Sie werden jetzt sicherlich schon sagen: Jetzt kommt die und der Haushaltskonsolidierung ein beachtlicher Er-
Kofler wieder mit Kopenhagen. – Ja, ich komme wieder folg.
mit Kopenhagen. Das hat nämlich etwas mit Wirksam- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
keit und Transparenz zu tun und auch mit: „An ihren Ta- der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE
ten sollt ihr sie erkennen“. Damit habe ich das Zitat noch LINKE]: Ihr wolltet das Ministerium doch ab-
einmal richtig gebracht. schaffen!)
(B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Was den Global Fund anbetrifft: Er ist ja für das kom- (D)
mende Jahr abgesichert. In der Vergangenheit, auch un-
Was machen Sie in dem Bereich? – Sie sagen in Ko- ter anderen Regierungen, wurde er nie über Verpflich-
penhagen Mittel zu, gleichzeitig findet man im tungsermächtigungen abgesichert. Das wissen Sie selber
Einzelplan 23 einen schönen Titel, der sich mit dem ganz genau.
Waldschutz beschäftigt.
(Zuruf von der FDP: So ist es!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Deshalb finde ich es nicht gut und nicht ehrlich, das hier
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende? polemisch so aufzublasen.
Auch wenn es bis zur Erreichung des ODA-Ziels von
Dr. Bärbel Kofler (SPD): 0,7 Prozent sicherlich noch ein gutes Stück Weges ist, so
sind wir diesem Ziel heute näher als je zuvor.
Ja, ich komme zum Schluss. – In diesem Titel sind für
diesen Haushalt und bis zum Haushalt 2012 330 Millio- Deutschland ist eines der ganz großen Geberländer in
nen Euro eingeplant. Leider werden diese 330 Millionen der Welt, und mit deutschen Steuergeldern wird viel Gu-
Euro mit den Zusagen von Kopenhagen, die ja für dieses tes in den ärmsten Ländern getan. Ich denke, hierauf
Jahr 420 Millionen Euro ausgemacht hätten, verrechnet. kann man auch etwas stolz sein.
ODA ist ohne Frage wichtig, aber wir dürfen die De-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: batte nicht darauf beschränken. Wichtig ist – Frau
Frau Kollegin. Kofler, Sie haben da recht –, auch auf die Wirksamkeit
der Maßnahmen zu achten. Nur dann, wenn das Geld
bzw. die Maßnahmen bei den Menschen, die sie benöti-
Dr. Bärbel Kofler (SPD):
gen, auch ankommen, nur wenn sie ihre Lebenssituation
Das ist intransparent und führt dazu – ich bin schon wirklich verbessern und ihnen eine Perspektive auf ein
am Ende –, dass wir Glaubwürdigkeit verlieren und dass besseres Leben geben, ist das Geld richtig und wirksam
wir ein denkbar schlechtes Beispiel für andere Länder eingesetzt.
abgeben, von denen wir immer Transparenz einfordern.
Nur wenn sich die Regierungen der Entwicklungslän-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der zum Rechtsstaat und zu den Menschenrechten be-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kennen, wenn sie Meinungsfreiheit zulassen und Kor-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8149
Harald Leibrecht
(A) ruption bekämpfen, sind sie für uns die richtigen Partner schaftsnation durchaus auch für die Ärmsten der Welt (C)
für eine langfristige Zusammenarbeit. verantwortlich fühlt und wir darum einen Beitrag zur
Verbesserung ihrer Situation leisten müssen, verstehen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sie es. Es geht also um Aufklärung, es geht aber auch um
der CDU/CSU) Transparenz und darum, den Menschen im Land zu er-
Ich habe es sehr begrüßt, dass Minister Niebel der Re- klären, was wir in der Entwicklungspolitik mit ihren
gierung von Uganda mit deutlichen Worten klargemacht Steuergeldern leisten. Auf internationaler Ebene haben
hat, dass Entwicklungszusammenarbeit mit uns nicht wir gesehen, dass zum Beispiel mit den Jahrtausendent-
möglich ist, wenn dort ein Gesetz verabschiedet wird, wicklungszielen, mit den MDGs, etwas geschaffen
das zum Beispiel Homosexualität unter Todesstrafe wurde, das die Entwicklungszusammenarbeit für die
stellt, oder dass er der kongolesischen Regierung klarge- Menschen in den Geberländern greifbarer macht und das
macht hat – da ging es um die gesperrten GTZ-Konten –, Bewusstsein für entwicklungspolitische Herausforderun-
dass sie endlich die Korruption in ihrem Land bekämp- gen stärkt.
fen soll. Wirksamkeit betrifft alle Bereiche der Entwick-
lungszusammenarbeit. Nochmals: Ich freue mich, dass es im kommenden
Jahr mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit
So erhöhen wir durch die Vorfeldreform wesentlich gibt und dass dieses Geld in Zukunft wirksamer einge-
die Effektivität und die Qualität der deutschen Entwick- setzt wird.
lungszusammenarbeit. Gleichzeitig setzen wir mit dieser
Reform eine seit Jahren von der OECD geforderte Maß- Ich danke Ihnen.
nahme um. Im DAC Peer Review wurde diese Maß- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nahme ja auch lobend erwähnt. Allen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der jetzt neu entstandenen GIZ wün-
sche ich von dieser Stelle aus sehr viel Erfolg. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat Heike Hänsel für die Fraktion Die
Ein weiterer Schwerpunkt der deutschen Entwick- Linke.
lungspolitik ist die verstärkte Zusammenarbeit mit der
Privatwirtschaft. Nicht ohne Grund heißt das BMZ (Beifall bei der LINKEN)
„Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung“. Das Engagement der Privatwirtschaft ist Heike Hänsel (DIE LINKE):
eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Ent-
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
wicklung eines Landes. Eine prosperierende Wirtschaft
Heute wurde mehrmals auf die Sicherheitssituation, auf
ist wichtig für ein Entwicklungsland, um sich von
(B) die Terrorwarnungen hingewiesen. Ich denke, das geht (D)
Abhängigkeit zu befreien und aus eigener Kraft in eine
auch uns Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungs-
bessere Zukunft zu gehen. Grenzübergreifende Investi-
politiker etwas an. Nach den Anschlägen des 11. Sep-
tionen, die sowohl Arbeitsplätze als auch Ausbildungs-
tember 2001 gab es nicht nur diese Hau-drauf-Parolen,
plätze schaffen, sorgen mit dafür, dass eine Wertschöp-
sondern auch viel Nachdenkliches: In welcher Welt le-
fung in den Entwicklungsländern stattfindet.
ben wir? Wie groß ist die Kluft zwischen Arm und
Ich bewundere immer wieder die große Spendenbe- Reich? Kann es überhaupt so weitergehen?
reitschaft der Menschen hier im Land. Nach dem verhee-
renden Erdbeben in Haiti spendeten die Deutschen über Wenn wir uns anschauen, was in den Jahren seit 2001
200 Millionen Euro. Das war das höchste Spendenvolu- passiert ist, dann müssen wir feststellen, dass wir jetzt den
men in ganz Europa. Dies zeigt, dass den Menschen in Höchststand an hungernden Menschen weltweit haben.
Deutschland das Leid und das Elend in der Welt nicht Das ist eine tagtägliche Tragödie für über 1 Milliarde
egal sind. Darum ist es wichtig, dass die deutsche Ent- Menschen. Seit neun Jahren führen die NATO-Staaten in
wicklungszusammenarbeit sichtbarer wird. Hier tut sich Afghanistan Krieg unter dem Stichwort „Kampf gegen
ja jetzt, Gott sei Dank, im BMZ einiges. den Terror“, viele Tausende Zivilisten werden getötet. Es
gibt gezielte Tötungen. Die CIA hat Geheimgefängnisse
Ich treffe – das tun auch Sie – immer wieder Schul- in Europa. Viele Entführungen von „Terrorverdächtigen“
klassen, Vereine, Vertreter von Kommunen und viele wurden durchgeführt. Guantánamo und Abu Ghureib –
Einzelpersonen, die sehr viel Zeit, Engagement und Geld auch das sind Orte des Terrors. Das zeigt, dass die NATO-
in Entwicklungsprojekte investieren. Ich freue mich, Staaten in den letzten Jahren sehr viel Armut, Elend und
dass das BMZ mit diesem Haushalt im Bereich des bür- Hass produziert haben,
gerlichen Engagements in der Entwicklungspolitik mit
Informations- und Bildungsarbeit einen neuen Akzent (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
setzt. Leider zeigt die SPD mit ihrem eingebrachten Kür- vor allem Hass, den Nährboden, auf dem der Terror
zungsantrag, dass ihr hieran nichts liegt. blüht. Ich möchte für unsere Fraktion festhalten: Auch
Wir alle, die wir in der Entwicklungspolitik tätig sind, Krieg ist Terror, und wir müssen dieses Mittel der Politik
werden immer wieder von Menschen hier im Land ge- bekämpfen.
fragt, warum wir so viel Geld in den Entwicklungslän- (Beifall bei der LINKEN)
dern ausgeben, wo wir doch genug Probleme im eigenen
Land haben. Wenn wir diesen Menschen erklären, dass Dazu gehören eine zivile Außenpolitik und eine zivile
sich Deutschland als bedeutende Industrie- und Wirt- Entwicklungspolitik. Herr Niebel, dazu tragen Sie über-
8150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Heike Hänsel
(A) haupt nichts bei. Sie stärken nach wie vor das Konzept (Holger Haibach [CDU/CSU]: Wir haben in (C)
der zivil-militärischen Zusammenarbeit, Deutschland nun einmal eine soziale Markt-
wirtschaft, ob Sie das wollen oder nicht!)
(Holger Haibach [CDU/CSU]: Ja! Zu Recht!)
Die Entwicklungszusammenarbeit wird gekürzt. Das ist
trotz des Protests zahlreicher Hilfsorganisationen. Die für mich keine Entwicklungszusammenarbeit auf Au-
CDU/CSU-Fraktion will dieses Instrument, wie ich gele- genhöhe, Herr Niebel. Das ist für mich neokoloniales
sen habe, ebenfalls ausbauen. Sie führen zu diesem Gehabe.
Thema sogar eine Konferenz durch.
(Beifall bei der LINKEN)
(Holger Haibach [CDU/CSU]: Oh, wie Statt sich immer nur um das Investitionsklima für
schrecklich! Teufelszeug!) deutsche Unternehmen zu sorgen, sollten Sie sich lieber
mehr Sorgen um das Klima generell machen und gute
Wie zivile Aufbauhilfe, Entwicklungsprojekte und Klimaschutzprojekte konkret unterstützen.
Militär miteinander verknüpft sind, haben wir während
einer Delegationsreise in Afghanistan erfahren müssen. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Am besten
Dort konnten wir beobachten, wie schlecht diese Zusam- verbessern wir erst einmal das Klima in der
menarbeit funktioniert und wie gefährlich sie ist. Die Linksfraktion!)
Schule, die wir dort besuchen wollten, mussten wir uns Sie reagieren viel zu wenig auf gute Ideen, die vorgetra-
nämlich in einem ISAF-Konvoi, schwer bewacht von gen werden. Wir diskutieren schon seit langem ganz
ISAF-Soldaten, anschauen. Ich kann nur sagen: Es ist konkret über ein sehr gutes Projekt in Ecuador, nämlich
absurd, in welch martialischem Aufmarsch wir zu dieser über die ITT-Initiative; sie ist Ihnen ja wohl bekannt. Es
Schule kamen. Die Aufbauhelfer haben uns danach ge- geht darum, dass die ecuadorianische Regierung das
sagt, dass solche militarisierten Besuche ihre Projekte Erdöl im Boden lassen möchte und dafür Kompensa-
gefährden, weil sie dadurch in der Region zu Anschlags- tionszahlungen braucht.
zielen werden. Genau deswegen kritisieren wir die zivil-
militärische Zusammenarbeit und lehnen sie grundsätz- Was machen Sie? Sie haben diese Initiative ständig
lich ab. kritisiert und tun das nach wie vor. Sie finden immer
wieder neue Argumente, weswegen Sie dieses Projekt
(Beifall bei der LINKEN – Zustimmung des ablehnen. Das hat sogar dazu geführt, dass der ecuado-
Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD]) rianische Präsident Correa einen bereits geplanten Be-
such abgesagt hat.
(B) Herr Niebel, ich halte es für eine fatale Entscheidung, (D)
dass Sie zivil-militärische Projekte trotz der Informatio- (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Er hat wohl
befürchtet, Sie zu treffen!)
nen, die Ihnen vorliegen, unterstützen wollen. Ein kon-
kretes Projekt ist „La Macarena“ in Kolumbien. Es ist Da kann ich nur sagen: Was für ein Affront, Herr Niebel!
bekannt, welche negativen Wirkungen dieses Projekt, in In den Entwicklungsländern gibt es gute Ideen. Ich kann
das die Armee eingebunden ist, hat. Es wird von vielen nur an Sie appellieren: Bitte unterstützen Sie diese Initia-
Hilfsorganisationen und von der Zivilbevölkerung vor tive! Das ist ein zukunftsweisendes und wichtiges Pro-
Ort kritisiert. Die Menschen haben vor der kolumbiani- jekt, auch für den Klimaschutz.
schen Armee, die für sehr viele Menschenrechtsverlet- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
zungen verantwortlich ist, Angst. Dennoch haben Sie zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
diesem Projekt Ja gesagt. Das halten wir für eine fatale
Entscheidung. Deshalb haben wir den Antrag einge- Abschließend möchte ich sagen: Wir sind der Auffas-
bracht, im nächsten Haushalt kein Geld für das Projekt sung, dass Sie auf große Katastrophen wie die in Haiti
„La Macarena“ in Kolumbien zur Verfügung zu stellen. und Pakistan völlig unzureichend reagieren. Sie leisten
lediglich Einmalzahlungen. Wir hingegen fordern Son-
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Thilo dertitel über mehrere Jahre hinweg, um diesen Katastro-
Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) phen nachhaltig zu begegnen. Diese Initiativen sind
wichtig. Wir dürfen nicht nach dem Motto verfahren: In
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird von den Medien wird über diese Katastrophen nicht mehr be-
Ihnen weiterhin in vielerlei Hinsicht instrumentalisiert. richtet, also sind diese Probleme für uns nicht mehr vor-
Militäreinsätze sollen zivil flankiert werden; das haben handen. – Wir müssen anders reagieren. Deswegen ha-
Sie selbst gesagt. Laut der neuen Rohstoffstrategie der ben wir Sondertitel gefordert.
Bundesregierung soll durch die Entwicklungszusam-
menarbeit in Entwicklungsländern aber auch ein investi- Ich kann nur sagen: Mit diesem Haushalt haben Sie
tionsfreundliches Klima geschaffen werden. Was „inves- sich faktisch – darauf ist schon eingegangen worden –
titionsfreundliches Klima“ konkret heißt, konnten wir von dem 0,7-Prozent-Ziel für 2015 verabschiedet. Ihre
vor kurzem in Bolivien erleben: Wer nicht Ihren Vorstel- Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit freut si-
cherlich den BDI, den Bundesverband der Deutschen In-
lungen von Marktwirtschaft, Privateigentum und Inves-
dustrie, aber nicht die Menschen in den Ländern des Sü-
titionsschutz entspricht, wer also, wie die bolivianische
dens.
Regierung, einen eigenständigen Weg der Entwicklung
gehen will, der wird abgestraft. (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8151

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
Das Wort hat Volkmar Klein für die CDU/CSU-Frak- Dr. Sascha Raabe [SPD]: Das ist albern, und
tion. das wissen Sie!)

(Beifall bei der CDU/CSU) Auch ich sage selbstkritisch: Mehr Geld für Entwick-
lungshilfe, für gute Projekte in der Entwicklungshilfe
wäre sicherlich noch besser. Aber ich bitte die Kritiker,
Volkmar Klein (CDU/CSU): ihre Kritik ein bisschen zu dosieren und auch ihr eigenes
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Handeln an diesen Maßstäben zu messen.
Herren! Ich habe, ehrlich gesagt, schon geahnt, was die Ich bin erst seit einem Jahr hier im Bundestag, aber
Opposition alles sagen wird. Das muss sie ja, und das ich habe mir die alten Zahlen einmal angeschaut. Dass es
verstehe ich; denn dafür gibt es schließlich eine Opposi- überhaupt deutliche Aufwüchse in diesem Einzelplan
tion. gegeben hat, ist nicht schon mit der früheren Ministerin
An sich kann niemand dagegen sein, einfach mehr Wieczorek-Zeul, sondern erst mit Angela Merkel als
Geld für Dinge zu verlangen, die uns gemeinsam wichtig Bundeskanzlerin eingetreten, weil sich offensichtlich die
sind. Maßstäbe verschoben haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Niema Movassat [DIE LINKE]: Das hat
Dr. Sascha Raabe [SPD]: Da war die Ministe-
Deutschland doch versprochen! Das ist das
rin doch auch noch Ministerin! Ist Ihnen ent-
Problem!)
gangen, dass Frau Wieczorek-Zeul bis 2009
Das kann niemand schlecht finden. Insofern ist das na- Ministerin war? Haben Sie da im Parlament
türlich ein billiges Erreichen von schnellem Applaus. geschlafen? Das ist ja peinlich!)
Aber leider ist es so, dass wir das Geld, das wir vielleicht Schauen wir uns einmal an, welche Zahl die frühere
gerne für diese guten Dinge ausgeben würden, gar nicht Ministerin Wieczorek-Zeul in der damaligen Finanzpla-
haben. nung im Einzelplan 23 für das Jahr 2011 vorgesehen
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!) hatte, schauen wir uns also ihre alten Pläne an. Darin
steht – das kann man noch heute nachlesen; das ist das
48,4 Milliarden Euro Defizit stehen noch immer in unse- Schöne bei Papier –, dass sie geplant hatte,
rem Haushaltsplan. 5,84 Milliarden Euro für Entwicklungshilfe auszuge-
ben. Wir wollen heute 6,22 Milliarden Euro beschließen.
Ich erinnere mich an heute Vormittag. Da hat der
(B) SPD-Fraktionsvorsitzende Steinmeier dem Finanzminis- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (D)
ter vorgeworfen, er würde inzwischen sogar Vorräte an- Das ist deutlich mehr. Dafür könnte es ein bisschen Lob
legen. geben.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Von einer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Kriegskasse hat er geredet!)
Angesichts der Restriktionen ist das ein ziemlich großer
Diese sehe ich nicht, weil ich alle Ansätze für sehr rea- Erfolg für den Bereich, der uns zu Recht wichtig ist.
listisch halte. Aber darauf will ich jetzt gar nicht hinaus. Wir haben aber nicht nur weltweit Verantwortung,
Steinmeier hat dann gesagt: Wenn ein Spielraum vorhan- sondern auch gegenüber künftigen Generationen. Des-
den ist, dann ist die Neuverschuldung zu reduzieren. – wegen sage ich: Wir dürfen nicht alles noch viel schlech-
Steinmeier hat nicht gesagt: Wenn ein Spielraum vor- ter reden, sondern sollten das Erreichte vielleicht einfach
handen ist, dann sind die Ausgaben im Einzelplan 23 zu einmal anerkennen. Ich habe gerade schon die Relation
erhöhen. – Insofern würde ich Frau Dr. Kofler bitten, die zu Ihren früheren Plänen genannt. Durch die heutige
Dinge vielleicht einmal in der Fraktion anzusprechen; Haushaltsrelation wird die steigende Bedeutung des
denn offenbar gibt es dort ein Koordinierungsproblem, Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Das soll nicht Ihre Entwicklung unterstrichen. Das Volumen des Gesamt-
Sorge sein!) haushalts, den wir in dieser Woche zu beschließen ha-
ben, sinkt deutlich um 4,3 Prozent auf 305,8 Milliarden
weil jetzt vorgeschlagen wird, man müsse das Geld zu- Euro. Das Volumen des Einzelplans 23 steigt dagegen
sätzlich ausgeben. Der Fraktionsvorsitzende hingegen deutlich auf 6,22 Milliarden Euro. Das heißt, das kompa-
– den habe ich bisher als relevant für die SPD angesehen – rative Gewicht wird deutlich größer. Wenn Sie ein biss-
hat vorgeschlagen: Wenn Spielräume vorhanden sind, chen ehrlich sind, sollten Sie das entsprechend anerken-
dann – das ist vernünftig – ist die Nettoneuverschuldung nen können.
zu reduzieren. – Jedenfalls geht es schon gar nicht, mor-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
gens zu verlangen, die Schulden müssten weiter herun-
Burkhard Lischka [SPD]: Sagen Sie doch mal
tergefahren werden, und abends zu verlangen, es solle
was zur ODA-Quote!)
mehr Geld ausgegeben werden. Das jeweils zu sagen,
nur um von jeweils anderen Beifall zu erheischen, ist Beim Verteilen von Kritik sind Sie ein bisschen pau-
nicht in Ordnung. Das lassen wir Ihnen natürlich nicht schal. Gerade haben wir gehört, dass wir den Globalen
durchgehen. Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Ma-
8152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Volkmar Klein
(A) laria ganz schlecht ausstatten. Schlechte Behandlung? jenseits von staatlichen Strukturen in den Regionen zu (C)
Nein. Für den Globalen Fonds sind im Haushaltsplan für stärken. Das ist notwendig, weil wir an vielen Stellen in
das Jahr 2011 200 Millionen Euro an Steuergeldern aus- den Ländern des Südens darauf achten müssen, die Bür-
gewiesen – wie auch in den Jahren 2008, 2009 und 2010. gergesellschaften zu stärken und nicht immer alles nur
Jetzt beklagen Sie, es gebe keine Verpflichtungsermäch- auf den Staat zu fokussieren. Es mag bei meiner Vorred-
tigungen für die Folgejahre. nerin vielleicht großen Anklang finden; aber Staatskapi-
talismus hat auch schon andere Staaten, inklusive in
(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Zu Recht! – Niema
Deutschland, zugrunde gerichtet. So etwas brauchen wir
Movassat [DIE LINKE]: Ja, so ist es!)
bei der Entwicklungshilfe nicht.
Auch für die Jahre 2008, 2009 und 2010 gab es keine Herzlichen Dank.
Verpflichtungsermächtigungen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Also hat sich gegenüber dem Verfahren von vor drei Jah- Priska Hinz spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
ren überhaupt nichts geändert. Deshalb brauchen Sie
sich jetzt auch nicht so aufzuregen. Glauben Sie mir:
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wenn unsere Bundeskanzlerin international etwas zu-
NEN):
sagt, dann findet das auch die angemessene Beachtung
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
in diesem Hause.
Klein, es war ja ganz nett, als Sie eben gemeint haben,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und die Opposition fordere nur und hole sich billig Beifall
der FDP – Priska Hinz [Herborn] [BÜND- ab. Aber wissen Sie: Es geht nicht nur darum, zu fordern
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein super Ar- – und uns schon einmal gar nicht –, sondern wir haben
gument!) auch Fantasie und Ideen – anscheinend im Gegensatz zu
Ihnen –, wie man das 0,7-Prozent-Ziel erreichen kann.
Lassen Sie mich noch ergänzen – Sie werden das jetzt
nicht gerne hören –: Wahrscheinlich ist es sogar sehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wichtig, dass wir uns einmal mit Rückfragen an den Glo-
Ihnen reicht schon, wenn der Haushalt stagniert. Das
balen Fonds wenden; denn er hat bisher Ausgaben in
verkaufen Sie hier als großen Erfolg.
Höhe von rund 1 Milliarde Dollar in der Volksrepublik
China zugesagt. Die Hälfte davon ist schon abgeflossen; (Zuruf von der CDU/CSU: Ist es ja auch!)
der Rest wird noch abfließen. Das heißt doch auf
(B) Herr Leibrecht sagt auch noch: Der Etat ist gewach- (D)
Deutsch, dass mit unseren Geldern auch Entwicklungs-
sen. – Das stimmt, er ist um 148 Millionen gewachsen,
hilfe in China bezahlt wird, mit Geldern, die dann in den
nämlich um das Geld, das aus dem Einzelplan 60 herü-
ärmeren Ländern, an die wir denken, wenn wir über den
bergeschoben wurde, durch die Erlöse aus den Goldver-
Globalen Fonds reden, nicht mehr zur Verfügung stehen.
käufen, die dem Internationalen Währungsfonds wieder
Wahrscheinlich haben wir mit unseren kritischen Rück-
erstattet werden müssen.
fragen mit dazu beigetragen, dass China künftig gar
keine Anträge beim Globalen Fonds mehr stellen wird (Harald Leibrecht [FDP]: Immerhin! Das ist
und dass in Zukunft sichergestellt ist, dass diese Gelder Steuergeld! Hart verdient!)
dort ankommen, wo sie richtig und gut aufgehoben sind.
Von daher ist es ein Nullsummenspiel. Es ist völlig egal,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ob das im Einzelplan 60 oder im Einzelplan 23 steht. Für
der FDP) Herrn Niebel bleibt kein Geld übrig, das er mehr für die
Entwicklungszusammenarbeit ausgeben kann. Das will
Bei allen berechtigten Reden über Geld: Gestern
ich hier doch einmal festhalten.
Abend war ich gemeinsam mit seiner Exzellenz dem
Botschafter von Tansania bei einer Veranstaltung. Er hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
dort gesagt: Durch Hilfe allein ist noch kein Land aus Harald Leibrecht [FDP]: Wie wollen Sie die
der Armut herausgekommen. – Da hat er recht. Wir 0,7 Prozent schaffen?)
brauchen eine sich selbst tragende Entwicklung; das ist
Die Lücke, um Ihre Zusagen und Ihre Koalitionsver-
dann auch nachhaltig. Wir brauchen eine wie auch im-
einbarungen einzuhalten, beträgt in diesem Jahr
mer ausgestaltete soziale Marktwirtschaft in den Län-
3,2 Milliarden Euro. So viel bräuchten wir im Einzelplan
dern. Wir brauchen Anstöße für die Privatwirtschaft, so-
23 und insgesamt im Bundeshaushalt mehr, um das Ziel
wohl hier als auch dort, Arbeitsplätze zu schaffen. Das
von 0,55 Prozent zu erreichen. Nur so könnte man den
ist die Philosophie des Ministers, und das ist auch gut so.
Pfad beschreiten, um im Jahr 2015 das 0,7-Prozent-Ziel
Wir haben in der Vergangenheit an vielen Stellen zu erreichen.
schon dazu beitragen können. Ich stelle mir hier noch
(Harald Leibrecht [FDP]: Hätten Sie das mal
Verstärkungen vor. Deswegen erfolgt auch die kleine
in den elf Jahren gemacht! Sie haben doch elf
Umschichtung der Mittel aus dem Titel „Bilaterale Fi-
Jahre nichts gemacht!)
nanzielle Zusammenarbeit“ in den Titel „Finanzielle Zu-
sammenarbeit mit Regionen“. Dadurch erhalten wir die Das wäre ein Pfad nach oben. Der Pfad, den Sie be-
Möglichkeit, mehr Initiativen für Mikrokredite auch schreiten, ist der Pfad nach unten. Sie wollen nämlich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8153
Priska Hinz (Herborn)
(A) nach dem Finanzplan im Entwicklungsbereich im Jahr und GTZ getroffen. Wir haben uns beiläufig erkundigt, (C)
2012 5 Prozent und im Jahr 2013 noch einmal 1,5 Pro- was aus den 300 Millionen Euro geworden ist, die Bun-
zent einsparen. Angefangen haben Sie damit, dass Sie deskanzler Kohl seinerzeit zur Verfügung gestellt hat.
die Verpflichtungsermächtigungen um 200 Millionen Daraufhin hat uns der junge Vertreter der GTZ wörtlich
Euro gekürzt haben. Das spricht doch Bände. gesagt, wenn sie Bock hätten, würden sie dem dem-
nächst nachgehen. Es gab dann erhebliche Unruhe bei
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der GTZ. Ich habe mir dann im Haushaltsausschuss er-
sowie bei Abgeordneten der SPD) laubt, die damals zuständige Ministerin danach zu fra-
Herr Klein, Sie sagen, wenn die Kanzlerin etwas ver- gen. Als Antwort habe ich einen Besinnungsaufsatz be-
spricht, sei klar, dass sie das einhalte. In Kopenhagen kommen, aber zu der Frage, was konkret mit den
wurden – ohne Verrechnung mit Klimaschutzmitteln – 300 Millionen Euro bewirkt worden ist, kam gar nichts.
420 Millionen Euro mehr zugesagt. Nichts davon ist im
Die Aufgabe gerade von Haushältern – dazu gehören
Einzelplan 23 eingestellt. Sie haben selbst die
auch Sie seit einiger Zeit – ist es, darauf zu dringen, dass
35 Millionen Euro, die für 2010 vorhanden waren, er-
mit den zur Verfügung gestellten Mitteln effektiv etwas
satzlos gestrichen. – So viel zu Ihrer Kanzlerin und de-
bewegt wird. Wenn Minister Niebel jetzt seine Institutio-
ren Zusagen.
nen umbaut, um dieses Ziel zu erreichen, dann ist das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, auch im Sinne von uns Haushältern eine gute Haushalts-
bei der SPD und der LINKEN – Harald politik.
Leibrecht [FDP]: Sie haben elf Jahre Zeit ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
habt!)
Niema Movassat [DIE LINKE]: Was war Ihre
Nein, meine Damen und Herren, Sie müssten sich ei- Frage?)
gentlich auf den grünen ODA-Pfad begeben. Wir haben
nämlich einen Plan vorgelegt, wie man die Lücke von Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
3,2 Milliarden Euro in diesem Jahr mit mehr Barmitteln, NEN):
mit zusätzlichen Förderkrediten der KfW und mit zins-
Herr Schirmbeck, es ist gut, dass Sie diese Frage ge-
subventionierten Krediten schließen könnte. Man
stellt haben. Selbstverständlich wollen wir, dass die Mit-
braucht nicht alle Haushaltsmittel als Barmittel. Wir wa-
tel wirksam ausgegeben werden. Das ist völlig klar. Wir
ren kreativ. Natürlich kann man zinsverbilligte Kredite
wollen auch nicht, dass irgendwo Bauruinen in die
gewähren; man kann über die KfW Förderkredite verge-
Landschaft gepflanzt werden und man sich nach zehn
ben. Das würde auch die selbsttragenden Strukturen in
oder 20 Jahren fragt, wofür das Geld eigentlich ausgege-
(B) den Entwicklungsländern stärken. Ich wundere mich, ben wurde. Darin sind wir uns völlig einig. (D)
dass die FDP nicht mit uns auf diesem Pfad geht. Sie
sind doch der Meinung, die Privatwirtschaft müsse ge- Aber wir wissen: Wir brauchen Geld für die Armuts-
stärkt werden. Über solche Wege könnte man die Privat- bekämpfung. Die 1,9 Milliarden Euro an Förderkrediten
wirtschaft in den Entwicklungsländern stärken, und dann und zinssubventionierten Krediten, wie ich es eben vor-
könnten wir uns mit den Barmitteln darauf konzentrie- geschlagen habe, hätten zur Folge, dass die Gelder in
ren, die Armutsbekämpfung in den Ländern voranzutrei- den Entwicklungsländern sehr effizient eingesetzt wer-
ben, die wirklich auf diese Zuschüsse angewiesen sind. den müssen, weil die Kredite zurückzuzahlen sind. Es ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sinnvoll, auch das Eigeninteresse von Entwicklungslän-
dern zu wecken, die schon eine bestimmte wirtschaftli-
che Schwelle erreicht haben, damit sie selbsttragende
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Strukturen mit entwickeln, und dabei durch Beratung
Frau Hinz, Herr Schirmbeck würde Ihnen gern eine und Anschubfinanzierung Hilfestellung zu leisten. Ge-
Zwischenfrage stellen. Wollen Sie sie zulassen? rade deshalb hätten Sie unserem Antrag zustimmen kön-
nen. Das hätte mehr Geld für die Entwicklungszusam-
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- menarbeit bedeutet, und das Geld wäre effizient
NEN): eingesetzt. Aber nicht einmal das wollten Sie machen,
Bitte schön, gerne. Herr Kollege Schirmbeck.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Georg Schirmbeck (CDU/CSU): sowie bei Abgeordneten der SPD – Georg
Verehrte Frau Kollegin, Sie betreiben das Spiel aller Schirmbeck [CDU/CSU]: Wir sollten uns mal
Oppositionsabgeordneten – vielleicht muss das so sein, zum Kaffee treffen und das diskutieren!)
auch wenn ich anderer Meinung bin –, indem Sie den
Eindruck erwecken, wir könnten mit immer mehr Geld Ein anderer Punkt, den ich noch ansprechen möchte,
irgendwo tätig werden. Sind Sie nicht mit mir einer Mei- sorgt ebenfalls immer wieder für Erregung. Ich hatte
nung, dass wir uns fragen müssen, wie wir die vorhande- mich eigentlich gefreut, Herr Minister Niebel, dass Sie
nen Mittel effizienter einsetzen können und dass man in sich so stark für den Global Fund eingesetzt und sozu-
Teilen mit weniger Geld mehr machen kann? sagen ordentlich gebrüllt haben, nach dem Motto: Ich
kann das Geld nicht allein aus meinem eigenen Etat auf-
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Eine Delegation des bringen und brauche über den Plafond, den mir der Fi-
Haushaltsausschusses hat in Brasilien Vertreter von KfW nanzminister zugesteht, hinaus auch für die nächsten
8154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Priska Hinz (Herborn)


(A) Jahre einen entsprechenden Aufwuchs. – Daraus ist aber tung der internationalen wirtschaftlichen Zusammenar- (C)
leider nichts geworden. Die 200 Millionen, die für 2011 beit als Anteil am Bundeshaushalt gestiegen. Darüber
zur Verfügung stehen, waren nämlich schon im Entwurf sollten wir uns alle freuen.
enthalten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Zuruf des Abg. Harald Leibrecht [FDP])
Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass nicht
– Die standen im Entwurf, Herr Kollege Leibrecht. Es ist alle Wünsche der Entwicklungspolitiker der christlich-
nichts hinzugekommen. liberalen Koalition in Erfüllung gegangen sind. Aber
diese Leistung verdient unseren Dank an die Haushalts-
Es geht jetzt um die zusätzlichen Mittel für die Jahre kollegen, an den Bundesminister Niebel und auch an den
2012 und 2013, die zugesagt worden sind. Diese Zusa- Bundesminister der Finanzen.
gen müssen eingehalten werden. Insofern wäre es not-
wendig gewesen, die Verpflichtungsermächtigungen in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
den Haushalt aufzunehmen, der FDP)
(Harald Leibrecht [FDP]: Das hat man früher Wir sind bereit, Verantwortung mitzutragen, Verant-
auch nicht gemacht!) wortung für diesen Haushalt und dafür, dass Deutsch-
land stark bleibt. So werden wir nämlich von den Län-
damit der Haushaltsausschuss dem Finanzminister ge-
dern gesehen, die mit uns zusammenarbeiten und die es
genüber deutlich sagt: Diese Gelder wollen wir schon im
vielleicht noch viel mehr möchten.
Haushaltsplanentwurf für 2012 sehen. – Wir unterstüt-
zen den Entwicklungsminister. Aber leider hat die Koali- Mit einer Schulklasse hatte ich eine interessante Dis-
tion gekniffen. Sie hätten unserem Antrag gerne zustim- kussion. Die Schüler sehen ihre Probleme, die Probleme
men können. ihrer Eltern und fragen, warum wir so viel Geld in ande-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ren Ländern ausgeben. Es ist wichtig, dass wir den Schü-
SES 90/DIE GRÜNEN – Harald Leibrecht lern eine verständliche Antwort geben und auch der Öf-
[FDP]: Da haben Sie aber gerade nicht zuge- fentlichkeit gegenüber die guten Argumente äußern.
hört!) Wir geben in erster Linie Hilfe, weil es unsere Mit-
Ich möchte noch einen allerletzten Punkt ansprechen. menschlichkeit gebietet, wir eine funktionierende
Herr Schirmbeck, Sie haben recht: Die Durchführungs- Volkswirtschaft haben und weil wir zu den wenigen Län-
organisationen müssen fusionieren. Wir brauchen mehr dern gehören, die Hilfe geben können. Tausende von
(B) Steuerung im Ministerium, und die Durchführung muss Deutschen engagieren sich in dieser Hilfe und nehmen (D)
bei den Vorfeldorganisationen liegen. Man kann aber dabei auch Risiko auf sich. Wir wollen sie bei dieser Ar-
nicht 500 Stellen streichen und gleichzeitig die Lei- beit unterstützen.
tungsebene auf sieben Stellen verbreitern, für die nur Bittere Armut kann sich ökologische Überlegungen
Männer qualifiziert sind. Das wird mit uns nicht funktio- nicht leisten. Ob Bäume fallen oder Tiere sterben müs-
nieren. Ich sage Ihnen ganz klar: Das machen wir nicht sen, wird nicht nach den Gesichtspunkten der Biodiver-
mit. sität entschieden, sondern danach, wie die nächsten Tage
Danke schön. überstanden werden können. Entwicklungszusammenar-
beit und Umweltschutz bilden für uns Schwerpunkte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
bei der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD]) (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das merkt man an
dem Haushalt!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bittere Armut kann sich auch Heimatliebe nicht mehr
Johannes Selle hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion leisten. Die Menschen verlassen ohne Perspektive ihre
das Wort. Länder und suchen ihr Glück in der Ferne. Perspektiven
in der Heimat stabilisieren und schaffen mehr Sicherheit.
Wir unterstützen eine wirtschaftliche Entwicklung, die
Johannes Selle (CDU/CSU): auf eigenen Füßen stehen kann. Das bedeutet, dass uns
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! jedes entstehende Pflänzchen freier und selbstständiger
In den letzten Wochen, aber ganz besonders in dieser wirtschaftlicher Betätigung wichtig ist.
Woche haben wir über die Bedeutung des Sparens ge-
sprochen. Konsolidierung bleibt eine Verpflichtung der Wir begehen in diesen Tagen viele Feiern der Unab-
jeweiligen Regierungsparteien; aber es ist ein Marken- hängigkeit. Zur politischen Unabhängigkeit muss mehr
zeichen der CDU/CSU und der FDP. und mehr auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit
kommen. Im Übrigen würden die Unternehmen in pros-
Am vorliegenden Einzelplan 23 kann man erkennen, perierenden Staaten auch zunehmend Kunden der deut-
dass wir die Nöte dieser Welt sehen, dass sie uns nicht schen Wirtschaft werden.
gleichgültig sind und wir eben nicht an unserer Verant-
wortung sparen. Mit dem Bundeshaushalt 2011 werden Das sind nicht nur für Schüler überzeugende Argu-
gegenüber 2010 circa 13 Milliarden Euro eingespart, mente für eine konsequente, effiziente, ökologisch und
aber der Einzelplan legt zu. So gesehen ist die Bedeu- wirtschaftlich ausgerichtete Unterstützung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8155
Johannes Selle
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Zuruf von der SPD: Welche denn?) (C)
Dr. Sascha Raabe [SPD]: Schleppender Ap-
plaus!) Die KfW macht dazu sehr interessante Vorschläge; die
kennen alle Fraktionen.
Gerade die selbstständig wachsende Wirtschaft in un-
seren Partnerländern erreichen wir nicht ohne Experten. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das ist nicht mehr
Diese Experten finden sich in deutschen Unternehmen. Geld! Das ist nur eine andere Verteilung!)
Es gibt so viele gute Ideen des Mittelstandes, die in den – Es kommt auf die ODA-Quote an, Frau Dr. Kofler. –
Partnerländern dringend gebraucht werden. Hier setzt Wie gesagt, die KfW macht dazu sehr interessante Vor-
der Bundesminister Niebel einen richtigen Akzent in schläge; die kennen Sie. Auf ein solches Know-how
diesem Haushalt; denn wirtschaftliche Zusammenarbeit können und sollten wir nicht verzichten. Ich werbe je-
schließt sinnvollerweise die Wirtschaft ein und nicht aus. denfalls dafür. Ich vermute – das erlebe ich schon jetzt –,
Der Antrag der Grünen enthält Vorschläge dazu, wie dass die Opposition bei den innovativen Finanzierungs-
einzelne Titel im Einzelplan 23 erhöht werden sollen. Da instrumenten eine Menge Diskussionsstoff entdecken
Sie das innerhalb der Struktur des von uns vorgelegten wird.
Haushalts tun, erlaube ich mir die Folgerung, dass die Multilaterale Ansätze in der Entwicklungszusammen-
Grünen die von uns gesetzten Schwerpunkte für richtig arbeit sind nicht immer effizient. Sie entkoppeln von der
halten. Es ist das Recht der Opposition, immer ein biss- direkt kontrollierbaren Effizienz und Verantwortung.
chen mehr zu fordern. Nur bei einem einzigen Titel Deshalb unterstützen wir den Bundesminister darin, die
schlagen die Grünen eine Verringerung vor, nämlich bei bilaterale Zusammenarbeit zu stärken. In der bilatera-
Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft. Alles len Zusammenarbeit können eigene Schwerpunkte ge-
scheint gut zu sein, wenn es nicht wirtschaftlich ist. setzt werden. Dass wir dies verstärkt tun, hoffen viele
Länder. Sie halten uns für fair sowie ökologisch und
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
technologisch für beispielhaft. In der Tat sollten wir
GRÜNEN]: Ich habe doch gerade das Gegen-
noch viel mehr Mut zu enger Partnerschaft haben und
teil erklärt!)
vielleicht ein eigenes, unverwechselbares Modell wirt-
Das würde noch nicht einmal auf Schüler überzeugend schaftlichen Aufschwungs schaffen. Das könnte zusätz-
wirken. liche Kräfte und Investitionsbereitschaft in unserer Ge-
sellschaft freisetzen, eine Aufbruchstimmung im
Gestern hatten die GTZ und PlaNet Finance eingela- Empfängerland erzeugen und einen Wettbewerb der
den, um über Kundenschutz und soziale Verantwortung Ideen auf internationaler Ebene auslösen.
(B) zu diskutieren. In den Mittelpunkt der Diskussion geriet, (D)
dass sich Mikrokredite so erfolgreich entwickeln, dass Ein erfolgreiches Modell multilateraler Zusammenar-
plötzlich reichlich privates Kapital zur Verfügung steht, beit ist der Global Fund zur Bekämpfung von Aids, Tu-
nicht mehr sorgfältig gearbeitet wird und der Kredit zur berkulose und Malaria. Er hat sich bewährt. Seine Hilfe
Katastrophe für den Kleinkunden werden kann. Dabei ist kommt bei den Menschen an. Deutschland hat seine Ver-
ganz offenkundig: Jemanden bei einer guten geschäft- pflichtungen erfüllt. Im Haushalt sind wieder 200 Mil-
lichen Idee mit einem Kleinkredit zu unterstützen, so- lionen Euro für das nächste Jahr eingestellt. Wir wollen
dass er für sich und andere Arbeitsplätze schaffen kann, diese bewährte Zusammenarbeit weiter auf hohem Ni-
ist Kern der Entwicklungszusammenarbeit. So etwas ist veau unterstützen. Verpflichtungsermächtigungen für
sogar in Deutschland notwendig. Hier bedarf es einer Folgejahre können das unterstreichen. Fehlende Ver-
eingehenden Analyse des Kunden und des geplanten Ge- pflichtungsermächtigungen berechtigen nicht zur Folge-
schäftes. Das ist personalintensiv und damit auch kos- rung, dass wir das nicht tun. Eine langfristige Investi-
tenintensiv. Genau an dieser Stelle muss Förderung ein- tionssicherheit an dieser Stelle ist nicht erforderlich. Ich
setzen. Der Einzelplan 23 tut dies mit einer deutlichen weiß, dass die Damen und Herren der Opposition es
Erhöhung. Das ist der richtige Weg. zwar nicht wollen, aber ich fordere sie trotzdem auf, dem
Wort der Bundeskanzlerin zu trauen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Einzelplan 23 weist einen der höchsten Beträge
Entwicklungszusammenarbeit darf eigentlich kein aus, die es je gab. Deutschland bleibt einer der größten
Feld ideologischer Auseinandersetzung sein; so ist es Geber weltweit. Diesen Ansatz können wir alle mit gu-
dankenswerterweise oft. Ich halte nichts davon, bei der ten Argumenten vertreten. CDU/CSU und FDP stehen
ODA-Quote anders zu verfahren. Alle Fraktionen wol- für ein wirtschaftlich starkes Deutschland. Deshalb kann
len es. Die Kanzlerin bekennt sich dazu, erneut am sich die Welt weiterhin auf unsere Hilfsbereitschaft ver-
21. September in New York. Damit haben wir ein ge- lassen.
meinsames Ziel. Von einem Ziel kann man noch entfernt
sein. Aber wichtig ist, dass es unser Ziel bleibt. In dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
finanziell belasteten Zeit ist das nicht mit einem Ruck zu
schaffen. Die fehlenden 4,5 Milliarden Euro sind nicht Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
einfach durch Barmittel darstellbar. Es müssen auch Der Kollege Dr. Sascha Raabe hat jetzt das Wort für
nicht Barmittel des Bundeshaushaltes allein sein. Auch die SPD-Fraktion.
in diesem Zusammenhang dürfen innovative Finanzie-
rungsinstrumente eine stärkere Rolle spielen. (Beifall bei der SPD)
8156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

(A) Dr. Sascha Raabe (SPD): drei auf sieben erhöht. Einer kostet etwa 500 000 Euro (C)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen im Jahr.
und Kollegen! Ich habe seit 2002 im Deutschen Bundes- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)
tag schon viele kuriose Sätze gehört. Aber der Satz von
Volkmar Klein toppt vieles. Er sagte: Wenn die Kanzlerin Sie blähen den Verwaltungsapparat auf, indem Sie Spit-
international etwas zusagt, dann hält sie es auch. – Ich zenposten schaffen. Der Fisch stinkt vom Kopf her. Das
war erst vor wenigen Wochen mit der Bundeskanzlerin werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
auf der Millenniumskonferenz in New York, wo es da- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
rum ging, zu überprüfen, wie die Staaten dieser Erde ihre des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Versprechen einhalten. Die Kanzlerin hatte die Chuzpe, Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Kannst du
dort in die Bütt zu steigen und zu sagen: Wir stehen zum mal runterkommen vom Baum?)
0,7-Prozent-Ziel. – Gleichzeitig legt der Entwicklungs-
minister, gedeckt von der Bundeskanzlerin, einen Haus- Dann kommt hinzu, dass Sie, Herr Minister Niebel,
halt vor, mit dem sie dieses Versprechen eiskalt bricht, elf Spitzenkräfte ausgewählt haben, die eine reine Män-
weil sie die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit nerfußballmannschaft bilden. Alle vier Abteilungsleiter
bis 2014 reduzieren will. Das ist ein Skandal. Wer die in Ihrem Haus sind männlich, und alle sieben neuen Ge-
Weltöffentlichkeit so belügt, sollte nicht glauben, dass er schäftsführer sind männlich. Dass Sie keine Frau sind,
damit hier im deutschen Parlament durchkommt. kann man Ihnen nicht vorwerfen,

(Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/ (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Du auch
CSU]: Das mit dem Lügen nehmen Sie zu- nicht!)
rück!) aber wenn Sie glaubwürdig in den Entwicklungsländern
für Gender-Mainstreaming und Gleichstellung der Frau
Sehr geehrter Herr Kollege Klein, Sie haben in Ihrer werben wollen, dann müssen Sie mit gutem Beispiel vo-
Rede gesagt, die damalige Entwicklungsministerin Heidi rangehen. Wir können unseren Partnerländern nicht sa-
Wieczorek-Zeul von der Sozialdemokratischen Partei gen, sie müssten mehr Frauen beteiligen, aber in der ei-
habe die Mittel nicht erhöht. Ihnen ist wohl entgangen, genen Verwaltung alle Spitzenpositionen nur mit
dass die Ministerin 2008 und 2009 auch in der Großen Männern besetzen.
Koalition den Etat um 641 Millionen Euro bzw. 680 Mil-
lionen Euro – also jeweils um 13 bzw. 14 Prozent – ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
steigert hat, DIE GRÜNEN sowie der Abg. Inge Höger
[DIE LINKE])
(B) (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Du hast (D)
überhaupt nichts kapiert!) Es ist nicht nur die Quantität, die in diesem Haushalt
nicht stimmt, sondern es ist auch die Qualität. Der Peer
während Sie in diesem Jahr faktisch einen Nullaufwuchs Review des DAC, des Entwicklungsausschusses der
zu verantworten haben. Als wir in Verantwortung waren, OECD, hat klar festgestellt, dass die Verteilung der Ent-
haben wir zum ODA-Stufenplan gestanden; Sie aber wicklungshilfe, die Sie im Koalitionsvertrag festge-
brechen die Zusage. Wir lassen nicht zu, dass das durch schrieben haben – zwei Drittel bilateral, nur ein Drittel
eine solche Geschichtsklitterung, wie Sie sie betreiben, multilateral –, falsch ist.
verdeckt wird. Übersetzt heißt das: Sie wollen künftig nicht mehr
(Beifall bei der SPD – Dr. Christian Ruck [CDU/ eine im Hinblick auf internationale Töpfe wie den Glo-
CSU]: Mir kommen die Tränen!) bal Fund – davon war schon die Rede – abgestimmte
Entwicklungspolitik betreiben, sondern Sie wollen auf
Sehr geehrter Herr Kollege Klein, Sie haben die Zah- viele kleinteilige Projekte deutsche Fahnen setzen. Sie
len angesprochen, die die SPD und die jetzige Opposi- brechen damit den internationalen Konsens, für mehr Ef-
tion damals in den Haushaltsplänen gehabt haben. Ich fizienz und Effektivität zu sorgen. Klar ist doch: Wir
habe mir angeschaut, was die FDP zum Haushalt 2009 überfordern unsere Partnerländer, wenn wir deren Minis-
beantragt hat. Sie wollten das Entwicklungsministe- terien jedes Mal mit hundert ausländischen Missionen
rium komplett abschaffen. Das ist bekannt. Der, der es aufsuchen, anstatt gemeinsam zu handeln. Auch dort
abschaffen wollte, ist jetzt Entwicklungsminister. Ich stimmt die Qualität nicht. Auch deswegen lehnen wir Ih-
verweise auf Ihre Anträge zum Haushalt 2009, die in Ih- ren Haushalt ab, Herr Minister.
rem glorreichen sogenannten Sparbuch niedergelegt
(Beifall bei der SPD – Dr. Christian Ruck [CDU/
sind. Sie wollten im Haushaltstitel 421 01 die Bezüge
CSU]: Das überrascht mich nicht!)
der Parlamentarischen Staatssekretärin mit der Begrün-
dung streichen, der geringere Ansatz ergebe sich aus der Im DAC Peer Review wird auch kritisiert, dass mit
Einsparung einer Staatssekretärin. Diese Einsparung Ihrer neuen inhaltlichen Ausrichtung die große Gefahr
diene der Entlastung der Bürger. Was haben Sie ge- verbunden ist, dass die Außenwirtschaftsförderung ent-
macht, als Sie das Ministerium übernommen haben? Sie wicklungspolitischen Fragestellungen und Zielsetzungen
haben die Staatssekretärsposten behalten, sie mit Partei- übergeordnet ist. Dazu passt in der Tat das von Ihnen er-
soldaten besetzt und die Stellen für Abteilungsleiter von arbeitete neue Rohstoffkonzept. Darin bringen die Bun-
drei auf vier erhöht. Bei der neuen Durchführungsorga- desregierung und der Entwicklungsminister zum Aus-
nisation GIZ haben Sie die Zahl der Geschäftsführer von druck, dass bei der Auswahl der Partnerländer, also
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8157
Dr. Sascha Raabe
(A) derjenigen Länder, mit denen wir Entwicklungszusam- Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): (C)
menarbeit betreiben, ein ganz entscheidendes Kriterium Herr Kollege, zu Ihren Bemerkungen, was den Vertei-
die Rohstoffsicherung Deutschlands sein soll. Ich sage: digungsminister angeht und was die Konzepte zum
Wir müssen bei der Auswahl der Partnerländer in erster Thema Rohstoffe und die Weißbücher angeht: Sind Sie
Linie darauf schauen: Wo ist der Hunger am größten? bereit, zur Kenntnis zu nehmen – notfalls stelle ich Ihnen
Wo ist die Armut am größten? Wo ist die Not am größ- die entsprechenden Materialien zur Verfügung –, dass
ten? Da müssen wir helfen. Wir dürfen nicht danach ge- unter sozialdemokratischen Verteidigungsministern und
hen, wie wir der deutschen Industrie am besten Roh- zu Zeiten einer Koalition, der Sie angehört haben, in den
stoffe sichern können. Dieses Ziel müssen wir auf Weißbüchern genau die gleichen Formulierungen ge-
anderen Politikfeldern verfolgen. Die Ärmsten der Ar- standen haben?
men dürfen nicht in diese Richtung instrumentalisiert
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
werden.
der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Raabe zur Erwiderung.
Dazu passt, dass Verteidigungsminister Guttenberg
auf einmal ebenfalls sagt – das ist sehr bedenklich –,
Dr. Sascha Raabe (SPD):
dass er die Verteidigungspolitik in Zukunft auch danach
ausrichten möchte, wie und wo deutsche Rohstoffe gesi- Ich stelle nur fest, dass Bundespräsident Köhler Aus-
chert werden können. Ein ganz gefährliches Zusammen- sagen gemacht hat,
spiel in der neuen Regierung ist, dass Entwicklungszu- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Weich nicht
sammenarbeit militarisiert wird. In Afghanistan haben aus! Das war eine konkrete Frage!)
Sie auch den NGOs gesagt: Es gibt nur noch dann Geld,
wenn ihr mit der Bundeswehr kooperiert. Herr Niebel, in denen er Rohstoffsicherung in einen Zusammenhang
Ihre Militärmütze, die Sie in Entwicklungsländern auf- mit militärischer Absicherung gestellt hat. Er hat das
ziehen, ist einfach nur peinlich – darüber kann man noch aber bedauert, weil das missverständlich war; er habe es
lachen –; aber dass Sie die Entwicklungszusammenar- nicht so gemeint. Herr Guttenberg hat seine Aussagen,
beit jetzt an Rohstoffinteressen und an militärischen In- dass er das Militär einsetzen möchte, um unsere Roh-
teressen ausrichten, das ist gefährlich. Dem werden wir stoffe zu sichern, ausdrücklich betont und immer wieder
Einhalt gebieten, und wir werden diesen Haushalt ableh- bekräftigt. Ich frage mich, warum ein Bundespräsident
nen. zurücktritt, nachdem er sich falsch verstanden gefühlt
hat, weil er etwas so nicht gemeint hat, während ein Ver-
(B) (D)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) teidigungsminister hier in Deutschland in der Öffent-
lichkeit damit durchkommt, dass er das, was im Grund-
gesetz überhaupt nicht vorgesehen ist, nämlich den
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Einsatz deutscher Soldaten zur Rohstoffsicherung, nun
Herr Raabe, ich werde Sie jetzt nicht fragen, ob Sie zur Maxime dieser Regierung erhebt. Ich finde, der
eine Zwischenfrage zulassen, weil Sie Ihre Redezeit Bundesverteidigungsminister hätte genauso konsequent
schon deutlich überschritten haben. sein müssen und die gleichen Konsequenzen wie der
Bundespräsident ziehen müssen. Das wäre richtig gewe-
Dr. Sascha Raabe (SPD):
sen. Andernfalls hätte er seine Aussage zurücknehmen
müssen. Beides hat er nicht getan.
Ich hätte sie sehr gerne zugelassen, weil ich eine Zwi-
schenfrage von Herrn Koppelin immer gerne beant- (Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Jürgen
worte. Koppelin [FDP]: Setzen, Fünf!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat der Bundesminister Dirk Niebel.
Das kann ich mir vorstellen. Nichtsdestotrotz ist Ihre
Redezeit zu Ende. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-


Dr. Sascha Raabe (SPD):
sammenarbeit und Entwicklung:
Gut. Dann ersparen wir uns die Zwischenfrage von Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
Herrn Koppelin. Damit bin ich einverstanden. und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich ganz
herzlich bei den Berichterstattern, insbesondere bei der
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Hauptberichterstatterin, Frau Hinz, für den Einzelplan 23
(Beifall bei der SPD) für die kollegiale Zusammenarbeit bedanken, was ja
nicht immer selbstverständlich ist, wenn die Hauptbe-
richterstattung bei der Opposition angesiedelt ist. Ich
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: möchte mich auch ausdrücklich beim gesamten Haus-
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem haltsausschuss und bei den Kollegen des Fachausschus-
Kollegen Koppelin. ses für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken, die
8158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Bundesminister Dirk Niebel


(A) natürlich den einen oder anderen inhaltlichen Dissens – Ich würde Ihre Frage gern beantworten, Herr Raabe, (C)
mit sich bringt. falls es Sie denn überhaupt interessiert. – 1 Million Euro
sind zusätzliche Mittel für Bildung, und das andere sind
Ich erlaube mir, bei allem, was ich hier schon gehört tatsächlich Erlöse aus Goldverkäufen, die dem Interna-
habe, noch einmal festzustellen: Es ist mit 6,22 Milliar- tionalen Währungsfonds für Entwicklungskredite zur
den Euro der größte Etat dieses Einzelplans, den es je- Verfügung gestellt werden, durch die wichtige Projekte
mals gab. In Zeiten der Schuldenbremse gab es einen in den Partnerländern finanziert werden und die den
Zuwachs von 148 Millionen Euro. Menschen tatsächlich helfen. Ich gehe davon aus, dass
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ihre Frage dadurch hinreichend beantwortet worden ist.

Das zeigt ganz deutlich, dass dieser Bundesregierung die Unabhängig davon ist dieser Etat aber auch ein ganz
Zusammenarbeit mit der internationalen Staatengemein- besonderer, nicht nur wegen der Höhe, sondern er gilt
schaft wichtig ist. Sie macht damit deutlich, dass dieser für das 50. Jahr des Bestehens des Bundesministeriums
Investitionsetat auch tatsächlich genutzt wird, um den für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,
das wir im nächsten Jahr feiern können.
Menschen in dieser Welt zu helfen.
(Niema Movassat [DIE LINKE]: Wollen wir
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: abschaffen!)
Herr Minister, möchten Sie eine Frage des Kollege – Sie können mir eine Zwischenfrage stellen, dann be-
Raabe zulassen? antworte ich Ihnen die sofort; aber so lange läuft die Uhr
noch. – Wir werden das im nächsten Jahr nicht nur fei-
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu- ern, sondern wir haben mit diesem Etat das erste Mal
sammenarbeit und Entwicklung: vom deutschen Parlament die Chance bekommen, ab
Ich wundere mich, dass sie so früh kommt, aber ich dem nächsten Jahr auch eine qualitativ deutlich hoch-
wertigere Entwicklungspolitik gestalten zu können. Das
freue mich darüber.
ist übrigens auch der Grund, meine lieben Kollegen von
der linken Seite des Hauses, weshalb Sie mich in aller
Dr. Sascha Raabe (SPD): Regel – außer bei vergangenheitsbezogenen Diskussio-
Herr Minister Niebel, Sie sprechen von 148 Millionen nen – nicht von Entwicklungshilfe sprechen hören. Ent-
Euro Zuwachs in diesem Etat. Ist Ihnen bekannt – das wicklungshilfe der Vergangenheit hat Abhängigkeiten
wissen Sie bestimmt –, dass die Gesellschaft für Techni- gefördert. Wir reden von Entwicklungskooperation, Ent-
sche Zusammenarbeit selbst schreibt, dass diese wicklungspartnerschaften und Entwicklungspolitik.
148 Millionen Euro im Prinzip eine reine Verschiebung
(B) aus einem anderen Einzelplan, eine Luftbuchung dahin (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D)
gehend sind, dass es keine Programmfinanzierung ist? Die finanziellen Voraussetzungen für die neue Struk-
Und sind Sie bereit, hier zuzugeben, dass mit diesen tur der staatlichen Entwicklungskooperation sind mit
148 Millionen Euro, die Sie jetzt stolz anführen, nicht diesem Haushalt geschaffen worden. Das bedeutet: Die
ein einziges Entwicklungsprojekt konkret vor Ort finan- Abstimmung über diesen Einzelplan 23 ist auch eine
ziert wird, sondern dass es allein eine Sache ist, den Abstimmung über die Reform der deutschen Entwick-
Haushalt optisch gut aussehen zu lassen? Ich kann Ihnen lungspolitik. Da bin ich ganz gespannt auf Ihr Abstim-
das auch gerne aus der entsprechenden GTZ-Stellung- mungsverhalten.
nahme vorlesen. Darin heißt es:
Der Haushaltsausschuss hat mit seinem Grundsatzbe-
Rein optisch wächst der Etat sogar um knapp schluss auch das Fundament für die notwendige Perso-
150 Millionen Euro Barmittel auf 6,2 Milliarden nalausstattung gelegt, um die Steuerungsfähigkeit der
Euro. Hier handelt es sich allerdings nur um eine Politik gegenüber den Durchführungsorganisationen zu-
Übernahme von Ausgaben, die bisher direkt aus rückzugewinnen. Das ist überhaupt die Kernaufgabe des
dem Etat der allgemeinen Finanzverwaltung, Koalitionsvertrages und des Kabinettsbeschlusses vom
Einzelplan 60, übernommen wurden. Es handelt 7. Juli dieses Jahres; die Rückgewinnung der Steue-
sich nicht um Programmtitel. rungsfähigkeit der Politik der Bundesregierung gegen-
über den Durchführungsorganisationen. Das ist eine
Das sagt nicht die SPD, das sagt die GTZ. Vielleicht Aufgabe, die jedem hier im Haus wichtig sein muss.
glauben Sie es der wenigstens.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu- Es ist natürlich leicht, das alte Schema zu benutzen:
sammenarbeit und Entwicklung: erst einmal skandalisieren und dann hinterher sehen, was
Herr Kollege Raabe, ich bin nicht bereit, das zuzuge- daraus wird. Ich hatte schon gedacht, dass die Rede von
stehen, aber das, was Sie sagen, zeigt zweierlei: erstens Frau Hänsel bemerkenswert wäre; aber da ist wenigstens
Ihre Quotengläubigkeit und zweitens Ihre GTZ-Hörig- noch ein Kern von Ideologie festzustellen gewesen. Ein
keit. so hohes Maß an Schlichtheit der Einlassungen des Kol-
legen Raabe hätte ich in diesem Hause aber nicht erwartet.
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
CDU/CSU – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Das ist (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
doch Ihr eigenes Haus, das haben Sie nicht im Dr. Sascha Raabe [SPD]: Kriegen Sie erst mal
Griff!) die GTZ in den Griff!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8159
Bundesminister Dirk Niebel
(A) Fakt ist, dass mit dieser Reform, mit all den Vorschlä- und InWEnt, dass sie nicht von der Alt-GTZ dann doch (C)
gen, die wir gemacht haben, nicht nur die Steuerungsfä- womöglich feindlich übernommen werden. Die Steue-
higkeit der Bundesregierung wiederhergestellt wird, son- rungsfähigkeit der Bundesregierung wird für einen
dern, obwohl das nur Nebenziele sind, auch die Effizienz Übergangszeitraum von 2011 bis 2012 durch zwei vom
der Entwicklungskooperation gestärkt und zusätzlich Bund zu entsendende Bereichsvorstände gestärkt. Es
noch Geld gespart wird. bleibt also bei der Gesamtzahl sieben bei deutlich abge-
senkter Einkommenshöhe.
Man kann sich große Buchstaben anschauen und dann
aus den Überschriften herauslesen, wie viel Furchtbares Von Einsparungen in Höhe von 2,146 Millionen Euro
von diesem Minister gemacht wird. Wenn man dann das im Jahr spricht das Wirtschaftlichkeitsgutachten, das Ih-
zweite Mal hinschaut, stellt man fest: Im Haushaltsplan nen lange vor den Haushaltsberatungen vorgelegen hat
des Bundes für das BMZ werden 700 Stellen am 31. De-
zember dieses Jahres entfallen. 200 werden im Laufe der (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
Fusion umgewidmet – dafür hat der Haushaltsausschuss GRÜNEN]: Eine Woche vor der Bereini-
die Voraussetzungen geschaffen –, um die Steuerungsfä- gungssitzung!)
higkeit zu erhöhen. 500 Stellen netto werden somit im und von BMF und Bundesrechnungshof in diesem Punkt
Haushalt des Bundes entfallen sein. nicht angegriffen wurde.
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Aha! Hört! Hört!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Darüber hinaus kann man, wie Frau Kollegin Hinz
Ich unterbreche Sie ja immer erst, wenn Sie einen
und Sie, Herr Raabe, es gemacht haben, kritisieren, dass
Punkt machen. Deswegen jetzt die Frage: Möchten Sie
wir die Steuerung auch bei der neuen Durchführungsor-
eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Kollegen
ganisation, der Deutschen Gesellschaft für Internationale
Koppelin zulassen?
Zusammenarbeit, implementieren wollen. Man muss
aber auch hier bitte die Fakten zur Kenntnis nehmen. Die
drei zu fusionierenden Gesellschaften, GTZ, DED und Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
InWEnt, haben heute sieben Geschäftsführer, drei bei sammenarbeit und Entwicklung:
der GTZ, einer beim DED und drei bei InWEnt. Wenn Sie stoppen, sehr gerne.
Wir haben dem Haushaltsausschuss gegenüber klar-
gemacht, dass wir Geld sparen wollen. Der Haushalts- Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
ausschuss hat völlig zu Recht die Sorge gehabt, dass es Herr Minister, könnten Sie noch einmal für Klarstel-
dann, wenn wir aus fünf wahrnehmbaren Geschäftsfüh- lung sorgen?
(B) (D)
rern sieben machen würden – zwei Geschäftsführer bei Erstens. Kollege Raabe hat ja gesagt, jeder der Ge-
InWEnt werden nämlich immer wieder vergessen; weil schäftsführer hätte ein Gehalt von 500 000 Euro.
sie nicht Hauptgeschäftsführer sind, sind sie nicht so
präsent, aber sie sind da; schauen Sie einmal auf die In- (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Kosten! – Zuruf von
ternetseite –, zu einer Vermehrung der Ausgaben kom- der LINKEN: So wenig?)
men würde. Das wäre auch richtig, wenn man die Ge-
Können Sie das bestätigen, oder können Sie noch einmal
haltsstruktur der GTZ mit ungefähr 250 000 Euro Gehalt
konkret sagen, was vorgesehen ist?
für die Geschäftsführer zugrunde legen würde. Wir kom-
men der Vorgabe des Haushaltsausschusses nach, indem Zweitens hat Kollege Raabe Ihnen vorgeworfen, Sie
wir überhaupt keine Geschäftsführung mehr einsetzen. würden – ich sage es jetzt einmal vereinfacht – nur FDP-
Wir werden eine komplett neue Führungsstruktur einset- Soldaten dort in den Gremien haben. Werden auch So-
zen mit einem Vorstandssprecher und sechs Bereichsvor- zialdemokraten bei diesem Personaltableau dabei sein?
ständen,
(Zuruf von der SPD: Parteisoldaten!)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
die auch fachliche Zuständigkeit für ihren Bereich ha- Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
ben. Gleichzeitig wird die gesamte Gehaltsstruktur auf sammenarbeit und Entwicklung:
die Ebene der bisherigen Bereichsleiter abgesenkt, Ich will die Fragen gerne beantworten. Im Moment ist
es so, dass sich die Gehaltsstruktur für einen Ge-
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Aha! Großartig!)
schäftsführer bei der GTZ auf ein Fixum von 190 000
außer natürlich bei denjenigen, die aufgrund bestehender Euro plus 60 000 Euro variablem Einkommen beläuft.
Verträge Rechtsschutz genießen. Bei den zukünftigen Bereichsvorständen wird sich das
Gehalt in einer Größenordnung von 110 000 Euro plus
Wir sorgen auch dafür, dass die Steuerungsfähigkeit 30 000 Euro variablen Bestandteilen bewegen. Das heißt
bei Wahrung der Interessen aller Einzelorganisationen also, eine deutliche Verringerung, außer aufgrund der ge-
gewahrt bleibt. Die Alt-GTZ kann nicht über den Tisch wachsenen Rechtsansprüche bei denen, die jetzt schon
gezogen werden, weil der Vorstandssprecher ein Veto- im Amt sind und im Amt bleiben.
recht bekommt, also nichts gegen ihn entschieden wer-
den kann. Er muss sich aber aktiv um mindestens einen (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
weiteren Bereichsvorstand bemühen, wenn er etwas GRÜNEN]: Aber Leitung bleibt eben Leitung!
durchsetzen möchte. Das sichert die Rechte von DED Nur Männer!)
8160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Bundesminister Dirk Niebel


(A) Ich will hier, weil sich das Kabinett und die Auf- Diese Zahl ergibt sich, wenn man die ganzen indirekten (C)
sichtsgremien erst noch damit befassen müssen, nichts Kosten und Leistungen hinzurechnet.
über Namen sagen, aber die Struktur, die mir vor-
schwebt, berücksichtigt auch Sozialdemokraten. Das ist (Harald Leibrecht [FDP]: Das ist aber groß-
richtig. zügig gerechnet!)

(Niema Movassat [DIE LINKE]: Auch Zweitens. Meine Äußerung zur Besetzung bezog sich
Linke?) nicht auf die neue Geschäftsführung. Diejenigen, mit de-
nen ich bis jetzt gesprochen habe, haben gesagt, dass sie
Nachdem Sie, Herr Raabe, nur von Parteisoldaten ge- Geschäftsführer werden, und haben sich darüber gefreut.
sprochen haben, erlauben Sie mir auch das andere im Auf einmal hören wir, dass sie sich irgendwie anders
Rahmen Ihrer Frage aufgeworfene Kriterium anzuspre- nennen. Ich glaube, die sieben, die benannt wurden, ha-
chen: Von den sieben Mitgliedern des neu zu schaffen- ben sich eher im Range eines Geschäftsführers gefühlt;
den Vorstandes sind allein fünf, männlich, Überbleibsel Ich glaube, das ist auch so. Ich habe aber nicht gesagt,
der Vorgängerregierung; denn unter der Vorgängerregie- dass dort nur FDP-Parteisoldaten untergebracht sind,
rung konnte keine Frau irgendwo in eine gehobene Posi- sondern habe gesagt, in der bisherigen Personalpolitik ist
tion kommen, weder bei der GTZ noch beim DED, nicht das so.
bei InWEnt, nicht bei der KfW, nicht bei der DEG, nicht
bei der Weltbank und nicht beim DAC. Herr Minister Niebel, Sie haben schon hundertfach
die Kritik des Personalrats gehört, dass Sie im Prinzip
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kompetente Leute herausschmeißen und sie durch FDP-
der CDU/CSU) Parteisoldaten ersetzen. Das haben wir auch bei Eckhard
Allerdings, um das, Herr Koppelin, abschließend zu Deutscher, dem früheren Exekutivdirektor bei der Welt-
erläutern, habe ich schon eine Dame zur Exekutivdirek- bank, erlebt.
torin bei der Weltbank gemacht. Durch die Initiative von Herr Minister, ich war einmal Bürgermeister einer
Gudrun Kopp wird zum 1. Januar eine zusätzliche Auf- kleinen Gemeinde. Als ich dort Bürgermeister war, habe
sichtsrätin in der DEG installiert werden, übrigens Frau ich, als ich Stellen besetzt habe, immer darauf geachtet,
Professor Dr. Weder di Mauro, deren Kompetenz Sie ja dass keiner sagen kann: Die Stelle ist nach deinem Par-
wohl kaum anzweifeln werden. teibuch besetzt worden. Mir wäre nie in den Sinn ge-
Das zeigt, dass wir von null Frauen in Führungsposi- kommen,
tionen in Ihrer Verantwortung auf zwei Frauen in Füh- (Zurufe von der CDU/CSU: Nie!)
rungspositionen gekommen sind. Lothar Binding, der
(B) nachher noch spricht, ist gelernter Mathematiker. Er den Leiter meiner Personalabteilung – ausgerechnet den, (D)
wird Ihnen bestätigen, dass man diese Steigerung nicht der für die Einstellungen in meinem Rathaus zuständig
einmal prozentual beschreiben kann. ist – nach SPD-Parteibuch zu besetzen. Selbst wenn da
einer sehr qualifiziert gewesen wäre, hätte ich gesagt:
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
Ich möchte mich nicht dem Vorwurf aussetzen, nach
CDU/CSU)
Parteibuch entschieden zu haben.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Sie
(Harald Leibrecht [FDP]: Das glaubt dir kein
sehen: Der Haushalt, den wir heute beschließen, bildet
Mensch!)
die entscheidende Grundlage für die wichtigen Maßnah-
men im Rahmen der Strukturreform. Ich weiß, dass zu- Sie haben jetzt selbst die Stelle des Personalleiters – des-
mindest die Grünen dem Haushalt nicht zustimmen wer- jenigen, der für die Stellenvergabe zuständig ist – mit ei-
den; sie werden ihn ablehnen. Mittlerweile lehnen Sie nem FDP-Kreisvorsitzenden besetzt. Ebenso steigt Herr
auch Bahnhöfe und Olympische Spiele ab. Insofern kann Paetz in die Geschäftsführung auf. Da kann ich nur sa-
ich Ihnen nur sagen: Immer nur dagegen zu sein, bringt gen: Hören Sie einmal auf Ihren Personalrat! Verschaf-
Deutschland nicht voran, schon gar nicht, wenn es um fen Sie sich dadurch Respekt, dass Sie Menschen nach
die Sicherung der Rechte der ärmsten Menschen auf die- Leistungsfähigkeit und Kompetenz einstellen und nicht
ser Welt geht. nach dem Parteibuch.
Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Bundesminister zur Antwort.
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Sascha Raabe. Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung:
Dr. Sascha Raabe (SPD): Kollege Raabe, zunächst möchte ich sagen: Es ist fast
Ich muss schon die Äußerung von Herrn Koppelin zu- so, als wenn Opa vom Krieg erzählt; diese Rede haben
rückweisen. Er hat behauptet, ich hätte gesagt, jeder der wir schon mehrfach gehört. Sie unterstreichen mit be-
Geschäftsführer hat ein Gehalt von 500 000 Euro. Ich merkenswerter Klarheit meine Aussage über die
habe aber gesagt: Er „kostet etwa 500 000 im Jahr“. Schlichtheit der Äußerung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8161
Bundesminister Dirk Niebel
(A) (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Wenn Sie mich sich nicht langsam lächerlich vor? Sie schieben sich je- (C)
schlicht nennen, dann sind Sie dumm!) des Jahr aufs Neue gegenseitig die Schuld in die Schuhe
– auch heute wieder – und erfinden immer wieder neue
Nichtsdestotrotz möchte ich einen Punkt klarstellen. Ausreden.
Nachdem Sie schon mehrfach in diesem Hause versucht
haben, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Res- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
sorts zu beleidigen, dürfen Sie bitte zur Kenntnis neh- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
men, dass der von Ihnen angesprochene Referatsleiter
im Personalbereich ein qualifizierter Beamter in einem Sie alle waren oder sind aber in der Regierung und haben
anderen Bundesministerium war. Er ist von Bundes- alle zu wenig dafür getan, dass wir das Ziel erreichen.
ministerium zu Bundesministerium versetzt worden; es (Beifall bei der LINKEN)
war also nicht einmal eine der von Ihnen als widerlich
angeprangerten externen Besetzungen. Diese hervorra- Von den für die Entwicklungsarbeit ausgewiesenen
gende, kompetente Persönlichkeit ist im Übrigen zu Geldern fließen nur circa 40 Prozent in die Partnerlän-
100 Prozent schwerbehindert. der. Der Rest sind Kosten, unter anderem für Abschie-
bung, Verwaltung und Unterkünfte der Bundeswehr in
(Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Afghanistan. Was sich irgendwie mit Entwicklungslän-
NEN]: Was hat das damit zu tun? Sie sind als dern in Verbindung bringen lässt, rechnen Sie in die Ent-
Minister unhaltbar!) wicklungsquote mit ein. Sie sollten einmal überdenken,
Er ist wie Sie oder ich keine Frau; das ist richtig. Er ist was Sinn und Zweck des 0,7-Prozent-Ziels ist.
aber wirklich kompetent und schließt eine große Lücke (Beifall bei der LINKEN)
im Bereich der Beschäftigung von Schwerbehinderten,
die in einem Ressort, das für das Gute in der Welt zu- Es soll Geld zur Verfügung gestellt werden, um nachhal-
ständig ist, durchaus im eigenen Hause geschlossen wer- tige Entwicklung zu ermöglichen, damit grundlegende
den sollte. Menschenrechte wie Bildung und Gesundheit endlich
auf der ganzen Welt gewährleistet sind. Ganz sicher ist
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten es nicht Sinn und Zweck, durch Buchungstricks irgend-
der CDU/CSU – Dr. Sascha Raabe [SPD]: wann formal die 0,7-Prozent-Marke zu erreichen, damit
Peinlich! Sie sind ein Kirmesboxer!) Sie sich dann auf die Schulter klopfen können.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich will gern darauf hinweisen, dass es keine Kurz- In einem Punkt bleiben Sie, Herr Niebel, sich treu:
(B) intervention zur Kurzintervention gibt. Die Mittel für Ihr Lieblingsprojekt „Entwicklungspart- (D)
nerschaft mit der Wirtschaft“ erhöhen Sie um satte
Ich gebe das Wort dem Kollegen Niema Movassat für 25 Prozent. Schauen wir uns doch einmal diese öffent-
die Fraktion Die Linke. lich-privaten Partnerschaften, kurz PPP genannt, ge-
(Beifall bei der LINKEN) nauer an. Das erste Problem ist, dass sich die Interessen
der Unternehmen häufig nicht mit den Anforderungen an
die Entwicklungszusammenarbeit decken.
Niema Movassat (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Bezüglich des Entwicklungsbudgets stecken wir seit Unternehmen gehen nun einmal ungern in Staaten mit
Jahrzehnten in einer Endlosschleife. Wieder wird ein einer instabilen Wirtschaft oder einer schlechten Infra-
neuer Haushalt verabschiedet; wieder ist er meilenweit struktur. Viele Staaten Afrikas, insbesondere ländliche
vom internationalen Versprechen Deutschlands entfernt, Regionen, bleiben damit außen vor. Auch die Bereiche,
die Quote der Entwicklungshilfe bis 2015 auf 0,7 Pro- die für nachhaltige Entwicklung eine große Rolle spie-
zent des Bruttonationalprodukts zu steigern. Laut len, also kostenloser Zugang zu Bildung, Gesundheit
Europäischer Kommission beträgt die Lücke zwischen und Wasser, kommen bei PPPs viel zu kurz. Hierfür wer-
zugesagten und tatsächlich gezahlten Entwicklungshilfe- den nur 15 Prozent der Gelder ausgegeben; denn für die
geldern in Deutschland im Jahr 2010 mittlerweile ganze Privatwirtschaft sind hier kaum Profite zu machen.
2,7 Milliarden Euro. Dabei bräuchten wir jedes Jahr
knapp 2 Milliarden Euro mehr, um das 0,7-Prozent-Ziel (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg]
zu erreichen. Laut Regierungsplanung werden aber bis [SPD])
2014 fast 400 Millionen Euro weniger in den Entwick-
lungsetat fließen. Das ist eine völlig falsche Weichen- Die PPPs binden also Mittel, die in anderen Bereichen
stellung. dringend benötigt werden. Da die Unternehmen nur in
lukrative Bereiche investieren, ist völlig unklar, ob sie
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- die Projekte nicht ohnehin durchgeführt hätten. Deshalb
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- handelt es sich bei PPPs oft schlichtweg um verdeckte
ten der SPD) Subventionen. Das ist Außenwirtschaftsförderung, nicht
Entwicklungszusammenarbeit.
Ich bin zwar erst zum zweiten Mal bei den Haushalts-
beratungen dabei, aber eine Frage an meine Kolleginnen (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
und Kollegen, die schon länger dabei sind: Kommen Sie Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])
8162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Niema Movassat
(A) Das zweite Problem: Im PPP-Programm des Entwick- mechanismus. Delegationen reisen in ein bestimmtes (C)
lungsministeriums sind nur deutsche bzw. europäische Geberland und nehmen die Entwicklungszusammen-
Unternehmen antragsberechtigt, Firmen aus Partnerlän- arbeit unter die Luppe. Dann listen sie in einem langen
dern nicht. Das führt das ganze Konzept der PPPs end- Bericht das Positive und Negative auf und bringen kon-
gültig ad absurdum. Es trägt nicht zur Stärkung der loka- struktive Kritik an.
len Wirtschaft bei. Sie betreiben ganz antiliberal – das
stellt auch die Deutsche Welthungerhilfe fest – Wettbe- Vor kurzem war Deutschland an der Reihe. Auch da-
werbsverzerrung zugunsten deutscher Unternehmen. rüber haben die Inspektoren einen langen Bericht ge-
schrieben, in dem sie Positives und Negatives aufgelistet
(Beifall bei der LINKEN) haben. Sie haben – das muss man fairerweise sagen – die
Entwicklungspolitik der letzten vier bis fünf Jahre unter
Drittens. Die letzte Evaluation des gesamten PPP-
die Luppe genommen, also nicht nur die Entwicklungs-
Konzepts gab es vor acht Jahren. Niemand käme in der
politik dieser Regierung, sondern auch die der Vorgän-
Wirtschaft damit durch, nur alle zehn Jahre Bilanz zu
gerregierung.
ziehen. Wenn Sie schon mit der Wirtschaft kooperieren,
dann legen Sie wenigstens in diesem Punkt dieselben Da wir uns in der Haushaltsdebatte befinden, greife
Standards an. ich eine Passage zum Thema Entwicklungsfinanzierung
(Beifall bei der LINKEN) heraus. Da heißt es: „Germany is far off-track …“
Deutschland ist also weit davon entfernt, seine Zusagen
Ich sage Ihnen: Das Geld wäre in den Bereichen „ländli- einzuhalten. Der Bericht fordert – ebenso wie die evan-
che Entwicklung“ oder „Hungerbekämpfung“ angesichts gelische und die katholische Kirche, wie VENRO, also
fast 1 Milliarde Hungernder wesentlich besser aufgeho- der Verband der Nichtregierungsorganisationen, und wie
ben. auch die Oppositionsparteien – von der Bundesregierung
einen Plan, aus dem glaubhaft und nachvollziehbar her-
Ungenügend sind auch die Bemühungen der Bundes-
vorgeht, wie denn das 0,7-Prozent-Ziel bis 2015 tatsäch-
regierung zur Abschaffung der Agrarexportsubventio-
lich erreicht werden kann. Das ist wohl nichts Neues.
nen. So subventioniert die Europäische Union Milch
und macht sie dadurch künstlich billiger. Das Milchpul- Aber es gibt auch eine Passage, die mir zunächst ent-
ver landet dann in afrikanischen Staaten. Die Kleinbau- gangen war und die sich mit der Rolle der Parlamentarier
ern vor Ort können mit diesen Dumpingpreisen nicht und ganz speziell des Entwicklungsausschusses beschäf-
konkurrieren. Lokale Milchmärkte wie in Sambia wur- tigt. Der DAC Peer Review schlägt vor, dass wir uns
den dadurch zerstört und Bauern in Armut und Elend ge- fraktionsübergreifend zusammensetzen und dass wir ge-
trieben. Dasselbe Spiel kennen wir in Ghana mit den To- meinsam eine Initiative nach dem Motto „Keep the pro-
(B) maten und in Ägypten mit dem Getreide. Aber statt die mise!“ – haltet das Versprechen – starten. Das könnte (D)
Agrarexportsubventionen bis 2013 wie versprochen ab- dazu führen, dass sich zum Schluss die Parlamentari-
zuschaffen, will die Europäische Kommission bei der schen Geschäftsführer und die Fraktionsvorsitzenden zu-
Neugestaltung der europäischen Agrarpolitik bis 2020 sammensetzen und sich darauf verständigen: Ja, es gibt
an den Subventionen festhalten. Die Bundesregierung zwar große Sparzwänge, aber wenn wir das gemeinsam
muss ihren Einfluss geltend machen, damit diese Pläne stemmen und uns später gegenseitig keine Vorwürfe ma-
nicht Wirklichkeit werden. chen, dann vereinbaren wir, dass wir jetzt die Lücke
schließen. – Es geht um 2 bis 3 Milliarden Euro, die
(Beifall bei der LINKEN)
jährlich hinzukommen müssen.
Also: Zu wenige Mittel und zu viel Wirtschaftsorien-
tierung, das sind Kernpunkte Ihrer Entwicklungspolitik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Die Linke wird diesem Haushaltsentwurf daher natürlich der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])
nicht zustimmen. Jetzt sagen einige, das sei utopisch und unrealistisch.
Danke für die Aufmerksamkeit. In Großbritannien hat es aber auf diesem Wege ge-
klappt. Man hat die Debatte aus dem parteipolitischen
(Beifall bei der LINKEN) Hickhack mit den gegenseitigen Schuldzuweisungen,
wie wir sie heute wieder hier erlebt haben, herausge-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nommen. Das hat dazu geführt, dass die dortige konser-
Jetzt hat Thilo Hoppe das Wort für Bündnis 90/Die vativ-liberale Regierung in Großbritannien trotz drama-
Grünen. tischerer Sparzwänge einen Etat vorgelegt hat, der
Absenkungen in fast allen Ressorts, aber Zuwächse bei
der Entwicklungszusammenarbeit vorsieht. Es wird also
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nicht bei den Ärmsten der Armen gespart. Die Opposi-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tion, also die Labour Party, hat versprochen, dass sie das
Wir haben heute in den Reden schon mehrfach vom nicht populistisch ausnutzen wird nach dem Motto „Seht
DAC Peer Review gehört. Einige werden sich fragen, mal, hier in England wird gespart, aber in Afrika wird
was das ist. Dahinter verbirgt sich nicht Donald Duck das Geld zum Fenster herausgeworfen“.
oder eine lahme Ente, sondern der Entwicklungsaus-
schuss der OECD-Staaten. Das ist der Verbund der Den Bedenken, wie diese Politik bei der Bevölkerung
Industrienationen, die Entwicklungszusammenarbeit be- ankommt, ist man durch eine gemeinsame Vereinbarung
treiben. Der Peer Review ist eine Art Überprüfungs- der Fraktionsvorsitzenden begegnet. Genau das schlägt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8163
Thilo Hoppe
(A) der DAC Peer Review vor. Ich finde, das ist eine sehr Wir haben diese Regierung jetzt seit etwas über einem (C)
spannende gemeinsame Initiative, für die ich Sie gerne Jahr, und ich sehe, was inzwischen alles auf den Weg
gewinnen möchte. Warum sollten wir das, angespornt gebracht worden ist. Wenn ich nur an die Reform der In-
von VENRO, von den Kirchen und von der Micha- stitutionen, an die Zusammenlegung im Rahmen der
Initiative, die sich gebildet hat, nicht tun? Es ist finan- technischen Zusammenarbeit, denke, dann muss ich fest-
zierbar. Das Geld ist vorhanden. Angesichts der Notwen- stellen, dass das ein Werk ist, das Vorgängerregierungen
digkeit der Haushaltskonsolidierung und anderer Spar- nicht einmal angedacht haben, geschweige denn auf den
zwänge ist dies für manche nur schwer zu vertreten. Weg gebracht haben.
Aber wenn wir das gemeinsam machen, dann können
wir es schaffen. Dann können wir sagen: Keep the pro- (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Jetzt reicht es
mise! Yes, we can! aber langsam!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Heute sind wir auf einem positiven Weg. Es ist noch im-
und bei der SPD) mens viel zu tun, es muss hier noch ein neues Geschäfts-
modell entwickelt werden. Das wissen wir. Die GIZ wird
ein großer Goliath, der steuerbar sein muss. Ich wünsche
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
dem Minister wirklich alles Gute dabei, diese Steuerung
Dagmar Wöhrl hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
auf den Weg zu bringen.
Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir erhoffen uns eines – ich glaube, wir alle erhoffen
uns das –: Wir wollen mehr Übersichtlichkeit haben, wir
wollen auch mehr Wirtschaftlichkeit haben. Das sind in
Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): diesem Zusammenhang die Schüsselwörter.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber Kollege
Hoppe, ich kann sagen – ich glaube, da spreche ich im Ich erinnere mich daran, dass es in allen Reden heißt:
Namen aller, die im Ausschuss sind –, dass wir an dem Mehr Geld, mehr Geld, mehr Geld. Aber ist das wirklich
Ziel festhalten und es erreichen wollen. Aber wir haben so, dass wir dann, wenn wir mehr Geld in die Hand neh-
auf einer sehr niedrigen Ausgangsbasis angefangen. men würden,
Sie wissen ganz genau, wie bei den Vorgängerregie- (Frank Schwabe [SPD]: Bei Ihnen nicht!)
rungen die ODA-Quote erfüllt worden ist, nämlich größ-
tenteils durch Schuldenerlasse. Das ist das Problem. Es in den Ländern noch mehr bewirken würden? Sollten wir
wurde nicht mehr Geld ausgegeben, sondern es gab uns nicht eher fragen: Wie sehen wir zukünftig über-
Schuldenerlasse, was die Entwicklung in diesen Ländern haupt eine effizientere Entwicklungspolitik? Wie wollen
(B)
natürlich nicht vorangebracht hat. wir die Entwicklungspolitik zukünftig gestalten? Wollen (D)
wir die alten Wege, die oft nicht sehr vielversprechend
Wir wissen, die Zeiten sind inzwischen schwieriger gewesen sind, weiter beschreiten, oder wollen wir neue
geworden, als sie es damals waren. Wir haben immens Wege und auch effizientere Wege einschlagen?
viele Krisen hinter uns. Ich will jetzt nicht näher auf die
Finanzmarktkrise, die Wirtschaftskrise, die Nahrungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mittelpreiskrise, Ernährungskrise und auf die Naturkata-
Ich bin der Auffassung, dass überhaupt nicht zur Dis-
strophen eingehen. Trotzdem haben wir es geschafft, ei-
kussion steht, dass Gelder eingesetzt werden. Das sieht
nen Sparhaushalt auf den Weg zu bringen – ich erinnere
auch unsere Koalition so. Ich glaube, das ist unstrittig.
an die 80 Milliarden Euro –, weil wir sehen, dass wir un-
seren Kindern die Chance geben müssen, dass sie auch Aber man muss auch eines sehen: Wir brauchen
künftig ein steuerbares Sozialsystem haben. Deswegen, starke Geberländer. Wir brauchen Geberländer, die einen
glaube ich, ist es wichtig, hier zu sagen, dass wir für die- soliden Haushalt haben; denn wir wollen ja, dass diese
sen Etat mit 6,22 Milliarden Euro, den wir jetzt haben, Geberländer auch in Zukunft Entwicklungshilfe leisten
wirklich dankbar sein müssen, können,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
neten der FDP)
und das nicht nur mit den Mitteln des nächsten Etats,
dass wir dankbar sein müssen, dass wir in dieser Situa- sondern über Jahrzehnte hinweg. Deswegen ist die
tion, in der wir jetzt und heute stehen, keine Federn las- Haushaltskonsolidierung in diesem Bereich so wichtig.
sen mussten. Das ist nicht selbstverständlich, wenn Sie
sich die Einzelpläne anderer Ministerien ansehen. Des- Wir werben für mehr gegenseitiges Verständnis bei
halb ein herzliches Dankeschön an alle, die dabei mitge- den Entwicklungsländern, bei den Schwellenländern, bei
wirkt haben, an die Finanzpolitiker und auch an die den Geberländern. Wir alle sitzen in einem Boot. Wir
Haushälter in diesem Haus. müssen die Erkenntnis gewinnen – ob das die Entwick-
lung im Süden ist, ob das die Lebenschancen, die Poten-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ziale der vielen Menschen in den Entwicklungsländern
Wir sind immer noch einer der größten Geber bei den sind –, dass uns das alles auch hier in Deutschland etwas
internationalen Institutionen. Ich glaube, ein Kapitalan- angeht. Das müssen wir in der Öffentlichkeit noch viel
teil von 4,6 Prozent bei der Weltbank kann sich sehen mehr herüberbringen, als wir es in der Vergangenheit ge-
lassen. macht haben. Das heißt, um die Armut zu bekämpfen,
8164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dagmar Wöhrl
(A) brauchen wir ein weltweites Netzwerk aller, die daran Wir müssen mehr Sensibilität wecken. Wir müssen (C)
teilhaben. die immensen Potenziale, die es gibt, stärken, damit
diese Länder unabhängig werden. Denn eines ist klar:
Außerdem brauchen wir dringend einen Perspektiv- Impulse setzen können wir, aber die schöpferische Kraft,
wechsel. Ich bin noch nicht so lange in der Entwick- um etwas aus den Impulsen zu machen, müssen die Ent-
lungspolitik aktiv, aber ich habe gemerkt, dass wir die- wicklungsländer selbst aufbringen. Man kann kein Land
sen Perspektivwechsel brauchen: weg von dem – in von außen entwickeln.
Anführungszeichen – „betreuten Opfer“ hin zum eigen-
verantwortlichen Akteur in den einzelnen Ländern. Ich bedanke mich vielmals für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist der Weg, den wir einschlagen müssen, um das zu Präsident Dr. Norbert Lammert:
erreichen. Der Kollege Hoppe erhält die Möglichkeit für eine
Kurzintervention.
Frau Hänsel, in diesem Zusammenhang sind die Ge-
berländer in der Pflicht; ich glaube, das ist auch Ihre
Meinung. Wir müssen sie viel stärker in die Verantwor- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
tung nehmen, als wir es in der Vergangenheit gemacht Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Kol-
haben. Das Ownership-Prinzip, wie es in der Pariser Er- legin, ich stimme Ihren Analysen und alldem, was Sie
klärung steht, ist der richtige Weg zu mehr Wirksamkeit. gesagt haben, zu. Aber es führt kein Weg daran vorbei,
dass wir zur Erreichung der Millenniumsziele bessere
Sie müssen sehen: Es gibt die internationale Ebene. und mehr Entwicklungszusammenarbeit und auch mehr
Die Staatengemeinschaften haben große Ziele. An der Geld brauchen. Das ist auch im Koalitionsvertrag so
Erreichung dieser Ziele müssen auch die Entwicklungs- festgelegt.
und Schwellenländer mitarbeiten. Ich erwähne nur das
Mich würde interessieren, wie Sie den Vorschlag aus
Klimaschutzabkommen. Es gibt daneben die nationale
dem DAC Peer Review, dass wir versuchen sollten, hier
Ebene. Auf der nationalen Ebene haben diese Länder na-
im Parlament fraktionsübergreifend Konsens herzustellen,
türlich eine Verantwortung ihren Bürgern gegenüber. Sie
finden. Den Kolleginnen und Kollegen in Großbritannien
müssen dafür sorgen, dass es eine Gesundheitsvorsorge,
ist dies geglückt. Dort haben alle Fraktionen gesagt:
Bildungseinrichtungen und vieles andere mehr gibt. Das
0,7 Prozent werden beiseitegelegt, über den Restkuchen
heißt, sie müssen mitentscheiden, aber vor allem eines:
kann man sich in den Etatverhandlungen unterhalten.
Sie müssen mitverantworten. Sie müssen die Verantwor-
(B) tung für ihr eigenes Volk tragen. Man hat es in Großbritannien geschafft, das 0,7-Prozent- (D)
Ziel als sakrosankt und unantastbar zu erklären. Dies ge-
Präsident Obama hat in seiner Rede vor dem ghanai- schah aus einer Initiative des dortigen Entwicklungsaus-
schen Parlament gesagt – ich zitiere –: schusses heraus. Das hat die Sache weit vorangebracht.
Sollten wir bei uns im AWZ nicht auch versuchen, solch
Die Geschichte liefert ein klares Urteil: Regierun- eine Initiative auf den Weg zu bringen?
gen, die den Willen ihrer Bevölkerung respektieren,
sind wohlhabender, stabiler und erfolgreicher als Präsident Dr. Norbert Lammert:
Regierungen, die dies nicht tun. Bitte schön, Frau Kollegin Wöhrl.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das solltet
ihr euch mal merken!) Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):
Lieber Kollege Hoppe, ich glaube, wir alle würden
Was folgt daraus? Ich glaube, man sieht, dass es nichts lieber tun, als einen Konsens zu finden, um das
falsch ist, Regierungen, denen die eigene Bevölkerung 0,7-Prozent-Ziel sehr kurzfristig zu erreichen. Aber, ich
egal ist, zu päppeln, Geld zuzuschießen. Deren Macht glaube, uns allen ist auch klar, dass wir gegenüber den
endet am Rand ihrer Hauptstadt. Dort ist der Misserfolg Generationen in unserem eigenen Land Verantwortung
für das Land, für das Volk vorprogrammiert. Deswegen hinsichtlich der Haushaltskonsolidierung haben. Für uns
ist es wichtig, dass wir dort, wo wir merken, dass Regie- ist es primäres Ziel, den Haushalt schnell zu konsolidie-
rungen nicht verantwortungsvoll mit ihrer Bevölkerung ren. Wir haben eine Schuldenbremse im Grundgesetz
umgehen, verankert. Wir alle sind uns einig: Sobald erreicht ist,
dass wir wieder agieren können, können wir viel mehr
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: So wie Stuttgart! Geld in all den Bereichen einsetzen, wo wir es uns wün-
Mappus geht schlecht mit seiner Bevölkerung schen.
um!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
versuchen, an die Bevölkerung selbst heranzukommen,
ohne den Umweg über schlechte Regierungen zu gehen. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich möchte jetzt nicht länger auf Budgethilfe und ande-
Das Wort erhält nun der Kollege Lothar Binding für
res in diesem Zusammenhang eingehen. Das ist ein
die SPD-Fraktion.
wichtiger Punkt. Wir sind dankbar, dass uns die Zivilge-
sellschaften hier sehr stark unterstützen. (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8165

(A) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): (Joachim Günther [Plauen] [FDP]: In welcher (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- Weise denn dann? – Abg. Dr. Barbara
nächst zu dem Streit über die Wirksamkeit. Ich glaube, Hendricks [SPD] meldet sich zu einer Zwi-
wir sind uns einig, dass viel Geld, das effizient einge- schenfrage)
setzt wird, besser ist als wenig Geld, das ineffizient ein-
– Jetzt freue ich mich; denn man will mir hoffentlich
gesetzt wird. Ich glaube, darum ging es in dem Streit,
eine Zwischenfrage stellen.
den wir vorhin geführt haben.
Irritiert hat mich, wie über Mitarbeiter von Durchfüh- (Holger Haibach [CDU/CSU]: Wie war das
rungsorganisationen gesprochen wurde. Ich glaube, noch mal mit dem Stellen von Zwischenfragen
wenn man auf die Kompetenz der GTZ vertraut, ist man durch Mitglieder der eigenen Fraktion?)
nicht „hörig“.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der SPD)
Diese Überraschung ist außerordentlich gut gelungen.
Wenn man auf die Kompetenz des BMZ vertraut, ist
man auch nicht hörig. Wir sollten uns klarmachen, was (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP, der
der Evangelische Entwicklungsdienst, ONE, GAVI, Mi- LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
sereor, VENRO und andere leisten. Auf deren Expertise GRÜNEN)
können wir uns verlassen – man muss immer wieder et-
was nachprüfen; das ist völlig klar –, deshalb ist man Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
aber nicht hörig. Ich glaube, so wie vorhin geschehen, Ja.
sollten wir nicht über die Durchführungsorganisationen
reden. Denn dann stellt man etwas gegeneinander, das Präsident Dr. Norbert Lammert:
man nicht gegeneinander stellen sollte. Ich glaube, es tut Insofern erteile ich vereinbarungsgemäß der Kollegin
dem Minister nicht gut, wenn er in dieser Weise verfährt. Hendricks das Wort zu einer Zwischenfrage.
(Beifall bei der SPD)
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
Das passt auch gar nicht zu der wirklich guten Atmo- FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
sphäre, in der die Berichterstatterrunden stattfanden. Mit DIE GRÜNEN)
unserer Chefin Priska Hinz und den Kollegen Volkmar
Klein, Jürgen Koppelin und Dietmar Bartsch waren wir Dr. Barbara Hendricks (SPD):
ein recht gutes Team, das die verschiedenen Themen er- Genau, Herr Präsident. Sie konnten nicht dabei sein,
(B) arbeitet hat. Bärbel Kofler und Sascha Raabe haben als Herr Koppelin sowohl seinem Minister Zwischenfra- (D)
mich im AWZ sehr stark unterstützt; das gilt allerdings gen stellte als auch Kurzinterventionen anschloss. Inso-
auch für Herrn Schmidt, Herrn Beerfeltz und Dirk fern kann ich nachvollziehen, dass Sie meine Hand-
Niebel. Es war insgesamt eine gute Kooperation. Uns lungsweise überrascht.
wurden alle Fragen beantwortet. Das ist eine gute Ar-
beitsbasis. Im Parlament darf es ruhig ein bisschen hoch Herr Kollege, es hat auch mich ein bisschen über-
hergehen; aber die Arbeitsbasis sollte man nicht zerstö- rascht, dass die großformatigen Anzeigen der Bundes-
ren. Die Ministerien haben eine extrem hohe fachliche kanzlerin ausgerechnet einen Tag nach dem CDU-Partei-
Kompetenz. Ich glaube, wenn man diese Kompetenz mit tag geschaltet worden sind. Können Sie mir erläutern,
der Kompetenz des Parlaments zusammentut – als wei- wie das mit diesen Kosten zusammenhängt?
tere Beispiele nenne ich GTZ, KfW, DED und InWEnt –,
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh! –
dann haben wir einen Fundus, aus dem wir schöpfen
Dr. h. c. Gernot Erler [SPD], an die CDU/CSU
sollten.
gewandt: Das habt ihr doch genauso gemacht!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
Bei der Einbringung des Haushalts hat Dirk Niebel Das kann ich tun. Zumindest kann ich die Anzeige
voller Stolz gesagt: Mein Haushalt wächst um einmal hochhalten.
3 Millionen Euro. – Interessanterweise hat die Anzeige,
Dirk, du hast damit nichts zu tun. Ich möchte dich in
die die Kanzlerin vor kurzem geschaltet hat, Kosten in
einer wichtigen Angelegenheit unterstützen. Denn dein
genau dieser Größenordnung verursacht. Diese Anzeige
Stolz hätte sich verdoppelt. Mit dieser Anzeige hätten
wurde übrigens rein zufällig einen Tag nach dem CDU-
wir den im Entwurf vorgesehenen Aufwuchs verdoppeln
Parteitag geschaltet. Solche Zufälle gibt es; das kann
können. Das heißt, nur diese eine Anzeige hätte zu
schon einmal passieren.
100 Prozent mehr Leistungsfähigkeit des BMZ geführt.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des Das ist doch eine erkleckliche Zahl.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Holger
Worum geht es wirklich? Es geht in dieser Anzeige
Haibach [CDU/CSU]: Das ist in Ihrer Regie-
essenziell um das Thema Sparen. Wir haben heute schon
rungszeit nie vorgekommen, oder?)
des Öfteren gehört, dass wir überall sparen müssen.
– Nicht in dieser Weise; aber darüber können wir gleich Diese Anzeige fängt mit „Sie“ an – gemeint sind also Sie
vielleicht noch reden. alle, die Sie diesen Text lesen –:
8166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Lothar Binding (Heidelberg)


(A) Sie haben Deutschland zu dem Land gemacht, das Es geht dann weiter, dass Arbeitsplätze gesichert wor- (C)
die weltweite Wirtschaftskrise am besten gemeistert den seien und dass auch die finanziellen Entlastungen
hat. der Unternehmen geholfen hätten. Und jetzt kommt et-
was ganz Interessantes:
Das ist das Lob für das Volk. Ein solches Lob nimmt je-
der gern an. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Können Sie nicht
die ganze Anzeige vorlesen? Das wäre sehr
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hilfreich!)
der FDP)
– Nein, es ist ganz gut, wenn Sie das aufnehmen.
Dem Psychologen, der sich das ausgedacht hat, kann
man nur sagen: Sauber, wunderbar. Er hat recht. Erstes Versprechen: Wir sichern die Finanzen. Wir
sparen …
Dann kommt es zu einem interessanten Schwenk:
(Beifall bei der FDP)
Ohne die gemeinsame Anstrengung aller wäre
uns … Wir! Jetzt ist die Regierung gemeint. Und wo wird wirk-
lich gespart? Das sage ich mit Blick auf die Reden, die
Plötzlich heißt es „uns“. Gemeint sind also wir alle, die bisher gehalten worden sind: beim Elterngeld, beim
Kanzlerin inklusive. Das allein ist nicht so schlimm; das Heizkostenzuschuss, beim Übergangsgeld und bei den
ist nur nicht gelungen. Renten für Arbeitslosengeld-II-Empfänger.
Außerdem wird bei einer weiteren interessanten
Präsident Dr. Norbert Lammert: Komponente gespart, nämlich in der Entwicklungspoli-
Herr Kollege, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam tik. Das möchte ich mit einem Beispiel deutlich machen
machen, dass ich nicht die Absicht habe, – – Dirk Niebel hat das im Ausschuss etwa so erklärt –:
Wenn er 1 Euro hat und damit seine Kinder ernährt, dann
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): ermöglicht das den Kindern, weil sie sich um die Ernäh-
rung nicht mehr kümmern müssen, eine Schule zu besu-
Ja. Ich muss das aber noch vortragen. chen, sich zu bilden. Dann freut sich seine Frau, und
seine Frau ist im Wesentlichen zufrieden. Dirk Niebel
Präsident Dr. Norbert Lammert: hat einen Stammhalter, und er hat damit die Alterssiche-
– ja; ich habe das wohl begriffen, unter jedem Ge- rung gerettet.
sichtspunkt –, Ihre Redezeit aufgrund Ihrer kunstvollen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dauerbezugnahme auf eine heute bereits mehrfach ge-
(B) würdigte Anzeige ins Unermessliche zu verlängern. Was bedeutet das? Mit 1 Euro hat er fünf Funktionen (D)
erfüllt: Kinder, Bildung, Ernährung usw. Das heißt, wir
könnten, wenn wir in diesem Einzelplan so rechnen, wie
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
Dirk Niebel mir das vorgerechnet hat, sein Gehalt auf
Das brauchen Sie nicht zu tun. Ich beeile mich. ein Fünftel kürzen, und es hat noch immer den gleichen
Effekt. Die Erklärung in der Entwicklungspolitik war,
Präsident Dr. Norbert Lammert: dass es, wenn man 1 Euro für etwas ausgibt, das auch
Ich finde, die Frage der Kollegin Hendricks ist über- woanders hilft, in Wahrheit 2 Euro sind. Das ist eine su-
zeugend beantwortet worden. Sie können jetzt in Ihrer pergute Erklärung.
Redezeit fortfahren. (Beifall bei der SPD)
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Sie ist aber leider, wenn man sich das etwas genauer an-
CDU/CSU und der FDP) schaut, ein Problem.
In Wahrheit müssen wir sagen: Es geht vielmehr um
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): eine sozialethische Dimension in der Entwicklungszu-
Ich fahre in meiner Redezeit fort: sammenarbeit. In einer sozialethischen Dimension lässt
Auch wir in der Bundesregierung haben dafür es sich legitimieren, eigene Interessen zu verfolgen; das
gearbeitet … stimmt. Idealtypischerweise – so sagt das jedenfalls das
Institut für christliche Ethik und Politik – ist es sogar le-
Jetzt heißt es „auch wir“, nicht mehr „wir alle“, sondern gitim, eine nachhaltige Win-win-Situation anzustreben.
auch die Bundesregierung. Das ist eine deutliche Redu- Ich glaube, darauf könnte man sich verständigen.
zierung.
Wenn aber der Bundesminister seine Politik auf Ab-
Jetzt kommt etwas ganz Schönes: satzmärkte für deutsche Unternehmen orientiert – nur
darauf –, dann ist das ein Rückfall in eine Zeit, in der die
So hat die Kurzarbeiterregelung geholfen … Modernisierungstheorie galt, der jedenfalls wir nicht fol-
Wer bei Kurzarbeiterregelung nicht an Olaf Scholz, Peer gen wollen. Das ist eine Zeit, die in die Nachkriegsge-
Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier denkt, der hat schichte gehört. Diese Theorie hat sich nicht bewährt
ein Problem mit sich. und ist in den armen Ländern kontraproduktiv. Wir wol-
len den Süden nicht dazu missbrauchen, Rohstoffliefe-
(Holger Haibach [CDU/CSU]: Herr Kollege, rant zu sein, sondern wir wollen mit ihm auf andere
das ist die falsche Debatte!) Weise kooperieren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8167
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Klaus Riegert (CDU/CSU): (C)
der LINKEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen! Ich möchte zum Einzelplan 23 zurückkom-
Niebel irritiert meines Erachtens, wenn er als deut- men
scher Wirtschaftsminister oder vielleicht als Minister für
militärische Aufgaben auftritt. Das ist der deutschen EZ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
einfach nicht angemessen. Niebel irritiert, so meine ich,
wenn die Leute sehen, dass es in Deutschland keine Bil- und gerne etwas über den Schwerpunkt „Entwicklung
der von Niebel mit Mütze gibt. Das heißt, diese Mütze der ländlichen Räume“ sagen.
ist im Grunde eine Verkleidung, ein Zeichen der Re- Auf dem letzten G-8-Gipfel hat die Bundesregierung
spektlosigkeit gegenüber den Ländern, die er besucht. für die Jahre 2010 bis 2012 insgesamt 200 Millionen
Euro für die Entwicklung ländlicher Räume verspro-
(Beifall bei der SPD – Heike Hänsel [DIE
chen. Für nächstes Jahr stehen dafür 70 Millionen Euro
LINKE]: Kolonialherr!)
zur Verfügung. Unter dem Leitgedanken der Hilfe zur
Dafür müssen wir uns bei diesen Ländern entschuldigen. Selbsthilfe bauen wir so die jahrzehntelang vernachläs-
Das ist nicht anständig. Ich bitte um Entschuldigung für sigte Entwicklung der ländlichen Räume zu einem
dieses Auftreten unseres Ministers. Zumindest diejeni- Schlüsselbereich der deutschen Entwicklungspolitik aus.
gen, die meiner Meinung sind, vertritt er dort nicht. Durch das breit angelegte Konzept wird der Blick für
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die vielschichtigen Voraussetzungen ländlicher Entwick-
der LINKEN) lungen und für das Ineinandergreifen verschiedener Sek-
toren und Erfolgsfaktoren geschärft. Jenseits der reinen
Kommen wir noch kurz zu der Fusion. Die Fusion in Entwicklung des Agrarsektors geht es um umfassende
der Technischen Zusammenarbeit zwischen GZT, DED Reformprozesse: die Entwicklung der ländlichen Wirt-
und InWEnt läuft nach anfänglichem Zögern in vielen schaft, ein nachhaltiges Management der natürlichen
Bereichen ganz ordentlich. Überleitungsvertrag, Tarif- Ressourcen, die Bereitstellung sozialer Dienste und
vertrag, Gesellschaftsvertrag – vieles liegt vor und findet technischer Infrastruktur im ländlichen Raum sowie die
Zustimmung. Verbesserung der politisch-institutionellen Rahmenbe-
dingungen.
Problematisch ist es natürlich, wenn es um das Perso-
nal geht. Es gibt jemanden, der auf eine lange Lebenser- Die Kollegin Christiane Ratjen-Damerau, der Kollege
fahrung zurückblicken kann und verantwortlich damit Thilo Hoppe und ich haben in einem gemeinsamen
umgeht, nämlich Generalsekretär Lindner. Er sagt, dass Schreiben an Minister Dirk Niebel festgehalten, dass wir
(B) 1 500 Stellen abgebaut werden. Was das für die Men- als Entwicklungspolitiker den Konzeptentwurf begrüßen (D)
schen bedeutet, kann man sich überhaupt nicht vorstellen. und unterstützen. Wir haben aber auch deutlich gemacht,
dass ländliche Räume nicht zu einseitig als potenzielle
Jetzt sehen wir einmal, was passiert: Auch der Minis- Produktionsstätten für den Weltmarkt gesehen werden
ter beantragt Stellen, nämlich 210 Stellen für das BMZ, sollten, dass sich Ernährungssicherheit in ländlichen Re-
ohne dies aber – da stütze ich mich auf den Bundesrech- gionen nur dann adäquat erfassen lässt, wenn neben
nungshof – seriös zu begründen. Der Haushaltsaus- agrarökologischen und wirtschaftspolitischen auch ge-
schuss hat erst einmal 65 Stellen genehmigt. Aber man sellschaftliche Faktoren wie die Gleichstellung der Ge-
muss sagen, dass der Rest nicht begründet ist. schlechter berücksichtigt werden, dass sich nachhaltige
Ernährungssicherung insbesondere durch die Förderung
Präsident Dr. Norbert Lammert: gemeinschaftlicher Projekte wie der Bildung von Erzeu-
Herr Kollege. ger- und Nutzerorganisationen oder Kooperativen errei-
chen lässt und dass rein protektionistische Handels-
hemmnisse überwunden werden müssen.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
Ich sehe, dass es hier fürchterlich blinkt, und muss Meine Damen und Herren, für ländliche Räume ist
deshalb zum Ende kommen. Sie merken, es ist noch sehr ein langfristiges Engagement erforderlich, um Erfolge
viel zu tun. Ich bräuchte noch 15 Minuten. und nachhaltige Entwicklung erzielen zu können. Des-
halb sollte die ländliche Entwicklung als ein zusätzlicher
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Alles Gute! Förderschwerpunkt in die regionalen Konzepte des BMZ
aufgenommen werden und im Afrika-Konzept eine be-
(Beifall bei der SPD – Holger Haibach [CDU/
sondere Schlüsselfunktion einnehmen.
CSU]: Dann würden Sie wahrscheinlich etwas
zum Thema sagen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
Präsident Dr. Norbert Lammert: GRÜNEN)
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Riegert für die Wir würden es ebenfalls begrüßen, wenn in dem über-
CDU/CSU-Fraktion. sektoralen Konzept die Problematik des sogenannten
Land Grabbing behandelt werden würde.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Holger Haibach [CDU/CSU]: Endlich etwas (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
zur Sache! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜND-
Jetzt kommt etwas Seriöses!) NISSES 90/DIE GRÜNEN)
8168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Klaus Riegert
(A) Etwa 300 Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissen- So richtig aber will der Funke bei deren Reden (C)
schaft und Zivilgesellschaft haben das Konzept Anfang nicht überspringen. Das liegt auch daran, dass die
November auf einem Kongress hier in Berlin konstruktiv Haushaltsexperten den Finanzminister für seinen
diskutiert und dem BMZ zusätzliche Vorschläge unter- angeblich mangelnden Sparwillen kritisieren,
breitet. Das Konzept sowie die enge Abstimmung zwi-
schen dem Entwicklungs- und dem Landwirtschaftsmi- (Zuruf von der SPD)
nisterium wurden insgesamt positiv aufgenommen. Tenor in ihren eigenen Reihen aber viele Abgeordnete sit-
des Kongresses war die Forderung, das Konzept zügig zu zen, die in Wahrheit statt weniger gern mehr Geld
konkretisieren und Schwerpunkte bei der Umsetzung zu ausgeben würden als Schäuble. Entsprechend leicht
setzen. fällt es diesem zu spotten: „Sie müssten sich schon
Die Entwicklung hin zu einer rentablen, sozial und entscheiden, ob Sie nun mehr sparen oder mehr
ökologisch nachhaltigen bäuerlichen Landwirtschaft ausgeben wollen.“
stellt in Entwicklungsländern einen Schwerpunkt, ja die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
zentrale Herausforderung dar. Wachstum im Agrarsektor Dr. Sascha Raabe [SPD]: Weniger für die Atom-
trägt sowohl zum Wirtschaftswachstum als auch zur Ar- lobby, mehr für die Ärmsten der Armen! –
mutsreduktion bei. Nachhaltige Landwirtschaft reduziert Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
sich dabei nicht auf den ökologischen Landbau. GRÜNEN]: Wir wollen an den richtigen Stel-
Das Prinzip 9 der Rio-Deklaration von 1992 betrach- len sparen und für die Entwicklungszusam-
tet die Entwicklung und Verbreitung umweltfreundlicher menarbeit mehr ausgeben! So einfach ist das!)
Technologien – inklusive neuer und innovativer Techno- Ich möchte Ihnen aber noch gern ein paar Gedanken-
logien – als integralen Bestandteil einer nachhaltigen anstöße mitteilen, die ich sehr interessant fand. Am
Entwicklung. 20. November 2010 stand in der Frankfurter Rundschau
ein Interview mit Muhammad Yunus und Paulo Coelho,
Am Horizont erkennt man durchaus auch neue Dinge,
also einem Friedensnobelpreisträger und einem Bestsel-
(Holger Haibach [CDU/CSU]: Vertikale Land- lerautor. Darin stehen einige interessante Beispiele, über
wirtschaft!) die man sich durchaus Gedanken machen kann.

zum Beispiel die vertikale Landwirtschaft. Der Kollege Zuerst erzählt Yunus, dass er Bettlern grundsätzlich
Haibach hat erkannt, auf was ich hinaus will. Mit High- kein Geld gibt, weil er sonst das eigentliche Problem
techgewächshäusern kann man auf einer innerstädti- nicht anpackt und weil er, wenn er in Bangladesch, sei-
schen Fläche von 2 Hektar etwa 1 000 Hektar Ackerland nem Heimatland, einem Bettler Geld gibt, sofort 20, 30
(B) ersetzen und trotzdem entsprechende Erfolge zum Bei- und mehr Bettler um sich hat. Dann muss er begründen, (D)
spiel beim Wassersparen, bei der Energierückgewinnung warum er dem einen Geld gibt und dem anderen nicht.
und Ähnlichem erzielen. Daher hat er Mikrokredite auch an Bettler ausgegeben.
Er hat gesagt: Wenn ihr von Tür zu Tür geht, dann nehmt
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das gibt dann doch ein paar Handelswaren mit. So hat er es geschafft,
Turbotomaten!) rund 20 000 Bettler von der Bettelei wegzubringen und
zu kleinen Handelsvertretern zu machen.
Meine Damen und Herren, wir reden über den Haus-
halt. Das ist hinlänglich bekannt. Wenn wir über den Er hat insgesamt 150 000 Bettlern Kleinkredite mit
Haushalt sprechen, geht es natürlich – das war nicht an- den Auflagen gegeben: keine Zinsen, keinen Rückzah-
ders zu erwarten – auch ums Geld. Auch mich überzeugt lungstermin, und es gibt einen neuen Kredit, wenn der
nicht, dass wir für die Entwicklungshilfe immer nur alte abbezahlt ist. Auf die Frage von Coelho sagt Yunus,
mehr Geld – – fast jeder Einzelne hat diesen Kredit zurückbezahlt. Sie
mussten schon zweite, dritte und vierte Kredite ausge-
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Zusammenar- ben, weil das System so gut funktioniert hat.
beit! Hilfe ist out!)
Er schildert dann auf die Frage: „Was machen wir mit
– Entwicklungszusammenarbeit. Richtig, Sie haben recht. Kranken und Behinderten?“ sehr eindrücklich das Bei-
Der Herr Minister hat auch von Entwicklungszusammen- spiel eines Bettlers, den er an einer Bushaltestelle traf, der
arbeit gesprochen. keine Beine mehr hatte. Den fragte er, was er denn könne.
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE Der sagte: Ich kann kochen. Ich koche doch nicht mit
GRÜNEN]: Das haben Sie doch in der Koali- meinen Beinen. – Dieser Satz ist Yunus immer in Erinne-
tionsvereinbarung beschlossen: mehr Geld für rung. Er hat diesem Mann tatsächlich einen Job und die
die Entwicklungszusammenarbeit!) Möglichkeit verschafft, für sich selber aufzukommen.
Ich kann dieses Interview nur empfehlen. Darin steht
Deswegen ist nicht nur die Höhe der zur Verfügung ste-
henden Gelder entscheidend, sondern auch wofür und eine Menge an Hinweisen, wie wir diesen Leitgedanken
wie sie eingesetzt werden. der Hilfe zur Selbsthilfe, wie es auch das Konzept des
BMZ vorsieht, das die Regierungskoalition in den Haus-
Frau Hinz, die Süddeutsche von heute, also vom halt eingebracht haben, verwirklichen können. Wir wol-
24. November 2010, schreibt aus meiner Sicht sehr zu- len die kreativen Ressourcen der Menschen vor allem in
treffend über die Reden von Carsten Schneider und den ärmsten Entwicklungsländern ansprechen, um sie zu
Alexander Bonde – ich zitiere –: ihrem eigenen Vorteil zu nutzen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8169
Klaus Riegert
(A) Der vorliegende Haushalt stellt hierfür die erforderli- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für (C)
chen Mittel bereit und findet deshalb unsere Zustim- diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich
mung. höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-
ren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte schön.
Ich schließe die Aussprache.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- der CDU/CSU)
plan 23, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung, in der Ausschussfassung. Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
Zu dieser Ausschussfassung liegen zwei Änderungsan- wärtigen:
träge der Fraktion Die Linke vor, über die wir zunächst
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten
abstimmen. Damen und Herren! Seit diesem Montag stehen in Ham-
Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag auf burg zehn somalische Staatsbürger vor Gericht. Ihnen
der Drucksache 17/3836 ab. Wer stimmt für diesen An- wird vorgeworfen, vor der somalischen Küste ein deut-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da- sches Schiff entführt zu haben. Dies zeigt in großer Klar-
mit ist der Antrag mehrheitlich abgelehnt. heit, wie sehr uns die Probleme in Somalia in Deutsch-
land angehen.
Wir stimmen jetzt über den Antrag auf der
Drucksache 17/3837 ab. Wer stimmt dafür? – Wer Geografisch mag das Horn von Afrika vielen weit
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist weg und entfernt erscheinen, aber wir erkennen an den
mit gleicher Mehrheit abgelehnt. regelmäßigen Meldungen, dass es in Wahrheit auch uns
betrifft. Mit der EU-geführten Operation Atalanta si-
Wir kommen nur zur Abstimmung über den Einzel- chern wir die Lieferung von humanitären Hilfsgütern an
plan 23 in der Ausschussfassung. Wer stimmt für diesen die notleidenden Menschen in Somalia, und wir sichern
Etatansatz? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – den zivilen Schiffsverkehr.
Damit ist der Einzelplan mit den Stimmen der Koalition Insoweit will ich, was die Interessenwahrnehmung
gegen die Stimmen der Opposition angenommen. angeht, noch einmal unterstreichen: Das Ganze hatte sei-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt II auf: nen Ausgang darin, zu gewährleisten, dass Lieferungen
humanitärer Hilfsgüter die Häfen von Afrika erreichen
(B) Beratung des Antrags der Bundesregierung konnten. (D)
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
Dass in den letzten Jahren eine erneute humanitäre Kata-
tion Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
strophe in Somalia verhindert werden konnte, ist auch
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
ein Erfolg dieser Operation.
Seerechtsübereinkommens der Vereinten Na-
tionen von 1982 und der Resolutionen 1814 Atalanta kommt Millionen Menschen zugute, die
(2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom diese Hilfe bitter nötig haben. Noch immer sind über
2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 3,5 Millionen Somalier auf humanitäre Hilfe angewie-
1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1897 sen. Allein im laufenden Jahr hat Atalanta über
(2009) vom 30. November 2009 und nachfol- 30 Schiffe des Welternährungsprogramms sicher in die
gender Resolutionen des Sicherheitsrates der somalischen Häfen eskortiert. Wer also diese Operation
Vereinten Nationen in Verbindung mit der Ge- ablehnt, muss dann auch erklären, wie er sicherstellen
meinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates will, dass diese Hilfslieferungen die hungernden Men-
der Europäischen Union vom 10. November schen tatsächlich erreichen. Da Sie das nicht können,
2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates werden Sie alle in diesem Hause, denke ich, Ihrer Ver-
der Europäischen Union vom 8. Dezember antwortung gerecht werden.
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der Europäischen Union vom 30. Juli 2010
und dem erwarteten Beschluss des Rates der Mehr als 90 000 Tonnen Lebensmittel erreichten
Europäischen Union vom 13. Dezember 2010 1,8 Millionen Menschen.
– Drucksache 17/3691 – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Leider nicht alle!)
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f) Das ist es, worum es in entscheidendem Umfang geht.
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss Auf diese humanitären Leistungen der Europäischen
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Union, an den auch die deutsche Marine einen erhebli-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
chen Anteil hat, können wir stolz sein. Ich möchte allen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Fraktionen, die das Engagement der Bundeswehr unter-
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO stützen, herzlich danken. Aber ich danke insbesondere
8170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) auch den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr für dern nur an Land. Deswegen ist es richtig, dass wir die (C)
ihren Einsatz. Es ist ein schwieriger und entbehrungsrei- humanitäre Hilfe für Somalia um die Hilfe zum politi-
cher Einsatz. Ich bitte Sie, Herr Parlamentarischer schen Wiederaufbau ergänzen. Es ist eben falsch, die Be-
Staatssekretär, dies der Truppe noch einmal zu übermit- hauptung aufzustellen, dass wir lediglich militärisches
teln. Ich bin sicher, dass wir alle in diesem Deutschen Engagement zeigen und nicht auch wüssten, dass wir
Bundestag wissen, was für eine wichtige Arbeit unsere uns bei der Ursachenbekämpfung an Land kräftig zu en-
Frauen und Männer der Bundeswehr dort leisten. gagieren haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Was machen Sie?)
Das zweite Ziel der Mission ist es, den internationalen Das tun wir.
Schiffsverkehr zu schützen. Eine Außenpolitik, die hu-
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
manitären Werten verpflichtet ist, muss auch die Interes-
NEN]: Was denn?)
sen im Blick behalten.
Am Dienstag der kommenden Woche werden wir in
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Tripolis beim Gipfeltreffen der Europäischen Union mit
GRÜNEN]: Wo steht denn das im Grundge-
den Staaten Afrikas weiter an einer gemeinsamen Ord-
setz?)
nung, an einer gemeinsamen entsprechenden Perspek-
Bewegungsfreiheit im offenen Meer ist ein gemeinsames tive arbeiten. Aber natürlich reicht das allein nicht aus.
Interesse der internationalen Gemeinschaft. Wir handeln Es geht um die EU-Trainingsmissionen zur Ausbildung
dabei unter dem Mandat des Sicherheitsrates der Verein- somalischer Sicherheitskräfte. Auch dies tun wir. Es geht
ten Nationen. Auch das ist von großer Bedeutung: Es um internationale Projekte zur Unterstützung beim Auf-
handelt sich hierbei um ein Mandat des Sicherheitsrates bau der Justizsysteme. Das ist unser Anliegen. Es geht
der Vereinten Nationen. aber auch darum, dass wir erkennen: In rechtsfreien
Räumen entstehen Instabilität und Gewalt. Deswegen
Wenn Sie, Herr Kollege, durch Zwischenrufe oder müssen wir diesen vernetzten Ansatz weiterverfolgen.
auch durch öffentliche Wortmeldungen den Eindruck er- Wir bitten um Zustimmung für dieses wichtige Mandat.
wecken, das sei gewissermaßen eine kriegerische Mis-
sion, dann disqualifizieren Sie sich in einem wirklich be- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
merkenswerten Umfang. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (D)
(B)
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Präsident Dr. Norbert Lammert:
GRÜNEN]: Der Einsatz der Bundeswehr steht Ich vermute, dass der Kollege Ströbele nun gern eine
so nicht im Grundgesetz!) Kurzintervention vortragen möchte. – Bitte schön.
Meine Damen und Herren, die Reeder können zur (Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Hat er
Verbesserung der Sicherheit der Schiffe und vor allem keine Redezeit?)
auch der Besatzungen beitragen. Ich bin zuversichtlich,
dass die Schiffseigner ihre Verantwortung ernst nehmen
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
und entsprechend vorsorgen. Aufgrund der Zusammen-
NEN):
arbeit zwischen Reedereien und Sicherheitskräften ist
Herr Minister, ich will jetzt nicht mit Ihnen die Frage
die Zahl der Überfälle und Entführungsversuche im Golf
erörtern – das tun wir vielleicht an anderer Stelle –, wo
von Aden zurückgegangen. Aber wir müssen feststellen:
denn im Grundgesetz steht, dass die Bundeswehr zur Si-
Noch immer befinden sich Hunderte von Menschen in
cherung des zivilen Passagier- und Handelsverkehrs ein-
der Gewalt der Piraten.
gesetzt werden kann; denn das Grundgesetz sagt aus-
Zugleich hat die Bedrohung eine neue Qualität, weil drücklich, dass die Bundeswehr grundsätzlich nur
diese Piraten ihr Tätigkeitsfeld mittlerweile sogar bis vor eingesetzt werden kann, wenn das Grundgesetz es er-
der indischen Küste und bis vor der Küste von Mosam- laubt. Ich wollte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Aber
bik ausgeweitet haben. Das ursprüngliche Operationsge- da haben Sie weitergeredet, und ich bin nicht mehr dazu
biet reicht nicht mehr aus. Es ist daher erweitert worden, gekommen.
zum Teil mit einer bemerkenswerten Logistik. Die Euro-
Sie haben gesagt, richtig sei – und das würde die Bun-
päische Union hat auf die veränderte Lage reagiert und
desregierung auch tun –, dass man sich um die Ursachen
das Operationsgebiet von Atalanta ausgeweitet. Deshalb
der Piraterie vor der Küste von Somalia kümmert. Ich
ist es notwendig, dass auch das Bundeswehrmandat an
habe in mehreren Anfragen an Ihr Haus, die vom Aus-
diese neue Realität angepasst wird. Darum bitten wir als
wärtigen Amt auch beantwortet worden sind, die Frage
Bundesregierung dieses Hohe Haus.
gestellt, ob es zutreffend ist, dass die heutigen Piraten
Internationale Einsätze können die Folgen eines dort nicht zumindest am Anfang Fischer gewesen sind
Staatsverfalls nicht im Alleingang lösen. Wir müssen die und dass man diesen Fischern und ihren Familien die
Lösung da suchen, wo auch das Problem seine Wurzeln Existenzgrundlage genommen hat, indem von einer gan-
hat, und das ist in Somalia selbst. Der Einsatz gegen die zen Reihe von europäischen Staaten – darunter Spanien,
Piraterie wird nicht auf der Hohen See gewonnen, son- Frankreich und andere Staaten – dort große Fischfabri-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8171
Hans-Christian Ströbele
(A) ken errichtet worden sind und die Fischgründe, die be- nen und Staatsbürger. Es ist nicht nur das Recht, sondern (C)
sonders attraktiv und besonders fischreich gewesen sein nach unserer Auffassung auch die Pflicht der Bundesre-
sollen, leergefischt worden sind, sodass die Fischer dort gierung, deutsche Staatsangehörige auf den Schiffen zu
keinerlei Möglichkeit mehr haben, selber zu fischen. Sie schützen.
haben in den Antworten, die ich vom Auswärtigen Amt
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
bekommen habe, bestätigt, dass das mindestens eine Ur-
sache ist, warum viele seeerfahrene Fischer sich in die Sie sind anderer Auffassung; das muss ich zur Kenntnis
Piraterie begeben haben und heute noch unter den Pira- nehmen. Aber wir werden es anders machen.
ten eine Rolle spielen.
Das Zweite ist: Wir leisten humanitäre Hilfe in Soma-
Was hat die Bundesregierung getan, um erstens die lia; das habe ich deutlich gemacht.
fabrikmäßig betriebene Fischerei vor der Küste Somalias
Das Dritte ist: Wir arbeiten am Wiederaufbau in So-
zu beenden – mit der Gegenwart der deutschen Marine
malia und halten dies für unbedingt notwendig.
dort gäbe es viele Möglichkeiten – und zweitens den Fi-
schern, die zu Piraten geworden sind, eine Existenz- Das Vierte ist: Den Eindruck zu erwecken, dass diese
grundlage zu verschaffen? Wenn Sie den Fischern eine Piraterie ausschließlich aus der Not geboren ist
Existenzgrundlage verschafften, wäre das ein wirklicher
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Beitrag zur Beseitigung der Ursachen der Piraterie. Was
GRÜNEN]: „Ausschließlich“ habe ich nie ge-
ist in dieser Hinsicht geschehen? Sehen Sie es nicht als
sagt!)
Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland und der Ko-
alition aus Ländern an, die dorthin die größte Armada an – das ist der Eindruck, den Sie hier erwecken –, weil die
Kriegsschiffen nach dem Zweiten Weltkrieg geschickt armen Fischer keine Fischgründe mehr haben und sich
haben, auf diese Weise die Piraterie dort zu bekämpfen? deshalb als Piraten organisieren, ist, ehrlich gesagt,
ziemlich naiv. Es handelt sich zum Teil um organisiertes
Präsident Dr. Norbert Lammert: Verbrechen und um Menschen mit hoher krimineller
Herr Minister. Energie und von größter Gefährlichkeit,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- der CDU/CSU)
wärtigen: Menschen, die nicht davor zurückschrecken, andere zu
Herr Kollege, ich will zuerst etwas zum Grundgesetz foltern, mit dem Tode zu bedrohen und sie gegebenen-
sagen. Sie sind genauso Rechtsanwalt wie ich. Wir beide falls umzubringen. Das hat nichts mit Ihrer naiven Auf-
(B) haben Jura studiert. Ich sage Ihnen daher: Nicht Sie ent- fassung zu tun. Es ist unsere Verpflichtung, gegen diese (D)
scheiden, was mit der Verfassung vereinbar ist, sondern organisierte Kriminalität vorzugehen. Sie wollen das
das Bundesverfassungsgericht. nicht. Wir werden es trotzdem machen. Ich glaube, dass
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE wir unserer Verantwortung gerecht werden. Sie tun es
GRÜNEN]: Ich auch!) leider nicht.

Dieses hat seit der Adria-Entscheidung in den 90er-Jah- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ren den Kompass glasklar ausgerichtet. Sie können doch
nicht behaupten, etwas sei von der Verfassung nicht ge- Präsident Dr. Norbert Lammert:
deckt, nur weil Sie selbst dieser originellen Auffassung Die Kollegin Edelgard Bulmahn ist die nächste Red-
sind. Das ist absurd. Was Sie erzählen, ist völliger Hum- nerin für die SPD-Fraktion.
bug. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Es handelt sich nur um Ihre persönlichen Interpretatio- Edelgard Bulmahn (SPD):
nen. Ich bewundere Ihre Hochseilakrobatik in Jura. Aber Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolle-
ehrlich gesagt, so könnten Sie als Jurist nicht davon le- ginnen und Kollegen! Mit der EU-geführten Operation
ben. Atalanta unterstützt die internationale Staatengemein-
schaft den Kampf gegen die kriminellen Piraten vor der
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der Küste Somalias.
CDU/CSU)
Die Operation – das ist für meine Fraktion und, wie
Zu den Ursachen. Es ist richtig – das habe ich bereits ich glaube, für den ganzen Bundestag wichtig – beruht
gesagt –, dass man die Ursachen sehen muss. Das habe auf den Entscheidungen der internationalen Gemein-
ich Ihnen in meinen Antworten auf Ihre vielen Fragen schaft, auf dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten
bestätigt. Aber bei allem Respekt bitte ich Sie, auch mit Nationen und auf den Resolutionen 1814, 1816 sowie
Amtsträgern zu Zeiten Ihrer Regierungsverantwortung den darauf aufbauenden Resolutionen. Die europäischen
zu erörtern, welche Versäumnisse es in früheren Jahren Marineverbände sollen die zivile Schifffahrt schützen
bei der Regierung möglicherweise gegeben hat. Die und dabei insbesondere den Schiffen des Welternäh-
Lage ist für die jetzige Bundesregierung so, wie sie ist. rungsprogramms Geleitschutz geben. Die Lieferungen
Wir haben mit dieser Lage umzugehen. Deswegen sor- mit humanitären Hilfsgütern für die somalische Be-
gen wir erstens für die Sicherheit unserer Staatsbürgerin- völkerung erfolgen fast ausschließlich über den Seeweg.
8172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Edelgard Bulmahn
(A) Die an Atalanta beteiligten Kriegsschiffe haben seit Be- Seit mehr als 20 Jahren ist Somalia ein Staat ohne (C)
ginn des Einsatzes sichergestellt, dass alle 86 im Auftrag handlungsfähige Zentralregierung. Während inzwi-
des Welternährungsprogramms durchgeführten Schiffs- schen in Somaliland stabile Verhältnisse herrschen, füh-
transporte ihre somalischen Zielhäfen sicher erreichen ren im Süden Konflikte zwischen den verschiedenen
konnten. Damit konnten fast 470 000 Tonnen Nahrungs- Klans immer wieder zu Gewalt, zu bürgerkriegsähnli-
mittel und weitere wichtige Hilfsgüter nach Somalia ge- chen Zuständen, zu Verfolgung und zu massiven Flücht-
bracht werden, wo bis zu 1,8 Millionen Menschen ver- lingsströmen. Millionen von Menschen leiden unter
sorgt werden. Atalanta hat in den vergangenen Monaten Hunger und sind auf die Hilfe aus dem Ausland ange-
sehr viel zur Sicherung der Seewege in dieser Region wiesen.
beigetragen, aber die Piraterie und die damit verbunde-
Die Transitional Federal Government, die internatio-
nen Gefahren für die Seeleute sind keineswegs überwun-
nal anerkannte Übergangsregierung – sie ist der einzige
den. Deshalb wird die SPD-Bundestagsfraktion der Ver-
Ansprechpartner der Staatengemeinschaft –, ist politisch
längerung des Mandats zustimmen.
und militärisch nicht in der Lage, mehr als wenige Stra-
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sehr vernünftig!) ßenzüge in Mogadischu zu kontrollieren. Auch das ge-
lingt im Übrigen nur mit Unterstützung der Afrikani-
Die Zahl der Seeräuberattacken – das muss man hier schen Union in Somalia, AMISOM.
im Deutschen Bundestag ausdrücklich festhalten – hat
leider nicht abgenommen, sondern sie hat im letzten Jahr Deutschland, der Europäischen Union, ja, der interna-
dramatisch zugenommen. Allein im vergangenen Jahr tionalen Staatengemeinschaft insgesamt fehlt es an einem
wurden weltweit über 406 Angriffe von Seeräubern auf kohärenten Gesamtkonzept für Somalia – ich glaube,
zivile Schiffe verzeichnet. Die stärkste Zunahme hat es das müssen wir selbstkritisch festhalten –, an einem
dabei im Übrigen im Golf von Aden und im Roten Meer Konzept, das erreichbare Ziele beschreibt. Es geht um
gegeben. Gerade diese Region passieren jährlich unge- eine kohärente Strategie, die eine Perspektive für eine ei-
fähr 20 000 zivile Schiffe. Allein im ersten Halbjahr genständige Entwicklung Somalias aufzeigt. Ich bin da-
2010 ist es dabei zu 51 Angriffen durch Piraten gekom- von überzeugt, dass nur ein solch umfassender Ansatz
men, bei denen Schiffe unvermittelt mit Waffengewalt dazu führen kann, dass die Menschen in diesem Land
bedroht und gekapert wurden, Mannschaften monate- endlich wieder eine Perspektive erhalten. Deshalb müs-
lang als Geiseln genommen wurden und Reedereien um sen wir Atalanta auch als eine Mission verstehen, die die
Millionenbeträge für Lösegelder erpresst wurden. humanitäre Hilfe absichert und die Aufmerksamkeit im-
mer wieder auf Somalia lenkt. Es ist eine Mission für
Betroffen ist deshalb von diesen Angriffen die zivile umfassendere und langfristige Programme zur Entwick-
Schifffahrt insgesamt, einschließlich der Schiffe, die lung und zum Staatsaufbau dieses Landes.
(B) (D)
Nahrungsmittel und Hilfsgüter für die notleidende soma- Damit das gelingen kann, müssen die Europäische
lische Bevölkerung transportieren. Um die Angriffe auf Union und ihre Mitgliedstaaten Somalia vor allem durch
die zivilen Schiffe und die Schiffe, die die Hilfsgüter humanitäre Hilfe und bei der Schaffung und Durchset-
transportieren, zu verhindern, gibt es die Operation zung von Rechtsstaatlichkeit stärker unterstützen. Nur
Atalanta. Deshalb möchte ich an dieser Stelle den Bun- durch den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und die
deswehrsoldaten für diese schwierige Aufgabe, die sie Unterstützung dabei können die Verantwortlichen in So-
tagtäglich meistern müssen, ebenfalls meinen ausdrück- malia selbst in die Lage versetzt werden, stärker gegen
lichen Dank auch im Namen der Kolleginnen und Kolle- die Piraterie sowie gegen die Instabilitäten und gegen die
gen aussprechen. Gewalt in ihrem Lande vorzugehen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Herr Minister, wenn Sie in Ihrer Rede die Bedeutung
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eines vernetzten Ansatzes und die Bedeutung der zivilen
Unterstützung, der zivilen Aufbaumaßnahmen, die wir
Wir sind uns durchaus der Tatsache bewusst, dass wir in diesem Land durchführen müssen, herausstellen, dann
die Piraterie nicht besiegen werden, wenn wir uns auf stimme ich Ihnen zu. Ich sage Ihnen aber ausdrücklich,
die militärischen Mittel allein konzentrieren. Wir müs- dass Ihre Aussage nicht glaubwürdig ist, wenn Sie am
sen viel stärker die Bekämpfung der Ursachen in den gleichen Tag, heute, in diesem Parlament gemeinsam mit
Blick nehmen. Der Kampf gegen Piraterie wird nur den Regierungsfraktionen eine Kürzung der Ansätze
erfolgreich sein, wenn er Hand in Hand mit der Bekämp- für zivile Krisenprävention und für humanitäre
fung der Armut in Somalia, der Sicherung von Men- Maßnahmen in einem derartigen Umfang durchführen.
schenrechten und dem Aufbau funktionsfähiger staatli-
cher Strukturen einschließlich der Sicherheitsstrukturen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
geht. Militärisches Engagement – das gilt insbesondere DIE GRÜNEN)
für meine Fraktion – kann kein Ersatz für Staatlichkeit
Das ist keine glaubwürdige Politik. Das gilt auch für Sie,
und für eine friedliche Entwicklung Somalias sein und ist
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfrak-
es auch nicht. Deshalb sind die Beteiligung Deutschlands
tionen.
an dem Programm der internationalen Gemeinschaft zum
Wiederaufbau staatlicher Strukturen und an der Finan- Wenn wir hier eine glaubwürdige Politik vertreten
zierung von AMISOM zur Ausbildung von Ausbildern wollen – das muss der Anspruch des gesamten Parla-
und Mentoren für die somalische Polizei ebenso wie die mentes sein –, dann müssen Sie diese Kürzungen zu-
Fortsetzung der humanitären Hilfe unverzichtbar. rücknehmen. Denn es ist nicht vereinbar, auf der einen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8173
Edelgard Bulmahn
(A) Seite die Bedeutung dieser Maßnahmen zu unterstrei- Programme – die Lieferungen gehen im Wesentlichen (C)
chen und auf der anderen Seite die Grundlage für die über See in die bedrohten Gebiete – Nahrung erhalten.
Umsetzung dieser Maßnahmen zu zerstören. Ich sage Ih- Diese Lebensmittellieferungen erfolgten unter unserem
nen ausdrücklich: Dafür hat niemand Verständnis. Die Schutz.
Debatte darüber wird mit dem heutigen Tag nicht been-
det sein. Wir müssen in Deutschland die Voraussetzun- Ich glaube auch, dass wir in Atalanta auch insofern ei-
gen dafür schaffen, dass wir unsere wichtigen Aufgaben nen Erfolg sehen können, als wir weit über die Europäi-
weiterhin erfüllen können. Das ist eine ganz wichtige Er- sche Union, weit über die NATO hinaus Länder animiert
rungenschaft hier in Deutschland, zu der viele Parlamen- haben, sich an der Sicherung dieser Seeverbindungs-
tarier einen Beitrag geleistet haben. Wir haben kein Ver- wege zu beteiligen. Denken Sie an China, Indien, Pakis-
ständnis dafür, wenn zu verhindern versucht wird, dass tan oder Indonesien – all das sind Länder, die die Sicher-
hier die Grundlage für politisches Handeln, für zivile heit dieser Seeverbindungslinien auch im Hinblick auf
Krisenprävention, für die wichtigen zivilen Aufbaumaß- ihre eigenen Interessenslagen für wichtig halten und die
nahmen, die ergriffen werden müssen, geschaffen wird. dort mit Atalanta zusammenarbeiten.
Frau Bulmahn hat darauf hingewiesen, dass die
Präsident Dr. Norbert Lammert: Anzahl der Angriffe der Piraten gerade im letzten Jahr
Frau Kollegin! zugenommen hat. Ja, das ist richtig, Frau Kollegin
Bulmahn; aber die Anzahl der dabei erfolgreichen Kape-
Edelgard Bulmahn (SPD):
rungen mit Geiselnahme nahm im Verhältnis ab. Ich
glaube, das ist auch ein wichtiger Punkt, wenn wir über
Ich sage zum Schluss noch einmal: Ja, wir brauchen
Atalanta sprechen. Unsere Präsenz dort zeigt also Wir-
eine Verlängerung dieser Operation. Aber wir brauchen
kung. Nicht nur, weil wir dort militärisch vertreten sind,
eben auch die Grundlagen dafür, dass die zivilen Maß-
sondern auch weil die Reeder zunehmend in der Lage
nahmen nicht nur in Sonntagsreden unterstrichen, son-
sind, selber für ihre Schiffe Vorsorge zu treffen, sind wir
dern auch konkret durchgeführt werden.
insgesamt erfolgreich. Wir führen mit den Reedern stän-
Vielen Dank. dig Gespräche, und wir sind gemeinsam erfolgreich. Die
Vorsorge der Reeder und das Eingreifen von Atalanta
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben dazu beigetragen, dass das Problem der Piraterie
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eingedämmt werden konnte. Das hat auch dazu geführt,
dass wir knapp 80 Piraten vor Gericht gestellt haben. In
Präsident Dr. Norbert Lammert: Hamburg läuft der erste Prozess.
Das Wort erhält nun der Parlamentarische Staatsse-
(B)
kretär Thomas Kossendey. Wir müssen dennoch, glaube ich, angesichts der (D)
Größe des Territoriums, das zu schützen wäre, eingeste-
hen, dass eine lückenlose Abdeckung schlichtweg nicht
Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär beim Bun- möglich sein wird. Allerdings können wir – das wollen
desminister der Verteidigung: wir auch weiter tun – den Schwerpunkt darauf legen, die
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schiffe des Welternährungsprogramms zu sichern. Die
Auch wir vom Verteidigungsministerium bitten Sie Schiffe, die sich bei Atalanta anmelden und dann unter
heute um Ihre Zustimmung zur Fortsetzung der EU-Ope- den sogenannten Konvoischutz gestellt werden, sind im
ration Atalanta. Seit Beginn dieser Operation Ende 2008 Regelfall sicher durch das gefährdete Gebiet gekommen.
kann Atalanta durchaus auf bemerkenswerte Erfolge zu-
rückblicken. Alle beteiligten Nationen – das geht weit Natürlich kann man monieren, dass Atalanta allein
über die Länder der Europäischen Union hinaus – kön- das Problem der Piraterie nicht eindämmen wird. Minis-
nen mit Fug und Recht auf diese Erfolge stolz sein. Wir ter Westerwelle hat einiges zu den Aktivitäten an Land
können auch auf das stolz sein, was die Seestreitkräfte gesagt. Ich denke, das ist wichtig. Denn wenn wir die
der beteiligten Länder bewirkt haben. Wir sollten ganz Ursachen an Land nicht bekämpfen, werden die Solda-
konkret den über 300 deutschen Soldatinnen und Solda- ten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf See arbeiten
ten, die auf unseren Marineschiffen an dieser Operation müssen. Das wollen wir nicht.
beteiligt sind, für ihren Einsatz danken. Sie leisten eine
Atalanta ist aber für diese Übergangszeit unverzicht-
hervorragende Arbeit, und sie erfahren dafür im interna-
bar. Denn wenn wir Atalanta heute einstellen würden,
tionalen Rahmen – das steht hier zu Hause häufig etwas
würden die Menschen in Somalia wieder hungern. Das
im Schatten – eine sehr hohe Anerkennung.
würde bedeuten, dass sich Piraterie weiter ungehindert
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ausbreiten könnte. Wir müssen in dieser Region die Kul-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- tur der Gewalt und die Kriegsökonomie durchbrechen.
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Und wir müssen darauf achten, dass wir durch ein politi-
sches Rahmenprogramm, sage ich einmal, in Somalia
Ich will Ihnen anhand einiger Zahlen deutlich ma- funktionierende Strukturen und Regulierungsmechanis-
chen, wie erfolgreich Atalanta war. Allein 2010 wurden men wiederbeleben.
90 000 Tonnen Hilfsgüter nach Somalia gebracht. Das
sind 2 500 Lastwagenladungen. Frau Bulmahn und Lieber Herr Kollege Ströbele, wenn Sie einmal vor
Minister Westerwelle, Sie haben es ja angesprochen: Ort gewesen wären und mit den politisch Verantwortli-
1,8 Millionen Menschen konnten durch das World Food chen – vielleicht auch mit Fischern – gesprochen hätten,
8174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Parl. Staatssekretär Thomas Kossendey


(A) dann wüssten Sie, dass die romantische Vorstellung, dass Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
Fischer zu Piraten werden, falsch ist. Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Buchholz
für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der LINKEN)
Ich glaube, es ist eher sogar eine Beleidigung für ei-
nen ganz normalen Somali-Fischer, wenn wir ihm unter-
stellen, er würde dadurch, dass ihm Fische weggefischt Christine Buchholz (DIE LINKE):
würden, zum Mörder, Geiselnehmer, Piraten und Terro- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen
risten. Ich glaube, wer so über die somalischen Fischer Sie sich für eine Minute vor, Sie wären in Somalia, Sie
redet, hat mit ihnen relativ wenig zu tun gehabt. wären einer von 3,2 Millionen Menschen, die ohne die
Hilfslieferungen der UNO nicht überleben können, Sie
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist Quatsch, müssten sich und ihre Familie ernähren. Vielleicht wäre
was Sie erzählen!) Ihr einziger Ausweg aus dem tagtäglichen Kampf ums
Überleben, sich einer Piratenorganisation anzuschließen.
Wir werden, Herr Ströbele – lesen Sie das Mandat
einmal in Ruhe –, auch das Thema der illegalen Fische- (Zuruf von der CDU/CSU: So ein Quatsch!)
rei dort ansprechen. Ich empfehle Ihnen – möglicher-
weise haben Sie es ja da liegen – mal die Ziffer 3 g des – Hören Sie sich an, was die Angeklagten in Hamburg
Mandats zu lesen. Darin ist das Thema Fischerei in au- zu sagen haben! – Dann verwundert es Sie nicht, dass
ßerordentlich deutlicher Weise erwähnt. die Zahl der Piratenüberfälle nicht zurückgegangen ist.
Das ist schon mehrfach gesagt worden; ich möchte noch
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Fahren Sie einmal Zahlen hinterherschicken: Von Januar bis Sep-
einmal nach Hamburg!) tember 2010 gab es 126 Piratenüberfälle. Im gleichen
Zeitraum des Jahres 2008, also im letzten Jahr vor Ata-
Wir wollen natürlich mit dem, was wir an Land ma- lanta, waren es 87. Piraterie wurde nicht bekämpft. Der
chen, langfristig eine Perspektive für Somalia erreichen. einzige Effekt der Mission ist, dass die Piraten ihr Ein-
Allerdings muss man – wenn man Somalia kennt, und satzgebiet ausgeweitet haben.
ich kenne es seit den 90er-Jahren, als wir zum ersten Mal
mit der Bundeswehr dort waren – auch sehr deutlich sa- Es gehört auch dazu, wenn man ehrlich Bilanz ziehen
gen: Das sind Ziele, für die wir Geduld und einen langen will, zur Kenntnis zu nehmen, dass es im Jahr 2006 die
Atem brauchen. niedrigste Zahl von Überfällen gab. Das lag daran, dass
es damals in weiten Teilen Somalias politische Struktu-
Atalanta hilft den Menschen in der Region. Atalanta ren mit Unterstützung der Bevölkerung gab: die Union
(B) schützt aber auch uns; denn Atalanta hilft eben mit, dass der Islamischen Gerichtshöfe. Aber diese Struktur loka- (D)
die Seewege in der Region passierbar bleiben, dass der ler Autoritäten hat den Regierungen in Europa und in
internationale Handel als eine wesentliche Stütze unse- den USA nicht gepasst. Sie gerieten ins Visier des soge-
res Wohlstandes und auch unserer Sicherheit nicht in nannten Kriegs gegen den Terror. Im Sommer 2006 un-
Gefahr gerät. Auch dafür schulden wir unseren Soldatin- terstützte die Bush-Administration eine äthiopische In-
nen und Soldaten Dank. Das sind Soldatinnen und Sol- vasion, in deren Folge 16 000 Somalier getötet wurden
daten, die manchmal 200 Tage im Jahr von zu Hause weg und der somalische Staat endgültig zusammengebrochen
sind und unter durchaus fordernden Bedingungen – kli- ist. Der Zusammenbruch des somalischen Staates ist also
matisch wie unterbringungsmäßig – einen sehr schwieri- nicht vom Himmel gefallen, sondern ein Ergebnis der
gen und fordernden Dienst leisten. westlichen Intervention.
Ich bitte Sie um Zustimmung, dass wir dieses, im (Beifall bei der LINKEN)
Übrigen auf klaren völkerrechtlichen Grundlagen beru-
hende Mandat mit einer Obergrenze von 1 400 Soldatin- Westliche Regierungen haben sich ein paar somali-
nen und Soldaten um ein Jahr verlängern. Dieses Mandat sche Warlords ausgeguckt und zur neuen somalischen
enthält eine Ausweitung des Operationsgebietes. Da die Regierung erklärt. Mittlerweile sind 8 000 Soldaten der
Piraten – Sie haben es gehört – ihre Einsatzgebiete aus- Afrikanischen Union, teilweise finanziert mit Entwick-
geweitet haben, muss dem auch Atalanta folgen. Wir ha- lungshilfegeldern aus der EU, in Mogadischu, um diese
ben das in diesem Mandat vorgesehen und werden uns in Warlords zu stützen. Die Bundesregierung und die EU
diesen erweiterten Rahmen von Atalanta einpassen. finanzieren einen Krieg mit, der allein in diesem Jahr
2 000 Zivilisten das Leben gekostet hat. Reden Sie also
Wir brauchen heute ein klares, ein deutliches Signal nicht von der humanitären Politik der Bundesregierung
für eine fortgesetzte deutsche Beteiligung an dieser er- in Somalia!
folgreichen EU-Mission. Ein solches Mandat gibt übri-
(Beifall bei der LINKEN)
gens auch unseren Soldatinnen und Soldaten den Rück-
halt, den sie brauchen, um motiviert diese Arbeit zu tun. Voraussetzung für ein Ende der Piraterie sowie für die
Es ist gleichzeitig, wie ich finde, ein Zeichen der Aner- Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in
kennung für das, was die Soldatinnen und Soldaten im Somalia sind das Ende des Krieges und eine somalische
Auftrag des Bundestages für unser Land dort leisten. Ich Regierung, die von den Somaliern akzeptiert wird.
bitte Sie um Zustimmung.
(Beifall bei der LINKEN – Philipp Mißfelder
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) [CDU/CSU]: Damit verkündet!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8175
Christine Buchholz
(A) Das kann offensichtlich keine Regierung sein, die sich Ich finde es aber schon mutig, zu unterstellen, bei der (C)
die westlichen Regierungen handverlesen herausgepickt Übergangsregierung in Somalia handele es sich um
und militärisch unterstützt haben. Leute, die vom Westen herausgepickt worden seien.
Könnten Sie mir einmal verraten, woran wir uns halten
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Ach, sollen, wenn nicht an eine von der Afrikanischen Union
Quatsch!) vorgeschlagene Lösung? Die Afrikanische Union ist
Die Bundesregierung besteht aber darauf, mit darüber zu eine Institution, die sich seit ihrer Gründung vor acht
entscheiden, wer in Somalia regiert. Damit hat sie Mitver- Jahren darum bemüht – dazu gibt es ein klares Bekennt-
antwortung für das Leid sowohl der Somalier als auch der nis –, am Ende der Reise möglichst viel Demokratie,
von der Piraterie betroffenen Seeleute. Teilhabe der Bevölkerung und Einhaltung der Men-
schenrechte in Afrika zu erreichen. Sie bemüht sich,
(Beifall bei der LINKEN) auch in Somalia, bei schwierigster Ausgangssituation,
Die Bundesregierung scheint fest entschlossen, mit eine entsprechende Lösung herbeizuführen. Das unter-
Atalanta ihr erstes Experiment in Sachen Seeraumüber- stützen wir. Nennen Sie mir eine Alternative, die wir
wachung in aller Welt nicht aufzugeben. verfolgen könnten und die völkerrechtlich ähnlich rele-
vant wäre wie die von der Afrikanischen Union vorge-
(Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Ach du schlagene Lösung!
lieber Gott!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Worum es dabei wirklich geht, macht nun nach Horst der CDU/CSU)
Köhler auch Minister Guttenberg deutlich, indem er sagt,
es gehe darum, den Zusammenhang von regionaler Si- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
cherheit und Wirtschaftsinteressen offen und ohne Ver- Zur Antwort, Frau Kollegin, bitte.
klemmung anzusprechen. Guttenberg wörtlich:
Der Bedarf der aufstrebenden Mächte an Rohstof- Christine Buchholz (DIE LINKE):
fen steigt ständig und tritt damit mit unseren Be- Lieber Kollege Spatz, das Grundproblem Ihrer Außen-
dürfnissen in Konkurrenz … politik – und der Außenpolitik früherer Regierungen – ist,
dass Sie in Ländern Afrikas oder in Afghanistan mit west-
Damit ist die Katze aus dem Sack: Die Bundeswehr lichen Maßstäben Regierungen aufbauen wollen.
soll für Einsätze fit gemacht werden, deren Ziele nicht in
erster Linie Terroristen oder Kriminelle sind, sondern (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben es immer
konkurrierende Staaten. noch nicht verstanden!)
(B) (D)
Das Ganze bekommt dann noch die Tünche des UN-Si-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: cherheitsrates.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Das Problem ist – schauen Sie sich die Situation in
Kollegen Spatz? Somalia an! –: Die Reichweite der Übergangsregierung
in Somalia ist nicht viel größer als die Reichweite der
Christine Buchholz (DIE LINKE): Regierung in Kabul. Das heißt, die Unterstützung der
Ich bin gleich am Ende meiner Rede. Danach darf der Bevölkerung ist überhaupt nicht gegeben. Es geht einzig
Kollege gerne fragen. – Es geht hier weder um das Wohl und allein darum, Leute aus dem Ausland einzufliegen,
der Somalier noch um das Wohl der Seeleute. Im Gegen- die dort die Interessen der westlichen Staaten vertreten.
teil: Sie zahlen den Preis für die weltpolitischen Ambi- Sie können das gerne „ideologiebelastet“ nennen. Sie
tionen der Bundesregierung. verfolgen dort die alte neokoloniale Ideologie. Das leh-
nen wir ab.
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Auweia!)
(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)
Deswegen wird die Linke die Operation Atalanta weiter-
hin ablehnen. – Es freut mich, Sie ein weiteres Mal zu amüsieren. Sie
können mir aber nicht erzählen, dass Ihr Vorgehen ideo-
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Helge Braun logiefrei ist.
[CDU/CSU]: Eine Rede von vorgestern! Ka-
der des Sozialismus!) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Vielen Dank!
Das reicht jetzt! – Patrick Kurth [Kyffhäuser]
[FDP]: Jetzt reicht es aber wirklich!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Zu einer Kurzintervention hat das Wort der Kollege Ansonsten war dies meine ganz ideologiefreie Antwort
Spatz. auf Ihre ideologiefreie Frage, Herr Spatz.
(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/
Joachim Spatz (FDP): CSU]: So jung und schon so verbohrt!)
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin
Buchholz, ich will jetzt nicht auf Ihre ideologiebelastete Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Schlussfolgerung eingehen. Es ist sattsam bekannt, was Das Wort hat nun die Kollegin Katja Keul für die
Sie da für abstruse Meinungen vertreten. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
8176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

(A) Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Menschen in Somalia. Meine Fraktion wird der Verlän- (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und gerung des Einsatzes daher überwiegend zustimmen.
Kollegen! Atalanta ist eine der wenigen militärischen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Operationen der Europäischen Union, über die wir hier
im Bundestag zu entscheiden haben. Die erste Frage, die Das darf aber keinesfalls jährliche Routine werden;
sich dabei immer stellt, ist die nach der völkerrechtli- denn es reicht nicht aus, Jahr für Jahr Fregatten an das
chen Grundlage. Die hohe See steht nach dem UN-See- Horn von Afrika zu schicken.
rechtsübereinkommen allen gleichermaßen zur friedli- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
chen Nutzung zu. Auf hoher See darf sich nicht nur jeder SES 90/DIE GRÜNEN)
selbst verteidigen, sondern auch Nothilfe zugunsten an-
derer leisten. Freie Seehandelswege liegen nicht nur im Wir alle wissen, dass die Piraterie nur ein Symptom der
Interesse einzelner Nationalstaaten, sondern im Interesse schwachen Staatlichkeit Somalias und der Perspektivlo-
aller. Herr Kossendey, richten Sie das bitte Herrn Minis- sigkeit seiner Bevölkerung ist. Somalia ist nach einem
ter zu Guttenberg aus: Keinesfalls dürfen sich rohstoff- jahrzehntelangen Bürgerkrieg in Armut und Chaos ver-
hungrige Staaten mit militärischen Mitteln Vorteile zu- sunken. Weder die Übergangsregierung noch die rund
lasten anderer verschaffen. 7 000 Soldaten der Afrikanischen Union können die Si-
cherheit im Land gewährleisten. Im Ergebnis ist Somalia
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit über 2 Millionen Flüchtlingen eines der größten hu-
sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE manitären Krisengebiete weltweit. 3,2 Millionen Men-
LINKE] – Zuruf von der CDU/CSU): Das will schen sind von der UN-Lebensmittelhilfe abhängig, und
auch keiner!) es gibt kaum legale Erwerbsmöglichkeiten.
Darum geht es bei Atalanta gerade nicht. Die freie Wo also bleibt das Gesamtkonzept? Im Vergleich zu
Schifffahrt auf hoher See ist eine völkerrechtliche Errun- den Aufwendungen für Atalanta können die zivilen Mit-
genschaft, nachdem die Weltmächte jahrhundertelang tel für den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen in Soma-
bestimmt haben, wer die Meere befahren darf. lia und die Verbesserung der Lebensbedingungen als
eher symbolisch bezeichnet werden. Stattdessen schickt
(Zuruf von der LINKEN: Klären Sie das ein- die Bundesregierung deutsche Offiziere nach Uganda,
mal mit Ihrem Kollegen Ströbele! – Gegenruf damit sie dort Soldaten für die somalische Übergangsre-
der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/ gierung ausbilden. Diese deutschen Offiziere sind ge-
DIE GRÜNEN]: Er hört auch zu!) meinsam mit ihren europäischen Kollegen in einer soge-
Bei allen berechtigten Vorbehalten gegenüber militäri- nannten einsatzgleichen Mission im Ausland tätig, ohne
(B)
schen Mitteln müssen wir in diesem Fall konstatieren, dass der Bundestag damit befasst war. Mir hat bislang (D)
dass die Marine hier als eine Art Weltpolizei im Auftrag noch keiner überzeugend erklären können, warum der
der UNO unterwegs ist. Parlamentsvorbehalt für diese problematische Mission
nicht gelten soll. Keiner weiß genau, wo diese ausgebil-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deten Kämpfer nachher in Somalia bleiben und wer sie
und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der langfristig bezahlen soll. Nicht einmal das Alter dieser
CDU/CSU) Rekruten und ihre Volljährigkeit stehen zweifelsfrei fest.
Ich erwarte von der Bundesregierung, dass uns als Parla-
Frau Kollegin Buchholz, immerhin befinden sich immer mentariern auch dieses Mandat zur Prüfung und Ent-
noch 438 Menschen in der Gewalt somalischer Piraten. scheidung vorgelegt wird.
Eine Geiselnahme ist nicht so etwas wie ziviler Unge-
horsam. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Außerdem fordern wir Grüne schon lange, dass uns
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nicht nur isolierte militärische Mandate vorgelegt wer-
und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der
den, sondern dass uns ein integriertes, das heißt auch ein
CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Das hat
ziviles Konzept vorgelegt wird. Die Bundesregierung
keiner behauptet! – Gegenruf der Abg. Kerstin
sollte ihren Sitz im UN-Sicherheitsrat ab Januar 2011
Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nutzen und sich für die Entwicklung einer kohärenten
NEN]: Doch! Das hat sie gerade behauptet!)
politischen Strategie für Somalia einsetzen, für ein Kon-
Bei diesem Einsatz werden weder Zivilisten gefährdet zept, das sich durch langfristig wirkende zivile Instru-
noch nationale Souveränitätsrechte verletzt. Soweit im mente auszeichnet, damit wir nicht auf Dauer Symptome
Rahmen von Atalanta die Küstengewässer Somalias ein- bekämpfen müssen.
bezogen sind, liegen das Einverständnis der Übergangs- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
regierung und ein entsprechendes Mandat des UN-Si-
cherheitsrates vor. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Küstengewässer sind gerade für die Schiffe des Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Welternährungsprogramms wichtig, da die Lebensmittel
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
schließlich in den Häfen ankommen müssen. Der Ein-
Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
satz dient damit sowohl der Durchsetzung des geltenden
Völkerrechts als auch der Versorgung der notleidenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8177

(A) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): werben daher dafür, dieses Mandat politisch zu unter- (C)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und stützen. Es befindet sich auf einem völkerrechtlich si-
Herren! Frau Kollegin Buchholz, auch ich möchte das, cheren und auf einem wertegebundenen Fundament,
was Sie gesagt haben, nicht unkommentiert stehen las- weil wir uns für den Schutz der Freiheit, der Menschen-
sen. Das war wieder ein Stück – so ist es bei einer Viel- rechte und letztendlich für den Schutz der somalischen
zahl der Reden, die Sie hier halten –, das vor allem auf Bevölkerung einsetzen.
einer Aneinanderreihung von Verschwörungstheorien (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Guttenberg hat
basierte. gesagt: von Handelswegen!)
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das ist Ich lasse auch nicht den romantisierenden Einwurf
auch dieselbe These, die Sie immer vortra- gelten, es handele sich bei diesen Piraten um arme Fi-
gen!) schersleute, denen gar nichts anderes übrig bleibt, als so
Ich weiß nicht, wo im Internet Sie das gefunden ha- zu handeln. Hier geht es um ein Verbrechen und um
ben. Wir wissen ja, dass manche Schüler Hausarbeiten Mörderbanden. Es ist nicht entscheidend, was diese
einfach aus dem Internet kopieren und als ihr Werk ab- Leute nachher vor Gericht aussagen. Ich frage mich, wer
geben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie als ge- ihnen eigentlich vorher gesagt hat, was sie vor Gericht
wählte Bundestagsabgeordnete sich so etwas selbst aus- aussagen sollen. Was sie sagen, kann man nicht ernst
gedacht haben; nehmen. Wir sollten sie an den Straftaten und nicht an
den Rechtfertigungen, die hier politisch ins Feld geführt
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ich werden, messen.
schon!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
zumindest hoffe ich, dass Sie sich das nicht selbst ausge- Widerspruch bei der LINKEN)
dacht haben.
– Dass die Linke den Rechtsstaat reklamiert, ist ihr gutes
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Wo kopie- Recht. Deutschland ist ein Rechtsstaat. Aber hören Sie
ren Sie denn Ihre Reden ab?) auf mit diesen romantisierenden Einwürfen in Bezug auf
Vielleicht nutzen Sie diese Homepage mit Verschwö- Piraterie!
rungstheorien in Zukunft nicht mehr und kümmern sich (Zuruf von der LINKEN: Keiner romanti-
stattdessen um die Politik, die hier hingehört. Dieser siert!)
Beitrag war so wenig ernsthaft, dass er in eine solche
Debatte einfach nicht gehört, Frau Kollegin. Das muss Kein Mensch auf der Welt, dem es schlecht geht, hat das
Recht, andere Menschen zu entführen und zu töten. Ein
(B) ich Ihnen von dieser Stelle aus einmal zurufen. (D)
solches Verhalten ist inhuman. Wir setzen das Völker-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) recht an dieser Stelle durch. Wir sind grundsätzlich an-
Das glatte Gegenteil war Ihre Rede, Frau Kollegin derer Auffassung als Sie darüber, wie das Völkerrecht
Keul. Ihren kritischen Anmerkungen müssen wir uns wehrhaft zu verteidigen ist.
selbstverständlich stellen. In der Tat ist es so, dass die (Beifall bei der CDU/CSU)
Verlängerung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr
hier zum Teil zu einer Routineaufgabe verkommt. Das Der freie Zugang zu Handelswegen ist die Grundlage
liegt an der Uhrzeit, zu der diese Debatten teilweise statt- unseres Wohlstandes und auch die Grundlage einer funk-
finden. Das liegt aber auch an der öffentlichen Wahrneh- tionierenden globalisierten Weltwirtschaft. Wenn dieser
mung. Schließlich ist weder das Fernsehen bereit, die De- Freihandel weltweit nicht durchführbar ist, wenn Reeder
batte zu einer solchen Uhrzeit zu übertragen, noch wollen aus Deutschland und Europa Angst haben müssen, ihre
Journalisten sich in größerer Zahl damit auseinanderset- Schiffe in diese Regionen zu schicken, dann wird es
zen. keine Lösung für die Schwellenländer und für die Ent-
wicklungsländer auf der Welt geben, die an diesem
Ich finde, bei diesem Einsatz müssen wir uns kritisch Wohlstand dauerhaft partizipieren wollen.
fragen: Haben wir in unserer Afrika-Politik genug ge-
tan? Ich muss sagen: Wir haben in der Vergangenheit zu Es ist natürlich richtig, dass die erste Welt am meisten
wenig getan, was Afrika angeht. Ich möchte die Bundes- vom Freihandel profitiert. Aber unser Ansatz für nach-
regierung ausdrücklich ermutigen, den Weg, den wir seit haltige Lösungen hinsichtlich Afrika muss sein, mög-
einem Jahr beschreiten, zu verstetigen. Dieser Außen- lichst viele Länder in den Welthandel einzubeziehen.
minister hat den afrikanischen Kontinent in seiner noch Das kann nur funktionieren, wenn es Investitionssicher-
relativ kurzen Amtszeit häufig besucht. Auch in der heit, Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nächsten Woche wird er versuchen, dort Impulse zu set- nehmer sowie freie und sichere Handelswege gibt. Das
zen. ist ein Grund, warum man dieses Piraterieproblem – es
ist ja ein Phänomen der letzten Jahre – nicht auf die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) leichte Schulter nehmen darf, sondern sehr ernst nehmen
muss. Deshalb bitten wir Sie um Unterstützung für die-
Das ist der Weg, zu dem ich Sie alle ermutigen
ses Mandat.
möchte. Hier müssen wir mehr tun.
Herzlichen Dank.
Eines ist klar: Eine Mandatsverlängerung, um die wir
den Bundestag ersuchen, ist zweifellos notwendig. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
8178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: EU-geführten Operation EUFOR/Althea. Die Bundesre- (C)
Ich schließe die Aussprache. gierung unterstützt zudem die politischen und zivilen
Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, die ei-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf nen Beitrag zur nachhaltigen Stärkung der Demokratie
Drucksache 17/3691 an die in der Tagesordnung aufge- und des Rechtsstaats in Bosnien und Herzegowina leis-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- tet. Unser Ziel ist ein stabiler Staat, in dem alle Ethnien
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die friedlich miteinander leben können. Außerdem muss
Überweisung so beschlossen. Bosnien-Herzegowina in der Lage sein, aus eigener
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt III auf: Kraft auf seinem Weg in Richtung EU und NATO voran-
zuschreiten.
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Die militärische Sicherheitslage in Bosnien-Herzego-
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- wina ist stabil. Erfreulicherweise sind auch die diesjähri-
scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera- gen Parlamentswahlen, wie bereits die Wahlen in den
tion „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisierung vergangenen Jahren, friedlich und im Wesentlichen im
des Friedensprozesses in Bosnien und Herze- Einklang mit internationalen Standards verlaufen. Die
gowina im Rahmen der Implementierung der moderaten Kräfte, die sich die Modernisierung und wei-
Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensverein- tere Stabilisierung des Landes zum Ziel gemacht haben,
barung sowie an dem NATO-Hauptquartier sind aus diesen Wahlen gestärkt hervorgegangen. Das ist
Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage ein großer Erfolg für Bosnien und Herzegowina.
der Resolution des Sicherheitsrates der Ver-
einten Nationen 1575 (2004) und Folgeresolu- Die innenpolitische Lage bleibt indessen kompliziert.
tionen Das Verhältnis zwischen den drei wichtigsten Volks-
gruppen – Bosniaken, Serben und Kroaten – bleibt leider
– Drucksache 17/3692 – wenig konstruktiv. Die Entscheidungswege sind lang
Überweisungsvorschlag: und überaus kompliziert. Aus diesem Grund werden
Auswärtiger Ausschuss (f) viele wichtige Reformen verhindert, die für eine erfolg-
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss reiche Annäherung Bosniens und Herzegowinas an die
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe EU und die NATO nötig wären. Eine Reform der Verfas-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und sung, die Bosnien-Herzegowina zu einem effizienter
Entwicklung funktionierenden Staat machen würde, ist bisher nicht
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
gelungen. Zuletzt hat der Sicherheitsrat der Vereinten
(B) Nationen am 18. November dieses Jahres festgestellt, (D)
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe dass die Bedingungen zur Schließung des Büros des Ho-
Stunde zu debattieren. – Ich sehe, Sie sind damit einver- hen Repräsentanten noch nicht vollständig erfüllt sind.
standen. Dann werden wir so verfahren.
Nicht alles, was im Friedensabkommen von Dayton
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das 1995 für Bosnien-Herzegowina festgelegt wurde, ist um-
Wort Herr Staatsminister Dr. Werner Hoyer. gesetzt. In seiner Resolution 1948 hat der Weltsicher-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten heitsrat in diesem Jahr deshalb die Mitgliedstaaten der
der CDU/CSU) Vereinten Nationen zur Fortführung der multinationalen
Stabilisierungstruppe Althea ermächtigt und damit das
völkerrechtliche Mandat um ein weiteres Jahr verlän-
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen gert.
Amt:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Althea hat nach wie vor die Aufgabe, die bosnisch-
Namens der Bundesregierung bitte ich Sie um Zustim- herzegowinische Regierung bei der Aufrechterhaltung
mung für das Mandat zur Fortsetzung der Beteiligung eines sicheren und geschützten Umfeldes zu unterstüt-
bewaffneter deutscher Streitkräfte an der im Rahmen der zen. Darüber hinaus unterstützt Althea weiterhin den
Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Hohen Repräsentanten bei der Wahrnehmung und
Europäischen Union durchgeführten Operation EUFOR/ Durchsetzung seiner exekutiven Sondervollmachten in
Althea in Bosnien-Herzegowina und am NATO-Haupt- Bosnien und Herzegowina. Althea leistet außerdem ei-
quartier in Sarajevo. nen wichtigen Beitrag zur Ausbildung und zum Aufbau
der bosnisch-herzegowinischen Streitkräfte.
Die weitere Stabilisierung Bosnien-Herzegowinas
liegt im besonderen außenpolitischen Interesse der Bun- Im Laufe der kommenden Monate und im Lichte der
desrepublik Deutschland und der Europäischen Union. Entwicklung in Bosnien-Herzegowina wird über die Zu-
Wir wollen Bosnien-Herzegowina in seiner Entwicklung kunft des OHR und auch über das exekutive Mandat von
als demokratischer Rechtsstaat und auf dem Weg in die EUFOR/Althea zu entscheiden sein. Denkbar ist eine
europäischen und euro-atlantischen Integrationsformen Überführung in eine reine Ausbildungsmission.
weiter unterstützend begleiten.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zurzeit be-
Deutschland hat sich seit 1995 am Friedensprozess in teiligt sich Deutschland mit gut 120 Soldatinnen und
Bosnien und Herzegowina beteiligt, zuerst an den Soldaten – von insgesamt circa 1 650 Soldatinnen und
NATO-Operationen IFOR und SFOR und ab 2004 an der Soldaten – an der Operation Althea. Diese deutschen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8179
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
(A) Soldatinnen und Soldaten tragen und trugen dazu bei, Wir blicken, wenn wir uns das fragen, auf den Balkan (C)
dass die Menschen in Bosnien-Herzegowina seit vielen und insbesondere nach Bosnien-Herzegowina. Wir müs-
Jahren in Frieden leben können. Dafür gebührt ihnen un- sen feststellen, dass der Frieden von Dayton in vielerlei
ser aufrichtiger Dank. Hinsicht immer noch ein kalter Frieden ist. Wir müssen
feststellen, dass es insbesondere in Bosnien-Herzego-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie wina in den letzten Jahren Stagnation und nicht Fort-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- schritt gibt. Deshalb stimme ich Herrn Staatsminister
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Hoyer ausdrücklich zu: Die Verlängerung des Mandats
Sollte die Sicherheitslage in Bosnien-Herzegowina wei- für die Operation Althea ist ein wichtiges Signal, dass
terhin stabil bleiben, so könnte die Präsenz von EUFOR wir weiterhin Verantwortung in dieser Region überneh-
im Frühjahr 2011 reduziert werden. Für diesen Fall be- men wollen, aber – das sage ich sehr deutlich – sie ist
absichtigt die Bundesregierung, in Abstimmung mit den nur ein Signal. Wenn wir Fortschritte in dieser Region in
EU-Partnern das deutsche Kontingent bis auf das Perso- Europa sehen wollen, muss sich die Europäische Union
nal im Hauptquartier in Sarajevo und ein zusammen mit – das ist der entscheidende Punkt – dort stärker, konkre-
Österreich vorgehaltenes Reservebataillon zu reduzie- ter und nachhaltiger engagieren, jedenfalls mehr als bis-
ren. her.
(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Den Bundestag werden wir in dieser Angelegenheit
selbstverständlich in geeigneter Form auf dem Laufen- Nach all den Rückschlägen, die wir erlebt haben,
den halten. stellt sich die Frage: Ist das möglich? Ich sage: Ja, das ist
möglich. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir zur-
Bei allem vorsichtigen Optimismus über die Entwick- zeit erleben, dass in Bosnien-Herzegowina vielleicht
lung in Bosnien-Herzegowina müssen wir dennoch doch wieder Bewegung im positiven Sinne entstehen
Sorge dafür tragen, dass das Erreichte nicht durch einen kann. Aus welchen Gründen?
verfrühten Abzug in Gefahr gerät. Die Beibehaltung der
aktuellen Personalobergrenze bleibt daher aus Sicht der Der erste Grund ist – auch das hat der Staatsminister
Bundesregierung gegenwärtig bis auf Weiteres notwen- schon angesprochen –, dass die Wahlen am 3. Oktober
dig. Die mögliche weitere Entwicklung im Falle einer dieses Jahres die moderaten Kräfte gestärkt haben. Sie
positiven Situation Anfang des nächsten Jahres habe ich haben bei diesen Wahlen einen Stimmenzuwachs be-
Ihnen erläutert. Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie um kommen, ausdrücklich nicht mit nationalistischen The-
Ihre Zustimmung zur Fortsetzung von EUFOR/Althea men, sondern mit Themen, die sich um die Zukunft des
(B) mit einem inhaltlich unveränderten Mandat. Landes, um konkrete berufliche und soziale Chancen der (D)
Menschen gedreht haben.
Vielen Dank.
Der zweite Grund ist, dass die nun anstehende Regie-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
rungsbildung eine große Chance ist, in den völlig blo-
ckierten Diskussionen über die Verfassungsreform viel-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: leicht wieder etwas zu bewegen.
Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Nietan für
die SPD-Fraktion. Der dritte Grund ist – das ist aus meiner Sicht für die
Menschen dort ein wichtiges Signal –, dass mit der nun
(Beifall bei der SPD) bevorstehenden Visaliberalisierung auch die Bosniaken
in den Genuss der Rechte kommen, die viele Kroaten
Dietmar Nietan (SPD): und Serben auf dem Gebiet von Bosnien-Herzegowina
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schon haben.
In vielen Diskussionen, die wir mit Bürgerinnen und Der vierte Grund ist, dass wir beobachten können,
Bürgern und auch hier unter uns führen, kommen wir, dass die beiden großen Nachbarstaaten Kroatien und
wenn wir erklären wollen, warum die Europäische Serbien in ihren bilateralen Beziehungen, aber auch in
Union trotz aller Missstände und Rückschläge ein so ihrer Entwicklung insgesamt auf einem guten Weg sind.
wichtiges Projekt ist, immer an den Punkt, an dem wir Ich möchte ausdrücklich herausheben, dass wir mit den
sagen, dass die Europäische Union in der Nachkriegszeit beiden Präsidenten Josipovic und Tadic dort im Moment
zumindest für Westeuropa das zentrale Friedensprojekt zwei politische Führer erleben, die sich im Aussöh-
war. Für uns stellt sich natürlich die entscheidende nungsprozess wirklich engagieren. Das kann auch eine
Frage: Kann die Europäische Union, die in Westeuropa Chance für die Entwicklung in Bosnien-Herzegowina
nach dem Zweiten Weltkrieg der entscheidende Frie- bedeuten.
densfaktor war, auch den europäischen Kontinent insge-
samt befrieden und allen Menschen in Europa eine Per- Damit diese Bewegung entstehen kann, muss die Eu-
spektive bieten, ihr Leben in Freiheit zu gestalten, in ropäische Union klare Signale senden. Aus meiner Sicht
einer Art und Weise zu gestalten, dass sie Perspektiven muss das erste Signal sein, dass nach der Erweiterung
für sich und ihre Kinder haben, nicht nur in Fragen der um Kroatien mit der Erweiterungsperspektive nicht
Sicherheit, sondern auch in Fragen der sozialen Gerech- Schluss ist, dass wir unser Versprechen vom Europäi-
tigkeit und des materiellen Wohlstandes? schen Rat 2003 in Thessaloniki ernsthaft und glaubwür-
8180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Dietmar Nietan
(A) dig erneuern – und das nicht nur mit Lippenbekenntnis- Für die Bundesrepublik Deutschland und uns Parla- (C)
sen. mentarier, aber auch für die Regierung gilt es, klare Si-
gnale zu senden. Ich will wiederholen: Parlament und
Es gilt auch, über die Frage zu diskutieren, ob es nicht Regierung sollten deutlich machen, dass diejenigen, die
so etwas wie eine Roadmap für Bosnien-Herzegowina insgeheim oder offen sagen: „Nach der Erweiterung der
im Erweiterungsprozess geben könnte, nicht etwa – da- Europäischen Union um Kroatien ist mit der Erweiterung
mit wir uns nicht missverstehen – im Sinne eines Short- erst einmal Schluss“, bei uns keine Mehrheit haben. Die
cuts, einer Abkürzung, oder gar eines Rabatts, sondern Beitrittsperspektive aufzugeben, wäre das Schlimmste,
im Sinne einer neuen Initiative vonseiten der EU, den was wir tun könnten. Dadurch würden wir die Lage vor
Beitrittsprozess stärker zu strukturieren und – man sollte
Ort destabilisieren.
überlegen, welche Möglichkeiten es hier gibt – Meilen-
steine, erste Erfolgserlebnisse unterhalb der Schwelle ei- Die Bundesregierung muss, wie ich finde, auch Lady
nes Beitritts zu generieren, damit die Menschen in dieser Ashton unterstützen. Ich habe den Eindruck, dass Lady
Region erkennen können, dass die Beitrittsperspektive Ashton großes Engagement auf dem Westbalkan zeigt,
ernst gemeint ist. nicht nur im Hinblick auf den Kompromiss, den sie mit
Präsident Tadic bezüglich der Kosovo-Resolution gefun-
Ein weiterer Punkt ist, dass sich die Europäische
den hat. Dies könnte das erste Feld sein, auf dem sie be-
Union überlegen muss, ob sie in der Frage der Ablösung
des Hohen Repräsentanten bisher glücklich agiert hat. weist, dass der Europäische Auswärtige Dienst und sie
Denn wir erleben, dass er immer mehr zu einer lahmen in Person durchaus in der Lage sind, etwas zu leisten.
Ente wird. Auf der einen Seite sagen fast alle europäi- Dabei sollte die Bundesrepublik Deutschland sie unter-
schen Staaten: Diese Institution soll abgelöst werden. – stützen.
Aber konkretes Engagement, um die fünf Ziele zu errei- Wir sollten die guten Beziehungen, die Deutschland
chen und die zwei Bedingungen zu erfüllen, um also den zur Russischen Föderation und zur Türkei hat, nutzen, um
Deadlock, den es dort gibt, zu durchbrechen, ist nicht er- auch diese beiden Staaten stärker in diesen Prozess einzu-
kennbar. Das stärkt die destruktiven Kräfte. Sie reiben binden. In einem ersten Schritt sollten wir eine intensive
sich die Hände, dass es einen Hohen Repräsentanten Strategieabstimmung mit unseren amerikanischen Freun-
gibt, der nicht mehr so agieren kann, wie er es vielleicht den vornehmen. Dann sollten wir mit unseren türkischen
möchte, und die EU bisher nicht in der Lage ist, Bedin- und russischen Freunden eine gemeinsame Strategie ent-
gungen zu schaffen, die es ihr ermöglichen, selbst grö- wickeln und sie einbinden. Auch das könnte den Druck
ßere Verantwortung zu übernehmen. auf diejenigen, die sich nicht konstruktiv verhalten, er-
Der nächste Punkt, den ich für wichtig halte, ist die höhen.
(B) Frage, ob wir die konstruktiven Kräfte unterstützen kön- Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen: Ich bin der fes- (D)
nen. Ich finde, es ist ein hervorragendes Signal, dass der ten Überzeugung, dass das, was dort geschieht, für uns
Chef der SDP, Zlatko Lagumdzija, erklärt hat, dass er Deutsche, aber auch für die Europäische Union eine
sich eine Regierungsbildung unter Beteiligung der SDP große Bewährungsprobe ist. Europa bzw. die Europäi-
nur dann vorstellen kann, wenn die neue Regierungs- sche Union hat in den 90er-Jahren versagt, als es darum
mehrheit mit konkreten Verfassungsänderungen startet. ging, einen Beitrag zu einem friedlichen Prozess beim
Er macht also Fortschritte im Hinblick auf die Verfas- Zerfall Jugoslawiens zu leisten. Ein zweites Scheitern
sung zu einer Bedingung für die Regierungsbildung. In
der EU, wenn es darum geht, den Balkan endgültig zu
dieser Hinsicht sollten wir von deutscher Seite die kon-
befrieden und ihn an die Europäische Union heranzufüh-
struktiven Kräfte unterstützen, gerade aufgrund unserer
ren, wäre vielleicht das Ende der EU als anerkannter und
Erfahrungen mit dem Föderalismus.
handlungsfähiger außenpolitischer Akteur. In jedem Fall
Wir müssen den Druck auf diejenigen, die sich bisher wäre es das Ende der EU als glaubwürdiges Friedenspro-
völlig kontraproduktiv und nationalistisch verhalten, er- jekt für ganz Europa. Ich glaube, das können und wollen
höhen, zum Beispiel auf Milorad Dodik. Ich möchte al- gerade wir als Deutsche uns nicht leisten. In diesem
lerdings nicht jede Hoffnung aufgeben, weil ich glaube, Sinne unterstützen wir diese Operation. Sie kann aber
dass der eine oder andere im Lager von Dodik erkennt, nur ein Schritt sein. Am Ende müssen wir uns politisch
dass ein prosperierendes, sich auf dem Weg zur EU be- stärker engagieren.
findliches Bosnien-Herzegowina am Ende auch im Inte-
resse der Menschen in der Republika Srpska ist. Vielen Dank.

Bei aller Wertschätzung für Präsident Tadic würde ich (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
mir wünschen, dass auch er den Druck auf Dodik und und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
andere erhöht. Es ist nicht unbedingt ein hilfreiches Si-
gnal, wenn der Präsident zum Beispiel bei Wahlkampf- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
auftritten von Dodik anwesend ist. Ich finde, den Be- Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
kenntnissen Serbiens, dass es eine konstruktive Rolle Christian Schmidt.
spielen will, muss jetzt auch ein stärkerer Druck auf
Herrn Dodik folgen.
Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär beim Bun-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten desminister der Verteidigung:
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
SES 90/DIE GRÜNEN) 15 Jahre ist es nun her, dass mit dem Massaker von Sreb-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8181
Parl. Staatssekretär Christian Schmidt
(A) renica das „Nie wieder“, das wir uns für Europa und die ten bedürfen, um wieder Ruhe und Frieden zu schaffen (C)
Welt zum Ziel gesetzt haben, durchbrochen wurde. In und die Grundlagen zu erhalten, die für eine positive
der Tat war es leider so – Kollege Nietan, da haben Sie Entwicklung des Staates Bosnien-Herzegowina stehen.
völlig recht –, dass dieses Massaker aufgrund der Macht-
losigkeit und des zu kurz greifenden Engagements Euro- Deswegen wird die Bundeswehr mit einer Obergrenze
pas in Bosnien-Herzegowina nicht hat verhindert werden von 900 Soldaten nach wie vor um das Mandat werben.
können. Mit dem Mandat, wenn es vom Bundestag beschlossen
wird, wird sie dann auch die Möglichkeiten haben, so-
15 Jahre später – nicht nur nach Dayton, sondern auch wohl exekutiv als auch nichtexekutiv tätig zu sein, wo-
nach all den Irrungen, Wirrungen und schwierigen Situa- bei das Schwergewicht zwischenzeitlich auf dem ge-
tionen – können wir sagen, dass sich doch ein nachhalti- meinsamen Bataillon mit Österreich liegt, das sich hinter
ger – soll ich sagen: hoffentlich nachhaltiger? – Erfolg in dem Horizont befindet und nur im Notfall eingreifen
der Befriedung Bosnien-Herzegowinas zeigt. würde.
Die militärische Seite, die den Frieden nicht bringen, Die Hoffnung, dass wir im Laufe des Jahres 2010,
sondern nur die Voraussetzungen dafür schaffen kann, noch bevor wir dieses Mandat noch einmal verlängern
dass Frieden und Aussöhnung möglich sind, hat ihren müssen, dazu kommen, dass wir nichtexekutiv tätig wer-
Beitrag nach den bitteren Erfahrungen von Srebrenica den und dies gemeinsam gestalten können, gebe ich und
geleistet. Sie ist jetzt in einer Situation, in der militäri- gibt die Bundesregierung nicht auf. Bis dahin wollen wir
sche Stabilität – dies wurde bereits gesagt – vorhanden in aller Seriosität unseren Beitrag dazu leisten, dass der
ist. Wir möchten die Aufgabe des militärischen Teils der Übergang Bosnien-Herzegowinas auch wirklich sicher-
Mission sehr gerne in einen nichtexekutiven Teil über- gestellt wird und das Land Teil der europäischen Staa-
führen; das heißt, wir müssen uns in der Tat mit den poli- tengemeinschaft wird.
tischen Rahmenbedingungen beschäftigen.
Wir bitten deshalb um Unterstützung für den Antrag
Ich darf mich der Aufforderung an Serbien anschlie- der Bundesregierung.
ßen, sich unmissverständlich in den Dienst einer Europäi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sierung des Westbalkans insgesamt zu stellen. Es gibt
viele guten Anzeichen dafür, dass dies der Fall ist. Das
sollten wir, gerade im Hinblick auf die Erfahrungen vor Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
15 Jahren, überhaupt nicht leugnen. Die Signale, die aus Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
Belgrad kommen, sind alles in allem eher ermutigend. für die Fraktion Die Linke.
Aber man muss Herrn Dodik und all denen, die meinen,
(B) Separatismus, das Umgehen von Dayton und die Nicht- (Beifall bei der LINKEN) (D)
perspektive Europa könnten als versteckte Agenda ge-
führt werden, ein klares Nein auch der Europäischen Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
Union und der europäischen Staatengemeinschaft zu sol- Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-
chen Entwicklungen entgegenhalten. men und Herren! Die Bundesregierung lässt in ihrem
Antrag an den Absichten, die hinter dem Einsatz von
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Bundeswehrsoldaten in Bosnien-Herzegowina stehen,
der FDP)
keinerlei Zweifel aufkommen. In dem Antrag heißt es
Wir sind über den Weg von IFOR über SFOR und – ich zitiere –: „Das Land muss … den Weg der Integra-
EUFOR heute in der Situation, dass in Bezug auf Bos- tion in euro-atlantische Strukturen aus eigener Kraft“ ge-
nien-Herzegowina die ersten Ansätze und Überlegungen hen. Die EU-Mission Althea soll also die NATO-Anbin-
hinsichtlich Mitgliedschaften in internationalen Organi- dung Bosnien-Herzegowinas militärisch absichern. Was
sationen, der NATO und – Sie haben es angedeutet – der ist das eigentlich, wenn nicht imperiale Politik?
Europäischen Union im Raum stehen. Das ist ein Erfolg. (Lachen des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP])
Wir sollten diesen Erfolg nicht dadurch aufs Spiel set-
zen, dass wir die Sicherheitslage vorzeitig, wie Kollege Seit der Ära Guttenberg bekennt sich die Bundes-
Hoyer das beschrieben hat, durch Nachlässigkeit mehr regierung ja offen zu Einsätzen der Bundeswehr für
oder weniger gefährden. Rohstoffe, für freie Märkte – wir haben das eben in der
Debatte zu Atalanta gehört – und für freie Handelsrou-
Ein klein wenig nachdenklich stimmt uns schon, dass ten. Das sind Zitate von Herrn Guttenberg selbst. Lieber
wir eine Reihe von Partnerstaaten haben, die sich in mi- Herr Stinner, nehmen Sie zur Kenntnis, dass Ihr Minister
litärischen Komponenten offensichtlich nicht mehr so diese Worte gesagt hat, und zwar nicht erst kürzlich im
intensiv um die Situation in Bosnien-Herzegowina küm- November; vielmehr hat er sich bereits im Juni darüber
mern. Sie haben die fünf Aufgaben und die zwei Bedin- gewundert, dass Bundespräsident Köhler, der zurückge-
gungen angesprochen. Sie haben das nach wie vor nicht treten ist, nicht genügend Unterstützung von Ihnen be-
zu einer Entscheidung kommende PIK im Hinblick auf kommen hat. Das sind die Worte Ihres Ministers. Ich zi-
den Hohen Repräsentanten und die Bonn Powers ange- tiere diese Worte nur.
schnitten, die letztendlich dahinterstehen. Solange diese
Fragen nicht endgültig im Sinne eines Konsenses gelöst (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand
sind, wird es wohl, wenn es zu schwierigen Situationen [CDU/CSU]: Erst angreifen und jetzt uns be-
kommt, zumindest einer Präsenz mit militärischen Kräf- schimpfen! Ist ja unfassbar!)
8182 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Deshalb sage ich: Diese neue Ehrlichkeit hat nur den ter geschürt. Das muss meiner Meinung nach umgehend (C)
Vorteil, dass Sie damit ehrlicher sind, als es die Grünen ein Ende haben.
und die SPD sind.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
(Beifall bei der LINKEN – Abg. Michael CDU/CSU: Dass Nationalisten zu Nationalis-
Brand [CDU/CSU]: Es ist unanständig, wie mus reden!)
Sie sich gegenüber dem Bundespräsidenten Zum Schluss: Die militärische Absicherung neolibe-
verhalten haben!) raler Reformen und der Einbindung Kosovos in die
Mit diesem Einsatz wird auch die neoliberale EU-Er- NATO muss beendet werden. Das Büro des EU-Protek-
weiterungsstrategie begleitet. Hinsichtlich Bosnien-Her- torats, des Hohen Repräsentanten, muss aufgelöst wer-
zegowina wird in der Strategie kritisiert – ich zitiere –: den. Nur so und durch die finanzielle Unterstützung der
hiesigen bosnischen Bevölkerung kann sich Bosnien ei-
Die Privatisierung, die Umstrukturierung öffentli- genständig entwickeln. Ihre Politik wird dagegen nicht
cher Unternehmen und die Liberalisierung des den Frieden sichern helfen. Ziehen Sie also die Bundes-
Marktes der netzgebundenen Industrien sind nicht wehr aus Bosnien-Herzegowina ab. Verschlimmern Sie
weiter vorangeschritten. nicht noch das soziale Elend in Bosnien, wie Sie es in
den letzten Jahren gemacht haben. Achten Sie endlich
Weiter heißt es in dieser Strategie, das Sozialsystem ein Minimum – das ist wirklich nicht zu viel verlangt –
sei zu gut und müsse deshalb dringend reformiert wer- an Rechtsstaatlichkeit auch auf dem Balkan.
den. Finden Sie das eigentlich nicht zynisch gegenüber
Bosnien-Herzegowina, wo ein Fünftel der Menschen mit (Beifall bei der LINKEN – Henning Otte [CDU/
weniger als 2 US-Dollar pro Tag auskommen muss? CSU]: Vier Minuten Theatralik!)
Sind 2 US-Dollar für Sie einfach zu viel?
Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Lage in Bosnien-Herzegowina weiter verschlechtert. Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Der Gesamtstaat musste Kredite vom IWF aufnehmen Dr. Rainer Stinner das Wort.
und sich im Gegenzug Kürzungspakete diktieren lassen.
Gegen diese Kürzungen gab es massive Streiks und De- Dr. Rainer Stinner (FDP):
monstrationen. Unter den Protestierenden waren auch Sehr geehrte Frau Kollegin! Liebe Kolleginnen und
viele Behinderte, deren Zuschüsse und kostenloser Kollegen! Es ist ja entlarvend, wenn man mehrere sol-
Zugang zum Gesundheitssystem vom IWF gestrichen cher Debatten nacheinander hat. Es ist entlarvend,
(B) wurden. Am 21. April dieses Jahres wurden bei einer (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Was mei- (D)
solchen Demonstration 70 Menschen zum Teil schwer nen Sie, wie es uns ergeht jedes Mal?)
verletzt.
wenn man die Einlassungen von Ihnen und Ihren Kolle-
Die Bundeswehr kam dabei noch nicht zum Einsatz, gen hört. Ich bin mittlerweile zu der Überzeugung ge-
aber sie ist an der Ausbildung der bosnischen Polizei be- kommen, dass Sie eine fraktionsinterne Wette laufen ha-
teiligt. Deutsche Außenpolitik ist hier wahrlich keine ben, bei der es darum geht, dass jeder Redner von Ihnen
Friedenspolitik. Deshalb ist hier eine Umkehr erforder- – ganz egal, zu welchem Thema Sie sprechen – einige
lich. Ich würde mir wünschen, Sie würden auch nur ein- Vokabeln verwenden muss. Dazu gehört natürlich auch
mal genauer hinsehen, was die Folgen Ihres Handelns „neoliberal“.
vor Ort sind.
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das ist
(Beifall bei der LINKEN) doch nicht unser Problem! Das ist das Problem
der Politik!)
Auch die International Crisis Group – wahrlich keine
linke Institution – räumt ein, dass durch diese neolibera- Frau Kollegin Dağdelen, Sie werden bedauerlicher-
len Diktate der Ethno-Nationalismus dort befeuert wird. weise – das meine ich jetzt sehr ernst – mit Ihrer Rede,
mit Ihrem Vokabular und mit Ihrer Argumentation dem
(Zurufe von der FDP) Ernst der Lage in Bosnien-Herzegowina in keinster
– Ja, das sagt die International Crisis Group. Das passt Weise gerecht.
Ihnen natürlich nicht. – Jüngst haben diese Diktate auch (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
zu einem neuerlichen Anstieg ethnisch motivierter Ge- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
walttaten in Bosnien-Herzegowina geführt. Jetzt droht
eben auch noch die Föderation Bosnien-Herzegowina Wir haben eine furchtbare Situation gehabt. Es gibt die-
auseinanderzubrechen. Die EU-Mission Althea soll fort- sen, wie wir alle heute wissen, schlechten, problemati-
gesetzt werden und der Hohe Repräsentant soll mit sei- schen Vertrag von Dayton, unter dem wir alle leiden, un-
nen Sonderbefugnissen weiter im Land verbleiben, um ter dem auch das Land leidet. Wir versuchen, aus dieser
diese neoliberalen Diktate abzusichern. Situation herauszukommen, Frau Dağdelen, indem wir
versuchen, das Land zu entwickeln.
(Michael Brand [CDU/CSU]: Ach je!)
Wenn Sie diese Rede in Sarajevo halten würden, wür-
Dabei sind Sie Teil des Problems. Durch Ihre Politik in den die Leute Sie auslachen – wenn nicht Schlimmeres.
Bosnien-Herzegowina wird der Nationalismus dort wei- Zu glauben, dass wir gegen den Willen von Bosnien-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8183
Dr. Rainer Stinner
(A) Herzegowina dabei sind, das Land imperial-kapitalis- in Ihrem Interesse und nach Ihrer Logik, und dann wun- (C)
tisch-neoliberal auszubeuten, um es dazu zu knechten, dern Sie sich, dass die Bevölkerungen vor Ort mit einer
endlich zu uns zu kommen, damit wir es aussaugen kön- Kolonialvertretung, wie es sie im Moment mit dem Ho-
nen, ist ein solch blödsinniges Bild, dass Sie damit ei- hen Repräsentanten gibt, nicht einverstanden sind. Sie
gentlich nur Verachtung erreichen können. als Vertreter einer Fraktion, die sich eine liberale Frak-
tion nennt, können doch nicht im Ernst davon sprechen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dass dieser Hohe Repräsentant irgendetwas mit deut-
Ich kann Ihnen nur sagen: Mit solch einer Politik sind scher Rechtsstaatlichkeit oder unserem Verständnis von
Sie weit davon entfernt, ernsthafte Gesprächspartner im Rechtsstaatlichkeit zu tun hat. Was daran ist in Ihren Au-
Deutschen Bundestag zu werden. gen noch Liberalismus?
Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun die Kollegin Katja Keul für die
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Dağdelen zur Erwiderung.
(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Jetzt kommt we-
nigstens wieder ein bisschen Intelligenz!)
Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
Lieber Herr Stinner, erstens sind Sie nicht befugt, so-
zusagen im Namen der ganzen Bevölkerung in Deutsch- Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
land zu sagen, wer in den Debatten um Außen- und Si- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
cherheitspolitik ernst genommen werden kann und wer Liebe Kollegin Dağdelen, zunächst noch eine Bemer-
nicht. kung zu Guttenberg und dem Imperialismus: Ich wäre
ganz bei Ihnen, wenn es darum ginge, den Minister dafür
Das Zweite ist: Sie nehmen einfach nicht zur Kennt- zu kritisieren, dass er nicht sorgfältig differenziert. Ich
nis, dass nicht nur die Linksfraktion im Deutschen Bun- muss aber leider sagen: Auch Sie differenzieren bei Ihrer
destag Kritik an den Militäreinsätzen auf dem Balkan Position nicht sorgfältig.
zum Ausdruck bringt, sondern zum Beispiel eben auch
die International Crisis Group. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der
(Michael Brand [CDU/CSU]: Das stimmt SPD und der FDP – Sevim Dağdelen [DIE
(B) doch gar nicht! Belegen Sie das mal!) LINKE]: Die Grünen sind immer für den (D)
Krieg! – Gegenruf des Abg. Omid Nouripour
Sie werden mir zustimmen, dass das keine linke Institu-
tion ist. Auch die Stiftung Wissenschaft und Politik sagt, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ist aber
dass die Situation in Bosnien-Herzegowina mal gut!)
Zur Sache: Der Krieg in Bosnien-Herzegowina ist seit
(Michael Brand [CDU/CSU]: Neues Deutsch-
nunmehr 15 Jahren beendet. Doch obwohl die Waffen
land! Sie haben die falsche!)
seit 1995 schweigen, müssen wir im Bundestag erneut
noch nie so verfahren, noch nie so schlecht war über die Verlängerung eines Bundeswehrmandats ent-
scheiden. Das zeigt uns wieder einmal, dass Frieden weit
(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE mehr ist als die Abwesenheit von Krieg.
LINKE])
(Michael Brand [CDU/CSU]: So ist es!)
wie im letzten Jahr und in diesem Jahr.
Der Beitrag der Bundeswehr besteht derzeit noch aus
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch schon 120 Soldaten. Im kommenden Frühjahr werden auch
mal falsch!) diese voraussichtlich abgezogen. Die militärische Prä-
Das äußert die Stiftung Wissenschaft und Politik, nicht senz wird sich dann auf eine Handvoll Verbindungsoffi-
die Linksfraktion im Deutschen Bundestag. Die SWP ziere im Hauptquartier beschränken. Das ist ein gutes
sagt, dass diese Konflikte weder durch politischen noch Zeichen. Denn militärische Einsätze zur Konfliktbewäl-
durch wirtschaftlichen oder durch militärischen Druck, tigung müssen auch irgendwann zu Ende gehen. Unter
dieser Prämisse werden auch wir Grünen dem Mandat
(Zuruf von der CDU/CSU: Die SWP hat das noch einmal zustimmen.
niemals gesagt! – Michael Brand [CDU/CSU]:
Wer denn bei SWP?) Die verbliebenen Risiken in Bosnien-Herzegowina
sind inzwischen weniger militärischer als politischer,
wie ihn die Bundesregierung und die Europäische Union ökonomischer und polizeilicher Natur. Die in Dayton
im Moment ausüben, gelöst werden können. entworfene Verfassung war letztlich nur eine Hilfskon-
Sie glauben, am Reißbrett auf dem Balkan Staaten struktion, um den Krieg in Europa endlich zu beenden.
aufbauen zu können Das 1995 entworfene Staatsgefüge ist viel zu komplex
und fragmentiert, als dass sich darauf eine gemeinsame
(Michael Brand [CDU/CSU]: Ach du liebe Zukunft der drei Volksgruppen begründen ließe. Aktuell
Güte!) existieren mit den Kantonen, der Föderation und der Re-
8184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Katja Keul
(A) publik Srpska praktisch 13 verschiedene Ebenen statt ei- nicht mehr über die Verlängerung dieses Mandats ent- (C)
nes einheitlichen Staates. Die gesamtstaatlichen Organe scheiden müssen.
sind seit Jahren quasi funktionsunfähig.
Ich danke Ihnen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
im Dezember letzten Jahres entschieden, dass der ethni- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sche Proporz in Exekutive und Legislative gegen die Eu- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
ropäische Menschenrechtskonvention verstößt. SPD und der FDP)

(Michael Brand [CDU/CSU]: Das hat er klug Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


entschieden!) Philipp Mißfelder ist nun der letzte Redner in dieser
Der Europarat hat daher eine Änderung des Wahlrechts Debatte. Er spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
verlangt. Das ethnische Proporz- und Vetosystem muss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
endlich durch eine demokratische Verfassung ersetzt
werden.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Herren! Frau Keul, auch in dieser Debatte war nach dem
SPD und der FDP) Aussetzer von Frau Dağdelen Ihre ordnende Hand leider
Solange dies nicht gelingt, sind der Hohe Vertreter mit notwendig.
seinen exekutiven Befugnissen und die Unterstützung (Lachen bei der LINKEN)
durch Althea als Rückversicherung unverzichtbar.
Ich finde es beruhigend, dass auch im größten Teil des
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auswärtigen Ausschusses das Thema Westbalkan mit
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und großer Ernsthaftigkeit, aber immer auch mit großer
der FDP) Sorge diskutiert wird.
Der Bürgermeister des bosnisch-serbischen Foca Wir dürfen eines nicht außer Acht lassen: Vor
sagte kürzlich auf einer Veranstaltung in Berlin, die in- 15 Jahren war Europa nicht kurz davor, zu scheitern,
ternationale Gemeinschaft müsse die bosnische Bevöl- sondern es ist fundamental gescheitert, weil wir zugelas-
kerung endlich laufen lernen lassen. Die positive Kraft, sen haben, dass direkt vor unserer Haustür Gewalt und
so der Bürgermeister, gehe von der kommunalen Ebene Völkermord stattgefunden haben,
aus. Die lokale Selbstverwaltung stärke das Vertrauen
(B) der Bevölkerung in eine friedliche Zukunft. Die Dezen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (D)
tralisierung ermögliche es, die territorialen Zuordnungen SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
nach ethnischen Kriterien zu überwinden. Das macht GRÜNEN)
Hoffnung. und weil wir mit den vorhandenen Strukturen leider
Auf der anderen Seite bremsen Korruption und krimi- nicht in der Lage waren, dieser Aufgabenstellung ge-
nelle Strukturen den demokratischen Fortschritt. Die recht zu werden.
meisten Machthaber der Föderation und der Republik
Die grüne Partei hat ja lange mit sich gerungen, wel-
Srpska wollen mit allen Mitteln ihre Macht erhalten.
chen Weg man dort am besten einschlagen sollte. Wir
Eine Teilung Bosnien-Herzegowinas ist aber mit Europa
sollten nie vergessen, wie Joschka Fischer damals in
nicht zu machen. Das muss auch der deutsche Außen-
Bielefeld – kurz vor oder nach dem Farbbeutelwurf; ich
minister unmissverständlich klarmachen.
weiß es nicht – die Linie ausgegeben hat: nie wieder
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auschwitz, nie wieder Völkermord! – Das finde ich in
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der dieser Debatte durchaus bemerkenswert. Deshalb muss
SPD und der FDP) sie auch sehr ernst geführt werden. Hier geht es nicht um
Kolonialismus. Hier geht es nicht um enge Interessen;
Die EU steht den 4,3 Millionen Bürgerinnen und Bür- vielmehr geht es hier nur um ein einziges Interesse, das
gern Bosnien-Herzegowinas gegenüber in der Pflicht. wir als Europäische Union und als Bundesrepublik
Am 2. Juni wurde auf dem EU-Westbalkan-Gipfel in Sa- Deutschland haben, nämlich Frieden zu schaffen direkt
rajevo die Beitrittsperspektive noch einmal bekräftigt. vor unserer Haustür und ihn dauerhaft zu erhalten. Um
Ein wichtiges und längst überfälliges Zeichen in diese nichts anderes geht es an dieser Stelle.
Richtung ist die kürzlich beschlossene Visaerleichte-
rung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
des Abg. Dietmar Nietan [SPD])
Aber nur ein Staat, der seinen Bürgerinnen und Bür-
gern die gleichen Rechte und Pflichten unabhängig von Ich möchte auf den Beitrag von Herrn Nietan zurück-
ethnischen Kriterien gewährt, kann die Beitrittsvoraus- kommen. In Dayton ist etwas auf den Weg gebracht wor-
setzungen erfüllen. Nach den Parlamentswahlen am den, was zunächst einmal den Frieden geschaffen hat.
3. Oktober richten sich unsere Hoffnungen auf neue Ini- Seitdem ist viel passiert: Slowenien ist Mitglied der Eu-
tiativen aus der bosnischen Politik und auf Menschen ropäischen Union geworden. Kroatien hat große Fort-
wie den Bürgermeister von Foca, damit Bosnien-Herze- schritte erreicht. Insgesamt muss man sagen, dass die Er-
gowina als Staat endlich laufen lernen kann und wir bald wartungshaltung der Länder des Westbalkans Richtung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8185
Philipp Mißfelder
(A) Europa wesentlich größer geworden ist. Das gilt auch für Europäischen Union heute sehen, muss die Vision eines (C)
die Hoffnung, die viele Menschen dort in Europa setzen. zusammenwachsenden Europas eben auch sein, nicht
nur einen wirtschaftlichen Integrationsrahmen darzustel-
Formale Regelungen – auch des Daytoner Abkom- len; vielmehr muss ganz klar auch Friedenspolitik in den
mens – sind im Einzelnen immer kritikwürdig; denn man Mittelpunkt gerückt werden. Dazu gehört, Frieden mit
kann nicht die politische Devise herausgeben, an einem diplomatischen Mitteln zu schaffen. Das ist möglich, in-
Regelwerk festzuhalten, nur weil man das Regelwerk dem man einen politischen Weg in die Europäische
selbst aufgestellt hat. Was anfangs ein Erfolg war, muss Union offen lässt und damit auch die konstruktiven
immer kritisch überprüft werden, zweifellos. Deshalb Kräfte ermutigt.
darf unser Anspruch, auch in der heutigen Debatte, wenn
es um die Entsendung deutscher Soldaten geht, nicht nur Vielen Dank.
sein, dort mit Soldaten aktiv zu sein, sondern unser An- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
spruch muss auch eine politische Perspektive umfassen. des Abg. Dietmar Nietan [SPD])
(Beifall des Abg. Roderich Kiesewetter [CDU/
CSU]) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Deshalb ist mein Plädoyer eindeutig – ich nehme den Ich schließe die Aussprache.
Ball von Dietmar Nietan gerne auf –, dass im Mittel- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
punkt unserer politischen Debatte stehen muss, einen Drucksache 17/3692 an die in der Tagesordnung aufge-
Weg für diese Länder in Richtung Europa und zur Euro- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
päischen Union zu gewährleisten und die Hoffnung nicht damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
zu enttäuschen. schlossen.
In Thessaloniki gab es beim Gipfeltreffen im Jahr Ich rufe den Tagesordnungspunkt IV auf:
2003 ein klares Bekenntnis zu den Werten der Europäi-
schen Union. Das sollten wir gemeinsam weiterverfol- Beratung des Antrags der Bundesregierung
gen und gemeinsam engagiert vorantreiben, selbst wenn Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut-
dies im Einzelfall ein sehr steiniger Weg sein wird, mit scher Streitkräfte bei der Unterstützung der
dem wir uns auch noch lange Zeit beschäftigen werden. gemeinsamen Reaktion auf terroristische An-
griffe gegen die USA auf Grundlage des Arti-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
kels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
der FDP sowie des Abg. Dietmar Nietan
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
[SPD])
(B) sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (D)
Die militärische Aktion ist und bleibt notwendig. Ich (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Natio-
möchte deshalb Franz Josef Jung, unserem früheren Ver- nen
teidigungsminister, ausdrücklich danken; denn es gab
– Drucksache 17/3690 –
viele Stimmen innerhalb der Europäischen Union, die ei-
Überweisungsvorschlag:
nen schnelleren Abzug gefordert haben. Man stelle sich Auswärtiger Ausschuss (f)
vor, das politische Druckmittel, gerade das Druckmittel, Rechtsausschuss
an der Integrität der Grenzen festzuhalten, wäre dort Verteidigungsausschuss
nicht militärisch untermauert – manche würden das viel- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
leicht als Freifahrtschein für ihr Großmachtstreben und Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ihren puren Nationalismus empfinden. Insofern ist es Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
richtig, dass unser politisches Engagement – Minister
Westerwelle hat dies in Belgrad sehr deutlich gemacht; Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
er hat auch viel erreicht, was das Kosovo angeht – mili- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind
tärisch unterstrichen werden muss – leider. Sie einverstanden. Dann verfahren wir so.
Ganz praktisch hat das auch die Auswirkung, dass Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
alle diejenigen, die sich um den Aufbau von politischen Wort Herr Staatsminister Dr. Werner Hoyer.
Strukturen in der Region bemühen, die sich um eine (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Nachhaltigkeit im politischen System bemühen, alle in-
ternationalen NGOs, im Grunde nur dadurch frei arbei-
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
ten können, dass man ein militärisches Drohpotenzial in
der politischen Hinterhand hat. Wäre es nicht vorhanden, Amt:
hätte die eine oder andere Organisation sich vermutlich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
nicht so frei entfalten können, wie es besonders in Bos- Bei ihrem Gipfel in Lissabon am vergangenen Wochen-
nien-Herzegowina momentan der Fall ist. Auch deshalb ende hat die NATO erneut gezeigt, dass sie 20 Jahre nach
ist dieser Einsatz notwendig. dem Ende des Kalten Krieges ein lebendiges Bündnis ist,
ein Bündnis, das sich den neuen Herausforderungen
Trotzdem sage ich auch hier: Wir streben keine Man- stellt. Das ist eine bemerkenswerte Feststellung, nachdem
datsverlängerung nur der Mandatsverlängerung wegen man so viele Jahre darüber gesprochen hat, dass die
an, sondern unser Angebot muss ein politisches sein. NATO am Ende sei und ihr in Zukunft die Aufgaben nach
Trotz der großen Schwierigkeiten, die wir innerhalb der Beendigung des Kalten Krieges fehlten. Sie ist nichtsdes-
8186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Staatsminister Dr. Werner Hoyer


(A) totrotz ein sehr lebendiges Bündnis. Mit dem neuen Stra- tionsmuster der Akteure des Terrorismus eingehen. Sie (C)
tegischen Konzept, auf das sich die 28 Staats- und Re- verändern sich ständig. Dementsprechend bedarf auch
gierungschefs geeinigt haben, ist die NATO auf dem der Kampf gegen den Terrorismus einer stetigen Anpas-
richtigen Weg. Deutschland hat in Solidarität mit seinen sung, um präventiv wirksam zu sein.
Partnern im Bündnis immer seinen Beitrag geleistet, ge-
Die jüngst offenbar gewordene Bedrohung aus dem
rade in Krisenzeiten und auch angesichts der andauern-
Jemen hat erneut gezeigt, wie wichtig ein klarer Infor-
den Bedrohung durch den internationalen Terrorismus.
mationsvorsprung des Staates im Kampf gegen den Ter-
Unter dem unmittelbaren Eindruck der Anschläge ror ist. Bei der Operation Active Endeavour werden für
vom 11. September 2001 erteilte der Bundestag erstmals die NATO neue Arten der Informationsgewinnung und
das Mandat, das es ermöglicht, dass deutsche Soldatin- Informationsverarbeitung mit dem Ziel entwickelt, um-
nen und Soldaten an Einsätzen bewaffneter Streitkräfte fassende Lagebilder zu erstellen. Eine entscheidende
gegen den internationalen Terrorismus teilnehmen. Das Rolle kommt dabei der Vernetzung der NATO-Struktu-
Mandat zur Beteiligung an der NATO-Operation Active ren mit anderen Akteuren in der Region sowie mit Part-
Endeavour im Mittelmeer war seit 2003 stets mit dem nerstaaten der NATO zu. So waren zum Beispiel Länder
Mandat zur Beteiligung an der US-geführten Operation wie Russland, Marokko und die Ukraine an Active En-
Enduring Freedom verbunden. Vor einem Jahr, bei der deavour beteiligt. Solche Beteiligungen wird es auch in
Verabschiedung des jetzt laufenden Mandats, hat die Zukunft geben. Alle verbindet das gemeinsame Ziel der
Bundesregierung zugesagt, die deutsche Beteiligung an Bekämpfung des Terrorismus. Hier erweist sich Active
OEF einer kritischen Bestandsaufnahme und Überprü- Endeavour als ein innovatives Zentrum in einem sich
fung zu unterziehen. Wir sind dabei zu dem Ergebnis ge- ausbreitenden Sicherheitsnetzwerk.
kommen, dass aufgrund der sich wandelnden Aktions-
formen des internationalen Terrorismus unsere weitere Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Teilnahme an Operation Enduring Freedom nicht vonnö- Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage
ten ist. Vom 2. Juli 2010 an sind die letzten Einheiten des Kollegen Ströbele?
vom Horn von Afrika, wo wir im Rahmen von OEF zu-
letzt ausschließlich aktiv waren, zurückgekehrt.
Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen
(Beifall bei der FDP) Amt:
Das heißt, wir haben unsere Zusage eingehalten. Das Vergnügen werde ich mir jetzt nicht machen.

Gleichwohl zeigen die aktuellen Warnungen zur Ter- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Vielen Dank,
rorgefahr hier in Deutschland gerade in diesen Tagen: Der Sie sind sehr freundlich!)
(B) (D)
Kampf gegen den internationalen Terrorismus dauert an. Ich freue mich aber auf die engagierte Diskussion dieses
Der Angriff der Terroristen auf den Westen insgesamt Antrages der Bundesregierung in den Ausschüssen des
fand nicht nur am 11. September 2001 in Washington, Deutschen Bundestages. Gegenwärtig sind wir in der
New York und in der Nähe von Philadelphia statt. Er Einbringung.
setzte sich fort am 11. März 2004 in Madrid und am
7. Juli 2005 in London. Die gescheiterten Versuche im (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist das
Anflug auf Detroit Weihnachten letzten Jahres und am erste Mal, dass Sie eine Zwischenfrage nicht
Times Square in New York in diesem Jahr sowie nicht zu- zulassen!)
letzt die aktuellen Drohungen gegen Deutschland zeigen: – In der Tat, es ist auch erst das zweite Mal, dass ich ein
Der Angriff und die Bedrohung dauern an. Deswegen Mandat einbringe. Bei einer Debatte im Deutschen Bun-
dauert auch die Selbstverteidigung dagegen an. destag werden Sie mich als aktiven Debattenredner wie-
Dabei wundere ich mich sehr, heute zu lesen, Herr derfinden. Aber jetzt werde ich das für die Bundesregie-
Kollege Erler, dass Sie gerade zum jetzigen Zeitpunkt rung vortragen, was hier gesagt werden muss.
Unbehagen zur völkerrechtlichen Grundlage äußern; Wir alle haben in den letzten Tagen erneut erfahren,
denn über die Argumente, die bereits vorgetragen wor- dass die Bedrohung durch den internationalen Terroris-
den sind, wurde in der Sache, insbesondere in Bezug auf mus real ist und auch uns betrifft. Wir werden uns dieser
den Hauptteil unseres früheren Engagements im Rahmen Herausforderung auch in Zukunft stellen müssen.
der Operation Enduring Freedom, diskutiert. Diese Ar-
gumente wurden von Ihnen in Ihrer damaligen Funktion Im Bündnis werben wir dafür, die aktive Verteidi-
vehement zurückgewiesen. Ich bin durchaus der Auffas- gungsoperation Active Endeavour auf Grundlage von
sung, dass man das sehr differenziert sehen muss. Das Art. 5 des NATO-Vertrages – da sind wir bei der Rechts-
gilt auch im Hinblick auf die zukünftige Ausgestaltung grundlage, Herr Kollege Erler; vielleicht können wir uns
der Aufgaben, die hier zu bewältigen sind – mit einem aufeinander zubewegen – mittelfristig zu einem ständigen
breiten Ansatz aus zivilen und militärischen Mitteln. Wir Verteidigungsplan weiterzuentwickeln, in dessen Rahmen
haben stets die Vernetzung vielfältiger Instrumente und Alliierte und NATO-Partner ständig zur Aufklärung und
Handlungsmöglichkeiten gerade im Zusammenhang mit Vorwarnung beitragen. Diese Umwandlung, bei der wir,
der damaligen Operation Enduring Freedom gewährleis- wie gesagt, wahrscheinlich wieder zusammenkommen,
tet. Das tun wir jetzt auch hier bei der gemeinsamen Ak- wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Auf dem Weg dort-
tion des Bündnisses Active Endeavour; denn wir müssen hin werden wir weiterhin im Rahmen der Bündnissolida-
doch auf die Veränderung der Bedrohungs- und Opera- rität zu unseren Verpflichtungen aus der Operation ste-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8187
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
(A) hen. Den deutschen Soldatinnen und Soldaten, die hierzu ist ein innovatives Zentrum. – Unter dem Strich, lieber (C)
täglich ihren Beitrag leisten, gebührt unser aufrichtiger Herr Staatsminister, war das ein Herumeiern und Nebel-
Dank. Aus diesen Gründen bittet die Bundesregierung kerzenwerfen. Sie wissen nämlich, auf welch tönernen
Sie um eine breite Unterstützung dieses durch den Weg- Füßen Ihr Antrag steht.
fall der Beteiligung an Operation Enduring Freedom nun
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
neu zu bestimmenden Mandats zum Einsatz bewaffneter
DIE GRÜNEN)
Streitkräfte im Rahmen der NATO-Operation Active En-
deavour. Jetzt kommen wir zum Kern. Wir hatten eine sehr inte-
ressante, aufschlussreiche Anhörung mit General Petraeus.
Vielen Dank.
Folgender Satz von ihm hat mich nachhaltig beeindruckt:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich als Soldat will vor allen Dingen eines, politische Klar-
heit und eine präzise Beauftragung. – An Klarheit und
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Präzision mangelt es in Ihrem Antrag. Warum? Weil Sie
Nächster Redner ist der Kollege Michael Groschek den Antragstext mit nachlässiger Routine und nicht mit
für die SPD-Fraktion. Klarheit und Präzision geschrieben haben, was nicht nur
der Bundestag, sondern auch die zu mandatierenden Sol-
(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht so laut!) datinnen und Soldaten erwarten können.
Ich will das deutlich machen. Sie haben bei der erst-
Michael Groschek (SPD):
mals alleinigen Verlängerung der Operation Active En-
Ganz leise und ganz ruhig, weil ich konsterniert bin. – deavour eben nicht auf eine präzise originale Begrün-
Sehr geehrter Herr Staatsminister, als Abgeordneter wa- dung dieses Anliegens Bezug genommen, sondern Sie
ren Sie ein prägnanter verteidigungs- und sicherheits- haben weitestgehend aus der in der Vergangenheit ge-
politischer Akteur, der auf Abrüstung und Rüstungskon- meinsamen Mandatierung von Active Endeavour und
trolle gesetzt und frühzeitig darauf hingewiesen hat, dass Enduring Freedom abgeschrieben.
man OEF nicht verlängern sollte, weil es ein vorüberge-
hendes Mandat sei. (Michael Brand [CDU/CSU]: Was wollen Sie
denn?)
(Michael Brand [CDU/CSU]: Da waren Sie
noch nicht im Parlament!) Beides ist aber nicht so zu vereinbaren. OEF, das war ein
zu Recht robustes Mandat, das mit hohen militärischen
Als Staatsminister haben Sie beim letzten Mal schon
Fähigkeiten ausgestattet war. Dazu gehörten zum Teil
eine Legitimation für OEF herbeigezaubert, von der Sie
Spezialkräfte, Unterstützungskräfte, ABC-Abwehrkräfte.
(B) selbst im Grunde nicht überzeugt waren. Sie haben uns Das Ganze war eine gezielte Reaktion, um Kampfein- (D)
ein Mandat mit einer Laufzeit von zwölf Monaten vorge-
sätze gegen Terrorcamps und Terroristen möglich zu ma-
legt, obwohl Sie wussten, dass Sie selbst als Person und
chen. Das, was heute zur Abstimmung steht, die Fortset-
auch Ihre Fraktion von diesem Mandat nicht überzeugt
zung der Operation Active Endeavour, hat einen ganz
sind; denn vor Ihrer Regierungsbeteiligung haben Sie
anderen Charakter: den einer Seeaufklärung. Die Funk-
gegen die Verlängerung von OEF argumentiert. Nach ei-
tion besteht nur darin, Präsenz zu zeigen.
nem halben Jahr haben Sie den Cut gemacht und gesagt:
Wir lassen OEF auslaufen. Das wird in dem Antrag der Bundesregierung aber
überhaupt nicht deutlich. Sie haben uns im Grunde im
(Dr. Werner Hoyer, Staatsminister: Haben wir
Rahmen einer Wiedervorlage die Begründung aus dem
auch!)
Antrag auf Fortsetzung der Operation Enduring Freedom
Wir haben schon zum letzten Zeitpunkt der Mandats- vorgelegt, was die Aufgaben der Bundeswehr angeht,
verlängerung darum gebeten, OEF in Atalanta aufgehen was die Gesamtmission angeht, beispielsweise die angeb-
zu lassen. Das haben Sie von sich gewiesen. Das, was liche Bekämpfung und Gefangennahme von Terroristen
Sie gerade gemacht haben, ist schon wieder eine Stufe und das Ausschalten von Terrorcamps. Das entspricht
weiter. Es ist eine Verschlimmbesserung und ein Verwi- aber nicht dem Geist der Operation Active Endeavour.
schen Ihres parlamentarischen Rufes, lieber Herr Staats- Denn das ist eher eine Gelegenheitsmandatierung, sozu-
minister. sagen eine Durchreisemandatierung, von am Horn von
Afrika seefahrenden Einheiten auf dem Weg in die Hei-
(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE
mathäfen. Das bedeutet zum Teil die Präsenz von NATO-
LINKE])
Einheiten und Stippvisiten von Seefernaufklärern.
Warum? Was haben Sie gesagt? Sie haben als Be-
All das hat wenig mit dem zu tun, was Sie in Ihrem An-
gründung für die Operation Active Endeavour gesagt:
trag verlangen, nämlich das Aufsuchen und Gefangen-
Die NATO lebt noch. Wir waren immer bündnissolida-
nehmen von Terroristen und das Zerstören von Terror-
risch. Die OEF-Absage war plausibel, und deshalb brau-
camps. Das ist mit dem eigentlichen Anliegen überhaupt
chen wir keine entsprechende Mandatierung vorzuneh-
nicht deckungsgleich. Das gilt auch für die Mandatsober-
men.
grenze. Sie haben festgelegt, dass die Mandatsobergrenze
Die völkerrechtliche Plausibilität des Art. 5 des Nord- bei 700 liegt, ohne präzise zu begründen, wie Sie zu die-
atlantikvertrags bzw. des Art. 51 der Satzung der Verein- ser Zahl kommen. In der ersten Hälfte dieses Monats wa-
ten Nationen ist, jedenfalls im Moment, unstrittig. Was ren null Soldatinnen und Soldaten in diesem Einsatz. Wa-
wir Ihnen heute hier als Mandatsverlängerung anbieten, rum wollen Sie jetzt eine Mandatierung in Höhe von 700?
8188 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Michael Groschek
(A) Kommen wir auf Art. 5 des Nordatlantikvertrags und (Beifall bei der SPD – Michael Brand [CDU/ (C)
auf Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen zu spre- CSU]: Noch eine Neinsagerpartei!)
chen. Sie selbst haben gerade in einem Nebensatz darauf
hingewiesen, dass die Legitimationskraft schwindet. Sie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
haben gesagt: Mittelfristig müssen wir zu einem neuen Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Konzept und einer neuen Legitimation kommen. Nein, Thomas Kossendey.
jetzt ist die Zeit reif, anzuerkennen, dass eine präzise
Neulegitimation für diese Mandatierung notwendig ist
und dass neun Jahre nach den Anschlägen in New York Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär beim Bun-
eben nicht argumentiert werden kann, Art. 5 des Nord- desminister der Verteidigung:
atlantikvertrags und Art. 51 der Satzung der Vereinten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nationen seien die Grundlage für eine Pauschalermäch- Auch ich bitte im Namen der Bundesregierung um die
tigung. Zustimmung zu diesem Mandat. Active Endavour ist ein
wichtiger Beitrag. Der Kollege Hoyer hat das hier ge-
(Beifall bei der SPD) rade vorgetragen. Ich glaube, Herr Kollege Groschek,
ein Blick in das Mandat hätte Ihnen manche Ihrer Be-
Die fehlende Sorgfalt bei der Begründung zieht sich wie merkungen hier erspart.
ein roter Faden durch diesen Antrag.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Schauen wir uns das Einsatzgebiet an. Das Einsatzge-
Wenn Sie im Mandat unter Punkt 4 nachlesen, werden
biet ist das Mittelmeer. Im Mittelmeer selbst ist auch nach
Sie feststellen, dass die Operation Active Endavour ein
Auskunft der Bundesregierung keine aktuelle Terrorge-
Ziel hat. Es soll ein Beitrag zu den Aktivitäten geleistet
fahr und keine terroristische Aktivität dokumentiert. Im werden, die Sie genannt haben. Zur Bundesmarine bzw.
Gegenteil: Dort kann man allenfalls Boatpeople, also zur Bundeswehr steht genau das darin, was Sie erwartet
Elendsflüchtlinge, antreffen. Es geht somit um das ge- haben:
naue Gegenteil von Terrorbekämpfung. Wir haben dort
eine herausragende soziale und zivilisatorische Aufgabe (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Deutsche Marine,
zu erfüllen. Herr Staatssekretär!)

Im Mittelmeer selbst gibt es keine terroristische Be- – Danke schön, Herr Stinner: Deutsche Marine. –
drohung, die über dieses Mandat zu bekämpfen wäre, In diesem Rahmen ergeben sich für die Bundes-
und erst recht keine terroristischen Camps, die aufzuspü- wehr insbesondere folgende Aufgaben: militärische
(B) ren und zu vernichten wären. Deshalb ist unser Anlie- Präsenz auf See, Aufklärung, Überwachung, Lage- (D)
gen, Sie darum zu bitten, im Rahmen der Beratung mit bilderstellung auf und über See, Austausch und Ab-
uns gemeinsam zu sagen: Wir können bei diesem Man- gleich gewonnener Lagebildinformationen.
dat in die Zeit von vor 2003 zurückkehren, als nämlich
die NATO-Verbände ohne ein robustes Kampfmandat All das steht sehr präzise im Mandat.
Seefernaufklärung und Präsenz gewährleistet haben und Ich glaube, an der grundsätzlichen Aufgabenstellung
eben nicht die Legitimation über Art. 5 brauchten. Das hat sich eigentlich gar nichts geändert. Sie haben sich
wäre eine sinnvolle Perspektive, bei der wir mitgehen geändert, weil Sie vielleicht einem fragwürdigen Zeit-
würden. geist nachlaufen, der Ihnen aufgrund des Hinweises von
Herrn Gabriel vielleicht die Chance gibt, in trüben Ge-
Deshalb sagen wir Ja zur Klarheit und präzisen Man-
wässern – da, wo die Linken normalerweise die Ober-
datserteilung. Die Soldatinnen und Soldaten müssen
hand haben – zu fischen.
wissen, woran sie sind – und zwar präzise und nicht ne-
bulös. Und deshalb sagen wir Nein zum vorliegenden (Michael Groschek [SPD]: Das ist die billigste
Antrag. Sie werden uns nicht an Ihrer Seite finden, weil aller Ausreden!)
ein robustes Mandat in diesem Fall überflüssig ist und
weil wir Ihnen auch keinen Vorratsbeschluss – siehe Sie sagen, dass eigentlich niemand so genau weiß,
wer da ist. Es hätte nur eines kurzen Anrufes bedurft,
700 Mann – erteilen würden; denn das wäre nicht ver-
dann hätten wir Ihnen gesagt, welche Marineeinheiten
einbar mit dem parlamentarischen Beteiligungsgesetz.
zum Beispiel in diesem Jahr bei Active Endavour dabei
An die FDP kann ich doch bitte nur appellieren, nicht waren. Es war „U 31“ als U-Boot dabei. Zwei Fregatten
den gleichen Fehler wie bei der letzten Mandatsdiskus- und der Einsatzgruppenversorger waren dabei, und es
sion um OEF zu machen. Damals haben Sie gesagt: Wir war auch – genau wie es im Mandat steht – auf Transit
werden das überprüfen und darüber nachdenken. Das die eine oder andere Marineeinheit am Horn von Afrika
halbe Jahr Nachdenken war ja gut; denn das Mandat ist dabei. Da haben wir weder etwas falsch gemacht, noch
ausgelaufen. Das hätten wir aber gemeinsam schon ein falsch geschildert. Wir haben es sehr präzise in dem
halbes Jahr früher beschließen können. Deshalb meine Mandat gesagt.
herzliche Bitte und Einladung: Folgen Sie uns heute,
springen Sie über Ihren Koalitionsschatten, geben Sie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ihrer liberalen Vernunft Platz. Dann werden Sie mit uns Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
stimmen und Nein sagen. des Kollegen Erler?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8189

(A) Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär beim Bun- (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Das ist seit 2005 (C)
desminister der Verteidigung: eingestellt!)
Das macht jetzt bei der kurzen Redezeit keinen Sinn. – – Entschuldigung, fragen Sie doch, was Sie fragen wol-
Ich glaube, die angespannte Situation, die wir in diesen len.
Tagen hier in Berlin erleben, zeigt uns, dass der interna-
tionale Terrorismus nichts von seiner Bedrohung und (Zurufe von der SPD: Wir wollten ja fragen!)
seiner Unberechenbarkeit eingebüßt hat. Wir als Deut- – Ich meine, der Zwischenruf war etwas neben der Sa-
sche, als Mitglied in der Staatengemeinschaft, müssen, che.
glaube ich, deutlich machen, dass wir in unserer Ent-
schlossenheit, diesen Kräften etwas entgegenzusetzen, Angesichts der Tatsache, dass die terroristische Be-
nicht nachlassen. Gemeinsam müssen wir klare Signale drohung fortbesteht, bleibt Active Endeavour ein ganz
setzen: Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir schützen wichtiger und angemessener Beitrag der NATO, um für
entschlossen Frieden und Freiheit, und wir treten auch die Sicherheit dieses für Europa so wichtigen Seegebiets
mit Überzeugung für unsere Werte ein. zu sorgen. Unser deutscher Beitrag ist nicht nur ein kla-
res Zeichen unserer Bündnissolidarität – ich erinnere da-
Wenn Sie das UN-Mandat vielleicht nicht ganz so ju- ran, dass es Gerhard Schröder war, der uneingeschränkte
ristisch sicher sehen, möchte ich Sie darauf hinweisen, Solidarität versprochen hat –,
dass der Sicherheitsrat am 13. Oktober in der Resolu-
tion 1943 noch einmal ausdrücklich eine fortdauernde (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Unterstützung für die verschiedenen internationalen Be- Aber nicht für immer!)
mühungen im Hinblick auf die Bekämpfung des interna- sondern es liegt auch im Interesse unserer eigenen Si-
tionalen Terrorismus beschlossen hat. Auch das sollte cherheit, dort Präsenz zu zeigen und auch in Zukunft die
Ihnen eigentlich zu denken geben. Aufgaben zu erfüllen, die wir im Mandat, das Ihnen vor-
liegt, eindeutig beschrieben haben.
Active Endeavour ist und bleibt ein wesentlicher Bei-
trag im Kampf gegen diesen internationalen Terrorismus Wir werden uns mit bis zu 700 Soldatinnen und Sol-
durch Präsenz auf See und durch gezielte Überwa- daten – das ist die Obergrenze – in Zukunft an dieser
chungsmaßnahmen. Damit erschweren wir die Nutzung Operation mit See- und Seeluftstreitkräften beteiligen.
der traditionellen Transportwege durch terroristische Das schließt natürlich auch ein, Herr Groschek, dass sich
Kräfte, und wir schränken den Zugang zu potenziellen Marineeinheiten, die sich im Transit durch das Mittel-
Aktions-, aber auch zu potenziellen Rückzugsgebieten meer befinden, an dieser Operation beteiligen.
ein. Die Mandatsdauer ist bis zum 31. Dezember 2011 (D)
(B)
(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Da steht aber vorgesehen.
etwas ganz anderes im Mandat!) Ich bitte Sie, Ihre Position zu überdenken, und auch
im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten
Ich glaube, ein ganz wichtiger weiterer Aspekt ist,
dass sich mittlerweile viele Länder, die nicht NATO- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Auch kein
Staaten sind – Russland, die Ukraine oder Marokko –, an Argument!)
diesen Aktivitäten beteiligen. Das stärkt diese Operation
um eine breite Zustimmung.
nicht nur operativ; das stellt, wie ich glaube, auch einen
sehr wichtigen Beitrag zur einer längerfristigen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nachhaltig vertrauensbildenden Kooperation mit wichti-
gen Partnerländern dar. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Paul
Auch das steht nicht im Mandat!) Schäfer das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
Auch unter diesem Aspekt ist Active Endeavour als ein
wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der gesamten Re-
gion zu werten. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Werte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit 2002 beteiligen Die deutsche Beteiligung an dieser NATO-Militäropera-
sich deutsche Marinekräfte an dieser Operation und da- tion ist abzulehnen und schnellstmöglich zu beenden.
mit an der Überwachung des Seeraums Mittelmeer.
Erstens, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass man mit
Dazu gehören unter anderem, wie wir es im Mandat ge-
militärischen Mitteln dem Terrorismus nicht beikommen
schrieben haben, die Erstellung eines maritimen Lage-
kann.
bildes, die Durchführung von Security-Operationen,
zum Beispiel das Abfragen, das Anhalten und das Zweitens, weil dieses Mandat, gestützt auf Art. 5
Durchsuchen von Schiffen, sowie auch die Nachrichten- NATO-Charta, schon längst für andere Zwecke miss-
gewinnung und die allgemeine Aufklärung. Darüber hi- braucht wird. Wenn man genauer hinschaut, stellt man
naus sichern wir Hochwertschiffe durch Begleitung. fest, dass es mit der Sicherung von Öltransporten – ich
Schiffe mit besonderer Ladung werden von Marineein- komme gleich noch darauf – auch hier inzwischen um
heiten eskortiert. die Durchsetzung bestimmter Wirtschaftsinteressen geht.
8190 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Paul Schäfer (Köln)


(A) Das gilt auch, weil unter das Mandat auch die Abwehr Kommandeur hat 2006 in Bezug auf die Amtshilfe für (C)
von Flüchtlingen, die nach Europa wollen, gefasst wird. Griechenland – hier ging es um Flüchtlinge – geschrie-
ben, es gehe bei der Mission zwar um Kriminelle, aber
Drittens, weil für uns, das entsendende Parlament, man sende damit auch die Botschaft an die Terroristen:
überhaupt nicht mehr klar ist, wofür welche Marineein- Wir suchen nach euch und wenn wir euch finden, gibt es
heit wann eingesetzt wird. Dieses Blindekuhspiel hat mit keinen Platz zum Verstecken. – Liebe Kolleginnen und
dem Parlamentsbeteiligungsgesetz wenig zu tun. Das Kollegen, haben Sie gut zugehört? Das ist das, was aus
sollten wir nicht mit uns machen lassen. dem Bundestagsmandat gemacht wird. Wir machen bei
(Beifall bei der LINKEN) dieser bedenklichen Praxis nicht mit.
Wir waren ja heilfroh, dass man aus OEF ausgestie- (Beifall bei der LINKEN)
gen ist. Da hätte man gar nicht einsteigen dürfen, weil
Zur bedenklichen Praxis gehört auch, dass die Daten
die militärische Bekämpfung des Terrorismus in der Tat
aller Schiffe, die einmal durch das Gebiet durchfahren,
nichts gebracht hat. Im Gegenteil: Sie verschärft die
einfach zugeordnet und assigniert werden. Damit wer-
Lage in Afghanistan und auch hier.
den alle Schiffe und U-Boote, die durch das Gebiet fah-
(Beifall bei der LINKEN – Philipp Mißfelder ren, der Operation Active Endeavour oder der Operation
[CDU/CSU]: Ach! Absolut falsch!) Ocean Shield unterstellt. Meiner Meinung nach wird
hier die parlamentarische Kontrolle ad absurdum ge-
Das gilt auch für die Mission Active Endeavour. Der führt. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz ist an dieser
Auftrag lautet, „Führungs- und Ausbildungseinrichtun- Stelle sehr klar: Es regelt, dass der Auftrag und die Auf-
gen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu be- gaben präzise benannt werden müssen. Soll es präzise
kämpfen, gefangen zu nehmen“. Sie haben mehr als sein, wenn nur von der „militärischen Präsenz auf See“
100 000 Abfragen gemacht, mehr als 160 Boardings. die Rede ist? Der Auftrag und die Aufgaben müssen klar
Welcher Terrorist wurde gefangen genommen und vor benannt werden, ebenso die dafür vorgesehenen Kräfte.
Gericht gestellt? Kein einziger! Davon kann in der Praxis keine Rede sein. Auch deshalb
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist präventiv!) lehnen wir das Mandat ab.
Das ist doch der Punkt: Sie können nicht nachweisen, Wir sagen Ihnen deshalb: Wenn Sie es mit dem Parla-
dass diese Mission irgendeinen Effekt hatte. Darum geht mentsvorbehalt ernst meinen – wenn das Parlament da-
es inzwischen allerdings auch gar nicht mehr. rüber bestimmen soll –, gibt es Grund genug, jetzt inne-
zuhalten und die Verlängerung des Mandats abzulehnen;
Sie sollten diesem Parlament jetzt ehrlich sagen, dass sie ist aus friedenspolitischen Gründen ohnehin entschie-
(B) es darum geht, in Verbindung mit den Aktionen im Suez- den abzulehnen. Die Bundeswehrbeteiligung an dem (D)
kanal und im Indischen Ozean großflächig Räume zu Mandat muss beendet werden.
kontrollieren. Das klingt harmlos. Schaut man auf die
NATO-Homepage, findet man dort zum Beispiel als Danke.
Auftrag, dass systematisch Erdöl- und Erdgastransporte (Beifall bei der LINKEN)
beschützt werden sollen. Man kann auch nicht von der
Hand weisen, dass die NATO-Mitgliedstaaten durch die
Aufklärungsmissionen, die man durchführt, über Herr- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
schaftswissen verfügen. Das ist des Pudels Kern: Es geht Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für
nicht um Territorialverteidigung, sondern darum, be- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
stimmte Interessen durchzusetzen. Dafür wollen wir
aber keine Soldaten entsenden. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
sprechen heute über die mögliche Fortsetzung der deut-
Wir sind für die Durchsetzung des Völkerrechts und schen Beteiligung am Antiterroreinsatz Operation
die Freiheit der Meere. Dabei handelt es sich aber – das Active Endeavour. Ich möchte an dieser Stelle etwas Un-
ist der Punkt – um zentrale Aufgaben der Vereinten Na- gewöhnliches machen, nämlich die Mission und das
tionen, nicht von exklusiven Machtblöcken und Militär- Mandat voneinander trennen.
allianzen. Das ist doch der Punkt.
Herr Kollege Groschek, ich finde, für die Mission
(Beifall bei der LINKEN) gilt: Das ist nicht ganz so heiß, wie es gekocht wird. Es
Inzwischen leiten Sie weitschweifende Aktivitäten passiert gar nicht so viel; man kann darüber reden, ob es
aus dem Mandat ab, zum Beispiel die Abwehr illegaler sinnvoll ist oder nicht. Ich möchte mich deshalb auf die
Immigration und die Verhinderung von Flucht. Davon Versäumnisse beschränken, die ich beim Mandat gefun-
steht aber nichts im Bundestagsmandat. Das ist doch Be- den habe. Aus meiner Sicht gibt es vier Versäumnisse:
trug. Erstens. Es gibt sinnvolle Aspekte der Mission, über
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) die man im vorliegenden Mandat und in den Briefen der
beiden Minister, die versucht haben, das Mandat an die
Das Problem ist aber nicht nur, dass im Bundestags- Fraktionen heranzutragen, an keiner Stelle etwas findet.
mandat nichts davon steht; das Problem ist auch, dass Herr Staatssekretär, Sie haben heute zum ersten Mal da-
solche Dinge tatsächlich gemacht werden. Der NATO- rauf hingewiesen, dass NATO-Partner wie Russland, Is-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8191
Omid Nouripour
(A) rael, Marokko und die Ukraine daran beteiligt sind. Es Die völkerrechtliche Grundlage fehlt. Das Einzige, was (C)
ist aus internationaler Sicht eine wirklich spannende Ge- ich heute in der Debatte dazu gehört habe, war eine Äu-
schichte, dass die NATO mit diesen Ländern tatsächlich ßerung von Ihnen, Herr Staatsminister. Sie haben dem
operativ agiert. Das findet sich bisher nicht im Man- Kollegen Erler vorgeworfen, er habe auch bei OEF keine
datstext wieder. Ich finde, es ist ein Riesenversäumnis, Bedenken gehabt und die Mission sogar verteidigt. Wir
dass über das, was an der Mission sinnvoll sein könnte, Grünen haben schon damals gesagt: OEF ist völker-
überhaupt nicht gesprochen wird. rechtswidrig. Deshalb kommen wir auch an dieser Stelle
nicht mit.
Zweitens die Parlamentsbeteiligung. Im Hinblick da-
rauf hat der Kollege Schäfer recht. Ich ging bisher ei- Die Grundlage für das OEF-Mandat und die Opera-
gentlich immer davon aus, dass Sie sich darum bemü- tion Active Endeavour ist bis heute das Selbstverteidi-
hen, in diesem Parlament breite Konsense herzustellen gungsrecht der Amerikaner, das im Jahr 2001 von den
und dafür breit zu werben. Für die Parlamentsbeteili- Vereinten Nationen anerkannt wurde. In diesem Be-
gung gilt: Wir werden nicht immer automatisch infor- schluss der Vereinten Nationen finden Sie sehr genaue
miert, wenn Schiffe eine Mission beginnen. In diesem und sehr präzise Rückbezüge auf die Regionen, von de-
Fall sah die Parlamentsbeteiligung so aus, dass unsere nen die Gefährdung ausgeht. So ist die Operation Active
Fraktionsvorsitzenden einen Brief bekommen haben, in Endeavour nicht mehr begründbar. Sie haben es ja auch
dem steht: Wir bitten Sie, Ihre Fraktion über dieses Vor- gar nicht versucht; weder der Minister noch Sie haben
haben der Bundesregierung zu informieren. das versucht. Auch in dem Antragstext wird nicht ver-
sucht, zu begründen, inwiefern die Vereinigten Staaten
Ich habe die Vorsitzenden meiner Fraktion angerufen von Amerika im Aktionsraum der Operation Active En-
und sie gefragt, was eigentlich in dem Brief steht. Das deavour ihre eigene Sicherheit gewährleisten.
konnten sie mir nicht beantworten, weil darin nichts
Substanzielles zum Mandat stand. Hier gab es kein wirk- Sie sind zwar stolz darauf, dass wir jetzt einen Sitz im
liches Bemühen darum, eine breite Unterstützung für das VN-Sicherheitsrat haben, aber Sie haben es versäumt,
Mandat, für den Einsatz der Bundeswehr herzustellen. diese Gelegenheit zu nutzen, um auf einen Beschluss der
Vereinten Nationen hinzuwirken, mit dem das Mandat
Herr Staatssekretär Kossendey, es wäre gut gewesen, eine völkerrechtliche Grundlage bekommen hätte. Ich
wenn Sie das Gespräch gesucht hätten. Es reicht hier glaube nicht, dass das schwierig gewesen wäre. Sollten
nicht aus, zu fragen: Warum habt ihr nicht angerufen? Sie einen solchen Beschluss nicht bis zur nächsten Le-
Sie wollten doch die Zustimmung des Hauses erreichen. sung erreichen – das ist meines Wissens in der nächsten
Ein Gespräch hätte möglicherweise dazu geführt, dass Woche –, dann fühle ich mich nicht imstande, meiner
manche technische Missverständnisse, die im Raum ste- Fraktion zu empfehlen, diesem Mandat zuzustimmen.
(B) hen, von vornherein ausgeräumt worden wären. (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, dass diese spärli- Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das wäre ja
che Informationspolitik in erster Linie auf einem Miss- mal was Neues!)
verständnis seitens der Regierung beruht. Ich habe das
Gefühl, dass die Regierung denkt, dies sei eine Exeku-
tivmission. Darum geht es bei diesem Mandat aber defi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
nitiv nicht. Nun hat das Wort der Kollege Philipp Mißfelder für
die CDU/CSU-Fraktion.
Das dritte Versäumnis: Ich kann nicht erkennen – das
konnte ich auch den Reden an keiner Stelle entnehmen –, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit diese
Mission beendet wird.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollege Nouripour, sicherlich werden wir die
Wir reden jetzt seit 15 Jahren über Missionen und sagen Gelegenheit nutzen – der Kollege Hahn vom Verteidi-
immer wieder: Dieser oder jener Punkt muss auf unsere gungsausschuss, die Kollegen Kiesewetter, Brand und
„To do“-Liste für das nächste Mal; wir müssen noch ein- ich haben uns schon beraten – und das eine oder andere
mal darüber nachdenken, was man anders machen muss. – Missverständnis bis zur Schlussberatung beseitigen. Ich
Immer sind wir uns darüber einig, dass man Konditionen stimme Ihnen zu, dass wir auch bei dieser Frage versu-
und Ziele formulieren muss, mit denen dargestellt wird, chen sollten, einen möglichst breiten Konsens in diesem
wann das Ganze zu Ende geht. Das fehlt hier völlig. Haus herzustellen. Das ist das Anliegen der Regierung;
Dazu ist nichts gesagt worden. das ist auch unser Anliegen als Mehrheitsfraktion.
Nun kann man das trotzdem alles für ausreichend er- Um vielleicht schon einmal eine Kleinigkeit auszu-
achten, um der Mission zuzustimmen, weil man sie rich- räumen, empfehle ich Ihnen, den Antrag noch einmal
tig findet. durchzulesen. Das ist hilfreich, weil der Schlusssatz ei-
Damit komme ich zum letzten Versäumnis. Das be- nen ausdrücklichen Hinweis auf die Ukraine und Russ-
trifft die völkerrechtliche Grundlage. land enthält. Damit ist zumindest einer der Punkte, die
für Sie kritikwürdig sind, schon ausgeräumt. Bis zum
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ende des Textes lesen, hilft bei der einen oder anderen
8192 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010

Philipp Mißfelder
(A) Akte, generell bei Vorgängen. Das soll die eine oder an- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
dere Diskussion auch schon erspart haben. NEN):
Ich will mich beeilen, weil wir alle Feierabend ma-
Was den Auftrag angeht, sage ich: Er ist klar umris-
chen wollen. – Ich habe schon entsprechende Zwischen-
sen. Das ist im Mandat eindeutig formuliert. Herr
fragen gestellt und wollte auch Ihre Vorredner danach
Schäfer hat das paraphrasiert. Er hat von der Jagd auf
fragen: Können Sie mir erklären, was denn im letzten
Terroristen gesprochen. Es ist so:
Jahr – das Mandat soll ja jedes Jahr erneuert werden –
Die Operation Active Endeavour hat weiterhin zum von dieser ruhmvollen Truppe an Aktivitäten geleistet
Ziel, einen Beitrag dazu zu leisten, Führungs- und worden ist? Was machen die da eigentlich? Heißt Prä-
Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszu- senz zeigen, dass sie über das Mittelmeer schippern? Wir
schalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu wissen, dass Griechenland und die Türkei NATO-Staa-
nehmen und vor Gericht zu stellen … ten sind. Was ist also der Unterschied zu dem, wie die
Schiffe dieser Staaten üblicherweise über das Mittelmeer
(Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Auf See!) schippern?
Weiter heißt es: (Michael Brand [CDU/CSU]: Jetzt weiß ich
– militärische Präsenz auf See, auch, warum Kollege Ströbele von seiner
– Aufklärung, Überwachung und Lagebilderstel- Fraktion keine Redezeit bekommt!)
lung auf und über See,
Was haben sie konkret gemacht? Haben sie irgendwo et-
– Austausch und Abgleich gewonnener Lagebild- was ausgehoben? Haben sie irgendjemanden festgenom-
informationen mit weiteren Akteuren im Rah- men oder ähnliche Aktionen durchgeführt?
men des Auftrages,
– Kontrolle des Seeverkehrs,
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
– die ist ausdrücklich erwähnt – Herr Ströbele, Sie haben heute so viele Zwischenfra-
– temporäre Führung der maritimen Operation, gen gestellt. Da Sie also fast den ganzen Tag gestanden
– Lufttransport zur Unterstützung der maritimen haben, können Sie sich meinetwegen bei der Beantwor-
Operation, tung Ihrer Frage hinsetzen.
– Eigensicherung und Nothilfe. (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und
Das umreißt sehr klar das, worum es in der Mission der FDP)

(B) konkret geht. In der Tat ist es ja so, dass ein Element unserer Kon- (D)
(Michael Groschek [SPD]: Worum denn?) zeption der Terrorismusbekämpfung ist, Präsenz zu zei-
gen. Was findet denn im Moment um das Reichstagsge-
Deshalb kann ich Ihre Kritik an dieser Stelle nicht teilen. bäude herum statt? Das ist doch nichts anderes, als
Präsenz zu zeigen. Wir stehen bei der Terrorismusbe-
Denn eines ist klar: Bei der Terrorismusbekämpfung kämpfung in einer Partnerschaft mit den anderen NATO-
geht es nicht darum – Herr Schäfer und Herr Nouripour, Staaten. Es ist also nicht so, dass die deutsche Marine al-
in diesem Punkt möchte ich Sie beide korrigieren –, aus- leine herumschippert. Herr Ströbele, schon das Wort
schließlich Amerika zu schützen. Es ging im Falle der „herumschippern“ zeigt an dieser Stelle, wie wenig Sie
NATO-Mandatierung darum, die Wertegemeinschaft der in der Lage sind, gegenüber den Soldatinnen und Solda-
NATO-Mitglieder insgesamt zu schützen. ten den Respekt zum Ausdruck zu bringen, den sie ver-
(Beifall bei der CDU/CSU) dient haben.

Völkerrechtlich gibt es mehrere Grundlagen; der Einsatz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
ist auch mandatiert durch VN-Resolutionen. Es ist doch Michael Brand [CDU/CSU]: Einen ehemali-
so: Aufgrund einer Lageeinschätzung kommt man nur gen Terroristenanwalt von Terrorismusbe-
selten zu dem Schluss, dass die terroristische Bedrohung kämpfung zu überzeugen, ist schwierig!)
von innen kommt. Die terroristische Bedrohung wird Aber an diesem Wort will ich mich jetzt nicht aufhän-
vielmehr von außen in ein Land hineingetragen. Insofern gen, auch wenn Sie es vorhin vielfach verwendet haben.
sind entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, mit denen
man dem Terrorismus Einhalt gebieten kann. Präsenz zeigen, heißt aus meiner Sicht, präventiv in
ein Stadium der Terrorismusbekämpfung einzutreten.
Dazu ist diese Mission da. – Ich denke, Ihre Frage ist da-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
mit beantwortet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele? (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ich weiß immer noch nicht, was
sie da gemacht haben!)
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Herr Ströbele, ich freue mich darüber. Was Zwischen- – Wir haben nächste Woche Gelegenheit, noch einmal
fragen in dieser Legislaturperiode angeht, haben Sie den darüber zu diskutieren. Vielleicht lässt Sie Ihre eigene
Rekord gebrochen. Fraktion dann endlich auch einmal zu Wort kommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8193

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: setzt, selbst wenn es jetzt dem einen oder anderen um (C)
Herr Kollege, bevor Sie mit Ihrer Rede fortfahren, diese Uhrzeit schwerfällt, selbst wenn es jetzt vielleicht
möchte ich fragen, ob Sie noch eine Zwischenfrage des eine undankbare Tätigkeit ist, hier noch zu sitzen und
Herrn Kollegen Mützenich gestatten? nicht anderen parlamentarischen Verpflichtungen nach-
gehen zu können, die vergnügungsvoller sind.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): (Heiterkeit)
Bitte. In der Tat finde ich es doch richtig, dass wir auch aus
Respekt gegenüber denjenigen, die in unserem Namen
Dr. Rolf Mützenich (SPD): und zum Schutz der deutschen Bürgerinnen und Bürger
Herr Kollege, ich wollte mich dafür bedanken, dass im Einsatz sind, immer über den besten Weg diskutieren
Sie erwähnt haben, dass offensichtlich auch nach Ihrer und darum ringen, wie wir diese Mandate auf den Weg
Auffassung die eine oder andere Unklarheit in der Man- bringen können.
datierung, also in dem, was die Bundesregierung dem
(Beifall bei der CDU/CSU)
Parlament überantwortet hat, in den nächsten Tagen zu
klären ist. Ich glaube, dass wir im Auswärtigen Aus- Denn bei den vielen Auslandseinsätzen, die es momen-
schuss und in den mitberatenden Ausschüssen dazu eine tan gibt – teilweise wird ja in der öffentlichen Wahrneh-
Debatte brauchen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu mung die Arbeit des Auswärtigen Ausschusses ganz auf
dieser Klarheit beitragen würden. die Mandate reduziert –, bin ich der Meinung, dass der
Parlamentsvorbehalt und die parlamentarische Beratung
Aber da die beiden Vertreter der Bundesregierung einen so hohen Stellenwert haben, dass wir uns selber
vorhin nicht willens waren, zur Aufklärung beizutragen, hinterfragen müssen, dass wir diskutieren: Welche Fort-
würde ich Sie gerne fragen, was denn die Ankündigung schritte gibt es? Welche Kritikpunkte gibt es? Dann,
des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Herrn Hoyer, wenn wir eine Entscheidung getroffen haben, müssen
bedeutet, dass es möglicherweise in Zukunft zu einer Art wir auch dazu stehen und von dieser Stelle die Soldatin-
integrierenden Mandatierung für eine Fortschreibung der nen und Soldaten im Auslandseinsatz kraftvoll unterstüt-
Operation Active Endeavour kommen könnte. Liegt Ih- zen. Darum geht es auch bei diesem Mandat. Deshalb
nen eine weitere Information vor? Wird es über dieses werden wir daran arbeiten, dass an diesem Punkt der
Mandat hinausgehen? Wie könnte man das begründen? Konsens in diesem Haus so groß wie möglich ist.
Herzlichen Dank.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Leider liegt mir keine Information vor. Dazu, wie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) (D)
man das begründen könnte, fällt mir viel ein. Wir wer-
den die Gelegenheit nutzen, auch an dieser Stelle für Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Klarheit zu sorgen. Unser Angebot ist doch ganz eindeu- Ich schließe die Aussprache.
tig. Für die SPD hat Herr Groschek Kritik ja nicht an der
Mission selbst geübt, sondern hat eine für den Zuschauer Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
vielleicht etwas verwirrende Kritik an der Mandatierung Drucksache 17/3690 an die in der Tagesordnung aufge-
vorgetragen. Es ist richtig, dass wir uns damit ernsthaft führten Ausschüsse vorgeschlagen. Erhebt sich dagegen
beschäftigen. Unser Ansinnen ist es, bis zur Schlussbera- Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-
tung einen größtmöglichen Konsens herzustellen; das ist weisung so beschlossen.
selbstverständlich. Darum werden wir uns auch in den Damit wir sind wir auch schon am Schluss unserer
nächsten Tagen bemühen. Der Auswärtige Ausschuss heutigen Tagesordnung.
muss sich darum bemühen und soll sich damit in seiner
nächsten Sitzung beschäftigen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destags auf morgen, Donnerstag, 25. November 2010,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 9 Uhr, ein.
der FDP)
Ich danke Ihnen herzlich dafür, dass sie so lange aus-
Meine Damen und Herren, was ich zum Thema Man- geharrt und diskutiert haben.
datierung noch einmal festhalten will – ich sage das,
Ich wünsche einen schönen Abend und schließe die
weil gerade angeklungen ist, wir müssten das jedes Jahr
Sitzung.
beschließen –: Ich finde es gut, dass sich der Deutsche
Bundestag so intensiv mit den Mandaten auseinander- (Schluss: 21.42 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2010 8195

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bätzing-Lichtenthäler, SPD 24.11.2010 Laurischk, Sibylle FDP 24.11.2010


Sabine
Nord, Thomas DIE LINKE 24.11.2010
Bellmann, Veronika CDU/CSU 24.11.2010
Oswald, Eduard CDU/CSU 24.11.2010
Bluhm, Heidrun DIE LINKE 24.11.2010
Röspel, René SPD 24.11.2010
Bögel, Claudia FDP 24.11.2010
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 24.11.2010
Bülow, Marco SPD 24.11.2010 DIE GRÜNEN

Dyckmans, Mechthild FDP 24.11.2010 Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ 24.11.2010


DIE GRÜNEN
Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 24.11.2010
Dr. Schmidt, Frithjof BÜNDNIS 90/ 24.11.2010
Friedhoff, Paul K. FDP 24.11.2010 DIE GRÜNEN

Klöckner, Julia CDU/CSU 24.11.2010 Schnurr, Christoph FDP 24.11.2010

Kramme, Anette SPD 24.11.2010 Schreiner, Ottmar SPD 24.11.2010


(B) (D)
Kretschmer, Michael CDU/CSU 24.11.2010
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

Das könnte Ihnen auch gefallen