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Plenarprotokoll 17/7

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

7. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Inhalt:

Nachruf auf den ehemaligen Bundesminister Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 394 D
Hans Matthöfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 A
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/
Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 A
neten Christel Humme und Dr. Hermann
Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 B
Kues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 D
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 396 A
Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 383 D
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 397 A
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 397 B
Tagesordnungspunkt 3:
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 397 C
Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der
Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
kräfte an dem Einsatz der Internationalen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 D
Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha-
nistan (International Security Assistance Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 400 A
Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
Grundlage der Resolution 1386 (2001) und DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 C
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1890 (2009) des Sicherheitsrates der Verein- Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 401 C
ten Nationen Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . 402 B
(Drucksache 17/39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 A
Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 403 D
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 B
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Zur Geschäftsordnung
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 C Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 404 D
Johannes Pflug (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 C Peter Altmaier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 405 B
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister
Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . 388 A BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 B
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 D
Tagesordnungspunkt 4:
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . 391 A
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 A Änderung des Altersteilzeitgesetzes
(Drucksache 17/20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 C
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 C Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 406 D
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 408 B Tagesordnungspunkt 6:


Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 408 D Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung
der Beteiligung bewaffneter deutscher
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 411 A
Streitkräfte an der United Nations Interim
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 413 A Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grundlage
der Resolution 1701 (2006) vom 11. August
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 D 1884 (2009) vom 27. August 2009 des Si-
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 416 B cherheitsrates der Vereinten Nationen
(Drucksache 17/40) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 C
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 D Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 D
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 417 A
Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 448 A
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 D
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg,
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 418 C
Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . 449 D
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 C
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 451 B
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 421 D
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 452 C
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . 423 C Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 C
Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 424 C
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 B
Tagesordnungspunkt 7:
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 427 D
a) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 428 B Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Für ein umfassendes Bleiberecht
Tagesordnungspunkt 5: (Drucksache 17/19) . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 D
Wahl der Schriftführer gemäß § 3 der Ge- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
schäftsordnung Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln),
(Drucksache 17/58) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 C Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Zusatztagesordnungspunkt 2: zes zur Änderung des Aufenthaltsgeset-
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion zes
DIE LINKE: Bildung für alle – Gebühren- (Drucksache 17/34 (neu)) . . . . . . . . . . . . . 455 B
frei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 D Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 455 A
Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 429 D Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 456 A
Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 431 A Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 A
Ulla Burchardt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 A Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 460 A
Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 B Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 461 D
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . 434 C Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 461 D
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 A
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 437 D
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 463 B
Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 439 A
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 440 B
Tagesordnungspunkt 8:
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 441 B
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 442 D rung eingebrachten Entwurfs eines Sechs-
ten Gesetzes zur Änderung des Zweiten
Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 444 B
Buches Sozialgesetzbuch
Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 445 C (Drucksache 17/41) . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 III

b) Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Zusatztagesordnungspunkt 3:


Klaus Ernst, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Vereinbarte Debatte zu der von Bundesmi-
Bundesbeteiligung bei Kosten der Un- nister Dr. Franz Josef Jung in Aussicht ge-
stellten Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 C
terkunft nach dem Zweiten Buch Sozial-
gesetzbuch erhöhen Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister
(Drucksache 17/75) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 A BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 D
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 A
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 A
Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 C
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . . 465 D Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 486 B
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 B Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 468 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 C

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . 488 C


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 B Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . 489 A
Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 469 D Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . 489 C
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 490 C
Tagesordnungspunkt 9:
a) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Tagesordnungspunkt 10:
Koczy, Marieluise Beck (Bremen), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung
NIS 90/DIE GRÜNEN: Demokratie in des Einsatzes bewaffneter deutscher Streit-
Honduras kräfte bei der Unterstützung der gemeinsa-
(Drucksache 17/33) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 D men Reaktion auf terroristische Angriffe
gegen die USA auf Grundlage des Arti-
b) Antrag der Fraktion DIE LINKE: Demo- kels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
kratiebewegung in Honduras unterstüt- und des Artikels 5 des Nordatlantikver-
zen – Wahlen der Putschisten nicht an- trags sowie der Resolutionen 1368 (2001)
erkennen und 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Ver-
(Drucksache 17/60) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 A einten Nationen
(Drucksache 17/38) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 A
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 471 A
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 472 A AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 B
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 C
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg,
Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 A Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . 492 D
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 475 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 A
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 477 A
Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 494 C
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 477 A
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 B
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 496 A
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 477 C
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 477 D
Tagesordnungspunkt 11:
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 478 D
a) Antrag der Fraktion der SPD: Kinder-
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 479 B rechte stärken – Erklärung zur UN-Kin-
derrechtskonvention zurücknehmen
Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 479 D (Drucksache 17/57) . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 A
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 D b) Antrag der Abgeordneten Katja Dörner,
Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . 482 A Josef Philip Winkler, Ekin Deligöz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: UN-Kin-
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

derrechtskonvention unverzüglich voll- Dr. Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) 509 A


ständig umsetzen
Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 C
(Drucksache 17/61) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 A
c) Antrag der Fraktion DIE LINKE: UN- Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 511 B
Kinderrechtskonvention umfassend um- Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 B
setzen
(Drucksache 17/59) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 A Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 513 C

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . 497 B


Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 498 B Tagesordnungspunkt 13:
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) 499 C Antrag der Abgeordneten Katja Kipping,
Klaus Ernst, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Ab-
Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 500 B geordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 C Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das
Arbeitslosengeld II
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/76) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 C
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 514 B
Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 503 C
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 515 B
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 505 A
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 B
Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 505 D
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 C
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 506 B
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 A
Tagesordnungspunkt 12:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 D
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes
(Drucksache 17/56) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 B Anlage
Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 521 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 383

(A) (C)

Redetext

7. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Kommission „Technikfolgenabschätzung und -bewer-


Die Sitzung ist eröffnet. tung“.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die Ta- Von 1972 bis 1982 gehörte Hans Matthöfer in ver-
gesordnung eintreten, möchte ich Sie bitten, sich von Ih- schiedenen Funktionen der Bundesregierung an, zu-
ren Plätzen zu erheben. nächst als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bun-
desminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Von
(Die Anwesenden erheben sich) 1974 bis 1978 war er Bundesminister für Forschung und
Technologie. Von 1978 bis 1982 übernahm er das Amt
Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges des Bundesministers der Finanzen, und von Mai bis Ok-
Mitglied Hans Matthöfer, der am 14. November dieses tober 1982 war er Bundesminister für das Post- und
Jahres im Alter von 84 Jahren nach langer und schwerer Fernmeldewesen.
Krankheit verstarb. Hans Matthöfer wirkte als Mitglied
Nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bun-
(B) des Deutschen Bundestages und als Angehöriger der (D)
Bundesregierung über viele Jahrzehnte in herausragen- destag 1987 hat er sich aktiv in der Wirtschaft, insbeson-
den Ämtern für die Bundesrepublik Deutschland. dere in gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, engagiert.
Zeitlebens war Hans Matthöfer sowohl in Europa als
Hans Matthöfer wurde am 25. September 1925 in Bo- auch international für Demokratie und Menschenrechte
chum als Kind eines Hütten- und Fabrikarbeiters gebo- engagiert. Besondere Würdigung verdient sein Einsatz
ren. Nach Volksschule und Beginn einer kaufmänni- für die Demokratisierung Spaniens.
schen Lehre durchlebte er als junger Soldat von 1943 bis
1945 die Schrecken des Krieges. Nach Rückkehr aus der Hans Matthöfer hat Politik, Wirtschaft und Gesell-
Kriegsgefangenschaft schloss Hans Matthöfer im Juli schaft der Bundesrepublik in wichtigen Ämtern und
1946 eine Dolmetscherprüfung sowie anschließend seine Funktionen mitgestaltet und sich durch sein Handeln um
Lehre als Industriekaufmann erfolgreich ab. Über den unser Land und seine Menschen große Verdienste erwor-
zweiten Bildungsweg schloss er das Studium der Wirt- ben. Wir werden ihm stets ein ehrendes Andenken be-
schafts- und Sozialwissenschaften 1953 als Diplomvolks- wahren. Ich spreche seiner Familie im Namen des Hau-
wirt ab und arbeitete dann bis 1957 in der Abteilung Wirt- ses meine Anteilnahme aus.
schaft beim Vorstand der Industriegewerkschaft Metall.
Danach war er bei der Vorläuferorganisation der OECD Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren
in Washington und Paris tätig und kehrte 1960 nach Plätzen erhoben; ich danke Ihnen.
Frankfurt zurück, wo er bis Anfang der 70er-Jahre die Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Kolle-
Abteilung Bildungswesen beim Vorstand der IG Metall gin Christel Humme hat gestern ihren 60. Geburtstag
leitete. gefeiert. Ich darf ihr im Namen des Hauses herzlich gra-
tulieren,
Seit 1950 engagierte sich Hans Matthöfer in der SPD,
deren Bundesvorstand er von 1973 bis 1984 angehörte. (Beifall)
Von 1985 bis 1987 war er Schatzmeister der SPD sowie
bis 1990 Mitherausgeber des Vorwärts. ebenso dem Kollegen Dr. Hermann Kues, der den glei-
chen Geburtstag bereits vor einigen Tagen beging.
Hans Matthöfer wurde 1961 in den Deutschen Bun- (Beifall)
destag gewählt, dem er ohne Unterbrechung bis 1987 an-
gehörte. In den 26 Jahren seiner Parlamentszugehörig- Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz auf Druck-
keit gehörte er verschiedenen Ausschüssen an und war sache 17/15 soll dem Haushaltsausschuss zusätzlich
1985/1986 stellvertretender Vorsitzender der Enquete- nach § 96 unserer Geschäftsordnung überwiesen wer-
384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) den. Hier handelt es sich also nur um die Ergänzung ei- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD (C)
ner bereits stattgefundenen Überweisung. Ich nehme an, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie sind damit einverstanden. – Das ist offensichtlich der
Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich füge hinzu: Dieser Einsatz ist ein schwieriger Ein-
satz; das weiß hier jeder. Es ist auch ein politisch
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: schwieriger Einsatz, weil ein Auslandseinsatz der Bun-
Beratung des Antrags der Bundesregierung deswehr selbstverständlich getragen werden muss von
dem Parlament, von der Gesellschaft, auch von dem
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- Vertrauen unseres Parlamentes und unserer Gesell-
scher Streitkräfte an dem Einsatz der Inter- schaft. Deswegen füge ich mit großem Nachdruck hinzu:
nationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit schaffen die
Afghanistan (International Security Assis- Grundlage für Vertrauen. Das ist die Regierung dem Par-
tance Force, ISAF) unter Führung der NATO lament auch schuldig. Ich will das nachdrücklich sagen.
auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
1890 (2009) des Sicherheitsrates der Vereinten bei Abgeordneten der SPD)
Nationen
Wir engagieren uns in Afghanistan aus Menschlich-
– Drucksache 17/39 – keit, aber vor allem aus unserem ureigenen Sicherheits-
Überweisungsvorschlag: interesse. Afghanistan und das afghanisch-pakistanische
Auswärtiger Ausschuss (f) Grenzgebiet dürfen nicht erneut zum Rückzugsgebiet für
Innenausschuss Terroristen werden. Damit wir hier in Freiheit und
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Sicherheit leben können, auch dafür ist der Einsatz da.
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Deswegen möchte ich zunächst einmal nachdrücklich
Entwicklung unterstreichen: Ja, wir wollen den zivilen Aufbau. Wir
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO wollen dafür sorgen, dass ein Aufbau eigener ziviler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für und Sicherheitsstrukturen in Afghanistan möglich ist.
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Ja, wir wollen auch menschlich helfen, aber die mensch-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. liche Hilfe setzt Sicherheit voraus, und ohne die Frauen
und Männer der Bundeswehr gibt es keine Sicherheit für
Auf der Ehrentribüne hat eine afghanische Delega- den zivilen Aufbau. Dieser Zusammenhang darf nicht
tion Platz genommen. Im Namen aller Kolleginnen und geleugnet werden.
(B) Kollegen des Bundestages begrüße ich Sie herzlich. Wir (D)
freuen uns über Ihr Interesse an dem für Sie wie für uns (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
bedeutsamen Tagesordnungspunkt.
Deswegen knüpfe ich an das an, was von dem Außen-
(Beifall) minister der letzten Bundesregierung immer wieder ge-
sagt worden ist: Ein kopfloses Ende des internationa-
Für Ihren Aufenthalt in Deutschland und für Ihr weiteres len Einsatzes in Afghanistan wäre unverantwortlich.
Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche. Dadurch würde in dieser explosiven Region der Welt in
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort unmittelbarer Nachbarschaft zum Iran und zu den
zunächst dem Bundesminister des Auswärtigen Nuklearmächten Pakistan und Indien eine Zone der In-
Dr. Westerwelle. stabilität von bisher unbekanntem Ausmaß geschaffen.
Das können wir nicht zulassen. Hier geht es um unsere
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten eigene Sicherheit. Auch deswegen beschließen wir die-
der CDU/CSU) sen Einsatz.

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
wärtigen:
Sicherheit ist das Schlüsselwort. Ohne Sicherheit
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gibt es in Afghanistan keine wirtschaftliche Entwick-
gen! Sehr geehrte Damen und Herren aus Afghanistan,
lung, keinen Aufbau demokratischer Institutionen, keine
die Sie heute diese Debatte mitverfolgen! Wir freuen
Freiheit und keine Gleichberechtigung. Ohne Sicherheit
uns, wie Sie an dem Begrüßungsbeifall gemerkt haben,
werden in Afghanistan keine Brunnen, keine Kranken-
dass Sie heute als demokratische Repräsentanten unserer
häuser und keine Schulen gebaut, schon gar nicht für
Debatte beiwohnen.
Mädchen. Sicherheit ist daher das Schlüsselwort für un-
Wie schwierig und wie gefährlich der Einsatz in seren Einsatz. Darauf konzentrieren wir uns: auf den
Afghanistan ist, davon konnte ich mich erneut in der Schutz und die Sicherheit Deutschlands und Europas,
letzten Woche in Kabul und Masar-i-Scharif überzeugen. auf die Verbesserung der Sicherheit für die Menschen in
Ich kehre mit großem Respekt vor der Leistung der Afghanistan, aber auch auf die bestmögliche Sicherheit
Frauen und Männer zurück, die dort ihre Arbeit tun. Da- für deutsches Zivilpersonal und unsere Soldaten. Ihnen
rum beginne ich ausdrücklich mit dem Dank an diejeni- müssen wir vor allem die richtige Ausrüstung zur Verfü-
gen, die in Afghanistan für Deutschland ihren Dienst gung stellen, und auch darauf wird die Bundesregierung
tun, sei es in Zivil, sei es in Uniform. ihr Handeln ausrichten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 385
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) In der letzten Woche habe ich den Grundstein für eine ihn und seine Regierung, insbesondere bei der guten Re- (C)
Außenstelle der Polizeiakademie in Masar-i-Scharif le- gierungsführung und bei der Korruptionsbekämpfung;
gen können. Das ist das ganz praktische Ergebnis unse- das haben alle Bündnispartner, auch ich selbst, vor Ort
rer Strategie. Wer Afghanistan sicherer machen will, ausdrücklich und glasklar formuliert.
muss für mehr afghanische Polizisten sorgen. Der deut-
sche Beitrag zur Polizeiausbildung ist beträchtlich und In seiner Rede zur Amtseinführung fand Präsident
wird nicht nur in Afghanistan, sondern auch internatio- Karzai die richtigen Worte; das will ich ausdrücklich an-
nal hoch geschätzt. Er muss rasch weiter ausgebaut wer- erkennen. Jetzt müssen den richtigen Worten richtige Ta-
den. Unser Ziel ist eine selbsttragende Sicherheit in ten folgen. Je mehr die Afghanen für sich selbst tun,
Afghanistan, damit eine Übergabe der Verantwortung in desto mehr kann die internationale Gemeinschaft für
Verantwortung erfolgen kann. Wir wollen mit dem Kon- Afghanistan tun. Korruptionsbekämpfung und gute Re-
zept der selbsttragenden Sicherheit so weit kommen, gierungsführung sind für den Erfolg unverzichtbar.
dass eine Abzugsperspektive in Sicht gerät. Niemand (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
will diesen Einsatz bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag,
und weil niemand das will – das wissen wir –, muss Zweitens. Wir müssen erreichen, dass mehr Afghanen
selbsttragende Sicherheit geschaffen werden. Das steht den Aufständischen widerstehen. Wer zur Aufgabe des
im Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen. Kampfes bereit ist und bestimmte Mindestkriterien er-
füllt, der sollte ein Angebot zur Rückkehr in die afghani-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sche Gesellschaft erhalten. Nur so können wir auch den
Das heißt, dass es um den Aufbau der Polizei vor Ort harten Kern der Taliban isolieren.
geht. Dazu werden wichtige Weichenstellungen schon Drittens. Wir müssen auf eine regionale Lösung hin-
im Januar, mutmaßlich auf einer eigenen Afghanistan- arbeiten. Die von der Region ausgehende Destabilisie-
Konferenz, gemeinsam mit unseren internationalen Part- rungsgefahr kann nur verringert werden, wenn wir die
nern vorgenommen werden. Ich möchte nachdrücklich Nachbarstaaten in unsere Bemühungen einschließen.
darauf hinweisen: Über 40 Staaten beteiligen sich an der
vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierten
Mission. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Deutschland wird und muss einen seiner wirtschaftli- Kollegen Beck?
chen und politischen Bedeutung entsprechenden Beitrag
dazu leisten. Weil diese Diskussion stattfindet, möchte
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
ich noch einmal unterstreichen: Wir setzen das Afgha-
wärtigen:
(B) nistan-Mandat fort – in der bekannten Zahl. Wir wissen, (D)
dass es bei unseren Verbündeten international eine Dis- Bitte, Herr Kollege.
kussion über Ziele und Strategien gibt. Aber das ist die
richtige Reihenfolge: Erst die Ziele definieren, dann die Präsident Dr. Norbert Lammert:
Strategie im Bündnis mit unseren Partnern verabreden, Bitte schön, Herr Beck.
und erst dann kann es um die Frage gehen, was das kon-
kret für den Einsatz bedeutet. Wenn man sagt, dass mehr Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Soldaten eingesetzt werden müssen, bevor man die Stra-
Herr Außenminister, bevor Sie zum Ende kommen,
tegie im Bündnis gemeinsam verabredet hat, ist das die
wollte ich wissen – Sie haben den Punkt der Ehrlichkeit
falsche Reihenfolge. Das sage ich hier mit großem
angesprochen –: Wie bewerten Sie angesichts des in der
Nachdruck.
Bild-Zeitung veröffentlichten Berichts, demzufolge von
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Anfang an Kenntnis über zivile Opfer vorlag, die Infor-
der CDU/CSU) mationspolitik des Verteidigungsministeriums in der
Amtszeit Ihres Kollegen Jung? Dieses Haus wurde von
Der wichtigste Bündnispartner in diesem Einsatz blei- der Bundesregierung bislang nicht darüber unterrichtet.
ben die Afghanen selbst. Nicht die internationale Ge-
meinschaft fällt Entscheidungen über Afghanistan, son-
dern wir helfen, damit Afghanen mit Afghanen über die Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
Zukunft ihres Landes entscheiden können. Das bedeutet wärtigen:
auch, dass die Vorstellung, die es gelegentlich noch gibt, Ich mache darauf aufmerksam, dass in dieser Debatte
wir könnten ein Afghanistan gewissermaßen nach unse- noch andere Wortmeldungen erfolgen werden, und bitte
rem westlichen Bilde schaffen, nicht realistisch ist. Auch um Verständnis dafür.
das gehört zur Ehrlichkeit dazu.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Mit Blick auf die anstehende Afghanistan-Konfe- NEN]: Hannemann, geh du voran!)
renz und unser künftiges Engagement bedeutet das fol-
Offen gestanden glaube ich: Wenn ich hier als Außen-
gende Zielvorgaben – ich will sie kurz schildern –:
minister zum ersten Mal ein solches Mandat einbringe,
Erstens. Wir müssen an eine stärkere afghanische dann sollten wir der Debatte Genüge tun. Das gilt auch
Eigenverantwortung appellieren. Deswegen werden für Zwischenfragen, die nichts anderes zum Zwecke ha-
wir mit dem gewählten Präsidenten Karzai zusammen- ben, als eigene Süppchen zu kochen. Das ist völlig unan-
arbeiten. Gleichzeitig haben wir unsere Ansprüche an gemessen.
386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Johannes Pflug (SPD): (C)
Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
GRÜNEN]: Bitte? Dann lesen Sie mal die Zei- Herren! Seit dem Jahre 2001 engagieren wir uns nun
tung! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/ zivil und militärisch in Afghanistan. Es ist heute das
DIE GRÜNEN) zehnte Mal, dass der Deutsche Bundestag das ISAF-
Mandat für Afghanistan verlängern soll.
Sie wissen, dass es längst Entscheidungen gibt. Es ist
nicht an mir, hier zu diesen Entscheidungen zu sprechen. Ziele des Einsatzes in Afghanistan waren im Jahre
2001 – ich habe damals dazu gesprochen – folgende:
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die Antwort hat die Bundeskanzlerin Punkt eins. Wir wollen versuchen, das internationale
nicht erfreut, Herr Außenminister! – Hans- Terrornetzwerk von Bin Laden, von al-Qaida zu zerstö-
Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren, mindestens nachhaltig zu stören.
NEN]: Die Wahrheit! – Renate Künast
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie jetzt Punkt zwei. Wir wollen versuchen, so etwas wie
Außenminister oder nicht? Die Wahrheit auf regionale Stabilität in Afghanistan zu erreichen.
den Tisch!)
Punkt drei. Wir wollen versuchen, den Afghanen da-
– Frau Kollegin Künast, Sie rufen dazwischen. Ich muss bei zu helfen, einen Staat, eine Verwaltung aufzubauen
Sie fragen: Wissen Sie eigentlich, worüber wir hier re- und eine – so habe ich mich auch damals ausgedrückt –
den? halbwegs funktionierende Demokratie zu errichten.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wer diese Ziele betrachtet, muss zu dem Ergebnis
NEN]: Ja, im Gegensatz zu Ihnen!) kommen: Es sind Ziele, die im afghanischen Interesse
sind, die im internationalen Interesse sind und die natür-
Wir reden darüber, dass Frauen und Männer in Gefahr lich auch im deutschen Interesse sind. Mittlerweile sind
kommen. Sie sitzen in der ersten Reihe und lesen Zei- acht Jahre vergangen. Wir stehen nicht zuletzt bei der af-
tung. Es ist absolut inakzeptabel und würdelos, wie Sie ghanischen Bevölkerung im Wort. Seit dem Sturz der
das hier machen. Taliban im Jahre 2001 haben wir manches erreicht. Un-
ser militärisches und ziviles Engagement in Afghanistan
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
hat Früchte getragen. Sie kennen die Zahlen: 3 500
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Schulen sind errichtet worden. Landesweit geht rund die
NEN]: Ja, die Bild-Zeitung! – Fritz Kuhn
Hälfte der Kinder zur Schule, davon sind mittlerweile
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Wahr-
(B) 40 Prozent Mädchen. 25 Prozent des Lehrpersonals sind (D)
heit! Davor haben Sie Angst!)
Frauen. 85 Prozent der afghanischen Bevölkerung haben
Ich bitte Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung. Die
Zustimmung zur Verlängerung des ISAF-Mandates, Kindersterblichkeit ist erheblich zurückgegangen. Das
damit Deutschland entsprechend seinen wohlverstande- sind Erfolgszahlen. Das ist das Ergebnis internationaler
nen eigenen Sicherheitsinteressen handeln kann, damit Solidarität.
unser Land ein verantwortungsvoller und verlässlicher
Bündnispartner bei der Bekämpfung des internationalen Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
wenn ich solche Zahlen sehe, dann erinnere ich mich im-
Terrorismus bleibt, damit die Stabilisierung Afghanis-
mer daran, dass Sie auf Ihren Veranstaltungen gerne ru-
tans gelingt und wir die Voraussetzungen für eine verant-
wortungsvolle Übergabe schaffen können. fen: Hoch die internationale Solidarität.

Ich würde mir wünschen, dass sich die Damen und (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Der
Herren aus der Opposition in dieser Stunde ihrer eigenen Afghanistan-Einsatz hat mit Solidarität nichts
Verantwortung in diesem Hohen Hause bewusst sind, so zu tun! Überhaupt nichts! Das ist eine Unver-
wie wir uns in der Opposition bei dieser Frage immer schämtheit!)
unserer Verantwortung bewusst gewesen sind. Ich frage mich, ob Sie übersehen, was diese Mädchen
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit. und Frauen, die uns hier regelmäßig besuchen, einfor-
dern. Sie sagen immer: Ihr könnt uns nicht im Stich las-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – sen. Ihr könnt jetzt nicht aus Afghanistan weggehen.
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Reden Sie sich doch nicht heraus! Da (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
freue ich mich gleich auf Ihre Libanon-Rede der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-
zu UNIFIL!) SES 90/DIE GRÜNEN)
Dennoch führen massive Rückschläge zu zunehmen-
Präsident Dr. Norbert Lammert: der Besorgnis und Ablehnung des deutschen Afghanis-
Zunächst aber erhält das Wort der Kollege Johannes tan-Einsatzes in unserer Bevölkerung. Das bedeutet: Wir
Pflug für die SPD-Fraktion. können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Denn
es gibt gewaltige Probleme in Afghanistan. Es gibt eine
(Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: steigende Zahl von Selbstmordanschlägen. Es gibt eine
Jetzt liest sie schon wieder Zeitung!) starke Korruption. Es gibt die Drogenproblematik. Es
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 387
Johannes Pflug
(A) gibt aber auch Probleme im Zusammenhang mit unseren Die Fragen „Was ist schiefgelaufen?“ und „Was kön- (C)
eigenen Einsätzen. nen wir noch machen?“ müssen wir ehrlich beantworten.
Der Hintergrund muss dabei sein, dass wir uns natürlich
Herr Minister Jung, Sie werden erwartet haben, dass nicht ewig in Afghanistan aufhalten können, unser Enga-
dies angesprochen wird. Man kann heute nicht einfach gement dort nicht ewig fortsetzen können.
so tun, als sei nichts geschehen.
Unser Fraktionsvorsitzender und ehemaliger Außen-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des minister Frank-Walter Steinmeier hat frühzeitig eine so-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) genannte Roadmap bzw. einen Zehnpunkteplan vorge-
Die Berichte, die es seit letzter Nacht bzw. heute Morgen legt, in dem die für einen Abschluss des Afghanistan-
gibt, lassen sehr ernste Befürchtungen aufkommen. Ich Einsatzes in den nächsten Jahren notwendigen Schritte
sage ganz deutlich: Wenn es richtig ist, was die Medien aufgezeigt werden. Dabei gilt natürlich der Grundsatz
berichten – Sie schütteln mit dem Kopf; ich bin nicht für – er ist für uns unbestritten –: Je schneller die afghani-
das verantwortlich, was die Medien berichten; sche Armee und Polizei in der Lage ist, selbst für Sicher-
heit im Land zu sorgen, desto früher können die interna-
(Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister für Arbeit tionalen Truppen abziehen.
und Soziales: Wohl wahr! Ich auch nicht!)
Wir müssen sehr viel entschlossener gegen Korrup-
es steht in der Bild-Zeitung und war heute Morgen im tion, Misswirtschaft und organisierte Kriminalität vorge-
Fernsehen zu hören –, dass Sie dem Parlament Informa- hen. Die internationale Gemeinschaft muss eine gute Re-
tionen gezielt vorenthalten haben, gierungsführung stärker und entschiedener einfordern.
Auch das Problem des Drogenanbaus muss endlich ge-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
löst werden. Dabei muss vor allen Dingen der neue, wie-
GRÜNEN]: Hat er gelogen!)
dergewählte Präsident Karzai – natürlich darf man er-
Informationen nicht gegeben haben, dann ist das mehr hebliche Zweifel am Grad seiner demokratischen
als ein ernster Vorgang. Legitimation anmerken; aber er ist nun einmal im Amt –
in die Pflicht genommen werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Die Stabilität Afghanistans ist für die Sicherheitslage
LINKEN) in der gesamten zentralasiatischen Region wichtig
und notwendig. Ohne ein stabiles Afghanistan wird die
Herr Minister Jung, wenn das richtig ist, dann wird Ih- Stabilität der benachbarten Staaten immer bedroht sein.
nen klar sein, dass Sie an einem Untersuchungsaus- Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan grenzen (D)
(B) schuss nicht vorbeikommen, es sei denn, Sie ziehen vor-
unmittelbar an Afghanistan und müssen ihre Grenzen
her die Konsequenzen. schützen. Letzte Berichte über eine zunehmende Kon-
zentration von Islamisten und Terroristen im Ferghana-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Tal müssen uns sehr besorgt machen.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) Die zentrale Rolle spielt allerdings Pakistan. Das
Heute Morgen wurden im Fernsehen Ausschnitte ei- Land ist für die Islamisten immer noch logistisches Hin-
nes Videofilms gezeigt, und es wurde darüber berichtet, terland. Zwar ist Pakistan am Kampf gegen den Terror
dass ein Bericht der Feldjäger vorgelegen haben soll, beteiligt; aber Pakistan ist viel zu schwach, instabil und
den Sie offensichtlich entweder nicht zur Kenntnis be- intern zerstritten, um wirksam handeln zu können. Es hat
kommen oder über den Sie das Parlament nicht infor- keinerlei Kontrolle über sein Grenzgebiet zu Afghanis-
miert haben. Wenn es stimmt, dass angeordnet wurde, tan. Gleichzeitig ist Pakistan Atommacht. Es ist in unser
die Zivilpersonen oder meinetwegen auch die Taliban, aller Interesse, dass die Atomwaffen nicht in falsche
die sich an dem Platz in Kunduz aufgehalten haben, Hände geraten.
nicht durch Tiefflüge zu vertreiben – das wurde in der Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor genau
Berichterstattung auch gesagt –, dann ist das ein ver- einem Jahr war ich eine Woche in Pakistan. Damals
dammt ernster Vorgang. Ich sage ganz deutlich: Das er- standen die Taliban 150 bis 180 Kilometer von Islama-
fordert einen Untersuchungsausschuss. bad entfernt. Es heißt, dass die amerikanische Regierung
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 200 bis 400 Millionen Dollar ausgegeben hat, um das
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Atomwaffenpotenzial zu sichern. Aber es gibt gerade in
LINKEN) Pakistan neuere Erkenntnisse darüber, dass es um diese
Sicherung gar nicht so gut bestellt ist, sondern dass es
Wir müssen klarstellen: Nach dieser langen Zeit steht sehr schnell zu erheblichen Problemen kommen könnte.
der Einsatz der Bundeswehr natürlich an einem Wende- Deshalb werden wir die Idee einer internationalen Kon-
punkt. Wir müssen uns fragen: Was haben wir in Afgha- ferenz, die voraussichtlich am 28. Januar nächsten Jahres
nistan bisher erreicht? Was können wir dort noch errei- in London stattfinden soll, nachhaltig unterstützen. Al-
chen? Welche Dinge sind schiefgelaufen? Herr Minister lerdings sind wir der Meinung: Es wäre gut, wenn eine
zu Guttenberg, ich vertraue darauf, dass Sie das, wie Sie solche Konferenz in Afghanistan selbst stattfinden
gesagt haben, rückhaltlos überprüfen und das Parlament könnte, wenn dort die notwendige Sicherheit garantiert
entsprechend unterrichten werden. werden könnte.
388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Bericht wird auch der Generalbundesanwaltschaft (C)
Herr Kollege Pflug. übergeben.
Bei meinen jüngsten Besuchen in Afghanistan – ich
Johannes Pflug (SPD): grüße die Gäste, die heute hier sind – in Kunduz und in
Herr Präsident, ich komme zum Ende. – Wir werden Masar-i-Scharif haben mir unsere Soldaten, aber auch
der Verlängerung des ISAF-Mandates zustimmen. Ich die zivilen Helfer in persönlichen Gesprächen wieder-
sage aber nochmals: Herr Minister zu Guttenberg, wir holt mitgegeben, wie wichtig ihnen ist, dass die Debatte
vertrauen darauf, dass Sie das, was passiert ist, rückhalt- und die Diskussion über ihren Einsatz verantwortungs-
los überprüfen und das Parlament darüber informieren. voll geführt wird, in dem Sinne verantwortungsvoll, dass
Ich wiederhole: Wenn sich die Berichte als richtig erwei- wir uns auch in diesem Rahmen ein gewisses Niveau in
sen, werden wir die Forderung nach einem Untersu- der Diskussion leisten, meine Damen und Herren.
chungsausschuss stellen.
Umso wichtiger ist es, dass wir immer wieder darauf
Danke schön. hinweisen, welchen Dienst die Soldatinnen und Soldaten
und die zivilen Helfer vor Ort leisten: Sie sind motiviert,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sie sind professionell, sie sind pflichtbewusst, sie haben
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) selbstverständlich auch Emotionen, und sie leisten Vor-
bildliches. Auch an einem Tag, wo man über Dinge dis-
Präsident Dr. Norbert Lammert: kutiert wie die, über die wir heute diskutieren, dürfen wir
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, ihnen von Herzen danken für ihren Einsatz, den sie vor
Dr. zu Guttenberg. Ort annehmen und entsprechend wahrnehmen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
neten der FDP) bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun- Sie stellen sich jeden Tag der Gefahr von Verwundung
desminister der Verteidigung: oder Tod. Diese Wahrheit gehört zu dem Einsatz ebenso
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine wie die, dass in Teilen Afghanistans kriegsähnliche
Herren! Herr Kollege Pflug, ich will gerne Stellung neh- Zustände herrschen. Unsere Soldatinnen und Soldaten
men zu dem geheimen Untersuchungsbericht, über wissen das. Ihre Einschätzung muss für uns ebenso
den die Bild-Zeitung heute berichtet. Dieser Bericht war wichtig sein wie manche, die wir gelegentlich aus der
mir zum Zeitpunkt meiner Erklärung zu dem Bericht des Ferne wahrnehmen.
(B) (D)
ISAF-Kommandeurs nicht bekannt. Ich habe ihn jetzt
zum ersten Mal vorgelegt bekommen. Seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes bis heute sind
36 Soldatinnen und Soldaten gefallen bzw. gestorben
Dieser Bericht wurde – wie andere Berichte und Mel- und über 120 wurden verletzt bzw. verwundet. Von da-
dungen aus der letzten Legislaturperiode – nicht vorge- her, meine Damen und Herren, dürfen wir uns unsere
legt. Hierfür wurde an maßgeblicher Stelle Verantwor- Entscheidung wie bislang alles andere als leicht machen.
tung übernommen, und die personellen Konsequenzen Unsere Entscheidung hat in dieser Hinsicht größtes Ge-
sind erfolgt. wicht. Sie hat mit unserer Verantwortung gegenüber un-
seren Soldaten zu tun, einer Verantwortung, die letztlich
(Thomas Oppermann [SPD]: Welche?) Leben und Tod beinhaltet. Sie ergibt sich – Kollege
– Lassen Sie mich bitte ausreden! – Der Generalinspek- Westerwelle hat darauf hingewiesen – aus unseren Si-
teur hat mich gebeten, ihn von seinen Dienstpflichten zu cherheitsinteressen. Diese Sicherheitsinteressen sind
entbinden. Ebenso hat Staatssekretär Wichert Verant- weiterhin maßgeblich gegeben. Unsere Verantwortung
wortung übernommen. – Wenn ich hier hämisches La- ergibt sich aber auch aus Bündnisverpflichtungen; auch
chen höre, will ich an dieser Stelle trotzdem beiden für das wollen wir nicht vergessen, meine Damen und Her-
ihren jahrzehntelangen Dienst für unser Land danken, ren. Es ist eine gestaltende Aufgabe, bei der wir gefor-
meine Damen und Herren. dert sind und bei der wir Ergebnisse nur im Zusammen-
wirken mit unseren Partnern erzielen können. Meine
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Damen und Herren, wir sollten aufhören, den Afghanis-
bei Abgeordneten der SPD) tan-Einsatz lediglich zum Lackmustest für die NATO he-
Selbstverständlich werden diese Berichte unverzüg- rabzustilisieren. Wenn er überhaupt ein Lackmustest ist,
lich ausgewertet dann einer für die gesamte internationale Gemeinschaft.

(Thomas Oppermann [SPD]: Ist das alles?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD)
und den Fraktionen zur Einsicht zur Verfügung gestellt.
Das versteht sich von selbst, und das ist auch mein Ver- Ich halte es für einen richtigen und für einen klugen
ständnis von Transparenz, was den Umgang mit solchen Schritt, dass wir Anfang des nächsten Jahres auf einer
Vorfällen anbelangt. Afghanistan-Konferenz zusammen mit den Vertretern
Afghanistans auch diesen unseren Einsatz neu justieren
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und auf eine neue Grundlage stellen. Die Frau Bundes-
NEN]: Das Ministerium ist ein Tollhaus!) kanzlerin hat dazu gemeinsam mit dem britischen Pre-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 389
Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
(A) mierminister und mit dem französischen Präsidenten den wir damit, wenn wir sagen: „Zu diesem oder jenem Zeit- (C)
Anstoß gegeben. Sie können von der Bundesregierung punkt soll der letzte Soldat Afghanistan verlassen ha-
daher zu Recht einen entsprechenden Beitrag erwarten, ben“, im Grunde eine Steilvorlage für all jene liefern, die
einen gestaltenden Beitrag inhaltlicher Art zunächst: wie die Destabilisierung Afghanistans weiterhin zum Ziel
diese Afghanistan-Konferenz zu sehen ist und welche haben. Von daher ist es wichtiger, Zielmarken zu setzen
Impulse wir geben können. – auch Zielmarken für den Beginn der Übergabe von
Verantwortung – und diese Zielmarken klar zu definie-
Ich fand sehr richtig, dass Kollege Westerwelle gesagt ren. Von Afghanistan darf keine Gefahr mehr für die in-
hat, wie die Abfolge zu sein hat: dass wir uns jetzt nicht ternationale Sicherheit ausgehen.
den Planungen anderer unterwerfen, sondern dass wir
unseren Zeitrahmen so einhalten, dass auch eine sinn- Wir sprechen gerne über Aufständische, und wir spre-
volle Debatte im Bundestag, eine Einbindung des Parla- chen in dem Zusammenhang gerne auch darüber, dass
mentes, stattfinden kann, damit wir auch unseren Tradi- der Konnex zur internationalen Sicherheit gesucht wer-
tionen gerecht werden. den muss; das ist richtig. Wahrscheinlich muss man auch
noch etwas genauer hinblicken und prüfen, ob jeder, den
Meine Damen und Herren, wir müssen den Afghanis- wir bisher unter „aufständisch“ subsumiert haben, je-
tan-Einsatz gerade auch – das klingt so furchtbar banal mand ist, der die internationale Sicherheit gefährdet,
und ist trotzdem so entscheidend – vom Ende her den- oder ob man an der einen oder anderen Stelle auch kla-
ken. Das erfordert eine Klarheit hinsichtlich der Ziele, rere Trennlinien ziehen muss.
eine klare Ansprache dessen, was wir erreichen wollen,
und eine entsprechend tief gehende Diskussion. Vor al- Wir müssen es verhindern, dass Afghanistan wieder
len Dingen müssen wir noch deutlicher festlegen, wie zum Ruhe- und Rückzugsraum für den internationalen
und unter welchen Umständen wir diesen Einsatz auch Terrorismus wird. Es gibt weiterhin klare Gefährdungen:
beenden können. Ich werde mich dafür einsetzen, dass auch durch terroristische Maßnahmen und damit auch
hier ein klarer Rahmen definiert wird. Das erwarten die mit Blick auf unser Land.
Menschen in unserem Lande von der politischen Füh-
rung, und auch die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz Präsident Dr. Norbert Lammert:
dürfen von uns erwarten, dass wir uns hier klar sind.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kollegen Ströbele?
Deshalb trete ich auch und gerade international für
die Festlegung klarer Benchmarks, wie man das heute Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
desminister der Verteidigung:
(B) neudeutsch nennt, ein. Wir werden auch unsere nationa- (D)
len Grundlagen und Strukturen angehen, wenn wir über Aber gerne.
die Koordinierung und über die Führung unseres Gesamt-
engagements sprechen. Das schließt im Übrigen die ei- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gentlich selbstverständliche Erkenntnis mit ein, dass die NEN):
Bundeswehr alleine nicht für die Erreichung unserer Herr Minister, nach dem, was Sie vorhin zu den Be-
Ziele und die Lösung der jeweiligen Probleme sorgen richten der Bild-Zeitung gesagt haben, frage ich Sie, be-
kann. vor Sie diese allgemeinen Ausführungen zur Strategie in
Es ist also gut und richtig, dass wir im Zuge der heuti- Afghanistan zu Ende führen: Sind Sie bereit, Ihre per-
gen Diskussion über das Mandat ISAF, über den Einsatz, sönliche Rechtfertigung des Einsatzes der Bundeswehr
gerade auch diese Vernetzung miteinander diskutieren. gegen die Tanklastwagen bei Kunduz zu korrigieren?
Es reicht jedoch nicht, immer nur den Blick auf einen Nach dem, was Sie jetzt wissen – offenbar sind die Be-
Teil zu richten. Wir müssen ressortgemeinsam handeln. richte ja richtig, sonst hätten Sie sie dementiert –, kön-
Ich kann nur sagen: Die Art, wie wir uns miteinander ab- nen Sie Ihre Rechtfertigung doch nicht mehr aufrecht-
stimmen, erhalten.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Ich schließe eine zweite Frage an: Halten Sie es im
GRÜNEN]: Na ja!) Deutschen Bundestag nicht mehr für richtig, dass ein
Minister, dessen Ministerium hinsichtlich der Kommuni-
stimmt mich sehr zuversichtlich, dass die jeweils betei- kationspolitik ganz offensichtlich völlig versagt hat und
ligten Ressorts den Afghanistan-Einsatz als eine gemein- den Eindruck eines Tollhauses macht – man muss sich
same Aufgabe ansehen und dieser gemeinsamen Auf- nur ansehen, dass die Berichte angeblich nicht angekom-
gabe auch mit aller Kraft und unter Bündelung aller men sein sollen –, die Verantwortung für den Zustand
Anstrengungen nachgehen. seines Ministeriums übernimmt und die Konsequenzen
daraus zieht?
Dieses Ziel ist klar formuliert: Wir wollen, dass die
Afghanen bald selbst in der Lage sind, für ihre Sicher-
heit zu sorgen. Das ist das, was wir „Übergabe in Verant- Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
wortung“ nennen. Die Übergabe in Verantwortung ist desminister der Verteidigung:
übrigens nicht mit einer Exit-Strategie gleichzusetzen, Kollege Ströbele, ich habe auf die Konsequenzen hin-
mit der ein Enddatum gesetzt wird. Es zeugt nur von ei- gewiesen, und ich habe diese Konsequenzen nicht einem
ner begrenzten Weisheit, ein Enddatum zu setzen, weil Medium mitgeteilt, sondern den Mitgliedern des
390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg


(A) Deutschen Bundestages, weil ich finde, dass sich das so Wir werden uns auch weiterhin mit der „Afghan De- (C)
gehört. Das ist der erste Schritt. fence University“ und der Pionierschule noch stärker in
der Schullandschaft der Streitkräfte engagieren. Auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das ist ein wichtiger Punkt.
Zum Zweiten habe ich zu Beginn gesagt – Sie haben Für unser Ziel selbsttragender Stabilität investieren
sicherlich genau zugehört; davon gehe ich bei Ihnen wir in dem Sinne noch intensiver in die Ausbildungsun-
grundsätzlich aus –, dass ich meine Bewertung auf der terstützung. Im kommenden Jahr werden innerhalb des
Grundlage des COMISAF-Berichtes abgegeben habe. Mandates und der Mandatsstruktur, die wir heute vor-
Das war der einzige Bericht, der mir – wann war das? – schlagen, noch mehr deutsche ISAF-Soldaten als Aus-
ein paar Tage nach Amtsantritt vorlag. Ich werde selbst- bilder der afghanischen Streitkräfte tätig sein.
verständlich auch selbst eine Neubewertung der Fälle
auf der Grundlage der Berichte, die mir in einer Gesamt- Ich will auch darauf hinweisen – das ist schon mitge-
schau gegeben sind, vornehmen. Auch das gehört sich, teilt worden –, dass ich zur Verstärkung unserer Truppe
Herr Kollege. Ich glaube, damit sind die beiden Fragen die Verlegung einer Infanteriekompanie nach Kunduz
entsprechend beantwortet. angewiesen habe. Diese Kräfte geben dem militärischen
Führer vor Ort eine Handlungsfreiheit dahin gehend zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie rück, dass zusätzlich eine entsprechende Sicherheits-
bei Abgeordneten der SPD) komponente gewährleistet werden kann, sodass die
Deutschland ist weiterhin der drittgrößte Truppenstel- Durchhaltefähigkeit gewährleistet werden kann, was in
ler in Afghanistan. Das wird gelegentlich vergessen. Wir dieser Provinz derzeit von größter Bedeutung ist.
tragen die Verantwortung für einen großen Teil des Nor- Wir werden dann den deutschen Beitrag im Rahmen
dens Afghanistans. Es geht um eine Region – daran kann des internationalen Gesamtengagements in Afghanistan
man gelegentlich erinnern –, die halb so groß ist wie aufgrund der Ergebnisse der internationalen Afghanis-
Deutschland, in der rund 35 Prozent der afghanischen tan-Konferenz einer erneuten Prüfung unterziehen und
Bevölkerung leben. Die Stabilität und die Wirtschafts- dort, wo es nötig ist, auch unter der notwendigen Befas-
kraft dieser Region sind wichtig für ganz Afghanistan. sung des Deutschen Bundestages Anpassungen vorneh-
Es lohnt auch gelegentlich, an den Aspekt Wirtschafts- men. Was erforderlich ist, soll getan werden. Aber das
kraft einer Region zu erinnern. Auch das gehört in den kann erst im Lichte der Afghanistan-Konferenz und im
Gesamtkontext mit hinein. Lichte der nächsten Schritte gesehen werden.
Wir führen das Regionalkommando Nord und stel- Ich will allerdings in Ergänzung zu dem, was Kollege
(B) len dort maßgebliche Unterstützungsleistungen in den Westerwelle bereits festgestellt hat, auch sagen: Der (D)
Bereichen Führung, Führungsunterstützung, Lufttrans- Rhythmus, der dadurch vorgegeben wird, dass wir zum
port, Sanitätsdienst, Sanitätsdienstlogistik sowie Aufklä- einen wohl am 1. Dezember die Rede des amerikani-
rung. Wir betreiben zwei der sogenannten PRT im Nor- schen Präsidenten zu erwarten haben und zum anderen
den, namentlich in Kunduz und in Faizabad. Man darf an bereits am 7. Dezember – sehr ehrgeizig – eine NATO-
der Stelle auch sagen, dass sich in den letzten Monaten Truppenstellerkonferenz stattfinden soll, wird uns nach
die Situation in Faizabad vergleichsweise positiv entwi- meiner bzw. unserer Überzeugung nicht dazu bringen,
ckelt hat, wohingegen bekannt ist, dass sich um Kunduz zum 7. Dezember sofort und nacheilend Vorschläge auf
herum die Sicherheitslage signifikant verschärft hat und den Tisch der internationalen Gemeinschaft zu legen.
wir auch immer damit rechnen müssen, dass angesichts Wir wollen eigene Impulse geben. Wir wollen unseren
der Versorgungsrouten die laufende Situation nicht strategischen Ansatz deutlich machen. Wir lassen uns
zwingend an jedem Ort einfacher werden muss. deswegen nicht in ein Zeitkorsett zwängen. Das haben
Wir beteiligen uns maßgeblich an der Ausbildung wir den Partnern schon mitgeteilt. Ich glaube, wenn wir
der afghanischen Streitkräfte. Eines der Schlüsselele- hier eine eigene, klare Handschrift erkennen lassen und
mente zu einem Erfolg wird weiterhin gerade dieser deutlich machen, wie wir im Rahmen des vernetzten An-
Ausbildungsaspekt sein: Training, Training, Training, satzes Afghanistan so in die Lage versetzen wollen, dass
damit man die Übergabe an entsprechend ausgebildete eine Verantwortungsübergabe möglich ist, dann ist eine
Sicherheitskräfte stattfinden lassen kann. klare und gute Grundlage gelegt.

Daneben stellt die Bundeswehr Feldjäger zur Unter- Ich darf Sie alle um Unterstützung der Verlängerung
stützung der Polizeiausbildung im Einsatz. Auch die Po- dieses ISAF-Mandates bitten.
lizeiausbildung bleibt eine wichtige Säule. Wir müssen
Herzlichen Dank.
hier weiterhin auch mit den europäischen Partnern alle
Kraft daransetzen, dass die Polizeiausbildung in dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Umfang gewährleistet werden kann, den wir uns in sei-
nen Höchstgrenzen vorstellen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Seit dem Jahr 2002 unterstützen wir den Aufbau der Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion
„Drivers and Mechanics School“ der afghanischen Die Linke.
Streitkräfte in Kabul. Aus dieser Schule wächst mit un-
serer Unterstützung die Logistikschule der Armee auf. (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 391

(A) Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): schläge ebenfalls mehr als verdoppelt. Über diesen Zu- (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich sammenhang muss man doch nachdenken. Es ist eine
beginne, wie Sie sich denken können, mit den Enthül- Tatsache, dass wir in diesem Jahr wieder einen traurigen
lungen in der Tagespresse. Erstens. Herr Minister zu Rekord an Opfern – auch an zivilen – haben werden. Die
Guttenberg, es ist unumgänglich, diesem Haus den in Bundeswehr war daran im September – auch das ist trau-
Rede stehenden Geheimbericht zugänglich zu machen. rig – erstmals nennenswert beteiligt. Es ist auch eine Tat-
Wir werden darauf bestehen, dass diese Vorgänge im sache, dass sich nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser
Rahmen dieses Parlaments sorgfältig untersucht werden. Art der Kriegführung der Einflussbereich der Taliban
Das ist unumgänglich. immer weiter ausgedehnt hat und dass der zivile Aufbau
vor allem dort, wo sich die Sicherheitslage zuspitzt, ins
(Beifall bei der LINKEN) Stocken geraten ist.
Zweitens. Wenn es sich bestätigt, dass Herr Minister
Schließlich ist es eine Tatsache, dass der militärisch
Jung sehr früh über zivile Opfer des Bombenangriffs
gestützte Versuch, eine funktionierende Demokratie
vom 4. September Bescheid wusste und dennoch Parla-
nach unserem Muster aufzubauen, gescheitert ist. Das
ment und Öffentlichkeit belogen hat, dann fordere ich
hat nicht zuletzt die Wahlfarce gezeigt, die mit dem Geld
die Kanzlerin auf, dem Herrn Minister Jung unverzüg-
und unter dem Schutz der NATO-Mitgliedstaaten durch-
lich die Entlassungspapiere auszustellen.
geführt worden ist. Deshalb sagen wir Ihnen: Hören Sie
(Beifall bei der LINKEN) endlich auf, der Öffentlichkeit und sich selbst etwas vor-
zumachen. Nehmen Sie endlich diese Tatsachen zur
Ein solcher Minister ist entweder unehrlich oder unfä- Kenntnis und richten Sie Ihre Politik danach aus.
hig. Das gilt für jedes Ressort.
(Beifall bei der LINKEN)
Drittens. Wenn nun selbst die Bundeswehr feststellt,
dass am 4. September inadäquat gehandelt wurde – so Selbst da, wo Sie diese Tatsachen anerkennen, ziehen
verstehen wir das –, dann fordere ich Sie auf, Herr Mi- Sie die falschen Schlüsse. Noch soll die Stärke des Bun-
nister zu Guttenberg: Korrigieren Sie Ihre Aussage, dass deswehrkontingents nicht heraufgesetzt werden. Aber
die damalige Bombardierung militärisch angemessen ge- verklausuliert kündigen Sie Truppenerhöhungen an, spä-
wesen sei! testens nach der Afghanistan-Konferenz im nächsten
Frühjahr. Wie sonst soll man es verstehen, wenn Sie sa-
(Beifall bei der LINKEN)
gen: Das muss auf den Prüfstand?
Für die Linke jedenfalls gilt – wir bleiben dabei –: Es
kann nicht angemessen sein, Menschen zu töten, nur Was die weitere Perspektive angeht, erfahren wir zu-
(B) weil sie möglicherweise Taliban oder Talibansympathi- mindest so viel – ich zitiere –: (D)
santen sind. Es ist nicht rechtens, wenn der Tod Unschul- Die Bundesregierung strebt deshalb an, in dieser
diger leichtfertig in Kauf genommen wird. Das werden Legislaturperiode die Grundlagen dafür zu schaf-
wir niemals akzeptieren. fen, dass im Rahmen von Isaf … mit einer Reduzie-
(Beifall bei der LINKEN) rung auch der deutschen Militärpräsenz begonnen
werden kann.
Nun haben wir vom Herrn Minister gehört, man
müsse die Strategie neu justieren. Es wurde gesagt: Wir Im Klartext: Bis Ende 2013 soll sich nichts tun. Dann,
sind jetzt an einem Wendepunkt. – Das Verblüffende wenn es die NATO beschließt, soll der Rückzug Schritt
ist: Das haben wir schon vor einem Jahr gehört. Damals für Schritt erfolgen. Distrikt für Distrikt soll den Afgha-
haben sich die Hoffnungen auf die Präsidentschaftswahl nen übergeben werden. Afghanistan hat 400 Distrikte.
fokussiert, und es wurde gesagt: Jetzt werden wir hof- Das kann also lang dauern. Ich frage Sie deshalb: Glau-
fentlich stabile Verhältnisse bekommen. – Ich könnte Ih- ben Sie ernsthaft, dass Sie die Truppen noch acht Jahre
nen nun jede Menge Zitate zum Beispiel aus der Torna- oder mehr in Afghanistan werden halten können? Ich
dodebatte am 9. März 2007 präsentieren. Damals hat ein glaube das nicht.
Kollege von der CDU, der jetzt auf der Regierungsbank Das, was der Verteidigungsminister jetzt als neue
sitzt, gesagt: strategische Ausrichtung präsentiert, geht in die fal-
Es bleiben uns realistischerweise nur noch 18 bis sche Richtung und ist völlig illusionär. Alle Welt weiß,
24 Monate, um den Trend zur Destabilisierung zu dass die Taliban und die Aufständischen militärisch
stoppen und die Trendumkehr zu bewerkstelligen. nicht zu besiegen sind. Dieser Krieg kann nicht gewon-
nen werden. Aber die NATO hält daran fest, dass man
Was sagen Sie denn heute, Herr von Klaeden? Ich die Taliban durch noch entschlosseneres militärisches
könnte, wie gesagt, noch viel mehr Aussagen präsentie- Vorgehen doch noch in die Knie zwingen kann.
ren.
(Jörg van Essen [FDP]: Ja!)
Die Sache ist doch ganz einfach: Wir werden seit Jah-
ren mit Durchhalteparolen traktiert, die bislang nur auf Warum sonst sollen die Truppen nennenswert aufge-
eines hinausgelaufen sind, nämlich auf mehr Krieg. Es stockt werden? Sie werden aufgestockt werden. Es ist il-
ist eine Tatsache: Seit 2007 hat sich die Zahl der NATO- lusionär, zu meinen, man könne durch mehr Aufbauhilfe
Soldaten in Afghanistan mehr als verdoppelt. Im glei- die Bevölkerung dazu bringen, sich von den Taliban ab-
chen Zeitraum hat sich die Zahl der Gefechte und An- zuwenden, wenn man gleichzeitig den Einsatz von
392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Paul Schäfer (Köln)


(A) Gewalt vorantreibt. Mehr Bombardierung heißt mehr Jetzt wird versucht – ich bin noch bei der NATO-Stra- (C)
Hass, mehr Gewaltbereitschaft und mehr Entfremdung. tegie –, auf die klassischen Mittel der Aufstands-
bekämpfung zurückzugreifen, wie wir sie auch aus
(Beifall bei der LINKEN) Vietnam kennen. Ich will nur einen Punkt herausgreifen:
Es ist und bleibt ein unauflöslicher Widerspruch, wenn
Präsident Dr. Norbert Lammert: man in großem Stil – das geschieht gegenwärtig – die
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck, Anführer dieser Aufstandsbewegung umbringt, gleich-
Herr Kollege? zeitig aber politische Gespräche mit diesen Talibankom-
mandeuren anbahnen will. Mit demjenigen, den ich
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): montags erschieße, kann ich dienstags nicht mehr reden,
auch nicht mit seinem Umfeld. Damit werden die Hür-
Ja, gerne. den auf dem Weg zu einer politisch-diplomatischen Ver-
handlungslösung immer höher gesetzt, und der Krieg
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wird verlängert, wo es doch jetzt gilt, den Krieg und das
NEN): Leiden zu beenden.
Herr Kollege, Sie wissen, dass es in sehr dramati-
schen Situationen keine ganz klaren Antworten gibt. (Beifall bei der LINKEN)

Ich bin jetzt sechs Tage in Pakistan gewesen, wo kein Es gibt hierzulande eine stabile Mehrheit in der Bevölke-
westliches Militär stationiert ist und wo in den Stammes- rung, die sagt: Wir müssen die Bundeswehrsoldaten zu-
gebieten, den Grenzgebieten zu Afghanistan, die Zahl rückziehen. – Deshalb sagen wir Ihnen: Hören Sie auf
der Toten in der Zivilbevölkerung in den letzten fünf die Menschen, die sehr genau sehen, dass man mit der
Jahren von 180 auf über 6 000 gestiegen ist. Inzwischen Afghanistan-Unternehmung auf eine schiefe Bahn gera-
haben die Taliban und al-Qaida, wobei sich das über- ten ist, dass man jetzt in einem Schlamassel steckt und
schneidet, die Zivilbevölkerung auch in den Stammesge- dass man so schnell wie möglich dort heraus muss. Die
bieten so tyrannisiert, dass jetzt die Stammesältesten sel- Afghaninnen und Afghanen – das zeigen auch neuere
ber die Grenze für überschritten halten und gefordert Studien, zum Beispiel die, die Oxfam jetzt durchgeführt
haben, dass das pakistanische Militär gegen diese Grup- hat – wollen vor allem eins: das Blutvergießen, das sie
pen vorgeht. seit 30 Jahren durchleben müssen, beenden. Die Mehr-
zahl will auch keine Rückkehr zum alten Talibanregime,
Dem vorausgegangen ist im Februar die Entscheidung aber die Menschen wissen, dass man, wie die Dinge ste-
einer Regionalregierung, mit den Taliban ein Konsensab- hen, jetzt einen Kompromiss finden muss, und zwar ei-
(B) kommen zu schließen. Die Grundlage war Waffenstill- nen Kompromiss, der vor allem darauf gerichtet ist, die- (D)
stand gegen Einführung der Scharia. Diese Vereinbarung sen gewaltförmigen Konflikt in einen politischen
ist geschlossen worden, der Waffenstillstand jedoch keine Konflikt zu transformieren. Es geht in die völlig falsche
Minute eingehalten worden. Es gab hier also den Versuch Richtung, wenn man jetzt die Afghanisierung des Krie-
einer Konsensbildung. Sind das Überlegungen, die bei ges betreibt, indem man die afghanischen Streitkräfte
uns in die Entscheidungen einfließen müssen, die zu tref- aufrüstet. Wir brauchen eine Afghanisierung des Frie-
fen sind? dens. Es geht um eine innerafghanische Verhandlungslö-
sung.
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN)
Vielen Dank für die Frage. Sie haben insofern recht,
Frau Kollegin Beck, als bestimmte Entwicklungen an ei- Um Frieden machen zu können, muss man auch mit
nen Punkt kommen können, wo es schwierig ist, Ant- den Gegnern, ob sie einem passen oder nicht, reden, und
worten zu geben. Aber die Frage ist – das ist für uns zwar ohne Vorbedingungen. Damit bin ich bei dem Punkt,
Linke der Ausgangspunkt –: Warum ist es in Pakistan zu was getan werden müsste. Erstens müssen alle diploma-
genau dieser Entwicklung gekommen? tischen und politischen Anstrengungen darauf gerichtet
werden, einen Waffenstillstand mit den Aufständischen
(Beifall bei der LINKEN) im Land auszuhandeln. Ohne einen Waffenstillstand gibt
Herr Präsident Sharif wurde im Terrorkrieg als ein es keine Entwicklung, gibt es keinen Aufbau und gibt es
Bündnispartner behandelt. Er hat schon immer versucht, keine Freiheit.
diesen Konflikt militärisch zu befrieden. Er hat jedoch (Beifall bei der LINKEN)
keinerlei soziale und wirtschaftliche Entwicklungen vo-
rangebracht. Das ist die Ursache dafür. Was Afghanistan jetzt braucht, ist ein breiter innergesell-
schaftlicher Konsultationsprozess, der darin münden
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) muss, dass die Waffen schweigen, dass der Konflikt ent-
Deshalb sagen wir: Wir müssen aus diesem Teufelskreis militarisiert und die nationale Aussöhnung vorange-
herauskommen. Wir müssen diese Spirale der Gewalt bracht wird. Das ist nicht naiv, wie manche meinen, das
durchbrechen. Damit müssen wir irgendwann anfangen. ist nicht blauäugig. Dafür gibt es jede Menge Anknüp-
fungspunkte. Aus der traditionellen Stammesgesellschaft
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner heraus haben sich Kräfte aufgemacht, die diesen Dialog-
[Berlin] [FDP]: Das ist billiger Populismus prozess wollen, zum Beispiel in Gestalt der afghani-
und sonst gar nichts!) schen Friedensjirga. Es gibt die moderneren, sehr akti-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 393
Paul Schäfer (Köln)
(A) ven zivilgesellschaftlichen Initiativen wie das Afghan man im Morast steckt, hat man keinen Plan, wie man (C)
Civil Society Forum und andere, die zusammen mit wieder herauskommt. Das ist schlimm. Um Schlimmeres
Oxfam diese Studie erstellt haben, die auch diesen Dia- zu verhüten, fordern wir von Ihnen eines: Ziehen Sie die
logprozess wollen, und es gibt die gesprächsbereiten deutschen Truppen aus Afghanistan zurück, und zwar
Kreise bei den Aufständischen, die sehr genau realisie- unverzüglich!
ren, dass auch sie nicht militärisch gewinnen können.
Worauf es jetzt aber besonders ankommt, ist, dass die (Anhaltender Beifall bei der LINKEN)
Regierung Karzai energisch dazu gedrängt wird, statt
salbungsvolle Worte zu verbreiten, endlich eine eindeu- Präsident Dr. Norbert Lammert:
tige und stringente Konzeption des innerafghanischen Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt
Dialogs vorzulegen und umzusetzen. für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Zweitens. Eine Voraussetzung dafür, dass die Waffen NEN):
zum Schweigen gebracht werden können, ist die unzwei- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
deutige Festlegung auf den Abzug sämtlicher NATO- Trotz aller Tagesaktualität, zu der ich gleich noch
Truppen, und zwar ohne Bedingungen und nicht irgend- komme, möchte ich mit einer grundsätzlichen Bemer-
wann. kung beginnen. Die Entscheidung über den ISAF-Ein-
(Beifall bei der LINKEN) satz hat sich meine Fraktion nie leicht gemacht. Wir ste-
hen zu unserer Verantwortung gegenüber den Menschen
Wer diesen Truppenabzug, Herr Minister Westerwelle, an in Afghanistan, gegenüber den vielen Helferinnen und
Voraussetzungen knüpft – eine stabile Zentralregierung Helfern der Entwicklungsorganisationen, gegenüber den
in Kabul, vielleicht 400 000 Soldaten –, der verschiebt Polizeiausbildern und den Soldatinnen und Soldaten der
diesen Termin dann doch auf den Sankt-Nimmerleins- Bundeswehr, die in Afghanistan ihr Bestes tun, um den
Tag. Der Abzug ist aus unserer Sicht alternativlos, weil er Menschen dort zu helfen.
– das wird manche erstaunen, aber es ist so – den bewaff-
neten Widerstand schwächt, der seine Stärke doch gerade In Richtung der Kollegen von der Linkspartei will ich
aus dem um sich greifenden Gefühl der Afghanen zieht, hier sagen: Diese Solidarität ist für uns unvereinbar mit
in einem besetzten Land zu leben und politisch bevor- der Forderung nach einem Sofortabzug.
mundet zu werden. Der Abzug ist alternativlos, weil er (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
das entscheidende Signal an die Afghaninnen und Afgha- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(B) nen gibt, dass sie ihr Schicksal in die eigene Hand neh- der SPD) (D)
men müssen.
Da soll man sich nichts vormachen: Es gibt nicht die ein-
(Beifall bei der LINKEN) fache Alternative: Bundeswehr raus, Helfer rein. Auch
Drittens sollte alles dafür getan werden, dass das die meisten Helferinnen und Helfer müssten dann mit
Waffenstillstandsübereinkommen in das weite regio- der Bundeswehr tatsächlich herausgehen, und das wol-
nale Umfeld eingepasst wird. Alle Anrainerstaaten müs- len die Menschen in Afghanistan, insbesondere im Nor-
sen beteiligt werden und ein solches Waffenstillstands- den des Landes, eben nicht. Es ist wichtig, diesen Zu-
übereinkommen garantieren. sammenhang zu begreifen.

Viertens gibt es in der Tat eine Verantwortung auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der Deutschen für Afghanistan, eine Verantwortung für sowie bei Abgeordneten der FDP)
Unterstützung und Wiederaufbau. Wir sind deshalb der Die Sicherheitslage hat sich allerdings deutlich ver-
Auffassung, dass die Mittel für den zivilen Aufbau er- schlechtert, gerade im Einsatzgebiet der Bundeswehr.
höht werden müssen, dass sie dort ankommen müssen, Daher muss man von kriegsähnlichen Zuständen spre-
wo sie gebraucht werden, und dass die zivile Aufbau- chen. Die weitgehend gefälschten Präsidentenwahlen
hilfe von der Einordnung in militärische Strategien end- sind mehr als problematisch für den weiteren politischen
lich befreit werden muss. Prozess in Afghanistan, aber auch für die Legitimation
(Beifall bei der LINKEN) des Einsatzes der internationalen Gemeinschaft dort.

Das ist nicht nur unsere Forderung, sondern auch die der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
deutschen entwicklungspolitischen Organisationen, zu- SES 90/DIE GRÜNEN)
letzt diese Woche. VENRO sagt klipp und klar: Es gibt aber auch eine große Chance: Das ist die neue
Die schädliche und irreführende Vermischung von Offenheit, mit der international über einen Strategie-
zivilen und militärischen Aufgaben muss endlich wechsel diskutiert wird. Nun geht es darum, diesen
beendet werden. Kurswechsel voranzutreiben in Richtung einer zivilen
Aufbauoffensive in Verbindung mit einem konkreten
(Beifall bei der LINKEN) Abzugsplan. Daher wünsche ich mir wirklich konkretere
Vorschläge hier im Deutschen Bundestag von Regie-
Ich fasse zusammen: Der Einmarsch in Afghanistan rungsseite.
hatte keine völkerrechtliche Grundlage. Für den Aufbau
des Landes hatte die NATO kein Konzept, und jetzt, wo (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Dr. Frithjof Schmidt


(A) Meine Damen und Herren von der Koalition, vor die- In der Stabilisierungsmission ISAF darf kein Platz sein (C)
sem Hintergrund ist das Handeln der Bundesregierung für eine Kriegslogik, die auf die physische Vernichtung
zu bewerten. Sicherlich, Sie sind erst seit einigen Wo- möglichst vieler Gegner zielt. Das müssen Sie gerade-
chen im Amt; aber dass Sie uns ein Mandat vorlegen, rücken!
das, bis auf deutlich mehr Geld für das Militär, komplett
unverändert ist, das ist schlecht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Und Herr Jung, wenn sich bestätigen sollte, dass Sie
Sie hätten mehr tun können und müssen. Sie hätten eine de facto den Deutschen Bundestag in diesem Zusam-
unabhängige, ehrliche Evaluierung des Engagements in menhang belogen haben, dann sind Sie als Minister nicht
Afghanistan vornehmen können. Das Fehlen einer sol- mehr haltbar, egal, in welcher Funktion.
chen Bilanzierung hängt schon seit Jahren als Ballast an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der deutschen Afghanistan-Politik. Andere Bündnispart- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
ner haben diesen Schritt gewagt. Schauen Sie einmal, KEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE
was die Kanadier vorlegen. Davon kann man einiges ler- GRÜNEN]: Vielleicht kann Herr Guttenberg
nen. auch einmal zuhören, Frau Merkel!)
Außerdem hätten Sie eine zivile Aufbauoffensive ent- Das muss aufgeklärt werden. Deswegen wollen wir, dass
wickeln können. Alle Experten sind sich einig, dass für der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsaus-
den Erfolg des Einsatzes der Aufbau von staatlichen schuss tätig wird.
Strukturen und die Verbesserung der Lebensbedingun-
gen der Afghaninnen und Afghanen entscheidend sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aber was tun Sie? Sie fordern mehr Geld – fast sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
300 Millionen Euro – für das Militär. Ein vergleichbarer
Ausbau der zivilen Hilfe? Da ist Fehlanzeige. Meine Damen und Herren von der Koalition, die we-
nigen Wochen der Afghanistan-Politik der neuen Bun-
VENRO, der Verband der deutschen Nichtregierungs- desregierung muss ich leider so zusammenfassen: Sie ist
organisationen, hat vor zwei Tagen vorgerechnet, dass eine Mischung aus Vertagungen, Versprechungen und
sich unter der neuen Bundesregierung das Verhältnis von Verschlechterungen. Das geht an den realen Herausfor-
militärischen Mitteln zu zivilen Mitteln von drei zu eins derungen in Afghanistan vorbei.
auf vier zu eins verschlechtert. Das ist doch ein absurder
(Birgit Homburger [FDP]: Ihre Rede auch!)
Vorgang.
(B) Die Entscheidung nächste Woche ist sicherlich eine (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gewissensentscheidung für alle Abgeordneten. Die Ab-
sowie bei Abgeordneten der SPD) wägungen sind nicht leicht. Sie wollen von uns einen
Das ist doch das genaue Gegenteil einer zivilen Aufbau- Blankoscheck für ein weiteres Jahr. Ich spreche für einen
offensive. großen Teil meiner Fraktion, wenn ich sage: Dem kön-
nen wir nicht zustimmen.
Ich sage Ihnen: Es grenzt an Vertuschung, wenn
gleichzeitig die Spatzen von allen Dächern pfeifen, dass Danke.
eine Truppenerhöhung geplant sei. Herr zu Guttenberg, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schenken Sie dem Deutschen Bundestag dazu reinen
Wein ein!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Für eine Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Wolfgang Gehrcke das Wort.
GRÜNEN]: Erst einmal zuhören! – Jürgen
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
wird gerade von der Kanzlerin abgelenkt!)
Kollege Schmidt, ich möchte Sie gerne auf zwei
Meine Damen und Herren von der Koalition, die Bun- Punkte ansprechen.
desregierung hat den Kurswechsel von Oberbefehlsha-
Erster Punkt: Meinen Sie nicht, dass es auch Solidari-
ber McChrystal – der will nämlich endlich den Schutz
tät ist, dass man einem Partner sagt, was erfolgreich ist
der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt stellen – rheto-
und was nicht erfolgreich ist, was geht und was nicht
risch unterstützt. Aber Sie, Herr Verteidigungsminister,
geht, wenn man mit ihm über Werte diskutiert? Sollte
konterkarieren dieses Bekenntnis völlig, wenn Sie die
man also der Bevölkerung in Afghanistan nicht sagen:
Bombardierung der zwei Tanklaster bei Kunduz und der
„Unsere Solidarität wird darin liegen, dass wir versu-
Menschenmenge um diese herum als „angemessen“ be-
chen, von kriegerischen Lösungen wegzukommen und
werten. Ich hoffe, dass Sie im Lichte der neuen Erkennt-
zivile Lösungen zu finden“?
nisse, die Sie jetzt gewonnen haben, das zurücknehmen
werden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich möchte hier vor allen Dingen einen Begriff gewertet
sowie bei Abgeordneten der SPD) wissen: Das ist der Begriff der Selbstbestimmung. Wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 395
Wolfgang Gehrcke
(A) haben über alles gesprochen, nur nicht über Selbstbe- Mitgliedern der Bundesregierung tatsächlich ein persön- (C)
stimmung. liches Fehlverhalten zuordnen zu können. Ich bitte hier
um die notwendige Seriosität und Geduld. Ich gehe da-
Mein zweiter Punkt: Finden Sie es nicht auch uner-
von aus, dass dann die notwendigen Maßnahmen ergrif-
träglich, dass der ehemalige Verteidigungsminister Herr
fen werden.
Jung hier sitzt, er aber, obwohl ihm schlimme Vorhaltun-
gen gemacht werden, er von fast allen Rednern bezich- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tigt wird, dass er gelogen hat, und selbst sein Nachfolger der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/
sich von ihm hier absetzt, nicht das Wort ergreift? DIE GRÜNEN]: Wir wären ja bereit, unsere
Redezeit an Herrn Jung abzutreten!)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Mich stört eher, dass er da sitzt und – Das wäre für den Vertreter Ihrer Fraktion möglich ge-
lacht!) wesen, sehr verehrter Herr Trittin.
Ich denke, der ehemalige Verteidigungsminister muss In der Kürze der Zeit sollten wir versuchen, die Dis-
jetzt reden und Stellung nehmen. Ich würde mich freuen, kussion auf einen eher rationalen Aspekt zurückzufüh-
wenn Sie es ähnlich sähen. ren. Wir werden auf der Afghanistan-Konferenz im
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nächsten Jahr die Gelegenheit haben, die Strategie neu
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE zu justieren. Es ist dringend an der Zeit, dass wir das tun.
GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Dabei müssen wir einige Punkte berücksichtigen. Ers-
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tens darf sich die Situation in Afghanistan nicht durch ir-
NEN): gendwelche Maßnahmen, sei es ein Abzug oder Ähnli-
Zum zweiten Punkt kann ich nur sagen: Da haben Sie ches, gegenüber der Zeit, in der die internationale
sicher recht. Es wäre gut für die politische Kultur in die- Gemeinschaft dort tätig wurde, verschlechtern.
sem Land und in diesem Haus, wenn Sie, Herr Jung, hier
heute einmal direkt Stellung nehmen würden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) Zweitens müssen wir unbedingt gemeinsam dafür
sorgen, dass ein nationaler Versöhnungsprozess entsteht;
Zu Ihrer ersten Frage muss ich sagen: Es ist ganz ent- denn nur dieser kann die Voraussetzung für alle weiteren
scheidend, dass man den Zusammenhang im politischen Schritte sein.
(B) Handeln versteht, dass eben ziviler Aufbau in dieser (D)
kriegsähnlichen Situation in Afghanistan auch militäri- Drittens darf der militärische Abzug nicht unverzüg-
schen Schutz braucht. Wenn man eine Abzugsperspek- lich erfolgen, lieber Kollege Paul Schäfer; denn dies
tive eröffnen will, muss man diesen Zusammenhang be- würde zu einem neuen Bürgerkrieg in Afghanistan füh-
rücksichtigen und schrittweise vorgehen. Deswegen ist ren. Das wissen auch Sie. Ich halte das für unverantwort-
die Forderung nach einem Sofortabzug falsch und kein lich.
Ausdruck von guter Solidarität.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Aber wir müssen gemeinsam dafür sorgen, auch im
Respekt vor dem afghanischen Volk, dass der Primat der
Präsident Dr. Norbert Lammert: Politik zum Zuge kommt, dass die Politik wieder die
Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Hoff für die Möglichkeit erhält, die Rahmenbedingungen zu bestim-
FDP-Fraktion. men. Der militärische Einsatz ist notwendig, kann aber
(Beifall bei der FDP – Jürgen Trittin [BÜND- nur Teil einer Gesamtstrategie sein. Ich glaube, dass
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, jetzt auch die Reaktion unseres Entwicklungsministers, Dirk
spricht der Jung!) Niebel, gezeigt hat, dass er bereit ist, durch die Zurverfü-
gungstellung erhöhter finanzieller Mittel diesen Prozess
aktiv zu begleiten.
Elke Hoff (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! (Beifall bei der FDP)
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her- Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr auf die
ren! Ich möchte vorneweg dem Bundesverteidigungs- Debatte nach der Afghanistan-Konferenz, weil wir dann
minister dafür danken, dass er vor dem Hintergrund der alle gemeinsam die Möglichkeit haben, eine Neujustie-
ihm vorliegenden Informationen unverzüglich die Kon- rung der Afghanistan-Politik vorzunehmen. Wir werden
sequenzen gezogen hat. Ich respektiere ausdrücklich als Fraktion mehrheitlich dem Einsatz und der Verlänge-
seine Bereitschaft, im Lichte der ihm zugehenden Infor- rung des Mandates ISAF zustimmen.
mationen eine Neubewertung seiner Aussagen im Deut-
schen Bundestag und in der Öffentlichkeit vorzunehmen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich denke auch, dass es der Respekt gebietet, abzu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
warten, bis die Informationen wirklich vorliegen, um der CDU/CSU)
396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: wurde zwar versucht, aber leider ist es wieder nicht ge- (C)
Dr. Gernot Erler ist der nächste Redner für die SPD- lungen. – Wir brauchen eine konkretisierte Verbindlich-
Fraktion. keit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Sie muss für den nächsten Compact ausgehandelt wer-
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): den, das heißt bis zu der internationalen Afghanistan-
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Konferenz Ende Januar.
Die Bundesregierung hat am 18. November beschlossen,
die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Wir brauchen diese Verbindlichkeit aber auch auf der
Internationalen Sicherheits- und Unterstützungstruppe in anderen Seite, also auf unserer Seite. So lesen wir zum
Afghanistan, ISAF, fortzusetzen, und bittet den Deut- Beispiel im Antrag der Bundesregierung:
schen Bundestag um Zustimmung dazu. Die SPD-Bun-
destagsfraktion wird diese Zustimmung nicht verwei- Dabei steht im Zentrum des zivilen Engagements
gern. der Bundesregierung die Aus- und Fortbildung der
afghanischen Polizei. Die Bundesregierung … be-
Wir beschließen dies allerdings zu einem Zeitpunkt, absichtigt, die bilaterale deutsche Polizeimission zu
zu dem die Entwicklung in Afghanistan Anlass zu gro- diesem Zweck personell erheblich aufzustocken …
ßer Sorge gibt, zu dem wichtige Entscheidungen über
das künftige Vorgehen der Vereinigten Staaten, der Irgendeine konkrete Zahlenangabe dazu suchen wir al-
NATO und der Weltgemeinschaft in Afghanistan noch lerdings vergeblich. Das ist genauso unverbindlich wie
nicht getroffen sind und zu dem wir sicher sein können, die präsidialen Ankündigungen in Kabul. In jeder Af-
dass wir nicht etwa erst in einem Jahr, wenn die nächste ghanistan-Diskussion wird die Bedeutung der Selbstver-
Verlängerung ansteht, erneut über Afghanistan im Deut- teidigungsfähigkeit Afghanistans beschworen. Dazu
schen Bundestag beraten werden, sondern wesentlich gehört natürlich die Polizeiausbildung. Auch Sie, Herr
früher. Insofern enthält unsere Entscheidung etwas Vor- Westerwelle und Herr zu Guttenberg, haben das eben
läufiges. Wir sind auf einem Weg, den wir ganz offenbar vorgetragen.
nicht verlassen können; aber er verliert sich vor uns
schon nach wenigen Kurven in einem schwer einsehba- Man muss schon tief in das neue Papier der Bundesre-
ren Gelände. Wir spüren eine drückende Verantwortung gierung mit dem Titel „Afghanistan. Auf dem Weg zur
bei der Aufgabe, ein Scheitern in Afghanistan zu verhin- ,Übergabe in Verantwortung‘“ einsteigen, um überhaupt
einmal auf eine Angabe zu den Dimensionen zu stoßen.
(B) dern, bei der Herausforderung, sich jetzt auf das Wesent- Auf Seite 15 steht dazu: (D)
liche zu konzentrieren, und aufgrund des Bewusstseins,
alle zivilen und bewaffneten Kräfte – es handelt sich
Die Bundesregierung strebt an …, den Personalein-
schließlich um Menschen, die wir nach Afghanistan
satz im bilateralen deutschen Polizeiprojekt bis
schicken – erheblichen Gefahren aussetzen zu müssen.
Mitte 2010 auf rund 200 Polizisten aufzustocken,
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen mehr was etwa eine Verdreifachung der Anzahl von Mitte
Verbindlichkeit. Das betrifft zunächst Präsident Karzai. 2009 bedeutet …
Der Wahlprozess hat das Vertrauen in ihn nicht bestärkt.
In seiner Antrittsrede vor einer Woche hat er eine Reihe Mit anderen Worten: Im Jahre acht des deutschen Afgha-
begrüßenswerter Ankündigungen gemacht. Es soll einen nistan-Einsatzes haben wir für die Erledigung der Auf-
nationalen Versöhnungsprozess geben und dazu die tra- gabe, die wir für am wichtigsten halten und bei der wir
ditionelle Große Ratsversammlung, die Loya Jirga, ein- uns besonders engagieren, im bilateralen Bereich ganze
berufen werden. Afghanische Sicherheitskräfte sollen 70 Ausbilder vor Ort. Es werden zwar bis zu 4 500 Sol-
Distrikt für Distrikt, Provinz für Provinz die Sicherheits- daten eingesetzt, aber bei der Aufgabe, die afghanischen
verantwortung selbst übernehmen. Dieser Prozess soll in Sicherheitskräfte auszubilden, kommen bisher nur
fünf Jahren abgeschlossen sein. Ferner hat der Präsident 70 Leute zum Einsatz.
gute Regierungsführung angekündigt. Darunter fallen
In den letzten Tagen sind hier mit einem Federstrich
Transparenz bei den Einkünften von Leuten mit öffentli-
die Zielgrößen erhöht worden, ja mehr als verdoppelt
chen Ämtern und ein Ende der Kultur der Straflosigkeit,
worden. Plötzlich reden wir nicht mehr von 92 000 af-
einer Schwester der Korruption, die ebenso bekämpft
ghanischen Soldaten und 84 000 afghanischen Polizis-
werden soll wie illegaler Drogenanbau und -handel.
ten, die für die Eigensicherung notwendig sind, sondern
Da haben die Zuhörer geklatscht, und die internatio- von 240 000 Soldaten und 160 000 Polizisten. Aber wer
nale Gemeinschaft hat zustimmend genickt. Aber wir soll diese denn in welchem Zeitraum eigentlich ausbil-
haben diese Botschaften in ähnlicher Form schon öfter den? Die 70 deutschen Ausbilder oder die – wenn es
gehört. Es sind zwar gute Botschaften, aber sie bleiben überhaupt jemals so viele werden – 400 Ausbilder der
zu allgemein und zu unverbindlich. Was wir brauchen, EU? Es ist höchste Zeit, dass wir uns ehrlich machen,
sind überprüfbare Zwischenschritte. Wie sollen sie aus- um an dieser Stelle ehrlich zu bleiben. Das, Herr zu
sehen? Welche Fristen gibt es für die Umsetzung dieser Guttenberg, ist eigentlich der Zweck einer ressortüber-
Zwischenschritte? Es darf nicht mehr sein, dass wir nach greifenden Handlungsfähigkeit. Das müsste tatsächlich
einem, zwei oder gar fünf Jahren feststellen müssen: Es geklärt werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 397

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für
Kollegen Stinner? die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):
[SPD]: Aber nicht den Unsinn von heute Mor-
Nein, das möchte ich jetzt nicht. gen wiederholen! – Gegenruf des Abg. Volker
ISAF zu verlängern, ist unumgänglich. Aber ebenso Kauder [CDU/CSU]: Was ist denn das für ein
unumgänglich ist es, die nächsten Wochen zu nutzen, um Schreihals?)
bis zu der Afghanistan-Konferenz tatsächlich konkrete
eigene Leistungen mit konkreten Zeitangaben für ihre Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Umsetzung zu definieren. Diese Leistungen sind not-
wendig, um wenigstens das wichtigste Ziel in Afghanis- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
tan zu erreichen. Nur dann haben wir die Chance, diese Kollegen! Ich habe nicht gehört, wer gerade einen Zuruf
Verbindlichkeit auch von der afghanischen Seite zu ver- gemacht hat. Es scheint ein Kollege der SPD gewesen zu
langen. Das erwarten wir von der Bundesregierung. Sei- sein.
tens der Opposition sind wir bereit, unseren Beitrag zu (Ulrich Kelber [SPD]: Ich war es!)
leisten.
– Der Kollege Kelber bekennt sich freiwillig dazu, dass
Vielen Dank. er es war.
(Beifall bei der SPD)
Herr Erler, die Dinge, die Sie zuletzt angesprochen
haben – Kollege Stinner hat dankenswerterweise darauf
Präsident Dr. Norbert Lammert: hingewiesen –, waren Ihnen bislang nicht neu. Auch die
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Stinner Entwicklung des Ganzen ist Ihnen nicht neu. Als Staats-
das Wort. minister waren Sie an verantwortungsvoller Stelle maß-
geblich daran beteiligt und haben in den letzten Jahren
Dr. Rainer Stinner (FDP): vieles erreicht.
Sehr geehrter Herr Kollege Erler, halten nicht auch
Sie es für außerordentlich peinlich, dass gerade Sie, der (Ulrich Kelber [SPD]: Aber nicht im Innenmi-
Sie bis vor vier Wochen vier Jahre lang die Verantwor- nisterium! Das wissen Sie doch!)
tung hatten, für den Polizeiaufbau zu sorgen, die neue Ich bin schon der Meinung, dass das, was Sie gesagt ha-
(B) Bundesregierung kritisieren, die einen neuen Ansatz ben, der Sie ja auch noch von Offenheit und Ehrlichkeit (D)
wählt und erstmals eine ausführliche Mandatsbegrün- geredet haben, nicht ganz zutreffend war. Ich möchte an
dung vornimmt, deren Entwicklungshilfeminister erst- dieser Stelle, wie es auch der Kollege Stinner getan hat,
mals einen gemeinsamen Ansatz schafft und in den ers- darauf hinweisen, dass der amtierende Außenminister,
ten Amtstagen dafür gesorgt hat, dass mehr Mittel Herr Westerwelle, die Dinge richtig dargestellt hat und
bereitgestellt werden? Herr Kollege Erler, das halte ich unsere volle Unterstützung hat.
für außerordentlich peinlich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich finde es richtig, dass das Parlament an einem so
wichtigen Tag wie heute, an dem wir über mehrere Man-
date zu entscheiden haben, breit und mit starker Beteili-
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): gung über diese Mandatsverlängerungen diskutiert. Ich
Herr Kollege Stinner, ich glaube nicht, dass ich Sie hätte mir gewünscht, dass im Laufe dieser Debatte mehr
darüber aufklären muss, wie die Aufgabenverteilung in über Afghanistan selbst diskutiert worden wäre. Ich sehe
der vergangenen Bundesregierung ausgesehen hat. Ich in den Angriffen, die seitens der Opposition gegenüber
könnte nachweisen, dass uns das Thema der Polizeiaus- Minister Jung gestartet worden sind, den plumpen Ver-
bildung immer wieder beschäftigt hat. Es ist nicht zu er- such, sich nicht mit der Realität in Afghanistan aus-
kennen, dass das Konzept an dieser Stelle verändert einanderzusetzen, sondern eine politische Show aufzu-
wurde. Von einem Tag auf den anderen wird die Zahl führen, die der Wichtigkeit des Themas nicht entspricht.
derjenigen, die in Afghanistan ausgebildet werden sol- Ich glaube, dass dieser Punkt deutlich herausgearbeitet
len, verdoppelt. Es sollen jetzt 162 000 Polizisten ausge- werden muss.
bildet werden. Dies bildet sich aber nicht in dem Kon-
zept ab, das die Bundesregierung vorschlägt. Es wird (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele
vielmehr gesagt: Wir werden die Polizeimission von 60 [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
bzw. 70 vielleicht auf 200 Personen aufstocken. Es ist
doch wohl berechtigt, dass wir, wenn wir schon von Ehr- – Gerade Sie, Herr Ströbele, der Sie permanent Zurufe
lichkeit und Offenheit sprechen, im Bundestag beraten, machen, sollten zuhören, wenn es um die Sache geht.
ob das die richtige Größenordnung ist, ob diese Zahl
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ausreicht oder nicht. Ich habe mir das Recht genommen,
neten der FDP – Claudia Roth [Augsburg]
dies anzusprechen.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen
(Beifall bei der SPD) Sie gerade sagen!)
398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Philipp Mißfelder
(A) Frau Kollegin Beck beispielsweise hat vorhin im Rah- die dies im Übrigen auch als Worst-Case-Szenario se- (C)
men ihrer Zwischenfrage die Wichtigkeit des Themas hen. Deshalb haben sie ein großes Interesse an einer Sta-
Afghanistan deutlich gemacht und darauf hingewiesen, bilisierung Afghanistans, die sie mit uns gemeinsam vor-
welche Bedeutung die Lage in Afghanistan für die Situa- anbringen wollen.
tion in Pakistan und für die gesamte Region hat. Herr
Ich danke allen Fraktionen im Haus, dass – es brö-
Ströbele, als Frau Beck diesen wichtigen Beitrag geleis-
ckelt ja in manchen Fraktionen – insgesamt, gerade im
tet hat, waren Sie noch nicht einmal hier im Raum. Im-
Auswärtigen Ausschuss, diese Diskussion mit großer
mer, wenn Sie hier sind, schreien Sie die ganze Zeit da-
Ernsthaftigkeit geführt wird. Ich möchte auch daran er-
zwischen. Deshalb möchte ich Ihre Zwischenfrage jetzt
innern, dass die rot-grüne Regierung 2001 unter der Füh-
auch nicht zulassen, sondern mich dem Thema widmen.
rung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer diesen
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Einsatz, damals noch unter dem Motto der uneinge-
GRÜNEN]: Kommen Sie zur Sache!) schränkten Solidarität, begonnen hat. Deshalb weiß ich
es, gerade auch durch die Zusammenarbeit mit Ihnen,
Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Erler, besonders zu schätzen, dass das Thema
Es gibt einen weiteren Wunsch zu einer Zwischen- Afghanistan eben nicht zu einem populistischen Ja-nein-
frage des Kollegen Ströbele. Thema gemacht wird. Vielmehr müssen wir darüber dis-
kutieren, was tatsächlich der beste Weg für Afghanistan
ist. Das möchte ich anbieten. Deshalb glaube ich auch,
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
dass Ihre Anmerkung wichtig war.
Nein, das lasse ich jetzt nicht zu.
Wir dürfen es, was die Auseinandersetzung mit die-
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: sem Thema angeht, nicht nur bei dieser heutigen Debatte
Oh! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜND- belassen, sondern wir müssen auch dann, wenn die
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das macht Afghanistan-Konferenzen stattgefunden haben, im Deut-
Philipp nicht!) schen Bundestag weiterhin die Möglichkeit haben, zeit-
Das zu Ende gehende Jahr 2009 war kein gutes Jahr nah über den Fortgang zu diskutieren und nicht erst in
für Afghanistan. Der jüngste Wahlprozess hat die Defi- zwölf Monaten. Das kann ich für meine Arbeitsgruppe
zite, die schon in den vergangenen Jahren offensichtlich und auch für mich persönlich anmelden. Selbstverständ-
waren, deutlich herausgestellt und der Weltöffentlichkeit lich wollen wir auch in diesen Prozess eingebunden sein.
sehr plastisch vor Augen geführt. Ich denke, das ist ein gemeinsames Interesse.
Ich will zunächst drei Punkte ansprechen, die wir Die NATO und die Weltgemeinschaft haben eine
(B) deutlich im Blick unserer Argumentation haben müssen: große Verantwortung für Afghanistan. Wenn wir über (D)
Das sind die sich deutlich verschlechternde Sicherheits- die Kriterien des Erfolgs sprechen, wenn wir Erfolgs-
lage, die grassierende Korruption und die schlechte Re- maßstäbe beschwören und sie darstellen, dürfen wir da-
gierungsführung in der Administration von Karzai. bei nicht vergessen, dass auch die Öffentlichkeit in
Diese Defizite sind für die weitere soziale und wirt- Afghanistan ganz genau darauf achtet, ob wir es mit der
schaftliche Entwicklung des Landes eine große Hypo- Durchsetzung dieser Erfolgskriterien ernst meinen. Die
thek. Gerade deshalb muss die Verantwortung der inter- Erwartungshaltung – die afghanische Delegation ist an-
nationalen Gemeinschaft besonders herausgestellt gesprochen worden, sie hat sich auch mit Vertretern un-
werden. serer Fraktion getroffen – sowohl von Politikern als auch
von Bürgern in Afghanistan ist riesengroß. Gerade
Nach der erneuten Amtseinführung von Karzai und Deutschland als drittgrößter Truppensteller trägt dort
auch nach seiner Rede in der vergangenen Woche sehe eine große Verantwortung, der wir gerecht werden müs-
ich die Chance und habe wie alle die Hoffnung, dass die- sen.
ser Negativtrend durchbrochen werden kann. Die
Chance muss genutzt werden. Dies ist angesichts der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Dauer des Einsatzes mittlerweile sehr schwierig, weil der FDP)
wir schon oft Hoffnung geschöpft haben und diese Hoff-
Eine Anmerkung in Richtung der Linken: Ich glaube,
nung sich dann nicht erfüllt hat. Es ist trotzdem kein
dies ist nicht nur eine Frage der Bündnistreue unseres
Grund, aufzugeben. Es ist trotzdem kein Grund, die
Landes, sondern auch eine Frage der Glaubwürdigkeit
Menschen in Afghanistan alleine zu lassen und sich der
und Verlässlichkeit unseres Landes insgesamt. Vor allem
eigenen Verantwortung zu entziehen.
ist zu fragen, ob wir der wirtschaftlichen und politischen
Die Konsequenz aus einem Rückzug wäre, dass Bedeutung unseres Landes, die wir an anderer Stelle im-
Afghanistan in ein heilloses Chaos stürzt, dass Afghanis- mer gerne für uns reklamieren, gerecht werden, wenn
tan zu einem Rückzugsraum für Terroristen und – wie es wir diesen Einsatz auch nur ansatzweise infrage stellen.
das schon einmal war – wieder zu einer Operationsbasis Deshalb sage ich: Wir müssen dieses Thema im Einver-
für den weltweiten Terrorismus wird. Frau Beck, ich nehmen mit unseren Partnern in der internationalen Ge-
habe es bereits angesprochen: Die Auswirkung auf die meinschaft angehen und unserer Verantwortung gerecht
gesamte Region ist nicht zu unterschätzen: Wenn ein is- werden; denn man kann nicht an der einen Stelle mehr
lamistisches Talibanregime die Macht ergreifen würde, Bedeutung für Deutschland reklamieren und sagen, dass
würde dies nicht ohne Folgen bleiben für Pakistan, für man bei vielen Themen führend sein will, sich an ande-
die zentralasiatischen Staaten, für Russland und China, rer Stelle aber vor der Verantwortung drücken. Wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 399
Philipp Mißfelder
(A) müssen zu unserer Verantwortung stehen. Das ist eine gegen das Geschwür der Korruption in Afghanistan en- (C)
Frage der Glaubwürdigkeit und der Verlässlichkeit gagiert vorgegangen wird.
Deutschlands.
Der dritte Punkt bezieht sich auf die weitere Ent-
Ich bin der Meinung, dass wir den Antrag der Bun- wicklung. Natürlich ist klar, dass Deutschland neben
desregierung unterstützen, die Ziele, über die diskutiert den Vereinigten Staaten von Amerika, die sich in der
wird, stärker herausarbeiten und das polizeiliche und das Entwicklungshilfe ebenfalls sehr stark engagieren, ge-
militärische Engagement Deutschlands in Afghanistan fragt ist. Deshalb wollen wir unser Engagement auf die-
fortsetzen sollten. Außerdem glaube ich sehr wohl, dass sem Gebiet fortsetzen.
wir auf günstigere Umstände in der Zukunft hoffen kön-
nen. Aber es muss klar sein, dass dies kein einfacher Unsere Fraktion begrüßt es, dass die Bundesregierung
Prozess ist, für den es eine einfache Lösung gibt. Man die Afghanistan-Konferenzen im kommenden Jahr ange-
unterliegt einem Irrglauben, wenn man annimmt – ich stoßen hat und engagiert begleiten will. Auch das ist für
glaube, der Kollege Frithjof Schmidt von den Grünen uns klar: Es wird keinen Schnellschuss bezüglich der
hat das gesagt –, dass den Menschen dadurch geholfen Afghanistan-Strategie geben. Ohne ein Gesamtkon-
werden könnte, dass man das Militär abzieht und gleich- zept können und wollen wir bei diesen Konferenzen
zeitig mehr Entwicklungshelfer ins Land schickt. Tat- keine seriöse Entscheidung zur Zukunft unseres Engage-
sächlich ist es doch so, dass die Entwicklungshelfer mas- ments treffen. Natürlich ist klar, dass sich unser Engage-
siv auf Schutz und Unterstützung angewiesen sind. Dort, ment an erfüllbaren Erfolgskriterien orientieren muss,
wo eine Befriedung erreicht werden konnte, ist Engage- die bei der Bevölkerung in Deutschland auf Rückhalt
ment notwendig. Aber gerade dort, wo die militärische stoßen und im Deutschen Bundestag nach Möglichkeit
Auseinandersetzung besonders intensiv ist, kann man als mit Unterstützung aller Fraktionen – wenn sich die
Antwort doch nicht mehr Entwicklungshelfer anbieten. Linke herausnimmt, wird das nicht zu erreichen sein –
Gerade diejenigen, die vor Ort verantwortungsbewusst durchgesetzt werden können.
einen großen Dienst für die internationale Gemeinschaft Ich begrüße ausdrücklich, dass Karl-Theodor zu
und für die Menschen in Afghanistan leisten, müssen ge- Guttenberg bei seinem Antrittsbesuch in Kabul deutliche
schützt werden. Deshalb ist der Einsatz der Bundeswehr Worte gegenüber Präsident Karzai gefunden hat und
auch und gerade für die Entwicklungshelfer sehr wich- deutlich gesagt hat, was unsere Erwartungshaltung ist.
tig. Dies muss auch unsere Strategie für die Afghanistan-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Konferenzen sein. Wir müssen deutlich machen, was wir
neten der FDP) von unseren afghanischen Partnern erwarten. Wir haben
diese Erwartungen zu Recht; denn die Bundesrepublik
(B) Die Bundeskanzlerin hat kürzlich in ihrer Regie- leistet einen nicht unerheblichen Beitrag, der für viele (D)
rungserklärung gesagt, dass die Ziele des deutschen En- Angehörige von Bundeswehrsoldaten und Entwick-
gagements in Afghanistan nach wie vor die Schaffung lungshelfern eine große Belastung ist. Deshalb ist es
selbsttragender Sicherheit und der Aufbau funktionsfähi- richtig, dass unsere Interessen ernsthaft formuliert und
ger staatlicher Strukturen sind. Wie weit wir davon noch gegenüber der afghanischen Regierung durchgesetzt
entfernt sind, haben uns die letzten Wochen sehr deutlich werden.
vor Augen geführt. Deshalb glaube ich, dass wir die af-
ghanische Regierung sehr stark dabei unterstützen müs- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
sen, die folgenden drei Ziele zu erreichen: Zunächst ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mal geht es um die Stabilisierung und die Sicherheit,
dann darum, gutes Regieren durchzusetzen, und darum,
Präsident Dr. Norbert Lammert:
die weitere Entwicklung zu unterstützen.
Der Kollege Ströbele hat um eine Kurzintervention
Die Verbesserung der Sicherheitslage ist die Voraus- gebeten. – Bitte schön, Herr Kollege.
setzung für die Erreichbarkeit der beiden weiteren Ziele.
Deshalb ist – das ist in der Debatte schon angesprochen Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
worden – der weitere Aufbau von Polizei und Armee in GRÜNEN):
afghanischer Eigenverantwortung dringend notwendig.
Herr Kollege Mißfelder, Sie haben mich angespro-
Wir müssen über unseren Beitrag hierfür diskutieren.
chen, weil wir hier über die Videoaufnahmen und die
An zweiter Stelle steht die gute Regierungsführung. Meldungen, die heute durch die Presse gehen, reden.
Es gibt in Afghanistan viele Absichtserklärungen und Wenn wir über diese neuen Fotos, Zeichnungen und die
konkrete Vorschläge wie die Pflicht für einzelne Minis- Originalzitate der Ärzte aus den Krankenhäusern in
ter, ihre Einkunftsquellen offenzulegen. Es ist wichtig, Afghanistan reden, dann reden wir nicht nur über die
dass wir bei allen Gesprächen, bei allen anstehenden Unwahrheiten, die seitens der Bundeswehr und des Mi-
Konferenzen, bei jeder Gelegenheit darauf drängen, dass nisteriums und dieses Herrn, der immer noch auf der Re-
die Grundstrukturen, die für eine gute Regierungsfüh- gierungsbank sitzt und nichts anderes tut als lächeln oder
rung notwendig sind, auch durchgesetzt werden. Obwohl lachen, verbreitet worden sind, sondern auch über 142 in
Karzai in seiner letzten Rede wieder deutlich herausge- Afghanistan getötete Menschen. Das heißt, wir reden
stellt hat, dass er das nun machen will, ist es wichtig, über Afghanistan, über die Kinder und Jugendlichen, die
dass die internationale Gemeinschaft und insbesondere dort auf Befehl eines deutschen Obersts im Bombenha-
Deutschland den Druck weiterhin aufrechterhält, damit gel umgekommen sind. Wir reden darüber, dass diese
400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Hans-Christian Ströbele
(A) Offensivstrategie dazu beiträgt, dass der Krieg in Afgha- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
nistan immer schlimmer und skrupelloser wird, dass da- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben
mit der Terrorismus nicht bekämpft, sondern gefördert Sie mir ein paar Vorbemerkungen zu dem Gesagten.
wird. Jede solche Bombardierung mit zivilen Opfern, die
hier im Deutschen Bundestag, auch vom neuen Verteidi- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bitte!)
gungsminister, gerechtfertigt wird, brutalisiert und ver- Kollege Mißfelder, es geht nicht um einen einzigen
längert den Widerstand und den Krieg in Afghanistan, Artikel. Es geht darum, dass aufgrund dessen, was in
lässt ihn eskalieren. Darüber reden wir. Nehmen Sie das diesem Artikel steht, heute der oberste Soldat der Repu-
doch einmal zur Kenntnis und stellen Sie sich nicht hin- blik entlassen worden ist.
ter diesen ewig nur lachenden oder lächelnden Minister,
der die Regierungsbank besser heute als morgen verlas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sen sollte! Sie machen den gleichen Fehler wie der Außenminister.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auch er hat in seiner Rede ein bisschen banal über die-
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sen Zwischenfall gesprochen, was im Übrigen massiv
der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Un- dem Ansatz des Verteidigungsministers widerspricht,
verschämt!) der ja angekündigt hat, es gebe jetzt eine herausragende
Kooperation zwischen den Ressorts. Das scheint noch
nicht der Fall zu sein.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Kollege Ströbele, ich nehme das, was Sie gesagt
haben, natürlich zur Kenntnis. Ich finde, dass jedes Men- Zweite Vorbemerkung. Herr Minister, Sie haben sich
schenleben, das – egal auf welcher Seite – in dieser Aus- in der Vergangenheit geweigert, einen eigenständigen
einandersetzung verloren geht, eines zu viel ist. Ich Bericht über diesen Zwischenfall vorzulegen, über den
glaube, dass dies bei jeder Debatte hier deutlich gewor- wir hier im Plenum diskutieren könnten. Dies taten Sie
den ist. Angesichts der Diskussionen im Wahlkreis, aber mit der Argumentation, es gebe nur diesen einen Bericht
auch im privaten Umfeld spürt jeder einzelne Abgeord- von COM ISAF und der sei geheim. Vorhin haben Sie
nete die Last, die auf ihm liegt, wenn es hier darum geht, gesagt, es gebe deutlich mehr Berichte. Deshalb müssen
Einsätze zu verlängern. Ich sehe gerade auch an den Ge- Sie Ihre Bewertung hinterfragen. Legen Sie hier bitte ei-
sichtern der Kollegen in Ihrer Fraktion, dass sie es sich nen Bericht vor. Jetzt gibt es ja die Möglichkeit; Sie ha-
in dieser Debatte nicht leicht machen; das war auch in ben selber gesagt, dass es mehr Quellen gibt. Wir brau-
der Vergangenheit der Fall. chen einen Bericht, damit wir hier endlich darüber
(B) diskutieren können. (D)
Herr Ströbele, ich verstehe, dass Sie jede Gelegenheit
nutzen – sei es durch Zwischenrufe, sei es durch Inter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
ventionen –, um Ihre persönliche Haltung deutlich zu Volker Kauder [CDU/CSU]: Benutzen Sie ein-
machen. Aber diskutieren Sie das auch in Ihrer eigenen mal Ihre Ohren!)
Fraktion! Wir diskutieren heute über die Verlängerung des
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ISAF-Mandates. Dabei geht es nicht um Planspiele, son-
GRÜNEN]: Das tue ich! – Claudia Roth dern darum, dass wir Frauen und Männer in Einsätze
[Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schicken, in denen es auch um ihr Leben geht. Deshalb
Das tun wir!) möchte ich die Gelegenheit nutzen, auch seitens meiner
Fraktion den Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Auf-
In den vergangenen Jahren wurden die Einsätze in bauhelferinnen und -helfern und natürlich erst recht ih-
Afghanistan mit einer breiten Mehrheit beschlossen. Sie ren Familien für den Einsatz, den sie erbringen, von gan-
können nicht wegen eines Artikels in der heutigen Aus- zem Herzen zu danken.
gabe der Bild-Zeitung so tun, als trage nur eine Person in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der Bundesregierung die Verantwortung, die heute gar
sowie bei Abgeordneten der SPD)
nicht mehr für das Ressort zuständig ist. Tatsächlich tra-
gen wir eine Gesamtverantwortung. Dies zu erwähnen, Dieser Einsatz erfordert eine Gegenleistung von der
gehört zur Redlichkeit dazu. Politik. Diese Gegenleistung kann nur sein, dass wir
Verantwortung übernehmen, dass wir schauen, wel-
Herr Ströbele, Sie greifen den Fall, der in dem Artikel chen Auftrag wir erteilen. Der Auftrag muss klar sein, er
geschildert ist, heraus, um Ihre persönliche Fundamen- muss durchdacht sein, und er muss Aussicht auf Erfolg
talkritik am Einsatz zu begründen. Dies lasse ich Ihnen und Wirksamkeit haben. Das sind drei Anforderungen,
einfach nicht durchgehen. Ich bin der Meinung, dass wir denen das Konzept der Bundesregierung mit dem schö-
uns mit der Sache auseinandersetzen müssen. nen Titel „Übergabe in Verantwortung“ leider nicht ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) recht wird.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Präsident Dr. Norbert Lammert: DIE GRÜNEN)
Das Wort erhält nun der Kollege Nouripour für die Dieses Konzept bleibt sehr viele Antworten schuldig.
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Damit meine ich nicht nur Antworten auf Zwischenfra-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 401
Omid Nouripour
(A) gen, die an den Bundesaußenminister gestellt werden. schulden: der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, den (C)
Ich meine fundamentale Fragen, die wir hier stellen Soldatinnen und Soldaten, den Polizeiausbildern und zi-
müssen. vilen Helfern, vor allem aber den Menschen in Afgha-
nistan.
Ich zitiere: Mein Eindruck ist, wir werden „von der
Regierung im Unklaren gelassen“ und nur „in einer Sala- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
mitaktik“ über die Strategie informiert. Das Zitat stammt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
vom Abgeordneten Karl-Theodor zu Guttenberg,
sowie bei Abgeordneten der SPD)
30. Juni 2008, Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ich kann
nur sagen: Er hatte damals recht. Die Situation hat sich
bisher aber nicht verändert. Die Konsequenz, die der da- Präsident Dr. Norbert Lammert:
malige Abgeordnete gezogen hat, war: Wir brauchen Holger Haibach ist der nächste Redner für die CDU/
eine Kommission zur Bewertung des Einsatzes in CSU-Fraktion.
Afghanistan, nicht nur um darzustellen, was schlecht
läuft, sondern auch um darzustellen, was gut läuft. Ich Holger Haibach (CDU/CSU):
bin der festen Überzeugung, dass die Notwendigkeit ei- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ner solchen Kommission gerade mit der Ernennung des ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine gute Ana-
neuen Verteidigungsministers endlich Reife erreicht hat. lyse beginnt bekanntlich mit der Betrachtung der Reali-
Wir brauchen eine Bewertung. Wir brauchen eine Eva- tät. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder hier im Haus die
luation dessen, was in Afghanistan passiert. Das schul- Realität schon betrachtet und richtig erkannt hat.
den wir nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern
auch den Menschen in Afghanistan und der deutschen (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da
Öffentlichkeit. fällt mir als Erster Herr Jung ein!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Weil Sie ihn gerade ansprechen, würde ich gerne das
eine oder andere zu dem, was in dieser Debatte bisher
Es gibt aber noch mehr Fragen, die wir derzeit nicht geäußert worden ist, sagen.
klären können. Der Kostenansatz explodiert um nahezu
40 Prozent; es sind 230 Millionen Euro mehr. Ich habe (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
in den letzten Tagen sehr häufig versucht, Herr Minister, NEN]: Das hätten Sie doch Herrn Jung über-
aus Ihrem Haus eine schriftliche Begründung für diese lassen können!)
Kostenexplosion zu bekommen. Ich habe keine bekom- Wir haben einen großen Teil dieses Vormittags mit
men. Ich finde, das entspricht nicht Ihrem Ansatz von der Diskussion über einen Bericht verbracht, den noch
(B) Transparenz. Es ist sehr bedauernswert und nahezu ein keiner von uns gelesen hat. (D)
Skandal, dass wir im Hohen Hause über einen Ansatz
diskutieren, dessen Grundlage fehlt; wir wissen nicht, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber
warum die Kosten so steigen. die Bild-Zeitung offensichtlich schon! Ein bis-
schen komisch, dass die Bild-Zeitung den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kennt und wir nicht!)
Es gibt noch mehr Fragen. Der Entwicklungshilfe- Trotzdem sind wir der Meinung, wir könnten schon jetzt
minister hat vorgestern verkündet, 52 Millionen Euro unsere Schlüsse daraus ziehen. Ich glaube, dass dies die
mehr für den zivilen Aufbau zur Verfügung zu stellen. falsche Betrachtung der Realität ist.
Wenn man genau hinschaut, muss man feststellen, dass
dieses Geld von der Vorgängerregierung bereits verspro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
chen und beschlossen worden ist. Hier wird uns altes Ich finde, wir sollten uns die Dinge erst einmal in aller
Geld als frisches verkauft; auch das hat mit Transparenz Ruhe anschauen und dann unsere Schlüsse ziehen.
und Ehrlichkeit überhaupt nichts zu tun. Wer so stief-
mütterlich mit dem Ansatz für den zivilen Bereich um- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wenn
geht, legt den Grundstein für eine sichere Niederlagen- es sogar in der Bild-Zeitung steht, wird man
strategie. darüber doch wohl reden dürfen! – Jürgen
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wollen Franz Josef hören!)
Wir als Grüne stehen zu unserer Verantwortung ge- – Sie möchten vielleicht gerne darüber diskutieren. Das
genüber den Menschen in Afghanistan. Genau deswegen hat mit dem ursprünglichen Thema aber nur relativ we-
fordern wir eine Bewertung und einen längst überfälli- nig zu tun.
gen Strategiewechsel. Vor allem fordern wir einen klar
formulierten konkreten Zeitplan, der die Perspektive für Zweitens. Herr Schmidt und Herr Nouripour haben
einen Abzug aufzeigt, zumal die Kanadier und die Nie- die Kanadier dafür gelobt, dass sie eine Kommission
derländer das machen. Das ist nicht unbedingt als großer eingesetzt haben. Es ist richtig: Die Kanadier haben eine
Erfolg für die Taliban verkauft worden, Herr Minister. Kommission eingesetzt. Sie haben den Bericht dieser
Kommission auch entgegengenommen, aber etwas ande-
Wir müssen die Worte „Verantwortung“ und „Enga- res gemacht. Sie haben ihre Soldaten nämlich entgegen
gement“ – sie sind häufig gefallen – endlich mit Sinn der Empfehlung dieses Berichts länger in Afghanistan
füllen. Das müssen wir tun, weil wir es den Menschen gelassen. Insofern kann man die Kanadier hier nicht als
402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Holger Haibach
(A) gutes Beispiel anführen und sagen: Das kann man auch (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
in Deutschland so machen.
Deswegen meine Frage: Glauben Sie, dass der Weg zur
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Selbstbestimmung heute tatsächlich über Militär und die
NEN]: Aha! Sie machen jetzt keine Kommis- Vorenthaltung der Selbstbestimmung gehen kann?
sion und ziehen dafür die Soldaten früher ab –
oder was wollen Sie uns damit sagen?) Holger Haibach (CDU/CSU):
Eine Kommission bringt nur dann etwas, wenn man Ich glaube, in Kenntnis des Charakters des Kollegen
auch bereit ist, ihren Empfehlungen zu folgen. Deswe- Guttenberg kann ich den Begriff „kolonial“ sofort zu-
gen finde ich, dass man darüber noch einmal nachden- rückweisen.
ken muss. Die Kanadier setzen übrigens wieder eine
Kommission ein; zumindest ist das geplant. Insofern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
glaube ich, dass uns eine Strukturdebatte an dieser Stelle wie des Abg. Jörg van Essen [FDP])
nicht weiterhilft. Zu Ihrer Frage, Herr Gehrcke. Es ist völlig unbestreit-
Ein letzter Punkt. Kollege Gehrcke hat vorhin in sei- bar – das wird, wenn man seinen Worten Glauben
ner Zwischenfrage gesagt, es gehe um die Selbstbestim- schenkt, nicht einmal vom afghanischen Präsidenten be-
mung der Afghanen. stritten –, dass es in der afghanischen Regierung große
Defizite gibt, zum Beispiel beim Aufbau eines Rechts-
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!) staates und bei der Korruptionsbekämpfung. Nichts an-
Das ist völlig richtig, deres hat der Bundesverteidigungsminister gesagt. Er hat
zu Recht deutlich gemacht, dass es darum geht, den Prä-
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Oh!) sidenten hinsichtlich seiner Rede zur Amtseinführung
und das bestreitet hier auch keiner. Aber ausgerechnet beim Wort zu nehmen. Ich glaube, dass es nicht nur un-
Ihre Fraktion ist nicht bereit, den Afghanen die dafür er- ser Recht ist, sondern auch unsere Pflicht, das zu tun.
forderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie sagen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nämlich: kein Militär, keine Unterstützung und kein neten der FDP)
Schutz unserer Entwicklungshelfer in Afghanistan. Diese
Politik, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Noch einmal zurück zu der Frage, was wir für den
Linken, ist die falsche Politik. Wiederaufbau in Afghanistan tun. Ich habe die Äußerun-
gen in den letzten Wochen zu diesem Thema verfolgt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Aber ich finde, sie sind ein wenig einseitig. Deutschland
(B) Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Dann ist mit 1,2 Milliarden Euro der drittgrößte Geber. Es ist (D)
fragen Sie mal die Entwicklungshelfer, wie sie nicht so, als würden wir uns unserer Verantwortung an
das sehen!) dieser Stelle in irgendeiner Form entziehen. Es ist bei al-
Wir sollten einmal in der Rückschau betrachten, was len Problemen und bei allen Defiziten, die es definitiv
in Afghanistan bereits erreicht wurde. gibt, auch nicht so, als hätten wir nichts erreicht. Über
unsere Investitionsagentur sind 400 000 neue Arbeits-
plätze in Afghanistan geschaffen worden. Von unserer
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Mikrokreditfinanzierung profitieren 400 000 Haushalte,
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Handwerker, Händler und Dienstleister; sie haben eine
Kollegen Gehrcke?
Existenz. 500 000 Schüler können eine Grundschule be-
suchen. Das alles ist auch das Ergebnis deutscher Ent-
Holger Haibach (CDU/CSU): wicklungspolitik. Das muss an dieser Stelle einmal aner-
Aber gerne. kannt werden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Lieber Kollege, ich weiß, dass Sie ein gebildeter und Natürlich wird der Afghanistan-Einsatz in Deutsch-
kenntnisreicher Entwicklungspolitiker sind. Trotzdem land kritisch begleitet, und zwar zu Recht. Natürlich stel-
kann man zu falschen Schlüssen kommen. Meinen Sie, len sich Fragen. Ist unser Einsatz dort richtig? Ist dieser
dass der Weg zur Selbstbestimmung bedeutet, dass man Einsatz auch gut verzahnt? Über diese wichtige Frage ist
den Afghanen dieses Recht erst einmal vorenthält und schon intensiv diskutiert worden. Das Afghanistan-Man-
zensierende Anforderungen an sie stellt? Ich fand das dat der internationalen Gemeinschaft kann nur dann
Auftreten des Verteidigungsministers zu Guttenberg in erfolgreich sein, wenn wir die richtige Zielsetzung ha-
Afghanistan brüskierend für das Volk. Dem Präsidenten, ben, wenn wir zivile und militärische Komponenten mit-
den ich nicht sympathisch finde und dessen rechtliche einander verzahnen und wenn wir mit unseren Partnern
Grundlage sehr dünn ist, in der internationalen Gemeinschaft die richtige Verabre-
dung, was Arbeitsteilung und Burden-Sharing betrifft,
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
finden. Deshalb ist es richtig, keine Vorfestlegung zu
GRÜNEN]: Illegitim!)
machen, wie wir uns verhalten, wenn es eine Afghanis-
sind in einer Art und Weise Vorhaltungen gemacht wor- tan-Konferenz Ende Januar gegeben haben wird, son-
den, die man nur an den Tag legt, wenn man einen kolo- dern jetzt das Afghanistan-Mandat zu verlängern und im
nialen Ansatz verfolgt. Januar im Lichte der neuen Beschlüsse unsere Entschei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 403
Holger Haibach
(A) dungen zu treffen. Das müssen wir an dieser Stelle deut- entsprechender Sicherheitsstrukturen, einer Rechtsstaat- (C)
lich sagen. lichkeit stecken.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zweitens. Wir müssen die internationale Zusammen-
neten der FDP) arbeit und die Arbeitsteilung stärken. Ich denke, dass auf
der Konferenz in London Ende Januar nächsten Jahres
Dass zur Selbstbestimmung der Aufbau funktionie-
dafür gesorgt werden kann, dass dies geschieht.
render staatlicher Strukturen gehört, ist unbestritten. In
Meseberg hat das Kabinett unter anderem beschlossen, Drittens. Natürlich müssen wir auch dafür sorgen,
dass die Zahl der deutschen Polizisten, die zur Ausbil- dass die Mittel noch unmittelbarer bei der Bevölkerung
dung der afghanischen Polizei herangezogen werden sol- ankommen. Es gibt einen dicken Bericht darüber, wie
len, von 70 auf 200 erhöht werden soll. die internationale Gemeinschaft, wie das internationale
Engagement in Afghanistan gesehen wird. Es ist voll-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
kommen klar: Wenn die Bürgerinnen und Bürger, die
NEN]: Das ist zu wenig!)
Menschen in Afghanistan das Gefühl haben, dass die
Das ist notwendig. Natürlich wissen wir, dass wir noch Hilfe bei ihnen ankommt, dann steigt auch die Akzep-
einiges zu tun haben, wenn wir zu einem Aufbau staat- tanz und dann ist es möglich, mit dem Wiederaufbau
licher Strukturen kommen wollen. Zum Aufbau staatli- nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen zu errei-
cher Strukturen gibt es, wie wir wissen, keine Alterna- chen. Ich glaube, das muss unser entscheidendes Ziel
tive. Deswegen denke ich, dass wir unsere Rolle dabei sein.
spielen müssen.
Dazu gehört am Ende auch, dass wir uns im interna-
Wir brauchen an dieser Stelle aber auch den Dialog, tionalen Bereich über den regionalen Ansatz einig wer-
den Wiederaufbau, die sichtbare Friedensdividende, wie den. Pakistan ist von einer ganz entscheidenden Bedeu-
Herr Niebel es genannt hat. An dieser Stelle will ich tung für Afghanistan; denn wenn es dort zu einer
deutlich sagen: Ich bin froh, dass der neue Minister als instabilen Lage kommt, wird es sehr schwierig. Das be-
eine der ersten Maßnahmen verkündet hat, dass er durch trifft aber auch viele andere Staaten wie China, Indien,
Umschichtungen im Haushalt in diesem Jahr 52 Mil- den Iran und die zentralasiatischen Staaten. All das muss
lionen Euro zusätzlich bereitstellt, damit mehr Wieder- in unserer Entwicklungszusammenarbeit auch eine Rolle
aufbau, mehr Entwicklungszusammenarbeit geleistet wer- spielen.
den kann. Das ist ganz klar ein Zeichen dafür, dass wir
erkannt haben, was für Afghanistan notwendig ist. Fazit ist: Ich glaube, wir haben eine gute Strategie,
mit der wir weiter gut voranschreiten können. Wir müs-
(Beifall bei der CDU/CSU) sen unsere Entscheidungen im Lichte der Konferenz von (D)
(B)
London betrachten. Wenn wir das machen, dann, so
Wenn man sich die Kritik der Nichtregierungsorgani-
glaube ich, können wir trotz der schwierigen Lage in Af-
sationen anschaut – diese Woche fand die VENRO-Kon-
ghanistan am Ende auch Erfolg haben.
ferenz statt –, wird man zugestehen, dass man über vie-
les diskutieren kann. Wer die Presseberichterstattung Herzlichen Dank.
verfolgt, muss jedoch den Eindruck gewinnen, das alles
sei niemals erkannt worden und nichts davon sei Teil (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
deutscher Politik. Ich will ein Beispiel anführen. Wir
müssen uns intensiv Gedanken darüber machen, wie wir Präsident Dr. Norbert Lammert:
nicht nur in den Städten und in den Gegenden rund um Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
unsere PRTs Sicherheit schaffen und beim Wiederaufbau die Kollegin Karin Evers-Meyer für die SPD-Fraktion.
vorankommen, sondern auch in den ländlichen Räumen.
Da ist Deutschland durchaus Vorreiter. Nehmen wir das (Beifall bei der SPD)
Konzept der Provincial Development Funds. Da sitzen
Afghanen, zivile Entwicklungshelfer und Militärs an ei- Karin Evers-Meyer (SPD):
nem Tisch und entscheiden gleichberechtigt darüber, wie Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
beträchtliche Mengen an Geld zur Stärkung ländlicher Damen und Herren! Wir unterstützen den ISAF-Einsatz
Regionen verteilt werden. Das kommt in der Öffentlich- der Bundeswehr in Afghanistan. Dieser Einsatz ist rich-
keit kaum zur Sprache; man hört immer nur Kritik. Mit tig und notwendig; denn ein sicheres Afghanistan liegt
diesem Konzept hat Deutschland aber eine Vorreiterrolle im deutschen Interesse und im Interesse der Menschen
eingenommen; denn bisher gibt es kaum ein anderes dort.
Land, das in Afghanistan ebenfalls diese Politik verfolgt.
Für den Einsatz unserer Armee ist das Parlament ver-
Um es zusammenzufassen: Ich glaube, dass es not- antwortlich; ich betone das heute ganz besonders. Herr
wendig ist, insbesondere drei entwicklungspolitische Minister zu Guttenberg, deswegen haben Sie mit der Zu-
Ziele zu sehen. weisung der Verantwortung an Herrn Staatssekretär
Wichert und den Generalinspekteur Schneiderhan zwar
Erstens. Wir müssen die Kapazitäten auf der afghani- schnell, unserer Meinung nach aber längst nicht ausrei-
schen Seite ausbauen; dazu habe ich etwas gesagt. Das chend gehandelt. Es geht hier um politische Verantwor-
bedeutet, dass wir die größeren finanziellen Mittel, die tung.
uns jetzt zur Verfügung stehen, in den staatlichen Auf-
bau, in die Bildung und natürlich auch in den Aufbau (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Karin Evers-Meyer
(A) Sie, Herr Minister zu Guttenberg, haben die tragi- Die Zeit dafür ist doppelt günstig. Nach den Präsi- (C)
schen Ereignisse in dieser Nacht, den Bombenabwurf dentschaftswahlen gibt es jetzt Gelegenheit, Defizite
auf zwei Tanklaster und die Menschenmenge, noch bis beim Wiederaufbau offen anzusprechen. Hinzu kommt,
gestern als angemessen bezeichnet, und der frühere Ver- dass der aktuelle Afghanistan-Compact im nächsten Jahr
teidigungsminister Jung hat nach Presseberichten so- ausläuft. Das können wir nutzen, um auch unserem Enga-
wohl das Parlament als auch die Staatsanwaltschaft nicht gement in Afghanistan eine neue Perspektive zu geben.
korrekt informiert. In diesem Zusammenhang haben wir
Was die SPD-Fraktion will, ist ein verbindlicher Fahr-
heute mit besonderem Interesse verfolgt, wie er von der
plan, der gemeinsam mit der afghanischen Regierung
Regierungsbank daran gehindert wurde, an das Redner-
und unseren internationalen Partnern erarbeitet wird.
pult zu treten. Wenn das, was wir gerade gehört haben,
Am Ende des Fahrplans muss stehen, dass die Afghanen
wirklich richtig ist, dass er nämlich im Anschluss an die
alleine für die Sicherheit ihres Landes sorgen können.
Parlamentssitzung bei Phoenix zu diesem Thema Stel-
Das Ziel ist ambitioniert, aber wir sollten den Anspruch
lung nimmt, dann halten wir das für eine Respektlosig-
haben, dieses Ziel zu erreichen. In den vergangenen Jah-
keit ohnegleichen dem Parlament gegenüber.
ren gab es Fortschritte bei der Zusammenarbeit mit den
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem afghanischen Sicherheitskräften. An 90 Prozent aller
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ISAF-Einsätze sind mittlerweile afghanische Armeeein-
heiten beteiligt. Das ist ein Fortschritt. Ich weiß aber,
Herr Jung, ich fordere Sie hier in aller Ernsthaftigkeit dass zur Wahrheit auch gehört, dass nur knapp die Hälfte
auf, hier vor dem Parlament Stellung zu nehmen und der afghanischen Bataillone in der Lage ist, auch eigen-
nicht zuerst vor den Medien. ständige Operationen durchzuführen. Das macht deut-
lich: Wir bewegen etwas, aber wir können und müssen
Nun zurück zu unserem Thema. An der Begründung noch etwas mehr tun, insbesondere in Sachen militäri-
für den deutschen Afghanistan-Einsatz hat sich nichts scher und polizeilicher Ausbildung.
geändert. Ich muss sagen: Leider hat sich daran noch
nichts geändert, weil die Lage in Afghanistan eben nicht Deswegen fordern wir von der Bundesregierung
so stabil ist, wie wir uns das wünschen. Wir wollen einen heute verlässliche Aussagen darüber, mit welchen Zielen
Rückfall Afghanistans in die Zeiten des Bürgerkriegs sie in die Gespräche mit der afghanischen Regierung
und in die Zeiten der Talibanherrschaft verhindern. Des- geht. Wir fordern klare Konzepte und deutliche Forde-
wegen sind deutsche Soldaten in Afghanistan und leisten rungen in Richtung Afghanistan-Konferenz. Das ist die
dort anspruchsvolle Arbeit – eben auch unter Einsatz ih- Voraussetzung dafür, dass konkrete Ziele vereinbart wer-
res Lebens. Sie unterstützen vor Ort die internationalen den können. Das Gleiche gilt für den neuen Afghanistan-
Compact. Das Engagement der internationalen Partner
(B) Bemühungen und die Bemühungen Afghanistans zur muss mehr als bisher zielgerichtet koordiniert werden. (D)
Stabilisierung des Landes. Dieses Ziel – ein stabiles
Afghanistan für die Menschen Afghanistans – ist und Der neue Pakt muss tragfähige Ziele für den Aufbau des
bleibt richtig. Landes benennen, und dazu gehört eben auch ein kon-
kreter Zeitplan.
Aber ohne die Unterstützung unserer Soldatinnen und
Soldaten wird dieses Ziel in weite Ferne rücken, nicht Deutschland ist bereit, seinen Beitrag zu leisten, sich
zuletzt deshalb, weil unser Einsatz auch die afghanische noch stärker um die Ausbildung der afghanischen Armee
Regierung und die internationalen Partner auffordert, ak- und der Polizei zu bemühen. Sicherlich können wir die
tiver beim Aufbau des Landes mitzuhelfen. Das bedeu- Wirkung unseres Engagements noch erhöhen, wenn wir
tet aber nicht, dass wir die Frage, wie lange dieser Ein- uns mehr auf Brennpunkte konzentrieren und die Zu-
satz noch dauert, noch länger unbeantwortet lassen sammenarbeit mit den zivilen Helfern und Organisatio-
können. Es ist sogar höchste Zeit, dass wir uns über die nen weiter ausbauen. Ich erinnere daran: Die Grundlage
zeitliche Perspektive dieses Einsatzes verständigen. Das des ISAF-Einsatzes ist „Keine Sicherheit ohne Aufbau
erwartet nicht nur die deutsche Öffentlichkeit von uns; und kein Aufbau ohne Sicherheit“. Das muss heute mehr
das schulden wir vor allen Dingen auch den Soldatinnen gelten denn je.
und Soldaten der Bundeswehr, die wir in diesen gefährli- Es liegt jetzt an der Bundesregierung, ein entspre-
chen Einsatz schicken. chend klares Konzept vorzulegen. Ein klares „Weiter so
wie bisher!“ reicht einmal mehr nicht aus.
Am Ende unseres Einsatzes muss die Regierung in
Afghanistan selbst in der Lage sein, Verantwortung für Vielen Dank.
die Sicherheit im Land zu übernehmen. Damit das ge- (Beifall bei der SPD)
lingt, müssen wir Afghanistan eine klare Perspektive
geben: Auch Afghanistan braucht einen Zeitplan und da-
mit eine konkrete Zielvorgabe, eine Perspektive für die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Entwicklung des Landes, eine Perspektive für das inter- Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, erteile ich
nationale Engagement und vor allem auch eine Perspek- das Wort zur Geschäftsordnung Herrn Kollegen
tive für die Soldatinnen und Soldaten, die uns zu Recht Oppermann.
immer häufiger fragen, wie lange der Einsatz in Afgha-
nistan wohl dauern wird. Deswegen muss jetzt im Inte- Thomas Oppermann (SPD):
resse Afghanistans und in unserem Interesse die Grund- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ver-
lage für einen durchdachten Abzug geschaffen werden. teidigungsminister hat heute Morgen hier erklärt, dass er
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 405
Thomas Oppermann
(A) uns als Parlament direkt darüber informiert, dass der Ge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C)
neralinspekteur militärisch Verantwortung übernommen GRÜNEN]: Was?)
hat und dass der Staatssekretär administrativ Verantwor-
tung übernommen hat. Uns wurde aber nicht erklärt, wer eine Debatte, die in angemessener Art und Weise geführt
die politische Verantwortung trägt. worden ist, für parteipolitische Zwecke auszuschlachten.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE


GRÜNEN]: Sehr richtig!) GRÜNEN]: Das ist doch ungeheuerlich!)

Der amtierende Verteidigungsminister war noch nicht Mir ist nicht bekannt, dass der Bundesminister für Ar-
zuständig, als sich die Luftangriffe in Afghanistan ereig- beit und Soziales in nächster Zeit ein Phoenix-Interview
neten. Aber der damals zuständige und verantwortliche geben wird.
Minister ist heute hier im Plenum. Wenn wir jetzt hören, (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dass ein Interview mit dem Verteidigungsminister a. D. NEN]: Fragen Sie ihn doch einmal!)
Jung bei Phoenix bevorsteht, dann finde ich, dass das
Parlament den Anspruch und das Recht hat, vorher per- Mir ist auch kein Argument bekannt, das dafür spricht,
sönlich Herrn Jung zu hören. Ihrem Geschäftsordnungsantrag zuzustimmen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Deshalb beantragen wir, diesen Geschäftsordnungs-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) antrag abzulehnen.
Wenn Herr Jung als nicht mehr zuständiger Minister (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
hier nicht reden darf, dann muss allerdings jemand ande- Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
res die politische Verantwortung übernehmen und über GRÜNEN]: Wir können das Parlament ja nach
die politische Verantwortung reden. Wenn Herr Jung es Hause schicken! Machen wir alles über Phoe-
nicht tun kann, dann kann es nur die Person tun, die da- nix!)
mals im Amt war und heute im Amt ist; das ist die Bun-
deskanzlerin.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der SPD, der LINKEN sowie bei Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Antrag zur
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Geschäftsordnung gestellt worden. Eine Gegenrede ist
GRÜNEN – Siegfried Kauder [Villingen- ermöglicht worden. Es besteht nach unserer Geschäfts-
Schwenningen] [CDU/CSU]: Ein bisschen bil- ordnung die Möglichkeit, darüber abzustimmen.
lig, Herr Oppermann!) (D)
(B) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wei-
Ich beantrage zunächst, dass der Informationsan- tere Reden!)
spruch des Parlamentes dadurch erfüllt wird, dass jetzt
Verteidigungsminister a. D. Jung das Wort erhält. – Nicht zwingend.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Ich verweise auf § 29 Abs. 2 der Geschäftsordnung:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans- Der Präsident kann die Worterteilung bei Ge-
Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schäftsordnungsanträgen, denen entsprochen wer-
NEN]: Genau! Das wird auch über Phoenix den muss …, auf den Antragsteller, bei anderen
übertragen!) Anträgen auf einen Sprecher jeder Fraktion be-
schränken.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Jeder Frak-
Das Wort hat der Kollege Altmaier.
tion!)

Peter Altmaier (CDU/CSU): Ich hätte also die Worterteilung auf den Antragsteller be-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und schränken können. Ich habe aber mehr zugelassen.
Herren! Es handelt sich bei den Vorwürfen, über die wir (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
heute Morgen diskutiert haben, um einen ernsten Vorfall. NEN]: Nein, nein! – Dr. Dagmar Enkelmann
Der Bundesminister der Verteidigung hat in angemesse- [DIE LINKE]: Es gab schon eine Gegenrede!
ner, umfassender und klarer Weise dem Parlament Re- Das kann doch nicht sein! – Fritz Kuhn
chenschaft darüber abgelegt. Ich möchte mich im [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lassen Sie
Namen der CDU/CSU-Fraktion dafür ganz herzlich be- die Fraktionen doch reden!)
danken.
– Der Präsident entscheidet. Ich entscheide so, weil es in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Sache nicht mehr bringt, sondern nur die Zeit verlän-
Ich finde es, Herr Kollege Oppermann, mit Verlaub gert.
gesagt, der Situation nicht angemessen, wenn Sie versu- Ich bitte deshalb jetzt um Abstimmung.
chen, bei der Ernsthaftigkeit dieses Themas mit Ge-
schäftsordnungsanträgen und mit Vorwürfen, die durch (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ich
nichts begründet sind, habe einen Geschäftsordnungsantrag!)
406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) – Die Kollegin will einen weiteren Geschäftsordnungs- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte (C)
antrag stellen. Wir sind aber in der Abstimmung über allerdings Folgendes erbitten: Sie haben von diesen Vor-
den vorliegenden Geschäftsordnungsantrag. würfen, von diesen Berichterstattungen und von dem ge-
sprochen, was hier alles im Einzelnen behauptet worden
Der Kollege Oppermann hat einen Geschäftsord-
ist. Ich möchte die Chance haben, diese Unterlagen zu
nungsantrag gestellt, und über diesen Antrag lasse ich
überprüfen, auch den Sachverhalt zu überprüfen, um
abstimmen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um
dann korrekt Ihnen gegenüber, vor dem Parlament, Stel-
das Handzeichen. – Gegenprobe! –
lung nehmen zu können, und zwar im Laufe des heuti-
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Weniger! – Zu- gen Tages. Dies halte ich für ein sachgerechtes Vorge-
rufe von der SPD: Wir haben die Mehrheit!) hen. Ich bitte diesbezüglich um Ihre entsprechende
Zustimmung.
Wir sind uns nicht einig. Deshalb muss ausgezählt wer-
den. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Saal zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
verlassen. – Darf ich darum bitten, dass alle Kolleginnen bei Abgeordneten der SPD)
und Kollegen, die nicht Schriftführer sind, den Saal defi-
nitiv verlassen? – Ich bitte die Schriftführerinnen und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Schriftführer, ihre Plätze an den Türen einzunehmen. Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tages-
Darf ich um ein Zeichen bitten, ob die Schriftführer ihre ordnungspunkt.
Plätze eingenommen haben? – Ja, das ist der Fall.
Interfraktionell wurde vereinbart, die Vorlage auf
Der Saal ist derzeit leer. Ich weise noch einmal darauf Drucksache 17/39 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
hin, dass wir über den Geschäftsordnungsantrag der ten Ausschüsse zu überweisen. – Ich sehe, Sie sind damit
SPD-Fraktion abstimmen. Ich bitte nun, mit dem Aus- einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-
zählen zu beginnen. sen.
Sind jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, die zu- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
nächst vor der Tür standen, im Saal? – Dann bitte ich
Sie, Platz zu nehmen. Die Auszählung ist geschlossen. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
das Ergebnis mitzuteilen. Änderung des Altersteilzeitgesetzes
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und – Drucksache 17/20 –
Kollegen, ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
(B) über den Geschäftsordnungsantrag bekannt: Mit Ja ha- Finanzausschuss (D)
ben gestimmt 231, mit Nein haben gestimmt 293 Abge-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ordnete, Enthaltung keine. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE], an Ich darf Sie bitten, liebe Kolleginnen und Kollegen,
CDU/CSU und FDP gewandt: Das ist kein Ihre Gespräche außerhalb des Saales fortzuführen und
Grund für Beifall!) den Rednerinnen und Rednern der nächsten Debatte
Aufmerksamkeit zu schenken.
Der Geschäftsordnungsantrag ist damit abgelehnt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung über den
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
Geschäftsordnungsantrag hat Herr Bundesminister Jung
sehe dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver-
angeboten, eine Stellungnahme abzugeben.
fahren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
ner das Wort dem Kollegen Hubertus Heil von der SPD-
GRÜNEN)
Fraktion.
Herr Minister, bitte.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister für Arbeit
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
und Soziales:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Verständnis dafür, dass dies für den Bundesminister für
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu-
Arbeit und Soziales aufgrund der Debatte, die wir eben
nächst sagen, dass ich es gerade in dieser wichtigen und
geführt haben, und der Berichterstattungen kein einfa-
ernsten Debatte für notwendig erachte, dass Offenheit,
cher Tag ist. Mich hat eben eine Nachricht erreicht, die
Transparenz und Ehrlichkeit die Grundlage sind für Ver-
auf die Situation, in der sich der Minister in seinem
trauen und dass dies auch und gerade für mich im Hin-
neuen Amt befindet, ein bezeichnendes Licht wirft. Ich
blick auf die Information für das Parlament gilt.
habe gerade gehört, dass auf der Konferenz der Arbeits-
(Zurufe von der SPD und der LINKEN – und Sozialminister der Bundesländer, nachdem gestern
Volker Kauder [CDU/CSU], an SPD und Abend mit dem Bundesarbeitsminister beraten wurde,
LINKE gewandt: Seien Sie ruhig!) mit sage und schreibe 15 Stimmen bei einer Enthaltung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 407
Hubertus Heil (Peine)
(A) entschieden wurde, dass im Rahmen der Reform des Dann auch noch Ihre falschen Argumente: Es gibt (C)
SGB II – Stichwort „Jobcenter“ – der alte von Olaf eine Untersuchung der Universität Duisburg-Essen
Scholz erarbeitete und von der CDU/CSU-Bundestags- zur Altersteilzeit aus dem Herbst letzten Jahres,
fraktion torpedierte Kompromiss und Gesetzentwurf be-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schlossen werden soll. Das zeigt den Rückhalt, den Sie
NEN]: Aus welcher Schublade habt ihr die
in der Arbeitsmarktpolitik haben.
denn gezogen?)
(Beifall bei der SPD) in der all die Argumente, die Frau Connemann gleich
Es ist also in mehrerlei Hinsicht kein einfacher Tag noch einmal auflisten wird, entkräftet werden. Es ist
für den Bundesarbeitsminister. Ich habe zwar Verständ- schlicht und ergreifend falsch, dass die geförderte Al-
nis dafür, dass er sich, wie er eben gesagt hat, die nötige tersteilzeit den Trend zur Frühverrentung unterstützt. Im
Zeit nimmt, und finde es fair, dass er heute in der alten Gegenteil: Wir in der Verantwortung der Bundesregie-
Angelegenheit Stellung nimmt. Wir brauchen aber im rung haben in den letzten Jahren den Trend zur Frühver-
Bereich der Arbeitsmarktpolitik, zumal in diesen Zeiten, rentung in diesem Land gestoppt und umgekehrt. Das ist
einen Bundesminister für Arbeit und Soziales, der den gut so, und das ist richtig so.
Kopf und den Rücken frei hat, um sich um den Arbeits- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
markt in diesem Land zu kümmern. Dann bleibt doch dabei!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Entschuldigen Sie, ist Ihnen aufgefallen, dass die Re-
der LINKEN) gelung der geförderten Altersteilzeit noch in Kraft ist
Herr Fuchtel, als zuständiger Staatssekretär sind Sie (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja,
hier in Vertretung des Ministers; vielleicht hören Sie ein- auch weiterhin!)
mal zu. Es geht nämlich um ein arbeitsmarktpolitisches und dass die geförderte Altersteilzeit also kein Brandbe-
Instrument, das aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion in schleuniger für den Trend zur Frühverrentung sein kann?
dieser Krise unerlässlich ist. Es ist richtig und vernünf-
tig, dass Sie in der Tradition von Olaf Scholz im nächs- (Beifall bei der SPD)
ten Jahr die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes wieder
Denn wir haben diese zurückgedrängt. Wenn Sie einmal
verlängert haben, um ein Instrument zur Verfügung zu
ein bisschen nachdenken würden, dann würde sich das
haben, den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf
auch Ihnen erschließen.
dem Arbeitsmarkt in Deutschland effektiv begegnen zu
können. Umso weniger verstehe ich aber, dass Sie ge- Helmut Kohl hat einmal den schönen Satz gesagt: Die
(B) rade in dieser Krise ein weiteres wichtiges Instrument, Realität ist anders als die Wirklichkeit. Ich habe damals (D)
nämlich die geförderte Altersteilzeit, die eine Beschäf- als Jungsozialist oft darüber geschmunzelt. Inzwischen,
tigungsbrücke zwischen Jüngeren und Älteren darstellt, mit zunehmendem Lebensalter, begreife ich, was der
auslaufen lassen wollen. Das ist weder logisch noch philosophiebegabte Altbundeskanzler damit gemeint
sinnvoll. hat. Die Realität im nächsten Jahr wird sein, dass sich
die Probleme am Arbeitsmarkt infolge der Wirtschafts-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Finanzkrise verschärfen werden. Das wissen wir
der LINKEN) alle. Aber die Wirklichkeit ist, dass diese Bundesregie-
Deshalb legt die SPD-Bundestagsfraktion heute einen rung den Menschen in Deutschland die gerade in diesen
Gesetzentwurf vor, der die Verlängerung der Regelung Zeiten notwendigen Instrumente, um dieser Entwicklung
zur geförderten Altersteilzeit um fünf Jahre vorsieht. Wir zu begegnen, verweigert.
sind der festen Überzeugung, dass es notwendig und Frau Connemann, als niedersächsischer Kollege will
richtig ist, sich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ich Ihnen im Vorfeld Ihrer Rede einen Tipp geben. Bevor
genau anzusehen. Ja, es ist richtig, dass im Jahre 2009 Sie wieder erzählen, das Instrument der Altersteilzeit
die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise abgefedert werde von den Unternehmen zum Personalabbau miss-
werden konnten, dass die Entwicklung auf dem Arbeits- braucht, empfehle ich Ihnen, sich die Salzgitter AG in
markt bis dato nicht so schrecklich war wie prognosti- unserem Heimatland Niedersachsen anzuschauen. Das
ziert. Aber wir müssen feststellen, dass diese Aussage ist ein Unternehmen, das mit dem Werk in Peine auch in
für bestimmte Altersgruppen auf dem Arbeitsmarkt be- meinem Wahlkreis vertreten ist. Es hat in den letzten
reits in diesem Jahr so nicht gilt. Probleme gibt es bei Jahren das Instrument der geförderten Altersteilzeit sehr
unter 25-Jährigen und über 50-Jährigen. Gerade deshalb wohl genutzt, um in einer Branche, die sehr konjunktur-
ist es notwendig, eine Beschäftigungsbrücke, das heißt abhängig ist, Beschäftigungsbrücken zu bauen, um Jün-
geförderte Altersteilzeit, zu bauen und zu erhalten. geren konsequent den Einstieg ins Berufsleben zu er-
möglichen.
Die Frage ist doch, meine Damen und Herren von der
Koalition, ob wir in dieser Situation pragmatisch Wenn wir davon ausgehen, dass in Zeiten einer Wirt-
reagieren, um das zu tun, was notwendig ist, nämlich schaftskrise Kurzarbeit oder neue Instrumente zur Ver-
Beschäftigung zu sichern und vor allen Dingen Berufs- kürzung der Arbeitszeit – auch der Wochenarbeitszeit,
einstiegschancen für Jüngere zu schaffen. Ich kann die wie sie Herr Kannegiesser und die IG Metall ins Ge-
ideologische Position, mit der Sie uns hier begegnen, spräch gebracht haben – grundsätzlich Instrumente zur
nicht verstehen. Beschäftigungssicherung sein können, dann sollten wir
408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Hubertus Heil (Peine)


(A) uns das bewährte Instrument der geförderten Altersteil- Sie haben offenbar ein weiteres Hobby, nämlich einen (C)
zeit nicht entgehen lassen. Sport der besonderen Art: die Rolle rückwärts.
Deshalb haben wir diesen Gesetzentwurf binnen kür- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, nein!)
zester Zeit erarbeitet und vorgelegt. Ich bitte Sie von der
Herr Kollege Heil, Ihre Rede war eine bemerkens-
Koalition, nicht aus ideologischen Gründen oder weil er
werte Darbietung dieser neuen Disziplin. Ich habe wirk-
von uns als Opposition vorgelegt worden ist, an dieser
lich mit Ihnen gelitten; denn Sie müssen sich bei dieser
Stelle tatsächlich noch einmal nachzudenken und umzu-
Übung außerordentlich verrenkt haben. Die Linken ha-
kehren. Die jungen Menschen, die unter 25-Jährigen,
ben in der vergangenen Legislaturperiode viermal die
verdienen eine Chance. Die Chance, Älteren – die es
Verlängerung der geltenden Altersteilzeitregelung bean-
wollen oder auch brauchen – durch Arbeitszeitverkür-
tragt.
zung, das heißt durch geförderte Altersteilzeit, einen fle-
xiblen Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen, ist (Beifall bei der LINKEN)
nicht nur pragmatisch richtig, sondern auch menschen-
Viermal haben Sie diesen Antrag abgelehnt, meine Da-
gerecht und in dieser Phase des Arbeitsmarktes unerläss-
men und Herren von der SPD.
lich.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Weil Sie uns
Deshalb ist unser Vorschlag konsequent. Wir haben
daran gehindert haben! – Elke Ferner [SPD]:
damit zu rechnen, dass auch im Bundesrat entsprechende
Weil Sie blockiert haben!)
Initiativen ergriffen werden. Ich bitte Sie an dieser
Stelle, sowohl auf das zu hören, was aus dem Bereich Heute bringen Sie einen nahezu inhaltsgleichen Gesetz-
der Personalvorstände und der Unternehmensleitungen, entwurf ein. Das nenne ich eine Rolle rückwärts.
als auch auf das, was von den Gewerkschaften und aus
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dem Bereich der Betriebs- und Personalräte gefordert
neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
wird.
Nein!)
Es ist eine Chance, ein in dieser Krise notwendiges
Doch wenn Sie glauben, dafür eine Goldmedaille zu
Instrument nicht zu verspielen, das eine Beschäfti-
gewinnen, muss ich Sie enttäuschen, liebe Sports-
gungsbrücke zwischen Jüngeren und Älteren darstellt.
freunde;
Deshalb ist es auch eine gesamtwirtschaftliche Frage, ob
wir über dieses Instrument dem drohenden Fachkräfte- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es gibt
mangel der Zukunft begegnen können, indem wir jungen Koalitionsverträge!)
Menschen konsequent einen Einstieg über die Möglich-
denn die Rolle rückwärts ist keine olympische Disziplin.
(B) keit der geförderten Altersteilzeit ermöglichen, (D)
Damit schaffen Sie es noch nicht einmal aufs Podium;
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- denn wir werden Ihren gemeinsamen Verrenkungen mit
NEN]: Indem ihr die Alten rausschmeißt!) den Linken auf Kosten der Arbeitslosenversicherung
nicht zustimmen, und genau darum geht es heute.
damit sie diese Beschäftigungsbrücken zwischen den
Generationen beschreiten können.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Deshalb, meine Damen und Herren, bitte ich Sie im Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? – Der Herr
Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, in Kollege Heil würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Zeiten, in denen der Bundesarbeitsminister mit Dingen
aus seiner Vergangenheit belastet ist, den Blick für die
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Gegenwart und die Zukunft am Arbeitsmarkt nicht zu
verlieren und unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Sehr gerne, Herr Kollege.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Nicht so freundlich hier!)
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte sehr.
Nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion ist die
Kollegin Gitta Connemann. Hubertus Heil (Peine) (SPD):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kollegin Connemann, Ihnen sollte eigentlich
bekannt sein, was Koalitionsverträge bedeuten, und Sie
sollten wissen, dass Sie uns, Ihren damaligen Koalitions-
Gitta Connemann (CDU/CSU):
partner, in der letzten Legislaturperiode daran gehindert
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
haben, die Regelung zur geförderten Altersteilzeit zu
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, seit der Bun-
verlängern.
destagswahl scheinen Sie sich ein neues Hobby zugelegt
zu haben: der Kollege Heil das der Hellseherei; denn er (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
wusste schon vor meiner Rede, was ich sagen würde.
Meine Frage ist: Meinen Sie mit „Rolle rückwärts“ auch
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind bere- die „Rolle Rüttgers“, die Position des nordrhein-westfä-
chenbar, Frau Kollegin!) lischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers, der gegen-
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Hubertus Heil (Peine)
(A) über Gewerkschaften und Arbeitgebern eine Verlänge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
rung der Regelung zur geförderten Altersteilzeit ganz
ausdrücklich befürwortet hat? Meine Frage ist: Wollen Darüber waren wir uns in der letzten Legislatur-
Sie Herrn Rüttgers auch in die kommunistische Ecke periode mit Ihnen einig, liebe Kolleginnen und Kollegen
rücken? von der SPD. Nun starten Sie aber wieder in Ihrer Para-
dedisziplin: Es geht zurück in die Vergangenheit. Nun
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der soll die Förderung mit Arbeitslosengeldern fortgeführt
SPD) werden, nur mit einigen kleinen Änderungen, mit Margi-
nalien, sodass die Grundprobleme erhalten bleiben:
Gitta Connemann (CDU/CSU): Erstens. Die Altersteilzeit ist fast nie, was ihr Name
Lieber Herr Kollege Heil, allenfalls in sportlicher verspricht. Sie ist keine echte Teilzeit mit halbierter Ar-
Hinsicht. Ich beurteile in diesem Plenum Ihre Leistung, beitszeit, wie es der Gesetzgeber 1996 eigentlich wollte.
und Fakt ist, dass die Koalitionsvereinbarung auch mit Heute wählen fast 90 Prozent das sogenannte Blockmo-
Ihren Stimmen geschlossen worden ist. Übrigens ging dell.
von Ihrem damaligen Bundesminister für Arbeit und So-
(Elke Ferner [SPD]: Das Modell haben Sie
ziales, Franz Müntefering, langjähriger Parteivorsitzen-
1996 doch erst eingeführt!)
der und Vizekanzler, die Initiative zur Beendigung der
geförderten Altersteilzeit aus. Bis zu einem Stichtag wird voll gearbeitet. Dann folgt
abrupt die Freizeitphase. Ein gleitender Übergang in den
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich habe nach Ruhestand findet gerade nicht statt. Damit sind nicht nur
Herrn Rüttgers gefragt!) gesundheitliche Risiken verbunden. Die Älteren verlas-
Dabei ging es im Wesentlichen, und zwar aus gutem sen die Betriebe faktisch einige Jahre vor der Alters-
Grund, um die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. grenze. Das ist ein großer Verlust angesichts der demo-
grafischen Entwicklung. Gerade diese wird von der SPD
(Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] setzt sich) in ihrem Gesetzentwurf als Begründung angeführt. Dort
heißt es:
– Ich bin noch nicht fertig.
Die demografische Entwicklung macht es erforder-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich habe nach lich, das Beschäftigungspotenzial der Älteren voll
Herrn Rüttgers gefragt! – Iris Gleicke [SPD]: auszuschöpfen.
Wenn die Frage nicht beantwortet wird, kann
er sich auch setzen! Dann läuft die Redezeit Absolut richtig, liebe SPD! Weiter steht dort, man müsse
(B) weiter!) ihr wertvolles Erfahrungswissen länger in den Unterneh- (D)
men nutzen. Absolut richtig! Aber wenn Sie flexible
– Gut, vielen Dank, dass Sie selbst bestimmen, wann die Übergänge wirklich wollen, dann müssen Sie konse-
Frage beantwortet ist. Ich hätte Ihnen gerne noch erklärt, quenterweise das Blockmodell abschaffen. Davon steht
wie der Staat fördert, und darauf hingewiesen, dass er in Ihrem Gesetzentwurf ebenso wenig wie in den dama-
weiterhin fördert. Sie erzeugen einen Irrglauben, wenn ligen Anträgen der Linken.
Sie sagen, dass die Altersteilzeit nicht weitergeführt
werden kann. Tatsache ist, dass sie auch nach 2009 wei- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Stellen Sie
tergeführt werden wird, und zwar mit einer erheblichen doch einen Änderungsantrag!)
staatlichen Förderung. Der Betrag, mit dem das Teilzeit- Das macht im Umkehrschluss deutlich, was Sie eigent-
gehalt aufgestockt wird, ist von Steuern und Sozialabga- lich wollen: Weiter mit der subventionierten Frühverren-
ben befreit. Davon profitieren heute 500 000 Arbeitneh- tung.
mer. Diese erhebliche Förderung wird es weiterhin
geben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Es geht um den zweiten Teil, nämlich um die Tatsa-
che, dass die Bundesagentur für Arbeit die Mindestauf- Zweitens. Von dieser Praxis profitieren laut Deutscher
stockung des Gehalts um 20 Prozent übernimmt, wenn Rentenversicherung und dem Institut für Arbeitsmarkt-
der frei werdende Arbeitsplatz neu besetzt bzw. ein Aus- und Berufsforschung, IAB, vor allem Besserverdie-
gebildeter dafür eingestellt wird. Diese Förderung aus nende, die kaum arbeitslos gewesen sind. Die Bürobe-
der Kasse der Arbeitslosenversicherung erfolgt in rufe der öffentlichen Verwaltung und im Kreditgewerbe
20 Prozent der Fälle. Mit einer außerordentlich hohen liegen dabei vorne. Im Baugewerbe profitieren dagegen
Summe. 1,3 Milliarden Euro werden pro Jahr für nur nur 2 Prozent von der Frühverrentung. Das heißt, die
94 000 Beschäftigte in Altersteilzeit aufgewandt, und Rede vom Bauarbeiter, der in die Altersteilzeit geht, ist
zwar aus Beiträgen, die an sich das Risiko der Arbeits- eigentlich eine Mär, die der heutigen Realität faktisch
losigkeit absichern sollen. Das geht auf Kosten aller nicht entspricht.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in die Ar- (Elke Ferner [SPD]: Die sind schon längst in
beitslosenversicherung einzahlen. Das heißt, viele sub- der Erwerbsminderungsrente!)
ventionieren die Frührente einiger weniger. Das ist in je-
der Hinsicht ungerecht. Deswegen sagen wir sehr Gerade diejenigen, die körperlich hart arbeiten müssen und
deutlich: Mit dieser Frühverrentung muss am Ende die- wenig verdienen – der Bauarbeiter und die Friseurin –,
ses Jahres endlich Schluss sein. können sich dieses Modell nicht leisten, müssen es aber
410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Gitta Connemann
(A) mit ihren Beitrags- und Steuermitteln finanzieren. Die ner bis zum 67. Lebensjahr verlängerten Lebensar- (C)
Kleinen zahlen für die Großen; das ist unsozial. beitszeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hört sich
nach dem FDP-Modell an!)
Deswegen werden wir es nicht mittragen.
Liebe Sportsfreunde von der SPD, Ihr Gesetzentwurf
Drittens. Lieber Herr Kollege Heil, die Altersteilzeit
weist genau in die entgegengesetzte Richtung: Sie wol-
hat nicht zu mehr Einstellungen geführt. Dies möchte
len die Renaissance der staatlich geförderten Frühver-
der Kollege Heil nicht hören; deswegen dreht er mir of-
rentung. Das ist angesichts der demografischen Entwick-
fensichtlich den Rücken zu. – Sicherlich sind Auszubil-
lung ein schwerer Fehler. Sie wissen um diesen Fehler;
dende übernommen worden. Allerdings wären sie ohne-
denn im Jahre 2005 war es kein Geringerer als Ihr Ge-
hin übernommen worden; denn angesichts des trotz der
nosse Franz Müntefering, der den Rentenbeginn mit 67
Krise bestehenden Fachkräftebedarfs hat jedes Unter-
initiierte.
nehmen ein Interesse daran, seinen qualifizierten Nach-
wuchs zu behalten. Mitnahmeeffekte anstatt einer Be- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nee, nee! –
schäftigungsbrücke. So findet sich in einer aktuellen Elke Ferner [SPD]: Sie waren das! Sie wollten
Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- das im Koalitionsvertrag haben! Sie lügen,
schung der Bundesagentur für Arbeit die Deutung – ich ohne rot zu werden!)
zitiere –, „dass es vermehrt zu Mitnahmeeffekten durch
Unternehmen kam, die Auszubildende sowieso einge- Seine Idee war und ist noch heute richtig – wir haben es
stellt bzw. übernommen hätten“. mitgetragen –; denn immer weniger Arbeitnehmer müs-
sen in Zukunft immer mehr Menschen im Alter finanzie-
Viertens. Diese Mitnahmepraxis wird insbesondere ren. Die Behauptung, damit werde jüngeren Arbeitneh-
von Konzernen genutzt. Auf die Betriebe mit mehr als mern der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt, ist
1 000 Beschäftigten entfallen mehr als ein Drittel der Al- tatsächlich längst widerlegt. In vielen Branchen fehlt
tersteilzeitbeschäftigten. Dagegen beträgt der Anteil in trotz der Krise der Nachwuchs.
Betrieben mit weniger als 20 Arbeitnehmern weniger als
2 Prozent, obwohl mehr als ein Drittel der Arbeitnehmer Mit dem Prinzip der Rente mit 67 ist die Wiederbele-
in Deutschland in solchen Betrieben arbeitet. Das heißt, bung der staatlich geförderten Frühverrentung vollkom-
die Altersteilzeit gehört in den Großbetrieben zum Stan- men unvereinbar. Damit wird an Ihrem Gesetzentwurf
dard. Die Konzerne nutzen die Altersteilzeit, um sich be- eines deutlich: Es geht Ihnen letztlich nur darum, ein
quem und auf Kosten der Steuer- und Beitragszahler von Feigenblatt zu finden, um sich von der Rente mit 67 und
älteren Arbeitnehmern zu verabschieden; auch das ist damit auch von der Agenda 2010 zu verabschieden.
(B) (D)
unsozial. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ahnungslos
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und völlig ideologisch!)

Es gibt also kein einziges Argument, die Altersteilzeit Nichts anderes ist dieser Gesetzentwurf: ein Feigenblatt.
nach 2009 mit Mitteln der Arbeitslosenversicherung zu Es steht völlig außer Frage, dass wir in bestimmten
fördern. Die Förderung ist unsozial, der Nutzen zweifel- Branchen mit schwerster Belastung Kranken und Ausge-
haft; Mitnahmeeffekte sind vorprogrammiert. Herr Kol- brannten eine Möglichkeit geben müssen. Das haben wir
lege Heil, davon geht auch ein vollkommen falsches mit den Programmen getan, die wir in der letzten Legis-
Signal aus: Ältere raus aus den Betrieben, subventioniert laturperiode gemeinsam aufgelegt haben. Wir haben dort
von der Allgemeinheit. Genau das brauchen wir nicht. Möglichkeiten geboten, und zwar durch finanzielle Leis-
Wir brauchen in dieser Gesellschaft die Älteren ebenso tungen, durch die Förderung der beruflichen Weiterbil-
wie die Jüngeren. Wir dürfen kein Konkurrenzverhältnis dung, durch Modernisierung und altersgerechte Gestal-
erzeugen; das ist mit uns von der Union nicht zu ma- tung von Arbeitsbedingungen – mit Erfolg: Die
chen. Erwerbstätigenquote bei Älteren ist signifikant angestie-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen.
neten der FDP) Verlassen Sie doch diesen Pfad der Vernunft nicht!
Wir benoten die derzeitige Altersteilzeitregelung Meine Damen und Herren von der SPD wie auch von der
ebenso wie die Bundesagentur – ich zitiere –: „Beliebt, Linken, ich kann nur sagen: Nehmen Sie Abstand von
aber nicht zukunftsgerecht.“ In der neuesten Studie vom diesem Gesetzentwurf! Damit werden Sie weder einen
August 2009 lehnt das IAB, die Forschungseinrichtung Platz in der Sportgeschichte noch im Bundesgesetzblatt
der Bundesagentur für Arbeit, die Altersteilzeitregelung finden. Wir werden ihn ablehnen.
mit folgender Begründung ab – ich zitiere –: Vielen Dank.
In ihrer gegenwärtigen Form gibt die Altersteilzeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die falschen Signale. … Deshalb gewinnen Maß-
nahmen an Bedeutung, die dazu beitragen, die Be- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
schäftigungsfähigkeit der älteren Mitarbeiter zu er-
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die
halten. So sollte die Arbeitsmarktpolitik auf längere
Fraktion Die Linke.
Sicht den Fokus auf die Beschäftigung möglichst
bis an die Ruhestandsgrenze legen – gerade bei ei- (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 411

(A) Klaus Ernst (DIE LINKE): versucht, einen Übergang zwischen Menschen, die im (C)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Betrieb sind, und Menschen, die in den Betrieb wollen,
Herren! Der Gesetzentwurf der SPD geht angesichts der zu gewährleisten. Allerdings verschließt sich mir jede
Situation, die wir zurzeit, in der Krise, in den Betrieben Logik bei der Frage, warum Sie diese Förderung eigent-
ganz real vorfinden, in die richtige Richtung. Ich werde lich nur dann gewähren wollen, wenn Auszubildende
zu Frau Connemann noch das eine oder andere über die eingestellt werden. Wir haben momentan folgende Situa-
Realität sagen. tion auf dem Arbeitsmarkt – das dürfte Ihnen doch nicht
entgangen sein –: Die Ersten, die rausgeflogen sind, wa-
Aber ein paar Bemerkungen kann ich natürlich auch
ren die Leiharbeiter. Das waren die Ersten, die die Be-
der SPD nicht ersparen. Es ist richtig, dass Ihr Weg, die
triebe verlassen mussten und momentan händeringend
Anhebung des Renteneintrittsalters – dafür sind Sie mit
Jobs suchen. Die Zweiten, die nicht mehr im Betrieb
verantwortlich – und das Auslaufen der geförderten Al-
sind, sind die, die befristete Beschäftigungsverhältnisse
tersteilzeit – in der Zeit, in der Sie regiert haben, ist sie
hatten. Sie wollen diese befristeten Beschäftigungsver-
ausgelaufen, und Sie haben nicht dazu beigetragen, dass
hältnisse jetzt auch noch ausweiten und damit dazu bei-
das vernünftig geregelt wird –, die Probleme herbeige-
tragen, dass noch mehr Menschen nicht in einer Be-
führt hat, die Sie jetzt versuchen zu regeln. Dass Sie es
schäftigung sind, übrigens ohne dass ihnen gekündigt
jetzt regeln wollen, ist schön; aber besonders loben kön-
werden muss; denn am Kündigungsschutz wollen Sie
nen wir Sie dafür nicht.
nichts ändern.
(Elke Ferner [SPD]: Das ist aber traurig!)
Ich sage: Wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, dass
– Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Wenn man einen es nicht nur um die Auszubildenden geht, sondern auch
Brand legt, dann kann man nicht dafür gelobt werden, um die vielen Menschen, die ihren Job aufgrund der
dass man als Erster die Feuerwehr ruft. Krise schon verloren haben, dann liegt man an dieser
(Beifall bei der LINKEN) Stelle falsch. Ihr Gesetzentwurf geht in die richtige
Richtung. Aber wir brauchen, bitte schön, auch dann
Wir müssen daran erinnern, wo Ihre Verantwortung eine Förderung, wenn Arbeitslose eingestellt werden
liegt. Hier wird richtigerweise angeführt, dass Sie Ihre oder wenn Leute eingestellt werden, die vorher Leihar-
Position in der Rentenpolitik ändern. Das eigentliche beiter oder befristet Beschäftigte waren und dann ar-
Problem ist also Ihre Rentenpolitik. Sie sind sich nach beitslos geworden sind. Warum wollen Sie die Förde-
wie vor überhaupt nicht einig, was Sie wollen. Auf Ih- rung bei diesen Leuten nicht gewähren? Das ist
rem Parteitag hieß es zur Rente mit 67 – ich zitiere –: vollkommen unlogisch. Ändern Sie an dieser Stelle Ih-
Wir werden uns dazu im nächsten Jahr konkret ver- ren Gesetzentwurf!
(B) (D)
halten, wenn die Bundesregierung den Bericht zu (Beifall bei der LINKEN)
der Anhebung der Regelaltersgrenze gibt.
Meine Damen und Herren, Schwarz-Gelb lehnt eine
Sie haben im Wahlmanifest von 2005 geschrieben
weitere Förderung der Altersteilzeit ab. Das ist natürlich
– ich zitiere –:
problematisch. Dieses Gesetz ist nämlich nicht von der
Unser Ziel ist, das faktische Renteneintrittsalter an SPD eingeführt worden, sondern es ist unter Schwarz-
das gesetzliche Eintrittsalter von 65 Jahren heran- Gelb entstanden.
zuführen.
(Elke Ferner [SPD]: So ist das!)
Herausgekommen sind die Rente mit 67 und das Auslau-
fen der geförderten Altersteilzeit. Damals gab es in Ihren Reihen noch Sozialpolitik.
Ich sage Ihnen: Das Problem, das Sie zurzeit in dieser (Zuruf von der CDU/CSU: Na, na, na!)
Frage haben, ist, dass Sie herumeiern. Sie haben noch
keinen Kurs gefunden. In dieser Frage hat die CDU/CSU Damals gab es in Ihren Reihen auch noch einen Norbert
leider recht. Ich kann nur hoffen, dass Sie Ihren Kurs Blüm. Er hat damals zwar nicht immer das gesagt, was
endlich finden. Denn die letzten Wahlergebnisse und wir gedacht haben. Zur Frage der Altersteilzeit hatten
Umfrageergebnisse sind für Sie ja nicht berauschend. Sie damals aber eine Position, die lautete: Es ist im Prin-
Das hängt damit zusammen, dass Sie noch keinen Kurs zip besser, die Jüngeren in die Betriebe zu lassen, als die
gefunden haben. Ich kann Ihnen auch sagen: Wenn man Alten so lange in den Betrieben zu lassen, bis sie wirk-
sich dreht und wendet, wird man von denen nicht mehr lich nicht mehr können.
erkannt, wo man her kommt, und von denen nicht akzep- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tiert, wo man hin will. Das ist Ihr Problem. NEN]: Wozu hat das denn geführt?)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der CDU/CSU) Das war damals Ihre Position, und die war richtig.

Kehren Sie um, und versuchen Sie, zumindest in dieser (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Frage wieder Sozialdemokraten zu werden; Sie sind es Nein! Die war falsch!)
noch nicht ganz.
– Nein, sie war richtig. Zu den Grünen komme ich auch
Zum Inhalt Ihres Gesetzentwurfes: Der Gesetzent- noch. Lassen Sie mir nur ein bisschen Zeit, einer nach
wurf geht in die richtige Richtung, weil er tatsächlich dem anderen. –
412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Klaus Ernst
(A) (Heiterkeit bei der LINKEN – Fritz Kuhn Auch das wird letztendlich von der Bundesagentur fi- (C)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Blasen Sie nanziert, genauso wie letztendlich auch von der Bun-
sich da vorne bloß nicht so auf!) desagentur finanziert wird, dass Menschen rechtzeitig
aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Dies gegeneinander
Sie haben damals eine richtige Position vertreten mit auszuspielen, ist aus meiner Sicht absolut unakzeptabel.
dem Ergebnis, dass immer dann, wenn es Beschäfti-
gungsprobleme gab, sodass die Jüngeren nicht in die Be- (Beifall bei der LINKEN)
triebe kamen, die Möglichkeit eröffnet wurde, die Auszu- In dieser Frage nehmen Sie die Realität überhaupt nicht
bildenden trotzdem zu übernehmen und die Älteren – ich zur Kenntnis.
sage es einmal so: in Würde –, ohne dass sie vorher ar-
beitslos wurden, in Rente gehen zu lassen. Das war ein- Wie ist die Realität? In der Altersgruppe der 15- bis
mal. 24-Jährigen hatten wir von Mai 2008 bis Mai 2009 eine
Zunahme der Arbeitslosigkeit um 16,1 Prozent zu ver-
Inzwischen lehnen Sie das vollkommen ab. Sie sagen zeichnen. Ich wiederhole: eine Zunahme um 16,1 Pro-
– das habe ich gerade bei Frau Connemann gehört –, dass zent. Bei den Älteren, den über 55-Jährigen, hatten wir
Sie Erfahrungswissen länger halten wollen. Ich weiß im selben Zeitraum eine Zunahme um 17,3 Prozent zu
nicht, ob Sie zur Kenntnis nehmen, was zurzeit im Lande verzeichnen. Das ist die Realität.
passiert. Ich weiß nicht, ob Sie zur Kenntnis nehmen,
was zum Beispiel in meiner Region geschieht. Dort gibt Zur Realität gehört auch, dass die Betriebsräte in den
es vier größere Betriebe in der Größenordnung von 2 000 Betrieben zurzeit mühsam verhandeln, wie der Perso-
bis 7 000 Beschäftigten. In einem dieser Betriebe geht es nalabbau zu bewerkstelligen ist. Hinzu kommt, dass sich
jetzt in der Krise um ein Sparprogramm von 200 Millio- diese Entwicklung in einer Situation, in der die Alters-
nen Euro. In einem anderen Betrieb wurde ein Perso- teilzeit dichtgemacht wird, weil die Förderung fehlt, auf
nalabbau um 25 Prozent angekündigt. Im dritten Betrieb andere Beschäftigtengruppen ausweiten wird, zum Bei-
sollen Umstrukturierungen stattfinden, damit man sich spiel auf die Jungen. Glauben Sie, dass es billiger und
nach der Krise vernünftig aufstellen kann. All das geht für den Staat verträglicher ist, wenn wir die Jungen nicht
zulasten der Beschäftigung. Mit Ihrer Ablehnung der ge- mehr in die Betriebe lassen? Darauf hätte ich von Ihnen,
förderten Altersteilzeit sagen Sie letztendlich: Die Jun- Frau Sportsfreundin, gerne einmal eine klare Antwort,
gen sollen in die Arbeitslosigkeit gehen, und die Alten da Sie sich hier so arrogant hingestellt haben.
sollen arbeiten bis zum Umfallen. – Um es einmal ganz (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
deutlich zu sagen: Wenn Sie die geförderte Altersteilzeit neten der SPD)
ablehnen, ist das ein Skandal.
Meine Damen und Herren, die Konsequenz Ihrer Ab- (D)
(B) (Beifall bei der LINKEN – Johannes Vogel lehnung einer solchen Position ist, dass Sie die Perspek-
[Lüdenscheid] [FDP]: So ein Blödsinn!) tivlosigkeit der Jugend fördern. Es wäre allemal besser,
Frau Connemann, Sie müssen mir einmal den Be- wenn die Jungen beschäftigt würden, als dass die Alten
schäftigten zeigen, der ein großes Erfahrungswissen hat, nicht rauskönnen. Mit Ihrer Politik tragen Sie dazu bei,
nicht arbeiten will und, obwohl er gebraucht wird, seinen dass sich ein Teil der Jugend von der Politik und von die-
Arbeitsplatz aufgibt. Diesen Beschäftigten gibt es nicht. sem Staat abwendet. Wenn man der Jugend die Perspek-
tiven verwehrt, muss man sich darüber nicht wundern.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Wahlbeteiligungen, die wir zurzeit haben, sprechen
NEN]: Der wird herausgedrängt!) ihre eigene Sprache. Mit Ihrer Politik tragen Sie dazu
bei, dass die Alten so lange arbeiten müssen und nicht
Es gibt allerdings Beschäftigte, die ihr Wissen in den Be- rauskönnen, obwohl in den Betrieben die Arbeit nicht
trieben gerne weiter einsetzen würden, mehr vorhanden ist. Das geht aus meiner Sicht in die
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Die werden vollkommen falsche Richtung.
aber herausgedrängt!) Eine Bemerkung zu den Grünen: Ich weiß, ihr seid
dagegen. Aber wer nicht akzeptiert, dass es für die Älte-
es aber nicht können, weil in den Betrieben gegenwärtig
ren würdevoller ist, dann, wenn sie nicht mehr gebraucht
ein Personalabbau in der Größenordnung von 10 bis
werden, vernünftig und gesund aus dem Betrieb raus-
15 Prozent stattfindet.
zukommen als vor der Rente in die Arbeitslosigkeit
Im Übrigen trifft das Argument, das Sie vorhin im geschickt zu werden – das ist ja die Konsequenz der
Hinblick auf eine öffentliche Subventionierung ange- Zahlen –, braucht mir in diesem Parlament nicht mit
führt haben – mit der Folge, dass dann Leute zu Hause Würde zu kommen.
bleiben könnten –, auf die Kurzarbeit genauso zu. (Beifall bei der LINKEN)
(Elke Ferner [SPD]: Ja!) Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren,
Wo ist der Unterschied? Sie sagen immer, wir würden die Demografie nicht
berücksichtigen. Wir wissen, wie sich die Demografie
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Die, entwickelt: Bis 2050 haben wir 8 Millionen Einwohner
die davon betroffen sind, kommen doch wie- weniger. Wir wissen aber auch, dass sich das Brutto-
der! Das ist ein ganz großer Unterschied! Ver- inlandsprodukt, wenn man eine jährliche Steigerungsrate
stehen Sie das denn nicht?) von 1,5 Prozent unterstellt, im selben Zeitraum verdop-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 413
Klaus Ernst
(A) pelt. Wir haben also weniger Leute, aber einen doppelt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
so großen Kuchen; das ist die Demografie. Jetzt frage der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
ich Sie: Sind die einzelnen Kuchenstücke dann kleiner GRÜNEN)
oder größer? Selbstverständlich sind sie größer; das be-
sagt der Dreisatz. Jetzt muss man sich fragen: Warum Warum ist Altersteilzeit gerade jetzt die falsche Ant-
geht die Rechnung dann nicht auf? Offensichtlich des- wort? Wir müssen konstatieren, dass die Trendwende am
wegen nicht, weil uns jemand den Kuchen klaut. Arbeitsmarkt endlich geschafft ist. Seit Jahren reden wir
– über alle politischen Lager hinweg – davon, dass die
(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) Qualität der Arbeit der älteren Menschen in den Unter-
nehmen endlich stärker anerkannt werden müsse und
Es wäre besser, wenn Sie weniger über die Demografie dass, weil das noch nicht der Fall sei, die Chancen Älte-
schwafelten und sich stattdessen um die Kuchendiebe rer auf dem Arbeitsmarkt heutzutage nicht gut seien.
kümmerten. Dann gäbe es auch wieder eine vernünftige Wenn wir uns jetzt die Zahlen der letzten Jahre anschauen,
Rente. sehen wir, dass sich bei der Beschäftigung älterer Arbeit-
Ich danke Ihnen fürs Zuhören. nehmerinnen und Arbeitnehmer endlich ein deutlicher
Anstieg feststellen lässt: Der Anteil der 55- bis 59-Jähri-
(Beifall bei der LINKEN) gen, die sich noch in Beschäftigung befinden, ist in den
letzten vier Jahren um mehr als 25 Prozent gestiegen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bei den 60- bis 65-Jährigen beträgt der Anstieg immer-
hin noch mehr als 20 Prozent.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Johannes
Vogel das Wort. (Elke Ferner [SPD]: Trotz Altersteilzeit, ja?)
(Beifall bei der FDP) – Ja, trotz Altersteilzeit; aber darum geht es jetzt nicht. –
An diesen Zahlen zeigt sich, dass der Paradigmenwech-
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): sel endlich da ist: Ältere werden von den Unternehmen
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! endlich nachgefragt,
Schauen wir uns einmal an, was in dem Gesetzentwurf (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
der SPD steht. Die Analyse in der Begründung ist teil- CDU/CSU)
weise korrekt: Wir stehen vor den Herausforderungen
des demografischen Wandels, und wir haben einen Fach- wegen ihres Wissens und wegen ihrer Erfahrung und
kräftemangel; deshalb sind Unternehmen und Arbeits- nicht zuletzt wegen des Fachkräftemangels.
(B) markt umso stärker auf das Potenzial der Älteren ange- (Elke Ferner [SPD]: Das hat die Altersteilzeit (D)
wiesen. – Gleichzeitig sagen Sie: Der Arbeitsmarkt war
in der Krise bisher relativ robust; aber es bleibt unsere offenbar nicht verhindert!)
Aufgabe, darauf zu achten, dass wir Beschäftigung für Ausgerechnet jetzt die beitragsfinanzierten Anreize zur
Ältere und Jüngere schaffen. – So weit, so gut. Aber Frühverrentung zu verlängern, ist das fatalste Signal, das
dann wird es absurd. Denn was ist Ihre Antwort darauf? man geben kann, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Die Frühverrentung. der SPD. Dafür fehlt mir jedes Verständnis.
(Zuruf von der SPD: Frühverrentung ist etwas (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
anderes!) CDU/CSU – Elke Ferner [SPD] Das läuft doch
– Nein! alles noch nach!)

Schauen wir uns einmal an, was Altersteilzeit so, wie Der zweite Grund, warum das in meinen Augen und
Sie sie sich vorstellen, nämlich beitragsfinanziert, heißen in den Augen der FDP die falsche Antwort ist, lautet:
würde: Sie wäre nicht nur – darauf hat die Kollegin weil damit im Grundsatz einfach der Geist von vor
Connemann hingewiesen – sehr teuer, sondern faktisch 20 Jahren gezeigt wird. Sie sind im Kern noch immer da-
ein Anreiz zur Frühverrentung; denn 90 Prozent nutzen von überzeugt, dass es nur eine bestimmte Summe an
die Altersteilzeit in Form des Blockmodells, gehen de Arbeitsplätzen gibt.
facto früher in Rente. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, nein, das
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stimmt nicht!)
der CDU/CSU) – Doch, doch, doch. – Sie machen sich nur Gedanken
Wenn Sie das auch noch fördern, senden Sie an die Älte- darüber, wie man diesen Kuchen, den es gibt, zwischen
ren das Signal: Wir wollen euch nicht mehr. – Da liegt den verschiedenen Generationen verteilen kann.
der zentrale Widerspruch: Sie führen in Ihrem Gesetz- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt
entwurf zwar lang und breit aus, dass die Älteren wichtig doch gar nicht, Herr Kollege!)
seien; Ihre Argumentation läuft aber darauf hinaus, dass
die Älteren früher gehen sollten. Das ist absurd, denn da- – Doch. – Worum wir uns Gedanken machen – das
durch werden die Älteren aus dem Arbeitsmarkt ge- müsste doch die Antwort sein –, ist, wie wir den Kuchen
drängt. Mit Würde, lieber Herr Ernst, hat das überhaupt vergrößern können, statt ihn nur anders zu verteilen,
nichts zu tun. liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) (Elke Ferner [SPD]: Wie Sie das Geld von un- Wirtschaftswachstum dafür sorgen, dass für Ältere und (C)
ten nach oben umverteilen können, darüber für Jüngere Arbeitsplätze geschaffen werden. Das ist die
machen Sie sich Gedanken! – Hubertus Heil einzig vernünftige Antwort.
[Peine] [SPD]: Wo ist Ihre Wachstumsstrate-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
gie? Hotelklientel!)
Anette Kramme [SPD]: Klientelpolitik soll
– Ich sage Ihnen, wo unsere Wachstumsstrategie ist. Wachstum fördern?)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Klientel- – Das hat mit Klientelpolitik überhaupt nichts zu tun.
politik!) Schauen wir uns aber auch einmal das Verfahren an;
Was wir machen – damit komme ich genau zum denn was Sie da vorschlagen, ist aus meiner Sicht nicht
Punkt; das wäre eine wirkliche Antwort für Ältere und nur inhaltlich ein alter Hut. Warum das der Fall ist, habe
Jüngere –, ist, auf Wachstum zu setzen, Herr Heil. Das ich gerade ja schon ausgeführt. Damit aber nicht genug.
tun wir Ihr Kollege Scholz, der ehemalige Arbeitsminister, hat
im letzten Juli davon gesprochen, er habe einen Gesetz-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo tun Sie das entwurf zur Verlängerung der Altersteilzeit schon fertig
denn? Mit diesem komischen Gesetz? Wachs- in der Schublade; man wolle ihn in der Großen Koalition
tum hat damit nichts zu tun!) einbringen. Dazu ist es leider nicht gekommen.
durch eine gute Wirtschaftspolitik, durch das Wachs- (Zuruf von der SPD: Warum denn nicht?)
tumsbeschleunigungsgesetz,
– Das sagt der Herr Scholz. – Genau diesen Gesetz-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Lächerlich!) entwurf legen Sie uns jetzt hier vor,
durch bessere Rahmenbedingungen für den Mittelstand (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, so sind wir
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Klientelpolitik! uns treu!)
Das hat damit doch nichts zu tun!) auch wenn Sie, Herr Heil, eben behauptet haben, dass
und dadurch, dass wir einen Schwerpunkt auf Bildung Sie ihn jetzt in kürzester Zeit erarbeitet haben. Das
legen. Dadurch werden Arbeitsplätze für Junge und für glaubt doch niemand.
Ältere geschaffen, und das ist die einzig vernünftige Bei allem Verständnis für den Umzugsstress, den Sie
Antwort, die man geben kann. im Moment haben – auch ich habe ihn als neugewählter
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Abgeordneter; es ist nicht so leicht, ein Büro zu finden –:
(B) Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Übernachten Sie (Elke Ferner [SPD]: Sie hätten besser noch ein (D)
jetzt mehr in Hotels, oder was?) paar Jahre richtig gearbeitet, Herr Kollege!)
– Ich übernachte relativ selten in Hotels, Herr Heil. Bitte entleeren Sie Ihre Aktenordner doch nicht dadurch,
Gehen wir doch einmal weiter und schauen wir uns dass Sie Ihr Altpapier im Gesetzgebungsverfahren hier
an, welche Teile der Analyse in Ihrem Antrag durchaus ins Plenum kippen. Das hilft niemandem.
richtig sind. Sie weisen darauf hin: Wir müssen uns Ge- Vielen Dank.
danken darüber machen, wie der Renteneinstieg in
Deutschland flexibler gestaltet werden kann. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
(Elke Ferner [SPD]: Ja!) Frau Connemann wirft uns vor, wir hätten un-
sere Position geändert, und er bestätigt, dass
Das ist richtig, natürlich. Die Menschen fangen in einem
wir unserer Position treu geblieben sind! Das
unterschiedlichen Lebensalter an zu arbeiten. Sie ma-
ist ja ein Vogel!)
chen unterschiedliche Jobs. Teilweise müssen oder wol-
len sie zu unterschiedlichen Zeiten in den Ruhestand tre-
ten. Das ist richtig. Darüber können wir gerne reden. Das Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
muss aber dann doch mit dem FDP-Modell geregelt wer- Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer
den, nämlich mit korrekten Zu- und Abschlägen, und für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
ohne dass die Älteren künstlich in die Verrentung ge-
drängt werden, liebe SPD-Kollegen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ge-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es! – Elke
förderte Altersteilzeit ist gescheitert. Sie ist gescheitert
Ferner [SPD]: Das kann sich doch noch nicht
als Beschäftigungsbrücke, und sie ist auch gescheitert
einmal Ihre Klientel leisten!)
als Instrument zum Übergang in den Ruhestand.
Ich halte unter dem Strich fest – ich glaube, zu diesem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schluss muss man bei Ihrem Gesetzentwurf kommen –:
und bei der CDU/CSU)
Sie loben in Ihrem Gesetzentwurf die älteren Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer für ihr Erfahrungswissen. Die geförderte Altersteilzeit ist ein Frühverrentungs-
Das ist gut. Etwas mehr davon hätte ich mir aber auch modell in Form einer Stilllegungsprämie. Das gehört so
bei Ihrem Antrag gewünscht; denn statt einer Umtausch- schnell wie möglich abgeschafft. Es ist richtig, dass sie
aktion Alt gegen Jung zuzustimmen, wollen wir durch ausläuft.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 415
Brigitte Pothmer
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
bei der CDU/CSU und der FDP) und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-
ten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
Die Altersteilzeit hat uns in den letzten Jahren einen Euch ist Arbeitslosigkeit lieber als Altersteil-
erheblichen Bärendienst erwiesen, weil sie einen Beitrag zeit!)
dazu geleistet hat, dass Deutschland eine ungeheuer ne-
gative Kultur der Altersarbeit hat. In fast keinem ver- Jetzt kommen wir zu der Frage, ob dieses Instrument
gleichbaren europäischen Land ist der Beschäftigungs- als Kriseninterventionsinstrument geeignet ist, wie Herr
anteil Älterer so niedrig wie in Deutschland, obwohl sich Heil es vorgetragen hat.
da langsam etwas ändert. Aber immer noch sind wir da
ganz, ganz schlecht. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ihr sitzt doch den
Schwarzen schon auf dem Schoß! – Gegenruf
Ältere werden insbesondere in großen Betrieben des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE
– darauf lege ich die Betonung – als defizitäre Wesen be- GRÜNEN]: Nimm mal ein Zäpfchen!)
trachtet, die es nicht mehr bringen und die so schnell wie
möglich ausgemustert werden müssen. Für dieses Bild Anders als die Kurzarbeit reduziert Altersteilzeit das
ist diese Vorruhestandsregelung in erheblichen Teilen Beschäftigungsvolumen in einem Betrieb nicht, Herr
mitverantwortlich. Deswegen gehört sie abgeschafft, Heil. Darum geht es aber bei großen Auftragseinbrü-
weil sie die Älteren mit ihren wertvollen Erfahrungen chen. Dabei geht es darum, das Beschäftigungsvolumen
aus den Betrieben herausdrängt. Sie gehört auch abge- zu reduzieren. Hier werden nur ältere durch jüngere Be-
schafft, weil wir wegen der demografischen Entwick- schäftigte ersetzt. Der Personalbestand bleibt gleich, er
lung, die es tatsächlich gibt, Herr Ernst, auf einen gigan- wird nur verjüngt.
tischen Fachkräftemangel zulaufen. Das ist sogar bei
den Gewerkschaften angekommen. Lesen Sie einmal die Mit anderen Worten: Mit der geförderten Altersteil-
neueren Papiere! zeit entledigen sich in erster Linie Großbetriebe ihrer äl-
teren Beschäftigten und formen daraus olympiareife
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Mannschaften, und das sollen die Kleinbetriebe und die
SES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU – Geringqualifizierten bezahlen. Das machen wir so nicht
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit.
NEN]: Aber bei der Linkspartei nicht!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Es lohnt sich übrigens, einmal die Frage zu stellen, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
wer von der geförderten Altersteilzeit profitiert. Es sind der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wa-
(B) die großen Unternehmen, der öffentliche Dienst und die ren Sie schon mal im Stahlwerk, Frau Kolle- (D)
gutverdienenden, hochqualifizierten und überwiegend gin?)
männlichen Beschäftigten. In 85 Prozent aller Betriebe
mit mehr als 500 Beschäftigten gibt es Altersteilzeit. Außerdem wirkt dieses Instrument mit erheblicher
zeitlicher Verzögerung. Denn das Blockmodell läuft im
Regelfall über sechs Jahre. Das heißt, drei Jahre lang be-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
wegt sich in dem Betrieb gar nichts.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst? (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann ist die
Krise längst vorbei!)
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
So lange gibt es auch keine Mittel der Bundesagentur für
Ich würde gerne erst einmal weiterreden. – In Firmen Arbeit.
mit weniger als 50 Beschäftigten sind es nur 4 Prozent.
In drei Jahren werden wir hoffentlich die Krise auf
Herr Ernst, ich frage jetzt Sie: Glauben Sie allen Erns-
dem Arbeitsmarkt einigermaßen bewältigt haben. Aber
tes, dass in diesen kleineren Betrieben die Belastung für
dann werden wir auf die nächste Krise zulaufen. Das ist
die Beschäftigten weniger groß ist? Glauben Sie, dort
die Krise des Fachkräftemangels.
gibt es keine Verschleißerscheinungen? Es sind die klei-
nen und mittleren Betriebe, die nicht davon profitieren. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So
Es sind die Geringqualifizierten und die Geringverdie- ist es!)
nenden, die nicht davon profitieren. Aber bezahlen sol-
len sie es. Ich prognostiziere Ihnen: Der letzte Tag der Krise wird
der erste Tag des Fachkräftemangels sein. Deswegen ist
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann müssen wir es falsch, dass wir die hochqualifizierten älteren Be-
die Altersteilzeit ausweiten und nicht abschaf- schäftigten jetzt rauskaufen. Wir werden sie dann drin-
fen, Frau Pothmer, wenn das so ist!) gend brauchen.
Das ist Ihre Gerechtigkeitsphilosophie, und das ist die (Elke Ferner [SPD]: Aber die Jungen draußen
neue Gerechtigkeitsphilosophie der Sozialdemokraten. halten!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Für diese Krisenbewältigung haben wir das Kurzarbei-
Nach den grünen Gerechtigkeitskriterien ist das zu- tergeld. Es ist weitaus geeigneter als diese Vorruhe-
tiefst ungerecht. Deswegen lehnen wir das ab. standsregelung.
416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Brigitte Pothmer
(A) Herr Heil, noch eine andere Sache: Wirklich skanda- derzeitige Regelung zur Kurzarbeit in Anspruch neh- (C)
lös finde ich an Ihrem Gesetzentwurf, dass zukünftig nur men, in ein, zwei Jahren entlassen werden? Ist Ihnen ent-
die jungen Beschäftigten von Ihrem Vorschlag profitie- gangen
ren können, die schon einen Fuß im Betrieb haben, also
entweder diejenigen, die schon eine Ausbildung hinter (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Also,
sich haben, oder diejenigen, die in einer Ausbildung ein Ende der Krise ist nie in Sicht!)
sind. Die 340 000 Arbeitslosen unter 25 Jahren haben – Herr Weiß, wenn Sie dran sind, dürfen Sie wieder –,
nach Ihrer Auffassung offensichtlich keine Chance ver- dass es wahrscheinlich vier, fünf Jahre dauern wird, bis
dient. Das ist eine signifikante Verschlechterung des Sta- wir das frühere Beschäftigungsniveau wieder erreichen
tus quo. Diese Arbeitslosen jedenfalls haben Sie offen- werden, weil die Krise sehr lang anhaltend ist und die
sichtlich nicht mehr im Blick. momentanen Wachstumsraten nicht die durch den Ein-
Bei der Neuaufstellung der SPD wollen Sie sich of- bruch verursachten Verluste ausgleichen? Wenn das alles
fensichtlich als Partei der Arbeitsplatzbesitzer profilie- so ist, dann geht es nicht um die Frage, ob der Personal-
ren. bestand gleich bleibt. Entscheidend wird vielmehr die
Frage sein, wie viele Menschen auf Dauer nicht von den
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vorsicht mit Betrieben eingestellt werden, eben so lange nicht, bis ein
solchen Unterstellungen!) entsprechender Aufschwung einsetzt.
– Doch. Ganz offensichtlich haben die Arbeitslosen Sie Sie haben den Fachkräftemangel angesprochen. Hier
bei der letzten Wahl nicht in hinreichender Zahl gewählt. geht es doch um junge Menschen. Man muss ihnen in ei-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ach, so ein ner Situation, in der die Beschäftigung insgesamt
Quatsch! Es ist unglaublich unfair, was Sie abnimmt, die Chance geben, nicht nur vernünftig ausge-
hier machen! Schämen Sie sich! Unverschämt- bildet zu werden, sondern nach der Ausbildung auch
heit! Geschwätz!) übernommen zu werden. In allen Betrieben in meiner
Region, über die ich einen Überblick habe, kämpfen die
Deswegen haben Sie Ihr Recht verwirkt, sie weiter zu Betriebsräte darum, dass die Auszubildenden unbefristet
vertreten. übernommen werden, wobei aber die Betriebe größte
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schwierigkeiten machen.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frau Pothmer, Sie nehmen die Realität nicht zur
Herr Heil, auf ihrem Parteitag hat die SPD gesagt: Kenntnis. Sie halten nur schöne, lustige Reden. Das
„Klarer Blick im Aufbruch“. Das war die Botschaft, mit wollte ich Ihnen sagen.
(B) der Sie aus Dresden zurückgekommen sind. Ich kann nur (D)
(Beifall bei der LINKEN)
feststellen: In der Arbeitsmarktpolitik ist Ihr Blick trübe.
Ich diagnostiziere bei Ihnen eine fortgeschrittene Alters-
sichtigkeit, die Ihren Blick sehr trübt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin Pothmer, bitte.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Das ist aber Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Weitsichtigkeit!) Herr Ernst, das Drama meines Lebens ist, dass Sie
mir nicht zuhören.
Mit Aufbruch jedenfalls hat der vorgelegte Gesetzent-
wurf nichts zu tun. Das sind die Rezepte der 80er-Jahre, (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des
die schon damals mehr geschadet als genutzt haben. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Aber in den 80er-Jahren hatten Sie, Herr Heil, noch gute CDU/CSU)
Wahlergebnisse. Das ist offensichtlich der Magnet, der
Sie zurückzieht. Aber das gehört der Vergangenheit an. Ich habe Ihnen – im Prinzip zum Mitschreiben – er-
klärt, dass das Modell der Altersteilzeit nicht dazu führt,
Ich danke Ihnen. dass das Beschäftigungsvolumen in den Betrieben ab-
nimmt – anders als bei der Kurzarbeit –, sondern dazu,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
dass ältere lediglich durch jüngere Beschäftigte ersetzt
bei der CDU/CSU und der FDP)
werden.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-


Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun der Kol- NEN]: Wenn überhaupt!)
lege Klaus Ernst. – Richtig, wenn überhaupt. – Nun komme ich auf die
Frage zu sprechen, ob sich die Chancen der Auszubil-
Klaus Ernst (DIE LINKE): denden oder derjenigen, die eine Ausbildung beendet ha-
Frau Pothmer, einige Aussagen möchte ich infrage ben, dadurch tatsächlich erhöhen. Nicht nur das IAB,
stellen. Sie sagen, der Personalbestand bleibe gleich. sondern alle Forschungsinstitute sagen: Die Mitnahme-
Wie kommen Sie denn darauf? Ist Ihnen entgangen, dass effekte sind unglaublich hoch. Nicht nur die Arbeitge-
es zurzeit einen massiven Personalabbau in den Betrie- berverbände, das IAB und die BA, sondern langsam
ben gibt? Ist Ihnen entgangen, dass diejenigen, die die auch die Gewerkschaften stellen die Zukunftsfähigkeit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 417
Brigitte Pothmer
(A) dieses Modells infrage. Lesen Sie das neue Papier der IG worden. In der Regel war das ein Arbeitsplatzabbau, (C)
Metall zu dieser Frage! kein Arbeitsplatzaufbau.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wo haben Sie (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der
denn das her? Das ist ja interessant! Das ist SPD: Wo ist denn das Problem? – Klaus Ernst
spannend! Haben Sie die Überschrift verwech- [DIE LINKE]: Wollen Sie die Altersteilzeit
selt?) ganz abschaffen? Sagen Sie das doch!)
Ihre Partei, meine Damen und Herren von der Linken, Verehrte, liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
hat es in den 80er-Jahren noch nicht gegeben. Aber Sie kraten –
wären da gut aufgehoben gewesen.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das „liebe“
Ich danke Ihnen. verbitte ich mir, Herr Weiß!)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ – die Große Koalition ist noch nicht lange zu Ende, des-
DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) wegen darf ich das noch sagen –,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Hubertus Heil
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
[Peine] [SPD]: Sie werden sich bei dieser FDP
Das Wort hat nun der Kollege Peter Weiß für die noch nach uns sehnen!)
CDU/CSU-Fraktion.
ich bitte Sie, sich wirklich zu überlegen, ob es eine kluge
(Beifall bei der CDU/CSU) Strategie ist, jetzt, da die Große Koalition beendet ist
und Sie sich in der Opposition befinden, nicht nur in der
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Frage der Altersteilzeit,
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Bevor in dieser Debatte mit vielen Wortwechseln (Elke Ferner [SPD]: Sie wissen es besser, da kön-
die Dinge verunklart werden, will ich eines feststellen: nen Sie noch so laut schreien, Herr Weiß!)
Die Inanspruchnahme von Altersteilzeitregelungen ist sondern auch in immer mehr anderen Politikbereichen
auch in Zukunft in Deutschland möglich. Daran ändern das eigene Handeln infrage zu stellen.
wir gar nichts. Betriebe können auch in Zukunft Alters-
teilzeitregelungen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mit- (Elke Ferner [SPD]: Den Vorschlag haben wir
arbeitern vereinbaren. – Das ist der erste Punkt. Ihnen im Sommer schon gemacht, und Sie ha-
ben ihn abgelehnt!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
(B) Ich behaupte: Die SPD gewinnt dadurch, dass sie sich (D)
Der zweite Punkt ist: Die Altersteilzeit wird auch in plötzlich von ihrer eigenen Politik verabschiedet, nicht
Zukunft durch den Staat und die Sozialversicherungen an Glaubwürdigkeit, sondern verliert an Glaubwürdig-
gefördert, indem auf die Aufstockungsbeiträge keine keit.
Steuern und keine Sozialversicherungsabgaben gezahlt
werden müssen. Das ist eine massive Subventionierung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der Altersteilzeit durch den Steuerzahler und durch die neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in den deutschen Trotz Ihrer Lautstärke ist das vollkommener
Sozialversicherungen. Auch daran ändern wir nichts. Unsinn! – Elke Ferner [SPD]: Je lauter, umso
unrechter!)
(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE
LINKE]: Sagen Sie das den Arbeitslosen in Ih- Wer diese zusätzliche Förderung der Altersteilzeit bei
rem Wahlkreis!) Neueinstellung eines Mitarbeiters weiterführen will, der
muss dafür die entsprechenden Finanzmittel aufbringen.
Über was diskutieren wir eigentlich? Wir, die Sozial-
demokraten und die CDU/CSU in der Großen Koalition,
haben beschlossen, dass eine Regelung im Altersteilzeit- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
gesetz zum Ende dieses Jahres ausläuft: die Regelung, Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
dass dann, wenn ein Betrieb anstelle eines Mitarbeiters, Kollegen Schaaf?
der in Altersteilzeit gegangen ist, einen neuen Mitarbei-
ter einstellt, Geld der Beitragszahlerinnen und Beitrags- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
zahler von der Bundesagentur für Arbeit zusätzlich zur Ja.
Verfügung gestellt wird. Die Bilanz bis heute ist, dass in
80 Prozent der Fälle, in denen Mitarbeiterinnen und Mit-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
arbeiter eines Betriebes Altersteilzeit beantragt haben,
anschließend überhaupt niemand neu eingestellt worden Herr Schaaf, bitte.
ist.
Anton Schaaf (SPD):
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann kostet es ja
Geschätzter Kollege Weiß, würden Sie mir recht ge-
auch nichts!)
ben und zugestehen, dass der ehemalige Arbeitsminister
Sprich: Trotz der Aussicht auf zusätzliches Geld von der Olaf Scholz, SPD, schon im letzten Sommer zur Frage
Bundesagentur für Arbeit ist niemand neu eingestellt der Verlängerung der gesetzlich geförderten Altersteil-
418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Anton Schaaf
(A) zeit initiativ geworden ist und es die Union war, die ab- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
gelehnt hat, darüber überhaupt zu diskutieren? Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage des Kollegen Ernst?
(Beifall bei der SPD)
Ich möchte noch eines anfügen, was mir sehr wichtig Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
ist, weil wir beide sehr lange in verschiedenen Fragen Gut.
zusammengearbeitet haben. Ich bin der festen Überzeu-
gung, dass sich zumindest die Sozialpolitiker in der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Union ganz schnell nach dem sozialdemokratischen Bitte.
Partner sehnen werden, nach dem, was aufseiten des
neuen Partners an Marktradikalität da ist.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kennen Sie Herr Kollege Weiß, ich nehme zur Kenntnis, dass
Jürgen Rüttgers? Das wäre auch noch eine Sie sich große Sorgen um die Zukunft Ihres ehemaligen
Frage! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/ Koalitionspartners machen.
CSU]: Die Aussage gilt nicht für alle Sozialde-
mokraten!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Ich finde, menschliche Anteilnahme ist auch für einen
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Abgeordneten der Regierungsfraktionen durchaus etwas,
Erster Punkt. Verehrter Herr Kollege Schaaf, ich was man zeigen kann.
nehme an, dass Sie die Koalitionsvereinbarung zwischen
CDU/CSU und FDP mit hohem Interesse gelesen haben. Klaus Ernst (DIE LINKE):
Möglicherweise. Ihr Wahlergebnis war auch nicht so
(Anton Schaaf [SPD]: Oh ja! – Hubertus Heil besonders.
[Peine] [SPD]: Mit großem Entsetzen!)
Ich kann zum Ergebnis unserer gemeinsamen Koalitions- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
verhandlungen und zu dem, was als Koalitionsvertrag Ich weiß nicht, was an meinem Wahlergebnis nicht so
vorliegt und was die Frau Bundeskanzlerin in ihrer Re- besonders war.
gierungserklärung hier vorgetragen hat, nur sagen: Ich
glaube, dass in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auch Klaus Ernst (DIE LINKE):
(B) die neue Koalition einen Weg der Vernunft und des Ma- Lassen Sie mich meine Frage stellen. – Könnten Sie (D)
ßes beschreitet. sich vorstellen, dass Sie Ihrem ehemaligen Koalitions-
partner vielleicht ganz besonders helfen würden, wenn
(Elke Ferner [SPD]: Oh je!) Sie ihn darauf hinweisen würden, dass die Rentenpolitik,
Vor allen Dingen setzt sie darauf, dass Deutschland die dieser Koalitionspartner mit vertreten hat, nämlich
möglichst schnell aus dieser Krise herauskommt und die Rente mit 67, abgelehnt werden muss angesichts der
vielen Menschen in Deutschland neue Beschäftigungs- Tatsache, dass, wie in der Frankfurter Allgemeinen Zei-
möglichkeiten eröffnet werden. tung am 22. November 2009 zu lesen war, insgesamt
75 Prozent der Bevölkerung diese Rentenpolitik ableh-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen? Im Übrigen sind es 70 Prozent der CDU/CSU-
neten der FDP – Zuruf von der SPD: Die Frage Wähler – also auch Sie könnten davon profitieren –, im-
ist nicht beantwortet worden!) merhin 74 Prozent der SPD-Wähler und 75 Prozent
selbst der FDP-Wähler, die sich eine andere Rentenpoli-
Zweiter Punkt. Sie haben in Ihrer Frage eingangs zu tik wünschen. Könnte es also sein, dass Sie, wenn Sie Ih-
Recht angemerkt, dass es vonseiten des damaligen so- rem ehemaligen Koalitionspartner einen wirklich guten
zialdemokratischen Bundesarbeitsministers Initiativen Tipp geben wollten, ihm eher raten müssten, er solle
gab, ob wir diese zusätzliche Förderung der Altersteil- doch bitte schön die Position der Rente mit 67 grund-
zeit noch einmal verlängern sollten. Ich will Ihnen aber sätzlich überdenken?
auch sagen – darauf werde ich in meiner Rede zurück-
kommen, um nicht meine ganze Rede in der Antwort un- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das war ein
terzubringen, was man auch machen kann, um die Rede- pfiffiger und intelligenter Beitrag!)
zeit zu verlängern –: Wir haben uns auf eine Reihe
weiterer Maßnahmen verständigt, um gerade jungen Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Menschen zusätzlich zu helfen, einen Zugang zum Ar- Herr Kollege Ernst, ich denke, dass ich mit der Ver-
beitsmarkt zu erlangen. Ich glaube, die Bilanz der Gro- mutung nicht falsch liege, dass vor allen Dingen Sie und
ßen Koalition ist, wenn wir auch den einen Wunsch der Ihre Fraktion in den nächsten vier Jahren noch für viele
Sozialdemokraten abgelehnt haben, dass wir insgesamt Rentendebatten in diesem Hause sorgen werden, bei de-
ein Instrumentarium gerade der Förderung der Beschäf- nen wir dieses Thema noch einmal ausführlich bespre-
tigungsmöglichkeiten junger Leute geschaffen haben, chen können.
das sich sehen lassen kann.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Politik nach
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stimmung!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 419
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) Ich glaube, der Punkt ist folgender: Erstens. Es ist nicht an die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg überwei- (C)
Aufgabe eines frei gewählten Abgeordneten, Politik da- sen,
nach zu machen, welche Stimmung gerade herrscht. Wir
haben zuallererst Politik danach zu machen, was für die (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Klientel-
Zukunft unseres Volkes und vor allem für die Zukunft politik!)
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch- und wir wollen das auch tun.
land notwendig ist.
In einer solchen Finanzsituation muss man die Frage
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stellen: Was sind die wirklich effektiven Arbeitsmarkt-
neten der FDP) instrumente, um Beschäftigung in Deutschland zu si-
Das Zweite ist: Wenn Umfragen gemacht werden, chern?
antworten Menschen verständlicherweise aus ihrer Be- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hotelübernach-
troffenheit jetzt und heute heraus. Ich will Sie darauf tungen sponsern!)
aufmerksam machen, dass wir in der Großen Koalition
von CDU/CSU und SPD beschlossen haben, die Regel- Das wichtigste Instrument, zu dessen Anwendung wir
altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung bis uns in der Großen Koalition gemeinsam entschieden ha-
zum Jahr 2029 auf 67 Jahre anzuheben. Das ist das Jahr, ben, war und ist die Möglichkeit, den Bezug des Kurz-
in dem der Übergang der geburtenstarken Jahrgänge in arbeitergeldes zu verlängern. Das ist das wichtigste In-
das Rentenalter seinen Höhepunkt erleben wird. strument in der Krise. Wir wenden erhebliches Geld auf,
um Beschäftigung in Deutschland zu sichern.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Mit meiner Frage
hat das jetzt nichts mehr zu tun!) Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit noch einmal
ausdrücklich dafür bedanken, dass die Bundesregierung
Danach wird Jahr für Jahr ein Drittel weniger junge gestern auf Initiative des neuen Bundesarbeitsministers
Leute in Beschäftigung gehen können, als Ältere in Dr. Jung
Rente gehen. Deswegen ist das Projekt der Rente mit 67
ein Zukunftsprojekt, Herr Ernst. (Zuruf von der LINKEN: Ist er denn noch
Arbeitsminister?)
(Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder
[CDU/CSU]: Er setzt sich!) beschlossen hat,
– Die Kollegen von der Linksfraktion setzen sich des- (Elke Ferner [SPD]: Das hat der alte Bundes-
halb immer vorzeitig hin, weil sie gar keine Antwort auf arbeitsminister schon fix und fertig liegen ge-
(B) eine Frage erwarten. habt!) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE dass Kurzarbeitergeld auch im nächsten Jahr nicht
LINKE]: Nein, weil Sie keine Antworten ha- 6 Monate, wie ursprünglich gesetzlich geregelt, sondern
ben, Herr Weiß! Das ist das Problem!) 18 Monate lang bezogen werden kann.
Wer die zusätzliche Förderung der Altersteilzeit noch (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum nicht
einmal verlängern will, muss auch über Geld sprechen. 24 Monate?)
Nun ist es so, dass mit Unterstützung der beiden damali-
gen Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD der dama- Diese Entscheidung von gestern ist das wichtigste Signal
lige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz den Beitrags- für das nächste Jahr: Wir sichern Beschäftigung in
satz zur Arbeitslosenversicherung für dieses Jahr und Deutschland durch eine längere Bezugszeit von Kurzar-
für das kommende Jahr 2010 auf 2,8 Prozent festgesetzt beitergeld.
hat, eine richtige Festsetzung, weil wir gerade in der Kri- (Beifall bei der CDU/CSU)
sensituation Beitragszahlerinnen und Beitragszahler
nicht zusätzlich belasten wollen. Hinzu kommt – auch das haben wir gemeinsam poli-
tisch beschlossen; so steht es im Gesetz –, dass die Bun-
(Elke Ferner [SPD]: Die Arbeitslosigkeit be-
desagentur für Arbeit auch während des gesamten Jahres
lastet aber die Beitragszahler nicht, oder?)
2010 die Sozialversicherungsbeiträge ab dem siebten
Ich hoffe, dass die Sozialdemokraten jetzt nicht noch ei- Monat des Bezuges von Kurzarbeitergeld zu 100 Prozent
nen Antrag stellen, dass wir die Festsetzung auf 2,8 Pro- erstattet. Das ist ein wichtiger, für viele Betriebe viel-
zent rückgängig machen. leicht sogar der ausschlaggebende Grund, Kurzarbeiter-
regelungen zu wählen und keine Entlassungen vorzuneh-
Wie Sie wissen, kommt auf die Bundesagentur für men.
Arbeit ab dem kommenden Jahr ein massives Finanzie-
rungsdefizit zu. Voraussichtlich müssen wir 16 Milliar- In dieser finanziellen Situation sollten wir uns tat-
den Euro an Bundesmitteln – wir haben sie nicht; wir sächlich darauf konzentrieren, die Mittel aus der Bun-
müssen sie also durch zusätzliche Schuldenaufnahme fi- deskasse für die Bundesagentur für Arbeit – sie sind oh-
nanzieren – nehin nicht ausreichend vorhanden, sondern wir müssen
sie zusätzlich beschaffen –
(Elke Ferner [SPD]: Mit dem Geld, das Sie
darüber hinaus nicht haben, senken Sie dann (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Durch Steuer-
die Steuern!) senkungen beizubringen!)
420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Peter Weiß (Emmendingen)


(A) für das effektivste arbeitsmarktpolitische Instrument ein- (Anton Schaaf [SPD]: Genau! Unternehmen- (C)
zusetzen und nicht für Instrumente, bei denen sich schon steuern senken!)
in der Vergangenheit gezeigt hat, dass sie gar nicht zur
Das ist jetzt in der Krise die Kurzarbeitergeldregelung.
Beschäftigungssicherung taugen.
In diesem Sinne hat die neue Koalition bereits gehandelt.
(Beifall bei der CDU/CSU – Elke Ferner Wir setzen auf Zukunft und nicht auf Vergangenheit.
[SPD]: Dann frage ich mich, warum Sie das Vielen Dank.
mit der FDP 1996 eingeführt haben, Herr
Weiß!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Zuruf von der LINKEN: Auf
Zu Recht ist auf die Situation der jungen Menschen Wiedersehen!)
in der Krise hingewiesen worden. Da der Kollege Schaaf
vorhin danach gefragt hat, will ich noch einmal aus-
drücklich erwähnen: Die Große Koalition hat zum Ende Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
der letzten Legislaturperiode mit dem Ausbildungsbo- Nun hat die Kollegin Anette Kramme für die SPD das
nus ein wichtiges Instrument geschaffen, um vor allen Wort.
Dingen jungen Menschen, die einen erschwerten Zugang (Beifall bei der SPD)
zum Arbeitsmarkt haben, eine zusätzliche Hilfe zu ge-
ben. Der Ausbildungsbonus ist ein wichtiges neues ar- Anette Kramme (SPD):
beitsmarktpolitisches Instrument, um jungen Menschen
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
eine Brücke in Arbeit zu ermöglichen.
Kollegen! Herr Weiß, Sie haben sich gerade netterweise
(Beifall bei der CDU/CSU) daran erinnert, dass Herr Scholz doch für die Altersteil-
zeit gekämpft hat. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie 2005
Kurzarbeitergeld ist nicht nur eine Hilfe, dass Men- bei den Koalitionsverhandlungen dabei waren. Wenn Sie
schen, die schon in Beschäftigung sind, insbesondere äl- dabei gewesen wären, würden Sie sich – da bin ich mir
tere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihren Ar- ganz sicher – auch erinnern, dass sich Herr Müntefering
beitsplatz nicht verlieren; Kurzarbeitergeld ist darüber damals schon für eine Verlängerung der Altersteilzeitre-
hinaus auch eine Hilfe, Beschäftigungsmöglichkeiten für gelungen eingesetzt hat.
junge Menschen zu schaffen. Die von der SPD in ihrem
Antrag angesprochenen Auszubildenden, die zum Ab- Meine sehr geehrten Damen und Herren, an sich
schluss ihrer Ausbildung darauf hoffen, übernommen zu könnten wir Party feiern.
werden, können dank Kurzarbeitergeld übernommen (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]:
(B) werden. Ein Betrieb kann einen jungen, fertig ausgebil- Würde ich an eurer Stelle nicht! 19!) (D)
deten Menschen einstellen und ab dem ersten Tag der
Anstellung Kurzarbeitergeld Null beantragen. Die Altersteilzeit ist ein langjährig erprobtes Arbeits-
marktinstrumentarium, das sich bewährt hat. Ich be-
Angesichts dessen ist unsere Kurzarbeitergeldrege- fürchte aber, die Feier wird ausfallen, wenn Schwarz-
lung auch eine Perspektive für junge Menschen. Be- Gelb keine Vernunft annimmt.
triebe können sagen: Jawohl diesen jungen Mann, diese
junge Frau brauchen und wollen wir; unser Betrieb hat Sie, liebe Frau Connemann, haben erwähnt, dass 2008
zurzeit zwar nicht genügend Arbeit; wir hoffen aber, die Altersteilzeit 1,8 Milliarden Euro gekostet hat. Das
dass es in den nächsten Monaten wieder aufwärtsgeht; ist richtig. Sie wissen wahrscheinlich auch, dass die zu-
wir stellen ihn oder sie ein. Machen wir erst einmal künftigen Kosten niedriger eingeschätzt werden. Wir ha-
Kurzarbeitergeld Null und hoffen, dass wir für die Be- ben nämlich Modifikationen am Altersteilzeitgesetz vor-
treffenden dann bald auch ausreichend Arbeit haben, um genommen. Ich gebe zu: Damit einher geht eine Menge
sie richtig beschäftigen zu können. an finanziellen Belastungen, zugegebenermaßen keine
Kleinigkeit. Aber, Frau Connemann, Sie werden mir
Deswegen eröffnet die von uns vorgenommene Ver- auch zugestehen, dass das im Vergleich zu den Steuer-
längerung der Kurzarbeitergeldregelung auch eine Be- entlastungen, die Sie für Ihre Klientel vornehmen – für
schäftigungsperspektive für die jungen Leute in unserem Erben, für Unternehmer, für Hotelketten –, eine unbe-
Land. Diese Möglichkeit sollte man bitte beachten und achtliche Größenordnung ist. Es ist blanker Zynismus,
auch nutzen. wenn eine Regierung, die Geschenke an ihre Klientel
(Beifall bei der CDU/CSU – Brigitte Pothmer verteilt und das Ganze „Wachstumsbeschleunigungsge-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie war das setz“ nennt, eine sinnvolle Verlängerung der Altersteil-
eigentlich mit Ihrer Redezeit, Herr Weiß?) zeitregelungen ablehnt.
(Beifall bei der SPD – Gitta Connemann
Ich fasse zusammen: Die Herausforderungen der Zu-
[CDU/CSU]: Beiträge aus der Arbeitslosen-
kunft, vor denen wir insbesondere im Hinblick auf die
kasse!)
Bewältigung der Krise stehen, meistern wir nicht, indem
wir zu alten Rezepten der Arbeitsmarktpolitik, die viel- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich die
leicht früher einmal gestimmt haben, zurückkehren. Arbeitsmarktpolitik von Schwarz-Gelb anschaut, dann
Wenn die Mittel knapp sind, dann gilt erst recht: Kon- stellt man eines fest: Sie ist nicht nur ideenlos, sie ist
zentration auf die Instrumente, die am effektivsten Be- nicht existent. Sie haben sich zwar gestern zur Kurzar-
schäftigung sichern. beit geäußert. Das ist richtig. Ich frage mich, ob Sie mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 421
Anette Kramme
(A) Ihren neuen Regelungen tatsächlich etwas bewirken 15 Jahren in den Beruf eingestiegen sind und die deshalb (C)
werden. Es trifft zu: Kurzarbeit war für das Jahr 2009 ein auch einfach nicht mehr wollen.
großartiges Instrument, von Olaf Scholz damals an die
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Krise wird sich
Bedürfnisse angepasst. Ich bin mir sicher, dieses Instru-
auf dem Arbeitsmarkt noch jahrelang auswirken. Die
ment wird auch in 2010 noch beachtliche Wirkungen
Umsätze in den Firmen sind zwar teilweise angestiegen,
entfalten. Wir müssen aber auch eines sehen: Es wird
aber sie sind von denen des Jahres 2008 noch weit ent-
immer mehr Firmen geben, die sich Kurzarbeit nicht
fernt. Altersteilzeit nutzt somit auch den Jungen. Es ist
leisten können,
auch Fairness gegenüber den Jungen. Der DGB hat im
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Glauben Sie, letzten Sommer festgestellt, dass die Jugendarbeitslo-
die können sich Altersteilzeit leisten? – sigkeit dreimal stärker angestiegen ist als die Arbeitslo-
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die können sich sigkeit im Bereich der anderen Arbeitnehmer und Arbeit-
aber Altersteilzeit auch nicht leisten!) nehmerinnen. Gerade die Schwelle zum Berufseinstieg
ist seit Jahren eine große Hürde, die es zu überwinden
vor allen Dingen zu den neuen Bedingungen. Es wird
gilt.
auch immer mehr Firmen geben, die Kurzarbeit nicht
mehr länger betreiben wollen, weil sie die zukünftigen Außerdem haben wir auf dem Arbeitsmarkt noch un-
Probleme sehen. Deshalb wäre es an sich erforderlich, endlich viele Altbewerber, die versorgt werden müssen.
dass Sie eine Fortschreibung arbeitsmarktpolitischer In- Mit der Altersteilzeit erhöhen wir die Chancen. Sie ist
strumente in der Krise vornehmen. ein ganz beachtlicher Arbeitsmarktfaktor. Immerhin gibt
es 500 000 Altersteilzeitfälle gleichzeitig. Das betrifft
(Zurufe des Abg. Max Straubinger [CDU/
20 Prozent aller Beschäftigten. Die geförderte Altersteil-
CSU])
zeit nimmt – das ist richtig – davon nur einen Anteil von
Ich sehe aber nicht, dass Sie sich zum Beispiel mit dem 100 000 ein.
Instrumentarium der Transfergesellschaft beschäftigen,
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
das sicherlich viel effizienter gestaltet werden könnte.
Was für ein Missverhältnis! – Elke Ferner
Und bezüglich des Umganges, den Sie mit der Altersteil-
[SPD]: Wo ist das Problem?)
zeit pflegen, kann man nur sagen: Das ist ein rein ideolo-
gischer Umgang mit einem vernünftigen Instrumenta- Aber wir müssen eines sehen: Die geförderte Altersteil-
rium. zeit ist das Zugpferd für die gesamte Altersteilzeit. Un-
endlich viele Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge
(Beifall bei der SPD) knüpfen an die geförderte Altersteilzeit an, und viele
Altersteilzeit steht schon lange nicht mehr für Früh- dieser Regelungen laufen aus.
(B) (D)
verrentungspolitik. Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, Sie
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- machen vielen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen
NEN]: Ach Gott! – Weiterer Zuruf der Abg. vieles kaputt, wenn Sie dem Altersteilzeitantrag nicht
Gitta Connemann [CDU/CSU]) zustimmen.
Altersteilzeit ist mittlerweile zu einem Instrumentarium (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wir sparen
geworden, das dazu dient, Arbeitnehmer an die Regelal- vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
tersgrenze heranzuführen. die Versicherungsbeiträge!)
(Widerspruch der Abg. Brigitte Pothmer Sie sollten deshalb noch einmal nachdenken. Sie wissen
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) vielleicht: Hochmut kommt vor dem Fall.
Altersteilzeit verhindert Existenzabstürze. Ich sage: Al- In diesem Sinne herzlichen Dank.
tersteilzeit ist wesentlich besser als Arbeitslosigkeit und (Beifall bei der SPD)
der Bezug von Arbeitslosengeld. Es ist ein vernünftiger
Übergang in die Rente. Wir verhindern Altersarmut,
wenn über einige Jahre höhere Beiträge in die Renten- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
versicherung eingezahlt werden, und zwar fast in der Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
Höhe von Vollzeitarbeit. für die FDP-Fraktion.
Das Durchschnittsalter bei der Altersteilzeit ist in (Beifall bei der FDP)
den letzten zehn Jahren von 57,7 auf 59,1 Jahre gestiegen.
Immer mehr Altersteilzeitbeschäftigte gehen erst mit Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
63 Jahren oder noch später in Rente. Altersteilzeit ist vor Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
allem eines: Fairness. Es ist Fairness gegenüber denjeni- Wenn man sich die Debatte in ihrem bisherigen Verlauf
gen, denen ansonsten gekündigt würde, Fairness gegen- einmal zusammenfassend vor Augen führt, kann man sa-
über denjenigen, die nicht mehr können und trotzdem gen: Herr Heil, Frau Kramme, das wird nichts! Eine
nicht die Erwerbsminderungsrente bewilligt bekommen. breite Mehrheit in diesem Hause, die über die ohnehin
Das betrifft beispielsweise den Pflege- und Sozialbereich. breite Mehrheit der Koalition noch hinausgeht, lehnt Ihr
Gerade dort sind besonders viele Altersteilzeitfälle zu be- Vorhaben ab, und das ist auch gut so. Ihr Vorschlag ist
obachten. Es ist Fairness auch gegenüber denjenigen, die ein Modell von gestern. Ich freue mich, dass es jetzt im
unendlich lange gearbeitet haben, die mit 14 oder Koalitionsvertrag gelungen ist, das Auslaufen der
422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) beitragsgeförderten Altersteilzeit zu vereinbaren. Ich Vierter Punkt. Es gehen auch Arbeitnehmer mit (C)
bin lange genug dabei, um sagen zu können, dass die höheren Einkommen in Altersteilzeit, während Arbeit-
FDP die erste Fraktion in diesem Hause war, die Ab- nehmer in einfachen Arbeitsverhältnissen vielfach ge-
stand von diesem beitragsfinanzierten Altersteilzeitmo- rade nicht von dieser Regelung profitieren.
dell genommen hat und schon seit Jahren darauf hin-
weist, dass es Zeit ist, dieses Modell zu beenden. Ihr Fünfter Punkt. Für mich ist auch die überproportio-
Motto, Herr Heil, Frau Kramme, ist: Vorwärts, Leute, es nale Nutzung der Altersteilzeit durch Großunter-
geht zurück! Ich sage Ihnen: Wir, eine Mehrheit in die- nehmen interessant. In den Betrieben mit mehr als
sem Hause, gehen diesen Weg nicht mit. 1 000 Beschäftigten arbeiten 14 Prozent der sozialversi-
cherungspflichtig Beschäftigten zwischen 55 und 64 Jah-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ren. Aber fast 30 Prozent der Altersteilzeitler kommen
aus diesen Unternehmen. Das heißt, die Großen profitie-
Dafür gibt es gute Gründe, Frau Kramme und auch
ren und die Kleinen zahlen. Wir sind nicht bereit, das
Anton Schaaf. Der wichtigste aus meiner Sicht ist: Die
länger mitzumachen. Deswegen sind wir froh, dass die
Beschäftigungsbrücke trägt nicht. Es ist über lange Jahre
beitragsfinanzierte Altersteilzeit jetzt ausläuft.
eine Lebenslüge der deutschen Sozialpolitik gewesen,
dass man für jeden Älteren, den man in den Ruhestand (Beifall bei der FDP)
schickt, einen Jüngeren einstellt. Das hat insgesamt nie
funktioniert. Im Gegenteil: Die Wiederbesetzungs- Die großen Unternehmen – das hat Peter Weiß zu
quote ist seit der Verabschiedung des Altersteilzeitgeset- Recht gesagt – können so weitermachen, wenn sie das
zes von 43 auf heute nur noch 34 Prozent gesunken. Das wollen – aber dann bitte auf eigene Kosten. Natürlich
heißt, zwei von drei Arbeitsplätzen bleiben unbesetzt. bleibt die Steuervergünstigung in der Regel erhalten.
Man kann daher nicht sagen, dass dieses Modell erfolg- Aber es kann nicht mehr auf Kosten der Beitragszahler
reich gewesen wäre. gehandelt werden.

(Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Elke Sechster Punkt. Sagen Sie bitte nicht, das Ganze kos-
Ferner [SPD]) tet doch am Ende gar nicht so viel. Es sind brutto
1,4 Milliarden Euro und netto 1 Milliarde Euro. Das ist
Zweiter Punkt. In der Regel wird das Blockmodell aus unserer Sicht schon eine relevante Größenordnung.
gewählt. Neun von zehn Altersteilzeitlern wählen dieses Das Entscheidende ist: Es kostet zu viel und bringt zu
Modell. Das führt im Ergebnis dazu – da stimme ich mit wenig. Auch das ist ein wichtiges Argument, die Alters-
Brigitte Pothmer vollkommen überein –, dass wir die teilzeit zu beenden.
Menschen früher in den Ruhestand schicken. Das halten
wir für falsch. Es wird immer gesagt, die jüngeren Fach- Es gibt zu diesem Thema einiges an Literatur. Ich
(B)
arbeiter müssten eine Chance haben. Aber auch die älte- finde es interessant, dass auch aus den Bundesländern (D)
ren Menschen sind Facharbeiter; sie sind sogar mehr als Initiativen kommen. Die Länder Rheinland-Pfalz und
das: Sie sind Erfahrungsträger und Träger sozialer Kom- Bremen haben einen Antrag eingebracht, der eine be-
petenz, die in den Betrieben eine wichtige Rolle spielen. merkenswerte Analyse enthält. Leider kommt er am
Schluss zu dem falschen Ergebnis, man müsse die Al-
(Elke Ferner [SPD]: Freiwillig machen die tersteilzeit verlängern. Ich will Ihnen die Analyse, die
das, Herr Kolb! Wir geben ihnen die Freiheit, ich durchaus teile, aus der Bundesratsdrucksache 842/09
das selbst zu entscheiden!) einmal vortragen:
Es ist daher wichtig, dass man eine ausgewogene Mi- Notwendig ist daher die Weiterentwicklung von In-
schung von Jüngeren und Älteren in den Betrieben er- strumenten, die einen flexiblen Übergang aus dem
reicht. Diese Balance geht aber verloren, wenn die Älte- Erwerbsleben in die Ruhestandsphase, die einer-
ren per Altersteilzeit aus den Betrieben herausgedrängt seits individuelle Entscheidungsmöglichkeiten ver-
werden. bessern bzw. neu eröffnen, und andererseits einer
Der dritte Punkt müsste Sie eigentlich nachdenklich nachhaltigen Finanzierung des Sozialstaates ent-
machen, weil Sie doch immer Kämpfer für die Schwa- sprechen.
chen und Entrechteten sein wollen: Es sind eben nicht Darauf, liebe Kolleginnen und Kollegen, will ich Ihr Au-
die Angehörigen der körperlich belastenden Berufe, genmerk lenken: individuelle Entscheidungsmög-
die mehrheitlich von der Altersteilzeit Gebrauch ma- lichkeiten, Verbesserung der Nachhaltigkeit unseres
chen. Es sind vielmehr – hören Sie genau hin! – die Sozialstaates.
Bankkaufleute und die Versicherungskaufleute – sie ge-
hören nicht unbedingt zur Klientel der SPD –, die die Al- Dann sind wir sehr schnell bei den Überlegungen, die
tersteilzeit regelmäßig wählen. Auf den nächsten Plätzen die FDP als Partei und die FDP-Fraktion im Deutschen
in der Statistik folgen bei den Frauen die Lehrerinnen Bundestag schon bisher vorgetragen haben und die ich
und bei den Männern die Chemiearbeiter. Ihrer eingehenden Lektüre empfehle.
(Elke Ferner [SPD]: Waren Sie schon einmal (Elke Ferner [SPD]: Kann sich kein Mensch
in einer Chemiefabrik?) leisten!)
Man kann doch nicht sagen, dass diese Menschen nicht Ich habe den Eindruck, dass sich diejenigen, die sich mit
so lange arbeiten können. Offensichtlich spielen da ganz dem FDP-Modell für einen flexiblen Übergang vom Er-
andere Überlegungen eine Rolle. werbsleben in den Ruhestand auf der Basis einer eige-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 423
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) nen, freien Entscheidung bei Wegfall aller Zuverdienst- stärker als eine gute Idee, deren Zeit gekommen ist. In (C)
grenzen beschäftigt haben, den kommenden vier Jahren werden wir uns sicherlich
mit diesem Vorschlag noch öfter beschäftigen.
(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
dies bisher nur sehr oberflächlich getan haben. Sie wer-
den feststellen: Mit unserem Modell kann die Lücke ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
füllt werden. Ich bin in einem Punkt durchaus bei Ihnen:
Wenn man die Altersteilzeit abschafft und die Regelal-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
tersgrenze bei 67 Jahren belässt, dann sollte es ein ent-
sprechendes Angebot geben. Denn ansonsten nimmt der Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat jetzt
Druck in Richtung Erwerbsminderungsrente deutlich zu. das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ein solches geeignetes Instrument sehe ich eher in unse-
rem Vorschlag. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN):
(Elke Ferner [SPD]: Das kann sich doch keiner
leisten!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Grünen sind entschieden dafür, Teilzeitarbeit im Al-
Lassen Sie jetzt einmal die Vollrente weg, Frau Ferner. ter zu fördern, um den Arbeitsmarkt zu entlasten und ei-
Wir sehen in unserem Modell Möglichkeiten für eine nen gleitenden Übergang in den Ruhestand zu ermög-
Teilrente vor. lichen. Insofern klingt „geförderte Altersteilzeit“ erst
einmal ganz gut. Aber vielleicht nehmen Sie einmal zur
(Elke Ferner [SPD]: Das haben wir schon vor-
Kenntnis – ich wiederhole mich zum x-ten Mal –, dass
geschlagen, als Sie noch darüber nachgedacht
das, was als „geförderte Altersteilzeit“ bezeichnet wird,
haben!)
ein Etikettenschwindel ist; denn 90 Prozent der Betroffe-
Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, das nen – diese Zahl ist schon des Öfteren genannt worden –
IAB, das nicht unbedingt ein Sprachrohr des Thomas- arbeiten nicht in Teilzeit, sondern in Blockteilzeit, die
Dehler-Hauses ist, schlägt vor, dass man die Möglichkei- zunächst eine Vollzeitarbeit ist und dann zu einem frühe-
ten, eine Teilrente in Anspruch zu nehmen, verbessert. ren Ausstieg führt. Dies ist gar keine Teilzeit,
(Elke Ferner [SPD]: Schauen Sie mal in unser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wahlprogramm hinein, Herr Kolb!)
sondern ein früherer vollständiger Ausstieg aus dem Er-
Wir sollten die Menschen entscheiden lassen, Frau werbsleben.
(B) Ferner. Welchen Grund gibt es – ich frage Sie sehr direkt –, (D)
einem Rentner, der nach einer Altersteilzeit in Form ei- Auf die fehlenden Arbeitsmarkteffekte ist meine Kol-
nes Blockmodells in den Ruhestand geht, anschließend legin Brigitte Pothmer schon überzeugend eingegangen.
vorzuschreiben, dass er nur noch 400 Euro verdienen Vielleicht sollten Sie noch einmal darüber nachdenken.
darf? Es gibt keinen Grund, wenn seine Rente über dem Von einem gleitenden Übergang ins Alter – Herr Kolb
Niveau der Grundsicherung liegt. Da beschneiden Sie hat es eben schon angesprochen – ist da keine Spur. In-
die Entscheidungsmöglichkeiten des Einzelnen. Wir sofern gehen der vorliegende Gesetzentwurf der SPD
wollen ändern, dass jemand, der raus aus dem System und der Antrag der Linken völlig an den Problemen vor-
ist, nicht mehr zurückkommt. bei und bieten keine Lösungen, sondern schreiben eine
schlechte und teure Lösung fort.
(Elke Ferner [SPD]: Arbeiten bis zum Umfal-
len, das ist Ihre Welt!) Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD und der
Linken, Sie behaupten immer, dass Sie die Interessen der
Deswegen sagen wir: Die Menschen entscheiden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten. Was
selbst, ob und in welchem Umfang sie in den Ruhestand Sie hier vorlegen, liegt allerdings überhaupt nicht im In-
gehen wollen, gerne auch in Form eines Teilrentenbezu- teresse der Erwerbstätigen.
ges als Alternative zur Altersteilzeit. Die Menschen sol-
len selber entscheiden, was sie hinzuverdienen wollen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das sehen die
Es gibt keinen Grund, sie zu bevormunden. Das ist ein anders!)
liberaler Ansatz.
Es ist ja richtig: Vielen ist nicht zuzumuten, dass sie bis
Wenn die heutige Debatte – wie gesagt, der Gesetz- 65 oder demnächst bis 67 arbeiten; denn sie können ein-
entwurf, Frau Kramme, wird wahrscheinlich abgelehnt fach nicht mehr. Aber die meisten Menschen wollen
werden; das deutet sich an – trotzdem einen Sinn gehabt nicht von heute auf morgen komplett aufhören, sondern
hat, dann ist es der, dass ich Ihnen das noch einmal vor- wünschen sich einen gleitenden Übergang in den Ruhe-
tragen stand. Nehmen Sie das doch mal zur Kenntnis! Wenn Sie
mit den Erwerbstätigen reden, bekommen Sie das mit.
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU –
Elke Ferner [SPD]: Der Koalitionspartner ist (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ich lade Sie ein in ei-
begeistert, Herr Kolb!) nen Betrieb! Dann reden Sie mal mit denen!)
und darum werben durfte, sich mit unserem Modell ob- – Ich rede sehr oft mit Erwerbstätigen und komme selber
jektiver als bisher zu befassen. Ich bin sicher: Nichts ist aus einer Arbeiterfamilie.
424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie sollten mal zu- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
hören, was die sagen! Mir erzählen die etwas Herr Kollege.
anderes!)
Ich habe sehr viele Erfahrungen aus dem engeren per- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
sönlichen Umfeld. Daher brauchen Sie nicht die ganze DIE GRÜNEN):
Zeit dazwischenzurufen. Ich bin gespannt auf die Vorschläge von allen Seiten
und freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den nächsten vier Jahren.
sowie der Abg. Gitta Connemann [CDU/
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
CSU])
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wir brauchen flexiblere Möglichkeiten, sowohl spä- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ter als auch früher in Rente zu gehen, und mehr Mög-
lichkeiten, Erwerbstätigkeit und Rentenbezug miteinan-
der zu verbinden. Wir sollten uns von der Vorstellung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
verabschieden, dass wir bis zu einem bestimmten Alter Der Kollege Max Straubinger hat das Wort für die
in Vollzeit arbeiten und dann Knall auf Fall nichts mehr CDU/CSU-Fraktion.
tun. Das schadet vielen Erwerbstätigen. Ich selber habe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
das in meinem persönlichen Umfeld erfahren. Es ist für
viele Menschen ein Problem, wenn sie ihren Arbeits-
Max Straubinger (CDU/CSU):
platz von heute auf morgen komplett verlassen müssen.
Insofern vertreten Sie nicht die Interessen der Erwerbstä- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
tigen in diesem Land. Man merkt es: Der Wettbewerb zwischen SED/Links-
partei und SPD ist in diesem Haus angekommen. Nur
Andere Länder sind schon wesentlich weiter, vor al- unter diesem Gesichtspunkt ist der eingereichte Gesetz-
len Dingen die Länder in Skandinavien. Dort gibt es entwurf zu erklären.
wesentlich flexiblere Möglichkeiten, den Rentenbezug (Elke Ferner [SPD]: Herr Straubinger!)
teilweise vorzuziehen und dies mit einer reduzierten Er-
werbstätigkeit zu verbinden. Die Länder in Skandina- Er wurde seinerzeit etwas frühzeitig vom Arbeitsminis-
vien sind ja eher sozialdemokratisch und weniger neoli- ter Scholz vorbereitet.
beral ausgerichtet. Das wird den Lebensbedingungen der
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir bleiben uns
Einzelnen wesentlich besser gerecht, als dies bei uns der
(B) Fall ist. Das Ergebnis dort ist, dass im Durchschnitt die treu!) (D)
Erwerbsbeteiligung im Alter gestiegen ist und deutlich Es wundert mich, dass er heute nicht anwesend ist, ob-
höher liegt als bei uns. Das ist ein großer Erfolg dieser wohl es doch sein Antrag war.
Regelung. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, tatsäch-
lich früher in den Ruhestand zu gehen. Auch das ist sehr (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Er muss
sinnvoll. Insgesamt betrachtet muss man darauf achten, arbeiten!)
dass es möglich sein muss, einfacher, unbürokratischer Offensichtlich ist die Distanz zu diesem Antrag schon so
und sozial abgesichert in den vorzeitigen Ruhestand zu groß.
gehen. Das ist die Richtung, in die wir auch gehen soll-
ten. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist denn ei-
gentlich Herr Jung? – Elke Ferner [SPD]: Der
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass wir es den Arbeitsminister scheint noch seine Altlasten
Menschen schuldig sind, gerade vor dem Hintergrund wegzuräumen! – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
des demografischen Wandels und längerer Lebenserwar- Räumt der Jung schon seinen Schreibtisch?)
tungen, mehr Möglichkeiten zu schaffen, wie sie den
Ich glaube, dass es um etwas Entscheidendes geht, und
Übergang in den Ruhestand selbst gestalten können.
wir werden dies im weiteren Verlauf sicherlich noch
Eine Verlängerung der geförderten Altersteilzeit, wie Sie
mehrmals diskutieren. Ob es für die SPD immer gut aus-
das vorschlagen, trägt dazu überhaupt nicht bei.
geht, das wage ich zu bezweifeln.
Wir Grüne setzen nach skandinavischem Vorbild auf Es geht darum, nachzudenken, wie für ältere Bürge-
eine Stärkung des Konzepts der Teilrente, – rinnen und Bürger der Übergang in die Rente flexibler
gestaltet werden kann. Das ist sicherlich immer eine in-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: teressante Frage. Vor allen Dingen ist es aber wichtig, al-
Herr Kollege. tersgerechte Arbeitsplätze in unseren Betrieben zur Ver-
fügung zu stellen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ Ich möchte ausdrücklich feststellen, dass wir in den
DIE GRÜNEN): vergangenen vier Jahren durchaus gute Grundlagen da-
für geschaffen haben.
– wobei auch bei frühzeitigem Ausstieg aus dem Er-
werbsleben eine existenzsichernde Rente gewährleistet (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit Alters-
sein muss. teilzeit?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 425
Max Straubinger
(A) Das belegen auch die Zahlen, die ich hier nennen zusammenbrechen wird. Ich sehe eine völlig andere Per- (C)
möchte. Deshalb bin ich über die Begründung, warum spektive: Ich bin davon überzeugt, dass wir einen stabi-
die geförderte Altersteilzeit um weitere fünf Jahre ver- len Arbeitsmarkt haben werden. Das zeigt sich auch da-
längert werden soll, die die SPD in ihrem Gesetzentwurf ran, dass für die Altersgruppe der 50- bis 54-Jährigen
liefert, schon etwas verwundert. Sie begründen es sowie für die Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen wäh-
– wenn ich es kurz darstellen darf – damit, dass ältere rend der Krise, die im September 2008 begonnen hat,
Menschen über 50 Jahre und junge Menschen unter mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsver-
25 Jahren angeblich überproportional von Arbeitslosig- hältnisse entstanden sind. Das heißt: mehr Beschäfti-
keit bedroht bzw. dieser ausgesetzt sind. gung für ältere Bürgerinnen und Bürger.
Ich darf Ihnen einen Hinweis mit auf den Weg geben, (Elke Ferner [SPD]: Sind die Generationen da
weil ich mir nicht vorstellen kann, dass sich innerhalb vielleicht reingewachsen?)
von vier Monaten der Blickwinkel derart geändert hat.
Deshalb zielt dieser Gesetzentwurf völlig an der Sache
Die Fraktion Die Linke hat am 17. Juni dieses Jahres
vorbei.
eine Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag zu diesem
Thema gestellt. Was der zuständige Bundesarbeitsminis- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ter Olaf Scholz damals geantwortet hat, ist in der Druck-
sache 16/13751 vom 7. Juli nachzulesen. Ich zitiere: Heute wurde vielfach bereits dargelegt, dass die Sa-
che mit der Altersteilzeitregelung nicht vorbei ist. Es
Die in der Vorbemerkung der Fragesteller vertre- gibt weiterhin die Möglichkeit für die Tarifparteien,
tene Auffassung einer grundsätzlich verschlechter- entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Es ist bemer-
ten Arbeitsmarktlage Älterer wird von der Bundes- kenswert, dass insbesondere der Kollege Ernst entweder
regierung nicht geteilt. nicht im Bilde ist oder bewusst verschweigt,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Was?)
Ihre Einstellung scheint aufgrund des Wahlergebnisses dass die IG Metall für die Beschäftigten in der Metall-
sehr getrübt zu sein, wodurch sich Ihr Blickwinkel wohl und Elektroindustrie bereits einen Tarifvertrag mit dies-
geändert hat. bezüglichen Regelungen geschlossen hat. Es wurde ver-
einbart, dass ab dem 57. Lebensjahr Altersteilzeit in den
(Elke Ferner [SPD]: Statistiken der Bundes-
Betrieben bis zum 31. Dezember 2016 möglich ist. Da
agentur reichen, Herr Straubinger!)
Sie Mitglied der IG Metall sind, müssten Sie das eigent-
In der Drucksache heißt es weiter: lich wissen. Das, was Sie hier darstellen, entspricht nicht
den Tatsachen. Es wird nichts abgeschafft; im Gegenteil:
(B) Die Bundesregierung schätzt die Entwicklung der (D)
Die Tarifparteien haben die Möglichkeit, Altersteilzeit-
Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe 55 bis unter
regelungen zu vereinbaren. Ihre IG Metall hat diese
65 Jahre daher im Vergleich zu anderen Altersgrup-
Möglichkeit ergriffen.
pen nach wie vor als relativ günstig ein.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Förderung
Diese Aussage stammt vom damaligen Arbeitsminister
wird doch abgeschafft, oder nicht?)
Olaf Scholz. Werte Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, Sie sollten sich daran noch erinnern können. Das Das ist das Entscheidende. Dasselbe gilt für die Chemi-
waren Erfolge unserer gemeinsamen Regierungspolitik. sche Industrie und für die Kunststoffverarbeitende In-
dustrie.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit Alters-
teilzeit!) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber die Förde-
rung wird abgeschafft!)
Das sollte man nach zwei oder drei Monaten nicht gleich
alles infrage stellen. Herr Kollege Ernst, es kann nicht sein, dass die
Beschäftigten in den kleinen Bauarbeitsbetrieben und
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was denn nun?)
die Verkäuferinnen in den Einkaufsläden, also die Be-
Ich glaube, es ist auch entscheidend, dass wir die Be- schäftigten in den mittleren und kleinen Betrieben, letzt-
schäftigungsmöglichkeiten der älteren Generation in endlich die Zeche dafür zahlen, dass diejenigen, die in
den vergangenen vier Jahren erheblich verbessert haben. Großbetrieben beschäftigt sind, dort, wo die Arbeitsbe-
Das belegen die Zahlen: Die Anzahl der 50- bis 54-Jähri- dingungen möglicherweise sogar noch besser sind, weil
gen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungs- sie besser organisierbar sind, frühzeitig in Rente gehen.
verhältnissen ist zwischen 2005 und 2009 von circa
(Elke Ferner [SPD]: Das ist doch absurd, was
2 922 000 auf circa 3 282 000 gestiegen. Das zeigt sehr
Sie da erzählen, Herr Straubinger!)
deutlich, dass die Arbeitsmarktinstrumente, die wir in
der Vergangenheit geschaffen haben, dazu angetan wa- Es geht um die Beiträge der Maurer, der Schuster und all
ren, ältere Menschen in Lohn und Brot zu halten. Das der anderen Beschäftigten. Diese Beiträge sind viel zu
sollte letztendlich doch das Ziel unserer Arbeit sein. schade, um in ein solches Programm gesteckt zu werden,
Herr Kollege Ernst.
Heute ist von der Finanzkrise und deren Auswirkun-
gen gesprochen worden. Vor allen Dingen vonseiten der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Linken und der SPD ist hier ein Bild gezeichnet worden, Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber die Arbeitslo-
nach dem der Arbeitsmarkt im nächsten Jahr regelrecht sigkeit dürfen die schon mitfinanzieren, oder?)
426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Max Straubinger
(A) Wir haben der Arbeitslosigkeit in den vergangenen kein Problem für Sie ist, frage ich mich, warum es ein (C)
vier Jahren erfolgreich den Kampf angesagt. Wir werden Problem sein soll, die Altersteilzeit dann durch die
das auch in Zukunft mit Wachstums- und Beschäfti- Bundesagentur für Arbeit fördern zu lassen,
gungsprogrammen tun,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Weil das teuer
(Elke Ferner [SPD]: Mit Steuergeschenken! – Hubertus ist, Frau Ferner! Aber zu Geld haben Sie
Heil [Peine] [SPD]: Klientelpolitik!) offensichtlich kein Verhältnis! – Gitta
Connemann [CDU/CSU]: Weil das die Klei-
die darauf ausgerichtet sind, mehr Arbeitsplätze in unse-
nen bezahlen!)
rem Land entstehen zu lassen und nicht weniger Arbeits-
plätze. Das ist letztendlich das beste Programm, damit wenn dadurch junge Menschen nach ihrer Ausbildung
Menschen in selbstbestimmter Art und Weise für ihren die Perspektive eines Jobs in einem Betrieb erhalten
Lebensunterhalt sorgen können.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Betreuungs- Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])
geld!)
und nicht die Perspektive der Arbeitslosigkeit, eines un-
Wir werden gerade in dieser bürgerlich-liberalen Koali- bezahlten Praktikums, eines ungewollten Teilzeitbe-
tion im Sinne der Bürgerinnen und Bürger dafür Sorge schäftigungsverhältnisses oder eines befristeten Arbeits-
tragen, verhältnisses.
(Elke Ferner [SPD]: Jetzt wird es pathetisch!) Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an! Was ist
dass viele neue Arbeitsplätze zukünftig die Grundlage für denn mit den jungen Leuten, die ihre Ausbildung absol-
den wirtschaftlichen Erfolg dieses Landes und die Stabili- viert haben und gerade in Zeiten der Krise vor verschlos-
tät der sozialen Sicherungssysteme – Renten-, Kranken-, senen Betriebstüren stehen, weil die Stammbelegschaft
Pflege- und Arbeitslosenversicherung – schaffen. ausreicht? Warum soll denn gerade in Zeiten der Krise
dieses Instrument nicht verlängert werden? Darauf habe
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ich bisher überhaupt keine Antwort erhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie beklagen, dass die Fortführung etwa 1,3 Milliar-
Zu uns spricht die Kollegin Elke Ferner für die SPD-
den Euro kosten würde.
Fraktion.
(B) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Brutto!) (D)
(Beifall bei der SPD)
Jetzt frage ich mich, warum Sie dann diese Hotelketten-
Elke Ferner (SPD): subventionierung finanzieren wollen, die in etwa ge-
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! nauso viel kostet.
Hier wird in gewisser Weise eine Gespensterdiskussion (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
geführt. der LINKEN)
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Die beginnt
Was ist Ihnen denn mehr wert: Hotelketten zu subventio-
gerade erst!)
nieren oder aber dafür zu sorgen, dass junge Leute end-
CDU/CSU und FDP, also diejenigen, die in den 80er- lich wieder ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis
Jahren die gesetzliche Grundlage für die Vorruhestands- aufnehmen können? Gerade die jungen Leute, die sich
regelungen geschaffen haben, 1988 das erste Gesetz zur ein Stück weit vom Elternhaus unabhängig machen oder
Förderung der Altersteilzeit verabschiedeten und die eine Familie gründen möchten, lassen Sie in prekären
dann 1996 mit dem jetzigen Altersteilzeitgesetz das Beschäftigungsverhältnissen verharren, anstatt mit rela-
Blockmodell nachträglich eingefügt haben, beklagen tiv wenig Geld Arbeits- und Perspektivlosigkeit zu ver-
sich jetzt darüber, dass die Gesetze nicht in Ordnung meiden.
sind.
(Beifall bei der SPD)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Zeiten
ändern sich!) Es ist immer wieder merkwürdig, wie aus gleichen
Berichten unterschiedliche Zahlen herangezogen wer-
Jetzt gibt es auch noch Beifall von den Grünen. Man den. Auch ich habe mir diesen IAB-Bericht angeschaut.
könnte sagen, hier bildet sich Jamaika oder ein Fluch der Ich sage Ihnen hier ganz offen: Gerade im Hinblick auf
Karibik; die Beurteilung ist jedem selbst überlassen. flexiblere Übergänge wäre es mir lieber, wenn sich mehr
Menschen für eine Teilzeitbeschäftigung, für das echte
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Altersteilzeitmodell, entscheiden würden. Es wird aber
NEN]: Nein, das ist eine sachliche Auseinan-
niemand in die Altersteilzeit oder in ein Blockmodell ge-
dersetzung!)
zwungen; jeder kann sich für eine Variante entscheiden.
Es ist schon merkwürdig, welche Argumente ange- Die Gründe für die Entscheidung, das Blockmodell oder
führt werden. Einerseits sind Sie stolz darauf, dass die die tatsächliche Teilzeit zu wählen, sind so unterschied-
ungeförderte Altersteilzeit fortgeführt wird. Wenn das lich wie die Lebenssituationen der Menschen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 427
Elke Ferner
(A) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich frage mich wirklich, warum Sie sich gerade in einer (C)
NEN]: 90 Prozent!) Zeit, in der es darum geht, nicht nur möglichst viele
Menschen in den Betrieben zu halten, sondern auch den
Es wundert mich schon, dass ausgerechnet die Freiheits- Wissenstransfer und die Beschäftigungsbrücke zwischen
partei FDP meint, man dürfe nicht mehr selber entschei- Jung und Alt zu organisieren, nicht in der Lage sind,
den, ob man in Altersteilzeit geht oder nicht. Das ist über dieses Instrument wenigstens noch einmal nachzu-
schon sehr merkwürdig. denken.
(Beifall bei der SPD)
Ich muss sagen: Von der Union bin ich wirklich ent-
Herr Kollege Kolb, Ihr Modell sieht im Übrigen eine täuscht. Sie haben schon im letzten Sommer unser Ange-
Rente ab 60 mit Abschlägen von 25 Prozent vor. Das ist bot abgelehnt, die geförderte Altersteilzeit zu verlän-
selbst für die meisten Menschen aus Ihrer Klientel über- gern.
haupt nicht darstellbar, weil keiner einen so hohen Ren-
tenanspruch hat. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage von Herrn Kolb. Möchten Sie diese zulas-
Wir werden uns in diesem Hause mit Sicherheit noch sen?
mit den Konzepten für einen flexiblen Übergang vom
Erwerbsleben in die Rente beschäftigen müssen. Dazu
gehört aus unserer Sicht auch, aber nicht alleine die Ver- Elke Ferner (SPD):
längerung der geförderten Altersteilzeit. Wir werden Ih- Ja, gerne.
nen dazu noch etwas vorlegen. Ich bin gespannt, ob Sie
in dieser Koalition überhaupt in der Lage sind, zu die- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
sem Thema ein gemeinsames Konzept vorzulegen. Man Bitte schön.
hat bei Ihrem Vortrag eben die Begeisterung bei den
Kollegen von der CDU/CSU förmlich spüren können. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Och nein, Herr Kolb!)
(Anton Schaaf [SPD]: Genau! Das habe ich
gesehen!)
Elke Ferner (SPD):
Noch einmal zurück zu den Zahlen. Die Zahlen des Ich bedanke mich, dass Sie mir die Redezeit verlän-
IAB zeigen, dass im September 2008 von den freigewor- gern wollen.
denen Stellen 56,3 Prozent mit jungen ausgebildeten
(B) Menschen besetzt worden sind. (D)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frau Kollegin Ferner, gerne, aber warten Sie erst ein-
NEN]: Ja, das sind Mitnahmeeffekte!) mal meine Frage ab. – Nachdem Sie aus dem IAB-Kurz-
bericht stellenweise zitiert haben, würde ich Sie gerne
Im September 2009 waren es 57,8 Prozent; es gibt also
fragen, wie Sie das Fazit dieses IAB-Kurzberichtes be-
eine Steigerung, selbst wenn es den einen oder anderen
werten, das wie folgt lautet:
Mitnahmeeffekt gibt.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es spricht vieles dafür, die Förderung der Altersteil-
NEN]: Und Ihr verstärkt die noch! – zeit in heutiger Form nicht weiter zu verlängern.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Weiter unten heißt es:
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer bezahlt das?)
In ihrer gegenwärtigen Form gibt die Altersteilzeit
Man muss sich fragen: Wo gibt es überhaupt keinen Mit- die falschen Signale und reduziert den Druck auf
nahmeeffekt? Mich wundert jetzt gerade das Verhalten Unternehmen, rechtzeitig umfassende Konzepte für
der Grünen, die sich, wenn es darum geht, jungen Men- ein alternsgerechtes Arbeiten zu entwickeln.
schen eine Berufsperspektive zu eröffnen oder sie in die
Arbeitslosigkeit zu schicken, für die Arbeitslosigkeit Noch weiter unten heißt es:
entscheiden. Das ist wirklich skandalös, liebe Kollegin. Dagegen wäre es auf längere Sicht ein falsches
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Signal, die Förderung des Blockmodells zu verlän-
der LINKEN – Brigitte Pothmer [BÜND- gern.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben wir andere Wie bewerten Sie dieses Fazit?
Vorschläge!)
(Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND-
Es ist nicht so, dass nur diese Maßnahme etwas kos-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
tet. Arbeitslosigkeit kostet auch Geld. Dequalifizierung
kostet auch Geld. Perspektivlosigkeit kostet vielleicht
sogar etwas mehr als nur Geld. Elke Ferner (SPD):
Ich teile dieses Fazit nicht, Herr Kolb.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Aber Arbeitslose dürfen das nach euren (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vorstellungen gar nicht nutzen!) NEN]: Wider besseres Wissen!)
428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Elke Ferner
(A) Das wird Sie nicht wundern; denn sonst würde dieser ihrer Kompetenz oder ihrem Fleiß beurteilt, sondern (C)
Gesetzentwurf heute nicht zur Debatte stehen. schlicht und ergreifend auf ihr Alter reduziert werden.
Es geht darum, ob das Alter ein Kriterium für den Zu-
Wir haben eine besondere arbeitsmarktpolitische Si-
gang zum Arbeitsmarkt ist oder nicht. Ich selbst habe ei-
tuation. Unter normalen Bedingungen, Herr Kolb, wie
nige Menschen vor Augen, die das sehr wohl betrifft und
wir sie Ende 2007 bis Mitte 2008 gehabt haben, hätte ich
auch betroffen macht. Ich finde, es verdient Anerken-
gesagt: Man macht vielleicht noch eine Verlängerung
nung, das Schicksal dieser Menschen auf die Agenda zu
ohne das Blockmodell, um wenigstens die Brücke für
setzen.
die Jüngeren in die Beschäftigung zu schaffen. Dank
– ich sage dies in Anführungszeichen – der Ausbil- Schon in der Präambel unseres Koalitionsvertrages
dungsunwilligkeit vieler Betriebe in der Wirtschaft be- hat sich die Bundesregierung ausdrücklich zum Fleiß
steht das Problem, dass nicht alle jungen Menschen, die und zur Verantwortungsbereitschaft der Bürgerinnen und
eine qualifizierte Ausbildung machen wollen, einen Bürger geäußert: Deutschland ist ein starkes Land mit
Ausbildungsplatz bekommen. Die Warteschlangen sind starken Menschen, und Menschen brauchen Chancen.
immens.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wenn ich mir die Beschäftigungsstruktur hinsichtlich neten der FDP)
der Sicherheit der Beschäftigung bei den jüngeren Men-
schen anschaue, dann muss ich sagen, dass ich froh bin, Was die Diskussion über den Entwurf eines Gesetzes
51 Jahre alt zu sein. Denn in meiner Jugendzeit hatte ich zur Verlängerung der Altersteilzeit angeht, bin ich je-
die Sicherheit, dass ich, wenn ich einen ordentlichen doch ziemlich verwundert. Ich werde den Eindruck nicht
Ausbildungsabschluss hinlege, auch in ein unbefristetes los, dass Sie, liebe Kollegen von der SPD, hier ein Medi-
Beschäftigungsverhältnis komme. kament in die Verlängerung schicken wollen, das das
Mindesthaltbarkeitsdatum schon längst überschritten
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie weichen jetzt hat.
von der Frage ab, Frau Ferner!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
– Nein, das ist Teil der Antwort auf Ihre Frage. Denn die neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
Frage lautete, ob ich das Fazit teile. Ich habe gesagt: Ich Schließt das denn die grundsätzliche Wirksam-
teile es nicht, keit aus?)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wider besseres Davon stirbt man nicht sofort. Hier geht es aber nicht nur
Wissen?) um Schadensbegrenzung. Vielmehr müssen wir an die
weil wir jetzt eine andere arbeitsmarktpolitische Situa- Menschen und ihre Zukunft denken.
(B) (D)
tion haben und auch im nächsten Jahr haben werden. Ich Nachdem wir in den letzten Wochen immer wieder
muss sagen: Ich bin enttäuscht, dass Ihnen Hotelketten Angriffe von Ihnen erlebt haben – Sie verwendeten Be-
mehr wert sind als die Chance für junge Menschen, in griffe wie „Nebeltaktik“ und „Klientelpolitik“ –, ist es
ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu kommen. ziemlich verwunderlich, dass gerade dieser Gesetzent-
Vielen Dank. wurf genau diesen Geschmack hinterlässt. Wollen Sie
uns etwa anhand eines praktischen Beispiels die Bedeu-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tung dieser beiden Worte erklären?
der LINKEN)
Sowohl von meinen Fraktionskollegen als auch von
Mitgliedern anderer Fraktionen haben wir heute gehört,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dass klare Argumente gegen Ihren Gesetzentwurf spre-
Als Letzter in der Debatte spricht der Kollege Frank chen. Die demografische Entwicklung hat sich geän-
Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. dert; darauf muss man reagieren. In den Ausführungen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wurden gravierende Widersprüche aufgezeigt. Die
neten der FDP) Blockmodellwirkung ist schädlich für den Arbeits-
markt. Diese Regelung führte nachweislich zum Abbau
von Arbeitsplätzen, insbesondere in großen Firmen.
Frank Heinrich (CDU/CSU):
Hinzu kommt, dass ausschließlich Alter mit Alter ver-
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-
rechnet wird. Die Frage nach der Qualifikation wird
ginnen und Kollegen! Ich verkneife mir, all das schon
nicht gestellt. Das Ziel dieses Gesetzes, einen gleitenden
Gesagte jetzt noch einmal in Zahlen oder Zitaten aufzu-
Übergang vom Erwerbsleben ins Rentendasein zu er-
greifen, aufzurühren, neu aufzukochen. Ich möchte ei-
möglichen, wird so nicht erreicht.
nen Schritt zurückgehen und zu etwas Grundsätzlichem
kommen. Wir reden heute nicht in erster Linie über Zah- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
len und Konzepte, sondern über Menschen. Wir reden neten der FDP – Gitta Connemann [CDU/
über Menschen, die sich mit Blick auf die Verantwor- CSU]: Eine sehr gute Analyse!)
tung für ihr eigenes Leben, ihre Familien und unsere Ge-
Bei diesem Gestaltungsmittel zu bleiben, wäre voll-
sellschaft nicht zurücklehnen wollen, sondern am Er-
kommen kontraproduktiv und ein denkbar schlechtes Si-
werbsleben teilhaben und aktiv sein wollen.
gnal für die Menschen, um die es uns eigentlich geht.
Wir reden nicht über Almosen, sondern wir reden Was wir brauchen, ist eine konstruktive Auseinanderset-
über Chancen. Wir reden über Menschen, die nicht nach zung mit den jetzigen Gegebenheiten. Gesetze für eine
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 429
Frank Heinrich
(A) Gesellschaft werden nämlich nicht ausschließlich auf der Wir, die CDU/CSU, sagen in aller Deutlichkeit: Men- (C)
nüchternen Basis finanzieller Eckdaten gemacht, son- schen, die fleißig und verantwortlich in Deutschland le-
dern sie werden für Menschen gemacht. Dabei geht es ben, dürfen nicht faktisch frühverrentet werden. Sie sind
auch um Flexibilität; darauf haben meine Kollegen von bis ins Alter vollwertige Mitglieder dieser Gesellschaft,
der FDP hingewiesen. auch am Arbeitsmarkt.
Es gilt, zwischen Berufsgruppen zu unterscheiden: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zwischen dem Dachdecker und dem Versicherungskauf-
Unsere Gesellschaft braucht keine Frühverrentungspra-
mann gibt es nun einmal einen gravierenden Unter-
xis, sondern flexible und vielfältige Regelungen, um die
schied, was die Wahrnehmung dieses Gesetzes angeht.
längere Lebensarbeitszeit bestmöglich – sowohl ökono-
Es gilt, auch regionale Unterschiede mit einzubeziehen:
misch als auch sozialethisch vertretbar – zu nutzen.
In den neuen Bundesländern, aus denen ich komme,
kann man nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie in Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Niedersachsen oder in Baden-Württemberg. Lieber Kol-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lege Heil, Ihre Bemerkung bezüglich der „Rolle
neten der FDP)
Rüttgers“ ganz am Anfang unserer Debatte bestätigt,
dass es solche regionalen Unterschiede gibt und dass die
Notwendigkeit besteht, sie mit einzubeziehen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Heinrich, das war Ihre erste Rede im Hohen
In Zeiten des demografischen Wandels müssen die Haus, wozu ich Sie herzlich beglückwünsche. Für Ihre
Beschäftigungschancen älterer Menschen gestärkt Arbeit hier wünsche ich Ihnen im Namen des gesamten
werden und dürfen nicht geschwächt werden. Hauses viel Erfolg und auch Gottes Segen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall)
neten der FDP)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
Dazu haben wir heute gute Vorschläge gehört. Auch hier fes auf Drucksache 17/20 an die in der Tagesordnung
geht es um individuelle Ausstiegschancen und einen fle- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es
xibleren Renteneinstieg, aber nicht in Form des Block- offensichtlich keine anderen Vorschläge. Dann ist die
modells. Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir noch lange nicht fertig. Wir sind ge- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:
spannt, welche Vorschläge die Opposition in den Aus-
schüssen macht. Sie propagieren jetzt – 50 Jahre nach Wahl der Schriftführer gemäß § 3 der
(B) dem Godesberger Programm –, die neue SPD zu sein. Geschäftsordnung (D)
Bleiben Sie bitte nicht zu lange bei den Abschieds- – Drucksache 17/58 –
schmerzen! Wir möchten, dass Sie nicht bei Gedanken
und Konzepten von vorgestern bleiben, wie sie in die- Für die Wahl der Schriftführerinnen und Schriftführer
sem Gesetzesvorschlag deutlich zum Vorschein gekom- liegen auf Drucksache 17/58 Wahlvorschläge der Frak-
men sind. tionen CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen vor. Ich frage Sie: Wer stimmt für
(Elke Ferner [SPD]: Lassen Sie unsere Sorge diese Wahlvorschläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
sein, was wir machen!) tungen? – Damit sind diese Wahlvorschläge einstimmig
Sie werden hier gebraucht als Opposition – so sind Sie angenommen. Ich gratuliere den gewählten Kolleginnen
gewählt worden –, und das sind Sie sich, diesem Parla- und Kollegen im Namen des gesamten Hauses, freue
ment und den Bürgern und Bürgerinnen dieses Landes mich auf die Zusammenarbeit und danke gleichzeitig
schuldig. den vorläufigen Schriftführerinnen und Schriftführern
dieser Legislaturperiode für ihren unermüdlichen Ein-
Meine abschließende Bemerkung: Menschen sollen satz.
und werden der Mittelpunkt der Politik dieser Koalition
sein. Wo es um Menschen geht, die fertig, die krank, die (Beifall)
ausgebrannt, die ausgepowert sind, um Berufsgruppen, Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 2 auf:
denen ein Weiterarbeiten nicht zuzumuten ist, gibt es
weiterhin die benannte Regelung, wenn auch ohne För- Aktuelle Stunde
derung durch die Bundesagentur. Wir haben immer wie- auf Verlangen der Fraktion Die Linke
der betont, dass die Anschlussregelungen zur Kurzarbeit Bildung für alle – Gebührenfrei
momentan die beste Möglichkeit ist;
Als erste Rednerin spricht Nicole Gohlke für die
(Katja Mast [SPD]: Genau!) Fraktion Die Linke.
dies darf aber nicht der einzige Schritt bleiben. Die (Beifall bei der LINKEN)
CDU/CSU steht für eine nach vorn gerichtete sowie am
Menschen orientierte Arbeits- und Sozialpolitik.
Nicole Gohlke (DIE LINKE):
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Frau Präsidentin! Frau Bundesbildungsministerin!
Elke Ferner [SPD]: Das wäre mal etwas Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundesweit sind
Neues!) 100 000 Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrer und
430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Nicole Gohlke
(A) Studierende diese und letzte Woche auf die Straße ge- Nein, die Forderungen der Studierenden sind andere: (C)
gangen. Die Linksfraktion steht an der Seite all derer, die Die Studierenden fordern die Abschaffung von Studien-
mit Demonstrationen und Blockaden, mit Besetzungen gebühren, sie fordern den freien Bildungszugang für
und Streiks für bessere Bildung und für grundsätzliche alle, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, sie wollen
Veränderungen im Bildungssystem streiten. ihre Hochschule selbst gestalten, und sie wollen eine ra-
dikale Überarbeitung der Bachelor- und Masterstudien-
(Beifall bei der LINKEN)
gänge. Mit diesen Forderungen haben die Studierenden
Nach den Protesten vom Sommer ist es jetzt das recht. Sie verdienen unsere Solidarität.
zweite Mal, dass Schülerinnen und Schüler sowie Stu-
dierende gegen die massive Unterfinanzierung und ge- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
gen die soziale Selektion im Bildungsbereich kämpfen. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Neu an den jetzigen Protesten ist, dass Studierende land- GRÜNEN)
auf, landab die größten Hörsäle besetzt halten: inzwi- Der Bundesregierung muss klar sein: Durch Lippen-
schen an mehr als 40 Hochschulen von Hamburg über bekenntnisse alleine werden die Streikenden diesmal
Potsdam bis nach München. nicht zufriedengestellt. Den netten Worten, die Sie in
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) den letzten Tagen zur Besänftigung gefunden haben,
müssen endlich auch Taten folgen. Es reicht eben nicht
Diese Besetzungen sind Ausdruck dafür, dass die Stu- aus, wie beim BAföG nur das Bestehende aufzustocken.
dierenden auch nach dem letzten Bildungsstreik im 63 Prozent der Studierenden müssen neben dem Studium
Sommer nicht das Gefühl haben, irgendwie ernst ge- arbeiten. Die meisten bekommen keine Unterstützung
nommen zu werden. Sie zeigen mit den Besetzungen, vom Staat.
dass sie bereit sind, entschlossen für ihre Forderungen zu
kämpfen, und dass es für sie an der Zeit ist, sich den Frau Bildungsministerin, wenn Sie, wie Sie es vorge-
Raum zurückzuholen – es geht um ihre eigenen Hoch- ben, tatsächlich daran interessiert sind, mehr Kinder aus
schulen und ihr Studium –, den sie an undemokratische einkommensschwachen Familien an die Hochschulen zu
Hochschulräte und an private Unternehmen, Sponsoren bringen, dann erhöhen Sie endlich das BAföG, schaffen
und Profitmacherei verloren haben. Sie die Rückzahlungspflicht ab, verlängern Sie die Be-
zugsdauer,
(Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Er-
langen] [CDU/CSU]: Erst einmal nehmen sie (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
anderen Studierenden den Raum weg!)
und setzen Sie sich endlich dafür ein, dass Studienge-
Die Proteste der Schülerinnen und Schüler sowie Stu- bühren bundesweit verboten werden. (D)
(B)
dierenden sind bereits jetzt ein voller Erfolg. Nicht nur,
dass sehr viele die Proteste unterstützen, auch manche (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Politiker haben etwas gelernt. So scheint es zumindest; neten der SPD)
denn nur noch ganz wenige beschimpfen die Proteste als
zum Beispiel gestrig, wie das die Bildungsministerin Mittlerweile traut sich glücklicherweise fast keiner
noch im Sommer getan hat. mehr, den Bologna-Prozess, durch den das Bachelor-
Master-System auf den Weg gebracht wurde, als gelun-
Inzwischen äußern viele Politiker Verständnis für die gene Reform hinzustellen. Insgesamt drängt sich jedoch
Anliegen, die hinter dem Bildungsstreik stehen. Frau der Eindruck auf, dass es bei dieser Reform so ähnlich
Schavan meint sogar, zu wissen, dass die Studierenden wie beim schlechten Wetter ist: Alle ärgern sich darüber,
für ihre eigenen Pläne und für die Reformpläne der Bun- aber niemand will es gewesen sein oder will jetzt dafür
desregierung streiken. So sagte Frau Schavan in der Ta- verantwortlich sein.
gesschau am 12. November 2009, sie finde es richtig,
wenn die Studenten darauf pochten, dass das, was be- Der Regierung und den Kultusministern sollte aber
schlossen wurde, jetzt auch tatsächlich umgesetzt wird. schon klar sein, dass die Studierenden genau wissen,
Liebe Frau Schavan, dies ist nichts anderes als ein ziem- wer ihnen das Bologna-System eingebrockt hat. Die
lich plumper Versuch, die Proteste zu vereinnahmen. Fraktion Die Linke fordert eine Korrektur der geschei-
Das zeigt, dass Sie sich mit den Forderungen und den terten Bologna-Reform. Das Bachelor-Master-System ist
Anliegen dieser Bewegung nicht im Geringsten ausein- in der bestehenden Form absolut unhaltbar, das heißt, die
andergesetzt haben. Arbeitsbelastung muss gesenkt werden, das Angebot
muss deutlich breiter und vielfältiger werden und alle
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Bachelor-Absolventinnen und -Absolventen müssen das
neten der SPD) verbindliche Recht auf einen Masterstudienplatz bekom-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein wichtiger Slo- men.
gan des Bildungsstreiks ist: „Für Solidarität und freie (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Bildung“. Dieser Spruch steht auf vielen Transparenten neten der SPD)
und T-Shirts der Aktivistinnen und Aktivisten. Solidari-
tät und freie Bildung haben jedoch nichts mit den Ideen Frau Bildungsministerin, wenn Sie die Proteste weiter-
der Regierung gemein, sie haben nichts gemein mit dem hin als Bestätigung Ihrer Politik begreifen, dann haben
Kredit- und Stipendiensystem und auch nichts gemein Sie die Schüler und die Studierenden nicht verstanden.
mit dem sogenannten Bildungssparen. Nötig ist ein Richtungswechsel in der Bildungspolitik,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 431
Nicole Gohlke
(A) ein Richtungswechsel weg von Eliteuniversitäten und und sozialer Aufstieg durch Bildung möglich ist. Wir (C)
Exzellenz für wenige, müssen Kinder und Eltern ansprechen und Anstrengung
und Leistung einfordern. Es gibt keine Bildung ohne ei-
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Was?)
gene Anstrengung und eigene Leistung. Deswegen ist
hin zu guter Bildung für alle, weg von einem Verständ- Ihre Aussage völlig falsch.
nis, das Bildung als Ware begreift, hin zu einem Begriff (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
von Bildung als Menschenrecht. neten der FDP)
Seien Sie sich sicher: Bis diese Forderungen erfüllt CDU/CSU und auch die FDP, denke ich, stehen für
sind, werden die Schülerinnen und Schüler sowie Stu- einen Sozialstaat, aber nicht für einen Verschenkerstaat.
dierenden keine Ruhe geben und weiter für ihre Ziele Wir wollen die eigene Leistung fördern.
kämpfen. Meine Fraktion wird sie dabei unterstützen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Vielen Dank. der FDP – René Röspel [SPD]: Sie stehen für
(Beifall bei der LINKEN) verschenkte Chancen!)
Jede Rede heute beginnt mit dem Bekenntnis, dass man
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Verständnis für die Protestierenden hat. Auch mein Stu-
Frau Gohlke, auch für Sie war das die erste Rede, zu dium ist noch nicht sehr lange her. Ich kann mich auch
der wir Sie herzlich beglückwünschen und Ihnen alles an Dinge erinnern, die nicht in Ordnung waren und über
Gute für die Arbeit hier im Haus wünschen. die wir im Fachschaftsrat, im Studentenrat und an ande-
rer Stelle gesagt haben: So geht es nicht. Ich habe auch
(Beifall)
Verständnis, aber mein Verständnis schwindet langsam,
Das Wort hat der Kollege Michael Kretschmer für die wenn ich sehe, was in letzter Zeit bei diesen Protesten
CDU/CSU-Fraktion. tatsächlich abläuft.
(Beifall bei der CDU/CSU) Es ist richtig, dass mit dem Bologna-Prozess nach
50 Jahren eine gewaltige große Studienreform stattge-
Michael Kretschmer (CDU/CSU): funden hat, und es ist richtig, dass einiges dabei nicht so
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Politik glücklich gelaufen ist. Darüber kann man auch reden.
beginnt mit der Wahrnehmung der Realität. Das bedeutet Wir haben eine viel zu hohe Spezialisierung und eine In-
beim Thema Bildung, dass wir in den vergangenen Jah- flation an Studiengängen, die man eindämmen muss. Es
ren sehr viel Geld in die Hand genommen haben und gibt in Teilen zu viele Prüfungen, und es gibt in der Tat
(B) dass Bund und Länder in einem nationalen Kraftakt ei- das Problem, dass Seminare und Vorlesungen zeitgleich (D)
nen Hochschulpakt verabschiedet und einen Bildungs- stattfinden, sodass der organisatorische Ablauf nicht ge-
gipfel mit dem klaren Bekenntnis durchgeführt haben, in währleistet ist.
den nächsten Jahren bis zu 10 Prozent des Bruttoinlands- Das ist aber kein Beleg dafür, dass der Bologna-Pro-
produkts für Bildung und Forschung auszugeben. zess gescheitert oder die Hochschulautonomie falsch ist.
Ich komme gerade von der Jahrestagung der Leibniz- Im Gegenteil: Diese organisatorischen Defizite müssen
Gemeinschaft in Rostock. Dort war eines ganz klar – der in der nächsten Zeit schleunigst behoben werden. Dabei
Präsident hat es noch einmal deutlich gesagt –: Zu keiner nehmen wir auch die Hochschulen in die Pflicht.
Zeit hatten Bildung und Wissenschaft einen so hohen Wir, die Union, sagen ganz klar: Wir stehen zur
Stellenwert wie heute. Das ist das Ergebnis unserer Poli- Hochschulautonomie und zur Hochschulfreiheit. Frei-
tik. heit bedeutet auch, dass man diejenigen in die Verant-
wortung nehmen muss, die diese Freiheit haben. Aus
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
diesem Grunde ist ganz klar: Wir wollen, dass die Hoch-
neten der FDP)
schulen die Verantwortung übernehmen und dass diese
Das Thema dieser Aktuellen Stunde „Bildung für alle – organisatorischen Defizite beendet werden.
Gebührenfrei“ ist wirklich nicht die Herausforderung
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
unserer Zeit. Schon eher wären es Themen wie „Wir
neten der FDP)
wollen die beste Bildung für alle“, „Wir wollen mit Bil-
dung den sozialen Aufstieg schaffen“ oder „Wir wollen Im Übrigen sind alle drei Punkte – weder die Anzahl
Bildung als universellen Wert begreifen“. Das sind un- der Studiengänge noch die Frage der Anzahl der Prüfun-
sere programmatischen Sätze, die wir linker Gleichma- gen oder die Organisation von Seminaren und Vorlesun-
cherideologie entgegenschleudern. gen – keine Frage der Finanzen. Es ist einfach eine Frage
von schlechter Organisation, die in der Tat beendet wer-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
den muss.
neten der FDP – Lachen bei der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das sind Ziele, hinter denen wir den Bund und die Es war vom BAföG die Rede. Wir werden das BAföG
Länder versammeln müssen, die wir brauchen, um am im nächsten Jahr erhöhen. Aber das ist nur ein Schritt.
Ende tatsächlich die Kraft zu haben, das Geld aufzubrin- Uns ist an einem insgesamt stimmigen Konzept der Stu-
gen und den Rahmen so zu setzen, dass Bildung für alle dienfinanzierung in diesem Land gelegen. Dazu gehört
432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Michael Kretschmer
(A) als wichtigster Punkt das BAföG. Deswegen haben wir – Wenn Sie ein Fass aufmachen und von „links/rechts“ (C)
es vor wenigen Jahren erhöht, und wir werden es in den sprechen, dann greife ich das gerne auf. – Nötig sind
nächsten Jahren weiter erhöhen. Wir werden auch den massive Investitionen in das öffentliche Bildungssystem.
Kreis derer verbreitern, die das BAföG in Anspruch neh-
(Beifall bei der SPD)
men können. Es gehören aber auch andere Dinge dazu.
Ich sage ganz klar: Wir stehen zu einem vernünftigen Ein Großteil der Probleme des Bildungssystems
Stipendiensystem. Wir wollen das, und wir werden es – darauf weisen die Studierenden in ihren Protesten zu
auch in dieser Legislaturperiode einführen. Recht hin – sind der eklatanten Unterfinanzierung des
Bildungssystems und insbesondere des Hochschulwe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sens geschuldet. Zu Recht werden die Studenten unge-
Ich habe die Hoffnung, dass die Kollegen irgendwann duldig, wenn sie feststellen, dass es eine fortdauernde
die Realität zur Kenntnis nehmen und sich daran erin- Diskrepanz zwischen Reden und Handeln gibt. Ich will
nern, was sie vor kurzer Zeit gesagt haben, nämlich dass dafür vier deutliche Beispiele nennen.
wir eine Stipendienkultur in diesem Land haben wollen Die Bundesbildungsministerin warf vor einigen Ta-
und gemeinsam versuchen, etwas Gutes zu machen. Wir gen in zwei Interviews der damaligen rot-grünen Koali-
sind dazu bereit. Wir wollen das tun. Wir sind im Übri- tion und ihrer Vorgängerin im Amt, Frau Bulmahn, vor,
gen auch offen für Kritik, gerade von denjenigen, die sie hätten nichts getan, um den Bologna-Prozess vorzu-
studieren. Aber die Kritik muss sowohl in der Sache als bereiten. Das ist schlicht und ergreifend falsch. Fakt ist
auch in der Art und Weise vernünftig sein. vielmehr, dass Frau Bulmahn damals, unterstützt von
beiden Koalitionsfraktionen, den Ländern einen echten
Vielen Dank. Hochschulpakt mit einem finanziellen Volumen in Höhe
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von 50 Millionen Euro angeboten hat. Aber die B-Län-
der, darunter auch Baden-Württemberg, wo Sie auch da-
mals Verantwortung hatten, haben diesen Hochschulpakt
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: abgelehnt. Gegen das Kompetenzzentrum zur Unterstüt-
Für die SPD-Fraktion spricht die Kollegin Ulla zung der Bologna-Reform hat der hessische Ministerprä-
Burchardt. sident Koch Klage beim Bundesverfassungsgericht ein-
gereicht. Selbst eine abgespeckte Version, die wir dann
(Beifall bei der SPD) auf den Weg gebracht hatten, nämlich den Bologna-Un-
terstützungsprozess, für den wir bis 2005 17 Millionen
Ulla Burchardt (SPD): Euro ausgegeben haben und für den weitere Mittel in der
(B) Finanzplanung bis 2009 vorgesehen waren, haben Sie (D)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
zunichtegemacht. Frau Schavan, Sie haben zweimal die
Herren! Herr Kollege Kretschmer, beste Bildung für alle
Zweckbestimmung des Titels geändert und damit die
und Aufstieg durch Bildung für alle, das sind, glaube
Mittel zur Unterstützung des Bologna-Prozesses für die
ich, völlig unstreitige Ziele. Aber diese sind mit Gebüh-
Länder zweckentfremdet. Das ist die ganze Wahrheit.
ren für Bildung nicht zu erreichen. Die Studierenden ha-
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
ben völlig recht, wenn sie die Abschaffung der Gebüh-
Wir werden das ausführlich dokumentieren.
ren fordern.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Der Kollege Kretschmer hat den Bildungsgipfel ange-
Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Hochschule ist für sprochen. Vor fast einem Jahr hat die Kanzlerin verspro-
die SPD nicht nur Programm, sondern auch Praxis. chen: Jetzt wird sich vieles bewegen; jetzt gibt es ganz
Schauen Sie sich die SPD-regierten Länder an! Dort gibt viel Geld. – Was ist dabei herausgekommen? Eine Kom-
es keine Studiengebühren. Mittlerweile gibt es eine mission höherer Beamter hat zwei Semester gebraucht,
Wanderungsbewegung hin zu diesen Ländern. Bei den um mit 73 Berichten offenzulegen, dass es Streit zwi-
Kitas sind erste wichtige Schritte getan. Es ist hin- schen Finanzministern, Kultusministern und GWK gibt
reichend wissenschaftlich belegt – es gibt kein Erkennt- und bislang nicht mehr ganz so viel Geld.
nisproblem, sondern ganz offensichtlich ein Handlungs-
problem –, dass Gebühren soziale Barrieren für Stichwort „Geld“. Es ist unbestritten, dass 25 Milliar-
Chancengleichheit und Teilhabe sind. Gebühren be- den Euro pro Jahr notwendig sind, um die Bildungsaus-
schränken die individuellen Freiheitsrechte, behindern gaben auf OECD-Niveau zu heben. Allein für den Bund
den freien Zugang zu Bildung in allen Bereichen und wären das 12 Milliarden Euro in den nächsten vier Jah-
– auch das ist hinreichend belegt – sind kontraproduktiv ren. Diese Zahl wird auch von der Bundesregierung in
für Wachstum und Innovation. die Welt gesetzt. Aber nur Insider wissen, dass diese
12 Milliarden Euro nicht allein für Bildung vorgesehen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) sind, sondern für die drei Pakte, und ein erheblicher Teil
in die Forschung geht. So tut sich eben nicht nur eine
In jeder Hinsicht schädlich ist die ideologisch moti- Zahlenlücke, sondern auch eine Glaubwürdigkeitslücke
vierte Privatisierung von Bildung, wie sie jetzt von die- auf. Das ist nicht mehr übersehbar. Die Studierenden
ser Rechtsregierung vorbereitet wird. weisen zu Recht darauf hin.
(Widerspruch bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 433
Ulla Burchardt
(A) Die Scharade, wenn ich das so nennen darf, hat noch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
eine ganz andere Dimension. Das stellt man fest, wenn der CDU/CSU)
man nicht nur die Bildungspolitik, sondern auch die
Bildung bewegt. Bildung mobilisiert. Für Bildung
steuerpolitischen Vorhaben der Bundesregierung be-
wird gelitten und gestritten. Dies gilt mittlerweile nicht
trachtet. Die interessierte Öffentlichkeit erfährt hier, dass
nur für die protestfreudigen Studenten, sondern auch für
24 Milliarden Euro für Steuergeschenke vorgesehen
die Bürgerinnen und Bürger der Mitte; denn Bildung
sind. 12 Milliarden Euro Mindereinnahmen bedeutet
geht uns alle an. So können wir gerade erleben, dass der
dies alleine für die Länder, die den größten Teil schultern
rot-roten Regierung in Berlin per Volksbegehren ordent-
müssen, wenn es um das Erreichen des 7- bzw. 10-Pro-
lich eingeheizt wurde. Die Zustände an Berlins Kinder-
zent-Ziels geht. Das Geld wird dort fehlen, wo die
gärten wurden von den Betroffenen als derart schlecht
Länder überhaupt noch finanzielle Spielräume haben,
empfunden, dass sich der Protest formierte. Letztlich
nämlich bei der Bildung und beim kommunalen Finanz-
blieb SPD und den Linken nichts anderes übrig, als end-
ausgleich.
lich für Abhilfe zu sorgen. Gut so, meine Damen und
Um es kurz zu machen: Das bedeutet in der Konse- Herren! Das ist der richtige Weg.
quenz, wenn Sie diese Pläne verfolgen: Diese Bundes-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
regierung legt die Axt an Kitas, Hochschulen und Schu-
len. Dann fehlt in den Ländern noch mehr Geld für Ein ähnliches Bild auch in Hamburg, meiner Heimat-
Qualitätsverbesserung, für mehr Personal und für den stadt. Hier haben sich besorgte Eltern und Großeltern in
Kampf gegen Bildungsarmut. Das wird das ganz kon- einer Initiative mit dem bezeichnenden Namen „Wir
krete Ergebnis sein, wenn Sie bei Ihrem Vorhaben blei- wollen lernen!“ zusammengetan, um gegen die verfehlte
ben. grüne Bildungspolitik von Christa Goetsch vorzugehen.
Auch hier zeichnet sich ein Erfolg der Bürger gegenüber
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dem Senat ab. Längeres gemeinsames Lernen mit der
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Brechstange, unterfinanzierte Schulen ohne entspre-
Da kann man nur sagen: So wird die Bildungsrepublik chende Qualitätsoffensive? Nein! Über 182 000 Ham-
allenfalls ein Potemkinsches Dorf. Mit Ihrer Steuerpoli- burgerinnen und Hamburger lehnen das ab und stehen
tik zerstören Sie das Fundament des Bildungssystems für mehr Leistungsorientierung in der Bildung. Und das
und schwächen die Innovationsfähigkeit der gesamten ist gut so, meine Damen und Herren!
Bundesrepublik auf Dauer.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Was wir in Deutschland brauchen, ist eine Politik, die der CDU/CSU)
die Wachstumspotenziale unserer Volkswirtschaft nach-
(B) Es geht um die Zukunft unserer Töchter und Söhne. (D)
haltig erhöht und gezielt ausschöpft. Das setzt voraus,
Bildung für alle? Ja! Das ist richtig, aber nicht auf Kos-
dass auch die Bundesinvestitionen in Bildung deutlich
ten der Qualität. Qualität ist leider nicht immer zum
steigen. Das ist der Kern unseres Angebots für einen
Nulltarif zu bekommen.
Pakt der wirtschaftlichen Vernunft in Deutschland. Bis
zum Bildungsgipfel, Frau Schavan, haben Sie und die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Kanzlerin nicht mehr sehr viel Zeit, um die Glaubwür- der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Deswe-
digkeitslücke zu schließen. Deswegen nutzen Sie die gen gute Bildung für wenige!)
Chance, sich in den nächsten drei Wochen von ideologi-
schen Schatten zu befreien und tatsächlich nicht nur vom Wer das noch immer denkt, verschließt die Augen vor
Aufstieg durch Bildung zu reden, sondern dafür endlich der anhaltenden nationalen Bildungskatastrophe. Jeder
etwas Handfestes zu tun. fünfte 15-Jährige kann kaum lesen und rechnen. Das ist
dramatisch für die Schüler. Das ist ebenso dramatisch für
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Staat.
der LINKEN)
(Florian Pronold [SPD]: Besser als bei den
FDP-Bundestagsabgeordneten!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat die Abgeordnete Sylvia Canel für die Wenn die Zahl der Risikoschüler nicht sinkt, kostet
FDP-Fraktion. das laut der neuen Bertelsmann-Studie in den nächsten
acht Jahrzehnten die gigantische Summe von
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 2,8 Billionen Euro. Die schwächsten Schüler müssen
der CDU/CSU) endlich stärker gefördert werden, und zwar von Anfang
an.
Sylvia Canel (FDP):
(Beifall bei der FDP – René Röspel [SPD]:
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Woher wissen Sie von Anfang an, ob jemand
Herren! Es war sehr interessant, was Frau Burchardt ge-
schwach ist oder nicht?)
sagt hat. Wenn es wirklich so wäre, dass Studenten aus
Ländern mit Studiengebühren abwandern würden, wür- Mittelfristig strebt die FDP daher eine Beitragsfreiheit
den die Hochschulen in Hamburg leer stehen. Aber: Es für den Bereich der frühkindlichen Bildung an, dort, wo
gibt Studiengebühren, die Zahl der Studierenden nimmt Integration, sozialer Ausgleich und Chancengerechtig-
zu, und auch die Geburtenrate steigt. So ganz kann das, keit am besten gelingen. Wir wollen damit Bildungsge-
was sie gesagt hat, nicht stimmen. rechtigkeit und ein Fundament für erfolgreiche Bil-
434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Sylvia Canel
(A) dungskampagnen schaffen. Dafür müssen wir jedoch die scheitert. Gute Bildung zum Nulltarif gibt es nicht. Ein- (C)
öffentliche Bildungsfinanzierung vom Kopf auf die Füße satz ist gefordert. Jeder muss hier mit anpacken, jeder
und die Priorität der Investitionen an den Anfang stellen. nach seinen Kräften. Dabei muss endlich die Priorität
Der Einsatz der öffentlichen Mittel ist auf den Bereich, der staatlichen Investition auf den Anfang der Bildungs-
wo die meisten Kinder zu erreichen sind, auf den Be- laufbahn gelegt und die Selbstverantwortung am Ende
reich der frühkindlichen Bildung, auf Kindergarten, auf gefördert werden. Wir brauchen mehr privates Engage-
Schule und Grundschule, zu konzentrieren. Gleichzeitig ment. Wir sehen aber auch den Staat in der Pflicht. Nicht
muss der Einsatz privater Mittel im Hochschulsektor und zuletzt deswegen wird die Koalition eine noch nie dage-
beim lebenslangen Lernen erleichtert und gefördert wer- wesene Investition von 12 Milliarden Euro in Bildung,
den. Genau das haben wir vor. Wissenschaft und Forschung leisten. Entweder hat Bil-
dung eine Zukunft in diesem Land, oder dieses Land hat
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
keine Zukunft.
der CDU/CSU)
Danke sehr.
Dementsprechend hat uns die OECD ins Stammbuch
geschrieben: Mit Ausnahme von Deutschland und Grie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
chenland ist in allen OECD-Ländern der Anteil der
privaten Mittel an der Bildungsfinanzierung im Hoch- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
schulbereich weitaus höher als im Primar- und Sekun- Frau Canel, auch für Sie war das die erste Rede. Dazu
darbereich. Kein Wunder; denn für bessere Beschäfti- beglückwünsche ich Sie im Namen des gesamten Hauses
gungsmöglichkeiten und höhere Einkommen ist eine mit dem freundlichen Hinweis, dass die Redezeiten nor-
stärkere Beteiligung des Einzelnen an den Kosten seines malerweise eingehalten werden müssen. Alles Gute für
eigenen Studiums völlig legitim. Dies stammt wohlge- die Arbeit hier.
merkt nicht aus dem Bundeswahlprogramm der FDP,
nein, das sind Zahlen der OECD, die auch Sie selber im- (Beifall)
mer gerne hier zitieren.
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für das
Der investive Charakter eines Studiums für den Ein- Bündnis 90/Die Grünen.
zelnen liegt auf der Hand, und auch der gesellschaftliche
Nutzen ist unverkennbar; denn deutsche Akademiker Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sind dreimal seltener von Armut betroffen als Personen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ohne Abschluss. Kurzum: Die Investition lohnt sich für Liebe Vorrednerin, Ihr Beitrag ist sicherlich ein Beispiel
alle, und deshalb müssen sich auch alle daran beteiligen, für ein neues Ständedenken in unserem Bildungssystem
(B) der Staat durch die Finanzierung der Studienplätze, der gewesen und dafür, wie der Begriff Bildungsgerechtig- (D)
Studierende durch die Studiengebühren und die Wirt- keit entkernt und geradezu pervertiert werden kann. Das
schaft durch entsprechende Stipendiensysteme. ist nicht unser Verständnis von Bildungsgerechtigkeit.
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
GRÜNEN]: Wie kommen die Kinder erst ein- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
mal zum Abitur bei Ihrer Denkweise?) KEN)
Wir wollen mehr junge Leute zur Aufnahme eines Studi- Auch der zweite bundesweite Bildungsstreik in die-
ums bewegen. Gleichzeitig brauchen wir exzellente Be- sem Jahr hat unsere Unterstützung. Es ist ein starkes
dingungen an unseren Hochschulen. Das kann gelingen. Signal und ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft,
Die OECD legt ja die Daten vor. Privates Engagement wenn Schülerinnen und Schüler und Studierende für
setzt eine soziale Flankierung voraus. Deshalb stehen gleiche Bildungschancen, für bessere Studienbedingun-
wir für das Bildungssparen. Es soll staatlich gefördert gen und gegen soziale Spaltung in unserem Bildungs-
werden. Jedes Neugeborene soll ein Zukunftskonto mit und Hochschulsystem protestieren.
einem Guthaben von 150 Euro bekommen. Das Denken
muss sich dahin gehend ändern, dass wir nicht nur Ver- Dazu gehört übrigens auch, für längeres gemeinsames
mögen für ein kleines Häuschen ansparen, sondern auch Lernen zu werben. Bildung ist ein Menschenrecht und
für die Bildung, also die Investition in die Person selbst. keine Ware. Schüler und Studierende sind mündige Bür-
ger und keine Kunden auf Bildungsmärkten. Das sind
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
die gesellschaftlichen Debatten, die jetzt anstehen.
Wir werden gemeinsam mit der Wirtschaft den Aufbau
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
des Stipendienwesens vorantreiben und dafür sorgen,
sowie bei Abgeordneten der SPD)
dass die besten 10 Prozent aller Studierenden 300 Euro
im Monat erhalten; denn Leistung soll sich lohnen und Ich gebe zu: Frau Ministerin Schavan, Sie haben offen-
nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein. bar dazugelernt. Noch im Juni haben Sie dieselben For-
derungen der protestierenden Studierenden als „gestrig“
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
abgekanzelt. Momentan können sich die Streikenden vor
der CDU/CSU)
Ihren Solidaritätsbekundungen kaum retten. Die Schüler
Schließlich werden wir das BAföG stärken und das An- und Studierenden wollen aber keine Lippenbekenntnisse;
gebot an Studiendarlehen ausbauen. So stellen wir si- sie erwarten unverzüglich konkrete Maßnahmen, spür-
cher, dass keiner an finanziellen Hürden zum Studium bare Ergebnisse und Verbesserungen in den Klassenzim-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 435
Kai Gehring
(A) mern und Hörsälen. Wenn Sie, Frau Schavan, nicht als bestellt, der muss auch zahlen, und deshalb Butter bei die (C)
Bundesankündigungs- und -beschwichtigungsministerin Fische bei der Bildungs- und Studienfinanzierung!
in die Geschichtsbücher eingehen wollen, dann müssen
Sie jetzt unverzüglich handeln und müssen für ein gerech- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
teres Bildungssystem sorgen. sowie bei Abgeordneten der SPD)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben als Grüne längst einen Finanzierungsvor-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. schlag gemacht: Wandeln Sie doch einfach den Soli Ost
Nicole Gohlke [DIE LINKE]) in einen Bildungssoli um! So lässt sich der gesamtstaatli-
che Bildungsaufbruch finanzieren, anstatt ihn durch
Wir als Grüne haben längst Konzepte vorgelegt, wie Steuersenkungen abzuwürgen. Den Bildungssoli können
sich eine chancengerechte Bildungsrepublik bauen ließe. Sie übrigens auf dem Bildungsgipfel II im Dezember ge-
Wir fordern eine tiefgreifende Reform der vielerorts nauso verabreden wie die Korrektur Ihrer bildungsfeind-
schlecht umgesetzten Bologna-Reform. Das Studium lichen Föderalismusreformen. Ich denke, hier im Haus
muss entfrachtet, studierbar und flexibler werden anstatt werden Sie Unterstützung finden, das unsinnige Koope-
verschult, verdichtet und überstrukturiert. Dabei muss rationsverbot wieder abzuschaffen; es gehört entsorgt.
endlich Schluss sein mit dem permanenten Schwarzer-
Peter-Spiel zwischen Bund, Ländern und Hochschulen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nein, die Korrektur muss jetzt angepackt werden. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Wir fordern einen Pakt für Studierende, der 500 000
Studienplätze schafft und unsere Hochschulen endlich Letzter Punkt. Wenn Sie schon ankündigen, dann set-
auch für Nichtakademiker öffnet. Wir fordern den Ab- zen Sie, bitte, wenigstens die richtigen Prioritäten, statt
bau von Zugangshürden und die Abschaffung von Stu- falsche Weichen zu stellen. Mit einer BAföG-Erhöhung
diengebühren, wie es in Hessen gelungen ist und wie es machen Sie einen Trippelschritt vorwärts zu mehr Bil-
im Saarland verabredet wurde. Wir wollen darüber hi- dungsgerechtigkeit. Mit Bildungssparkonten für Reiche
naus einen Ausbau der staatlichen Studienfinanzierung und Stipendien für Privilegierte machen Sie zwei Rie-
zu einem Zwei-Säulen-Modell, und zwar mit einem el- senschritte rückwärts.
ternunabhängigen Sockel für alle und einer sozialen (Beifall der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig]
Komponente für diejenigen, die es brauchen. Das wären [SPD])
echte Bildungsreformen, die zu mehr Gerechtigkeit und
Teilhabe führen. Dazu fehlen Schwarz-Gelb offenbar Wenn man die für das Stipendiensystem vorgesehe-
Mut und Kraft. nen Mittel nehmen würde, könnten Sie hier sofort einen
(B) Gesetzentwurf vorlegen und das BAföG um 10 Prozent (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erhöhen. Darauf warten wir. Das BAföG auszuweiten,
Noch schlimmer: Offenbar wird Frau Schavan gerade das ist wichtiger als ein Stipendiensystem.
oberste Insolvenzverwalterin ihrer Möchtegernbildungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
republik. Wir wissen ja, dass unserem Bildungssystem und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
pro Jahr 20 Milliarden Euro zusätzliche Investitionen im LINKEN)
Vergleich zum OECD-Schnitt fehlen. Was machen Sie,
statt diese eklatante Unterfinanzierung zu überwinden? Jetzt noch die Länder zu erpressen nach dem Motto:
Sie reißen immer neue Milliardenlöcher in den Bundes- „BAföG-Erhöhung gibt es nur, wenn die Stipendien
haushalt: mit der Abwrackprämie, eingeführt zu Zeiten kommen“, das geht so nicht.
der Großen Koalition, jetzt mit Steuergeschenken für
Besserverdienende und für Lobbyverbände. Das geht so (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/
nicht. Wenn das Bundeskabinett jetzt Steuersenkungen CSU und der FDP – Ulla Burchardt [SPD]:
beschließt, dann entzieht es der Bildungsrepublik die fi- Das ist der goldene Zügel!)
nanzielle Grundlage und wird Bildungskürzungen in den – Ja, das ist doch klar. Das ist der goldene Zügel. Das ist
Ländern und in den Kommunen hervorrufen. Erpressung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Daher gehören Steuersenkungen eingemottet; sonst ver- Herr Kollege, kommen Sie zum Ende, bitte.
kommt die Bildungsrepublik gänzlich zum Märchen-
land. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir sagen ganz klar: „Privat vor Staat“ ist das falsche
Es wird aber noch doller: Die Rechnungen für Frau
Rezept für Bildungsreformen. Ein Kurswechsel im Bil-
Schavans Feuerwerk an Ankündigungen landen zum
dungssystem ist überfällig: für mehr Chancengerechtig-
Großteil bei den Ländern, sei es für das ungerechte Sti-
keit, für höhere Bildungsinvestitionen, für bessere Insti-
pendiensystem, die vage BAföG-Erhöhung oder die un-
tutionen und Strukturen und für eine höhere Qualität.
terfinanzierten Wissenschaftspakte. Sie stehen sozusagen
auf dem Sonnendeck des Bundes und bestellen Champa-
gner, während die Ländermannschaft im Maschinenraum Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
verdurstet. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wer Herr Kollege.
436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

(A) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Also gebe ich Ihnen den guten Tipp: Sorgen Sie doch (C)
Wenn Schwarz-Gelb einen solchen Kurswechsel ein- einfach einmal dafür, dass man irgendwann in Deutsch-
leitet, dann haben sich die Bildungsstreiks gelohnt. land sagt:
Vielen Dank. (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das ist ein bun-
desweiter Streik!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Bildungspolitik in Brandenburg und Berlin ist super. –
LINKEN) Bislang kommt in Deutschland niemand auf die Idee, in
Berlin eine besonders gute Bildungspolitik vorzufinden.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Annette derspruch bei der SPD und der LINKEN – Zu-
Schavan. rufe der Abg. Ulla Burchardt [SPD])
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Sie haben eben geredet, und ich war still; jetzt rede ich,
und Sie sind still. Ja, so sind die Spielregeln im Parla-
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- ment.
dung und Forschung: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! neten der FDP – Zuruf des Abg. Swen Schulz
Meine Damen und Herren! Im Studienjahr 2009 begin- [Spandau] [SPD])
nen 423 000 Studierende ihr Studium, so viele wie noch
nie in Deutschland. Ein Plus von 7 Prozent. Weder in Brandenburg noch in Berlin gibt es Studien-
gebühren. In beiden Ländern können Studierende über-
(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Sehr gut!) haupt nicht gegen Studiengebühren demonstrieren, weil
Im Studienjahr 2009 nehmen nun über 43 Prozent des es da keine gibt.
Jahrgangs ein Studium auf, weil sie davon überzeugt (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
sind, dass das attraktiv ist. CDU/CSU und der FDP – Nicole Gohlke [DIE
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – LINKE]: Ja, Gott sei Dank!)
Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja – und die Ab- Gewagt finde ich
brecherquote?)
(Zuruf der Abg. Ulla Burchardt [SPD])
(B) Deutschland ist außerdem nach den USA und Groß- (D)
britannien das drittbeliebteste Gastland für Studierende – Frau Burchardt, ich bin jetzt am Umlernen; wenigstens
aus aller Welt. Auch das ist ein guter Hinweis auf die At- haben Sie jetzt für die Opposition geredet und nicht
traktivität des Wissenschaftssystems in Deutschland. mehr für die eigene Koalition; das beruhigt mich –
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Ulla Burchardt [SPD]: Aber das weiterbil-
neten der FDP – Florian Pronold [SPD]: Da dende Lernen sollte auch für die Regierung
haben Sie lange in der Statistik suchen müs- gelten!)
sen, bis Sie so etwas gefunden haben!)
schon, dass von Ihnen, kaum dass das Statistische Bun-
Angesichts dessen finde ich, die Reden, die ich eben desamt die neuen Studienanfängerzahlen veröffentlicht
gehört habe, sind schlicht ziemlich gewagte Auftritte. hatte, eine Pressemitteilung mit dem Inhalt kam: Der Ju-
bel sei verfrüht.
(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie tun so, als kämen Sie aus einer anderen Welt, hätten Recht hat sie!)
mit Bildungspolitik in Deutschland gar nichts zu tun.
Da argumentieren Sie mit den Stärken der Jahrgänge. Ja,
(Zuruf der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) das sagen Sie. Aber die einzige Zeit, in der die Stärke der
Interessanterweise, verehrte Frau Kollegin, haben die Jahrgänge und die Prozentzahl derjenigen, die ein Stu-
Streiks in Brandenburg und Berlin begonnen. dium aufnehmen, sich unterschiedlich entwickelt haben,
waren die Jahre 2003 bis 2006. Da hat genau das ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai stimmt, was Sie sagen: stärkere Jahrgänge, dennoch
Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich Rückgang der Zahl derer, die studieren. Seit 2006 ist es
dachte, in Österreich! – Weitere Zurufe von anders. Heute ist völlig klar: starke Jahrgänge und noch
der SPD und der LINKEN) stärkerer Andrang an den Hochschulen.
In Brandenburg und Berlin (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Ulla Burchardt [SPD]: Freiburg!) der FDP – Zurufe von der SPD)

– zu Freiburg komme ich gleich – regieren SPD und – Die Debatte ist ein Vorgeschmack auf die kommenden
Linke. vier Jahre. Ich nehme das an. Das macht mir großen
Spaß. Sie müssen nur mit all dem, was Sie sagen, irgend-
(René Röspel [SPD]: Das ist gut so!) wie auch in der Öffentlichkeit bestehen können.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 437
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
(A) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]): Gehen Sie (Frank Schwabe [SPD]: Wann kommen Sie (C)
doch mal in Versammlungen! Gehen Sie doch zum Thema?)
einfach mal zu den Leuten!)
Ernst nehmen heißt: auch widersprechen.
Sehen Sie sich einmal den Zuwachs bei den Zahlen (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Sie irren sich
der Studienanfänger in den Ländern an. Die höchsten aber!)
Zuwachsquoten gibt es in Nordrhein-Westfalen, in Ba-
den-Württemberg, in Bayern, also in Ländern, in denen Ernst nehmen heißt: korrigieren. Die Korrekturen sind
es Studiengebühren gibt. Denn für die Studierenden ist beschlossen, und sie werden umgesetzt. Die Bundes-
nicht interessant, ob es eine Studiengebühr gibt, sondern regierung investiert 12 Milliarden Euro. Sie hat in der
interessant ist, was sie an einer Universität erwartet, wo letzten Legislaturperiode ungewöhnlich viel geholfen.
es die besten Lehrkonzepte gibt. Liebe Frau Burchardt, wenn Sie mir da wieder mit der
Agentur und dem Bologna-Prozess kommen, kann ich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nur sagen: In der Tat, die rot-grüne Bundesregierung hat
Widerspruch bei der LINKEN) diese Reform 1999 in Gang gesetzt.
Den Vergleich können Sie anhand folgender Zahlen (Ulla Burchardt [SPD]: Und das Geld angebo-
selber ziehen: In Nordrhein-Westfalen beträgt der Zu- ten, Frau Schavan! Und Sie behaupten öffent-
wachs 8,2 Prozent, in Baden-Württemberg 7,3 Prozent, lich Falsches!)
in Bayern 9,2 Prozent, in Brandenburg, Bremen und
Rheinland-Pfalz 4 Prozent. Auch wenn einem das nicht Ich stehe dazu. Ich halte die Einführung für richtig. Aber
passt: Das sind die Fakten. Die Studierenden haben ein die Frage, wer welchen Pakt mit den Ländern umsetzt,
gutes Gespür dafür, wo sie ernst genommen werden. ist eine Frage der politischen Kunst. Es ist etwas ande-
res, ob ich als Bundesregierung den Eindruck erwecke,
(Ulla Burchardt [SPD]: Und wann veröffentli- dass ich unentwegt Reformen mache, die irgendwie ge-
chen Sie die HIS-Studie, die Sie zurückhal- gen die Länder gerichtet sind, oder ob ich mit den Län-
ten?) dern gemeinsam Vorhaben wie den Hochschulpakt, die
– Es wird überhaupt keine Studie zurückgehalten. Sie Exzellenzinitiative und anderes umsetze.
wird dann veröffentlicht, wenn sie fertig ist. (Ulla Burchardt [SPD]: Sie haben aus Prinzip
(Ulla Burchardt [SPD]: Die liegt vor!) alles blockiert, was von Rot-Grün gekommen
ist!)
In drei Wochen wird eine weitere Studie veröffentlicht.
Wir haben es umgesetzt, und Sie sind beim Bundesver-
Darin sind die Studierenden befragt worden, wie zufrie-
(B) fassungsgericht gescheitert. Das ist die Realität. Es wa- (D)
den sie sind und was ihnen wichtig ist. Das wird eine
ren nicht die B-Länder, sondern das Bundesverfassungs-
wunderbare Debatte geben. Ich freue mich schon sehr
gericht.
auf die Veröffentlichung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai
(Ulla Burchardt [SPD]: Seit Juni liegt die Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und
nämlich vor!) deshalb haben Sie das Kooperationsverbot
Aus all dem können Sie ersehen, wie sehr die Studie- verhandelt!)
renden spüren: In diesem Land ist etwas los, Die Maßnahmen sind genannt worden: Weiterent-
(Ute Kumpf [SPD]: Das merkt man!) wicklung des BAföG, nationales Stipendienprogramm,
Bildungssparen. So sieht eine Politik guter Balance aus.
hier bewegt sich etwas, hier wird investiert. Diejenigen,
die Verantwortung tragen, aber mit dieser Verantwortung (Ute Kumpf [SPD]: Der Ungerechtigkeit!)
nicht fertig werden, sollten sich überlegen, was sie sa- Auf diese Weise machen wir deutlich, dass wir zu den
gen. Studierenden stehen und zu der Aussage, dass für jeden
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Völlig in dieser Gesellschaft gilt: Investition in Bildung lohnt
richtig!) sich.

Ich mag ja die Kollegen und Kolleginnen von den Vielen Dank.
Grünen sehr. Nur, die Schulreform in Hamburg ist für sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
jetzt zumindest ein Kommunikationsproblem. Ich sage
das einmal ganz vorsichtig: Das ist überhaupt noch nicht Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
vollendet. Man kann lange darüber diskutieren, warum. Die Abgeordnete Daniela Kolbe hat das Wort für die
Jedenfalls ist die Öffentlichkeit in Deutschland nicht von Fraktion der SPD.
jedem Satz, den ich unaufhörlich von Ihnen höre, über-
zeugt. Da haben Sie ein politisches Problem. So einfach (Beifall bei der SPD)
ist das.
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
Abschließend will ich sagen: Ich nehme die Studie- und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Vorgestern
renden ernst, sowohl im Sommer als auch heute. zogen circa 10 000 Studierende anlässlich der Hoch-
438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Daniela Kolbe (Leipzig)


(A) schulrektorenkonferenz durch meine Heimatstadt Leip- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
zig. Sie demonstrierten dort für mehr Qualität und gegen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Studiengebühren, gegen die Selektion, gegen die Selek- LINKEN)
tivität in unserem deutschen Bildungssystem. In aus-
nahmslos jeder Rede waren diese beiden Punkte Thema: Was ist die Antwort der Frau Ministerin auf die Fra-
Die Qualität der Bildung muss gesteigert werden, und es gen solcher Familien? Die Antworten lauten: Studienge-
darf keine Studiengebühren geben. bühren: ja; BAföG: erst eher nein, dann vielleicht und
jetzt ganz ohne Zweifel ja;
Ich weiß das, weil ich dort war; denn es war mir ein
Herzensanliegen, meine Solidarität mit den Studierenden (Ulla Burchardt [SPD]: Die Frage ist nur,
zu zeigen. wann!)

(Beifall bei der SPD) BAföG-Erhöhung: erst nein, dann vielleicht und jetzt
aus vollem Herzen ja.
Ich teile ihre Auffassung, dass so manches in unserem
Bildungssystem, in den Schulen und in den Hochschu- Statt den Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung
len, verkehrt läuft. zu stärken, wollen Sie ein Stipendiensystem installieren.
Statt sich um Bildungschancen für alle zu kümmern, ver-
Bei den derzeitigen Protesten der Schülerinnen und anstalten Sie eine Lebenschancenlotterie. Sehr geehrte
Schüler sowie der Studierenden geht es nicht um De- Frau Ministerin, mit Lebenschancen spielt man nicht.
tailfragen. Es geht um die ganz grundsätzliche Frage:
Welchen Stellenwert hat Bildung in unserer Gesell- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schaft? Geht es darum, Bildung in guter Qualität als der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Menschenrecht für alle zur Verfügung zu stellen, oder GRÜNEN)
geht es nur darum, ausreichend Fachkräfte für die Wirt- Anders als in einer fairen staatlichen Lotterie, bei der je-
schaft und gute Bildung für manche zur Verfügung zu des Los die gleiche Chance auf einen Gewinn hat, sieht
stellen? es in diesem Stipendienspiel ganz anders aus. Wir alle
Sehr geehrte Frau Ministerin, die Menschen glauben wissen doch, dass schon unser Schulsystem diejenigen
Ihnen nicht, dass Ihnen gute und gleichwertige Bildung begünstigt, die aus Elternhäusern mit guter Bildung
für alle ein Herzensanliegen ist. stammen. Einkommensschwache, gegebenenfalls bil-
dungsfernere Familien werden benachteiligt. Das heißt
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aber eben auch, Menschen aus bildungsnahen Familien
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE haben eine größere Chance, ein Gewinnlos zu ziehen
GRÜNEN) und damit ein Stipendium zu erhalten.
(B) (D)
Im Gegenteil: Mit Sorge betrachten viele Eltern und Doch anstatt Ihren Stipendienvorschlag sozial gerech-
viele Studierende die derzeitige Entwicklung hin zu Stu- ter zu gestalten oder zumindest zur Kenntnis zu nehmen,
diengebühren und zur Privatisierung von Bildung. Dabei dass die Selektivität in unserem Bildungssystem ein Pro-
wäre es wichtig, gerade den Nichtakademikerfamilien blem ist, werden Sie diese Selektivität verschärfen. Wo
Sicherheit in Fragen der Studienfinanzierung zu geben ist denn Ihr vehementer Widerstand gegen die Herdprä-
und ihnen ein gebührenfreies, diskriminierungsfreies mie, gegen das Betreuungsgeld?
Studium zu ermöglichen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) LINKEN)
Denn: Ob und wie viel Geld man für Bildung bezah- Dieses Betreuungsgeld macht aus Kindern bildungsfer-
len muss, ist in vielen Familien ein extrem wichtiges ner Familien bildungsferne Kinder. Für diese Kinder
Thema. Eine Untersuchung des Institutes für Wirt- rückt doch ein solches Stipendium schon vor dem Be-
schaftsforschung Halle von diesem Montag belegt – Sie ginn der Schule in unerreichbare Ferne.
hatten vorhin gelacht –, dass mittlerweile immer mehr
junge Leute gerade aus einkommensschwachen Familien Was soll dieser Vorschlag zum Thema Bildungsspa-
in Länder ziehen, wo es keine Studiengebühren gibt. ren? 1,7 Millionen Kindern, die auf Grundsicherung an-
gewiesen sind, und ihren Familien wird doch schon von
(Ulla Burchardt [SPD]: Genau!) vornherein signalisiert, dass sie sich an diesem Wettbe-
Ich kann das aus meiner eigenen Biografie belegen. werb um beste Chancen auf Bildung erst gar nicht zu be-
Für mich war klar, dass ich studieren will. Meine Eltern teiligen brauchen.
haben sich gefreut. Aber in die Freude mischte sich dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
die Sorge: Können wir uns zwei intelligente Kinder ei- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
gentlich leisten? Meine Großeltern waren da ein biss- GRÜNEN)
chen direkter und haben gefragt: Muss das denn sein?
Mach doch erst mal was Vernünftiges! Verdiene doch Frau Schavan, auch wenn Sie dreimal behaupten, wie
erst mal Geld! Das waren ihre Fragen zu einer Zeit, in Sie das in Ihrer Regierungserklärung und auch heute
der das BAföG sicher war und es keine Studiengebühren getan haben, es habe der SPD geschadet, so auf der Kos-
gab. Verschulden fürs Studium – das wäre niemals in- tenfreiheit zu bestehen, will ich sagen: Die Zehntausen-
frage gekommen. den Studierenden draußen auf der Straße, in den Rekto-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 439
Daniela Kolbe (Leipzig)
(A) raten und in den Hörsälen geben uns recht. Es bleibt bei Wir würden das Geld lieber in die Qualität der Kitas (C)
der sozialdemokratischen Forderung: Kostenfreie Bil- stecken. … Aber es ist schwierig, Wahlversprechen
dung von der Kita bis zum Master. rückgängig zu machen. Dann hätten wir ein Glaub-
würdigkeitsproblem. Wenn wir es aber von Anfang
Vielen Dank.
an anders gemacht hätten, hätten wir jetzt 50 Mil-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lionen Euro mehr für die Qualität der Kitas, für
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE mehr Personal, für eine bessere Erfüllung des Bil-
GRÜNEN) dungsauftrags.
So schwer es mir als Liberalem fällt: Diese Abgeord-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nete der Linken, diese Senatorin hat recht. Mehr Qualität
Liebe Frau Kolbe, auch für Sie war dies die erste in den Kitas, mehr Personal, eine bessere Erfüllung des
Rede hier im Haus. Dazu herzlichen Glückwunsch von Bildungsauftrages und die Schaffung besserer Voraus-
uns allen und viel Erfolg bei Ihrer Arbeit im Parlament. setzungen, das ist das Thema. Aber es geht nicht darum,
(Beifall) dies kostenlos auf allen Ebenen zur Verfügung zu stel-
len.
Der Kollege Patrick Meinhardt spricht jetzt für die
FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Absolute Funkstille herrscht anscheinend bei allen,
der CDU/CSU) wenn es um ein weiteres zentrales Thema unserer deut-
schen Bildungspolitik geht, um die berufliche Bildung.
Patrick Meinhardt (FDP): Sie sagen immer, es solle überall Kostenfreiheit geben.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen Aber keiner denkt darüber nach, wie viel die Ausbildung
und Kollegen! Es ist immer richtig, wenn Schüler und eines Auszubildenden kostet und wie viel die Meister-
Studierende für ihre Interessen auf die Straßen gehen, ausbildung – durchschnittlich 6 000 Euro; die Zahlen
und es ist allemal richtig, dass wir im Deutschen Bun- des ZDH geben das her – kostet, die privat getragen
destag über den besten Weg im Hinblick auf die Grund- wird. Wir diskutieren in diesem Land immer so, als ob es
linien des zentralen Zukunftsthemas Bildung miteinan- keine berufliche Bildung geben würde. Wer für Gleich-
der streiten, aber auf realistischer Grundlage. Schüler wertigkeit ist, sollte auch an dieser Stelle redlich disku-
und Studierende dürfen nicht wie hier vor den falschen tieren und darauf hinweisen, dass hier ganz selbstver-
politischen Karren gespannt werden. ständlich Geld privat in die Hand genommen wird. Und
es gibt keine Streikbewegung; denn die Betroffenen sa- (D)
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen: Es ist gut, einen eigenen Beitrag zu leisten.
Wir sollten eine wirkliche Debatte darüber führen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
wie das Bildungsland Deutschland vorangebracht wird. René Röspel [SPD]: Deshalb wollen Sie den
Es geht bei der Bildungsdebatte definitiv nicht um einen Azubis die Vergütung kürzen!)
Discountartikel nach dem Motto: billig, billiger, am bil-
ligsten. Es geht vielmehr um eine Qualitätsdebatte, da- Eine ähnliche Debatte wird immer wieder über Stu-
rum, wie wir Bildung gut, besser und am besten gestal- diengebühren geführt. Wir brauchen ein starkes BAföG;
ten. Das ist unsere Zielrichtung in dieser Debatte. wir brauchen intelligentes Bildungssparen, wir brauchen
ein nationales Stipendienprogramm. Dieser Dreiklang
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
– und nur dieser Dreiklang – kann und muss die Trend-
Meine sehr geehrten Damen und Herren, geschätzte wende hin zu einem anderen Bewusstsein für lebenslan-
Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, wa- ges Lernen bringen – und das ist in den nächsten vier
rum gehen gerade die Eltern in Berlin auf die Barrikaden Jahren eine wichtige Voraussetzung für mehr Bildungs-
– die Ministerin hat darauf hingewiesen –, obwohl der gerechtigkeit, der sich diese Bundesregierung verpflich-
rot-rote Senat hier in Berlin das Füllhorn der Beitrags- tet fühlt.
freiheit ausschüttet, und warum haben die Streiks in
Brandenburg angefangen? Weil die Eltern sehen, dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ihnen Sand in die Augen gestreut wird. Die Umfrage des Die FDP will starke Hochschulen, die selbstständig,
Landeselternausschusses war doch desaströs: 8 Prozent eigenständig und autonom mit Lehrenden und Studieren-
der Eltern waren für einen Wegfall der Kita-Kosten, den entscheiden, ob und in welcher Höhe Studiengebüh-
92 Prozent wollten keine Beitragsfreiheit, sondern eine ren bzw. Studienentgelte zu erheben sind. Das ist der
Qualitätsverbesserung. Diese 92 Prozent haben recht. richtige Weg. Diese Entscheidung sollten wir den Hoch-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – schulen nicht wegnehmen. Wenn wir dort Autonomie
Karin Binder [DIE LINKE]: Haben Sie das hinbekommen würden, wäre das der richtige Weg. Vor
mal in Baden-Württemberg eruiert?) Ort sollte entschieden werden: Ja oder nein, und, wenn
ja, in welcher Höhe Studiengebühren erhoben werden
Ich zitiere einmal eine gewisse Carola Bluhm – sie ist sollten – nicht hier im Deutschen Bundestag.
momentan Sozialsenatorin; als sie am 23. Juli dieses
Jahres ihr Interview gegeben hat, war sie noch die Vor- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sitzende der Fraktion der Linken hier in Berlin –: der CDU/CSU)
440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Patrick Meinhardt
(A) Im Hinblick auf die Bildungsdebatte und das, was in der Lernenden endlich zu beenden. Da können Sie uns (C)
Berlin abläuft, erlauben sie mir zum Abschluss denjeni- entgegenschleudern, was Sie wollen, Herr Kretschmer,
gen zu Wort kommen zu lassen, der diese Problematik das bleibt auch so. Studienplätze müssen nämlich aus-
wie kein anderer auf den Punkt bringt: Professor finanziert werden. Das ist derzeit nicht der Fall.
Dr. Dieter Lenzen, Präsident der FU Berlin.
Seit dem Bildungsgipfel 2008 gibt es eine Verständi-
(Zuruf von der LINKEN: Oh!) gung auf die ominösen 10 Prozent, 7 plus 3 heißt die
Formel. Das war nicht immer die einheitliche Meinung,
Er hat dem rot-roten Kabinett einiges ins Stammbuch ge-
weder bei der CDU/CSU noch – meines Wissens – bei
schrieben. Er stellt fest, dass es kein Vertrauen mehr in
der FDP.
die Planungssicherheit gibt. Er stellt fest, dass der Senat
den Hochschulen eine gegenseitige Kapitulationserklä- In der Koalitionsvereinbarung steht nun, dass Bildung
rung aufgedrückt hat. Er fühlt sich düpiert. Der Senat sei zukünftig eine gesamtstaatliche Aufgabe sein soll. Es
kein seriöser Partner mehr. Die Ausbildung der Studie- wundert mich schon sehr, wie Sie diese staatliche Auf-
renden werde einen weiteren Qualitätsverlust hinnehmen gabe definieren. In Ihrer Vereinbarung steht: Die Länder,
müssen, weil nur noch Quantität zähle. Wissenschaftsse- die Wirtschaft und die Privaten sollen ihre Beiträge auf
nator Zöllner hat – so Dr. Lenzen – ein völlig anderes 10 Prozent anheben. – Das ist sehr seltsam. 10 Prozent
Verständnis von der Steuerung von Hochschulen als alle wovon denn bitte? Seit wann sind Wirtschaft und Private
Länder der Welt, abgesehen von China. Deswegen ist die staatliche Einrichtungen? Das habe ich anders gelernt.
rot-rote Bildungspolitik zerstörerisch. – Das ist die
Realität roter Bildungspolitik vor Ort. Erzählen Sie uns (Beifall bei der LINKEN)
also nicht, wie Bildung besser organisiert werden soll. Ein Viertel aller Bildungsausgaben wird tatsächlich
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) durch Private geleistet. Nur sind damit eben nicht nur die
Unternehmen gemeint, die für die Fort- und Weiterbil-
Statt gebührenfreier Bildung für alle wollen wir die dung ihrer Beschäftigten aufkommen. Das wäre ja zu ak-
beste Bildung für jeden. Das ist unsere Überzeugung. zeptieren. Nein, hier geht es auch um die Mittel, die für
Vielen Dank. private Nachhilfe aufgewendet werden, und die sind in-
zwischen erheblich. Bei allem Respekt: Die massenhafte
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Notwendigkeit von Nachhilfe ist ein Ausweis dafür, dass
das öffentliche Schulwesen seiner Aufgabe nicht mehr
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gerecht werden kann. Das muss Ihnen zu denken geben.
Die Kollegin Dr. Rosemarie Hein hat jetzt das Wort (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(B) für die Fraktion Die Linke. neten der SPD) (D)
(Beifall bei der LINKEN) Die Konsequenz, die die Regierung aus dieser Tatsa-
che zieht, ist fatal. Mit der Betonung des privaten
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Engagements für die Bildung soll – ich hätte fast gesagt:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! durch die Hintertür; aber das stimmt nicht, das geschieht
In einem sind sich die Streikenden in den Hochschulen ganz offen – eine weitere Privatisierung der Bildungs-
mit der Regierung tatsächlich einig: Um Bildungsarmut kosten gesellschaftsfähig gemacht werden. Dieses Ge-
den Kampf anzusagen, bedarf es einer nationalen An- sellschaftsfähigmachen heißt: Bildungssparen. Sie lie-
strengung. Die Studierenden leisten mit ihrem Streik ge- gen sehr falsch, wenn Sie glauben, dass damit für mehr
rade einen Beitrag dazu. Allerdings würden sie lieber gut soziale Gerechtigkeit gesorgt würde. Das Bildungsspa-
studieren können. ren, das wurde hier schon gesagt, nutzt vor allem denen,
die sparen können. Wie viel Geld jemand auf die Seite
(Beifall bei der LINKEN) legen kann, hat etwas damit zu tun, wie viel er verdient.
Herr Meinhardt, es wäre sehr schön gewesen, wenn Wer viel Geld hat, kann viel auf die Seite legen, wer
Sie beim Thema geblieben wären und darüber geredet Hartz IV bekommt, nichts.
hätten, was die Studierenden bei ihrem Streik bewegt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD)
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Das Kinderhilfswerk stellt in seinem jüngsten Kinderre-
GRÜNEN)
port fest, dass sich die Zahl der von Armut betroffenen
Es ist mitnichten so, dass die ersten Länder, in denen ge- Kinder inzwischen bei 3 Millionen einpendelt. Es sind
streikt wurde, Berlin und Brandenburg gewesen wären. also nicht 1,7, 1,8 oder 2,5 Millionen, sondern 3 Millio-
Zuerst wurde in Heidelberg und auch in Österreich ge- nen Betroffene. Denen ist mit Bildungssparen überhaupt
streikt. Es war also auf jeden Fall woanders und nicht nicht geholfen, aber gerade die brauchen Hilfe.
dort, wo Sie es uns eben weismachen wollten.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Ihre Rechnung ist eine Milchmädchenrechnung. Mit
Die Streikenden haben eine andere Vorstellung als die ganzen 12 Milliarden Euro, verteilt auf vier Jahre, wol-
Regierung davon, was nötig ist, um die extreme Abhän- len Sie die Peinlichkeit des völlig unterfinanzierten Bil-
gigkeit des Bildungserfolgs vom sozialen Hintergrund dungssystems in Deutschland kaschieren. Die Länder
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 441
Dr. Rosemarie Hein
(A) bringen längst 50 Prozent aller Ausgaben für Bildung Aus der Sicht anderer Länder, die diese Debatte ver- (C)
auf. Der Bund hat im Jahr 2005 – aktuellere Zahlen sind folgen, stellt sich die Frage, ob das noch verhältnismäßig
im Bildungsbericht leider nicht zu finden – gerade ein- ist. Es gibt wohl kaum ein Land, kaum einen Staat, der in
mal 8,5 Prozent aufgebracht. Auch wenn Sie 3 Milliar- der Bildungspolitik sozialer ausgerichtet ist als die Bun-
den Euro jährlich drauflegen, hat das noch lange nichts desrepublik Deutschland.
mit gesamtstaatlicher Verantwortung zu tun. In Sachsen-
Anhalt, dem Land, aus dem ich komme, machen die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Ausgaben für Bildung und Forschung zusammen inzwi- Widerspruch bei der SPD – Nicole Gohlke
schen 16 Prozent des Gesamtetats aus. Der entspre- [DIE LINKE]: Wie erklären Sie sich denn
chende Einzelplan des Bundes liegt bei weniger als dann die Proteste?)
5 Prozent. Frau Schavan, angesichts dessen ist Ihr Ver- Die Bundesrepublik hat eine soziale Bildungspolitik.
weis auf die Länder gewagt. Sie rufen: „Haltet den
Dieb!“ und schauen dabei auf die Länder, obwohl der (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
Bund gefragt ist. GRÜNEN]: Haben Sie mal die internationalen
Studien gelesen?)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Diese Bundesregierung ist Vorreiter und verfolgt eine
Bildungspolitik, die sozialer ist, als die einer jeden Bun-
Die Föderalismusreform ist ein Flop. Das wissen Sie desregierung davor es war.
wahrscheinlich schon längst. Ihr Bildungskonzept
schreibt die Entsolidarisierung der Gesellschaft fort, frei (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nach dem Motto: Wenn jeder an sich denkt, ist auch an NEN]: Was haben Sie denn gelesen?)
jeden gedacht. Die wichtigsten Fakten noch einmal zur Erinnerung.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Die Bildung hat bei dieser Bundesregierung absolute
LINKEN) Priorität. Das wird an mehreren Zahlen deutlich. Künftig
werden in der Bundesrepublik Deutschland 10 Prozent
So wird es dabei bleiben, dass ein Akademikerkind eine des Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung in-
sechsmal höhere Chance hat, das Abitur zu machen, als vestiert werden. Das ist international absolute Spitze.
ein Kind aus einer Arbeiterfamilie. Selbstzufriedenheit, Wir erhöhen die Ausgaben für Bildung und Forschung in
wie Sie sie hier gerade demonstriert haben, ist da wirk- dieser Legislaturperiode um sage und schreibe 12 Mil-
lich fehl am Platze. liarden Euro; das entspricht gegenüber 2005 einer Ver-
doppelung des Etats. Das ist die größte Mittelsteigerung
(Beifall bei der LINKEN und der SPD)
(B) bei einem Ressort in der Bundesrepublik Deutschland. (D)
Wir werden die Streikenden weiter unterstützen; wir
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Burchardt
können sie gut verstehen. Wir werden sie darin bestär-
[SPD]: Ohne uns wäre das nie so weit gekom-
ken, in ihrem Protest nicht nachzulassen, bis Vernunft in
men!)
die Politik einzieht. Doch ich habe die Befürchtung, dass
das noch eine ganze Weile dauern wird. Der Bildungspakt ist eine Investition, von der insbe-
sondere sozial schwache Familien profitieren. 275 000 zu-
Danke schön.
sätzliche Studienplätze bis 2015 – dadurch werden insbe-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sondere sozial schwache Familien unterstützt. Mehr
neten der SPD) Geld für jeden Studienplatz – auch dadurch werden ins-
besondere Studenten aus sozial schwachen Familien un-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: terstützt. Es gibt noch vieles andere mehr.
Frau Dr. Hein, das war Ihre erste Rede in diesem Ho- Unser klares Ziel ist – das ist ein Riesenkraftakt –,
hen Hause. Herzlichen Glückwunsch dazu! Alles Gute dass das Bildungssystem Deutschlands eines der besten
für Sie und Ihre Arbeit! weltweit wird. Deswegen sind die Anliegen der Studen-
ten, die derzeit protestieren, in der Tat berechtigt. Es ist
(Beifall)
in der Tat notwendig, den Bologna-Prozess kritisch zu
Albert Rupprecht hat jetzt das Wort für die CDU/ begleiten, genau hinzuschauen und dort, wo Verbesse-
CSU-Fraktion. rungen notwendig sind, diese nicht nur anzumahnen,
sondern auch umzusetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Ich persönlich glaube zunehmend, dass wir den
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Bologna-Prozess zwar nicht umkehren sollten, ihn aber
Herren! Der Vorwurf, die Bildungspolitik dieser Bundes- grundsätzlich hinterfragen müssen, wenn wir auch künf-
regierung sei unsozial, ist abenteuerlich, absurd und tig das Ziel einer aufgeklärten und mündigen Gesell-
durch Fakten in keiner Weise zu bekräftigen. schaft verfolgen wollen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
neten der FDP) Im Juni war das noch Gift!)
442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Albert Rupprecht (Weiden)


(A) Das gelingt aber nicht im Klassenkampf gegeneinander, dere Jugendlichen aus sozial schwachen Familien ein (C)
sondern nur im konstruktiven Gespräch miteinander. Wir Studium ermöglichen.
müssen gemeinsam mit den Studenten, den Ländern und
Mit dem Dreiklang aus Bildungssparen, Stipendien
der Bundesregierung die Probleme bei den Hochschulen
und einem höheren BAföG werden wir die finanzielle
anpacken.
Situation der Studenten verbessern. Wir ermöglichen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Chancengerechtigkeit. Wir wollen nicht alle gleichma-
neten der FDP) chen; wir wollen aber, dass junge Menschen die Vielfalt
ihrer Fähigkeiten und Begabungen entwickeln können.
Die Länder müssen in der Tat mitmachen. Beispiels-
Natürlich erwarten wir auch einen eigenen Beitrag, ei-
weise hat das bayerische Kabinett vor wenigen Tagen
gene Anstrengungen. Ich glaube, es ist nicht zu viel ver-
beschlossen, 500 Millionen Euro zusätzlich in Bildung
langt, wenn junge Akademiker, die im Leben im Schnitt
zu investieren. Die rot-rote Regierung in der Stadt Berlin
120 000 Euro mehr verdienen als der Durchschnitt der
hingegen hat unter Wowereit genau das Gegenteil be-
Bevölkerung, einen kleinen eigenen Beitrag leisten.
schlossen: Die drei großen Universitäten bekommen
75 Millionen Euro weniger; 220 Professuren werden ge- (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das war aber
strichen, ganze Fachbereiche werden abgewickelt. auch mal anders!)
(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Hört!
Hört!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Es ist richtig, dass Sie von der Linken, der SPD und den
Grünen im Bundestag mehr Geld für Bildung und For-
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):
schung fordern; das ist unser gemeinsames Anliegen.
Sofort. – Deswegen bin ich nicht der Meinung, dass
Wir erheben aber den Anspruch, dass Sie diese Forde-
Bildung in jedem Fall kostenlos sein muss, ganz im Ge-
rung dort, wo Vertreter Ihrer Parteien regieren, mit Le-
genteil. Es ist aber wichtig, dass jeder junge Mensch
ben füllen.
unabhängig vom Geldbeutel der Eltern seine Talente ent-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: falten kann. Genau das ermöglicht diese Bundesregie-
Was wollen Sie denn jetzt im Bund machen? rung besser als jede andere zuvor. Noch nie hat eine
Sie regieren jetzt!) Bundesregierung so viel Geld für Bildung in den Bun-
deshaushalt eingestellt, wie es diese Regierung plant.
Die Wirklichkeit spricht eine andere Sprache.
Wir stellen die Finanzierung des Studiums auf meh- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(B) rere Füße. Wir erweitern das traditionelle BAföG um ein Herr Kollege! (D)
Stipendienprogramm und fördern künftig Bildungsspa-
ren. Es macht doch Sinn, der Bildung auch im Bewusst-
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):
sein der Eltern einen höheren Stellenwert zu geben.
Das hilft an erster Stelle Kindern und Jugendlichen
(Ute Kumpf [SPD]: Sie greifen den Eltern aus ärmeren Familien.
ganz schön tief in die Tasche!)
Herzlichen Dank.
Das bürgerliche Leitbild im Nachkriegsdeutschland war
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die Aussage der Eltern: Meinen Kindern soll es einmal
besser gehen. – Sie haben gespart, um ihren Kindern
eine gute Zukunft und eine gute Ausbildung zu ermögli- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
chen. Damals haben Eltern für ihre Kinder etwas zurück- Swen Schulz hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
gelegt, die wesentlich ärmer waren, als heute Hartz-IV- (Beifall bei der SPD)
Empfänger sind.
(Zuruf von der LINKEN: Zurück ins Swen Schulz (Spandau) (SPD):
19. Jahrhundert!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schon seit
Wenn wir zukünftig Eltern beim Bildungssparen einen
längerem gibt es Proteste, die Probleme sind ebenfalls
Zuschuss gewähren, dann eröffnen wir vor allem Kin-
seit langem bekannt. Auch diese Aktuelle Stunde ist
dern aus sozial schwachen Familien eine Chance, nicht
nicht gerade überraschend auf die Tagesordnung des
nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch weil dadurch
Deutschen Bundestages gesetzt worden. Das wäre doch
die Wertschätzung für Bildung als solche steigt und sie
die Stunde gewesen, in der die Regierungskoalition und
in den Familien an Bedeutung gewinnt.
die Ministerin ihre Konzepte, Ideen und Vorschläge für
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Lösung der Probleme darstellen.
Das glauben Sie doch wohl selber nicht! – Ute
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Kumpf [SPD]: Was haben Sie für ein Men-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schenbild? Das ist überhaupt nicht christlich!
Das ist Darwinismus pur!) Nun habe ich die ganze Zeit zugehört.
Darüber hinaus werden wir das BAföG, das traditionelle (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Scheint
und stärkste Standbein, ausbauen und damit insbeson- nicht so!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 443
Swen Schulz (Spandau)
(A) Ich muss leider sagen: Fehlanzeige! Nichts Hilfreiches, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
nichts Sinnvolles wurde gesagt. Stattdessen gab es von der LINKEN)
der Ministerin erstaunlich dünnhäutige und beleidigte
Reaktionen auf Kritik. Vor allem aber schieben Sie die Lasten der Finanzierung
von Bildung ein Stück weit vom Staat auf die Familien,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des auf die Einzelnen. Sie wollen sich für die Zuschüsse fei-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ern lassen, dabei stehlen Sie sich aus der öffentlichen
Verantwortung für Bildung.
Beim Kollegen Rupprecht bleibt einem ja schon die Spu-
cke weg, wenn man sieht, wie er die Augen vor den Pro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
blemen verschließt. der LINKEN)
Sie kommen hier immer wieder auf Berlin und Bran- Sie betrachten Bildung als eine Ware, die man sich
denburg zu sprechen. leisten können muss. Wer sie sich nicht leisten kann, der
(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Eben!) hat halt Pech gehabt. Ich will das an einem Beispiel fest-
machen: Für Hausaufgabenhilfe und Nachhilfe werden
Zwei Informationen dazu. In Berlin sind die Studieren- jedes Jahr Milliarden ausgegeben. Viele können sich das
den besonders aktiv; das hat Tradition, und das ist auch nicht leisten. Die Reaktion der Bundesregierung, der
ganz in Ordnung so. Wenn alle Bundesländer im Bil- politisch Verantwortlichen, kann doch nicht sein, einigen
dungswesen, gerade im Hochschulbereich, so viel tun ein bisschen mehr Geld zu geben, damit sie sich mehr
würden wie Berlin, dann hätten wir in Deutschland viele Hausaufgabenhilfe leisten können.
Probleme, über die wir heute reden, nicht.
(Ulla Burchardt [SPD]: Gutscheine!)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Vielmehr muss die Reaktion sein, dass die Schulen bes-
GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/ ser werden, damit die Pädagogen die entsprechende Un-
CSU]: Wir wollen keine Berliner Verhält- terstützung leisten können, damit sich niemand mehr
nisse!) Bildung kaufen muss.
Zum Thema Brandenburg. Frau Schavan, dass ich Sie (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
da aufklären muss, ist schon verwunderlich. Wir hatten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dort bis vor kurzem neun Jahre lang eine Große Koali-
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der Re-
tion. Wer war die zuständige Ministerin? Frau Wanka
gierungskoalition und uns Sozialdemokratinnen und So-
von der CDU. So viel dazu.
(B) zialdemokraten: Für uns ist Bildung ein Menschenrecht. (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der Staat ist in der Verantwortung, dass dieses Recht
der LINKEN) realisiert wird. Bildung darf nicht vom Geldbeutel ab-
hängig sein. Dafür setzen wir uns ein.
Im Umgang mit den Studierenden, Frau Schavan, ha-
ben Sie Kreide gefressen. Vor einigen Monaten waren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sie Ihrer Meinung nach noch gestrig, das ginge doch gar der LINKEN)
nicht. Inzwischen haben Sie Ihre Rhetorik geändert. Sie
haben sogar nach einigem Hin und Her eine BAföG-Er- Sie, Frau Schavan, sollten sich, statt Nebelkerzen zu
höhung angekündigt. Das ist gut; die SPD unterstützt werfen, dafür einsetzen, dass es keine Kita-Gebühren
das. Wir werden darauf achten, dass das auch vernünftig mehr in Deutschland gibt,
abläuft. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und [SPD])
der FDP) dass in den Schulen kein Büchergeld mehr erhoben wird
– Ja, wir werden darauf achten. Verlassen Sie sich da- und dass keine Studiengebühren gefordert werden. Das
rauf! wäre tatsächlich ein Beitrag, der allen helfen würde. Das
ist ein vernünftigerer Schritt als Stipendiensysteme oder
Man muss ein Stück weit darauf achten, was mit den das Bildungssparen.
angekündigten Instrumenten verbunden ist. Über Stipen-
diensysteme ist schon einiges gesagt worden. Auch das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Bildungssparen hört sich super an. der LINKEN)
(Patrick Meinhardt [FDP]: Ist es auch!) So viel zum Bereich der sozialen Situation. Zum
Thema gehört aber natürlich auch der Bereich der Stu-
Die Bürgerinnen und Bürger finden es großartig, dass sie diensituation. Die Zahl der Studienanfänger steigt. Umso
vom Staat Geld geschenkt bekommen. Aber es ist ein wichtiger ist es, dass wir die Situation verbessern. Dazu
vergiftetes Geschenk. Man muss sich einmal überlegen, hat die Regierung – auch das haben wir heute gehört –
was tatsächlich geschieht. Zum einen ist es so, dass nur keinen Plan, keine Idee. Da ist nichts. Sie haben nur den
diejenigen Geld bekommen, die selber für die Kinder Hochschulpakt, der ohne die SPD in der letzten Legis-
Geld zur Seite legen wollen und können. Das schließt laturperiode gar nicht möglich gewesen wäre.
viele aus. Damit verfestigen Sie eine Spaltung der Ge-
sellschaft. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Oh je!)
444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Swen Schulz (Spandau)


(A) Was macht diese Regierungskoalition aus CDU/CSU schulkonferenz stellte dazu vorgestern in Leipzig (C)
und FDP? Wir wollen einen Rechtsanspruch auf Master- treffend fest: Die Bologna-Reform ist unumkehrbar.
studiengänge. Was sagt die Bundesregierung? Wir haben
Ähnlich verhält es sich beim Thema Studiengebüh-
ein Konzept für gute Lehre. Wo ist hier die Bundesregie-
ren. Studiengebühren dürfen nicht von vornherein ver-
rung? Wir haben einen Finanzierungsvorschlag. Was
teufelt werden. Auch hier kommt es auf die praktische
macht die Bundesregierung? Die Regierungskoalition
Umsetzung an.
klopft sich für Maßnahmen, die wir zum größten Teil
noch in der Großen Koalition verabredet haben, auf die (Beifall bei der CDU/CSU)
Schulter. Ansonsten hauen Sie den Ländern und Ge-
Auch Studierende mit kleinem Geldbeutel müssen in der
meinden, die die Hauptlast der Finanzierung von Bil-
Lage sein, ihren Beitrag zugunsten ihres Studiums und
dung tragen, finanziell die Beine weg.
ihrer Universität zu leisten; denn die Studierenden von
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem heute sind die gut verdienenden Akademiker von mor-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen.
Etwa 15 Milliarden Euro zusätzlich müssten die Län- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
der und Gemeinden für eine Verbesserung des Bildungs- Widerspruch bei der LINKEN)
wesens investieren. Diese Regierungskoalition hilft
nicht. Im Gegenteil: Sie erschwert die Situation noch, Das Wohl und Wehe der Studierenden an unseren Uni-
indem irrsinnige Steuergeschenke gemacht werden. versitäten hängt nicht vom gebührenfreien Studium ab,
15 Milliarden Euro werden den Ländern und Gemeinden sondern von einer praktikablen Umsetzung des Bologna-
fehlen. Dieses Geld fehlt dann in den Kitas, in den Schu- Prozesses. Diese hat nämlich grundlegende Auswirkun-
len, an den Hochschulen. Das ist eine Politik, die gera- gen auf die Berufschancen unserer Studierenden.
dezu bildungsfeindlich ist. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE Des Weiteren werden in der aktuellen Diskussion nur
LINKE]) zu oft die falschen Adressaten angesprochen. Speziell
Ich stelle die Frage: Wo ist die Bildungsministerin? zum Thema „gebührenfreies Studium“ muss klargestellt
Frau Schavan, Sie sollten weniger Kreide fressen, son- werden: Das Ob und das Wie der Studiengebühren lie-
dern in der Bundesregierung die Zähne zeigen, gen allein in den Händen der Bundesländer.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh ja! Da
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE haben wir es wieder!)
(B) GRÜNEN) Eigentlich sollten Sie das wissen, werte Kolleginnen und (D)
und zwar denen, die diese irrsinnigen Steuergeschenke Kollegen; denn auch Ihnen müsste das Urteil des Bun-
machen wollen. Das wäre ein vernünftiger Beitrag zu ei- desverfassungsgerichts zum 6. Hochschulrahmengesetz
ner besseren Bildung in Deutschland. bekannt sein.

Herzlichen Dank. In einigen Bundesländern hat man sich gegen die Er-
hebung von Studiengebühren ausgesprochen, in anderen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für ihre Abschaffung. Ein aktuelles Beispiel für ein Bun-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE desland, in dem man sich für die Abschaffung von Stu-
GRÜNEN) diengebühren entschieden hat, ist mein eigenes Heimat-
land, das Saarland. Ich empfinde dies als den falschen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Weg. Ich kann mich der grundsätzlichen Einschätzung
Anette Hübinger spricht für die CDU/CSU-Fraktion. von Frau Professor Wintermantel, der Präsidentin der
Hochschulkonferenz, anschließen: Dort, wo Studienbei-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- träge erhoben wurden, sind sie zum größten Teil zur qua-
neten der FDP) litativen Verbesserung der Lehre eingesetzt.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das stimmt
Anette Hübinger (CDU/CSU):
doch gar nicht!)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Heute haben wir wieder gemerkt: Das Darauf kommt es an: auf die Qualität.
Thema Bildung ist in aller Munde. Das ist gut so; denn
(Beifall bei der CDU/CSU)
von einer guten Bildung hängt die Zukunft unseres Lan-
des ab. Jetzt muss auch im Saarland zur Kenntnis genommen
werden, dass alle Steuerzahler zum großen Teil die Aus-
Ich möchte auf die Studentenproteste zurückkommen.
bildung der zukünftigen – wie schon gesagt: gut verdie-
In den Mittelpunkt ihrer Proteste haben die Studierenden
nenden – Akademiker bezahlen müssen. Eine gerechte
die in vielen Bereichen schlechte Umsetzung des Bo-
Lastenverteilung sieht in meinen Augen anders aus.
logna-Reformprozesses gestellt, und das zu Recht. Wir
in diesem Haus haben die Reform der Reform schon seit Unser Ziel muss es sein, die staatliche Unterstützung
mehreren Jahren, seit der Konferenz in London, einge- für Studierende zu verbessern. Bereits in der zurücklie-
fordert. Bei aller berechtigten Kritik: Der Bologna-Pro- genden Legislaturperiode wurden Verbesserungen auf
zess darf dabei nicht infrage gestellt werden. Die Hoch- den Weg gebracht, und zwar Verbesserungen, die der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 445
Anette Hübinger
(A) Bund vornehmen kann. So sind die Mittel der Begabten- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
förderung in den vergangenen vier Jahren kontinuierlich
gestiegen. Im Rahmen der Qualifizierungsstrategie ha- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ben wir die sogenannten Aufstiegsstipendien eingeführt.
Die Kollegin Monika Grütters hat das Wort für die
Zum Wintersemester 2008/2009 wurden das BAföG um
CDU/CSU-Fraktion.
10 Prozent und die Freibeträge für das anrechenbare Ein-
kommen um 8 Prozent angehoben. (Beifall bei der CDU/CSU)
Die von der Bundesbildungsministerin Professor
Dr. Annette Schavan angekündigte BAföG-Erhöhung ist Monika Grütters (CDU/CSU):
deshalb im Zusammenhang mit dem angestrebten und Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
geplanten nationalen Stipendienprogramm und dem Vor- Herr Schulz, Sie sagen, dass die Debatte nicht überra-
schlag der Einführung eines Bildungskontos zu verste- schend kommt. Als dreizehnte Rednerin in dieser Aktu-
hen. Die geplante BAföG-Erhöhung wird zweifelsfrei ellen Stunde sage ich: Dass wir allein in diesem Jahr
für mehr soziale Durchlässigkeit an den deutschen zum zweiten Mal eine so große Bildungsdebatte führen,
Hochschulen sorgen und von vielen Studierenden den ist doch sehr beachtlich. Ich finde es auch beachtlich,
Druck nehmen, zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts dass das ein Ergebnis der Studentenproteste ist; das muss
neben dem Studium einen Job ausüben zu müssen. ich sagen. Der Bundestag muss sich also keineswegs
verstecken.
Als zweite Säule unserer Bemühungen werden wir
– auch das wurde schon öfter erwähnt – begabten Stu- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Aber die Bundes-
dierenden ein Stipendium zukommen lassen. regierung! Das ist das Problem!)
(René Röspel [SPD]: Was ist denn ein begab- Der Tenor der Reaktion hat sich deutlich geändert.
ter Studierender?) Wir hören allenthalben, dass sich etwas ändern muss,
dass die Reformen nicht gut durchgeführt sind. An die
Ziel ist es, den Anteil der Studenten in der Begabtenför- Adresse der Studierenden gerichtet sage ich: Das haben
derung von 2 auf 10 Prozent zu erhöhen. Auch das ist Sie richtig gemacht, und wir sind auch bei Ihnen.
ein lohnendes Ziel.
Aber es lohnt sich, richtig hinzuschauen und richtig
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hinzuhören, Frau Kollegin Gohlke. Nehmen wir einmal
Als dritte Säule haben wir in unserem Koalitionsver- Ihren Aufreger, die Studiengebühren. Keiner bestreitet,
trag die Einführung eines Bildungskontos für Neugebo- dass Studiengebühren für Einzelne tatsächlich ein
(B) rene festgeschrieben. Es ist eine Starteinlage in Höhe Hemmnis sind, ein Studium aufzunehmen. (D)
von 150 Euro geplant. Weitere Einzahlungen sollen in (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: „Einzelne“ ist
Anlehnung an die Riester-Rente steuerlich begünstigt ein bisschen untertrieben an der Stelle!)
werden. Das ist ein Anreiz zum Sparen. Wenn ich an
meinen anderen Politikbereich, die Entwicklungspolitik, Aber Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass Studienge-
erinnern darf: In der Entwicklungspolitik arbeiten wir bühren für genau so viele Menschen in Deutschland kein
grundsätzlich mit Anreizsystemen, und wir haben gute Hindernis darstellen.
Erfahrungen damit gemacht. Solche Anreizsysteme soll-
ten wir auch hier nutzen. (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und
der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es gibt keinen signifikanten Zusammenhang zwischen
Damit wird auch dem Anspruch auf lebenslanges Lernen der Erhebung von Studiengebühren und der Zahl der Im-
Rechnung getragen; denn Bildung gibt es nicht ein Le- matrikulationen an dieser Hochschule.
ben lang kostenlos. Jeder trägt in einer freiheitlichen Ge-
sellschaftsordnung wie der unseren auch ein Stück Ei- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
genverantwortung für seine Bildung und damit für seine Quatsch! Es gibt eine Studie, die das Gegenteil
Chancen im Leben. besagt!)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ute Im Gegenteil: In Baden-Württemberg, in Hamburg, im
Kumpf [SPD]: Die Last, die die CDU den El- Saarland, wo Studiengebühren erhoben werden, steigt
tern aufbürdet!) die Zahl der Studierenden, während sie in anderen Bun-
desländern – übrigens insbesondere in den neuen Bun-
Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, dass die desländern – zurückgeht.
Situation der Studierenden von der Koalition ernst ge-
nommen wird. Die Weiterentwicklung der vorhandenen Ein zweiter Befund, der uns alle – auch Sie – etwas
Instrumente in Kombination mit neuen Ansätzen wie angeht: In den neuen Bundesländern bleiben viele Ka-
dem Bildungskonto wird die Rahmenbedingungen der pazitäten frei, während die Großstädte und viele Stu-
Studierenden verbessern und stärken. Populistische For- dienorte in den alten Bundesländern von Studierenden
derungen – noch dazu an die falsche Stelle – sind hier geradezu überschwemmt werden. Die Studierenden be-
nicht angebracht. schweren sich über schlechte Bedingungen. Wenn es uns
allen gelingen würde, statt die Situation zu beklagen da-
Ich danke für die Aufmerksamkeit. für zu sorgen, dass sich die Studierenden anders vertei-
446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Monika Grütters
(A) len, und für die neuen Bundesländer viel mehr zu wer- Ich finde, in den Protesten drückt sich auch konstruk- (C)
ben, tive Kritik der Betroffenen aus. Es hat viele Änderungen
gegeben. Wir wollen weiter einen intensiven Dialog. Die
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
bildungspolitischen Grabenkämpfe jedenfalls sind vor-
der FDP)
bei. Wir brauchen eine Reformstufe zwei, mit der die
bekämen sehr viele Studierende wesentlich bessere Stu- Kinderkrankheiten geheilt werden.
dienbedingungen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ja, Frau Gohlke: Bildung ist ein Menschenrecht. Aber
Herr Gehring, ich finde, wir haben mit dem Hoch-
wenn Herr Gehring prompt erklärt, wir hätten in
schulpakt, den wir mit den Ländern vom Sonnendeck
Deutschland ein Ständedenken, muss ich Sie daran erin- des Bundes herab ausgehandelt haben,
nern, dass von den 2 Millionen Studierenden immerhin
41 Prozent BAföG bekommen. Insofern geht Ihre Pole- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
mik an der Realität vorbei. Schönes Bild!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mit der Exzellenzinitiative und mit einem Bildungsetat,
Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: 41 Pro- der nie so hoch war wie in der letzten Legislaturperiode
zent?) – jetzt gibt es noch einmal 12 Milliarden Euro mehr –,
einen intelligenten Weg gefunden, mit dem Koopera-
Frau Kolbe hat gesagt: Bildung für alle! – Irgendeine tionsverbot umzugehen. So soll das auch weiterhin sein.
„Bildung für alle“ zu fordern, finde ich sehr problema- Die ritualisierte Aufregung überlassen wir lieber der Op-
tisch. Macht es nicht viel mehr Sinn, jedem seine Bil- position.
dung zu ermöglichen?
Vielen Dank.
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Nicht zuletzt solche Differenzierungsmöglichkeiten wa-
ren ein wesentlicher Anstoß für die Zweiteilung des Stu- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
diums mit der Einführung eines ersten berufsbefähigen- Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
den Abschlusses im Rahmen der Bologna-Reform. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Übrigens: Das einzige Ziel, das wirklich erreicht worden
ist, ist, die Studienabbrecherquote signifikant zu senken. Beratung des Antrags der Bundesregierung
Die Differenzierungen müssen sein. Manche Professoren Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
(B) haben sich nichts Besseres einfallen lassen, als das Wis- scher Streitkräfte an der United Nations Inte- (D)
sen von neun Semestern in sechs Semestern zu lehren. rim Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grund-
Hier hätte ich mir mehr Fantasie gewünscht. Aber zu- lage der Resolution 1701 (2006) vom 11. Au-
mindest eines der Ziele, nämlich die Abbrecherquote zu gust 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt
senken, ist beim jetzigen Stand der Reform erreicht wor- 1884 (2009) vom 27. August 2009 des Sicher-
den. heitsrates der Vereinten Nationen
(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wo denn?) – Drucksache 17/40 –
Außerdem möchte ich Ihnen an dieser Stelle eine Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Frage stellen, Frau Gohlke. Die Arbeitswelt hat in den Rechtsausschuss
vergangenen Jahren eine beispiellose Verdichtung erlebt. Verteidigungsausschuss
Das ist unter anderem am Produktivitätsfortschritt ables- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
bar. Ein Großteil der Menschen in unserem Land arbeitet Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
und lernt bereits jetzt viel mehr, schneller und intensiver Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
als zuvor. Ist es wirklich so schlimm, das auch von Stu- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
dierenden zu erwarten und das auch auf das Studium zu
übertragen? Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, hierzu
eine Dreiviertelstunde zu debattieren. – Dazu höre ich
(Ute Kumpf [SPD]: Sie haben unter ganz an- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
deren Bedingungen studieren können! Warum
soll es den Studierenden heute schlechter ge- Das Wort hat der Außenminister, Dr. Guido
hen?) Westerwelle.
Im Übrigen: Der Hinweis, es gebe nicht genug Mas- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
terstudienplätze, ist schlichtweg falsch. Gerade Master- der CDU/CSU)
studienplätze bleiben an ganz vielen Hochschulen leer.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Genau!)
wärtigen:
Die Jobaussichten für Bachelorabsolventen haben sich Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
gegenüber den ersten zwei Jahren deutlich verbessert. Herren! Kolleginnen und Kollegen! Für die Bundesre-
Die Kritik der Wirtschaft hat sich inzwischen zu einem gierung bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zur Fortset-
regelrechten Bachelor-Welcome gewandelt. zung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 447
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) an UNIFIL, der Operation der Vereinten Nationen im Li- deren Seite haben aber auch die Palästinenser das Recht (C)
banon und vor seiner Küste. auf einen eigenen Staat. Es bleibt bei der Roadmap von
2003. Das heißt, es bleibt bei unserer Haltung in
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Deutschland wie in der internationalen Staatengemein-
NEN]: Das hätten Sie sich auch nicht ge-
schaft insgesamt, dass die Siedlungspolitik eingefroren
dacht!)
werden muss. Das ist nicht nur die deutsche Haltung; das
Ich tue das als jemand, der vor drei Jahren in diesem ist die Haltung der internationalen Gemeinschaft insge-
Hause gegen eine deutsche Beteiligung an dieser Mis- samt.
sion gestimmt hat – wohlgemerkt: nicht gegen die Mis-
sion selbst. Jede Bundesregierung steht in der Verant- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
wortung des Handelns auch ihrer Vorgängerregierungen. Die jüngsten Ankündigungen sind ein wichtiger erster
Zu Beginn einer neuen Amtszeit gilt das selbstverständ- Schritt. Sie könnten Bewegung in die Siedlungsfrage
lich auch in der Außenpolitik. Das ist kein Makel, das ist bringen. Entscheidend ist, dass die Parteien nun rasch
eine Stärke. Darauf gründet die Kontinuität, die die deut- den Weg in direkte Verhandlungen finden.
sche Außenpolitik so erfolgreich gemacht hat. Damit gar
kein Zweifel aufkommt: Zu den Vereinbarungen, die in Zurück zum eigentlichen Mandat: Die Befähigung der
Ihrer Amtszeit getroffen worden sind, steht selbstver- libanesischen Streitkräfte zur eigenständigen Aufgaben-
ständlich auch die neue Bundesregierung, auch meine erfüllung spielt dabei eine zentrale Rolle. Deshalb hat
Person als Außenminister. Deutschland im Rahmen von UNIFIL von Anfang an
zwei Handlungsstränge verfolgt: die Überwachung der
Es ist die Kontinuität in der Außenpolitik, die die Seegrenzen und die Unterstützung der libanesischen Ma-
Bundesrepublik Deutschland zu einem verlässlichen rine zum Aufbau eigener Fähigkeiten. Dies versetzt die li-
Bündnispartner für die internationale Staatengemein- banesische Marine zunehmend in die Lage, die Küste und
schaft gemacht hat. Kontinuität bedeutet aber nicht ein territorialen Gewässer des Landes selbstständig zu über-
schlichtes Weiter-so. Deshalb wird die Bundesregierung wachen.
die Zahl der maximal einzusetzenden Soldatinnen und
Soldaten von 1 200 auf 800 reduzieren und den UNIFIL- In Zukunft werden die bilateralen Ausbildungs- und
Einsatz bis zum 30. Juni des kommenden Jahres befris- Ausrüstungsmaßnahmen noch an Bedeutung gewinnen.
ten. Vor diesem Hintergrund soll das Mandat verlängert wer-
den. Der Einsatz der Bundeswehr vor Ort ist eingebettet
Deutschland hat ein strategisches Interesse an einem in das umfassende Engagement der Bundesregierung für
dauerhaften Frieden im Nahen Osten. Wie schwierig das den Libanon und die Region. Wir beraten die zuständi-
ist, das wissen Sie; das wissen alle. Ich habe es insbeson- gen libanesischen Behörden in Fragen der Grenzsicher- (D)
(B)
dere bei meiner gerade stattgefundenen Reise im Nahen heit und bei der Aus- und Fortbildung von Zollpersonal.
Osten noch einmal persönlich sehr in den Gesprächen Beim innerlibanesischen nationalen Dialog, der Antwor-
spüren können. ten auf die militärischen, gesellschaftlichen und wirt-
Wir haben eine Resolution, nämlich die Resolution schaftlichen Herausforderungen des Landes finden soll,
1701 aus dem Jahr 2006. Das ist ein wesentliches Ele- tragen von der Bundesregierung finanzierte Berater zum
ment zur Vermeidung erneuter bewaffneter Auseinan- Gelingen bei. Damit wir uns nicht missverstehen: Das ist
dersetzungen und zur Stärkung der Souveränität und Sta- kein Engagement und Verdienst der neuen Bundesregie-
bilität des Libanon. Dies zählt neben der Sicherheit für rung, sondern das ist Ausfluss der Kontinuität bisheriger
den Staat Israel und der Schaffung eines lebensfähigen Außenpolitik.
palästinensischen Staates zu den Schlüsselelementen ei- Mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit und
ner regionalen Friedenslösung. Diese regionale Frie- der zivilen Krisenprävention helfen wir, die Lebensbe-
denslösung bleibt unser übergeordnetes Ziel. dingungen palästinensischer Flüchtlinge zu verbessern.
Weil wir durch die Erklärung von Ministerpräsident Im Rahmen der entwicklungspolitischen Zusammenar-
Netanjahu einen aktuellen Anlass haben und weil diese beit unterstützen wir die libanesische Regierung beim
Erklärung wenige Stunden nach meiner Reise und mei- Wiederaufbau. Wir leisten darüber hinaus entsprechende
nem Antrittsbesuch in Israel und in den palästinensi- Unterstützung bei Ausbildungs- und Ausrüstungsmaß-
schen Gebieten in Ramallah abgegeben worden ist, nahmen.
möchte ich auch dazu etwas sagen. Das ist für uns alle,
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
denke ich, Staatsräson: Wir haben als Deutsche ein
Kollegen, zum Schluss: Diese Anstrengungen zur Stär-
besonderes Verhältnis und eine besondere Partnerschaft
kung der Souveränität und Stabilität des Libanon zeigen
zu dem Staat Israel. Daran gibt es nichts zu rütteln. Wir
erste Erfolge. Die Parlamentswahlen am 7. Juni dieses
haben eine besondere Verantwortung, übrigens nicht nur
Jahres und die Bildung einer neuen Regierung waren
aus historischen Gründen, sondern auch aus Gründen der
wichtige Schritte in die richtige Richtung. Es geht jetzt
Gegenwart und unserer gemeinsamen Zukunft.
darum, dass alle Kräfte im Libanon den eingeschlagenen
Das bedeutet aber nicht, dass Meinungsunterschiede Weg des Dialogs verantwortungsvoll und mutig fortset-
nicht ausgesprochen werden könnten. Wir in Deutsch- zen, um die großen Herausforderungen zu bewältigen,
land bleiben dabei: Wir wollen eine Zwei-Staaten- vor denen das Land steht. Gemeinsam mit unseren Part-
Lösung. Auf der einen Seite hat Israel unzweifelhaft das nern werden wir den Libanon auf diesem Weg unterstüt-
Recht, in sicheren Grenzen leben zu können. Auf der an- zen, um einer regionalen Friedenslösung näherzukom-
448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) men. Die deutsche Beteiligung an UNIFIL soll noch bis war –, UNIFIL zu unterstützen, weil es sich hier um ver- (C)
zum Sommer nächsten Jahres dazu beitragen. Ich denke, antwortungsvolle Politik im Nahen Osten handelt. Die
das ist Kontinuität, aber zugleich auch die Erkenntnis SPD-Bundestagsfraktion steht mehrheitlich weiterhin zu
der entsprechenden Entwicklungen. diesem Einsatz.
Deswegen bitte ich um Zustimmung zu dem Antrag Herr Kollege Westerwelle, Sie waren damals gegen
der Bundesregierung. diesen Einsatz.
Vielen Dank. (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nein!)
Ich kann mich noch gut an die Debatte von vor drei Jah-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ren erinnern. Ich glaube, es war Ihrem innenpolitischen
Ich erteile das Wort Kollegen Rolf Mützenich für die Tunnelblick gegenüber der damaligen Regierung ge-
SPD-Fraktion. schuldet, dass Sie gesagt haben: Wir schicken im Rah-
men dieses Mandates keine deutschen Soldaten. – Ich
Dr. Rolf Mützenich (SPD): habe das damals für falsch gehalten. Jetzt stehlen Sie
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ver- sich aus der Verantwortung, die Sie übernommen haben,
teidigungsminister, Sie haben in den letzten Tagen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Wochen notwendige sicherheitspolitische Debatten an- DIE GRÜNEN)
gestoßen. Aber Sie waren manchmal, glaube ich, relativ
voreilig oder sind über das Ziel hinausgeschossen. Ich indem Sie plötzlich sagen. Ja, wir machen das, und zwar
möchte Sie zitieren, als Sie in Washington über die Aus- bis zum 30. Juni 2010. – Aber das ist ein willkürlicher
landseinsätze gesprochen haben: „Was heute eine Aus- Termin; denn erst im September nächsten Jahres wird
nahmesituation ist, muss zur Selbstverständlichkeit wer- der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wieder über
den.“ Herr Verteidigungsminister, ich sage Ihnen für die die Verlängerung entscheiden. Was Sie machen, weicht
SPD-Fraktion: Auslandseinsätze sind für uns keine von der bewährten Praxis aller Vorgängerregierungen ab.
Selbstverständlichkeit. Sie stellen eine Ausnahme in Das ist keine Kontinuität. Sie stehlen sich aufgrund Ihrer
Momenten dar, in denen die Sicherheit nicht anders her- früheren Haltung, die jetzt nur noch mit Ihrer damaligen
gestellt werden kann und Diplomatie und Prävention innenpolitischen Blickrichtung nachvollziehbar ist, aus
versagt haben. Das ist die Schlussfolgerung, die wir So- der Verantwortung. Ich zumindest glaube, Sie drücken
zialdemokraten in der Regierung in den letzten Jahren sich um eine klare Entscheidung. Sie überantworten dem
verantwortungsvoll mitgetragen haben. Das leitet sich Bundestag nur die Zustimmung zu einem halben Man-
(B)
auch aus der Charta der Vereinten Nationen ab. dat. Das wird der Aufgabe der Bundesregierung und der (D)
Aufgabe eines Außenministers, der in der Kontinuität
(Beifall bei der SPD) stehen will, nicht gerecht.
Ich halte Ihre Auffassung für fatal. Die Außenpolitik (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Deutschlands wird nicht dadurch normaler, dass man DIE GRÜNEN)
sich auf das Militärische bezieht, im Gegenteil. Ich
glaube, die Schlussfolgerungen aus der historischen Ver- Ich kann mich auch an die Debatte erinnern, als die
antwortung Deutschlands müssen andere sein. Ein Ver- Bundeskanzlerin hier vor drei Jahren erklärt hat, dass
teidigungsminister, der sagt, dass es sich bei Auslands- sich die Bundesregierung an UNIFIL beteiligen wolle,
einsätzen nicht um eine Ausnahmesituation, sondern um weil es dabei um die Sicherheit Israels gehe. Alleine mit
eine Selbstverständlichkeit handele, muss natürlich si- der Begründung, UNIFIL diene der Sicherung israeli-
cherstellen, dass die Bundeswehr für alle Auslandsein- scher Interessen im Nahen Osten, hat sich damals die
sätze ausreichend gerüstet ist und insbesondere für eine Bundeskanzlerin bereit erklärt, an UNIFIL teilzuneh-
entsprechende psychologische Begleitung der Soldatin- men. Ich frage die Bundesregierung: Erlischt diese Ver-
nen und Soldaten, die wir in Auslandseinsätze schicken, pflichtung am 30. Juni 2010? Warum erlischt sie nicht
sorgen. am 2. Juli 2010? Können wir dieses Datum wirklich so
setzen, wie Sie das gemacht haben? Ich glaube, dabei ist
Ich sage Ihnen als Abgeordneter – ich glaube, ich Willkür im Spiel.
spreche hier für das gesamte Haus –: Auslandseinsätze
sind eine Gewissensentscheidung. Sie können für den Mich interessiert, ob Sie vor wenigen Tagen mit den
einzelnen Abgeordneten nicht zu einer Selbstverständ- israelischen Kolleginnen und Kollegen möglicherweise
lichkeit werden. Das wird nach meinem Dafürhalten zu- über diese Frage gesprochen haben. Wir zumindest hö-
mindest für meine Fraktion auch in Zukunft so sein. ren aus Israel, dass es dort Fragen und Verunsicherung
gibt, und zwar zu Recht. Israel hat erkannt, dass das
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
UNIFIL-Mandat ein gutes Mandat gewesen ist, dass es
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Israel in dieser Situation geholfen hat, den brüchigen
Bei der damaligen Abstimmung über den UNIFIL- Waffenstillstand zwischen dem Libanon und Israel zu si-
Einsatz haben wir uns gefragt: Können wir diesen Ein- chern. Auch gegenüber dem Libanon war das ein ganz
satz verantworten? Meine Fraktion ist damals mehrheit- wichtiges Mandat gewesen. Sie übergehen das und wer-
lich zu der Schlussfolgerung gekommen – im Gegensatz den insbesondere der Verpflichtung, die die Bundes-
zum Kollegen Westerwelle, der Oppositionsführer kanzlerin noch vor kurzem im US-amerikanischen Kon-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 449
Dr. Rolf Mützenich
(A) gress ausgesprochen hat, mit dem hier vorgelegten Das ist eine neue Regierung. Es ist ein Wagnis, das in (C)
Antrag nicht gerecht. diesem Land eingegangen worden ist. Ich glaube, wir
sind das dem Libanon schuldig, der damals ein Failing
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten State gewesen ist. Die Libanesen versuchen, sich wieder
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) aus diesem Sumpf zu befreien und alles zu offerieren,
dass Deutschland in dieser sehr schwierigen Situation
Herr Außenminister, Sie sind mit den Worten angetre- hilft. Deswegen wäre ein klares und deutlicheres Signal
ten: Ich arbeite im Sinne der europäischen Partner. Wir besser als eine willkürliche Befristung gewesen.
haben das immer unterstützt; das habe ich hier auch vor
14 Tagen erklärt. Aber was sagen Sie denn eigentlich in Zum anderen – das ist meine Bitte an Sie –: Wenn Sie
Italien, Spanien, Frankreich und Belgien? Haben Sie ge- in der Kontinuität der deutschen Außenpolitik aller Vor-
sagt, dass unser Einsatz am 30. Juni 2010 endet? Haben gängerregierungen stehen, dann kümmern Sie sich stär-
Sie in Paris erklärt, dass dann die Franzosen mehr Solda- ker um Syrien! Versuchen Sie, Syrien stärker am Frie-
ten schicken müssen? Diese entscheidenden Fragen densprozess im Nahen Osten zu beteiligen, Syrien
müssen Sie im Zusammenhang mit einer glaubwürdigen stärker zu integrieren. Da muss man sich vielleicht ge-
Außenpolitik gegenüber den europäischen Partnern klä- gen die Kanzlerin durchsetzen. Das hat der frühere Au-
ren. Das haben Sie heute nach meinem Dafürhalten nicht ßenminister Frank-Walter Steinmeier getan. Ich glaube,
getan. es wäre gut, insbesondere die türkische Regierung in
dieser schwierigen Situation, in der sie sich sowohl ge-
Ich will Ihnen eines sagen: Für uns – deswegen habe genüber Israel als auch gegenüber dem Iran und dem ge-
ich das an den Anfang gestellt – müssen Auslandsein- samten Umfeld befindet, durch wichtige Beiträge zu un-
sätze immer in eine politische Strategie eingebettet sein. terstützen. UNIFIL wäre das richtige außenpolitische
Wir haben damals dem UNIFIL-Mandat zugestimmt, Instrument gewesen.
weil wir es als Chance gegenüber dem Staate Libanon
gesehen haben, ihm Integrität und Souveränität zu signa- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
lisieren. Israel hat die Seeblockade aufgehoben. Es hat Deshalb: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
damals ganz wichtige Entwicklungen gegeben, zum Bei- kraten stehen zum Mandat für UNIFIL. Der Sicherheits-
spiel als der damalige Außenminister Steinmeier die Tür rat hat einen klaren Beschluss gefasst. Ich bitte Sie, Ihren
nach Syrien etwas weiter aufgestoßen hat. Das hat ge- Antrag nachzubessern. Versuchen Sie das in den Bera-
holfen, dass es Botschafteraustausche zwischen dem Li- tungen im Auswärtigen Ausschuss und im Verteidi-
banon und Syrien gegeben hat. Ich finde, das sind her- gungsausschuss. Ich sehe konstruktiven Gesprächen mit
vorragende Fortschritte, die wir jetzt nicht einfach aufs meiner Fraktion entgegen.
(B) Spiel setzen dürfen, insbesondere wenn es um UNIFIL Vielen Dank.
(D)
geht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich erinnere an Folgendes: Auch die arabischen Staa- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ten und Regierungen haben erkannt, dass Syrien ein Als Nächstem erteile ich das Wort Bundesminister
ganz wichtiger Partner ist. Der saudi-arabische König Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg.
hat alles daran gesetzt, mit dem syrischen Präsidenten
Assad zu einem zumindest pfleglicheren Umgang zu Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
kommen, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen desminister der Verteidigung:
ist. Gerade gegenüber dem Libanon wäre es wichtig, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine
dass sich Deutschland klar für ein Mandat ausspricht, Herren! Kollege Mützenich, das war ein in vielerlei Hin-
um diese Politik im Nahen Osten zu unterstützen. Ich sicht interessanter Beitrag, um es einmal so auszu-
habe gesagt: Insbesondere Israel wird eine Menge Fra- drücken,
gen stellen, wenn ihm klar wird, dass dieses Mandat für
uns am 30. Juni 2010 endet. (Ute Kumpf [SPD]: Ein sehr guter Beitrag!)
aber ein nicht immer nur schlüssiger. Ich will auf die
Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Die Bundesre-
Punkte eingehen, die Sie bezüglich meiner Person ange-
gierung hat mit diesem Antrag schlecht gearbeitet. Ihr
sprochen haben und die die Auslandseinsätze anbelan-
Antrag wird den außenpolitischen Herausforderungen
gen.
nur unvollkommen gerecht. Sie ziehen auch nicht die
richtigen Schlussfolgerungen. In Ihrem eigenen Antrag Armee im Einsatz: Ich glaube, es ist unbestritten, dass
steht, dass UNIFIL bisher „ein wesentlicher Stabilisie- es sich um eine Armee im Einsatz handelt.
rungsfaktor“ für das gesamte Umfeld, aber gerade auch
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Leider!)
für den Libanon gewesen ist. Deswegen wäre es besser
gewesen, Sie hätten gesagt: Wir müssen das UNIFIL- Ich selbst gehe sehr vorsichtig mit den Begriffen
Mandat weiter wahrnehmen, auch aus Respekt gegen- „Ausnahmesituation“ und „Selbstverständlichkeit“ um.
über dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Zudem Selbstverständlichkeit hat sich immer am Maßstab der
hätten Sie deutlich sagen müssen: Wir unterstützen die hohen, ja, der höchsten Verantwortung auszurichten, die
libanesische Regierung. wir gerade in diesem Zusammenhang tragen. Ich warne
450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg


(A) nur davor, dass es zur Selbstverständlichkeit wird, dass Es ist richtig und kann gar nicht laut genug wiederholt (C)
man verdruckst damit umgeht, dass wir eine Armee im werden, dass Deutschland ein strategisches Interesse an
Auslandseinsatz seit Mitte der 90er-Jahre haben. einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten hat, mit all
den komplexen Zusammenhängen, die dort gegeben
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind. Wir wissen alle, dass Lösungen nicht aus dem Är-
mel zu schütteln sind, sondern dass wir die Zusammen-
Man sollte deutlich machen, dass sich in vielerlei Hin- hänge, die Vielschichtigkeit in besonderer Weise zu be-
sicht einiges in den letzten Jahren verändert hat. Ich lege greifen haben, dass die Sicherheit des Staates Israel von
diesen Maßstab der Verantwortung an. Keiner macht es besonderer Bedeutung ist; Herr Westerwelle hat das be-
sich leicht. Ich habe das heute Morgen anlässlich der De- nannt. Ebenso wichtig ist für uns ein lebensfähiger pa-
batte über die Verlängerung des ISAF-Mandats schon lästinensischer Staat. Beides ist maßgeblich dafür, dass
einmal gesagt. Keiner macht es sich mit seiner Entschei- eine regionale Friedenslösung gefunden werden kann.
dung leicht, weder die Bundesregierung noch irgendei-
ner hier in diesem Hohen Hause. Vor diesem Hinter- Zur Befähigung der libanesischen Streitkräfte zur ei-
grund kann man den Ansatz der Gewissensentscheidung genständigen Wahrnehmung ihrer Aufgaben ist in die-
sofort unterschreiben; aber in diesem Sinne bitte ich das sem Zusammenhang von zentraler Bedeutung, dass wir
verstanden zu wissen. Das heißt in diesem Zusammen- diesen Kontext bei der Ausgestaltung des Mandats be-
hang, natürlich eine optimale Ausrüstung zur Verfügung rücksichtigen. Wir wollen dabei helfen, das Ziel Befähi-
zu stellen. Die psychologische Begleitung und Betreu- gung zu realisieren.
ung ist ein großes Thema, ein diffiziles Thema. Auch das
Der UNIFIL-Flottenverband hat seit seiner Aufstel-
ist etwas, was uns in besonderer Weise trifft. Ich hoffe
lung in sehr enger Kooperation mit der libanesischen
hier auf die entsprechende Unterstützung der Opposi-
Marine den Waffenschmuggel auf dem Seeweg verhin-
tion, weil im Zusammenhang mit der Ausrüstung sofort
dert. Immer wieder heißt es: Ihr habt ja nichts gefunden.
wieder andere Debatten losgehen und man sich bequem
Aber auch der Umstand, dass man einmal keine Waffen
in die eine oder andere Richtung schlagen könnte.
findet, kann durchaus Ausdruck einer erfolgreichen Mis-
Sie haben den Vorwurf der Willkür, was den Zeitraum sion sein. Ich glaube, das Ganze kann wirklich in diesem
dieses Mandats anbelangt, erhoben. Ich bitte Sie, zwei Sinne dargestellt werden.
Dinge in Betracht zu ziehen. Der eine Punkt ist, dass wir Bisher wurden mehr als 30 000 Abfragen auf See ge-
im Frühjahr eine Evaluierung seitens der Vereinten Na- tätigt – auch ich habe erst in den letzten Tagen lernen
tionen haben werden. Es ist absehbar, dass diese Evalu- dürfen, wie viele Abfragen es bislang tatsächlich waren –,
ierung in eine Neubetrachtung dieses Mandats einfließen und mehr als 390 Schiffe wurden durch die libanesi-
(B) könnte. Deswegen ist es verantwortlich und verantwort- schen Behörden weitergehend kontrolliert. An dem etwa (D)
bar und auch dringend geboten gewesen, das Mandat 1 000 Soldatinnen und Soldaten starken UNIFIL-Flot-
nicht vor der Evaluierung enden zu lassen – das wäre in tenverband beteiligen sich neben Deutschland derzeit
seiner Weisheit überschaubar gewesen –, aber eine ent- Italien – zum 1. Dezember in der Verantwortung –, Grie-
sprechende zeitliche Nähe zu suchen. chenland und die Türkei. Insgesamt leisten etwa 12 400
Soldatinnen und Soldaten auf See und an Land Dienst
Zum Zweiten: Verantwortung. Wir haben über
bei UNIFIL.
21 Monate selbst Führungsverantwortung bei UNIFIL
getragen. Dieser Verantwortung sind wir in dieser Zeit Das deutsche Engagement bei UNIFIL vor der Küste
erstklassig gerecht geworden. Jetzt übergeben wir zum Libanons ist erfolgreich. Ich sage noch einmal: Wir tra-
1. Dezember die Verantwortung an Italien. Auch daran gen wirksam dazu bei, dem Waffenschmuggel über See
ließe sich ein entsprechender Zeitraum bemessen. Aber keine Chance zu geben. Ich glaube, wir werden uns wei-
ich will damit kein apodiktisches Signal gesetzt sehen. terhin darüber unterhalten müssen, ob es andere Um-
Dieses Signal hat sich vielmehr – Guido Westerwelle hat gehungswege dieses Waffenschmuggels gibt und wie
es angesprochen – an der Verantwortung gegenüber diesem Waffenschmuggel generell entgegengetreten
Israel, gegenüber Libanon zu orientieren; aber es hat werden kann. Es ist nicht so, dass sich dieses Problem in
sich auch im Rahmen des Verständnisses der Vereinten der Region in irgendeiner Weise erschöpft hätte, im Ge-
Nationen zu bewegen. Ich glaube, vor diesem Hinter- genteil.
grund kann man das durchaus vertreten.
Wir helfen dem Libanon bei der Ausübung seiner
Wir beteiligen uns mittlerweile seit dem 8. Oktober Souveränitätsrechte vor seiner Küste, und wir befähigen
2006 am UNIFIL-Flottenverband und haben, wie ich be- die libanesische Marine, diese Aufgabe über kurz oder
reits angesprochen habe, diese Führungsverantwortung lang selbst wahrzunehmen. Auch das ist ein Punkt, der
gut, ja – ich sage noch einmal – erstklassig wahrgenom- mehr und mehr ins Zentrum rückt; schließlich sprechen
men. Ich begrüße die Soldatinnen und Soldaten, die wir darüber, wie selbstverständlich das Konzept einer
heute hier sind. Ich darf mich in dieser Hinsicht auch an Einsatzarmee oder einer Armee im Einsatz ist. Ich
dieser Stelle noch einmal für den Einsatz unserer Solda- glaube, der Grundgedanke, dass unsere Einsätze zur Be-
tinnen und Soldaten vor Ort bedanken. fähigung von Armeen, die uns verbunden sind, beitragen
– sei es in Afghanistan, sei es im Libanon, sei es an an-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie deren Orten dieser Erde; wir werden darüber möglicher-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- weise in anderen Diskussionen sprechen –, ist durchaus
NISSES 90/DIE GRÜNEN) ein positiver Ausfluss dieses Einsatzes. Ich glaube, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 451
Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
(A) diese Arbeit und diese Ausbildungsleistungen gerade un- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Es ist (C)
serer Armee im Ausland in diesem Zusammenhang zu eine Debatte vereinbart! – Birgit Homburger
Recht geschätzt werden. [FDP]: Was hat das denn mit UNIFIL zu tun?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Da hat er ganz schlechte Karten. Ich hörte, dass es mitt-
lerweile schon mehrere Strafanzeigen gegen ihn gibt.
Ich darf noch einen Hinweis geben: Gespräche der letz-
ten Tage mit Vertretern Israels und auch Libanons haben (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Von wem
gezeigt, wie sehr man unseren Einsatz wertschätzt. Sie denn bitte? Von der Linken! Von Ihren Kolle-
haben auch gezeigt – hier habe ich eine andere Perzep- gen aus Hessen!)
tion als Sie, Herr Kollege Mützenich –, dass man gerade
– Seien Sie nicht so aufgeregt! Wir werden sehen, wie
jetzt nicht verunsichert ist, sondern dass man eine klare
die Sache ausgeht.
Ansage bekommen hat. Ich glaube, das war auf der
Reise ebenso der Fall. Wir müssen aufpassen, dass wir Jetzt zu UNIFIL selber. Ich habe mich die ganze Zeit
durch Debatten wie diese nicht zur Verunsicherung bei- gefragt, Herr Außenminister: Was hat sich eigentlich in
tragen. Das wäre ein Fehler. Wenn dadurch letztlich Ver- letzter Zeit geändert, seitdem die FDP zweimal im Bun-
unsicherung geschaffen würde, wäre damit gar nichts ge- destag gegen das UNIFIL-Mandat gestimmt hat? Es
wonnen. muss sich substanziell etwas geändert haben, dass man
zu einer geänderten Auffassung kommt. Das einzige Ar-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gument, das Sie hier vorgetragen haben, ist, dass Sie
Ich halte es für richtig, dass – auch um trotzdem das mittlerweile in der Regierung sitzen. An der Substanz
Signal eines erfolgreichen Prozesses zu zeigen – die hat sich sonst überhaupt nichts geändert. Das allerdings
Obergrenze von 1 200 auf 800 abgesenkt wird. Damit signalisiert, dass man seine politischen Entscheidungen
kann man deutlich machen, dass an der einen oder ande- danach ausrichtet, welche Ämter man einnimmt. Das
ren Stelle gerade der Grundauftrag erfolgreich erfüllt finde ich allerdings zu wenig.
wurde. Ich werbe deshalb auch bei Ihnen um die Manda-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tierung des Kräftedispositivs, das wir jetzt vorstellen, bis
NEN]: Das ist wie in Brandenburg!)
zum 30. Juni 2010.
Ich wünsche mir sehr, dass es meiner Fraktion nicht so
Die Grundlage ist dem Waffenschmuggel noch nicht geht. Sie wissen ja, dass ich da selber sehr kritisch bin.
entzogen, und das Verhältnis zwischen Israel und Liba- Ich finde die ganze Art und Weise des Vorgehens nach
non – das wurde richtigerweise angesprochen – ist natür- dem Motto: „Kleider machen Leute – Ämter bestimmen
lich noch verbesserungsfähig. Wir würden uns einer Illu- die Politik“ letztendlich nicht überzeugend.
(B) sion hingeben, wenn wir uns über alle Maßen freuten, (D)
wie die Dinge jetzt sind. Der Kollege Mützenich hat gesagt, es handle sich nur
um ein halbes Mandat, das hier erteilt würde. Ich finde,
Es gibt in diesem Sinne noch keinen Grund, das En- auch ein halbes Mandat für eine falsche Politik ist ein
gagement apodiktisch zur Disposition zu stellen, son- halbes Mandat zu viel. Deswegen möchte ich dem nicht
dern es ist weiterhin auch in der Kontinuität zu sehen. zustimmen.
Ich selbst bin gespannt, wie die Betrachtung der Verein-
ten Nationen, die im Frühjahr vorgelegt wird, ausfällt. (Beifall bei der LINKEN)
Ich darf Sie aber jetzt um ein klares Votum in dieser Ich möchte Ihnen nun die Argumente vortragen, die
Sache bitten. Unsere Soldatinnen und Soldaten, aber uns bewegt haben, bislang nicht zuzustimmen. Aus mei-
auch alle zivilen Helferinnen und Helfer, die daran betei- ner Sicht sind diese Argumente stimmig. Ich sage Ihnen
ligt sind, haben ein solches Votum verdient. zugleich: Ich bin froh, dass es nicht zu bewaffneten Aus-
einandersetzungen mit der UNIFIL-Truppe bzw. den da-
Herzlichen Dank. ran beteiligten deutschen Soldaten gekommen ist. Das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben ja viele befürchtet. Ich bin dankbar, dass das nicht
der Fall war. Ich bin auch dankbar dafür, dass die deut-
schen Soldaten keine Waffen auf irgendwelchen Schif-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
fen beschlagnahmen mussten. Das kann man dazu doch
Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Gehrcke für die einmal erklären.
Fraktion Die Linke.
Jetzt zur Sache selber: Der UNIFIL-Einsatz war not-
(Beifall bei der LINKEN) wendig, um einen Waffenstillstand im Krieg zwischen
Libanon und Israel zu erreichen.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! GRÜNEN]: Genau! So ist es!)
Ich weiß, dass Sie alle gespannt darauf warten, ob sich
auf der Regierungsbank noch Bewegungen vollziehen, Das hat nie jemand bestritten. Wir haben ihn immer als
also ob der Ex-Verteidigungsminister hier noch erscheint notwendig bezeichnet. Aus dieser Notwendigkeit resul-
oder nicht. Das ist aber nicht so spannend: Wenn er nicht tiert aber nicht, dass sich Deutschland unbedingt mit
kommt, dann weiß man, er ist weg. Wenn er kommt, Soldaten an diesem Einsatz beteiligen muss. Es kann
signalisiert er, er wird um sein Amt kämpfen. auch Entscheidungen der Vereinten Nationen geben, die
452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Wolfgang Gehrcke
(A) sinnvoll sind, aber es eben nicht erfordern, dass deutsche Philipp Mißfelder (CDU/CSU): (C)
Soldaten mithelfen, sie durchzusetzen. Wir haben uns Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
die Frage gestellt, ob es nicht sinnvoll wäre, vor allen gen! Zunächst einmal möchte ich mich an meinen Vorred-
Dingen neutrale Staaten damit zu beauftragen. Deutsch- ner wenden. Herr Gehrcke, auch ich bin froh, dass es zu
land war nicht neutral – das hat die Bundeskanzlerin zig- keiner Handlung kommen musste, durch die eine größere
fach in den Auseinandersetzungen erklärt – und konnte Gefahr für deutsche Soldatinnen und Soldaten entstanden
nicht neutral sein. Deswegen war es nicht sinnvoll, dass wäre. Ebenso bin ich froh, dass wir, schon aufgrund der
Deutschland diesen Auftrag übernommen hat. Tatsache, dass deutsche Soldaten dort keine Waffen auf-
Wir haben uns die Frage gestellt, ob es einen Sinn spüren konnten, wahrscheinlich richtigerweise den Schluss
macht, dass deutsche Soldaten im Rahmen des UNIFIL- ziehen können, dass weniger Waffen geschmuggelt wer-
Einsatzes erstmalig im Nahen Osten tätig werden. Wir den. Auch wenn es entsprechende Vorfälle gibt, glaube
waren der Auffassung: Deutsche Soldaten sollen nicht ich, dass schon allein durch die Präsenz der Soldaten der
im Nahen Osten agieren, weil, wie Sie genau wissen, in Schmuggel reduziert worden ist. Auch die vielfachen
der Perspektive möglicherweise an anderen Stellen die Kontrollen auf den Schiffen, die erbracht haben, dass dort
Frage nach deutschen Soldaten erneut und verstärkt keine Waffen waren, legen den Schluss nahe, dass der
kommt. Ich möchte nicht, dass deutsche Soldaten in eine Schmuggel insgesamt zurückgegangen ist. Insofern ist
solche Situation gebracht werden. der Einsatz auch der deutschen Soldaten ein großer Er-
folg.
Wir haben uns die Frage gestellt, ob die Bundesregie-
rung denn eigentlich alles getan hat, eine aktive Nahost- Ich habe nicht ganz verstanden, wie Sie es geschafft
politik zu entwickeln. Das Ergebnis war, dass die Bun- haben, in Ihrem Beitrag all das, was Sie in der Nahost-
desregierung wenig getan hat, um in der Nahostpolitik politik im Allgemeinen beschwert, einzubringen. Es
etwas zu bewegen. Ich habe den damaligen Außenminis- wäre besser gewesen, Sie hätten sich mit UNIFIL aus-
ter in seinem Bemühen in Bezug auf Syrien immer un- einandergesetzt – Sie sagen ja, dass Sie grundsätzlich
terstützt. Von der jetzigen Bundesregierung höre ich kein Problem mit UNIFIL haben, dass Sie das Mandat
nichts. Sie treffen sich ja am Montag nächster Woche zu angeblich allzeit begrüßt hätten –, statt hier in eine allge-
Regierungsgesprächen mit Israel in Berlin. Ich bin ge- meine Kritik an der Bundesregierung zu verfallen, bei
spannt, ob Sie Israel mitteilen werden, dass Sie die ak- der Sie die Gespräche außer Acht lassen, die der Bun-
tive Politik mit Syrien aufrechterhalten wollen. Bislang desaußenminister in dieser Woche in Israel geführt hat.
hört man dazu von Ihnen nichts. Ich glaube, bei dieser Reise ist die Position der Bundes-
regierung gegenüber Israel sehr klar geworden. Israel ist
Ich habe sehr wohl vernommen, dass man sich, auch einer unserer engsten Freunde. Kritik ist deshalb nicht
(B) der Herr Außenminister, skeptisch äußert, was die Frage verboten. Herr Bundesaußenminister, ich möchte, auch (D)
der Siedlungspolitik angeht. Aber mittlerweile befinden im Namen meiner Fraktion, die Gelegenheit nutzen, Ih-
sich 500 000 Siedlerinnen und Siedler in der Westbank, nen für diese Reise, diesen schwierigen Besuch in Israel,
dem besetzten Gebiet, und 180 000 im Umfeld von Ost- zu danken. Man kann die Reise durchaus als Erfolg be-
jerusalem. Deshalb muss klar sein: Wenn die Siedlungs- zeichnen. Sie war ein guter Start in Ihrem neuen Amt.
politik nicht gestoppt wird, wird es keine Friedensge- Deshalb herzlichen Dank von unserer Fraktion!
spräche mehr geben. Das muss man, auch im Interesse
Israels, den israelischen Partnerinnen und Partnern in al- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ler Deutlichkeit vor Augen führen. Die Gründe, die zu diesem Mandat geführt haben, be-
(Beifall bei der LINKEN) stehen weiterhin. Denn obwohl sich die innen- und au-
ßenpolitische Situation im Libanon seit der letzten Ver-
Sie wissen, Herr Außenminister – auch dazu werden längerung des UNIFIL-Mandates durch den Bundestag
Sie hier Stellung nehmen müssen –, dass die palästinen- im September 2008 grundsätzlich verbessert hat, bleibt
sische Autonomiebehörde mitgeteilt hat, dass sie über die Lage instabil. Das wird zum Beispiel auch daran
eine einseitige Ausrufung der Gründung des Staates Pa- deutlich, dass die Leitung des Hauptquartiers der
lästina nachdenkt. Ich kann das verstehen; denn dadurch UNIFIL-Mission zu Protokoll gibt, dass die Situation im
entsteht ein Rechtssubjekt. Ich möchte wissen, was die Südlibanon nach wie vor sehr besorgniserregend ist.
deutsche Bundesregierung in diesem Fall macht. Man kann klar erkennen, wie groß die Akzeptanz des
Ohne eine aktive Nahostpolitik bewegt sich das Man- Einsatzes auf beiden Seiten ist. In den Gesprächen mit
dat auf dünnem Eis. Deswegen werden wir der Verlänge- unseren israelischen Freunden wird immer wieder an uns
rung des Mandates, auch wenn es nur befristet ist und herangetragen, wie wichtig der deutsche Beitrag und der
die Zahl der Soldaten reduziert wird, diesmal wiederum Einsatz insgesamt sind. Auch libanesische Besuche-
nicht zustimmen. rinnen und Besucher in Deutschland machen deutlich,
dass sie sehr großen Wert darauf legen, dass wir diesen
Schönen Dank. Beitrag leisten, und dass der UNIFIL-Einsatz insgesamt
(Beifall bei der LINKEN) nach wie vor notwendig und unverzichtbar ist. Ich
glaube, dass dies in dieser Debatte bisher sehr deutlich
geworden ist.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Philipp Mißfelder für Vordringliche Aufgabe dieser Mission bleibt es, die
die CDU/CSU-Fraktion. weitere Aufrüstung islamistischer und israelfeindlicher
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 453
Philipp Mißfelder
(A) Terrorgruppen zu verhindern und – das ist in der innen- dieser Einsatz Modell für andere Einsätze in der Zukunft (C)
politischen Situation, in der sich der Libanon befindet, sein kann. Vernetzte Sicherheit bedeutet aus unserer
ebenfalls wichtig – den libanesischen Staat beim Aufbau Sicht eben nicht nur, die militärische Komponente zu se-
eigener Sicherheitsstrukturen zu unterstützen, was ange- hen, sondern auch, andere Bereiche mit einzubeziehen.
sichts der Tatsache, dass auch die Hisbollah in der Re- Deshalb halte ich es für richtig, ganz genau hinzu-
gierung ist, von Grund auf keine einfache, sondern eher schauen, wie sich dieser Einsatz entwickelt, zu evaluie-
eine schwierige Aufgabe ist. Eine erneute Aufrüstung ren, ob er auch im neuen Mandatszeitraum erfolgreich
dieser Terrorgruppen wäre für die gesamte Stabilität im ist, sich zu fragen, wie man ihn erfolgreicher gestalten
Nahen Osten fatal und würde das Erreichte gefährden. kann, und daraus die Konsequenzen für weitere Schritte
Deshalb ist die Fortführung der UNIFIL-Mission so abzuleiten.
wichtig. Ich werbe hier daher für eine breite Zustim-
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
mung zu diesem Einsatz, der nach wie vor notwendig ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Hisbollah – ich sprach sie gerade an – stellt heute
14 von 128 Abgeordneten im libanesischen Parlament
und bekleidet zwei Ministerposten in der aktuellen liba- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nesischen Regierung. Deshalb ist es ein besonderes Das Wort hat nun Kerstin Müller, Fraktion Bünd-
Signal, wenn wir denjenigen Kräften im Libanon unsere nis 90/Die Grünen.
Hilfe zusagen, die sie nach wie vor für notwendig halten.
Dabei kommt der Evaluierung dieses Einsatzes mit Blick Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
auf die innenpolitische Situation im Libanon besondere NEN):
Bedeutung zu. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-
nige Vorredner haben es dargestellt: Die Stationierung
Auch wenn die Lage gefährlich und instabil bleibt,
der UNIFIL-Mission 2006 hat den Krieg zwischen Liba-
gibt es doch Fortschritte. Die Konfliktparteien akzeptie-
non und Israel beendet. Der Einsatz der deutschen Bun-
ren die Waffenstillstandsresolution des Sicherheitsrates
deswehr auf der Seeseite war die Voraussetzung dafür,
der Vereinten Nationen weiterhin als Grundlage, um eine
dass die Seeblockade gegen Libanon aufgehoben wurde
erneute Eskalation zu unterbinden. Dieser stabile Waf-
und dass es dort vorangeht. Bis heute, Herr Kollege
fenstillstand an der Grenze zwischen Israel und Libanon
Gehrcke, stellt UNIFIL einen außerordentlich wichtigen
bleibt eine wichtige Voraussetzung für die Lösung des
Beitrag dazu dar, dass dieser Waffenstillstand noch im-
Konflikts zwischen Israel und dem Libanon. Er ist auch
mer hält,
eine Grundvoraussetzung für weitere Friedensgespräche
zwischen Israel und seinen palästinensischen Nachbarn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) (D)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
UNIFIL hat mit deutscher Beteiligung die ihr zuge-
wiesenen Aufgaben erfolgreich erfüllt. Der Herr Bun- und zwar sowohl nach Aussagen der Konfliktparteien –
desverteidigungsminister hat sich bei den Soldatinnen der Israelis, der libanesischen Regierung und im Übrigen
und Soldaten angesichts der heiklen Umstände beim Zu- auch der Hisbollah – als auch nach Aussagen der UNO.
standekommen dieses Einsatzes zu Recht bedankt. Ich Sogar der äußerst schwierige politische Prozess ist etwas
glaube, dass wir unter Beachtung der Frage, ob dieser vorangekommen. Das heißt, Herr Gehrcke, ich kann
Einsatz überhaupt erwünscht ist, die richtige Entschei- wirklich nicht nachvollziehen, dass man, obwohl man all
dung getroffen haben. Die Soldatinnen und Soldaten diese Argumente teilt, sagt: Wir lehnen die Beteiligung
werden ihrer großen Verantwortung mit Blick auf die an diesem Einsatz ab. – Das ist nicht konsequent.
deutsche Geschichte in vollem Umfang gerecht und tra-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gen damit zu einer Akzeptanz Deutschlands in der ge-
samten Region, also sowohl in Israel als auch im Liba- UNIFIL und der deutsche Beitrag dazu sind ein zwar
non, enorm bei. nicht hinreichender – das ist klar –, aber ein notwendi-
ger, verantwortbarer und erfolgreicher Beitrag zur Stär-
Der UNIFIL-Flottenverband hat in enger Kooperation
kung des Friedensprozesses im Libanon und in der Re-
mit der libanesischen Marine den Waffenschmuggel auf
gion. Meine Fraktion ist also mehrheitlich der Meinung,
dem Seeweg wirksam verhindert. Dieser Aspekt ist be-
dass er deshalb fortgesetzt werden sollte.
sonders wichtig, wenn wir darüber diskutieren wollen,
was der Begriff „vernetzte Sicherheit“ überhaupt bedeu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tet. Ich glaube, dass der UNIFIL-Beitrag, den Deutsch- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
land an dieser Stelle leistet, deutlich macht, was ver-
Umso mehr erstaunt es mich, meine Damen und Her-
netzte Sicherheit bedeuten kann. Es ist wichtig, das
ren von der Koalition – Herr Mißfelder, Herr Guttenberg,
Zusammenwirken verschiedener Bereiche deutlich he-
Sie haben dazu nichts gesagt –, dass nicht nur die Zahl der
rauszustellen. Dazu gehören Zollaufgaben, klassische
maximal einzusetzenden Soldatinnen und Soldaten redu-
militärische Aufgaben und Grenzüberwachungsaufga-
ziert wird – das kann ja durchaus verantwortbar sein,
ben. In diesen Bereichen ist vernetzte Sicherheit tatsäch-
wenn das die Einsatzfähigkeit vor Ort nicht einschränkt –,
lich umsetzbar und auch operativ durchführbar.
sondern das Mandat auch bis Juni 2010 zeitlich begrenzt
Allein dieser Erkenntnisgewinn zeigt, dass wir uns in wird. Dafür kann es generell sachliche Gründe geben;
der praktischen und in der operativen Ausrichtung der diesen verschließen wir uns als Grüne nicht. Ich kann
Bundeswehr auf dem richtigen Weg befinden und dass aber aus der Lage vor Ort solche sachlichen Gründe nicht
454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Kerstin Müller (Köln)


(A) erkennen, und ich habe sie auch in dieser Debatte nicht mit sich machen lassen und ob das Mandat, wie Frau (C)
vernommen. Ich habe nach dieser Debatte und nach der Hoff im Ausschuss gesagt hat, Mitte nächsten Jahres be-
einen oder anderen Ausschusssitzung den Eindruck – das endet ist.
will ich Ihnen ganz klar sagen –: Hier geht es darum, dass
Ich will ein weiteres wichtiges Argument für den Ein-
der neue Außenminister und die FDP irgendwie ihr Ge-
satz nennen. Er ist der einzige UN-geführte Einsatz, an
sicht wahren wollen, weil sie in der Opposition gegen den
dem sich Deutschland mit einem relevanten Beitrag be-
Einsatz gestimmt haben.
teiligt. Ausgerechnet diesen Beitrag ohne sachlichen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grund einzuschränken oder gar zu beenden, schwächt
sowie bei Abgeordneten der SPD) unsere Rolle bei der UNO enorm. Sie können sich Wün-
sche nach einer stärkeren Rolle Deutschlands bei den
Die FDP plant mit dieser Begrenzung den Einstieg in den Vereinten Nationen, die Sie im Koalitionsvertrag formu-
Ausstieg – und das, obwohl der Einsatz erfolgreich und liert haben, abschminken, wenn Sie eine solche Politik
sinnvoll ist. Das, verehrter Außenminister Westerwelle, verfolgen.
ist das Gegenteil von seriöser Außenpolitik. Das ist mei-
nes Erachtens nicht verantwortbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die UNO wird weiter Bedarf anmelden; denn die
Ich habe mir die Debatten des Jahres 2006 und der Lage im Libanon ist nach wie vor alles andere als stabil.
Jahre danach noch einmal angesehen. Seinerzeit und in Es kommt immer wieder zu Feindseligkeiten. Experten
den Folgejahren haben Sie mit den Argumenten der be- sagen: Die Hisbollah verfügt inzwischen über mehr Ra-
sonderen Verantwortung gegenüber Israel und der feh- keten als vor dem Krieg 2006. Das heißt, die Lage birgt
lenden Neutralität Deutschlands gegenüber Israel eine nach wie vor das Potenzial zur Eskalation und zur Desta-
Zustimmung zu UNIFIL verweigert. Sie haben den Ein- bilisierung. Gerade deshalb, weil die Lage so ist, weil
satz abgelehnt. Ich will solche Bedenken keinesfalls ab- die Hisbollah in der Regierung der nationalen Einheit ist
tun. und ihrer eigenen Entwaffnung nicht zustimmen wird,
ist es wichtig, dass UNIFIL und der deutsche Beitrag
Das Problem aber ist: Israel hat damals wie heute eine
fortgesetzt werden und einen stabilisierenden Beitrag in
deutsche Beteiligung sogar ausdrücklich gewünscht. Die
dieser Region, in der es immer wieder zu Eskalationen
Bedenken, die Sie und andere in diesem Hause hatten,
kommen kann, leisten.
„dass es zu Konfrontationen kommen könnte, weil wir
nicht neutral sind“, haben sich – Gott sei Dank, könnte Fest steht: Wenn wir uns durch einseitige, fahrlässige
man sagen – nicht bestätigt. Ich kann mir jedenfalls Ankündigungen zurückziehen, verspielen wir nicht nur
(B) kaum vorstellen, dass Ihnen die Israelis anlässlich Ihrer (D)
unsere Rolle bei den Vereinten Nationen, sondern es be-
jetzigen Reise etwas anderes gesagt haben, Herr Außen- steht auch die Gefahr, dass Deutschlands Stimme im Na-
minister. Jedenfalls meine ich, Sie hätten auf diese Argu- hen Osten insgesamt an Gewicht verliert. Das ist nicht
mente eingehen müssen. Es ist wirklich sehr dünn, dass im Interesse Israels, und das ist auch nicht im Interesse
Sie einfach sagen: „Wir machen jetzt Kontinuität in der Deutschlands.
deutschen Außenpolitik“, dass Sie aber nichts zu diesen
Argumenten sagen, die Gott sei Dank nicht Realität ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
worden sind. sowie bei Abgeordneten der SPD)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:


sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich schließe die Aussprache.
Der ehemalige Außenminister Kinkel hatte seinerzeit bei Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
der Mandatserteilung im September 2006 prophezeit: Drucksache 17/40 an die in der Tagesordnung aufge-
Würde die FDP den Außenminister stellen, könnten wir führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
uns ein Nein nicht leisten. – So ist es. Sie sind in der Re- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
gierung, und die Welt sieht anders aus. so beschlossen.
Ich bin der Meinung: Sie werkeln hier an der falschen Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b
Baustelle herum; denn nicht der Umfang des UNIFIL- auf:
Einsatzes müsste heruntergefahren werden. Vielmehr
müsste OEF beendet werden; a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Ab-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geordneter und der Fraktion DIE LINKE
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Für ein umfassendes Bleiberecht
denn OEF ist kontraproduktiv. Das wäre eine sinnvolle – Drucksache 17/19 –
Maßnahme gewesen. Eine Überprüfung des UNIFIL-
Überweisungsvorschlag:
Einsatzes bis Mitte 2010 reicht an dieser Stelle nicht aus. Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Meine Damen und Herren von der Union, Herr Ver- Ausschuss für Arbeit und Soziales
teidigungsminister, Sie können sicher sein: Wir werden Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
sehr genau darauf achten, ob Sie ein solches Gehampel Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 455
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Josef Im Koalitionsvertrag steht – ich zitiere –: (C)
Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Ingrid
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Frak- … sind wir uns einig, dass vor dem Hintergrund der
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten momentanen wirtschaftlichen Rahmenbedingun-
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Auf- gen Handlungsbedarf … besteht. … Zeitgerecht
enthaltsgesetzes wird eine angemessene Regelung gefunden werden.
Herr Kollege Wolff von der FDP, Sie haben in den
– Drucksache 17/34 (neu) – vergangenen Tagen immer wieder in den Medien verlau-
Überweisungsvorschlag: ten lassen: Wir brauchen noch ein Jahr Zeit, um in Ruhe
Innenausschuss (f) über eine vernünftige und tragfähige Lösung zu reden.
Rechtsausschuss Ich frage Sie: Warum schiebt es diese Regierung erneut
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Innenministerkonferenz zu, eine Lösung zu finden?
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Auf der Innenministerkonferenz hat Innenminister
Herrmann zum Beispiel gesagt: erst Arbeit, dann Dauer-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die aufenthalt; das muss das Prinzip sein.
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was spricht
denn dagegen?)
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke das Wort. Das ist fast so, als wenn man sagt: Wer keine Arbeit hat,
soll auch nicht essen, Herr Grindel. Das ist die Mentali-
(Beifall bei der LINKEN) tät, die aus diesen Positionen spricht.
(Beifall bei der LINKEN – Hartfrid Wolff
Ulla Jelpke (DIE LINKE): [Rems-Murr] [FDP]: Ach je!)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Ich will hier noch einmal ganz deutlich sagen: Sie
diskutieren heute wieder einmal über Menschen, die aus sind diejenigen, die diesen Menschen lange Zeit ein Ar-
ihren Herkunftsländern geflohen sind und hier in beitsverbot auferlegt und ihnen durch die Residenz-
Deutschland nur geduldet sind. Geduldet zu sein, bedeu- pflicht die Möglichkeit genommen haben, sich um Ar-
tet ständige Angst vor Abschiebung, bedeutet, den beit zu bemühen. Auch die Fachleute sagen: Aufgrund
Wohnort nicht verlassen zu dürfen, keine Bewegungs- der Wirtschaftskrise haben diese Menschen die gerings-
freiheit zu haben, also Residenzpflicht, bedeutet Arbeits- ten Chancen, einen Job zu finden. Und nun soll ausge-
(B) verbot und vor allen Dingen, von reduzierten Sozialleis- rechnet die Innenministerkonferenz im Konsens eine Lö- (D)
tungen leben zu müssen. Die Gesundheitsversorgung ist sung finden. Ich sage hierzu nur: Dieses Spiel kennen
nur auf Notfälle reduziert. wir seit langem und zur Genüge. Die Bundesregierung
und die Innenminister schieben sich die Verantwortung
Weil die Duldung immer wieder neu verlängert wer- gegenseitig zu. Wer genau hinschaut, sieht: Auch die In-
den musste, hat es seit Jahren in diesem Hause eine De- nenministerkonferenz hat bis heute überhaupt keine Lö-
batte darüber gegeben – genauer gesagt mit dem Zuwan- sung. Deswegen fordern wir die Koalition auf, sofort
derungsgesetz von 2001, das von Grünen und SPD eine Lösung zu finden. Wir fordern das Bleiberecht für
eingebracht wurde –, dass diese Kettenduldung endlich alle, die diesen seltsamen Status „Aufenthalt auf Probe“
abgestellt werden muss. haben.
Was ist bis dahin passiert? Rein gar nichts. Stattdes- (Beifall bei der LINKEN)
sen hat die Koalition eine Altfallregelung eingebracht.
Diese wird von Pro Asyl, einer Flüchtlingsorganisation, Die Linksfraktion stellt in ihrem Antrag zunächst ein-
als kleinmütige Teillösung bezeichnet. Wir können uns mal fest – ich kann leider nur zwei Punkte nennen –,
dieser Aussage nur anschließen; denn das ist für die Be- dass wir dieses Bleiberecht ganz dringend brauchen, und
troffenen wirklich nicht mehr zu ertragen. wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag auf,
die Kettenduldung endlich zu beenden. Ich möchte hier
(Beifall bei der LINKEN) noch einmal daran erinnern, dass Wohlfahrtsverbände,
Kirchen und Gewerkschaften vor der Sommerpause an
60 000 Menschen sollen ein Bleiberecht erhalten, ver- die Politik appelliert haben, die Altfallregelung wenigs-
sprach damals die SPD. Nur 8 000 Menschen haben ein tens zu verlängern. Die Regierung hat damals abgestrit-
Bleiberecht bekommen. 30 000 Menschen haben ein ten, dass es einen Handlungsbedarf gibt. Ich lese beson-
Aufenthaltsrecht auf Probe bekommen. Das muss man ders gerne aus der Stellungnahme des Paritätischen
sich einmal vorstellen. Sie müssen bis zum Ende dieses Wohlfahrtsverbandes vom heutigen Tag vor, in der steht:
Jahres ein Einkommen aufbringen, das über Hartz-IV-
Niveau liegt, sonst heißt es: Abschiebung. Es ist unseres Die Aufenthaltserlaubnis muss erteilt werden kön-
Erachtens ein Skandal, dass die Regierung bis heute kei- nen, sobald die Ausreise unzumutbar ist. Es wäre
nerlei Vorschläge vorgelegt hat, um bis Jahresende diese einfach kaltherzig und inhuman, wenn Kinder, die
Abschiebungen zu verhindern. hier aufgewachsen sind, ständig Angst vor Ab-
schiebung haben müssen, nur weil ihre Eltern keine
(Beifall bei der LINKEN) Arbeit finden.
456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Ulla Jelpke
(A) Dort steht weiter, die Menschen brauchten keine Dul- Lebensunterhalt selbst verdienen können, haben wir so- (C)
dung, sondern Rechtssicherheit. gar die Möglichkeit zur Erteilung einer regulären Auf-
enthaltserlaubnis eröffnet.
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie
des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ Um es klar zu sagen: Die Bleiberechtsregelung ist
DIE GRÜNEN]) nicht nur, aber auch ein humanitärer Akt. Wir wollen
Das sehen wir ganz genauso. Geduldeten, die sich gut integriert haben, helfen. Eines
wollen wir aber auf jeden Fall: Wir wollen Zuwanderung
Es ist nicht akzeptabel, in die Sozialsysteme nachhaltig verhindern. Auch das
müssen wir bei der Bleiberechtsregelung in den Blick
– sagt der Paritätische Wohlfahrtsverband weiter –
nehmen.
wenn hunderttausend Menschen über Jahre hinweg
als Mitmenschen „auf Abruf“ behandelt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Wir können uns dem nur anschließen und hoffen, dass
die Bundesregierung endlich zu einer Lösung kommt. Vor diesem Hintergrund ist die jetzige Bleiberechtsrege-
lung ein Erfolg. Über 10 300 Geduldete haben eine Auf-
Ich danke. enthaltserlaubnis erhalten, weil sie in der Lage waren,
(Beifall bei der LINKEN) selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Weitere
knapp 30 000 Personen besitzen eine Aufenthaltserlaub-
nis auf Probe.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Grindel für Es ist interessant, sich die Statistiken der einzelnen
die Fraktion der CDU/CSU. Bundesländer anzuschauen. Dann stellt man fest, dass
bei der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen kein Land
Reinhard Grindel (CDU/CSU): so engherzig ist wie das Land Berlin, wo die Linke
Regierungsverantwortung trägt: Hier hat es ganze
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
74 Aufenthaltserlaubnisse gegeben. In Bayern waren es
will zunächst der Kritik an der bestehenden gesetzlichen
knapp 1 000. Sie brauchen uns von der Union in der
Bleiberechtsregelung entgegentreten. Frau Jelpke, die
Frage des humanitären Bleiberechts keinen Nachhilfeun-
Frage ist doch: Nach welchen Kriterien bewerte ich, ob
terricht zu erteilen. Dort, wo Sie Regierungsverantwor-
eine Bleiberechtsregelung erfolgreich ist oder nicht? Die
tung tragen, sieht die Bilanz am schlechtesten aus.
Linke führt dabei vor allem Zahlen ins Feld. Wenn es
nur auf Zahlen ankäme, dann wäre die erfolgreichste (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) Bleiberechtsregelung die, die aus nur einem Satz be- (D)
steht: Alle Ausländer, die da sind, können bleiben. Eine Verlängerung des Aufenthaltsrechts auf Probe
um zwei Jahre ist bereits im Gesetz selber vorgesehen,
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sofern der Lebensunterhalt zumindest überwiegend aus
Das wäre aber keine verantwortliche Zuwanderungspoli- eigener Erwerbstätigkeit bestritten worden ist. Das Bun-
tik. Das muss ich Ihnen vorhalten, da hier auch noch desinnenministerium hat in einer Reihe von Bundeslän-
Beifall geklatscht wird. dern eine stichprobenartige Untersuchung durchgeführt.
Danach ist zu erwarten, dass rund die Hälfte der Besitzer
Tatsächlich verdient derjenige ein Bleiberecht, bei dieses Aufenthaltsrechts auf Probe mit einer Verlänge-
dem es aus nicht von ihm zu vertretenden Gründen zu ei- rung rechnen kann. Zu den 10 000 Personen mit dauer-
nem so langjährigen Aufenthalt in Deutschland gekom- hafter Aufenthaltserlaubnis kommen also 15 000 Perso-
men ist, dass eine Verwurzelung in unserem Land statt- nen hinzu, die keine oder nur geringe Sozialleistungen in
gefunden hat, die eine Rückführung in das ursprüngliche Anspruch nehmen. Insofern ist es nicht richtig, wenn der
Heimatland aus humanitären Gesichtspunkten als nicht Paritätische Wohlfahrtsverband heute in einer Pressemit-
vertretbar erscheinen lässt. teilung den Eindruck erweckt – Frau Jelpke, Sie haben
Wir unterhalten uns hier über einen Weg der legalen das angesprochen –, als ob fast alle gut 30 000 Besitzer
Zuwanderung. Die Personen, um die es geht – das muss dieser Aufenthaltserlaubnis auf Probe zum Jahresende
man auch unseren Zuschauern deutlich machen –, sind ein Problem bekämen.
eigentlich allesamt ausreisepflichtig und erhalten durch Es ist sicher nicht zu bestreiten – das räumen wir
das Bleiberecht eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive. ein –, dass manch gutwilliger Inhaber eines Aufenthalts-
Wir müssen also integrationspolitische Überlegungen in rechts auf Probe wegen der augenblicklich schwierigen
den Blick nehmen. Deshalb sind an das Bleiberecht aus wirtschaftlichen Lage keine Verlängerung erhalten wird,
wohlerwogenen Gründen eine Reihe von Bedingungen weil es ihm nicht gelungen ist, seinen Lebensunterhalt
wie zum Beispiel das Beherrschen der deutschen Spra- überwiegend aus eigener Erwerbstätigkeit zu bestreiten,
che oder ein regelmäßiger Schulbesuch geknüpft wor- sondern möglicherweise nur zu einem geringen Teil.
den.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Mit der Aufenthaltsgenehmigung auf Probe, die Sie GRÜNEN]: Nicht nur manche! Viele!)
hier völlig zu Unrecht diskreditiert haben, wollten wir
Geduldeten vor allem die Arbeitsaufnahme erleichtern. Deshalb stellen wir uns gemeinsam mit den Ländern die
Für diejenigen, die so gut integriert sind, dass sie ihren Frage: Wie gehen wir damit um? Die Grünen und die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 457
Reinhard Grindel
(A) Linken schlagen vor, die Bleiberechtsregelung pauschal (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (C)
um mindestens ein Jahr zu verlängern. GRÜNEN]: Aber sie können doch gar nicht
zurückgeführt werden! Sonst würden sie ja
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ nicht geduldet!)
DIE GRÜNEN)
Ich möchte das einmal deutlich machen, auch weil Sie Das ist angesichts der schwierigen Lage der kommuna-
hier Beifall klatschen: Sie wollen eine pauschale Rege- len Haushalte nicht unproblematisch.
lung. Das heißt, Sie wollen denjenigen, der sich um Ar- Bei dieser Gelegenheit möchte ich, weil Frau Jelpke
beit bemüht hat, der für kleines Geld gearbeitet hat, das Thema Kettenduldungen angesprochen hat, darauf
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE hinweisen, dass Ihre Bemerkung in die völlig falsche
GRÜNEN]: Das kleine Geld reicht doch Richtung gegangen ist. Es war nie unser Wille, Duldun-
nicht!) gen generell abzuschaffen.
der sich immer wieder beworben hat, genauso behandeln (Rüdiger Veit [SPD]: Unserer schon!)
wie denjenigen, der überhaupt nichts getan hat, sondern
nur von Sozialhilfe gelebt hat. Das halte ich nicht für Selbstverständlich können diejenigen Ausländer kein
richtig. Wir brauchen eine differenzierte Lösung für den Aufenthaltsrecht beanspruchen, die durch das eigene
Umgang mit den ausländischen Mitbürgern. Handeln, nämlich durch das Vernichten von Ausweispa-
pieren, durch die Täuschung über ihre Identität und Rei-
(Beifall bei der CDU/CSU) sewege, selber dazu beigetragen haben, dass sich ihr
Welche Botschaft geht von Ihrem Vorschlag aus? Das Aufenthalt zum Teil über mehrere Jahre hingezogen hat,
Gesetz sieht vor, dass man sich um Arbeit bemühen weil zum Beispiel keine Passersatzpapiere herbeige-
muss. Viele Geduldete haben das getan, weil sie davon schafft werden konnten. Wer selber dafür verantwortlich
ausgegangen sind, dass man den Gesetzgeber ernst neh- ist, dass die Behörden die Rückführung nicht möglich
men kann. Sie sagen dann aber: Wer nichts getan hat, der machen konnten, wer in der Zeit vielleicht sogar straffäl-
wird genauso behandelt. Das ist nicht in Ordnung. lig geworden ist, darf kein Aufenthaltsrecht bekommen
und dessen Rückführung muss grundsätzlich möglich
Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion eindeutig, dass sein. Deshalb wollen wir für diese Fälle an der Duldung
wir keine gesetzliche Verlängerung der Bleiberechtsre- festhalten.
gelung wollen, sondern schon aus Zeitgründen eine Lö-
sung durch Beschluss der Innenministerkonferenz vor (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Jahresende anstreben. Weil durch die Verlängerung der NEN]: Wer bezahlt die denn? Wer bezahlt die
(B) Bleiberechtsregelung zusätzliche Kosten auf Länder und Rückführung?) (D)
Kommunen zukommen werden, macht es großen Sinn,
die Länder daran zu beteiligen. Unsere Beratungen sind im Übrigen ein Beleg dafür,
dass Stichtagsregelungen immer dann unehrlich sind,
Dabei ist uns völlig klar, dass eine Verlängerung des wenn allen Beteiligten sowieso klar ist, dass man ein
Aufenthaltsrechts auf Probe nur in Betracht kommen Problem nur verschiebt und der Stichtag letztendlich
kann, wenn der geduldete Ausländer nachweist, dass er nicht so ernst genommen wird. Ich will deshalb nicht
sich um die Sicherung seines Lebensunterhalts zumin- verhehlen, dass es in unserer Fraktion Sympathie dafür
dest bemüht hat. In den Genuss einer Verlängerung müs- gibt, über eine generelle Regelung hinsichtlich der Le-
sen diejenigen kommen, die tatsächlich unter der benssituation von gut integrierten Kindern nachzuden-
schwierigen Wirtschaftslage leiden, nicht aber diejeni- ken.
gen, die ohnehin, unabhängig von der Entwicklung auf
dem Arbeitsmarkt, nichts tun, ob es Arbeit gibt oder (Rüdiger Veit [SPD]: Sehr gut!)
nicht. Wir sind für eine differenzierte Lösung, wie sie
von vielen Bundesländern und den dortigen Innenminis- Viele Kinder aus geduldeten Familien gehen erfolgreich
tern angestrebt wird. in die Schule und haben eine gute Bildungs- und Ausbil-
dungsperspektive in unserem Land.
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Von wie vielen Leuten reden Sie da?) (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Dann werden nur
die Eltern abgeschoben!)
Ich betone noch einmal: Eine Zuwanderung in die So-
zialsysteme durch die Verlängerung der Bleiberechtsre- Für sie ist Deutschland oftmals längst neue Heimat ge-
gelung darf es nicht geben. worden. Ich sage hier: Im Zusammenwirken mit den In-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nenministern der Länder bleibt es eine Aufgabe in dieser
neten der FDP) Legislaturperiode, zu prüfen, ob wir für diese Kinder
und natürlich auch ihre Familien eine weitergehende Re-
Dementsprechend ist es auch falsch, dass die Grünen in gelung treffen können. Gleichzeitig bleibt es eine ebenso
ihrem Gesetzentwurf schreiben, eine pauschale Verlän- wichtige Aufgabe, diejenigen, die kein Recht haben, auf
gerung verursache keine zusätzlichen Kosten. Natürlich Dauer bei uns zu bleiben, konsequent in ihre Heimat zu-
würden Kommunen, die ansonsten einen Ausländer in rückzuführen und dabei etwaige Abschiebungshinder-
sein Herkunftsland zurückführen könnten, mit zusätzli- nisse zu beseitigen. Beides gehört zusammen: tragfähige
chen Hartz-IV-Leistungen belastet. humanitäre Lösungen für gut integrierte geduldete Aus-
458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Reinhard Grindel
(A) länder und eine Rückführung derjenigen, die erfolgrei- bedeutet im Extremfall – machen wir uns da nichts vor; (C)
che Integration in unserem Land eher erschweren. ich habe das in meiner früheren Praxis leider manchmal
miterleben müssen –, dass beispielsweise um 5 Uhr mor-
Vielen Dank fürs Zuhören. gens der entsprechende Mitarbeiter der Ausländerbe-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hörde mitsamt zwei Polizeistreifen vor der Tür steht,
neten der FDP) weil er nur so sicher sein kann, die gesamte Familie
zwecks Rückführung – in der Regel auf dem Luftweg –
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zu erreichen.
Das Wort hat nun Kollege Rüdiger Veit für die SPD- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Dann ist da
Fraktion. aber schon mal jemand untergetaucht, Herr
Kollege!)
Rüdiger Veit (SPD):
Das ist die Realität. Dieses Leben, das aus einem Sitzen
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und auf gepackten Koffern besteht, ist unseres Staates eigent-
Herren Kollegen! Ich möchte mit einer Art Amtsanma- lich unwürdig. Es ist inhuman und auch unvernünftig,
ßung beginnen. Normalerweise gratulieren Sie, Herr weil man die Betreffenden außerstande setzt, sich hier
Präsident, Kolleginnen und Kollegen zu ihren runden bei uns sinnvoll zu integrieren und ihren Lebensunterhalt
Geburtstagen; es ist erfreulich, wenn Kolleginnen und zu bestreiten; ich will das ausdrücklich so klar und deut-
Kollegen älter werden und runde Geburtstage haben. Ich lich sagen.
möchte einen anderen Glückwunsch aussprechen, der
mir ein aufrichtiges Bedürfnis ist. Herr Kollege Grindel, Die damalige rot-grüne Mehrheit hatte sich bei den
Sie sind vor zwei Tagen Vater geworden. Ich wünsche Beratungen zum neuen Aufenthaltsgesetz und zum Zu-
Ihnen, Ihrer Frau und dem neuen Erdenbürger, dass er wanderungsgesetz in den Jahren 2002 und 2004 aus gu-
gesund heranwächst und allzeit liebevolle und auch sehr tem Grund vorgenommen, die Duldung gänzlich abzu-
kluge Eltern hat, damit er ein ganz wichtiger Mitbürger schaffen und klar zu sagen: Wer hier in Deutschland
in unserer Gesellschaft wird. bleiben darf, der bleibt und bekommt eine Perspektive.
Derjenige, für den das nicht möglich ist, muss Deutsch-
(Heiterkeit und Beifall) land wieder verlassen. Dieses Zwischending, genannt
Auch wenn wir ein bisschen schmunzeln, der Glück- Duldung oder Kettenduldung – manchmal für zehn und
wunsch ist sehr ernst und sehr herzlich gemeint. mehr Jahre –, wollen wir nicht mehr.
Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, Wir mussten in den damaligen Gesetzesberatungen
(B) wir reden wieder einmal über die Altfall- oder Bleibe- aus Rücksicht auf die CDU/CSU sowohl hier im Parla- (D)
rechtsregelung in Bezug auf Geduldete. Wir wissen aus ment als auch im Bundesrat leider das Instrument des
der letzten Statistik, die das Bundesinnenministerium § 60 a wieder einführen. In einem neuen Gesetz weist
auf Anfrage der Linken zusammengetragen hat, dass wir eine a-Nummerierung immer ziemlich deutlich darauf
Mitte dieses Jahres immer noch rund 100 000 geduldete hin, dass die entsprechende Regelung – entschuldigen
ausländische Mitbürger in Deutschland hatten; rund Sie bitte diese Formulierung – im Nachhinein noch
60 000 davon haben sich hier bereits seit sechs und mehr „hineingewürgt“ worden ist.
Jahren aufgehalten.
Um was geht es heute konkret? Die Fraktion Bünd-
Jetzt muss man sowohl an die Adresse der hier neu im nis 90/Die Grünen hat einen Gesetzentwurf eingebracht,
Haus befindlichen Kolleginnen und Kollegen als auch an um die Möglichkeit der Aufenthaltserlaubnis auf Probe
die Adresse der Öffentlichkeit bzw. des Publikums klar um ein Jahr zu verlängern.
sagen: Wir betreiben hier keine Übungen in einem juris-
tischen Trockendock von Fachsprache. Es ist auch nicht (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Mindestens!)
so, dass uns daran gelegen wäre, Zuständigkeitsfragen Die Fraktion Die Linke hat darüber hinaus eine Erweite-
zwischen diesem Parlament und der Innenministerkonfe- rung dieses Bleiberechts, der Möglichkeit einer Aufent-
renz hin und her zu schieben. Vielmehr reden wir kon- haltserlaubnis, gefordert.
kret über das Schicksal dieser über 100 000 Menschen;
ganz viele davon sind Kinder und Jugendliche, die hier Ich möchte für die SPD-Fraktion – natürlich unter dem
in Deutschland geboren und/oder aufgewachsen sind. Vorbehalt, dass unsere Gremien das genauso sehen – an-
Deswegen muss man sich im Interesse eines Sozial- und kündigen, dass wir Ihnen in der nächsten oder übernächs-
Rechtsstaates sehr wohl ein paar Gedanken mehr darü- ten Woche einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem wir
ber machen, was mit diesen sinnvollerweise zu gesche- das Problem, wie wir hoffen, längerfristiger und sehr dif-
hen hat. ferenziert lösen können.
Duldung ist nichts anderes als die Erklärung an die Ich füge hinzu: Natürlich bleibt es dabei, dass wir die
Betroffenen: Ihr seid hier nicht willkommen; ihr be- Duldung am liebsten ganz abgeschafft hätten; daran wird
kommt hier keinen gesicherten Aufenthalt; wir wollen sich auch nichts ändern. Wir sind aber Realisten. Wir wis-
euch abschieben, das heißt, notfalls auch mit Anwen- sen, dass wir für eine solche Änderung des Aufenthalts-
dung unmittelbaren Zwanges außer Landes bringen, so- gesetzes auch die Zustimmung des Bundesrates brauchen.
bald wir das können. – Das ist die klare Ansage der Aus- Demgemäß nehmen wir auf die dortigen Mehrheitsver-
setzung einer Abschiebung, also einer Duldung. Das hältnisse Rücksicht. Natürlich versuchen wir, den einen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 459
Rüdiger Veit
(A) oder anderen Kollegen von der neuen Koalition, nament- die Innenministerkonferenz in ihrer Weisheit – das ist (C)
lich von der FDP, als Mitstreiter zu gewinnen. jetzt gar nicht unbedingt nur ironisch gemeint – etwas
korrigieren soll, was der Gesetzgeber ausdrücklich an-
Ich kündige schon jetzt an, dass in diesem Gesetzent- ders erklärt hat. Eigentlich wäre es unsere ureigenste
wurf in einer differenzierten Stufung klargestellt wird: Aufgabe als Gesetzgeber, die Hausaufgaben zu machen.
Wer sich mit Familie seit zehn Jahren oder als Alleinste-
hender seit zwölf Jahren bei uns aufhält, weil er, aus (Beifall der Abg. Wolfgang Gunkel [SPD] und
welchen Gründen auch immer, aus guten Gründen nicht Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
abgeschoben werden konnte, der kann bleiben. Diese GRÜNEN])
Regelung wird, unserer Auffassung nach sinnvoller-
weise, deswegen stichtagsbezogen sein, weil wir für die Die Idee ist auch gar nicht neu. Denn seit März haben
Zukunft keinen Anreiz schaffen wollen, sich der Ab- wir versucht, unseren damaligen Koalitionspartner, die
schiebung durch Verschleppung absichtlich zu entzie- Union, davon zu überzeugen, dass wir eine solche gesetz-
hen. liche Änderung dringend brauchen. Ich habe immer wie-
der darauf hingewiesen, dass die Zeit nach der Wahl, auf
Außerdem wollen wir bei deutlicher Verkürzung der die wir vertröstet werden sollten, nicht ausreicht, weil wir
bisherigen Fristen sagen: Wer sich als Alleinstehender mit einem regulären Gesetzgebungsverfahren bis zum
acht Jahre oder mit Familie sechs Jahre hier aufhält, der Jahresende nur schwer fertig werden können und weil die-
kann auch dann bleiben, wenn er seinen Lebensunterhalt jenigen, die damit rechnen müssen, dass ihre Aufenthalts-
nicht gesichert hat. erlaubnis auf Probe nicht wieder verlängert wird – das
sind, wie wir heute wissen, ungefähr 15 000 Menschen –,
In einer weiteren Stufung von wiederum sechs Jahren in der Zwischenzeit entweder kein neues Arbeitsverhält-
bei Alleinstehenden und vier Jahren bei Familien wollen nis eingehen können oder sogar ihre Arbeit verlieren. Das
wir sagen: Wer sich ernsthaft um die überwiegende Si- heißt, die bei uns lebenden ausländischen Mitbürger
cherung seines Lebensunterhaltes bemüht, der kann müssten entgegen dem, was wir eigentlich wollen, näm-
ebenfalls bleiben. Wohlgemerkt sind solche Tatbestände lich ihre Integration, zumindest eine Zwangspause einle-
und Konstellationen, in denen Ausweisungsgründe im gen.
Sinne schwerwiegender Straftaten oder des Verdachts
terroristischer Bezüge vorliegen, immer ausgeschlossen. Leider haben wir uns gegenüber unserem Koalitions-
partner nicht durchsetzen können. Unser Koalitionspart-
Wir wollen darüber hinaus sagen: Bei Minderjährigen ner war der Auffassung: Das machen wir alles nach der
und solchen Personen, die minderjährig eingereist sind, Wahl. Ich habe sogar noch die halbironische Bemerkung
reichen uns auch vier Jahre Aufenthalt in Deutschland, im Ohr, dieser Punkt könnte für die Koalitionsverhand-
(B) wenn die Perspektive gegeben ist, dass sie sich hier inte- lungen – mit wem auch immer – ein wichtiger Verhand- (D)
grieren werden. lungsgegenstand oder vielleicht eine Art Morgengabe
In der Konsequenz dessen gehen wir dann noch einen werden.
Schritt weiter und sagen: Kinder und Jugendliche, die Was sich jetzt in den Koalitionsvereinbarungen wie-
mindestens einen Hauptschulabschluss oder einen ver- derfindet, geht über das, was die CDU sowieso zu ma-
gleichbaren Schulabschluss erworben haben, sollen chen bereit war, nicht wesentlich hinaus. Ich unterstelle
ebenfalls hierbleiben können, ohne die erforderlichen einmal, bei der Union besteht – der Kollege Grindel hat
Mindestaufenthaltszeiten nachweisen zu müssen. Denn das zart angedeutet – durchaus eine gewisse Bereit-
sie haben schon den Nachweis erbracht, dass und in wel- schaft, zumindest über eine Verlängerung der Aufent-
cher Weise sie in der Lage sind, sich in unsere Gesell- haltserlaubnis auf Probe nachzudenken. Ich sage aber
schaft und unser Bildungssystem zu integrieren. Eine noch einmal: Ich halte die Innenministerkonferenz für
solche gesetzliche Regelung soll wohlgemerkt nicht das falsche Instrument. Wir könnten das auch hier be-
stichtagsbezogen sein. Wir glauben, dass auch diejeni- schließen; es wäre noch nicht zu spät.
gen, die aufgrund ihrer Aufenthaltszeiten immer wieder
in diese Möglichkeit „hineinwachsen“, auch in der Zu- Insgesamt – damit will ich eine gewisse Spitze gegen-
kunft das Recht erhalten müssen, eine Aufenthaltser- über dem neuen Koalitionspartner der CDU/CSU nicht
laubnis zu bekommen. verhehlen – hätte ich der FDP angesichts der Denkweise,
die sie in den vergangenen Jahren gezeigt hat, zugetraut,
Wir wollen uns nicht darauf verlassen, dass die Innen- sich in manchen Punkten, gerade was das Ausländer-
ministerkonferenz auf ihrer Sitzung Anfang Dezember recht angeht, besser durchzusetzen.
dieses Jahres einfach nur beschließt: Wir verlängern die
Möglichkeit der Aufenthaltserlaubnis auf Probe um ein (Otto Fricke [FDP]: Besser als ihr!)
oder zwei Jahre. – Es gibt einen Berliner Vorschlag, der Daher sage ich nur: Schon wir waren vielleicht nicht gut
eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe oder nicht optimal; aber Sie sind ein noch wesentlich
auf zwei Jahre und weitere Voraussetzungen, die aller- kleinerer Teil der Koalition. So ist Ihr Erfolg in den
dings nicht so eng wie die bisherige Regelung gefasst Koalitionsverhandlungen noch bescheidener ausgefal-
sind, beinhaltet. Im Augenblick deutet aber nichts darauf len. Dafür kann ich Sie nicht loben.
hin, dass die Innenminister – sie müssten das gemeinsam
und einstimmig machen – einem derartigen Vorschlag Gleichwohl werbe ich dafür, dass wir über den Ge-
nähertreten. Dies löst auch nicht wirklich das Problem. setzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen und den Antrag
Außerdem ist es von der Systematik her schwierig, wenn der Linken, auch wenn sie nach meinem Dafürhalten
460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Rüdiger Veit
(A) nicht differenziert genug, nicht weitgehend genug sind, Wir sind uns in der Koalition einig, und wir sind uns üb- (C)
gemeinsam mit der neuen Koalition beraten. Ich würde rigens auch mit den Grünen einig, wenn ich ihren Antrag
mich freuen, wenn wir zeitnah gemeinsam zu einem richtig verstehe.
konstruktiven Ergebnis kämen.
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Abschaffung der
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Residenzpflicht!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vor dem Hintergrund der momentanen wirtschaftli-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) chen Rahmenbedingungen besteht Handlungsbedarf in
Bezug auf die Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis auf
Probe, die die gesetzlichen Vorgaben zur Lebensunter-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: haltssicherung zum Jahresende voraussichtlich verfehlen
Das Wort hat nun Kollege Hartfrid Wolff für die FDP- werden. Auch der Kollege Grindel hat das gerade ausge-
Fraktion. führt.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir haben vereinbart, zeitgerecht eine angemessene
Regelung zu finden. Zunächst gilt es, die zum Jahres-
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): ende auslaufende Regelung so anzupassen, dass wir den
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Re- notwendigen Raum gewinnen, eine tragfähige gesetzli-
form des Bleiberechts durch die Bundesregierung 2007 che Grundlage für ein Bleiberecht zu schaffen, um den
war ein längst überfälliger Schritt. Das habe ich damals nicht mehr verständlichen Zustand der Kettenduldungen
als Vertreter der Opposition gesagt, und das sage ich nachhaltig anzugehen.
auch als Vertreter der FDP-Fraktion in der Regierungs- (Rüdiger Veit [SPD]: Sehr gut!)
koalition.
Anfang Juli habe ich hier an dieser Stelle gesagt: Die
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und des FDP hält es für notwendig, die Frist – bisher 31. Dezem-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des ber 2009 – zu verlängern, da nach der Neuwahl des Bun-
Abg. Wolfgang Gunkel [SPD]) destages die Zeit zu kurz ist, um durch eine neue Gesetz-
gebung für eine praktikable Umsetzung zu sorgen.
Wenn bei lange geduldeten, gut integrierten Auslän-
dern eine Abschiebung nicht mehr vertretbar ist, muss (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ach nein! Das ist
dieser Tatsache durch eine vernünftige und unbürokrati- ja interessant!)
sche Regelung Rechnung getragen werden. Die ent-
Die damalige FDP-Position sieht man jetzt weitgehend
(B) scheidenden Kriterien waren und sind jedoch: lange ge- wörtlich in dem Antrag der Grünen. Sie sind ihr beige- (D)
duldet und gut integriert. Eine eigenständige Sicherung
treten.
des Lebensunterhalts ist dabei von entscheidender Be-
deutung. (Aydan Özoğuz [SPD]: Dann können Sie doch
zustimmen!)
Das Zahlenmaterial, das die Grünen in ihrem Gesetz-
entwurf und die Linken in ihrem Antrag zitieren, deutet Ich finde es übrigens ganz interessant: Im Sommer konn-
darauf hin, dass diese Anforderung für die Integration ten die Grünen dem noch nicht zustimmen. Auch die
sehr bedeutsam ist. Anders als die Linken es in ihrem SPD wollte dem in der damaligen Koalition nicht beitre-
Antrag vorgaukeln, ist es zutiefst inhuman, Menschen ten. Eine Gesetzesänderung wäre Anfang Juli freilich
den Aufenthalt zu ermöglichen, die keine Chance haben, das Mittel der Wahl gewesen.
ihren Lebensunterhalt hier selbst zu verdienen. Wer so
(Rüdiger Veit [SPD]: Sehr richtig!)
etwas tut, hält Alimentierung für humane Politik.
Jetzt ist es arg spät dafür. Das war allen Kolleginnen und
Wir Liberalen halten es für besser, Menschen Chan- Kollegen hier in diesem Hause auch bereits in der letzten
cen zu eröffnen. Arbeit ermöglicht es Zuwanderern, Legislaturperiode bewusst.
finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, und fördert da-
durch das Selbstwertgefühl nicht nur der Berufstätigen, (Rüdiger Veit [SPD]: Nicht allen, aber den
sondern auch ihrer Familienangehörigen. meisten!)
Ohne einen gleichberechtigten Arbeitsmarktzugang Unsere Befürchtung hat sich also als berechtigt
können sich Zuwanderer nicht aus ihrer ökonomischen herausgestellt. Die Alternative, die die Grünen im vor-
Abhängigkeit befreien. Erwerbstätigkeit ist die Grund- liegenden Entwurf aufzeigen, über ein Votum der Innen-
lage für wirtschaftliche Eigenständigkeit. Deshalb stellt ministerkonferenz eine Übergangslösung zu bewerkstel-
die Koalition die Ermöglichung einer Erwerbstätigkeit in ligen, ist deshalb der richtige Weg. Zeitlich erhalten wir
den Mittelpunkt. Daher sagen wir im Koalitionsvertrag: so schneller als durch ein komplexes Gesetzgebungsver-
fahren, nämlich Anfang Dezember, eine verlässliche
Die Residenzpflicht soll so ausgestaltet werden, Grundlage für die Betroffenen.
dass eine hinreichende Mobilität insbesondere im
Hinblick auf eine zugelassene Arbeitsaufnahme
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
möglich ist …
Herr Kollege Wolff, gestatten Sie eine Zwischenfrage
(Rüdiger Veit [SPD]: Das gilt heute schon!) des Kollegen Sharma?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 461

(A) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): selbst gefordert. Die deutsche Sprache, die Demokratie, (C)
Das muss nicht unbedingt sein. der Rechtsstaat und die Grund- und Menschenrechte
sind das für alle geltende Fundament unserer Gesell-
(Raju Sharma [DIE LINKE]: Keine Lust zu schaft.
antworten?)
Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozial-
Bitte schön. systeme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und
die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie
schlicht falsche Erwartungen weckt und statt Engage-
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): ment nur Anspruchsdenken fördert.
Das eigentliche Problem stellt sich danach. Das Pro-
blem der Kettenduldungen muss einer nachhaltigen Lö- (Zuruf von der LINKEN: Wo wollt ihr denn
sung zugeführt werden, und wir brauchen für alle, insbe- hin?)
sondere auch für die bisher Geduldeten, Rechtssicherheit
Wir Liberalen wollen dagegen Chancen eröffnen.
und Rechtsklarheit.
(Zuruf von der LINKEN: Wo denn?)
(Rüdiger Veit [SPD]: Sehr gut!)
Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleibe- Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht
rechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute
Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen und anderer- macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir
seits die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern, wollen, dass die Menschen, die zu uns kommen, sich
dass diese eine nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerin- ihre Zukunft selbst erarbeiten dürfen und können.
nen und Bürger findet. Hier muss die tatsächliche Inte- Wir wollen, dass sie hier willkommen sind.
gration das entscheidende Kriterium sein.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Aydan Özoğuz [SPD]: Von welchen Massen der CDU/CSU)
reden Sie denn?)
Wer einem schrankenlosen Daueraufenthaltsrecht in ver- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
meintlich humanitärer Gesinnung das Wort redet, riskiert Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
die steigende Ablehnung der Bevölkerung gegenüber Kollegen Raju Sharma.
Zuwanderern.
(B) Raju Sharma (DIE LINKE):
(D)
Im Antrag der Linken wird die Notwendigkeit einer
eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen Herr Kollege Wolff, ich habe zur Kenntnis genom-
verneint, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland su- men, dass Sie zur Lebenssituation der Menschen, die
chen. Es hilft niemandem weiter, wenn die Fraktion Die nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt überwie-
Linke immer wieder fordert, de facto auf jegliche Zu- gend eigenständig zu sichern, ausgeführt haben, diese
wanderungssteuerung zu verzichten. Vielmehr erweist Menschen hierzubehalten, sei inhuman. Ich finde diese
die Linke damit den Bemühungen um Ausländerintegra- Aussage bemerkenswert, weil sie darauf rückschließen
tion einen Bärendienst. Die Linken erwecken mit ihrem lässt, dass Sie die Lebenssituation dieser Menschen als
Antrag den Eindruck, Geduldete könnten sich allein da- inhuman betrachten. Wir können das unterstreichen. Ich
durch, dass sie sich fünf oder gar nur drei Jahre lang frage mich bloß: Wie beabsichtigen Sie diese Situation
hierzulande aufgehalten haben, ohne aktiv etwas für ihre zu ändern?
Integration zu tun, einen Anspruch auf ein Bleiberecht
erwirken. Damit werden falsche Hoffnungen geweckt. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Irgendwann nächstes Jahr oder
Eine solche Rücksichtslosigkeit gegenüber unseren übernächstes Jahr!)
Sozialsystemen, vor allem aber übrigens auch gegenüber
den Betroffenen selbst, die die Linke offenbar nur als
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Unmutspotenzial in der Bevölkerung kultivieren will,
trägt die FDP nicht mit. Die Möglichkeit für langjährig Herr Kollege Wolff.
Geduldete, den eigenständigen Lebensunterhalt zu be-
streiten, ist deshalb sehr wohl ein wichtiges Kriterium Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
bei der Bleiberechtsregelung. Das dient der Integration. Lieber Herr Kollege, wir sind uns doch darüber einig,
Um die Arbeitsmigration sinnvoll zu steuern, hat die dass das geltende Ausländerrecht demokratisches Recht
FDP konkrete Vorschläge gemacht, die auch von den ist und man dementsprechend beachten muss, dass man
Gewerkschaften und den Unternehmen dringend ange- nicht meinen kann, dieses außer Kraft setzen und einen
mahnt werden und über die wir im Koalitionsvertrag Anreiz dafür geben zu können, dass jeder, der in ir-
Einvernehmen erzielt haben. gendeiner schwierigen Situation ist, nach Deutschland
kommen kann. Das heißt, wir werden eine Lösung fin-
Wir sind uns auch beim Bleiberecht einig. Wir brau- den müssen, nach welchen Kriterien jemand bleiben und
chen eine Zuwanderungssteuerung mit nachvollziehba- einen Aufenthaltsstatus bekommen kann. Dementspre-
ren Kriterien. Zuwanderer sind zu fördern, aber auch chend müssen wir auch diese Regelung vollziehen.
462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


(A) Genau deshalb müssen wir klare, für die Betroffenen nicht nur um die Menschen, die keine Arbeit haben, son- (C)
selbst, aber auch für unsere Gesellschaft nachvollzieh- dern gerade auch um die von Ihnen genannten, die für
bare Kriterien finden, die vernünftigerweise auch aner- kleines Geld arbeiten gegangen sind. Sie fallen nämlich
kannt sind. Ich glaube, dazu gehört auch die Möglich- gar nicht mehr unter diese Regelung, weil sich die
keit, hier zu arbeiten und etwas für die Integration zu Rechtsprechung verändert hat.
tun. Aber bei demjenigen, der sich nicht integrieren will,
ist es verhältnismäßig schwierig, von den demokrati- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die werden
schen Gesichtspunkten des Ausländerrechts Abstand zu verlängert!)
nehmen. Das heißt, wer ein sogenannter Aufstocker zusätzlich
zum Arbeitslohn ist, der kommt nach dieser gesetzlichen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Regelung nämlich gar nicht in den Genuss dieser Altfall-
Das Wort hat nun Kollege Josef Winkler für die Frak- regelung, die Sie als Große Koalition vorgelegt hatten.
tion Bündnis 90/Die Grünen. Wenn Sie schon unseren Gesetzentwurf nicht durchle-
sen, dann sollten Sie sich vielleicht wenigstens die
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Rechtsprechung und die geltende Rechtslage zu Gemüte
NEN): führen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kollegen! Ich wende mich gleich an den Kollegen sowie bei Abgeordneten der LINKEN –
Wolff. Nur weil der Deutsche Bundestag auf demokrati- Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Aber die IMK-
sche Weise ein Gesetz beschlossen hat, muss es nicht au- Regelung wird das hergeben!)
tomatisch nur humane Auswirkungen haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein reiner Beschluss der Innenministerkonferenz
und bei der LINKEN sowie der Abg. Aydan stellt eindeutig einen Rückschritt dar. Zuvor gab es ein
Özoğuz [SPD]) klares Wort des Gesetzgebers. Als die geltende Regelung
demokratisch beschlossen wurde, waren Sie noch in der
Gerade im Bereich der Flüchtlingspolitik und des Opposition, Herr Kollege Wolff. Es wurde nicht mehr,
Flüchtlingsrechts kann man das sehr genau beobachten. wie das jahrzehntelang der Fall war, allein in geheimen
Das alleine ist also noch kein inhaltlich starkes Argu- Runden der Innenministerkonferenz, sondern in diesem
ment gegen das gewesen, was der Kollege Sharma vor- Hohen Hause entschieden, wie mit den Menschen, die
gebracht hat. von der Duldungsregelung betroffen sind, umgegangen
wird. Vor diesem Hintergrund können gerade Sie von der
Jetzt will ich aber für den Kollegen Grindel und den
(B) FDP es mir nicht als einen demokratischen Fortschritt (D)
Kollegen Wolff aus unserem Gesetzentwurf zitieren:
verkaufen, wenn darüber wieder auf der Innenminister-
In § 104 a Absatz 5 Satz 1 und 2 wird das Datum konferenz unter Ausschluss der Öffentlichkeit – mögli-
„31. Dezember 2009“ jeweils durch das Datum cherweise in berühmt-berüchtigten Kamingesprächen –
„31. Dezember 2010“ ersetzt. entschieden wird.
Ich habe nicht gedacht, dass das so missverständlich sein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
könnte, wie es sich heute gezeigt hat. Sie haben eine und bei der SPD)
große kreative Intelligenz bewiesen und hier Dinge hi-
neininterpretiert, die damit wirklich nicht gemeint sind. Nein, das ist sicherlich keine Verbesserung für die Be-
troffenen und erst recht nicht für das deutsche Parla-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ment. Es handelt sich vielmehr um eine Selbstkastration
Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ich habe doch des Deutschen Bundestages. Wie können Sie das hier
klar gesagt: keine pauschale Verlängerung! vom Rednerpult aus begrüßen, Herr Kollege Grindel?
Nur für die, die sich bemüht haben!)
Herr Kollege Wolff, Sie haben vor der Sommerpause
– Herr Kollege Grindel, Sie ignorieren meine Zwischen-
genau das gesagt, was wir heute als Antrag vorgelegt ha-
rufe auch immer. Deshalb rede auch ich jetzt einfach
ben. Danach soll das Aufenthaltsrecht auf Probe nicht
weiter. Im Übrigen habe ich Ihren Beitrag zur Bekämp-
durch das Aufenthaltsrecht nach § 23 Abs. 1 Satz 1 er-
fung des demografischen Wandels schon zustimmend
setzt werden, sondern es soll nur die Frist bis zum
zur Kenntnis genommen. Auch meine Gratulation
31. Dezember 2010 verlängert werden. Das hielt auch
hierzu.
die FDP für notwendig. Das waren Ihre Worte vor noch
Aber jetzt zum Thema: Angesichts des Auslaufens nicht einmal einem Vierteljahr.
der gesetzlichen Bleiberechtsregelung zum Jahresende
ist es aus Sicht meiner Fraktion vordringlich, zunächst (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Was kümmert
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für die Betroffenen mich mein Geschwätz von gestern?)
und auch für die Ausländerbehörden durch eine Fristver- Heute stellen Sie sich hierhin und erfinden irgendwel-
längerung im Gesetz zu schaffen. Das ist jetzt am vor- che Gründe, warum das auf keinen Fall sinnvoll sein
dringlichsten. Den Menschen steht schon der Angst- kann.
schweiß auf der Stirn, und zwar nicht nur den
Betroffenen selbst, sondern auch ihren Arbeitgebern. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ihr
Denn anders, als Sie gesagt haben, Herr Grindel, geht es wolltet das doch auch nicht!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 463
Josef Philip Winkler
(A) Das, was wir damals und auch heute vorgelegt haben, Beschluss der Innenministerkonferenz vom November (C)
wollen Sie nun nicht mehr mittragen. 2006 beruht.
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Zu späte Um mit Zahlen aufzuwarten – Stand 30. September
Kopie!) 2009 –: Nach der Bleiberechtsregelung der Innenminis-
terkonferenz sind bislang 24 527 Personen in den Ge-
– Herr Kollege Wolff, ich kann doch Ihre sinnvollen Bei- nuss einer Aufenthaltserlaubnis gekommen. Darüber
träge kopieren. Das ist ja kein ernst zu nehmender Vor- hinaus sind 10 373 Personen in den Genuss einer Auf-
wurf. enthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 Satz 2 bzw. Abs. 2
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – des Aufenthaltsgesetzes gekommen. Dabei handelt es
Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Zu spätes sich um Personen, die ihren Lebensunterhalt durch Er-
Kopieren!) werbsarbeit eigenständig sichern konnten. Neben diesen
rund 35 000 Personen gibt es 29 039 Personen, die eine
– Der Vorwurf eines Plagiats ist nur dann berechtigt, sogenannte Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten ha-
wenn ich daraus einen unsittlichen Gewinn erziele, den ben.
Sie dann nicht mehr haben. Den Gewinn gönne ich Ih-
nen gerne. Ich will Ihnen nicht unterstellen, dass Sie nie- In einer stichprobenartigen Untersuchung in den Bun-
mals eine kluge Idee haben. Wenn Sie aber darauf beste- desländern ab Mai dieses Jahres wurde festgestellt, dass
hen, dass festgestellt wird, dass Sie niemals eine kluge ungefähr die Hälfte dieser 29 000 Personen von Hartz IV
Idee haben, tue ich Ihnen den Gefallen gerne und zitiere lebt. Die restlichen Personen – ungefähr 15 000 – befin-
Sie in Zukunft nicht mehr. den sich mittlerweile in der Situation, dass sie ihren Le-
bensunterhalt eigenständig durch Erwerbsarbeit zumin-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ dest teilweise sichern können. Diesen Menschen droht
DIE GRÜNEN) keinesfalls die Abschiebung; das möchte ich klarstellen.
Ich fasse zusammen: Wir wollen, dass den Gedulde- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)
ten geholfen wird. Wir wollen Rechtsklarheit und
Daneben gibt es einen weiteren Bereich von 15 000
Rechtssicherheit. Herr Kollege Veit, Ihr Angebot, eine
Personen, denen die Abschiebung ebenfalls nicht droht.
längerfristige, dauerhafte Regelung für diese Gruppe zu
Es gibt im gültigen Aufenthaltsgesetz bereits Vorschrif-
finden, nehmen wir gerne an. Darüber können wir ge-
ten, die es verbieten, dass Personen abgeschoben wer-
meinsam diskutieren. Auch wir werden im ersten Quar-
den, wenn rechtliche oder tatsächliche Hindernisse be-
tal zeitnah einen Vorschlag unterbreiten, aus dem her-
stehen.
vorgeht, wie wir das dauerhaft für die nächsten Jahre
(B) regeln wollen. Dann können wir darüber vielleicht in (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das wissen wir (D)
diesem Hohen Hause beraten. Ich finde es aber sehr be- doch selber! Das hat doch damit nichts zu
denklich, dass hier Parlamentarier ans Rednerpult treten tun!)
und sich freuen, dass ein Gesetz ausläuft und die Innen-
minister das dann exekutiv alleine regeln. – Liebe Frau Kollegin Jelpke, wenn Sie es selber wissen,
warum führen Sie es dann in Ihrem Antrag auf und be-
Danke für die Aufmerksamkeit. haupten, dass dem nicht so wäre?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Weil Ihre Rech-
und bei der SPD) nung von vorne bis hinten falsch ist!)
Es stimmt auch nicht – das möchte ich klarstellen –,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dass ein Großteil der 30 000 Personen, die momentan
Ich erteile das Wort Kollegen Stephan Mayer für die über den Aufenthaltstitel auf Probe verfügen, dann in die
CDU/CSU-Fraktion. Duldung fallen wird. Dies wird nicht der Fall sein.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das werden wir ja sehen!)
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Ich möchte ganz offen sagen, meine sehr geehrten
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Vertreter von der Opposition: Es ist sinnvoll, die Bleibe-
Kolleginnen! Sehr verehrte Kollegen! Ich bedaure, dass rechtsregelung zu verlängern, allerdings nicht in der
durch die Vertreter der Opposition und insbesondere Form, wie Sie das im Moment beantragen.
durch die Vorlagen, die die Linkspartei und die Grünen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
eingebracht haben, der Eindruck vermittelt wird, dass neten der FDP – Ulla Jelpke [DIE LINKE]:
zum 1. Januar 2010 eine humanitäre Katastrophe in Wie denn?)
Deutschland droht, und zwar dergestalt, dass Tausende
von Menschen, die bisher über eine Aufenthaltsgeneh- Dem Antrag der Linken wohnt das Motto inne: Ein Aus-
migung auf Probe verfügen, abgeschoben werden. Um reisepflichtiger muss es nur lange genug schaffen, trotz
dies ganz klar zum Ausdruck zu bringen: Dem ist mit- seiner Ausreiseverpflichtung in Deutschland zu verblei-
nichten so. Wir haben derzeit in Deutschland zwei Blei- ben, dann wird sein Aufenthalt schon legalisiert. Dem
berechtsregelungen: eine gesetzliche Bleiberechtsrege- Entwurf der Grünen wohnt der Gedanke inne: Auf eine
lung und eine Bleiberechtsregelung, die auf dem eigenständige Unterhaltssicherung kann es letzten Endes
464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Stephan Mayer (Altötting)


(A) gar nicht ankommen, weil dies ohnehin eine viel zu hohe (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (C)
Hürde wäre. Beiden Vorlagen ist deutlich entgegenzutre- GRÜNEN]: Hatten Sie denn gegen das Gesetz
ten. gestimmt?)
Wichtig ist, dass wir bei der Fortschreibung des Blei- Ich möchte eines klarmachen: Der Inhalt einer Blei-
berechts differenzieren, ob jemand wirklich aktiv ver- berechtsregelung darf nicht dazu führen, dass die Perso-
sucht hat, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrie- nen privilegiert werden, die sich nicht aktiv bemüht ha-
ren. Die entscheidende Stellschraube für eine ben, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, die
erfolgreiche Integration in eine Gesellschaft ist, dass vielleicht sogar ihre Identität und ihre Herkunft ver-
man sich zumindest ernsthaft bemüht, Arbeit zu bekom- schleiert haben, die vielleicht ihre Legitimationspapiere
men. weggeworfen haben und die sich nicht aktiv bemüht ha-
ben, eine Arbeitsstelle in Deutschland zu bekommen.
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Ich gestehe durchaus: Wir befinden uns in der schwers- GRÜNEN]: Das durften sie ja viele Jahre gar
ten Wirtschafts- und Finanzkrise seit der Gründung der nicht!)
Bundesrepublik. Es ist derzeit schon für viele Deutsche
nicht einfach, eine Arbeitsstelle zu bekommen. Umso Es gilt ganz klar, diesen Personen das Bleiberecht zu
schwieriger ist es für viele Ausländer – das ist vollkom- versagen.
men zugestanden –, in Deutschland Arbeit zu bekom-
Ich bin der festen Überzeugung, dass man diesem dif-
men.
ferenzierten Ansatz, den ich jetzt dargestellt habe, in al-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE lerbester Weise in Form einer Regelung durch die Innen-
GRÜNEN]: Na also!) ministerkonferenz, die in der nächsten Woche stattfinden
wird, gerecht wird. Diese unterschiedlichen Sachver-
Deswegen würde ich sogar so weit gehen, nicht zu for- halte, diese unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten
dern, dass diese Personen tatsächlich eine Arbeitsstelle kann man meines Erachtens nicht in ein Gesetz und in
bekommen haben müssen. Das Einzige, was ich von ei- einen oder zwei Paragrafen gießen. Es ist wesentlich
nem Geduldeten verlange, ist – das ist nicht zu viel ver- sachgerechter und vernünftiger, eine ausdifferenzierte
langt –, dass er sich ernsthaft bemüht, Arbeit zu bekom- Regelung im Rahmen der Innenministerkonferenz zu
men. finden. Die Anzeichen sind positiv. Die bisherigen An-
kündigungen der Länderinnenminister gehen in die
Weiterhin sollte es folgendermaßen sein: Wenn Kin- Richtung, dass es relativ einfach sein wird, eine Fort-
der vorhanden sind, sollten diese eine Schule besuchen. schreibung der Bleiberechtsregelung zu erreichen. Ich (D)
(B) Wenn jemand über ausreichenden Wohnraum verfügt,
glaube, dass dies in allerbester Weise den unterschiedli-
dann rechtfertigt dies meines Erachtens, ihm weiterhin chen Befindlichkeiten und den berechtigten Erwartun-
den Verbleib in Deutschland zu gestatten. Natürlich kann gen auf allen möglichen Seiten gerecht wird. In diesem
man von jemandem, der ernsthaft versucht, sich in die Sinne gilt es, den Vorlagen der Grünen und der Linken
deutsche Gesellschaft zu integrieren, auch erwarten, dass
heute die Zustimmung zu verweigern. Ich hege die hoff-
er sich zumindest Grundkenntnisse der deutschen Spra- nungsvolle Erwartung, dass es den Länderinnenminis-
che aneignet. All dies sind Aspekte, die meines Erach- tern in der nächsten Woche gelingt, eine sachgerechte
tens zu gewichten und zu werten sind, wenn es darum
und vernünftige Lösung zu finden.
geht, festzulegen, ob eine Person weiterhin eine Bleibe-
rechtsregelung genießen darf oder nicht. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Ich halte nichts von einer gesetzlichen Regelung. Die
Länder sind die verantwortlichen Instanzen, wenn es da-
rum geht, das Ausländer- und das Aufenthaltsrecht zu Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
exekutieren. Ich schließe die Aussprache.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
GRÜNEN]: Sie haben es doch selber be- den Drucksachen 17/19 und 17/34 (neu) an die in der Ta-
schlossen, letzte Wahlperiode!) gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
Die Bleiberechtsregelung ist nun einmal eine Ausnah- sind die Überweisungen so beschlossen.
mebestimmung. Deswegen halte ich es für durchaus
sinnvoll und sachgerecht, dass sich die Bundesländer Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b
und die Innenministerkonferenz der Länder mit dieser auf:
Thematik beschäftigen. Die nächste Innenministerkonfe- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
renz steht alsbald an, und zwar am 3. und 4. Dezember gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
dieses Jahres. Ich bin der guten Hoffnung, dass es den zur Änderung des Zweiten Buches Sozialge-
Innenministern aller unterschiedlichen Parteien gelingt, setzbuch
eine sachgerechte und vernünftige Fortschreibung der
Bleiberechtsregelung zu erreichen. – Drucksache 17/41 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 465
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Überweisungsvorschlag: der derzeitigen gesamtwirtschaftlichen Daten Gesamt- (C)
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) ausgaben in Höhe von 15,8 Milliarden Euro auf diesem
Innenausschuss
Rechtsausschuss Gebiet zu erwarten. 23,6 Prozent davon ergeben circa
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 3,7 Milliarden Euro im Jahr 2010. Ich hoffe, ich habe
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung richtig gerechnet.
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nun gibt es in diesem Jahr eine Initiative des Bundes-
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja rats, die vorsieht, dass man die Berechnung künftig nicht
Kipping, Klaus Ernst, Dr. Gesine Lötzsch, weite- mehr an der Zahl der Bedarfsgemeinschaften festmachen
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE möge, sondern an den Ausgaben. Ich darf hier bereits an-
Bundesbeteiligung bei Kosten der Unterkunft kündigen, dass die Bundesregierung nicht gedenkt, die-
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch sem Anliegen nachzukommen, sondern an dem bisheri-
erhöhen gen Standpunkt festhält. Täte sie das nicht, würde hier
eine Entwicklung eintreten, dass bei Kosten, die der
– Drucksache 17/75 – Bund nahezu nicht beeinflussen kann, eine Mitwirkung
Überweisungsvorschlag: stattfindet, die außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) liegt. Das kann nicht im Interesse des Bundes sein. Da-
Innenausschuss her bemühen wir uns, diese Intervention zurückzuwei-
Haushaltsausschuss
sen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Rasche Beratungen sind angesagt; denn bedingt durch
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. die Bundestagswahl konnte dieses Gesetz nicht früher
auf den Weg gebracht werden. Das bedeutet, dass die
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen- Ausschüsse jetzt sehr schnell an die Arbeit gehen müs-
tarischen Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel das Wort. sen. Ich habe mit Freude festgestellt, dass das bereits ge-
schehen ist. Am Montag wird noch eine Anhörung statt-
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim finden. Die nächste Beratung wird bereits in der Folge
Bundesminister für Arbeit und Soziales: stattfinden können. Die Voraussetzungen sind also gege-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heu- ben, dass dieses Gesetz rechtzeitig in Kraft tritt.
tige Beratungsbedarf ergibt sich aus dem Vierten Gesetz Ich bedanke mich bei dem Ausschuss, dass er diese
für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Im Beschleunigung vorgenommen hat, und wünsche uns
Jahr 2004 hat man bekanntlich beschlossen, dass sich gute Beratungen.
(B) der Bund im Rahmen der Zusammenführung von Sozial- (D)
hilfe und Arbeitslosenhilfe an den Kosten der Unterkunft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
beteiligt, und hat dann Modalitäten festgelegt. Nachdem
man zunächst einmal zwei Jahre spitz abgerechnet hat, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
hat man gemerkt, dass das sehr viel Bürokratie verur- Das Wort hat nun Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
sacht. Dann hat man eine Formel entwickelt, die für die für die SPD-Fraktion.
Zeit ab dem Jahr 2008 angewendet wird.
Seitdem gilt die Formel, dass man die Kosten- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
beteiligung danach bemisst, ob die Zahl der Bedarfs- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Alle
gemeinschaften konstant ist oder gegenüber dem Jahre wieder …“, Sie kennen dieses Lied; immer vor
Vorjahreszeitraum abweicht. Wenn die Zahl der Be- Weihnachten fällt es uns ein. Wir kennen alle Strophen.
darfsgemeinschaften gegenüber dem vorigen Berech- Ein bisschen wie „Alle Jahre wieder …“ behandeln wir
nungszeitraum – das ist jeweils Juli eines Jahres bis auch dieses Thema.
Juni des nächsten Jahres – um mehr als 0,5 Prozent ab-
weicht, dann muss eine nach der Formel vorgegebene (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Früher haben Sie
Angleichung stattfinden. Aus dem Grund ist man jetzt immer mitgesungen!)
bereits bei der sechsten Änderung angekommen. Im Worum geht es dabei? Es geht im Grunde darum, dass
Zeitraum von Juli 2008 bis Juni 2009 ist die Zahl der wir altbekannte Argumente austauschen. Dann wird eine
Bedarfsgemeinschaften in Deutschland um 3,4 Prozent Entscheidung getroffen, und wir fragen uns hinterher:
zurückgegangen. Aus der Formel ergibt sich damit ein Sind wir in der Sache weitergekommen? Heute wird es
Anpassungsbedarf von 3,4 Prozent zum letzten Berech- an einem Punkt ein bisschen spannender. Ich freue mich
nungszeitraum. Damit liegt der Rückgang über 0,5 Pro- schon auf Ihre erste Rede im Bundestag, werter Kollege
zent, und daher haben wir die sechste Änderung. von der FDP.
Bislang betrug die Kostenbeteiligung des Bundes (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Guter
durchschnittlich 26 Prozent. Wenn man die Formel an- Mann! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit
wendet, dann ergibt sich, dass die Rate um 2,4 Prozent- Recht!)
punkte sinkt und damit auf 23,6 Prozent festzuschreiben
ist. Das ist der wesentliche Bestandteil dieses Gesetzes. – Mit Recht. – Denn er wird ein Kunststück vollbringen:
Als alter Haushälter habe ich kurz ausgerechnet, wie Er wird uns zeigen, wie die FDP eine Volte macht von
sich das in Euro niederschlägt. Wir haben auf der Basis bisher „immer dagegen“ hin zu jetzt „voll dafür“.
466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Gabriele Lösekrug-Möller
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich stelle fest, dass die massive Kritik alte Kritik ist. (C)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ich höre kein neues Argument. Ich habe aber einen Vor-
Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Warten schlag, wie wir die Anhörung am kommenden Montag
Sie ab!) so nutzen können, dass es vielleicht zu Verbesserungen
kommt. Mir ist aufgefallen, dass bei dieser Formel im-
Wir wissen, dass bei den Linken und den Grünen mer nur die Zahl der Bedarfsgemeinschaften zugrunde
ebenso wie bei den kommunalen Spitzenverbänden das gelegt wird. Alle, die sich ein bisschen um Menschen
Herz höher schlägt, wenn man sagt: Wir beteiligen uns vor Ort kümmern, wissen, dass die Zahl der Personen in
anteilig an den Kosten der Unterkunft, weil sie so gestie- den Bedarfsgemeinschaften höchst unterschiedlich ist.
gen sind. Ich erinnere in diesem Zusammenhang immer Möglicherweise kann man durch eine Verbesserung der
sehr gern an eine Kleinigkeit: Dieser Kompromiss wurde Formel mehr Gerechtigkeit erzielen. Ich gebe das als
mit Zustimmung der Bundesländer gefunden. Gelegent- Anregung mit auf den Weg. Deshalb, denke ich, wird die
lich fehlt dafür das Erinnerungsvermögen. Jahr für Jahr Anhörung am Montag interessant werden. Ich hoffe,
haben wir mit den Bundesländern verhandelt – Basar- dass wir im Ergebnis dann zu Lösungen kommen, die
techniken kamen zur Anwendung –, bis man eines Tages auch wirklich sachdienlich sind.
auf die Formel stieß, die die Lösung sein sollte. Jetzt
wird genau diese Formel infrage gestellt. Damit komme ich wieder zur Arbeitsmarktpolitik:
Schwarz-Gelb schlägt einen ganz anderen Weg ein, als
Was ist der Kern dieser Formel? Der Kern dieser For- wir ihn bisher gegangen sind. Sie machen einen Niedrig-
mel ist, dass wir abheben auf die Zahl der Bedarfsge- lohnsektor auf.
meinschaften. Herr Staatssekretär Fuchtel hat gerade er- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den haben Sie
läutert, wie das funktioniert. Bestritten wird, dass das aufgemacht mit der Agenda 2010!)
zielführend sei. Ich behaupte: Wer eine gute, aktivie-
rende Arbeitsmarktpolitik auf Bundesebene macht, für – Nein!
den ist diese Formel richtig, weil es das entsprechende
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war der
Steuerungsinstrument ist.
Kern der Agenda 2010!)
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Sehr richtig, – Herr Kolb, wenn Sie eine Antwort haben möchten,
Frau Kollegin!) dann können Sie mich fragen. Dann verlängert sich
Aber ich muss schon sagen, Kollege Schiewerling: meine Redezeit. Dann gehe ich auch gerne auf Ihren
Sie stehen vor großen Herausforderungen. Im Augen- Zwischenruf ein.
(B) blick kann ich nicht erkennen, dass die neue Regierung (Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD]) (D)
wirklich eine aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben will.
Jetzt aber sage ich: Dieser Niedriglohnsektor, der
(Beifall bei der SPD – Karl Schiewerling über die Erhöhung der Hinzuverdienstgrenzen und den
[CDU/CSU]: Das werden Sie noch merken, Verzicht auf die Einführung von Mindestlöhnen massiv
wie das geht! – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] ausgeweitet wird, treibt Menschen in die Abhängigkeit,
[FDP]: Freuen Sie sich darauf!) in Bedarfsgemeinschaften und macht sie zu Empfängern
von Leistungen nach SGB II. Das finde ich unwürdig.
Herr Fuchtel hat sich an dieser Stelle erfreut darüber ge-
zeigt, dass wir den Gesetzgebungsprozess beschleuni- (Beifall bei der SPD)
gen. Dem entgegne ich: 50 000 Beschäftigte in den Ar- Ich will hinzufügen – das muss man in Kombination
gen hätten sich gefreut, wenn Sie etwas schneller mit dem Vorherigen sehen –: Wir wissen, dass es zahlrei-
gewesen wären. che Widerspruchs- und Klageverfahren gerade bezüglich
Kosten der Unterkunft gibt. In Ihrem Koalitionsvertrag
(Beifall bei der SPD)
steht jedoch ein Prüfauftrag, und Sie geben da Ihrer
Sie warten nämlich bis heute darauf, wie es weitergeht. Sorge Ausdruck, dass Prozesskosten- und Beratungshilfe
sozusagen unzulässigerweise in Anspruch genommen
Kommen wir zurück zu der Formel, um die es heute werden. Das halte ich für hinterhältig. Wenn wir heute
geht. Sie ist im Einvernehmen beschlossen worden. Ich erkennen, dass es einen klaren Anspruch der Menschen
erinnere nur an Folgendes – das hören einige ungern –: auf eine Leistung gibt, den sie berechtigt erheben, dieser
Es sind sozusagen Kompensationsgeschäfte gewesen. In aber nicht immer sauber erfüllt wird, dann dürfen wir
diesem Zusammenhang wurden im Sommer 2008 – das nicht noch die Möglichkeiten der Personen beschneiden,
ist noch nicht so lange her – verbessernde Regelungen Recht zu bekommen. Das finde ich unanständig.
zulasten des Bundes getroffen, was die Kostenbeteili-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gung an der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
unfähigkeit betrifft. Wir haben das Wohngeld novelliert.
Wir haben den Kinderzuschlag verbessert. Beides sind Deshalb – damit komme ich zum Schluss meiner
Instrumente, die sich mindernd auf die Kosten der Un- Rede – werden wir uns nicht mit dem zufriedengeben,
terkunft auswirken. Einfach zu sagen, diese Formel sei was wir haben. Wir sind strikt der Meinung, Herr Kolb,
nicht zielführend, ist deshalb, finde ich, zu kurz gesprun- dass das, was arbeitsmarktpolitisch passiert, völlig in die
gen. So viel will ich auch zum Antrag der Linken sagen. falsche Richtung geht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 467
Gabriele Lösekrug-Möller
(A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es ist doch noch (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Hören (C)
gar nichts passiert! Bangemachen gilt nicht, Sie gut zu!)
Frau Lösekrug-Möller!)
Im Moment geht es nach meiner Auffassung und nach
Als jemand, der auf kommunaler Ebene Verantwortung Auffassung der FDP vor allen Dingen darum, dass die
trägt, hoffe ich, Herr Kolb, dass Sie sich doch zumindest Kommunen in der Kürze der Zeit rasch die notwendige
an das halten werden, was Sie im Koalitionsvertrag be- Planungssicherheit und letztendlich auch die zugesagte
schlossen haben. finanzielle Entlastung erhalten.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mindestens wer- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
den wir das!) der CDU/CSU – Heinz Lanfermann [FDP]:
Sollten Sie an der Stelle schon wortbrüchig werden, hät- Weil wir kommunenfreundlich sind!)
ten Sie ein Tempo drauf, das atemberaubend wäre. Für die Zukunft möchte ich allerdings – das sage ich
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie bewegen sich im auch in schwäbisch-freundlicher Verbundenheit zum
Reich der Spekulation, Frau Kollegin!) Staatssekretär Fuchtel –, dass sich etwas ändert. Das
wird nicht leicht, vielleicht auch nicht mit unserem Ko-
Kommunen schreien zurzeit auf, weil sie wirklich alitionspartner, aber ich vertraue in diesem Fall zumin-
Sorge haben, an den Rand gedrängt zu werden. Das ist dest am Anfang der Legislaturperiode auf die Kraft der
auch Fakt: Sie werden an den Rand gedrängt durch eine guten Argumente.
Steuerpolitik, die zu massiven Einnahmeausfällen auf
kommunaler Ebene führt. Sie haben die Sorge, dass die (Beifall bei der FDP)
Gewerbesteuer wegbricht. Sie müssen sich Sorgen ma-
chen, dass Dienstleistungen kommunaler Natur mehr- Liebe Kolleginnen und Kollegen, einem neuen Abge-
wertsteuerpflichtig werden. Das heißt, in den Haushalten ordneten fällt bei der Vorbereitung auf die vorliegende
der Gemeinden wird es richtig eng. Sie aber kommen da- Fragestellung zunächst und vor allem die schier unendli-
her und sagen, das müsse man eben in Kauf nehmen. Ich che Komplexität der Materie auf, die komplizierte Syste-
sage Ihnen: Nein. matik der Anpassungsformel, die der Berechnung des
zugesagten Bundeszuschusses an die Kommunen für
Die Lösung liegt allerdings nicht darin, bei den Kos- Unterkunft und Heizung zugrunde liegt, die in der Ver-
ten der Unterkunft die Bemessungsgrundlage bzw. die gangenheit übrigens auch von erfahrenen Kolleginnen
Formel zu verändern, sondern die Lösung läge darin, und Kollegen in einer Plenardebatte kaum mehr zu ver-
eine Politik zu machen, die menschenwürdig ist und den mitteln schien. Es ist meiner Auffassung nach eine Frage
(B) Kommunen eine gute Zukunft gibt. politischer und damit auch sozialer Verantwortung, dass (D)
wir uns in Zukunft bemühen, die Ergebnisse unserer
Vielen Dank.
Politik so zu gestalten, dass die Menschen sie verstehen
(Beifall bei der SPD) können.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der CDU/CSU)
Das Wort hat nun Kollege Pascal Kober für die FDP-
Fraktion. Das ist eben auch eine Frage des Respekts vor den Men-
schen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind;
(Beifall bei der FDP) sie sollten die Prozesse und Ergebnisse unserer Politik,
von denen sie abhängig sind, wenigstens verstehen und
Pascal Kober (FDP): nachvollziehen können.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Höhe der Be- Von daher bleibt die grundsätzliche Forderung der
teiligungen des Bundes an den kommunalen Leistungen FDP nach Vereinfachung und Entflechtung der Finanz-
für Unterkunft und Heizung nach § 46 SGB II für das beziehungen von Bund, Ländern und Kommunen hoch-
Jahr 2010 festgelegt werden. aktuell. Wir werden in allen Bereichen unserer Politik in
den kommenden vier Jahren darauf achten, dass wir an
Frau Lösekrug-Möller, auch wenn wir als FDP-Frak- dieser Stelle entscheidend vorankommen werden.
tion im Bundestag in der Vergangenheit immer wieder
Anfragen bezüglich des zugrunde liegenden Berech- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nungsverfahrens für den Bundesanteil formuliert haben, der CDU/CSU)
stellen wir uns dem vorliegenden Gesetzentwurf der Wir werden, bei aller Notwendigkeit unterstützender
Bundesregierung, der noch unter Federführung des alten Transferleistungen, unsere Verantwortung vor allem da-
Kabinetts beraten worden ist, nicht in den Weg. rin sehen, es den betroffenen Menschen zu ermöglichen,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört! Aha, aus schwierigen Lebenssituationen und aus der Abhän-
mitgefangen, mitgehangen!) gigkeit von staatlicher Unterstützung möglichst rasch
wieder herauszukommen und ein so weit es irgend geht
Zu Ihrer Information, Frau Lösekrug-Möller: Wir haben selbstbestimmtes Leben zu führen.
uns das letzte Mal bei der Stimmabgabe in der Sache
enthalten, wiewohl wir in der Tat Anfragen haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Pascal Kober
(A) Wir werden als FDP darüber hinaus in den kommen- Ihnen alles Gute für die weitere Zusammenarbeit in die- (C)
den vier Jahren Sozialpolitik auch als Präventionspolitik sem Hause.
verstehen, definieren und gestalten; denn Vorsorge ist in
(Beifall)
diesem Bereich immer besser als Nachsorge.
Das Wort hat nun Kollegin Katja Kipping für die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Fraktion Die Linke.
der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN)
Das gilt einerseits unter haushaltspolitischen Gesichts-
punkten und ist deshalb auch eine Frage der Gerechtig-
keit gegenüber künftigen Generationen, also eine Frage Katja Kipping (DIE LINKE):
der Gerechtigkeit gegenüber in der Zukunft lebenden auf Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als
staatliche Unterstützung angewiesenen Menschen. Hartz IV eingeführt wurde, wurde den Kommunen eine
Entlastung von 2,5 Milliarden Euro versprochen. Dies
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) wurde sogar im Gesetz verankert. Um diesem Verspre-
Aber das Prinzip „Vorsorge ist besser als Nachsorge“ gilt chen nun gerecht zu werden, beteiligt sich der Bund an
andererseits vor allem aufgrund unserer liberalen Pers- den Kosten der Unterkunft für Hartz-IV-Betroffene, die
pektive bezüglich des Menschen und der Gesellschaft. ansonsten von den Kommunen getragen werden. Doch
Eine Gesellschaft muss – das ist meine Auffassung – so Jahr für Jahr stiehlt sich der Bund weiter aus der Verant-
gestaltet sein, dass möglichst alle Menschen in der Lage wortung. Um es einmal prozentual zu verdeutlichen: Be-
sind, ihre jeweiligen Begabungen zu erkennen, sie aus- trug im Jahr 2007 der durchschnittliche Bundesanteil
zubilden und schließlich dauerhaft und möglichst selbst- noch 31,8 Prozent, so soll er im Jahr 2010 nur noch
bestimmt für sich selbst und andere einsetzen zu können. 23,6 Prozent betragen. Die Mehrkosten werden auf die
Kommunen abgewälzt. Für uns ist das nicht hinnehmbar.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN)
Wir haben in diesem Bereich im Koalitionsvertrag be-
Um einmal zwei Beispiele zu nennen: In der Stadt
reits entscheidende Akzente gesetzt, insbesondere in der
Dresden rechnet man damit, dass im Jahr 2010 im Ver-
Bildungs- und Familienpolitik sowie der Integrations-
gleich zum Jahr 2008 Mehrkosten von 8 Millionen Euro
politik, aber nicht zuletzt auch in der Arbeitsmarkt-,
entstehen. In Bochum sind im Jahr 2009 im Vergleich
Wirtschafts- und Finanzpolitik.
zum Vorjahr Mehrkosten von 1,5 Millionen Euro ent-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Haben wir das standen.
überlesen?) Wir halten also fest, dass die einst versprochene Ent- (D)
(B)
Denn nach wie vor ist Arbeitslosigkeit die Hauptursache lastung der Kommunen von 2,5 Milliarden Euro schon
für Bedürftigkeit und Armut, für prekäre Lebenssituatio- heute nicht mehr gesichert ist. Mit dem nun vorliegen-
nen in unserem Land. Deshalb unterstützen wir alle den Gesetzentwurf will sich der Bund noch weiter aus
Maßnahmen, die auf dauerhaftes wirtschaftliches der Verantwortung stehlen. Der Bundesrat kritisiert inso-
Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen ausge- fern zu Recht: Das Absenken des Bundesanteils auf
richtet sind. durchschnittlich 23,6 Prozent widerspricht der gesetzli-
chen Zusage einer bundesweiten Entlastung.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN)
Der häufig aus ideologischen Gründen künstlich auf- Grundlage für den Rückzug des Bundes ist natürlich
rechterhaltene Gegensatz von ökonomischer Vernunft die Tatsache, dass sich der Bundesanteil nach der Zahl
und sozialstaatlicher Verantwortung hilft keinem von der Bedarfsgemeinschaften bemisst. Im Klartext: Wenn
Armut, prekärer Lebenssituation oder Arbeitslosigkeit die Zahl der Bedarfsgemeinschaften sinkt, sinkt auch der
Betroffenen und gehört daher endlich überwunden. Bundesanteil. Die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften
sagt aber nur sehr bedingt etwas über die Gesamtkosten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aus. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen:
der CDU/CSU) Nehmen wir, ganz einfach und schematisch gerechnet,
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin stolz darauf, einen Häuserblock, in dem es drei Bedarfsgemeinschaf-
einer Bundestagsfraktion anzugehören, die an dieser ten gibt, deren Kosten der Unterkunft jeweils 200 Euro
Stelle im Sinne der Menschen einen ganzheitlichen und betragen. Dreimal 200 Euro ergeben Kosten von insge-
in sich stringent gedachten sozialpolitischen Ansatz ver- samt 600 Euro. Wenn von diesen drei Bedarfsgemein-
folgt. schaften zwei zusammenziehen und in eine größere
Wohnung ziehen, so haben wir nur noch zwei Bedarfsge-
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. meinschaften. Das heißt, der Anteil des Bundes fällt
deutlich geringer aus.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Die Mietkos-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ten sinken ja auch!)
Kollege Kober, das war Ihre erste Rede im Deutschen Da aber zwei Leute Anspruch auf eine größere Wohnung
Bundestag. Ich gratuliere Ihnen herzlich und wünsche haben und in der anderen Bedarfsgemeinschaft ein Kind
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 469
Katja Kipping
(A) geboren worden ist, fällt plötzlich die durchschnittliche dramatische Gewerbesteuereinbrüche gibt, in der die (C)
Miete deutlich höher aus; sagen wir einmal 300 Euro. Kommunen immer höhere Soziallasten zu tragen haben
Zwei Bedarfsgemeinschaften mal eine Miete von – wir reden von Gewerbesteuereinbrüchen von 15 Pro-
300 Euro ergeben wieder 600 Euro. Die Kosten bleiben zent im Bundesdurchschnitt, wir reden über Steuermin-
also gleich; der Bund zahlt jedoch weniger. Wer hat die dereinnahmen von 10 Prozent auf die Steuern insgesamt
Mehrlasten zu tragen? Die Kommune. Wenn in den bezogen, wir reden von 1,6 Milliarden zusätzlichen Min-
Kommunen das Geld fehlt, dann fehlt es konkret für Se- dereinnahmen durch Ihr sogenanntes Wachstumsbe-
niorenbegegnungsstätten, Jugendklubs oder aber Kitas. schleunigungsgesetz –, reduzieren Sie abermals die di-
Das ist ein Fehlen an der falschen Stelle. rekten Zuweisungen an die Kommunen für die Kosten
der Unterkunft.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Sie wissen doch alle ganz genau, was das bedeutet.
Das bedeutet, dass bei sogenannten freiwilligen Leistun-
Wir haben immer deutlich gemacht: Hier kann nur ein gen in einer Massivität gekürzt wird, dass uns allen die
Weg der richtige sein. Wir müssen von der Bezugsgröße Augen tränen.
der Bedarfsgemeinschaften wegkommen. Vielmehr
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
müssen die tatsächlich entstandenen Kosten der Maßstab
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
für die Bundesbeteiligung sein. – Meine Damen und
Herren von der FDP, da könnten Sie ruhig klatschen; Ich frage gerade Sie auf der rechten Seite des Plenums:
denn hierbei handelt es sich um ein Zitat Ihres Kollegen Wie bekommen Sie es eigentlich hin, in Wuppertal, in
Haustein vor nicht allzu langer Zeit zu diesem Thema. Remscheid, in Solingen, dort, wo Sie Verantwortung tra-
gen, dort, wo Sie Ihre Wahlkreise haben, den Menschen
Auf die Kommunen kommt in diesem und im nächs- zu erklären: Wir machen einfach eine kleine, neue For-
ten Jahr ohnehin eine enorme Mehrbelastung aufgrund melberechnung; das kostet euch mal eben 1,6 Milliarden
der Krise zu. Wir dürfen die Kommunen nicht länger im zusätzlich, aber das ist halt so, wir können gerade nicht
Regen stehen lassen. Deswegen hat die Linke einen ei- anders?
genen Antrag eingebracht. Wir schlagen vor: Der Anteil
des Bundes muss sich an den tatsächlichen Kosten be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
messen; denn wenn in den Kommunen Geld fehlt, dann Ich glaube, Herr Schiewerling – Sie sind ja noch nach
fehlt es an der falschen Stelle. mir dran –, dass Sie das keinem erklären können. Im Ge-
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. gensatz zu Ihnen hat Josef Laumann das kapiert. Des-
halb gab es die Bundesratsinitiative von Schwarz-Gelb,
(Beifall bei der LINKEN) im Übrigen mit Unterstützung aller anderen Bundeslän-
(B) der. Ich fordere Sie an dieser Stelle auf, nicht dauernd zu (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: erklären, wir müssten über eine Änderung der Anpas-
sungsformel reden. Liebe Kollegin von der SPD, das hat
Das Wort hat nun Britta Haßelmann für die Fraktion
uns Herr Scholz in den letzten drei Jahren auch erklärt.
Bündnis 90/Die Grünen. Wir sollten endlich damit anfangen, die Kommunen
wirklich zu entlasten. Sonst müssen Sie sich nicht wun-
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dern, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die Daseins-
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- vorsorge sicherzustellen.
gen! Wenn man Herrn Fuchtel so hört, hat man den Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
druck, es gehe heute um ein paar mathematische For- und bei der LINKEN)
meln: Hier und da ein bisschen Formel ergibt die sechste
Änderung dort. Herr Fuchtel, es geht hier knallhart um
die Kommunen. Es geht darum, wie die Kommunen in Vizepräsidentin Petra Pau:
Zukunft die Daseinsvorsorge sicherstellen können. Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für die
Unionsfraktion.
Ich möchte Ihnen Folgendes in Erinnerung rufen
– vielleicht interessieren Sie ein paar Zahlen –: Wir, der (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutsche Bundestag, sind durch die Bundesratsinitia-
tive, die aus dem schwarz-gelben NRW kommt und ein- Karl Schiewerling (CDU/CSU):
stimmig im Bundesrat verabschiedet wurde, aufgefor- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
dert worden, endlich zu agieren und uns nicht immer auf Kolleginnen und Kollegen! An den Kosten der Unter-
die Schulter zu klopfen und zu sagen: Wir haben 2005 kunft und der Verteilung der Kosten kann man manches
eine wunderbare Formel verabschiedet, und jetzt schrei- festmachen, aber nicht die Kosten für Kitas, Jugend-
ben wir diese zum sechsten, siebten, achten Mal fort. Die heime, Kindergärten usw., Frau Kollegin Haßelmann.
gestiegenen Ausgaben für die Kosten der Unterkunft, Wir reden über ein Problem, das ich überhaupt nicht
das heißt Sozialausgaben der Kommunen, sind von 2005 kleinreden will, aber das gehört nicht zusammen.
bis 2010 von 8,7 Milliarden Euro auf 12,1 Milliarden 2005 hat kein Mensch im Blick gehabt, wie sich das
Euro gestiegen. Was hat der Deutsche Bundestag in die- wohl mit den Kosten der Unterkunft nach dem SGB II
ser Zeit getan? Er will mit diesem Gesetzentwurf die Re- entwickeln würde.
duzierung des Bundesanteils von ehemals 31,8 Prozent
auf 23,6 Prozent in 2010 beschließen. Das kann doch (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
wohl nicht Ihr Ernst sein! In einer Situation, in der es Aber Sie machen weiter wie immer!)
470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Karl Schiewerling
(A) Wir haben bereits von 2005 bis 2006 eine heftige Dis- – Davon haben die Kommunen auch keinen Vorteil. (C)
kussion zwischen Bund, Ländern und Kommunen ge-
führt. Deswegen haben sich 2006 Bund, Länder und (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Kommunen darauf verständigt, dass Grundlage für die NEN]: Was?)
Berechnung der Kosten der Unterkunft die Anzahl der Der Grund, warum sich Bund, Länder und Kommu-
Bedarfsgemeinschaften ist. nen damals auf diese Regelung der Kosten der Unter-
Ich kann mich noch gut an meinen Wahlkampf 2005 kunft im SGB II verständigt haben, ist schlicht und ein-
erinnern, als mich ein Apotheker zu einem Gespräch ein- fach, dass die Auswirkungen der arbeitsmarktpolitischen
geladen hat. Ich sah einen Haufen von Bewerbungen in Situation besser an der Anzahl der Bedarfsgemeinschaf-
seinem Regal liegen. Ich habe ihn gefragt: Stellen Sie ten festgemacht werden können und nicht so gut daran,
neue Mitarbeiter ein? Er sagte: Jawohl, ich suche eine wie die Kosten insgesamt gestiegen sind. Die Kommu-
neue Auszubildende, einen neuen Auszubildenden für nen haben ausdrücklich den Auftrag, in ihrem Bereich
meine Apotheke. Es gab viele Bewerbungen. Von den zu gestalten. Sie sind es, die feststellen können, ob die
Bewerbern haben sich nur zwei bereit erklärt, zu kom- Wohnung angemessen ist. Sie sind es, die feststellen
men. Die übrigen haben gesagt, sie ziehen zu Hause aus, können, ob bezogen auf den jeweiligen Hilfeempfänger
beziehen Hartz IV, haben ihre Wohnung, die sie auch der Bedarf einer Neuregelung besteht. Die Kommunen
noch finanziert bekommen. Deswegen verzichten sie auf haben die Verantwortung dafür. Das war der Grund, wa-
die Ausbildungsstelle. – Das war 2005. rum wir uns darauf verständigt haben, dass die Bedarfs-
gemeinschaften die Geschäftsgrundlage sind.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das kann nicht Ihr Ernst sein!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

– Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Ich sage an dieser Stelle in aller Deutlichkeit und wie-
Halten Sie einen Augenblick inne und sehen Sie sich die derhole mich gerne: Das SGB II ist ein lernendes Sys-
Situation an, wie sie war. Daraufhin hat der Deutsche tem. Das gilt nicht nur für die Argen vor Ort und für die
Bundestag, die Große Koalition reagiert. Er hat eine Re- Optionskommunen, sondern das gilt auch für den Bund,
form über die Frage herbeigeführt, wer zu einer Bedarfs- für die Länder, für die Kommunen und für die Betroffe-
gemeinschaft gehört. Er hat beschlossen, dass eine Be- nen. Das gilt für all diejenigen, die dazu beitragen wol-
darfsgemeinschaft die Geschäftsgrundlage sein soll, und len, dass die Menschen, die im SGB-II-System sind, in
das mit den Ländern und den Kommunen ausgehandelt. der Grundsicherung für Arbeitsuchende, Hilfe und Un-
Ich halte diesen Weg, den wir in dieser Frage gegangen terstützung bekommen, damit sie aus dieser Grundsiche-
sind, für den richtigen. rung so schnell wie möglich herauskommen. Das Ziel
(B) kann nicht sein, auf Dauer in dieser Situation zu bleiben, (D)
Unter diesen Gesichtspunkten ist und bleibt der Bund sondern die Menschen müssen da herauskommen.
ein verlässlicher Partner in der gesamten Finanzierung
des SGB II. Wir werden aufgrund der Berechnungs- Ich gehe davon aus, dass wir die Entscheidungen be-
grundlage, der Hochrechnung für 2010, 3,7 Milliarden züglich der Kosten der Unterkunft in diesem Jahr tref-
Euro zur Verfügung stellen. Wir werden diese Mittel in fen. Ich halte das für absolut notwendig, damit Verläss-
den Haushalt einstellen, weil dies die Geschäftsgrund- lichkeit und Planbarkeit für alle Beteiligten in dem
lage ist, auf die sich Bund, Länder und Kommunen mit- System weiterhin bestehen.
einander verständigt haben.
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Frau Kollegin Lösekrug-Möller, ich glaube übrigens, neten der FDP)
dass die Frage, die Sie gestellt haben, ob wir im nächsten
Jahr schauen, inwieweit wir in der Berechnungsformel Vizepräsidentin Petra Pau:
Besonderheiten berücksichtigen können, auch innerhalb
Ich schließe die Aussprache.
der Koalition und bei uns eine Rolle spielt.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
Das versprechen Sie seit drei Jahren!) auf den Drucksachen 17/41 und 17/75 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Das ist überhaupt keine Frage. Wenn wir jetzt aber nach Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
dem Motto „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartof- sind die Überweisungen so beschlossen.
feln“ anfangen, die Formel nach Gutsherrenart beliebig
zu ändern, geraten wir mit dem gesamten System noch Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
tiefer in ein Finanzierungsdurcheinander, und das kön- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
nen wir weder den Kommunen noch dem Bund noch den Hoppe, Ute Koczy, Marieluise Beck (Bremen),
Betroffenen zumuten. weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – NIS 90/DIE GRÜNEN
Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die Betroffe- Demokratie in Honduras
nen hätten lieber Durcheinander, aber dafür
mehr Geld!) – Drucksache 17/33 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 471
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE und sich dann mithilfe von Scheinwahlen zu legitimie- (C)
ren. Daran sind alle Vermittlungsbemühungen der inter-
Demokratiebewegung in Honduras unterstüt-
nationalen Gemeinschaft gescheitert.
zen – Wahlen der Putschisten nicht anerken-
nen Diese Wahlen sind aber keine Lösung für die Krise in
Honduras; denn sie können nicht demokratisch sein, sie
– Drucksache 17/60 – können kein legitimes Ergebnis hervorbringen. Die Pres-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sefreiheit ist seit Monaten massiv eingeschränkt: Rund-
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich funksender wurden besetzt, Journalisten und Gegner des
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Putsches verfolgt, bedroht, verprügelt, ermordet. Über
3 000 Menschen wurden seit dem Putsch festgenommen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Amnesty International spricht von exzessiver Gewaltan-
Thilo Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. wendung gegenüber Demonstranten.

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Liberale Partei in Honduras ist gespalten. Ihr ge-
hören sowohl Zelaya als auch Micheletti an. Vor der
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
zweifelhaften Abstimmung im Kongress, die der Legiti-
Vor dem 28. Juni dieses Jahres dachte ich, dass Militär-
mierung des Putsches dienen sollte, wurden viele libe-
putsche in Lateinamerika endgültig der Vergangenheit
rale Abgeordnete, die Zelaya treu geblieben waren,
angehören. Ich dachte, die Zeiten, in denen politisch un-
einfach ausgetauscht; ihnen wurde der Zugang zum Par-
liebsame Präsidenten mit vorgehaltener Waffe nachts aus
lament verwehrt. Über 300 Kandidaten der Liberalen
dem Bett geholt und nur mit Unterwäsche bekleidet au-
Partei haben aus Protest gegen den Putsch ihre Kandida-
ßer Landes geflogen werden, seien ein für alle Mal vor-
tur zurückgezogen, ebenso der unabhängige Kandidat
bei. Ich hoffte, nie wieder lesen zu müssen, dass politi-
Carlos Reyes. Eine breite Widerstandsbewegung, der
sche Gegner in Fußballstadien eingesperrt werden. Ich
auch die Sozialdemokraten angehören, ruft zum Wahl-
habe mich leider getäuscht.
boykott auf. Doch schon der Aufruf zum Wahlboykott ist
Der Putsch gegen den legitimen Präsidenten von strafbar und wird verfolgt; 530 Sonderstaatsanwälte
Honduras, Manuel Zelaya, zeigt, dass diese dunklen Sei- wurden eingesetzt, um Verstöße gegen das Wahlgesetz
ten der lateinamerikanischen Geschichte leider wieder zu ahnden.
Teil der Gegenwart sind. Die internationale Gemein-
Ich bin sehr froh, dass die Europäische Union und die
schaft hat diesen Putsch zu Recht deutlich und einstim-
bisherige Bundesregierung den Putsch in Honduras
mig verurteilt. Kein einziger Staat dieser Welt hat den
scharf, klar und deutlich verurteilt haben und sich wei-
von den Putschisten eingesetzten Präsidenten, Roberto
(B) gern, Wahlbeobachter zu entsenden; denn unter diesen (D)
Micheletti, anerkannt. Viele Botschafter von Honduras
Bedingungen kann es keine faire und demokratische
folgten nicht den Anweisungen der Putschisten, sondern
Wahl geben, auch wenn am Wahltag keine Stimmzettel
blieben dem legitimen Präsidenten treu, so auch der
gefälscht werden sollten.
honduranische Botschafter in Deutschland, Roberto
Castañeda, der die heutige Debatte von der Tribüne aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
verfolgt und den ich herzlich grüße. und bei der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wichtig ist jetzt aber, dass die Reihen geschlossen blei-
bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- ben und das Ergebnis der Scheinwahlen am kommenden
ordneten der CDU/CSU) Sonntag auf keinen Fall anerkannt wird.
Vor allem für die Staaten Lateinamerikas sind die Ver- Ich hoffe, dass die Position der bisherigen Bundesre-
urteilung dieses Putsches und die Kraftanstrengung für gierung jetzt nicht aufgegeben wird. Leider habe ich da
die Rückkehr des legitimen Präsidenten von enormer Zweifel. Das liegt am haarsträubenden Agieren der
Bedeutung; zugleich ist es die Verteidigung der eigenen Friedrich-Naumann-Stiftung. Wohl aufgrund einer engen
Demokratie. Hier geht es nicht nur um Honduras, son- Freundschaft zwischen dem Büroleiter der Friedrich-
dern um ganz Lateinamerika. Es geht nicht um die Frage Naumann-Stiftung in Tegucigalpa und dem jetzigen libe-
„Zelaya oder Micheletti?“, sondern um die Frage ralen Präsidentschaftskandidaten Edwin Santos, einem
„Demokratie oder nicht?“; denn wenn die Rechnung der Mitbetreiber des Putsches, bemühte sich die Friedrich-
Putschisten aufgeht und sie aus dieser Aktion irgend- Naumann-Stiftung schon zwei Tage nach dem Putsch,
einen Vorteil ziehen können, dann ist die Gefahr groß, der erstaunten Öffentlichkeit zu erklären, dass sich die
dass dieses Beispiel Schule macht und andere unlieb- Vereinten Nationen, die Organisation Amerikanischer
same Präsidenten in Gefahr geraten, beseitigt zu werden. Staaten und die Europäische Union – schlicht die ge-
Auch deshalb hat die Organisation Amerikanischer Staa- samte internationale Gemeinschaft – irren. Dieser Putsch
ten diesen Putsch so scharf und einmütig verurteilt und sei gar kein Putsch gewesen, sondern die notwendige
die Rückkehr Zelayas gefordert. Sie hat versucht, zu ver- Verteidigung der Demokratie gegen einen Präsidenten,
mitteln – leider ohne Erfolg. der einen Verfassungsbruch geplant habe.
Am kommenden Sonntag soll das honduranische Volk Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
einen neuen Präsidenten, den Kongress, Bürgermeister der FDP, dringend bitten, auch auf die anderen Liberalen
und Gemeinderäte wählen. Die Putschisten haben alles aus Honduras zu hören, die diesen Putsch verurteilen,
getan, um bis zu den Wahlen an der Macht zu bleiben auf den Botschafter in Berlin und auf den legitimen
472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Thilo Hoppe
(A) Vizepräsidenten von Honduras, der sich jetzt im Exil be- Stabilität für die eigene Entwicklung zu gewinnen, jetzt (C)
findet und Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung eine so schwierige Situation entsteht, die das Volk aus-
ist. Ich hoffe sehr, dass der Kurs der Friedrich-Naumann- einanderreißt, Entwicklungsfortschritte gefährdet und
Stiftung noch korrigiert werden kann. Perspektiven, die die Region hat, infrage stellt. Hondu-
ras ist ohnehin ein Land, das von den Krisenfolgen nicht
Vizepräsidentin Petra Pau: unerheblich betroffen ist, und zwar auch deshalb, weil
Kollege Hoppe, achten Sie bitte auf die Zeit. die Überweisungen der Arbeiter, die aus Honduras nach
Nordamerika gegangen sind, ausbleiben; diese machen
einen wesentlichen Teil des Bruttosozialprodukts von
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Honduras aus.
Ansonsten ist die Gefahr groß, dass die krasse Außen-
seiterposition der Friedrich-Naumann-Stiftung – gegen Der Rückgang des Handels innerhalb der Region ist
den Rest der Welt – zur Position des deutschen Außen- so dramatisch, dass neben den politischen Unruhen, ne-
ministers wird. Das wäre fatal. ben der Instabilität, die im Land entsteht, jetzt auch noch
erhebliche wirtschaftliche Nachteile zu verkraften sind.
Ich hoffe, dass es heute im Rahmen dieser Debatte
Dieses Land ist auf Integration angewiesen. In dem Zu-
eine Klarstellung der Position der Bundesregierung ge-
stand, in dem sich das Land jetzt mit einer unrechtmäßi-
ben wird. Es muss Konsens unter Demokratinnen und
gen Regierung befindet, ist es von der Möglichkeit der
Demokraten sein, einem Militärputsch eine klare Absage
Kooperation abgekoppelt. Deshalb ist es im Interesse
zu erteilen und Scheinwahlen nicht anzuerkennen.
des Landes selbst, zu demokratischen und rechtmäßigen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zuständen zurückzukehren.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN) Die Bewertung ist international übrigens wesentlich
einheitlicher als in Honduras selbst, was unter anderem
darauf zurückzuführen ist, dass es keine in unserem
Vizepräsidentin Petra Pau: Sinne demokratische öffentliche Debatte über den Vor-
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Erich gang gegeben hat, sondern nur eine sehr eingeschränkte.
Fritz. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es all das
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gegeben hat, was zum Instrumentarium von Unrechts-
neten der FDP) systemen gehört, zum Beispiel Verhaftungen und Ver-
bote in der Medienlandschaft. Die dauernden Unruhen in
Erich G. Fritz (CDU/CSU): der Bevölkerung, zahlreiche Gewalttaten, Menschen-
(B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rechtsverletzungen und das Verschwinden von Personen (D)
Lieber Kollege Hoppe, was Sie eingangs Ihrer Rede ge- – diese Bilder haben wir aus anderen Regionen Latein-
sagt haben, ist, glaube ich, übereinstimmende Meinung amerikas noch gut in Erinnerung – bewirken einen Zu-
dieses Hauses. stand, in dem Versöhnung und Neuanfang in einer demo-
kratischen Ordnung fast unmöglich werden.
(Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Hoffentlich!) Deshalb ist es jetzt wichtig, darüber nachzudenken,
wie man mit dem, was am Sonntag im Land vermutlich
Sie haben richtig dargestellt, in welcher Weise die Bun- geschieht, umgeht. Das, was man im Vorfeld der Wahlen
desrepublik Deutschland durch ihre Regierung in dieser beobachtet, das Ausscheiden von Kandidaten per
Frage agiert hat und dass wir das in großer Übereinstim- Zwang, eingeschränkte Medienberichterstattung und
mung mit unseren europäischen Partnern tun. Es kann Versammlungsverbote, rechtfertigt als logische Konse-
keine Toleranz für die Außerkraftsetzung von Verfassun- quenz durchaus die Überlegung: Kann man eine solche
gen und für die Beseitigung des Demokratieprinzips ge- Wahl überhaupt als ordnungsgemäße Wahl darstellen
ben, auch nicht in Lateinamerika. und bewerten?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Wenn man sich darauf festlegt, dann muss man aber
SPD und der FDP) auch wissen, was anschließend geschieht. Das heißt
Ich muss hier jedoch sagen – das sei mir gestattet –, dass nämlich, der gegenwärtige Zustand wird auf jeden Fall
ich mir an einigen anderen Stellen, zum Beispiel im Vor- fortgesetzt. Das heißt auch, dass sich die innenpoliti-
feld der Wahlen in Venezuela, manches klarstellende schen Fronten in Honduras weiter verhärten werden und
Wort gewünscht hätte. Denn auch dort wurden Wahlen dass die Mittel nicht zivilisierter, sondern eher noch ge-
unter nicht direkt vergleichbaren, aber doch nicht so un- walttätiger werden. Deshalb bitte ich darum, die eine
ähnlichen Zuständen durchgeführt. oder andere Bewertung zurückzustellen, bis diese Wah-
len zu Ende sind, die übrigens noch zu Zeiten ordnungs-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gemäßer, verfassungsmäßiger Zustände vorbereitet und
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE in Gang gesetzt worden sind.
GRÜNEN)
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sehr richtig!)
Seit fünf Monaten ist der Staatspräsident von Hondu-
ras, Zelaya, wie dargestellt, unrechtmäßig nicht mehr im Freilich, was auf dieser Strecke geschehen ist, wider-
Amt. Man kann nur bedauern, dass in einer Region, die spricht einer einfachen Beurteilung nach dem Motto:
wie kaum eine andere darauf angewiesen ist, Ruhe und Dort ist alles in Ordnung. – Das ist es nicht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 473
Erich G. Fritz
(A) Der Kollege Hoppe hat mit Recht darauf hingewie- Versuch ist, vielleicht aus guten Gründen, nicht unter- (C)
sen, dass die Vermittlungsbemühungen gescheitert sind, nommen worden. Deshalb bleibt ein wenig der Beige-
dass alle Aufrufe, Appelle und Resolutionen, die die schmack, es handele sich eher um eine Auseinanderset-
Bundesregierung in den VN und in der Europäischen zung mit der FDP als um eine Auseinandersetzung mit
Union unterstützt hat, nicht zu einer Veränderung des der Lage in Honduras; das bedaure ich sehr. Ansonsten
Verhaltens geführt haben, was die Möglichkeit eröffnet ist dadurch klar, dass wir die Anträge ablehnen können –
hätte, die Wahlen zu einem wirklichen Neustart zu ma- was aber nicht heißt, dass wir an einer gemeinsamen
chen und auch für den Übergang einen Zustand zu errei- Position nicht weiter arbeiten könnten.
chen, in dem sich keine Seite Vorteile verschaffen bzw.
durch illegitime Maßnahmen einen Zustand herbeifüh- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ren kann, der durch Wahlen nicht mehr veränderbar ist.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Sie haben es begrüßt, dass es keine Wahlbeobachter Kollege Fritz, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
gibt. Wie wir wissen, wird es doch Wahlbeobachter ge- Hoppe?
ben, weil zwei wichtige nationale Organisationen diese
Wahl aufmerksam beobachten werden und weil interna-
tionale NGOs – zu ihnen gehört die Konrad-Adenauer- Erich G. Fritz (CDU/CSU):
Stiftung; zu ihnen gehören sicherlich aber auch die ande- Herr Kollege Hoppe.
ren Stiftungen –, die mit ihnen zusammenarbeiten, uns
weit über das Medienbild hinaus, das uns vermittelt Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
wird, informieren werden, wie die Wahl abgelaufen ist Herr Kollege Fritz, auf die Friedrich-Naumann-Stif-
und ob demokratische Mindeststandards in der jetzigen tung will ich jetzt nicht näher eingehen.
Situation überhaupt eingehalten werden. Ich denke, dann
wird man sich darauf verständigen müssen, dass die Eu- Ich teile Ihre Analyse, dass der Prozess der Vorberei-
ropäische Union eine gemeinsame Bewertung vor- tung der Wahl nicht nach demokratischen Regeln abge-
nimmt. laufen ist. Wenn diese Wahl jetzt unter indirekter Aus-
schaltung vieler oppositioneller Kräfte durchgeführt
Herr Kollege, Sie haben dargestellt, dass die Bundes- wird, geht dann nicht die Taktik der Putschisten, das aus-
regierung das Vorgehen der Putschisten von Anfang an zusitzen, bis zum Wahltag durchzuhalten und sich durch
missbilligt hat und dass sie im Einklang mit der interna- Scheinwahlen legitimieren zu lassen, auf? Geben Sie mir
tionalen Gemeinschaft die Rückkehr zu einer verfas- da recht?
sungsgemäßen Situation noch vor den Wahlen verlangt
hat. Das ist nicht geschehen, wäre aber die beste Voraus- Wäre es nicht sinnvoller und wäre es nicht auch die
logische Konsequenz Ihrer Analyse, darauf zu drängen,
(B) setzung gewesen, eine friedliche Versöhnungspolitik in dass die Wahl verschoben wird und unter Beobachtung (D)
Gang zu setzen.
durch die internationale Gemeinschaft faire Bedingun-
Wir haben darüber hinaus, immer im Einklang mit der gen für alle Akteure hergestellt werden?
Europäischen Union und den internationalen Partnern,
alles getan, was geeignet war, den Druck zu erhöhen. Erich G. Fritz (CDU/CSU):
Wir haben die Handelsgespräche ausgesetzt. Wir haben Das Wünschenswerte und das Durchsetzbare sind
die Entwicklungszusammenarbeit auf das konzentriert, auch in diesem Fall leider nicht das Gleiche, Herr Kol-
was die Menschen unmittelbar betrifft. All das haben lege. Deshalb bitte ich darum, dass wir uns bis Sonntag
auch Sie zustimmend zur Kenntnis genommen. Zeit nehmen; dann können wir den Wahlverlauf und das
Was bleibt eigentlich als Konflikt? Als Konflikt bleibt Zustandekommen des Wahlergebnisses beurteilen. Die
für mich der Umgang mit der Friedrich-Naumann-Stif- Leute beobachten das jetzt aufmerksam im Lande, bes-
tung. Es mag eine falsche Bewertung vorgelegen haben. ser, als wir das von hier aus können. Lassen Sie uns dann
Wir haben die Stiftungen aber nie als verlängerten Arm gemeinsam eine Bewertung vornehmen.
deutscher Außenpolitik betrachtet und deren Verhalten Von vornherein zu sagen: „Es gibt keine Chance, die-
nie als Spiegel der Regierungspolitik angesehen. Jeder sen Wahlakt – der durchaus nicht nur undemokratische
weiß, dass Stiftungen unabhängig agieren. Dadurch ha- Elemente enthält – als Schritt hin zu einer Lösung zu be-
ben wir den Vorteil, auch Zugang zu politischen Kräften trachten“, das ist zu wenig.
zu bekommen, mit denen man nicht gerade in großer
Freundschaft verbunden ist. Deshalb halte ich die Be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
wertung, zu der Sie in Ihren beiden Anträgen kommen, Zuruf von der LINKEN: Aha!)
für überzogen und nicht angemessen. Natürlich können wir auch nicht sagen, dass die Pro-
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sie ist falsch!) bleme gelöst sind, weil irgendwie gewählt worden ist;
auch darin sind wir uns einig. Wir sollten uns nicht im
– Wenn sie auch falsch ist, dann kann die FDP dazu et- Vorfeld festlegen und dadurch dazu beitragen, dass eine
was sagen. aus dem Ergebnis unter Umständen erwachsende Chance
für ein neues Gespräch der heute verfeindeten – oder wie
Ich hätte mich gefreut, wenn es zur Zukunft Honduras’ auch immer man das bezeichnen will – Gruppen vertan
eine übereinstimmende Position des Deutschen Bundes- wird.
tages gegeben hätte und wenn der ernsthafte Versuch un-
ternommen worden wäre, im Auswärtigen Ausschuss ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nen gemeinsam Antrag zustande zu bringen. Dieser neten der FDP)
474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Viele Kommentatoren Lateinamerikas haben festgestellt: (C)
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus Das, was dort passiert ist, war ein Rückschlag – 30 Jahre
Barthel das Wort. zurück.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben eine Phase erlebt, in der die Demokratie
gestärkt wurde. Die Putsche waren beendet. In Honduras
Klaus Barthel (SPD): gab es in den 150 Jahren seit der Unabhängigkeit dieses
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Landes immerhin 125 Militärputsche. Zu einer Stabili-
Ich denke, ganz unabhängig davon, was nachher noch sierung kam es erst im Laufe der 80er-Jahre. Jetzt erle-
über die handelnden Personen und die politischen Hin- ben wir eine neue Polarisierung und eine neue Brutali-
tergründe der Vorgänge in Honduras gesagt wird, muss sierung in diesem Land, einem der ärmsten Länder
man zunächst einmal feststellen: Ein Putsch bleibt ein dieses Kontinents mit 70 Prozent Armut, mit 45 Prozent
Putsch und ist zu verurteilen. Für einen Putsch kann es extremer Armut, mit einer Herrschaft von Cliquen und
keine Rechtfertigung geben. mit einer Durchdringung aller Lebensbereiche durch die
beiden dominierenden Parteien. Wir sehen jetzt wieder
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem – der Spitzenkandidat einer dieser beiden Parteien ist
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Großgrundbesitzer, der andere ist Baulöwe –, wie es dort
geordneten der CDU/CSU und der FDP) sozial und politisch weitergeht.
Auch dafür – darüber dürfen wir nicht hinweggehen –, Wir sehen, dass Honduras tiefgreifende Reformen in
dass in Honduras die Menschen- und Bürgerrechte ver- Politik, Wirtschaft und Gesellschaft braucht, dass es in
letzt werden, kann es keine Rechtfertigung geben. dieser Gesellschaft endlich eine Konsensbildung statt
Die neue Bundesregierung sollte sich deswegen in die Polarisierung geben muss, dass die politische Apathie
Kontinuität ihrer Vorgängerin stellen. Ich will daran er- überwunden werden muss und dass eine regionale Lö-
innern, dass Außenminister Steinmeier am 29. Juni deut- sung nötig ist, zum Beispiel auch durch die OAS. Durch
lich gemacht hat, dass die Bundesrepublik Deutschland die Verurteilung des Putsches und den Umgang mit die-
den Putsch verurteilt, dass wir fordern, dass zu Recht ser Situation in den gemeinsamen Reaktionen hat es jetzt
und Gesetz zurückgekehrt wird, dass die Entwicklungs- zunächst einmal große Fortschritte gegeben.
zusammenarbeit eingefroren wird, dass es für uns keine Jetzt komme ich zu den Anträgen. Je mehr man sich
Zusammenarbeit mit den Putschisten, mit der jetzigen damit beschäftigt, desto komplizierter stellt sich die Si-
Regierung, gibt und dass es einen europäischen Konsens tuation dar. Ich glaube, mit den Anträgen wird keine
darüber gibt, die Botschafter abzuziehen. wirkliche Lösung geliefert.
(B) (D)
Schwarz-Gelb – da bin ich gespannt, was noch Was soll es eigentlich bringen, jetzt, drei Tage vor der
kommt – hat noch Klärungsbedarf bei allem, was Herr Wahl, die Rückkehr von Zelaya zu fordern? Wem soll
Fritz hier gesagt hat. Die Friedrich-Naumann-Stiftung ist das nützen? Er selber hat ja auch darauf verzichtet. Des-
nicht irgendwer: Ihre führenden Vertreter sitzen hier im wegen macht es keinen Sinn, heute hier so einem Antrag
Deutschen Bundestag, sogar in der Bundesregierung. zuzustimmen.
Auf Veranstaltungen der Friedrich-Naumann-Stiftung
wurde dieser Putsch verharmlost und gerechtfertigt. An- Was würde seine Rückkehr bis zum Januar 2010 brin-
hänger des Putsches wurden nach Deutschland eingela- gen? Der neue Präsident und das neue Parlament sollen
den und nach Strich und Faden hofiert. Verantwortlich schon in drei Tagen, am 29. November, gewählt werden.
dafür sind unter anderem Westerwelles Vorgänger MdB Wollen wir wirklich das alte Parlament übergehen, in
Dr. Gerhardt – heute scheinbar nicht anwesend – und der dessen Verantwortung er, Zelaya, sich ja selbst begeben
jetzige Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Hoyer – hat und dessen Entscheidung am kommenden Mittwoch,
offensichtlich auch nicht anwesend. Bis heute haben wir also heute in sechs Tagen, ansteht? Wollen wir damit das
zu diesen skandalösen Vorgängen noch kein Dementi der Abkommen von San José, das Sie in Ihrem Antrag wür-
Bürgerrechtspartei FDP gehört. digen, einfach übergehen? Wie geht es nach der Aner-
kennung oder auch nach der Nichtanerkennung der Wahl
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Fragen Sie
am kommenden Sonntag eigentlich weiter? Darauf wird
einmal danach, was die Jusos im Hinblick auf
in keinem der beiden Anträge eine Antwort gegeben.
Kuba machen!)
Ich muss schon sagen, meine erste Assoziation war: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Mich erinnert das Ganze an die 70er-Jahre und an die FDP)
Zeit davor, als Unionspolitiker, vor allen Dingen aus der – Vorsicht mit dem Beifall von der FDP.
CSU, engste Kontakte zu den Putschisten und Rechts-
diktatoren in Lateinamerika unterhalten und demonstra- (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Aber der Satz war
tiv gepflegt haben, in Chile, in den Fußballstadien, wa- richtig!)
ren, es dort ganz angenehm gefunden haben usw. Ich
Wichtiger ist es, dass die Bundesregierung ihre Hal-
dachte eigentlich, diese Zeiten sind vorbei.
tung einmal klärt. Die FDP ist mit ihrer Friedrich-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Naumann-Stiftung nämlich immerhin die Partei des Au-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Erich G. Fritz ßenministers, und die hat sich in dieser Frage doch völlig
[CDU/CSU]: Die sind auch vorbei!) vergaloppiert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 475
Klaus Barthel
(A) Zunächst, 2005, hat man Zelaya unterstützt, obwohl zu sein, und deshalb durch nachhaltigen Verfassungs- (C)
man jetzt im Nachhinein erklärt, schon 2004 habe er sich bruch versuchen, an der Macht zu bleiben. Auch das ist
von Herrn Chávez sponsern lassen. Zuerst hat man be- in Südamerika heutzutage gang und gäbe.
stritten, dass es ein Putsch war. Immerhin schrieb der jet-
zige Staatsminister Hoyer: „Von einem ,Militärputsch‘, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der keiner war“. – Das heißt, er hat bestritten, dass es ein der CDU/CSU)
Putsch war – siehe Die Welt, 3. Juli 2009. Ich kann nur Auch bei dieser zweiten unseligen Tradition müssen
sagen: Wenn er sich davon nicht distanziert – heute ist er wir genauer hinschauen, als Sie es getan haben, Herr
ja nicht da –, dann ist er an verantwortlicher Stelle für Kollege von den Grünen. Was ist in Honduras gesche-
die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland ei- hen, und was ist zu tun? Die beiden Antragsteller lassen
gentlich nicht mehr tragbar. Dann muss die Bundesregie- die Verfassungskrise am 28. Juni beginnen, und sie for-
rung die Konsequenzen daraus ziehen. dern im Prinzip heute noch – im November 2009 – eine
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wiederherstellung des Status quo ante, der vorherigen
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Situation.
GRÜNEN) (Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Inzwischen rudert die Friedrich-Naumann-Stiftung ja Das fordern die Grünen auch!)
sogar zurück. Herr Lüth hat inzwischen wörtlich erklärt Nachdem die erste Voraussetzung falsch war, ist die
– auch das muss man sich auf der Zunge zergehen las- Folgerung auch falsch. Die Verfassungskrise hat eben
sen; es ging um den Militärputsch –: „So glatt, wie es am nicht am 28. Juni begonnen. Ich sage ganz deutlich, Herr
Anfang aussah, ist es nicht gelaufen“. – Das sagte er jetzt Barthel, meine Kolleginnen und Kollegen: Die Abschie-
im November, da die Herrschaften regieren. Er fordert bung Zelayas nach Costa Rica war widerrechtlich. Sie
jetzt wieder die Einsetzung von Zelaya; denn sonst verstieß gegen die Verfassung, und wir verurteilen die
könne man die Wahlen vergessen. Abschiebung des Präsidenten Zelaya nach Costa Rica.
Was gilt denn jetzt eigentlich für die Partei, die den Das ist eine klare Aussage.
Außenminister stellt? Bleibt es jetzt bei der Position der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
alten Bundesregierung, bleibt es bei der Position vom Zuruf von der SPD: Ist das ein Putsch?)
Juli, oder bleibt es bei der jetzigen Position vom Novem-
ber? Wir sind sehr gespannt, etwas dazu zu hören. Dabei dürfen wir aber nicht stehen bleiben. Wir müs-
sen zunächst fragen, was vor dem 28. Juni geschehen ist.
Noch wichtiger – deshalb habe ich bei der Rede des Kol-
Vizepräsidentin Petra Pau:
(B) legen von der SPD geklatscht, die Anträge weisen auf (D)
Kollege Barthel, achten Sie bitte auf die Zeit. keinerlei Zukunftsvisionen hin – ist die Frage, was wir in
Zukunft machen müssen. Nach unserer Einschätzung
Klaus Barthel (SPD): – wir kennen die beiden Protagonisten Zelaya und
Ich komme zum Schluss. – Die beiden Anträge sind Micheletti durch die Stiftung besser als viele andere –
in vielen Punkten unterstützenswert, aber sie sind ver- haftet keinem der beiden ein politischer Heiligenschein
einfacht und überholt. Sie bieten auch keine Lösung für an. Das muss man sehr deutlich feststellen, und damit
die verfahrene Situation. Deswegen werden wir von der müssen wir auch umgehen.
SPD uns zu beiden Anträgen enthalten. Ich befürchte
Zelaya hat unbestritten vor dem 28. Juni gegen die
aber, dass wir uns mit Honduras noch öfter beschäftigen
Verfassung verstoßen. Er wollte mithilfe einer verfas-
müssen. Das sollten wir aber bitte etwas gründlicher, dif-
sungswidrigen Volksbefragung eine verfassungswidrige
ferenzierter und lösungsorientierter tun.
Wiederwahl möglich machen.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Stinner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Rainer Kollegin Hänsel?
Stinner das Wort.
(Beifall bei der FDP) Dr. Rainer Stinner (FDP):
Im Moment nicht. Ich würde gerne noch ein bisschen
weiterreden. – Er ließ verlauten – ich zitiere wörtlich –,
Dr. Rainer Stinner (FDP):
dass er „die Gabe Gottes, mit dem Volk zu sprechen, sich
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- nicht von einigen Abgeordneten verbieten lassen
legen! Es gibt in Südamerika leider seit Jahren und Jahr- werde“. Stellen Sie sich bitte einmal vor, Bundespräsi-
zehnten zwei unselige Traditionen. Die eine Tradition ist dent Köhler würde in Deutschland sagen, die Gabe Got-
die der Militärputsche, die wir alle verurteilen und ver- tes würde er sich von solchen Abgeordneten wie Herrn
dammen. Es hat sich aber leider in den letzten Jahren Barthel nicht verbieten lassen. Das kann doch wohl nicht
eine zweite unselige Tradition eingestellt, nämlich dass wahr sein.
ursprünglich demokratisch gewählte und demokratisch
legitimierte Präsidenten plötzlich in der Zeitdauer ihrer (Klaus Barthel [SPD]: Würden Sie die Bun-
Präsidentschaft entdecken, dass es schön ist, Präsident deswehr holen?)
476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Dr. Rainer Stinner


(A) Dass die Linken an solchen Verfassungsbrüchen sere Wahlbeobachter aus drei Viertel der Länder nach (C)
nichts auszusetzen haben, verwundert mich nicht. Hause holen. Schließlich geht es bei sehr vielen Wahlen
in der Welt fragwürdig zu. Aber genau deshalb schicken
(Beifall bei der FDP) wir unsere Beobachter dorthin. Es wäre richtig gewesen,
Denn bei ihren Freunden und Kollegen Chávez und das auch in diesem Fall zu tun.
Ortega ist das an der Tagesordnung. (Beifall bei der FDP)
Nochmals: Die Verfassungsbrüche Zelayas rechtferti- Herr Barthel, ich habe Ihnen zugestimmt und wäh-
gen nicht seine Abschiebung ins Ausland. Er hätte nach rend Ihrer Rede Beifall gezollt, weil Sie deutlich ge-
rechtsstaatlichen Grundsätzen im Land Honduras vor macht haben – das ist noch bedeutsamer –, dass die Ver-
Gericht gestellt werden müssen. fasser der Anträge keinen Weg in die Zukunft weisen.
(Beifall bei der FDP) Wir müssen jedoch ein Interesse daran haben, dass Hon-
duras möglichst schnell wieder eine legitime Regierung
Das ist nicht passiert, und das verurteilen wir. bekommt. Deshalb schlagen wir von der FDP das ge-
Aber Sie alle haben eines nicht gesagt: Vor dem naue Gegenteil von dem vor, was die beiden Antragstel-
28. Juni hat es einen langmonatigen Prozess gegeben, in ler fordern. Wir wollen zuerst die Wahlen abwarten, die
dem das oberste Verfassungsgericht und das Parlament in drei Tagen stattfinden – es geht nicht um ein Jahr, son-
eingeschaltet waren und der Präsident angeklagt war. dern um drei Tage –, und dann gemeinsam bewerten, wie
Ihm ist widersprochen worden, und ihm wurde verboten, die Wahlen verlaufen sind. Danach können wir darüber
das zu tun, was er gemacht hat, weil er damit gegen die nachdenken, wie wir vorgehen wollen. Alles andere ist
Verfassung verstoßen hat. Das nehmen Sie nicht zur völlig unverantwortlich, wenn wir ein Interesse an der
Kenntnis, und von daher kommen Sie automatisch zu Verbesserung der Situation in diesem Land haben.
falschen Schlüssen. Sie sind auf Details gar nicht eingegangen. Besonders
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kritisch ist zum Beispiel die Übergangszeit zwischen der
der CDU/CSU) Wahl am 29. November 2009 und der Vereidigung des
neuen Präsidenten am 27. Januar 2010. Was soll in die-
Deshalb sind Reflexion und differenzierte Betrach- sem Zeitraum geschehen? Es gibt verschiedene Vor-
tung nötig. Die üblichen Empörungsreflexe sind ver- schläge. Wir machen uns keinen Vorschlag zu eigen. Die
ständlich. Ich will gar nicht beschönigen, was dort pas- einen sagen: Zelaya muss wiederkommen. Die anderen
siert. Ich bin weit davon entfernt. sagen: Micheletti muss kommen. – Das ist aber nicht un-
(Zuruf von der Linken) ser Bier. Wir hängen nicht aus dogmatischen Gründen an
irgendeinem Namen. Wir wollen nur, dass diese Periode
(B) – Nein, das tue ich nicht. Ich habe deutlich gesagt, dass in Honduras möglichst friedlich zu Ende geht. Deshalb (D)
wir diese Abschiebung verurteilen; denn sie ist verfas- meinen wir, dass entsprechende Vorschläge aus dem
sungswidrig. Land selber kommen sollen.
Sie sind nicht in der Lage, zu erkennen, dass die Basis Zum Abschluss ein kurzer Satz zum Verhalten deut-
für die Ursachen vorher gelegt wurde; damit will ich scher politischer Stiftungen im Ausland. Ich gebe zu:
nichts beschönigen. Aber das ist für die Linken nichts Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat etwas differenzier-
Ungewöhnliches. Sie verlieren zum Beispiel zu Nicara- ter als andere hingeschaut. Das machen Liberale nun
gua kein kritisches Wort und legen hier eine undifferen- einmal so.
zierte Betrachtungsweise an den Tag.
(Beifall bei der FDP)
Beide Antragsteller fordern – wenn auch unterschied-
lich scharf –, das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Niemand von Ihnen, meine Damen und Herren, hat auf
Honduras am nächsten Sonntag nicht anzuerkennen. Da- die Zeit vor dem 28. Juni geschaut. Wir haben das mit-
bei übersehen Sie völlig, was der Kollege Fritz gesagt hilfe unserer Stiftung getan. Ich könnte Ihnen das Proto-
hat, nämlich dass die Vorbereitungen dieser Wahl längst koll darüber geben, was vorher passiert ist.
vor dem 28. Juni begonnen haben –
Vizepräsidentin Petra Pau:
Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Stinner, Sie haben Ihre Redezeit jetzt tatsäch-
Kollege Stinner, es gibt einen weiteren Fragewunsch, lich überschritten. Aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis:
diesmal von der Kollegin Dağdelen. Es gibt die Meldung zu einer Kurzintervention und da-
mit die Chance, darauf zu reagieren. Ich bitte Sie, zum
Schluss zu kommen.
Dr. Rainer Stinner (FDP):
– im Augenblick nicht – und dass es sowohl bei der
Auswahl der Kandidaten als auch bei der Terminierung Dr. Rainer Stinner (FDP):
vernünftig zugegangen ist. Nun gibt es Probleme; das Das ist außerordentlich erfreulich, Frau Präsidentin;
will ich gar nicht bestreiten. Aber die FDP bedauert im denn ich möchte noch auf viele interessante Punkte hin-
Gegensatz zu Ihnen sehr nachdrücklich, dass es keine in- weisen.
ternationalen Wahlbeobachter in diesem Land gibt. Sie Vielen Dank bis hierher. Wir sehen uns gleich wieder.
sagen: Weil der Wahlprozess zweifelhaft ist, schicken
wir erst gar keine Wahlbeobachter hin. – Wenn wir uns (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ihre Auffassung zu eigen machten, dann könnten wir un- der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 477

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Haben Sie mit dem Botschafter, der der Liberalen (C)
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Dağdelen Partei angehört, und beispielsweise mit dem legitimen
das Wort. Vizepräsidenten von Honduras, der sich im Exil befindet
und auch der Liberalen Partei angehört, überhaupt ge-
sprochen?
Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr
Kollege Stinner, da Sie mir und meiner Kollegin Frau Dr. Rainer Stinner (FDP):
Hänsel, die anschließend reden wird, nicht die Möglich- Lieber Herr Kollege, ich persönlich habe nicht mit
keit gegeben haben, eine Zwischenfrage zu stellen, blieb dem Herrn Botschafter gesprochen. Ich habe aber sehr
mir nichts anderes übrig, als mich zu einer Kurzinterven- deutlich gemacht, worauf es uns ankommt, nämlich da-
tion zu melden. rauf, Wege aufzuzeigen, um die verfahrene Situation in
diesem geschundenen Land zu befrieden und es nach
Sie haben am Ende Ihrer Rede gesagt, dass die vorne zu bringen.
Friedrich-Naumann-Stiftung differenzierter als andere (Klaus Barthel [SPD]: Welche denn? Davon
– die Europäische Kommission, das Europäische Parla- haben wir nichts gehört!)
ment, die Vereinten Nationen und viele Staaten – das
Ganze betrachtet und klarer und deutlicher verurteilt hat, Sehr geehrter Kollege, ich habe deutlich gemacht,
was in Honduras geschehen ist. Daher möchte ich Sie dass in den Anträgen, die Ihre Fraktion und Ihre verehr-
bitten, Herr Stinner, auf folgende Frage klar und kurz zu ten Kollegen der Linken gestellt haben, nicht ein ver-
antworten: Verurteilen Sie das, was in Honduras gesche- nünftiger Ausweg für die Zukunft definiert worden ist.
hen ist, und bezeichnen Sie es als Putsch oder nicht? Uns kommt es darauf an, dass die Verfassungskrise in
Honduras nachhaltig beendet wird, damit man dort zu ei-
ner demokratischen bzw. möglichst demokratischen Si-
Dr. Rainer Stinner (FDP): tuation zurückkehrt. Dafür sollten wir uns einsetzen.
Frau Kollegin, ich bin immer sehr gerne bereit, meine
Rede für Sie zu wiederholen. Wir sollten abwarten, was die Wahlen bringen. Wir
werden dann beurteilen müssen, wie sie gelaufen sind,
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) um anschließend gemeinsam mit der Europäischen
Union und anderen Partnern wie den Vereinigten Staaten
Ich habe in meiner Rede zweimal sehr deutlich gesagt, zu beurteilen, wie wir diesem Land am besten helfen
dass die Ausweisung und die Verbringung von Herrn können, damit es eine gute Zukunft hat.
Zelaya verfassungswidrig und rechtswidrig waren und
dass wir sie verurteilen. Das habe ich in meiner Rede (Beifall bei der FDP)
(B) zweimal deutlich gesagt. (D)

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ist das ein Vizepräsidentin Petra Pau:
Putsch, oder nicht?) Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Heike Hänsel das Wort.
– Das kann man selbstverständlich auch als Putsch be-
zeichnen. Ich habe die Widerrechtlichkeit dieses Aktes (Beifall bei der LINKEN)
deutlich gemacht und dazu Stellung genommen.
Heike Hänsel (DIE LINKE):
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: War es oder Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
ist es ein Putsch?) Herr Stinner, ich muss Ihnen wirklich sagen: Das, was
Sie hier gerade ausgeführt haben, lässt bezüglich des De-
Vizepräsidentin Petra Pau: mokratieverständnisses der FDP tief blicken.
Zwiegespräche gibt es allerdings mit diesem Instru- (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei
ment der Geschäftsordnung nicht. der FDP)
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Gern!) Es ist überfällig, dass einer Ihrer Minister – ich begrüße
Sie, Herr Westerwelle – eine Stellungnahme zu diesem
Es gibt aber eine Kurzintervention des Kollegen Hoppe,
Vorfall abgibt. Ich habe schon einmal angemahnt, dass
die Ihnen die Chance gibt, noch einmal zu antworten.
es keine Stellungnahme von Minister Westerwelle oder
Das ist dann auch die letzte Kurzintervention, die ich zu Minister Niebel zu diesem Vorfall oder auch der jetzt
diesem Beitrag zulasse. – Bitte. wieder bestätigten Einschätzung des Putsches in Hondu-
ras gibt. Das ist in meinen Augen ein Skandal. Da ist
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): eine Stellungnahme Ihrerseits überfällig.
Herr Kollege Stinner, ist Ihnen bewusst, dass eine (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
große Gruppe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Volontären und ehemaligen Stipendiaten der Friedrich-
Naumann-Stiftung einen langen Brief geschrieben hat, in Herr Stinner, Sie haben den Vorgang wiederholt
dem sie gegen den Kurs der Naumann-Stiftung in dieser falsch dargestellt; die Friedrich-Naumann-Stiftung tut
Frage protestiert und sich davon distanziert? In dem dies auch ständig. Es gibt und gab keine Verfassungs-
Brief wird auch die FDP aufgerufen, eine andere Hal- krise in Honduras. Präsident Zelaya wollte eine Volksbe-
tung einzunehmen. fragung durchführen, die per Gesetz möglich ist. Es wur-
478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Heike Hänsel
(A) den 400 000 Unterschriften gesammelt. Damit war das Das steht im Einklang mit unseren Anträgen, Herr (C)
Quorum erfüllt, um eine Volksbefragung durchzuführen. Barthel. Wir haben die Forderung der Demokratiebewe-
Diese sollte dann darüber befinden, ob das Parlament gung in Honduras aufgegriffen, die ständig E-Mails
über eine Abstimmung für eine verfassungsgebende Ver- schickt und sehr in Bedrängnis ist. Jetzt erst wurde wie-
sammlung debattiert und ob zu den Wahlen eine weitere der ein Anführer der Demokratiebewegung, ein 56-jähri-
Urne aufgestellt werden soll. ger Lehrer, ermordet. Die Demokratiebewegung braucht
Das heißt, er hat sich also für Volksdemokratie und dringend unsere Solidarität. Sie fordert ganz klar die
Volksmitbestimmung eingesetzt. Sie allerdings verurtei- Nichtanerkennung dieser Wahlen. Wir brauchen Zeit,
len, dass hier eine direkte Mitbestimmung organisiert um neue Wahlen durchführen zu können. Dann muss
werden soll. man sehen, ob sie unter dem Präsidenten Zelaya durch-
geführt werden, was immer noch möglich wäre, oder ob
(Widerspruch bei der FDP) man einen anderen Vorschlag macht und sie unter der
Kontrolle der Vereinten Nationen durchführt. Was aber
Das ist ein absolutes Unding. Das war rechtmäßig. Hier
fordern Sie, dass wir Referenden und mehr direkte De- nicht geht – da sind Sie, Herr Barthel, inkonsequent –,
mokratie brauchen. Das können Sie vergessen, wenn Sie ist, zu sagen: Eigentlich sind die Zustände katastrophal,
es schon Honduras nicht zugestehen wollen. man darf nicht zum Wahlboykott aufrufen, Menschen,
die gegen diese Wahl sind, werden systematisch ver-
(Beifall bei der LINKEN) folgt. – Die Armee ist mit der Durchführung der Wahlen
beauftragt worden. All das sind unrechtmäßige Zu-
Man muss sich das einfach noch einmal vorstellen:
stände. Gleichzeitig aber sagen Sie: Man muss einmal
Hier wird ein legitimierter Präsident, ein demokratisch
gewählter Präsident entführt. Sie sprechen immer von ei- sehen, was dabei herauskommt, wir können uns aber
ner Ausweisung. Er wurde in einer Nacht-und-Nebel- nicht entschließen, diese Wahlen nicht anzuerkennen. –
Aktion entführt, sitzt jetzt seit Wochen in der brasiliani- Es ist ganz klar: Es können keine demokratischen Wah-
schen Botschaft und wartet darauf, dass er wieder in len unter diesen Bedingungen stattfinden. Hier sind alle
seine rechtmäßige Position eingesetzt wird. Aber die aufgerufen, deswegen diese Wahlen nicht anzuerkennen.
Friedrich-Naumann-Stiftung vor Ort unterstützt auch (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
noch die Putschisten und spricht davon, dass es eine Le- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gende sei, überhaupt von einem Putsch zu reden. Nicht
nur die Friedrich-Naumann-Stiftung vor Ort tut das, Zum Schluss möchte ich sagen: Es ist wichtig, dass
auch Herr Gerhardt zum Beispiel hat Zelaya die morali- auch die Bundesregierung Stellung bezieht. Ich wundere
sche Autorität abgesprochen. Wo gibt es denn so etwas? mich, dass sie sich auf EU-Ebene, zum Beispiel beim
Auch dazu hätte ich gerne eine Stellungnahme von Ih- Ratstreffen, dafür ausgesprochen hat, dass es bezüglich
(B)
nen, Herr Gerhardt. Wie kommen Sie überhaupt zu so ei- des Ausgangs der Wahlen keine Vorfestlegungen geben (D)
ner Beurteilung? Das steht Ihnen überhaupt nicht zu. soll. So hat der Verhandlungsführer der Bundesregierung
auf Ratsebene argumentiert. Ich hätte gerne einmal eine
(Beifall bei der LINKEN) Stellungnahme der Bundesregierung, wie sie denn dazu
Herr Hoppe hat dankenswerterweise den Brief der Exsti- kommt, dass sie jetzt die Europäische Union dazu an-
pendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung erwähnt. Ich treibt, keine Vorfestlegungen bezüglich der Bewertung
möchte Ihnen daraus zwei Sätze vorlesen. der Wahlen durchzuführen.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genehmigung!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich zitiere: Kollegin Hänsel, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wo sind die Menschenrechte, welche die Friedrich-
Naumann-Stiftung zu verteidigen behauptet, wäh- Heike Hänsel (DIE LINKE):
rend sie sich in Honduras auf eine Verschwörung Ja. – Ich setze mich dafür ein, dass wir diese Wahlen
mit den Putschisten einlässt insgesamt nicht anerkennen und dass wir damit die deut-
liche Botschaft in die Welt, nach Lateinamerika und
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Ach!) nach Honduras aussenden: Die Zeit der Militärputsche in
und ihnen – entgegen der Position der Mitglieds- Lateinamerika muss vorbei sein.
staaten der UNO, der Organisation Amerikanischer (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
Staaten und der Europäischen Union – Hilfe ange- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
deihen lässt? … Wir wissen nicht, wie es in ten der SPD)
Deutschland aufgefasst wird, dass die Fonds der
Stiftung unter anderem dafür verwendet werden,
eine Reise von Putschisten und Menschenrechtsver- Vizepräsidentin Petra Pau:
letzern nach Europa zu finanzieren oder einen Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Stinner das
Wahlprozess in Honduras zu unterstützen, der die Wort.
wahrhaftige Ausübung der demokratischen Rechte
nicht garantiert. Dr. Rainer Stinner (FDP):
Das sind klare Worte. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr verehrte Kolle-
gin, ich sage es jetzt zum vierten Mal – ich habe es zwei-
(Beifall bei der LINKEN) mal in der Rede gesagt, ich habe es auf Nachfrage Ihrer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 479
Dr. Rainer Stinner
(A) Kollegin gesagt, und ich sage es Ihnen noch einmal –: und Sie haben ihn bisher noch kein einziges Mal getrof- (C)
Ich habe im Namen meiner Fraktion das Vorgehen gegen fen.
Herrn Zelaya verurteilt.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Zunächst sollte man sich aus erster Hand informieren
Aber ich sage Ihnen sehr deutlich: Sie machen wiederum und nicht immer nur über die interpretierenden Mei-
etwas, was ich bei Ihnen schon vorhin kritisiert habe: Sie nungsträger der Friedrich-Naumann-Stiftung.
nehmen die Fakten nicht zur Kenntnis. FFP – faktenfreie Darüber hinaus möchte ich sagen: Es stimmt einfach
Politik. nicht, dass Zelaya ein Referendum durchgeführt hat; ein
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Referendum hat nämlich bindende Wirkung. Zelaya hat
eine Volksbefragung durchführen wollen, deren Ergeb-
Ich lese Ihnen einmal etwas vor: Am 24. März, über drei nis keine bindende Wirkung hat. Ihr Ergebnis sollte viel-
Monate vor dem Datum im Juni, hat Herr Zelaya ein Re- mehr eine Empfehlung an das Parlament sein, sich mit
ferendum angekündigt, und zwar ein Referendum auch der Frage eines Referendums überhaupt erst einmal zu
über nichtreformierbare Artikel der Verfassung. Der befassen. Das ist ein grundlegender Unterschied, und ich
Oberste Staatsanwalt – nicht das Militär, kein General – hoffe, dass Sie als Parlamentarier diesen Unterschied er-
hat am 25. März eine Presseerklärung herausgegeben, in kennen.
der er davor warnt, dass die angeordnete Volksbefragung
einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standhalte. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Thilo
Am 8. Mai leitete der Oberste Staatsanwalt des Staates Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Honduras ein Strafverfahren gegen die Exekutive auf- Sie haben vorhin behauptet, es sei um die Wiederwahl
grund des fragwürdigen Dekrets dieser Regierung ein. von Zelaya gegangen. Das stimmt ebenfalls nicht. Erst
Am 20. Mai wies der Parlamentspräsident darauf hin, jetzt hätte man die Wahlurnen aufstellen können, um
dass ein solches Referendum nicht verfassungskonform über eine verfassunggebende Versammlung abzustim-
ist. Am 27. Mai erklärte der Oberste Gerichtshof das men. Zelaya hätte sowieso nicht die Möglichkeit gehabt,
Präsidialdekret, bei dem es um das Referendum ging, noch einmal anzutreten, da er nur eine Wahlperiode am-
aufgrund von Verfahrensfehlern für unwirksam. Ich tieren darf. Insofern verbreiten Sie hier nichts als Propa-
überschlage einige weitere Daten, weil Sie sich sowieso ganda; auch die Friedrich-Naumann-Stiftung streut stän-
nicht alles merken können. dig dergleichen. Ich hoffe auf ein sehr erhellendes
(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) Gespräch zwischen Ihnen und dem honduranischen Bot-
schafter.
(B) Irgendwann bemächtigte sich Herr Zelaya widerrecht- (D)
lich der Wahlurnen und machte den Spruch, auf den ich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
eben hingewiesen habe. Außerdem gibt es die Aussage, neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
dass Herr Zelaya vor dem Obersten Gerichtshof ange-
klagt wird. Das alles sind Dinge, die vor dem Putsch ge- Vizepräsidentin Petra Pau:
schehen sind. Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anette
Hübinger das Wort.
Nochmals, sehr verehrte Kollegin Hänsel: Das ent-
schuldigt nicht das, was mit Herrn Zelaya passiert ist; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
aber es ist nun einmal der Vorlauf. Das müssen wir zur der FDP)
Kenntnis nehmen.
Anette Hübinger (CDU/CSU):
Noch einmal: Sie weisen keinen Weg in die Zukunft.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Es geht uns um die Zukunft dieses Landes. Nur zu sa-
Kollegen! An der heutigen Debatte, die teilweise sehr
gen: „Wir erkennen nichts an; wir machen so weiter; wir
emotional geführt wird, hat man gesehen, dass Honduras
stürzen das Land ins Chaos“, kann keine Lösung sein.
in einer der schwersten Krisen seiner Geschichte steckt.
Auch wir als Deutsche müssen unsere Verantwortung
Der Höhepunkt war – auch das muss man wiederholen –
konstruktiv wahrnehmen.
ein rechtswidriger Putsch am 28. Juni. Seit dieser Zeit
Vielen Dank. geht ein tiefer Riss durch dieses Land: auf der einen
Seite die Anhänger des Interimspräsidenten Micheletti
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und auf der anderen Seite die Anhänger des gestürzten
der CDU/CSU) Präsidenten Zelaya.

Vizepräsidentin Petra Pau:


Noch einmal: Die De-facto-Regierung unter
Micheletti wurde nach dem Putsch vom honduranischen
Das Wort hat die Kollegin Hänsel. Kongress eingesetzt und wird auch vom obersten Ge-
richt und der Armee getragen. Sie ist jedoch nicht durch
Heike Hänsel (DIE LINKE): eine demokratische Wahl legitimiert. Deshalb hat
Herr Kollege Stinner, was die Fakten angeht, emp- Deutschland gemeinsam mit den Mitgliedstaaten der EU
fehle ich Ihnen, gleich im Anschluss an diese Sitzung ein die gewaltsame Entfernung Zelayas verurteilt, die De-
Gespräch mit dem honduranischen Botschafter zu füh- facto-Regierung nicht anerkannt und die Entwicklungs-
ren. Das wäre vielleicht überfällig; schließlich ist er hier, zusammenarbeit mit Ausnahme der Unterstützung der
480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Anette Hübinger
(A) Zivilgesellschaft und der humanitären Hilfe ausgesetzt. Unsere Stiftungen sind auf diesem Gebiet sehr aktiv. Wir (C)
Das ist ein klares politisches Zeichen dafür, dass der als Entwicklungspolitiker schätzen deren Arbeit vor Ort.
Putsch in keinster Weise zu rechtfertigen ist. Wir müssen diese Arbeit jedoch intensivieren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
LINKEN) der FDP)
Im Antrag der Grünen und auch im Antrag der Linken Dabei muss es uns darum gehen, mit unseren Partnern in
werden die Geschehnisse in Honduras leider recht ein- einen kontinuierlichen Dialog zu treten. Wir müssen
seitig dargestellt. Herr Kollege Stinner hat dies sehr aus- mehr über Fragen von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie-
führlich aufgezeigt. verständnis und der sozialen Verantwortung von Eliten
sowie über Konzepte für eine nachhaltige Wirtschafts-
(Klaus Barthel [SPD]: Aber falsch!) und Sozialpolitik reden und aufrichtig über Presse- und
Dennoch will ich es noch einmal wiederholen; denn Meinungsfreiheit diskutieren. Unsere Entwicklungszu-
auch durch Wiederholung lernt man ja. sammenarbeit kann nicht losgelöst von einer gleichzeiti-
gen Debatte über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
(Klaus Barthel [SPD]: Aber durch Wiederho- Wertevorstellungen stattfinden.
lung wird es nicht wahrer!)
Die für Sonntag anberaumten Wahlen, bei denen die
Der Putsch vom 28. Juni war der Höhepunkt einer Lokalregierungen, ein neuer Kongress und ein neuer
Reihe von bereits im Vorfeld begangenen verfassungs- Präsident gewählt werden sollen, sind bereits unter
widrigen Handlungen. Das lassen Sie in Ihren Anträgen Zelaya – auch das kam hier schon zum Ausdruck – ange-
leider außen vor. Der gestürzte Präsident Zelaya hatte setzt worden, und die zur Wahl antretenden Präsident-
vor seiner Amtsentmachung die Verfassung seines Lan- schaftskandidaten wurden legitim bestimmt.
des mehrmals gebrochen, auch wenn es die Linke nicht
so wahrhaben will. Das wurde vom Obersten Gerichts- „Das Abhalten von Wahlen nach dem Putsch in Hon-
hof immer wieder angemahnt. Über Monate versuchte er duras ist eine sehr außergewöhnliche Situation. Aber die
mithilfe der Abhaltung eines Referendums die Verfas- Menschen wollen wählen. Das müssen wir akzeptieren.“ –
sung dahin gehend zu ändern, seine Wiederwahl zu er- So äußerte sich der Präsidentschaftskandidat der Natio-
möglichen. Nachdem der Kongress und das Oberste Ge- nalen Partei, Pepe Lobo, am Montag dieser Woche.
richt die Abhaltung eines Referendums nicht billigten,
Der ordnungsgemäße Verlauf der Wahlen wird der
versuchte Zelaya im Alleingang, eine Verfassungsände-
Schlüssel dafür sein, dass Honduras zurück zu einer ver-
rung durchzusetzen. Ich erinnere an ähnliche Tendenzen
fassungskonformen Ordnung findet. Aufrufe zum Wahl-
(B) in Lateinamerika, zum Beispiel in Venezuela. Für eine boykott und Forderungen nach Nichtanerkennung der (D)
sachlich vollständige Analyse und Aufarbeitung des
Wahlen im Vorfeld, wie sie von den Fraktionen Die
Konfliktes muss auch Zelayas gesetzwidriges Verhalten
Linke und auch Bündnis 90/Die Grünen kommen, tragen
beachtet werden.
nicht zu einer friedlichen Konfliktlösung bei. Die Frage
Der Konflikt in Honduras ist vielschichtiger, als es in der Bewertung der Wahlen werden wir in Abstimmung
den heute hier vorliegenden Anträgen zum Ausdruck mit unseren EU-Partnern und der internationalen Ge-
kommt. Die Putschisten sind zu verurteilen wie auch das meinschaft hinterher beantworten müssen.
verfassungswidrige Handeln Zelayas im Vorfeld.
Sowohl der Antrag der Grünen als auch der Antrag
Die politische Krise in Honduras ist leider keine Aus- der Linken sind nicht zielführend. Deshalb lehnen wir
nahmeerscheinung in Lateinamerika, sondern spiegelt sie als CDU/CSU-Fraktion ab.
den fragilen Zustand vieler Demokratien dort vor Ort wi-
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
der. Obwohl Lateinamerika zweifelsohne weltweit die
demokratischste Entwicklungsregion ist, ist der Zustand (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
vieler Demokratien prekär. Die weit verbreitete Korrup-
tion, Defizite im Justizbereich, die mangelnde Teilhabe Vizepräsidentin Petra Pau:
der indigenen Bevölkerung sowie die extremen sozialen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, auch
Ungleichheiten stellen an die dortigen Demokratien be-
dem letzten Redner in dieser Debatte die notwendige
sondere Herausforderungen, so auch in Honduras. Hon-
Aufmerksamkeit zu widmen und dringend erforderliche
duras ist eines der ärmsten Länder in Mittelamerika. Die
Gespräche nach außerhalb des Plenarsaals zu verlagern.
Einkommensunterschiede sind besonders gravierend. So
leben fast 80 Prozent der Bevölkerung Honduras unter Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die
der Armutsgrenze. SPD-Fraktion.
Die Geschehnisse in Honduras zeigen, dass wir in un- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
serer Entwicklungszusammenarbeit neben der techni-
schen und finanziellen Zusammenarbeit viel stärker die
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Zusammenarbeit im politischen Bereich ausbauen müs-
sen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ein Putsch ist ein Putsch ist ein Putsch,
(Beifall des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/ und eine Partei wie die FDP, deren politische Stiftung
CSU]) diesen Putsch gerechtfertigt hat, bringt damit Schande
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 481
Dr. Sascha Raabe
(A) über das demokratische Verständnis, das wir in diesem Lassen Sie mich zum Schluss einen ganz wichtigen (C)
Haus haben. Das bleibt eine Tatsache. Punkt ansprechen. In Honduras und in Lateinamerika
ebenso wie in vielen anderen Staaten der Welt – auch in
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Afghanistan, um das es in der folgenden Debatte noch
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geht – werden wir Demokratie und Stabilität nicht dauer-
haft erreichen, wenn wir nicht die Ursachen der Instabi-
Es ist zu spät, Herr Kollege Stinner, wenn Sie sich lität bekämpfen, wenn wir es nicht schaffen, Hunger und
heute, wenige Tage vor der Wahl in Honduras, ein Stück Armut zu überwinden. Wir haben vereinbart, für 2008
weit von dem distanzieren, was Ihr Kollege Gerhardt bis 2010 44 Millionen Euro für die Entwicklungszusam-
und die Stiftung Ihrer Partei betrieben haben. Denn in menarbeit in Honduras zur Verfügung zu stellen. Das ist
der heißen Phase, als es darum ging, auf internationaler ganz wichtig. Es gibt mittlerweile 1 Milliarde hungernde
Ebene eine Lösung zu finden, als wir ein Zeitfenster hat- Menschen weltweit. Präsident Zelaya hat den Mindest-
ten, um eine Lösung herbeizuführen, haben Sie die inter- lohn verdoppelt und viele gute Schritte zur Armutsbe-
nationalen Bemühungen hintertrieben, indem Ihre Stif- kämpfung unternommen. Der Konflikt in Honduras ist
tung den Putsch gerechtfertigt hat, Putschisten hofiert auch ein Konflikt zwischen den Eliten und denen, die zu
und eingeladen hat und Herr Gerhardt mit eigenen frag- Recht Chancen einfordern.
würdigen Vorschlägen die internationalen Friedensbe-
Auch die Friedrich-Naumann-Stiftung hat die Verant-
mühungen konterkariert hat. Das darf nie wieder vor-
wortung, endlich einmal den Eliten, mit denen man sich
kommen. Damit haben Sie dem Frieden und der dort sehr gut versteht, die Meinung zu sagen und deut-
Demokratie bei uns, aber auch in Honduras einen Bären- lich zu machen: Es geht nicht, dass ihr weiter jahrzehnte-
dienst erwiesen. lang, wie ihr es gemacht habt, die Ärmsten der Armen
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem knechtet, Großgrundbesitz habt und nie etwas abgebt.
Jetzt ist die Stunde der kleinen Leute dort gekommen. –
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dafür müssen wir sorgen.
Mich als Entwicklungspolitiker ärgert daran beson- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ders, dass durch diese Haltung der Friedrich-Naumann- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Stiftung die gute Arbeit der politischen Stiftungen, die
seit Jahrzehnten in Entwicklungsländern gemacht wird, Wir müssen an den Zielen unserer Entwicklungszu-
in ein schlechtes Licht gerückt wird. Denn wir haben in sammenarbeit insgesamt festhalten und auch daran, die
Lateinamerika – ich will den Beitrag nicht überhöhen, international vereinbarten Steigerungen der Mittel für
weil es natürlich zuerst das Verdienst der dort lebenden die Entwicklungszusammenarbeit durchzusetzen. Die
Bundesregierung hat sich international verpflichtet, im
(B) Menschen ist – Gott sei Dank auch deshalb mehr Demo- Jahre 2010 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens (D)
kratie und Stabilität im Vergleich zu der Zeit von vor
10 bis 20 Jahren, weil es uns im Rahmen der Entwick- für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu
lungszusammenarbeit mit den politischen Stiftungen ge- stellen.
lungen ist, dort Strukturen, Transparenz, Partizipation Herr Entwicklungsminister Niebel, dass ausgerechnet
der Bevölkerung und auch Parlamente aufzubauen, die Sie sich in den letzten Tagen von diesem Ziel verab-
so stark sind, dass wir eigentlich gedacht haben, dass es schiedet haben und angesichts 1 Milliarde hungernder
zu so einem Putsch wie im Sommer in Honduras nicht Menschen gesagt haben: „Wir steigen aus“, ist diesen
mehr kommen kann. Deswegen möchte ich an dieser Menschen gegenüber, denen Sie und die Frau Kanzlerin
Stelle ausdrücklich allen politischen Stiftungen, die sich die Steigerung der Mittel versprochen haben, unmensch-
in Lateinamerika und weltweit engagieren – mit Aus- lich. Frau Merkel, Sie erinnern sich: Ich habe, als Sie
nahme der von mir kritisierten –, ganz herzlich für ihre zum G8-Gipfel gefahren sind, hier eine Rede gehalten
Arbeit danken. und Ihnen gesagt, Sie sollten Herrn Berlusconi, der die
Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit zurückge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des schraubt hat, sagen, dass er, wenn er schon den G8-Gip-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) fel in Italien durchführt, zu seiner Verpflichtung stehen
soll, den ODA-Stufenplan einzuhalten. Ich schäme mich,
Natürlich, Frau Hänsel, haben wir an dieser Stelle dass jetzt Deutschland selbst aus dieser Verpflichtung
eine unterschiedliche Bewertung. Auch ein Rechtsbruch aussteigt. Da sind wir keinen Deut besser als die Italie-
ist ein Rechtsbruch und bleibt ein Rechtsbruch. Was Prä- ner.
sident Zelaya gemacht hat, ist vom dortigen Verfas-
sungsgericht verurteilt worden. Sie sollten vielleicht Deswegen sage ich, Frau Merkel: Halten Sie Ihr Ver-
nicht versuchen, von Deutschland aus das Recht in Hon- sprechen gegenüber 1 Milliarde hungernder Menschen
duras zu interpretieren. Deswegen sagen wir mit Blick ein! Erhöhen Sie wie versprochen die Gelder für die Ent-
auf die Anträge der Grünen und der Linken: Wir könnten wicklungshilfe auf 0,51 Prozent des Bruttonationalein-
fast jeden Satz darin unterschreiben. Aber da Sie nicht kommens, und lassen Sie hier nicht die größte Wahllüge
berücksichtigen, wenn Sie den Titel „Demokratie in in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ent-
Honduras“ wählen, dass sich dort auch die Gegner und stehen! Dafür sollten wir gemeinsam kämpfen.
der rechtmäßig gewählte Präsident in Zukunft anders Danke.
verhalten müssten, wollen wir uns enthalten. Aber das
heißt nicht, dass wir Ihre Anträge nicht ansonsten voll (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
unterstützen würden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie (C)
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Dr. Wolfgang Gerhardt das Wort. GRÜNEN)
(Zurufe von der SPD: Oh!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.
Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Ich höre mir sehr gerne Vorschläge zum Engagement Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
der Friedrich-Naumann-Stiftung und dazu an, wofür wir Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/33
in manchen Ländern eintreten sollen. Wir tun das auch. mit dem Titel „Demokratie in Honduras“. Wer stimmt
Wir haben die Rechte des tibetischen Volkes vertreten für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
und mussten unser Büro in Peking schließen. Ich würde sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfrak-
mir solche Vorträge noch lieber anhören, wenn sich auch tion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Frak-
andere politische Parteien deutlicher im Hinblick auf Ve- tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
nezuela und Nicaragua äußern würden. Wo sind solche bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Stellungnahmen? Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/60 mit dem Titel
des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜND- „Demokratiebewegung in Honduras unterstützen – Wah-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) len der Putschisten nicht anerkennen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
Ich selbst habe die Außerlandesverbringung von Prä- sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfrak-
sident Zelaya für unmenschlich gehalten; das ist gar tion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Frak-
keine Frage. Aber wir sollten nicht unter uns entschei- tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
den, wer recht hat. Der oberste Gerichtshof in Honduras, bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
besetzt mit unabhängigen Richtern,
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
(Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vereinbarte Debatte zu der von Bundesminis-
Bezahlten!) ter Dr. Franz Josef Jung in Aussicht gestellten
hat seine Festnahme veranlasst – und nicht die Friedrich- Erklärung
Naumann-Stiftung; das will ich hier gesagt haben. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen (D)
(B)
der CDU/CSU) Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Heute beschäftigen wir uns mit der Frage, wie wir aus Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundesmi-
dieser Lage herauskommen. Da wäre es doch vernünftig, nister Dr. Franz Josef Jung.
den Sonntag abzuwarten und zu sehen, wie hoch die
Wahlbeteiligung ist, ob die Wahlen fair stattgefunden ha- Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister für Arbeit
ben und wie die Wahlergebnisse aussehen. Wir sollten und Soziales:
uns nicht an die Stelle der Menschen in Honduras setzen, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
die am Sonntag entscheiden wollen. Nach diesem Sonn- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Vor-
tag sollten wir klug weiter beraten. gängen vom 4. September dieses Jahres in Kunduz und
den aktuellen Behauptungen in der Öffentlichkeit nehme
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ich vor diesem Parlament wie folgt Stellung:

Vizepräsidentin Petra Pau: Zunächst einmal will ich deutlich machen, dass es mir
bei diesem gesamten Sachverhalt um sachgerechte Auf-
Das Wort zu einer Erwiderung hat der Kollege Raabe. klärung gegangen ist, die durch die NATO durchgeführt
wurde, und auch darum, dass bei einer solch schwierigen
Dr. Sascha Raabe (SPD): Entscheidung unsere Soldaten, die in diesem Einsatz mit
Sehr geehrter Herr Kollege, da Sie es seit mehreren Risiko für Leib und Leben unsere Sicherheit gewährleis-
Wochen nicht verstanden haben, gehe ich nicht davon ten, nicht mit Vorverurteilungen alleingelassen werden.
aus, dass Sie es jetzt durch meine Antwort verstehen (Michael Groschek [SPD]: Rechtfertigung!)
werden. Trotzdem sage ich noch einmal: Ein Putsch ist
ein Putsch ist ein Putsch. Dass Sie dies verurteilen und Meine sehr verehrten Damen und Herren, nachdem
gleichzeitig Putschisten nach Berlin einladen und eigene erhebliche Vorwürfe in der Öffentlichkeit gegen den
Vorschläge unterbreiten, zeigt, dass Sie leider bis jetzt Bundeswehroberst Klein vonseiten einiger europäischer
nicht verstanden haben, dass es hier darum geht, die Vor- Außenminister und anderer erhoben worden sind, habe
gänge eindeutig und unmissverständlich zu verurteilen ich mit Oberst Klein in Kunduz telefoniert und mich
und sie nicht mit Verweisen auf andere Länder zu recht- über den Sachverhalt aus seiner Sicht unterrichten las-
fertigen. Sie haben es immer noch nicht verstanden; das sen. Ich habe ihm versichert, dass wir diesen Vorverur-
haben wir jetzt wieder sehen können. Also: Putsch bleibt teilungen entgegentreten und ihn dabei nicht alleine las-
Putsch. sen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 483
Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
(A) (Michael Groschek [SPD]: Ehrenwort- ich gerade zitiert habe, hingewiesen, aber dann Weiteres (C)
variante!) noch hinzugefügt – ich zitiere –:
Als am 6. September ein Bericht der Washington Weil es jetzt auch andere Informationen gibt, ist es
Post im Hinblick auf 125 Opfer – darunter auch zivile notwendig und richtig, dass wir alles daransetzen,
Opfer – öffentlich geworden ist, habe ich noch einmal unseren Beitrag zur sachgerechten Aufklärung zu
mit Oberst Klein in Afghanistan telefoniert, aber auch leisten. Ich sage noch einmal: Wenn es zivile Opfer
mit General McChrystal, dem COMISAF. Wir waren gegeben hat, fordert dies unsere Anteilnahme und
übereinstimmend der Auffassung, dass jetzt alles getan unser Mitgefühl. Wir werden uns auch darum küm-
werden muss, um den Sachverhalt korrekt aufzuklären mern, dass die Situation vor Ort geregelt wird. Das
und danach gegebenenfalls die notwendigen Konsequen- halte ich für einen wichtigen Punkt. Aber um Ent-
zen zu ziehen. scheidungen in dieser Richtung treffen zu können,
Am gleichen Tag, also an diesem 6. September, habe muss erst das abschließende Untersuchungsergeb-
ich auch gegenüber der Öffentlichkeit unterstrichen, nis vorliegen.
dass, wenn es zivile Opfer gegeben hat, wir dies sehr be-
Ende des Zitats.
dauern,
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Nach den entsprechenden Voruntersuchungen hat am
GRÜNEN]: Sie haben es ausgeschlossen! 8. September 2009, also an diesem Tag, der COMISAF
Ausgeschlossen!) die NATO-Untersuchungen eingeleitet und General
Sullivan mit der Untersuchung beauftragt. Ich habe so-
und ich habe auch mein Mitgefühl gegenüber den Ange- wohl mit dem Generalinspekteur als auch mit Herrn
hörigen zum Ausdruck gebracht. Ebenfalls habe ich hin- Staatssekretär Dr. Wichert besprochen, dass wir alles
zugefügt, dass wir uns in einem solchen Fall um die An- tun, um diese Untersuchungen zu unterstützen, ohne al-
gelegenheit kümmern werden. lerdings eigene Untersuchungen durchzuführen.
Mir ist dann ein Bericht über die Vorgänge vom Anfang Oktober, aus meiner Erinnerung am 5. oder
4. September aus Afghanistan zugegangen, der unter- 6. Oktober, informierte mich der Generalinspekteur, dass
zeichnet worden ist von dem Gouverneur der Provinz
es noch einen Feldjägerbericht gebe. Da allerdings die
Kunduz, dem Polizeichef der Provinz Kunduz, dem
Untersuchung der NATO entscheidend sei, bitte er um
NDS-Chef der Provinz Kunduz, dem Provinzratsvorsit-
Freigabe, dass wir diesen Bericht der NATO-Untersu-
zenden der Provinz Kunduz und dem Kommandeur der
chungskommission zuleiten. Für mich war wichtig, dass
zweiten ANA-Brigade.
(B) alle Untersuchungen der NATO zur Kenntnis gegeben (D)
Dieser Bericht enthält unter anderem folgende For- werden. Deshalb habe ich auch diese Freigabe erteilt.
mulierungen – ich zitiere –: Konkrete Kenntnis von diesem Bericht habe ich aller-
dings nicht erhalten.
Durch die Explosion wurden 56 bewaffnete Perso-
nen getötet und 12 Personen verletzt. Die Verletzten (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
hatten Verbrennungen und wurden ins Krankenhaus DIE GRÜNEN)
nach Kunduz gebracht, wo ein Verletzter am
4. September 2009 seinen Verletzungen erlag. Am 7. Oktober ist dieser Bericht dann der NATO-Un-
tersuchungskommission übergeben worden. Heute weiß
Der Bericht geht dann weiter – ich zitiere wiederum ich, nach Einsichtnahme in die Akten, dass dieser Be-
wörtlich –: richt am 9. September in Masar-i-Scharif zusammenge-
Um diesen Vorfall besser zu untersuchen, ist auf führt worden ist und dann über das Einsatzführungskom-
Anordnung des Präsidenten der Islamischen Repu- mando am 14. September dem Einsatzführungsstab des
blik Afghanistans eine Untersuchungskommission Bundesverteidigungsministeriums zugeleitet worden ist.
eingesetzt worden. Dieser Kommission gehören Für mich war allerdings entscheidend, dass der Bericht
Vertreter des Innenministeriums, des Verteidigungs- der NATO-Untersuchungskommission hier entsprechend
ministeriums, des NDS und ein Vertreter des Präsi- berücksichtigt wird. Dieser Bericht der NATO-Untersu-
denten an. chungskommission ist dann auch nach Amtswechsel im
Bundesverteidigungsministerium eingegangen. Dieser
Ich zitiere weiter: NATO-Untersuchungsbericht ist auch der Staatsanwalt-
Am 5. September 2009 ist die Untersuchungskom- schaft zur Verfügung gestellt worden.
mission mit einer ISAF-Delegation zusammenge-
troffen, um ihre Informationen abzugleichen. Nach Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke,
Gesprächen mit Dorfbewohnern und Augenzeugen dass aus diesem gesamten Sachverhalt eindeutig hervor-
wurde bewiesen, dass alle Getöteten zu den Taliban geht, dass ich sowohl die Öffentlichkeit als auch das Par-
und deren Verbündeten gehören. lament korrekt über meinen Kenntnisstand hinsichtlich
dieser Vorgänge informiert habe.
Ende des Zitats.
Ich danke Ihnen.
In der Parlamentsdebatte am Dienstag, dem 8. Sep-
tember 2009, habe ich ebenfalls auf diesen Bericht, den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Minister Jung, das Problem ist doch: Wir Vertei- (C)
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold für die digungspolitiker haben vom ersten Tag an mit Ihnen da-
SPD-Fraktion. rüber geredet, dass es nicht korrekt ist, dass sie uns im-
mer nur scheibchenweise, im Sinne einer Salamitaktik,
(Beifall bei der SPD) über diesen Freitag, den 4. September, informiert haben.

Rainer Arnold (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
LINKEN)
Herr Minister Jung, Sie haben Ihre Rede mit Herrn
Oberst Klein begonnen. Wir müssen zunächst einmal Um es klar zu sagen: Auch wir Obleute erhielten – das
festhalten: Es geht uns überhaupt nicht um Herrn Oberst haben wir schon damals kritisiert – immer erst dann In-
Klein. Wir haben großes Verständnis für die ernste und formationen, wenn sie in der Zeitung gestanden hatten.
schwierige Situation der Soldatinnen und Soldaten, die Erst dann haben wir einen Anruf oder eine Einladung zu
in Kunduz im Auftrag des Deutschen Bundestages eine einer Obleuterunde erhalten. Das sind die Fakten. Der
schwierige Aufgabe zu erledigen haben. Es geht also Umgang mit dem Bericht der Feldjäger reiht sich also in
nicht darum: Machen Soldaten unter dem Druck in ih- die gesamte Kette der Vernebelung der Vorgänge ein.
rem Alltag, der nicht einfach ist, Fehler? Vielmehr geht
es darum: Wie geht Politik mit der Wahrheit und mit Wir wollen wissen – deshalb haben wir für morgen
möglichen Fehlern um? eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses bean-
tragt –: Wo sind Informationen angekommen? Wann
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind sie angekommen? Wer alles im Haus hat sie auf
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der dem Tisch gehabt? Wie wurden sie zur ISAF weiterge-
LINKEN) leitet? Viele andere Fragen kommen hinzu. Uns interes-
siert auch: Was ist eigentlich mit dem Abschlussbericht
Herr Minister Jung, wir sagen sehr deutlich: Wir hät-
des damaligen ISAF-Kontingentes, in den zwangsläufig
ten uns heute eine andere Rede gewünscht:
die Erkenntnisse der Feldjäger einfließen? Wo ist dieser
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Abschlussbericht angekommen? Wie wurde er ausge-
GRÜNEN]: Erwartet!) wertet? Welche Konsequenzen hat der jetzige Minister
aus diesem Abschlussbericht gezogen? All dies muss
nicht wegdrücken, wenn es schwierig wird, sondern – morgen geklärt werden.
das zeichnet Politik aus – politische Verantwortung über-
nehmen. Eines ist auch klar: Wenn die Regierung morgen nicht
(B) die Chance nutzt, alle Fakten präzise auf den Tisch zu le- (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen, dann muss das Parlament zum schärfsten Schwert
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der greifen, das es hat, nämlich einen Parlamentarischen Un-
LINKEN) tersuchungsausschuss einsetzen, der die Möglichkeit hat,
Ihr Parteifreund, der frühere Verteidigungsminister alle Akteure einzubestellen und mit ihnen zu reden.
Stoltenberg, hat im Jahr 1992 gezeigt, was es bedeutet, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Verantwortung zu übernehmen, wenn man sein Haus DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
nicht unter Kontrolle hat, wenn Beamte möglicherweise LINKEN)
Fehler gemacht haben.
Herr Minister Jung, ich erinnere mich noch sehr gut
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des an die Tage zwischen dem 4. und dem 7. September die-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ses Jahres. Wir wissen, dass am 7. September, am Mon-
All dies weisen Sie weit von sich. tagabend, der Vorabbericht von ISAF im Ministerium
eingegangen ist, wohl auch auf dem Schreibtisch des be-
Es ist schon interessant, dass Frau Hoff aus der Frak- amteten Staatssekretäres gelandet ist. Sie können zwar
tion Ihres Koalitionspartners heute erklärt hat, falls Sie sagen: Das war nur ein Vorabbericht. – Da haben Sie
nicht die Wahrheit gesagt hätten, fordere sie Ihren Rück- recht. Dieser Vorabbericht enthält aber ziemlich dramati-
tritt. sche Indizien dafür, dass es eben leider auch zivile Opfer
(Elke Hoff [FDP]: Na, na, na! Das tut mir leid! gegeben hat. Am nächsten Morgen sitzen wir Obleute
Das ist nicht in Ordnung!) mit Ihnen drüben im Briefing-Raum zusammen, und Sie
sagen nach wie vor: Es hat keine zivilen Opfer gegeben.
– Frau Hoff, ich kann es vorlesen. – Für den Fall, dass Da wollen wir dann schon wissen: Haben Sie den Be-
Sie nicht informiert waren: Sie sagte sinngemäß: Wenn richt gelesen? Wurden Sie informiert? Ich frage auch
der Minister sein Haus nicht im Griff hat, erfordert auch weiter: Hatten Sie überhaupt Interesse daran,
dies Konsequenzen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
DIE GRÜNEN) LINKEN)
So ging das Zitat über den Ticker. Frau Kollegin Hoff, von den Soldaten und vom Generalinspekteur die Infor-
ich muss Ihnen sagen: Wo Sie recht haben, haben Sie mationen zu bekommen? Die Soldaten haben eine
recht. Bringschuld – die haben sie zweifellos –; aber der Minis-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 485
Rainer Arnold
(A) ter hat in so einer sensiblen, heiklen Lage auch eine Hol- Ich komme zum Schluss. Das eigentlich Tragische ist: (C)
schuld. Wir hatten manchmal den Eindruck, dass es eine Wir reden von Parlamentsarmee und meinen damit nicht
politische Strategie gab, auch ausdiskutiert in Ihrem nur unser parlamentarisches Recht, Soldaten in den Ein-
Umfeld, die im Grunde genommen darauf abgezielt hat, satz zu schicken, und das Parlamentsbeteiligungsgesetz,
die tragischen Ereignisse von dem Minister und seiner sondern wir verstehen im Kern unter Parlamentsarmee
Verantwortung möglichst weit fernzuhalten. Dies alles „Armee in der Demokratie“. Das heißt, Armee und deren
wollen wir morgen geklärt haben. Führung müssen transparent und beispielhaft sein beim
Umgang mit der Bundeswehr und den Problemen in der
Wir schauen darauf, wie der jetzige Minister mit die- Bundeswehr. Das ist unser Anspruch, und das ist der An-
sem Thema umgeht. Herr Minister zu Guttenberg, Sie spruch der deutschen Öffentlichkeit. Er wurde bisher
haben sehr schneidig den Generalinspekteur in die nicht erfüllt. Sie verspielen das allzu wichtige Vertrauen
Wüste geschickt, ihn gehen, ziehen lassen, und den in die Arbeit der Bundeswehr. Sie verursachen dies als
Staatssekretär zumindest in den Urlaub. Sie pflegen da- Verantwortlicher für die Kommunikation in den letzten
mit auch Ihr Image, tatkräftig und entscheidungsfreudig Wochen. Das finden wir schwierig, weil wir in diesen
zu sein. Gelegentlich würden wir uns allerdings wün- Tagen sehr ernste Einsatzentscheidungen treffen müssen.
schen, dass in solch einer Situation auch ein bisschen Das lastet auf all diesen Diskussionen. Dies bedauern
Demut aus Ihren Aktionen ins Spiel kommt, wir. Sie sollten das korrigieren.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das sagen Herzlichen Dank.
gerade Sie!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Demut vor der Komplexität und der großen Verantwor- DIE GRÜNEN)
tung in diesem Amt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Petra Pau:
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDP-
Fraktion.
Es geht nicht nur um schöne Bilder, Herr zu Guttenberg,
sondern es geht vor allem um einen verantwortlichen (Beifall bei der FDP)
Umgang. Das ist das Erste. Die schönen Bilder – jeder
von uns sieht sich ja gerne in der Zeitung – dürfen das Elke Hoff (FDP):
Zweite sein, aber nicht das Erste. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Arnold, es
Herr Minister zu Guttenberg, Sie haben heute zum
(B) ersten Mal eingeräumt, dass Sie möglicherweise ein hätte sicherlich hervorragend in Ihre Argumentation ge- (D)
passt, wenn diese Pressemeldung, auf die Sie sich bezo-
bisschen zurückrudern werden, falls der Feldjägerbericht
gen haben, nicht wenige Minuten nach Erscheinen korri-
neue Erkenntnisse bringt. Ich sage Ihnen: Wer den ISAF-
giert worden wäre, weil genau dieser Satz, den Sie in
Bericht sorgfältig liest, stellt fest, dass der Feldjägerbe-
dieser Form interpretiert haben, so nicht gesagt wurde.
richt keine neuen Erkenntnisse bringt. Wer den ISAF-
Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Ich finde, man sollte
Bericht sorgfältig liest, darf auch nicht zu Ihrer Einschät-
auch hier im Plenum so viel Fairness besitzen, darauf
zung kommen, Herr zu Guttenberg, und am Ende sagen:
aufmerksam zu machen.
Da wurden zwar Fehler gemacht, aber das Falsche erklä-
ren wir jetzt als richtig. Es wurden Fehler gemacht, nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
nur Verfahrensfehler. Diese Fehler haben tragische Aus- Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
wirkungen gehabt. Ich erwarte vom Verteidigungsminis- Das passt zu den Sozis! Das war wieder mal
ter, dass er sich dieser Verantwortung stellt und nicht der die Vermischung von Wahrheit und Unwahr-
deutschen Öffentlichkeit erklären will, dieser Einsatz sei heit! So sind sie!)
angemessen und verhältnismäßig gewesen. Es war nicht
angemessen, ohne Gefahr im Verzug Luftunterstützung Ich stimme Ihren Ausführungen insofern zu, Herr
anzufordern. Dies besagen die NATO-Regeln eindeutig. Kollege Arnold, als es sich hier um einen sehr ernsten
Es ist auch nicht angemessen und verantwortbar, auf Sachverhalt handelt. Ich glaube, dass es für einen Sicher-
eine große Menschenansammlung schwere Bomben zu heitspolitiker sicherlich angenehmere Minuten gibt, als
werfen, weil das Risiko, dass Unschuldige zu Tode kom- über das Thema zu diskutieren, mit dem wir uns hier
men, latent ist. Leider hat die Nacht dies auf grausame auseinandersetzen müssen. Aber ich warne auch davor
Weise bestätigt. – davor sollten wir uns hüten; ich glaube, das habe ich
und das hat auch unser Außenminister heute Vormittag
Herr Minister zu Guttenberg, ich glaube, auch Sie deutlich gemacht –, der Öffentlichkeit vor einer lücken-
sollten die Chance nutzen, morgen im Verteidigungsaus- losen Aufklärung der Fakten im Deutschen Bundestag
schuss Ihre Position nochmals zu überdenken. Auch hier Vorverurteilungen kundzutun. Wir sind nicht das Tribu-
gilt: Wenn dies nicht geschieht, muss das Parlament mit nal, das darüber zu entscheiden hat, was in Kunduz im
seiner parlamentarischen Waffe „Untersuchungsaus- Einzelnen vorgefallen ist. Das ist eine Aufgabe, die zur-
schuss“ nachvollziehen, wie Sie zu dieser Entscheidung zeit wichtig ist, die wir aber wirklich in der gebotenen
kommen können, wenn fast alle, die diesen Abschluss- Ruhe und angemessenen Reihenfolge angehen sollten.
bericht geschrieben und gelesen haben, dies anders be- Auch meine Fraktion hat ein Interesse an einer lückenlo-
werten. Dies ist insgesamt ein sehr ernster Vorgang. sen Aufklärung, vor allem im Interesse der Bundeswehr,
486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Elke Hoff
(A) vor allem im Interesse der Soldatinnen und Soldaten, die (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C)
im Auslandseinsatz sind. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich habe mir heute – erlauben Sie mir an dieser Stelle
bitte diese persönliche Bemerkung – natürlich auch die Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, mit wel-
Frage gestellt: Was denken unsere Soldatinnen und Sol- cher Salamitaktik wir Schritt für Schritt informiert wor-
daten in Kunduz über diese Debatte, die wir jetzt führen den sind und dass das ziemlich unerträglich war. Aber es
müssen? Es ist unser Anliegen, gemeinsam mit der Bun- kommt noch etwas anderes hinzu: Sie selbst haben die
desregierung so schnell wie möglich dafür zu sorgen, Situation der Staatsanwaltschaft ungeheuer erschwert,
dass es eine transparente Aufarbeitung dieses Sachver- Herr Jung, weil Sie immer bestritten haben, dass dort ein
haltes gibt. Ich freue mich, dass wir morgen früh im Ver- Krieg stattfindet. Wenn dort kein Krieg stattfindet, dann
teidigungsausschuss ein umfassendes Briefing der Bun- gilt auch kein Völkerrecht und kein Kriegsrecht. Dann
desregierung bekommen werden. gilt das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutsch-
land. Sie konnten niemals im Ernst davon ausgehen, dass
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine Notwehrsituation vorlag, als die Menschen getötet
NEN]: Wir bekommen ein Briefing? Wir sind worden sind.
doch keine Befehlsempfänger! Wieso bekom-
men wir von der Bundesregierung ein Brie- (Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister: Das
fing? – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es gilt doch für jedes Mandat!)
geht doch nicht um ein Briefing! Das ist ja
– Nein. – Wissen Sie, Herr Jung, manchmal ist es so:
ganz was Neues!)
Man will aus bestimmten Gründen einen bestimmten
Ich hoffe sehr, dass dann keine weiteren Fragen mehr of- Begriff nicht verwenden und richtet nur noch größeren
fen sind. Sollten wir zu dem Ergebnis kommen, dass Schaden an, weil man es nicht zugibt. Es ist nichts ande-
Fragen noch nicht beantwortet sind, Herr Kollege res als Krieg; denn es wird geschossen und auch getötet.
Arnold, und Sie den Vorschlag machen, dass ein Unter- (Beifall bei der LINKEN)
suchungsausschuss einzusetzen ist, dann wird sich, wie
ich glaube, keine Fraktion hier im Hause diesem Anlie- Aber auch nach dem Völkerrecht war das natürlich nicht
gen verschließen. legitim, weil Zivilpersonen zu schützen sind. Hier gibt es
klare Vorgaben wie „Gefahr im Verzug“ und vieles an-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dere mehr, was hätte bedacht werden müssen. Das ist das
NEN]: Keine? Dann würde die Kanzlerin aber Erste.
nicht amüsiert gucken!)
(B) Das Zweite ist: Als Bundesminister sind Sie ver- (D)
Insofern bitte ich an dieser Stelle darum, dass wir ge- pflichtet, in einem Ermittlungsverfahren sämtliche Un-
meinsam eine saubere Aufarbeitung dieses Vorganges terlagen zur Verfügung zu stellen, damit die Staats-
durchführen. Wenn es am Ende der Reise Ergebnisse anwaltschaft tatsächlich ermitteln kann. Sie haben heute
gibt, dann sollten wir darüber in den dafür zuständigen mit keinem Satz erklärt, warum das nicht geschehen ist.
Gremien und natürlich auch im Deutschen Bundestag Die Antwort darauf sind Sie uns nach wie vor schuldig.
diskutieren.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Herr Minister zu Guttenberg, ich freue mich sehr auf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ihre Aufklärung morgen früh. Herr Minister Dr. Jung,
wir als FDP-Fraktion nehmen Ihre Ausführungen in der Ich habe gelesen, was heute in der Bild-Zeitung stand.
hier vorgetragenen Form zur Kenntnis. Wenn ich mir eine kritische Bemerkung gestatten darf:
Herr zu Guttenberg, wieso immer dieser Weg? Warum
Vielen Dank. können Sie nicht einfach vor die Presse treten und das
erklären? Warum muss erst dafür gesorgt werden, dass
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
eine Information an die Bild-Zeitung geht und die Bild-
der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der
Zeitung das veröffentlicht, bevor Sie Stellung nehmen?
SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
Warum gehen Sie nicht von selbst den Weg, zu sagen:
DIE GRÜNEN)
„Das und das habe ich als neuer Minister festgestellt, das
wird offengelegt, und das ist jetzt zu korrigieren“?
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi für die (Beifall bei der LINKEN – Dr. Hans-Peter
Fraktion Die Linke. Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Wenn Sie heute
Morgen hier gewesen wären, wüssten Sie das!)
(Beifall bei der LINKEN)
Ich habe den Artikel gelesen. Die entscheidenden Fra-
gen haben Sie nicht beantwortet, Herr Jung: Haben Sie
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): die Videos gesehen? Wenn nicht: Warum sind sie nicht
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und an die Staatsanwaltschaft gegeben worden? Sie haben
Herren! Ich habe jetzt gehört, an wen man alles denken nun von einem Feldjägerbericht mit 42 Anlagen gespro-
muss. Ich finde das auch richtig, füge aber hinzu: Viel- chen. Sie haben gesagt – ich habe Sie doch richtig ver-
leicht sollten wir zuerst einmal an die bis zu 142 Toten standen? –, Sie hätten ihn freigegeben, ohne ihn gelesen
denken, die es dort am 4. September 2009 gegeben hat. zu haben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 487
Dr. Gregor Gysi
(A) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
GRÜNEN]: Das hat er gesagt! – Hartwig Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gene-
Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wo waren ralinspekteur Wolfgang Schneiderhan ist zurückgetreten.
Sie eigentlich heute Morgen? Da ist das alles Er hat damit Verantwortung für einen Fehler übernom-
erörtert worden! Das ist eine Frechheit!) men. Ich finde, wir sollten Herrn Schneiderhan unseren
Respekt dafür nicht versagen.
– Moment! – Ich habe dazu eine Frage: Wie können Sie
etwas freigeben, was Sie nicht einmal gelesen haben? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- LINKEN)
NEN]: Das muss man erstmal bringen!)
Dieser Generalinspekteur stand in vieler Hinsicht für die
Nach welchen Kriterien geben Sie denn etwas frei? Das Haltung: Schutz der Soldaten und der Zivilistinnen und
möchte ich gerne wissen. Zivilisten. Ich kann für meine Fraktion sagen: Wir haben
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Einsätzen in vielen Fällen eher trotz Ihnen, Herr Jung,
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- zugestimmt, weil es diesen Generalinspekteur gegeben
ten der SPD) hat.

Meine zweite Frage: Wenn Sie den Bericht freigeben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
warum geben Sie ihn nicht der Staatsanwaltschaft? Auch sowie bei Abgeordneten der SPD)
darauf ist hier keine Antwort erfolgt. Das geht nicht. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie heute die gleiche
Ich sage Ihnen: Ich kenne schwierige Situationen, und mannhafte Courage an den Tag legen und die gleiche
ich weiß, wie sich das hinzieht. Ich möchte im Augen- Konsequenz ziehen und für diesen Fehler zurücktreten.
blick nicht in Ihrer Rolle stecken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
(Zuruf von der CDU/CSU: Das werden Sie
LINKEN)
auch nie!)
Sie haben – ob wissentlich oder unwissentlich – ge-
Ich weiß, wie unangenehm das ist. – Nein, verstehen Sie: genüber der deutschen Öffentlichkeit und diesem Deut-
Ich sehe durchaus auch den Menschen, Sie nicht, aber schen Bundestag faktisch die Unwahrheit gesagt; das
ich schon. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir in ers- können wir heute feststellen.
ter Linie die Toten sehen müssen. Herr Jung, Sie kom-
men sowieso nicht umhin, die Konsequenzen zu ziehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) Ziehen Sie es nicht in die Länge! Das hilft Ihnen nicht. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (D)
der SPD)
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Wir wissen, dass bereits am Abend des 4. September,
ten der SPD) vor dem Bombardement, bekannt war, dass die Taliban
Zivilisten an den Tatort beordert hatten, und wir wissen,
Ich weiß auch nicht: Wer war denn noch informiert? dass bereits wenige Stunden nach diesem Bombarde-
Frau Bundeskanzlerin, haben Sie davon gewusst? Ich ment im Einsatzführungskommando in Potsdam Infor-
weiß es nicht. Warum erfolgen keine Stellungnahmen? mationen vorlagen, wonach es mehrere Patienten im Al-
Das wäre doch wohl das Mindeste. – Hören Sie zu! Das ter von 10 bis 20 Jahren gegeben hat, die verletzt waren,
ist doch ein außergewöhnlicher Vorgang: Durch den und dass es zwei Leichen im Teenageralter gegeben hat.
Befehl eines Soldaten der Bundeswehr sind bis zu All dies war im Einsatzführungszentrum in Potsdam am
142 Menschen gestorben; aber man erfährt so gut wie 5. September bekannt. Was erklärte der Bundesverteidi-
nichts und wenn, dann immer nur ein kleines Stückchen. gungsminister am 6. September in der Bild am Sonntag?
Das geht einfach nicht. Die deutsche und die internatio- Er erklärte – wörtliches Zitat –, es seien „ausschließlich
nale Öffentlichkeit haben einen Anspruch auf Aufklä- terroristische Taliban getötet worden“. Herr Jung, Sie
rung; diesen Anspruch sollten Sie befriedigen. haben an dieser Stelle die Unwahrheit gesagt.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei der SPD und der LINKEN)
Glauben Sie mir, Herr Jung: Sie werden letztlich Sie haben an einem weiteren Punkt auch in diesem
keine andere Wahl haben. Ziehen Sie am besten gleich Parlament die Unwahrheit gesagt. Sie haben erklärt, es
die Konsequenzen! Das ist in unserem Interesse, aber habe zwei Quellen gegeben, die aufgeklärt hätten und an
auch in Ihrem. dieser Stelle erklärt hätten, hier seien keine Menschen in
Gefahr. Die Wahrheit ist: Bereits am 6. September, zwei
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Tage vor der Bundestagsdebatte, hat die NATO festge-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
stellt, dass es anhand der Bilder des Videos unmöglich
sei, die Aussagen des Informanten, von dem wir heute
Vizepräsidentin Petra Pau: wissen, dass er keinen Kontakt vor Ort hatte, zu bestäti-
Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin für die Frak- gen. Das heißt, dieser Befehl ist entgegen den öffentlich
tion Bündnis 90/Die Grünen. zugänglichen Einsatzregeln erfolgt. Auch in diesem
488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Jürgen Trittin
(A) Punkt haben Sie, Herr Jung, diesem Parlament die Un- Wenn man sich dieses Video anschaut, dann bestätigt (C)
wahrheit gesagt. sich auch eine weitere schlimme Tatsache, nämlich dass
entgegen der Frage der Piloten angeordnet worden ist,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN direkt zwischen die beiden Tanklastzüge zu zielen: dort-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- hin, wo auf dem Video die Menschen zu erkennen sind.
KEN)
Meine Damen und Herren, Frau Bundeskanzlerin,
Es wäre daher gut gewesen, wenn Sie heute die Kon- Herr Bundesverteidigungsminister, das ist nicht Schutz
sequenz gezogen hätten. Stattdessen haben Sie sich er- der Zivilbevölkerung; das ist Vorsatz, und das können
neut verstrickt. Sie haben gesagt, Anfang Oktober – der wir in diesem Lande nicht dulden. Das geht nicht. Damit
Hinweis vom Kollegen Gysi ist richtig – hätten Sie einen desavouieren Sie auch die Arbeit der Bundeswehr, die
Bericht freigegeben. Ich sage Ihnen: Diese Feldjägerbe- sie in Afghanistan macht.
richte sind keine Geheimakten; sie sind „VS – Nur für
den Dienstgebrauch“. An dem Tag, an dem Sie diesen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Feldjägerbericht an die NATO weitergeleitet haben, hät- bei der SPD und der LINKEN)
ten Sie veranlassen müssen, dass dieser Bericht diesem
Parlament, seinem Verteidigungsausschuss und seinem Vizepräsidentin Petra Pau:
Auswärtigen Ausschuss sofort und unmittelbar ebenfalls Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Andreas
zur Verfügung gestellt wird. Sie haben hier nicht nur die Schockenhoff für die Unionsfraktion.
Unwahrheit gesagt. Sie haben uns alle hinter die Fichte
geführt, und das gehört sich nicht in einer Demokratie. Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
gen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt Bundes-
bei der SPD und der LINKEN)
minister Jung für die klare Stellungnahme.
Ja, wir wollen das jetzt aufgeklärt sehen. Liebe Frau (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Kollegin Hoff, ich habe mit großem Interesse gehört, Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem
dass Sie sich für eine lückenlose Aufklärung ausgespro- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Christian
chen haben. Ich freue mich schon darauf, wenn morgen Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf-
Nachmittag die Entscheidung ansteht. Ich weiß nicht, ob hören! – Zuruf von der SPD: Unverschämt-
Sie angesichts der Praxis von Herrn Jung noch Hoffnung heit!)
haben, dass morgen eine lückenlose Aufklärung erfolgt.
Ich freue mich aber schon darauf, dass Sie sich gemein- Er hat das Notwendige zur Entkräftung des Vorwurfs ge-
(B) sam mit uns mit dafür einsetzen werden, dass diese Fak- sagt, er habe wissentlich oder wahrheitswidrig ihm vor- (D)
ten mit den Mitteln des Parlamentes, weil auf diese Exe- liegende Informationen verschwiegen.
kutive kein Verlass ist, aufgeklärt werden, und dass Sie (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
sich mit uns dafür einsetzen werden, dass sich der Ver- GRÜNEN]: Herr Dr. Schockenhoff!)
teidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss konsti-
tuiert. Heute Morgen hat der Bundesminister der Verteidi-
gung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, absolute Transparenz und Offenheit bei der Information
bei der SPD und der LINKEN) gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit für ihn
oberste Priorität haben. Dies begrüßen wir außerordent-
Liebe Frau Bundeskanzlerin, lieber Kollege zu lich; denn nur das ermöglicht, dass die Soldatinnen und
Guttenberg, ich finde, Sie hätten an dieser Stelle allen Soldaten der Bundeswehr für ihren Einsatz in Afghanis-
Grund gehabt, sich hier zu erklären. Frau Bundeskanzle- tan den Rückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern fin-
rin, Sie haben uns gegenüber in der Regierungserklärung den, auf den sie einen Anspruch haben.
gesagt, Sie bedauerten das; wenn dort unschuldige Men-
schen zu Tode gekommen seien, dann entschuldigten Sie Wo diese Vorgabe der Transparenz und Offenheit
sich. nicht befolgt wird, müssen Konsequenzen gezogen wer-
den.
Herr zu Guttenberg ist aber so weit gegangen, nicht
nur zu sagen, das sei militärisch angemessen und ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hältnismäßig gewesen. Sie haben sich sogar zu der For- sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael
mulierung verstiegen, dieser Angriff sei unabweisbar Groschek [SPD]: Dann fangt mal an!)
gewesen. Ich zitiere dies jetzt nur aus öffentlich zugäng- Deswegen war es folgerichtig, dass der Bundesminister
lichen Quellen der NATO und aus dem im Internet für der Verteidigung heute unmittelbar nach Bekanntwerden
jedermann anzusehenden Film. Ich frage Sie, warum und Prüfung der ihm bisher nicht bekannten Berichte die
diese Piloten, wenn es unabweisbar war, fünfmal gefragt Bitte des Generalinspekteurs, ihn von seinen Dienst-
haben: Sollen wir keinen Tiefflug machen, um die dort pflichten zu entbinden, angenommen und den verant-
versammelten Menschen vor dem zu warnen, was gleich wortlichen Staatssekretär entlassen hat.
passiert?
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, NEN – Michael Groschek [SPD]: Nebelwerfe-
bei der SPD und der LINKEN) rei!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 489
Dr. Andreas Schockenhoff
(A) Die Aufklärung der Hintergründe dieses komplexen Will er nach der Reform der Jobcenter auch sagen, dass (C)
Vorgangs liegt in unserem unbedingten Interesse. Vor al- er es nicht besser gewusst hat?
lem hat auch Bundesminister Jung einen Anspruch da-
rauf. Komplex zwei. Wusste Minister zu Guttenberg, als er
sich öffentlich äußerte, eigentlich alles? Ich komme auf
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Frage, weil sich der Fraktionschef der Union, Kol-
NEN) lege Kauder, heute wie folgt geäußert hat – ich zitiere
aus Spiegel Online –:
Sollten die Oppositionsfraktionen nach der morgigen
Sitzung des Verteidigungsausschusses und nach der Aus- Ich gehe mal davon aus, wenn man es dem Herrn zu
sprache über den Bericht von Bundesminister zu Guttenberg nicht vorgelegt hat, obwohl der sich bei
Guttenberg einen Untersuchungsausschuss für erforder- Dienstantritt zu diesen Vorgängen ja geäußert hat,
lich halten, ist die CDU/CSU-Fraktion damit sehr ein- dass es dem Herrn Jung auch nicht vorlag.
verstanden.
Das Ganze also anders herum.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Bartels, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lindner?
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels für
die SPD-Fraktion. Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Gerne.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Herr Kollege, der damalige Minister des Auswärtigen
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! war der Kollege Steinmeier. Wollen Sie uns bitte darle-
Die Beredsamkeit der Redner der Koalitionsfraktionen gen, was der Kollege Steinmeier damals in seiner Funk-
spricht Bände. tion als Bundesaußenminister wusste,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) CDU/CSU)
Ich stimme der Kollegin Hoff zu. Das kann man erst ein- welche Berichte er sich hat vorlegen lassen und wie er (D)
(B)
mal nur zur Kenntnis nehmen. Ich stimme zu, dass man als Minister des Auswärtigen seiner Holschuld in Bezug
nur sehr kurz sagen kann: Wenn etwas aufzuklären ist, auf Afghanistan nachgekommen ist?
dann muss es aufgeklärt werden. Da gibt es offenbar bei
den Regierungsfraktionen ein ähnliches Informationsbe- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
dürfnis wie bei uns. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ablenkungsma-
növer!)
Es wird um vier Komplexe gehen. Erstens. Warum
hat Minister Jung Informationen, die die Bundeswehr
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
besaß, verschwiegen und einen falschen Eindruck er-
weckt? Die Faktenlage ist durchaus so, dass es in dem Herr Kollege, „Holschuld“ ist ein prima Stichwort.
Umfeld des Interviews, das die Bild-Zeitung heute zitiert Als Minister, der für die Bundeswehr zuständig ist, hat
hat, in dem er sagt, dass nur Terroristen getroffen wur- man, wenn ganz Deutschland über einen solchen Vorfall
den, bereits andere Informationen gab, etwa der NATO. diskutiert, eine Holschuld,
Der NATO-Pressesprecher von ISAF hat Krankenhäuser (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
besucht und sich dabei fotografieren lassen. Am DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
6. September war das in allen Zeitungen Deutschlands LINKEN)
zu lesen. Das sind doch Informationen, die allen zugäng-
lich sind, Herr Minister. in seinem eigenen Haus mitzubekommen, was passiert
ist. Ich denke, dann wird man auch die Kollegen in der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bundesregierung informieren. Das ist offensichtlich
Die Antwort kann nur lauten: Entweder wusste er es nicht geschehen. Er sagte, er sei selbst nicht informiert
besser, aber es passte ihm nicht ins Konzept – damals gewesen.
waren Wahlkampfzeiten –, Uns interessiert, was Minister zu Guttenberg gewusst
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) hat, was der Kollege Jung nicht gewusst hat – das war
Wochen später –, und was er sich hat vorlegen lassen, als
oder er wusste es nicht besser. Aber dann hatte er sein er sich öffentlich äußerte.
Ministerium nicht im Griff. Warum soll er jetzt ein ande-
res Ministerium ruinieren? Komplex drei. Wenn das alles so nachvollziehbar ist,
wie Sie das vorgetragen haben, Herr Minister Jung: Wa-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem rum mussten dann heute der Generalinspekteur und der
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Staatssekretär Wichert entlassen oder beurlaubt werden?
490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Dr. Hans-Peter Bartels


(A) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem und nach scheibchenweise herauskommt, was in der (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bundeswehr an Informationen vorhanden war. Wir wer-
den morgen früh im Verteidigungsausschuss und ver-
Wir haben heute nicht gehört, welche Fehler diesen bei- mutlich auch danach in einer Sonderveranstaltung eini-
den Spitzenleuten des Ministeriums vorgeworfen wer- gen Informationsbedarf haben.
den. Sind sie Bauernopfer?
Vielen Dank.
Komplex vier. Der Generalinspekteur und der Bun-
desminister zu Guttenberg haben sich durchaus unter- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schiedlich – Kollege Trittin hat das zitiert – zu dem Vor- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
fall im Kunduz-Fluss geäußert. Ich zitiere Minister zu LINKEN)
Guttenberg aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
– das entscheidende Wort einer langen Stellungnahme Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
lautet „müssen“ –: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Rainer Stinner von der FDP-Fraktion
Selbst wenn es keine Verfahrensfehler gegeben das Wort.
hätte, hätte es zu dem Luftschlag kommen müssen.
(Beifall bei der FDP)
Das hat der Generalinspekteur dezidiert anders darge-
stellt. Er spricht nicht von „müssen“. Er sagt in Solidari-
tät mit den Kameraden in Afghanistan: Die Lage war so, Dr. Rainer Stinner (FDP):
dass es möglicherweise angemessen gewesen sein kann. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
Nicht „müssen“! Welche Informationen haben Sie denn gen! Ohne jeden Zweifel beschäftigt uns dieses Thema
gehabt, als Sie sagten, dass dieser Luftschlag hätte statt- in einer kritischen Situation, nämlich der Diskussion
finden müssen, Herr zu Guttenberg? Der NATO-Unter- über die Verlängerung von Afghanistan-Mandaten. Ohne
suchungsbericht gibt dafür wahrscheinlich nicht die jeden Zweifel haben wir es mit einem sehr gravierenden
Grundlage her. Zu diesem Schluss käme man, wenn man Vorgang zu tun, nämlich der Fragestellung: Wann sind
welche wichtigen Informationen bei wem angekommen,
ihn kennen würde. Er ist aber geheim. Insofern reden wir
und wie sind sie verarbeitet worden?
sozusagen unter Einäugigen.
Wir als Parlament haben selbstverständlich die Auf-
(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wir reden gabe, diese Fragen zu stellen und aufzuklären. Diejeni-
geheimnisvoll!) gen, die mich kennen, wissen, dass ich in den letzten vier
– Niemand will Geheimnisse verraten. – Es ist aber kein Jahren im Verteidigungsausschuss sehr wohl das Infor-
(B) Geheimnis, wenn ich sage, dass der Eindruck, der öf- mationsverhalten des Verteidigungsministeriums des Öf- (D)
fentlich erweckt wird, durch den NATO-Untersuchungs- teren – um es höflich auszudrücken – problematisiert
bericht meiner Meinung nach nicht gedeckt ist. Da geht habe.
es nicht um „müssen“, sondern um Fehler, die gemacht (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da
worden sind und die abzustellen sind, sowie um Vor- waren Sie auch in der Opposition!)
schläge, wie man sie abstellen kann. Die NATO kritisiert
das, was Sie rechtfertigen. Deswegen stehe ich nicht dafür, dass wir hier in ir-
gendeiner Weise etwas vertuschen. Gerade angesichts
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Diskussion, die wir diese und nächste Woche führen
DIE GRÜNEN) und für die wir gegenüber der Öffentlichkeit und gegen-
über unseren Soldatinnen und Soldaten Verantwortung
Herr Minister Jung, es ist richtig – auch Kollege Gysi
tragen, plädiere ich sehr nachdrücklich dafür, dass wir
hat darauf hingewiesen –: Man muss nicht alles wissen.
uns nicht vorschnellen oppositionellen Empörungsrefle-
Man kann in einem so riesigen Verantwortungsbereich xen – die ich verstehen kann – hingeben.
auch nicht alles wissen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)
NEN]: Das muss man wissen!)
Ich bitte Sie allerdings, daran zu denken: Was richten Sie
Aber in einer Zeit, in der ganz Deutschland im Wahl- mit vorschnellen Urteilen an? Ich habe nichts gegen end-
kampf tagelang über die Frage diskutiert: „Was ist da ei- gültige Urteile. Die Fraktion der FDP wird sich dem Ur-
gentlich gewesen?“, ist es die verdammte Pflicht und teil und den Fakten, die eines Tages herausgefunden
Schuldigkeit des Inhabers der Befehls- und Kommando- werden, mit Sicherheit stellen. Wir werden einem Unter-
gewalt, sich selbst aktiv darüber schlau zu machen, was suchungsausschuss zustimmen, wenn das die Mehrheit
die Bundeswehr und sein Haus darüber wissen. im Ausschuss will und wenn Klärung anders nicht
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ erreicht werden kann. Ich plädiere aber nachdrücklich
dafür, dass wir erst dann, wenn die Untersuchung abge-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
schlossen ist, Bewertungen vornehmen und die politi-
LINKEN)
schen Konsequenzen ziehen. Sonst tun wir unseren Sol-
Es ist dann das Recht des Parlaments – auch wenn daten und unserem Volk einen schlechten Dienst.
Wahlkampf ist und man nicht mehr regelmäßig zusam- Herzlichen Dank.
menkommt –, zu erfahren, was Sie wissen. Es ist armse-
lig, wenn Sie sagen, Sie haben nichts gewusst, und nach (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 491

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gung an Operation Enduring Freedom am Horn von (C)
Ich schließe die Aussprache. Afrika und gegebenenfalls eine Überführung der bisher
im Rahmen von OEF am Horn von Afrika eingesetzten
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Kräfte in eine gemeinschaftliche Mission zur Piraterie-
Beratung des Antrags der Bundesregierung bekämpfung überprüfen. Die Beteiligung an Operation
Active Endeavour bleibt hiervon unberührt. Das werden
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut-
wir mit der gebotenen Zeit und Ruhe tun, die einer Bun-
scher Streitkräfte bei der Unterstützung der
desregierung, die nicht einmal einen Monat im Amt ist,
gemeinsamen Reaktion auf terroristische An-
naturgemäß bisher nicht zur Verfügung stand. Wir wer-
griffe gegen die USA auf Grundlage des Arti-
den diese Überprüfung in engem Austausch mit unseren
kels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
Partnern und Verbündeten vornehmen. Unverkennbar ist
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
– bei allen Risiken durch den internationalen Terroris-
sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373
mus, die fortbestehen –, dass sich der Schwerpunkt der
(2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Natio-
maritimen Gefährdung am Horn von Afrika in den letz-
nen
ten Jahren immer stärker in Richtung Piraterie verlagert
– Drucksache 17/38 – hat. Das hat dieses Hohe Haus nun wirklich schon mehr-
Überweisungsvorschlag: fach beschäftigt. Das ist der Grund, warum wir, wie be-
Auswärtiger Ausschuss (f) reits in der Vergangenheit geschehen, deutsche Kräfte,
Rechtsausschuss die bei OEF eingesetzt sind, bei Bedarf der EU-Piraterie-
Verteidigungsausschuss bekämpfungsoperation Atalanta unterstellen werden.
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Wie wir haben auch andere bislang an OEF beteiligte
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Staaten, auch die USA, ähnliche Schlüsse aus der verän-
derten Bedrohungslage am Horn von Afrika gezogen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Sie setzen ihre im Seegebiet vorhandenen Kräfte seit
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- Anfang 2009 fast ausschließlich zur Pirateriebekämp-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- fung ein. Die Bundesregierung wird diese Entwicklung
schlossen. in den nächsten Monaten aufmerksam weiterverfolgen
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejeni- und im Lichte neuer Erkenntnisse die weitere deutsche
gen, die der Aussprache nicht beiwohnen wollen, den Beteiligung an OEF am Horn von Afrika überprüfen.
Plenarsaal zu verlassen, damit die anderen den Rednern Bei dieser Überprüfung ist auch unser Afghanistan-
in Ruhe folgen können. Engagement zu berücksichtigen, dessen Verlängerung
(B) der Deutsche Bundestag heute Vormittag debattiert hat. (D)
Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile als erstem Selbstverständlich wird die Bundesregierung in diese
Redner dem Bundesminister Dr. Guido Westerwelle das Evaluation des OEF-Einsatzes auch die Punkte einbrin-
Wort. gen, die aus der heutigen Debatte und aus weiteren Bera-
(Beifall bei der FDP) tungen erwachsen. Ebenso selbstverständlich ist, dass
die Bundesregierung den Deutschen Bundestag umge-
hend über das Ergebnis der Evaluierung unterrichten
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- wird.
wärtigen:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Für die Bundesregierung bitte ich um Ihre Zustim-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung des mung zu unserem Antrag und zu den skizzierten weite-
Terrorismus ist nicht alleine eine militärische Aufgabe, ren Verfahren. Ich bitte trotz der verständlichen Debatte
erforderlich ist ein umfassender politischer Ansatz. Das von eben, dass auch diesem wichtigen außenpolitischen
OEF-Mandat, um das es jetzt geht, ist nur noch ein Fak- Punkt entsprechende Aufmerksamkeit in diesem Hohen
tor in unseren Gesamtbemühungen. Seit der ersten Man- Hause gewidmet wird.
datierung von OEF im Jahr 2001, damals unter dem Vielen Dank.
unmittelbaren Eindruck der Terroranschläge des
11. September, wurde die Beteiligung der Bundeswehr (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
an OEF schrittweise reduziert. Bereits im letzten Jahr ist
die Schwerpunktverlagerung bei den militärischen Ope- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
rationen in Afghanistan – weg von OEF, hin zu ISAF – Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold von der
auch in unserem Bundestagsmandat, das hier beschlos- SPD-Fraktion.
sen worden ist, nachvollzogen worden. Unsere Aktivitä-
ten unter dem OEF-Mandat beschränkten sich seitdem
Rainer Arnold (SPD):
auf die Beteiligung der deutschen Marine an der See-
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
raumüberwachungsoperation am Horn von Afrika und
sozialdemokratische Bundestagsfraktion bleibt im Be-
dem Einsatz im Mittelmeer im Rahmen der NATO-ge-
reich der Außen- und Sicherheitspolitik in der Kontinui-
führten Operation Active Endeavour.
tät der Verantwortung; wir haben dies heute diskutiert.
Die Bundesregierung wird spätestens bis zum Dies gilt für Afghanistan. In einer schwierigen Entschei-
Sommer 2010, also bis zum Sommer des nächsten Jah- dung stehen wir zu der Notwendigkeit des Mandates.
res, die Notwendigkeit der weiteren deutschen Beteili- Wir haben das beim Thema Libanon vor wenigen Minu-
492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Rainer Arnold
(A) ten nochmals bestätigt, und zwar eher mehr als der Au- Vergangenheit weitermachen. Dies ist nicht unser An- (C)
ßenminister, weil wir die politische Dimension des Auf- satz, auch aus sehr grundsätzlichen Erwägungen.
trages im Libanon sehen. Auch bei OEF bleiben wir in
unserer Kontinuität, wenn wir sagen: Dieser Einsatz Ich glaube, der Einsatz bewaffneter Streitkräfte im
sollte nicht verlängert werden. Kampf gegen Terror erweist sich zunehmend als Irrweg.

(Beifall bei der SPD) (Katrin Werner [DIE LINKE]: Hört! Hört! –
Heike Hänsel [DIE LINKE]: Da habt ihr aber
Bereits in der Debatte vor einem Jahr haben wir in lange gebraucht!)
komplizierten Diskussionen erreicht, dass wenigstens
die Komponente von OEF an Land nicht mehr manda- – Langsam, langsam. Ich bin noch nicht fertig. Die Kol-
tiert wurde. Schon damals hätten wir gern gehabt, dass legen von der Linken müssen schon bis zum Ende zuhö-
das OEF-Mandat hinsichtlich der Seekomponente am ren. – Über diesen Einsatz findet so langsam auch in den
Horn von Afrika ausläuft. Dies ist nicht gelungen, weil Vereinigten Staaten eine Diskussion statt. Wir wissen, es
Verteidigungsminister Jung und die CDU in der Koali- gibt eine Parallele zum Afghanistan-Einsatz, aus dem
tion diesen Weg nicht mitgegangen sind. Jetzt ist es aber wir uns aus guten Gründen zurückziehen werden. Die
an der Zeit, noch einmal genau zu schauen: Was ist OEF eindeutig von der UNO mandatierte ISAF-Mission ist
wirklich, und was macht dort noch Sinn? wichtig: Sie ist dazu da, den Afghanen zu helfen, ihr
Land zu stabilisieren, wirtschaftlich voranzubringen, für
Wir möchten daran erinnern, dass dies eben kein Ein- medizinischen Fortschritt und Bildung zu sorgen. All
satz ist, der NATO- oder UNO-geführt ist, sondern dass dies ist richtig, und auch da ist es auf Dauer nicht klug,
das eine Koalition der Willigen ist, die in verschiedenen wenn parallel dazu eine Mission wie die OEF stattfindet,
Erdteilen Terror bekämpfen soll. Da ist eines natürlich die im Grunde genommen auch für uns nicht ausrei-
ganz deutlich: Die Legitimation des Kampfes gegen den chend transparent ist. Darüber haben wir immer wieder
Terror, die damals, vor neun Jahren, darauf basiert hat, diskutiert. Deshalb waren wir sehr dankbar, dass der Au-
dass man gesagt hat: „Nach Art. 51 der UN-Charta hat ßenminister letztes Jahr erreicht hat, dass unsere Beteili-
jedes Land das Recht, sich allein oder kollektiv zu ver- gung an dem Teil der OEF-Mission, die sich auf Afgha-
teidigen“ – die Anschläge in New York und Washington nistan erstreckt, gestrichen wurde. Deshalb sind wir sehr
waren ein Angriff –, schwindet natürlich im Laufe der dafür, dass wir uns auch nicht mehr am Horn von Afrika
Jahre. Das Eis der völkerrechtlichen Begründung wurde an dieser Mission beteiligen.
von Jahr zu Jahr dünner, und im neunten, oder wie Sie
Ich habe auch keine große Sorge, dass das zu schwie-
meinen, gar im zehnten Jahr kann dieses Eis sicherlich
rigen Diskussionen mit den Verbündeten führt. Ich habe
nicht mehr tragen.
(B) den Eindruck, der neue Präsident in den Vereinigten (D)
Es gibt eine zweite, mindestens genauso wichtige Be- Staaten setzt sich von der Haltung seines Vorgängers ab,
gründung, warum dieses Mandat enden sollte. Wir alle weil er verstanden hat und weiß, dass der Krieg gegen
wissen, dass der Kampf gegen Piraterie am Horn von einzelne Terroristen nicht über die OEF-Mission oder
Afrika, auch mit deutscher Unterstützung, engagiert ge- Koalitionen von Freiwilligen zu gewinnen ist, sondern
führt werden muss. Als größtes Handelsland haben wir der Krieg gegen Terroristen – das sehen wir in Afghanis-
eine besondere Verantwortung und ein besonderes Inte- tan jeden Tag – viel komplexer ist und das Zusammen-
resse, Seesicherheit und stabile Seewege herzustellen. wirken aller Kräfte verlangt, eben auch der zivilen und
Aber was sehen wir am Horn von Afrika? Mehrere Ope- der polizeilichen Kräfte sowie der militärischen Kräfte.
rationen arbeiten dort mehr oder weniger nebeneinander-
All dies spricht dafür, die Beteiligung an OEF jetzt zu
her: die Operation Atalanta, geführt von Europa, ge-
beenden und damit der Marine den Spielraum zu geben,
legentlich zusätzlich Schiffe, die die NATO als
der es ihr ermöglicht, weitere gute Beiträge im Rahmen
Einsatzverband in diesem Seeraum hat, außerdem OEF
der Operation Atalanta zu leisten.
und einzelne Schiffe anderer Staaten zur Pirateriebe-
kämpfung. Dies alles macht doch keinen Sinn. Vielen Dank.
Was ich damit sagen will, ist: Wir wollen nicht, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Deutschland mit einem Ausstieg aus OEF weniger Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
antwortung am Horn von Afrika übernimmt. Wir wollen,
dass Deutschland die richtige Verantwortung am Horn Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
von Afrika übernimmt und seine Schiffe und seine See-
luftaufklärer eben auch der Operation Atalanta und euro- Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. Karl-
päischen Missionen zur Verfügung stellt. Dies wäre der Theodor zu Guttenberg.
richtige Weg, und den sollten wir jetzt einschlagen.
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
Es ist schon interessant, Herr Außenminister, dass Sie desminister der Verteidigung:
und Ihre Partei heute angedeutet haben, ganz wohl sei es Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Ihnen beim OEF-Mandat auch nicht. Auch haben Sie ge- Herren! Zum dritten Mal in diesem Marathon der Man-
sagt: Eigentlich müsste es schon überprüft werden. So datsdebatten, die wir heute führen.
habe ich Sie verstanden. Dies schreiben Sie aber nicht in
den Antrag. Sie legen uns das gleiche Mandat wie in der Ich fühle mich, Herr Arnold, an das vorhin von Ihnen
Vergangenheit vor. Das heißt, Sie wollen so wie in der gebrauchte Wort „Demut“ erinnert. Zur Demut gehört
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 493
Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
(A) übrigens auch, dass man gelegentlich zuhört, wenn man Das ist gerade mit Blick auf Afghanistan auch nicht (C)
angesprochen wird, Herr Arnold. gänzlich ohne Bedeutung für die Sicherheit unserer Sol-
daten dort. Das darf auch einmal betont werden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie sind doch nur noch vor Madagas-
Wenn Sie sich in aller Bescheidenheit eben auch über kar!)
den UN-Sicherheitsrat hinwegsetzen, ist das mit Demut
auch nur bedingt vereinbar. Wenn Sie die Kontinuität der Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat am
Verantwortung betonen – davon halte ich sehr viel –, 8. Oktober 2009 mit der Resolution 1890 (2009) seine
gleichzeitig aber ein Stück Verantwortungsvergessenheit fortdauernde Unterstützung für die internationalen Be-
mit einspielen lassen, möchte ich Ihnen sagen: Es war mühungen zur Bekämpfung des Terrorismus im Ein-
nicht nur Verteidigungsminister Jung, der zuletzt über klang mit der Charta der Vereinten Nationen bekräftigt.
das UNIFIL-Mandat mitentschieden hat, es waren auch Wir wollen das bisherige Mandat für die Operation
Ihr Außenminister und die SPD in der Regierung, die Enduring Freedom fortschreiben. Das Mandat schließt
das mitentschieden haben. Das sollte man auch an einem den NATO-Einsatz mit ein.
solchen Abend nicht vergessen, Herr Arnold. Darauf
darf man schon einmal hinweisen. Wir wollen aber auch hier einen Prozess erkennbar
werden lassen, wie wir es heute schon bei UNIFIL ange-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sprochen haben, indem wir die Obergrenze von 800 auf
Zurufe von der SPD) 700 Soldaten absenken;
So schnell geht es dann plötzlich in der Opposition. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ende 2001 hat dieses Hohe Haus erstmalig unseren NEN]: Wow!)
militärischen Einsatz im Kampf gegen den internationa- denn wir sind auch so in der Lage, das erforderliche Fä-
len Terrorismus gebilligt. Mittlerweile ist Afghanistan higkeitsprofil für den Antiterroreinsatz am Horn von
– ja, aus beachtlichen Gründen – aus unserem OEF-Port- Afrika und im Mittelmeerraum abzubilden.
folio gestrichen worden, doch bis heute leisten wir auf
dieser Grundlage erfolgreich unseren Beitrag zur Be- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
kämpfung des internationalen Terrorismus am Horn von NEN]: Wow!)
Afrika und im Rahmen der NATO-Operation Active En-
deavour im Mittelmeer. – Ich habe schon einmal beredtere Zwischenrufe von Ih-
nen gehört, Herr Trittin.
(B) Der internationale Terrorismus ist auch heute, acht (D)
Jahre nach dem 11. September 2001, weiterhin eine (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
weltweite Gefahr, mit allen Wirkkräften, die damit ver- CDU/CSU)
bunden sind. Die umfassende Bekämpfung des inter-
nationalen Terrorismus bleibt deshalb die zentrale He- Schreibt sich Ihr Zwischenruf „Wow!“ oder „Wau!“?
rausforderung für die internationale Staatengemeinschaft. Die Operation Enduring Freedom sowie der Einsatz
Das gilt es weiterhin zu betonen. der NATO im Mittelmeer im Rahmen der Operation Ac-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tive Endeavour sind ein guter militärischer Beitrag zur
Bekämpfung des internationalen Terrorismus.
Deshalb wird auch heute OEF noch gebraucht. OEF ist
erfolgreich und verbindet die Vereinigten Staaten mit ih- Ich sage aber auch, Bezug nehmend auf den Kollegen
ren transatlantischen Partnern. Westerwelle, dass es Sinn macht, im nächsten Jahr eine
gemeinschaftliche Mission zu überprüfen. Dann wird
(Widerspruch des Abg. Michael Groschek man sehen, inwieweit man das, was ich als Prozess be-
[SPD]) schrieben habe, auch als Prozess gestalten kann. Ich
Auch diesen Aspekt sollten wir nicht gänzlich ausblen- glaube, das ist wichtig und auch ein wichtiges Signal,
den. dass die Koalition hier zusammensteht.

Es braucht gleichermaßen die Anwendung politischer, Durch den Einsatz von See- und Seeluftstreitkräften
entwicklungspolitischer, polizeilicher, nachrichten- der Operation Enduring Freedom wird Terroristen am
dienstlicher, aber eben auch militärischer Mittel, um den Horn von Afrika und in angrenzenden Seegebieten der
Terrorismus und seine Ursachen zu bekämpfen. Deshalb Zugang zu Rückzugs- und Aktionsräumen und die Nut-
ist es richtig, dass wir unseren Einsatz fortsetzen. zung potenzieller Verbindungswege zu terroristischen
Deutschland stellt sich seiner Verantwortung, wenn es Strukturen auf der arabischen Halbinsel erschwert.
darum geht, gemeinsam in der internationalen Staatenge- Gleichzeitig wird ein Beitrag zum Schutz dieser für den
meinschaft auch für Terrorismusbekämpfung einzuste- Welthandel strategisch wichtigen Seepassage vor terro-
hen. Nur solange wir uns beteiligen, können wir auch ristischen Anschlägen geleistet. Auch das ist nicht unter
mitsprechen und die Operation mitgestalten. den Tisch zu kehren. Diese Seepassagen sind für uns ent-
scheidend. Sie sind wichtige Handelswege. Nicht nur die
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Piraterie spielt hier eine Rolle, sondern auch der Terro-
NEN]: An den Seychellen?) rismus.
494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich bin ganz froh, wenn ich am Horizont gelegentlich ein (C)
Herr zu Guttenberg, der Kollege Ströbele würde Ih- Schiff sehe, das vor Piraterie schützt.
nen gern eine Zwischenfrage stellen. Dem gleichen Ziel dienen im Mittelmeer die NATO-
(Widerspruch bei der CDU/CSU) See- und -Seeluftstreitkräfte im Rahmen der Operation
Active Endeavour. Ich bitte deshalb heute um Ihre Zu-
stimmung zur Verlängerung des Einsatzes bewaffneter
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun- Streitkräfte im Rahmen der genannten Operationen und
desminister der Verteidigung: um ein klares Votum, damit ein aktives Eintreten
Kollege Ströbele, ich habe bereits heute Morgen um- Deutschlands im Kampf gegen den internationalen Ter-
fassend auf Ihre Frage geantwortet. Soll das eine Fortset- rorismus weiterhin erkennbar bleibt, ein Zeichen der So-
zung dieser Fragerunde sein? lidarität mit unseren Partnern gesetzt wird und darüber
hinaus deutlich gemacht wird, dass wir bereit sind, im
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Zuge der Entwicklung dieses Mandates zu überprüfen,
GRÜNEN]: Nein!)
ob eine gemeinschaftliche Mission in diesem Sinne zu-
– Nein. Dann bitte sehr. gelassen werden könnte oder sollte.
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Herzlichen Dank.
man so fragt, dann sagt er doch „Nein“!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wenn man so angelächelt wird.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz von der
GRÜNEN): Fraktion Die Linke.
Herr Minister, Sie haben davon gesprochen, dass die (Beifall bei der LINKEN)
Einsätze erfolgreich gewesen seien. Können Sie bestäti-
gen, dass die Einsätze am Horn von Afrika unter ande- Christine Buchholz (DIE LINKE):
rem dazu geführt haben, dass die Anzahl der Kaperun- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-
gen von Schiffen durch Piraten allein in diesem Jahr um desregierung spricht in ihrem Koalitionsvertrag von ei-
50 Prozent zugenommen hat und weiter zunimmt und ner „wertegebundenen“ Außenpolitik. Gehört zu diesen
dass sich das Einsatzgebiet der Bundeswehr inzwischen Werten auch die Ehrlichkeit? Das, was wir eben vom Ex-
über den halben Indischen Ozean erstreckt? Halten Sie verteidigungsminister zum Massaker von Kunduz ver-
(B) es nicht für besser, dass man am Horn von Afrika die Ur- nommen haben, legt etwas anderes nahe: Im Krieg stirbt (D)
sachen der Piraterie bekämpft und dass man insbeson- die Wahrheit zuerst.
dere gegen die Schiffe vorgeht, die dort alle Fischgründe
leerfischen – Schiffe aus Japan, aber auch aus Europa, (Beifall bei der LINKEN)
vor allen Dingen aus Frankreich und Spanien, die Fisch-
Zu den Unwahrheiten gehört es, den Eindruck zu er-
fabriken an der Küste von Somalia versorgen –, sodass
wecken, die Auslandseinsätze der Bundeswehr wären
den Fischern und ihren Familien die Existenzgrundlage
eine Art humanitäre Hilfsmission. Es gibt de facto keine
genommen wird?
Trennung zwischen ISAF und OEF in Afghanistan.
(Beifall der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/ Beide werden von demselben General geführt. Beide
DIE GRÜNEN]) führen einen Krieg, dessen Hauptleidtragende die afgha-
nische Bevölkerung ist. Laut UNO starben allein 2008
über 1 200 Zivilisten. Dieser Krieg wird mit Lügen ge-
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
führt, und dieser Krieg wurde mit einer Lüge begonnen.
desminister der Verteidigung:
Operation Enduring Freedom soll angeblich dem Kampf
Jetzt darf ich den Kollegen Trittin kurz mit „Wow!“ gegen den Terror dienen. Die NATO begann den Einsatz
zitieren. Sie haben sozusagen die ganze intellektuelle im Zuge der bedingungslosen Solidarität mit den USA
Tiefe dieser Frage abgefischt. nach den schrecklichen Anschlägen vom 11. September
(Heiterkeit) 2001.

Bei einem Punkt bin ich – überraschend genug – bei Ih- Die Friedensbewegung hat diese Begründung schon
nen, Herr Ströbele, und das habe ich hier auch schon be- damals abgelehnt und darauf hingewiesen, dass die Tali-
tont: Es geht sehr wohl darum, die Ursachen der Pirate- ban selbst 2001 die Auslieferung Bin Ladens unter be-
rie zu bekämpfen, auch, wie ich vorhin gesagt habe, in stimmten Bedingungen angeboten hatten. Aber die
entwicklungspolitischer Hinsicht. Aber der dialektische Bush-Regierung suchte gar nicht Bin Laden. Sie suchte
Sprung, den Sie gemacht haben, ist schon bemerkens- einen Vorwand, um den Nahen und Mittleren Osten mit
wert. Sie sagen, dass die Piraterie dramatisch zunimmt, militärischen Mitteln neu zu ordnen,
sobald dort unten die Seewege auch militärisch gesichert (Beifall bei der LINKEN)
werden. Das übersteigt zumindest meinen Horizont, lie-
ber Herr Ströbele. um direkten Zugriff auf die Ölreserven des Irak zu be-
kommen, um den Iran zu isolieren, um den Transport der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ressourcen des kaspischen Raums zum Indischen Ozean
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 495
Christine Buchholz
(A) zu ermöglichen und um Truppen an der Südflanke Russ- man den Text des Mandates liest, dann stellt man wieder (C)
lands und an der chinesischen Westgrenze zu stationie- einmal sehr schnell fest, dass er dem Koalitionsvertrag
ren. Diese Vision für die US-Außenpolitik hatten spätere komplett widerspricht. Im Koalitionsvertrag steht – viel-
Mitglieder der Bush-Regierung bereits 1999 in dem leicht bin ich der Einzige, der diesen Vertrag ernst
Strategiepapier „For a New American Century“ formu- nimmt; ich habe ihn zumindest gelesen –, „eine kritische
liert. Wir meinen, bei diesem als globalem Feldzug für Überprüfung der Vielzahl der Mandate“ stünde an. Nun
die andauernde Freiheit verkauften Krieg gegen den Ter- hat der Außenminister erklärt, man habe keine Zeit dafür
ror geht es in Wirklichkeit um eines: um geostrategische gehabt, das werde man irgendwann nachholen. Wenn
und ökonomische Interessen. das so ist, dann frage ich mich, warum wir diesem Man-
dat für zwölf Monate zustimmen müssen, wenn wir bei-
(Beifall bei der LINKEN) spielsweise das UNIFIL-Mandat auch nur um sechs
Deshalb macht Deutschland dabei mit. Wie in Ihrer Monate verlängern. Auch hier wären in der Tat sechs
Koalitionsvereinbarung steht, ist das Ziel Ihrer Außen- Monate angebracht, wenn Sie noch Zeit zur Prüfung
politik die Wahrung deutscher Interessen. Es geht dabei brauchen.
um den Zugang zu Märkten und Rohstoffen, die Siche- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
rung von Handelswegen und um die Aufrechterhaltung SES 90/DIE GRÜNEN)
der Weltwirtschaftsordnung, einer Weltwirtschaftsord-
nung, in der Profite und nicht das Wohl der Menschen Der Kollege Stinner hat der Presse gegenüber erklärt,
das Maß aller Dinge sind. Dafür töten und sterben junge dass es in seiner Fraktion erhebliche Probleme bei der
Männer und Frauen aus Deutschland in Afghanistan, am OEF-Mission gebe. Das ist sehr ermutigend. Doch es
Horn von Afrika und wo in Zukunft auch immer. Diese mutet ein wenig merkwürdig an, wenn man sieht, dass
Weltwirtschaftsordnung ist für den Tod von über sich die Bundesregierung die Mehrheit in diesem Haus
10 Millionen Kindern im Jahr verantwortlich, die an angesichts dieser Probleme mit einer Protokollnotiz so-
Hunger und leicht heilbaren Krankheiten sterben. Für zusagen erkauft. Das muss man sich schon auf der
Milliarden Menschen auf der ganzen Welt ist dies der Zunge zergehen lassen, Herr Verteidigungsminister: Sie
alltägliche Terror. Nur 40 Milliarden Dollar pro Jahr starten als Mister Klartext und landen in dem Fall als
würden reichen, um all diese Leben zu retten. Allein der Protokollnotiz.
Krieg in Afghanistan hat inzwischen ein Vielfaches da-
von gekostet. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Oh Gott!
Oh Gott!)
Wir freuen uns, dass sich in der SPD die Erkenntnis
durchgesetzt hat, dass die Operation Enduring Freedom – Aber doch.
(B) abzulehnen ist. Leider führt die SPD – das hat Kollege (D)
Klar ist aber – das sieht man auch an dem Brief der
Arnold eben deutlich gesagt – in Wirklichkeit die bishe- beiden Minister an die Fraktionsvorsitzenden –: Die völ-
rige Außenpolitik fort, wenn sie die Aufgaben von OEF kerrechtliche Grundlage ist einfach nicht mehr gegeben.
jetzt unter der Flagge von Atalanta und ISAF durchfüh-
ren will. Mit dieser Augenwischerei muss endlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Schluss sein.
Wenn Sie nach neun Jahren immer noch behaupten, dass
(Beifall bei der LINKEN) das Selbstverteidigungsrecht der USA die völkerrechtli-
che Grundlage sei, dann ist das schlichtweg absurd. In
Die einzig richtige Entscheidung kann nur sein, gegen
dem Brief schreiben Sie, was die völkerrechtliche
die Verlängerung des OEF-Mandats und gegen alle wei-
Grundlage der UNIFIL-Mission und von ISAF ist. Bei
teren Kriegseinsätze zu stimmen. Das ist die Position der
OEF fehlt das schlicht, und zwar deswegen, weil diese
Friedensbewegung, und das ist die Position der Fraktion
Grundlage einfach nicht gegeben ist.
der Linken.
Deshalb freut es mich auch, dass die SPD OEF nicht
(Beifall bei der LINKEN)
mehr zustimmen wird, dass diese Einsicht gewachsen
ist. Guten Morgen! Ich hoffe, dass diese Einsicht – nach-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dem Sie das Ganze lange überprüft haben; ich hoffe, das
Frau Kollegin Buchholz, ich gratuliere Ihnen dazu, dauert keine zwölf Monate – demnächst auch bei der
dass Sie heute Ihre erste Rede vor dem Deutschen Bun- Bundesregierung ankommen wird. Wir haben die Be-
destag gehalten haben. wertung vor uns. Diese Bewertung kann nur ein einziges
Ergebnis haben: Es gibt nicht nur keine völkerrechtliche
(Beifall) Grundlage für diese Mission mehr, sie macht auch kei-
Der nächste Redner ist der Kollege Omid Nouripour nen Sinn.
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Wir haben drei Mandate: die NATO-Mission, OEF
und die EU-geführte Atalanta-Mission. Sie können uns
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht ernsthaft erzählen, dass OEF eine Mission gegen
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku- den Terrorismus sei, wenn man bedenkt, dass in den
tieren heute über die Fortsetzung der deutschen Beteili- neun Jahren am Horn von Afrika kein einziger Kontakt
gung an den Einsätzen im Rahmen von Operation Endu- entstanden ist. Wir alle wissen: OEF ist am Horn von
ring Freedom und Operation Active Endeavour. Wenn Afrika, um die Piraterie zu bekämpfen.
496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Omid Nouripour
(A) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NATO, immer schwierig ist. Insofern ist es für die Bun- (C)
NEN]: Das schreiben sie sogar!) deswehr hinsichtlich der Informationsstränge sehr wich-
tig, auch dort zusammenzuarbeiten.
Das schreiben Sie selbst auch. Deshalb ist es eindeutig:
Statt dass wir die Flaggenoffiziere in den Brigaden be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
mühen, permanent die eine Flagge herunter- und die an-
dere Flagge hochzuziehen, lassen Sie diesen Quatsch Das ist zwar ein fachliches Argument, aber gelegentlich
doch einfach. Lassen Sie uns ein Mandat verabschieden, schadet es nicht, fachliche Argumente in einer solchen
und zwar für die Pirateriebekämpfung durch die Ata- Debatte zur Kenntnis zu nehmen.
lanta-Mission. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Deshalb kann ich nur hoffen, dass die erheblichen NEN]: Das ist fachlich falsch!)
Probleme, die es zu Recht in der FDP-Fraktion gibt, da- Wir stellen zunehmend fest, dass sich der Terrorismus
hin führen, dass die Kolleginnen und Kollegen sich die- in der Region, in der die Bundeswehr aktiv ist, wie
sem unsinnigen Mandat verweigern. Ich glaube, dass das selbstverständlich ausbreitet. Denken Sie an den Jemen
der Wahrheit und der Klarheit der Einsätze der Bundes- oder an die Aktion der saudischen Luftwaffe gegen Auf-
wehr sehr dienen würde. ständische in der Region. Allein daraus können Sie ab-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) leiten, dass wir dort vor großen terroristischen Heraus-
forderungen stehen. Ich würde es gerade deshalb als
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Erfolg bezeichnen, dass wir in den vergangenen Jahren
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat keinen direkten terroristischen Kontakt hatten. Wir se-
jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder von der hen, dass dort, wo Präsenz gezeigt wird, Erfolge eintre-
CDU/CSU-Fraktion. ten und sich der Terrorismus auf dem Rückzug befindet.
Das ist ein strategischer Vorteil, den wir nicht unter-
(Beifall bei der CDU/CSU) schätzen dürfen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und NEN]: Flächendeckende militärische Prä-
Herren! Zunächst möchte selbstverständlich auch ich der senz!)
Kollegin Buchholz zu ihrer Jungfernrede gratulieren,
selbst wenn sie gerade vor Freude erst einmal im Büro Der Einsatz der See- und Luftstreitkräfte am Horn
anruft. von Afrika ist und bleibt erforderlich, um Terroristen
(B)
Frau Kollegin Buchholz, bei vielem hätte ich Ihnen den Zugang zu Rückzugs- und Aktionsräumen in der Re- (D)
widersprechen können. Aber an einer Stelle möchte ich gion zu erschweren und damit die Kommunikation in-
Ihnen ganz entschieden widersprechen. Ich glaube nicht, nerhalb dieser terroristischen Netzwerke zu verhindern
dass es in den Deutschen Bundestag gehört, Verschwö- oder zumindest zu erschweren.
rungstheorien zu verbreiten und so zu tun, als sei der Ur- Denken Sie nur einmal daran, was in der Region los
sprung unserer militärischen Einsätze in dieser Region war, welches terroristische Potenzial dort schlummerte:
nicht der 11. September 2001, sondern irgendwelche Im Jahr 2000 hat eine Serie von Anschlägen, unter
strategischen Planungen, die Sie gerade skizziert haben. anderem gegen die USS „Cole“, dazu beigetragen, dass
So ein Unsinn! die Anschläge vom 11. September 2001 von den Terro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) risten in dieser Region mit vorbereitet wurden, bei denen
al-Qaida zum ersten Mal groß in Erscheinung getreten
Das gehört in irgendwelche folkloristische Verschwö- ist. Sie dürfen das große terroristische Potenzial, das in
rungsbelletristik, die Sie selbst in der schlechtesten dieser Region herrscht, nicht unterschätzen. Das muss
Bahnhofsbuchhandlung der Welt nicht finden dürften, ernst genommen werden.
aber in den Reden der Linkspartei. Deshalb weise ich
das entschieden zurück. Die Bundeswehr leistet mit ihren Soldatinnen und
Soldaten auch dort – das möchte ich an diesem wichti-
Auch wenn es zum Glück in Europa und in den USA gen Tag zum Schluss meiner Rede noch einmal sagen –
seit einiger Zeit zu keinen Terroranschlägen gekommen einen wichtigen Beitrag, den wir nicht unterschätzen
ist, bleibt die Bekämpfung des internationalen Terroris- dürfen. Ich glaube, dass wir diesen Beitrag aus Gründen
mus eine entscheidende Aufgabe. Diesem Zweck dient der Bündnissolidarität und zur Bekämpfung des interna-
der Einsatz, der, wie schon von den Vorrednern skizziert, tionalen Terrorismus fortsetzen sollten. Deshalb werbe
nicht nur an diesem Ort stattfindet, an dem Deutschland ich um Ihre Unterstützung für diesen Einsatz.
seinen Beitrag leistet. Der Beitrag ist in der Gesamtheit
vielmehr in eine Struktur eingebunden. Für die Bundes- Herzlichen Dank.
wehr ist es wichtig – deswegen nenne ich dieses Argu-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ment in dieser Debatte, auch wenn es militärstrategisch
der FDP)
erscheint –, in diese Strukturen eingebunden zu sein. Das
zu negieren, halte ich für falsch. Wir wissen doch alle,
dass die Kooperation verschiedener militärischer Ein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
satzformen, sei es der Europäischen Union, sei es der Ich schließe die Aussprache.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 497
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Alle haben es toll gefunden, dass man für Kinder etwas (C)
Drucksache 17/38 an die in der Tagesordnung aufge- tut. Wenn es aber ans Eingemachte geht, ist das auf ein-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- mal anders.
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
Was fordern wir? Wir fordern die Umsetzung der UN-
so beschlossen.
Kinderrechtskonvention in die Tat. Wir fordern, dass
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf: Kinder im Alter von null bis 18 Jahren, egal wo sie auf
dieser Welt geboren wurden, in jedem Land so behandelt
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD werden wie inländische Kinder.
Kinderrechte stärken – Erklärung zur UN- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Kinderrechtskonvention zurücknehmen DIE GRÜNEN)
– Drucksache 17/57 – Bevor die Bundesregierung – es war eine schwarz-
Überweisungsvorschlag: gelbe Regierung; das war leider so – die Konvention, die
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
anschließend vom Bundestag ratifiziert wurde, gezeich-
Rechtsausschuss net hat, hat sie Vorbehalte eingetragen. Sie haben gesagt:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Wir wollen bestimmte Punkte so regeln, wie sie aus un-
serer Sicht richtig geregelt werden. Ich möchte Art. 41,
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
auf den Sie sich berufen, vorlesen. Da heißt es:
Dörner, Josef Philip Winkler, Ekin Deligöz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Dieses Übereinkommen lässt zur Verwirklichung
DIE GRÜNEN der Rechte des Kindes besser geeignete Bestim-
mungen unberührt …
UN-Kinderrechtskonvention unverzüglich voll-
ständig umsetzen Wir haben in einigen Bereichen Vorbehalte eingetra-
gen, obwohl wir die entsprechenden Bestimmungen der
– Drucksache 17/61 –
Konvention bereits erfüllen. Eigentlich könnte man
Überweisungsvorschlag: diese Vorbehalte herausstreichen, ohne dass es sich be-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
merkbar macht. Bei einem Punkt ist das allerdings an-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ders. Dabei geht es um Kinder, die als Flüchtlinge nach
Deutschland kommen. Flüchtlingskinder im Alter von
c) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE 16 bis 18 behandeln wir wie Erwachsene. Wir geben sie
UN-Kinderrechtskonvention umfassend um- in Abschiebungsräume und halten sie monatelang in
(B) setzen Clearing-Stellen fest. Wir geben ihnen nicht das Recht, (D)
dem wir per Unterzeichnung grundsätzlich zugestimmt
– Drucksache 17/59 – haben, nämlich das Recht auf Gleichbehandlung. Hier
Überweisungsvorschlag: kommt es zu massiven Diskriminierungen. Dafür wer-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) den uns auf internationaler Ebene permanent Vorwürfe
Innenausschuss
Rechtsausschuss
gemacht.
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Bisher wurde eine Aufhebung der Vorbehalte immer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die mit dem Argument abgelehnt, dass die Bundesländer
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es nicht mitmachen. Sie erklären im Koalitionsvertrag – da-
dazu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das für möchte ich Sie ausdrücklich loben –, dass Sie die
so beschlossen. Vorbehaltserklärung aufheben wollen. Leider sind die
Länderminister aber nicht ausgetauscht worden. Jetzt
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- hoffen wir einmal, dass es Ihnen gelingt, was wir in vie-
nerin das Wort der Kollegin Marlene Rupprecht von der len Wahlperioden zuvor nicht geschafft haben. Wir hof-
SPD-Fraktion. fen, dass die Länderminister und vor allem der Bundes-
innenminister in der Lage sind, endlich die Aufhebung
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): der Vorbehalte durchzusetzen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Liebe Kollegen! Silvester gibt es immer einen Film, in
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich
dem es heißt: „The same procedure as every year!“ Bei
[DIE LINKE])
uns ist es in jeder Legislaturperiode die gleiche Proze-
dur: Dann sitzen hier diejenigen, die sich für Kinder- Darum sind wir hier.
rechte einsetzen und kämpfen. Wir haben gerade über
Die SPD, die Linken und die Grünen haben dazu An-
Terrorismus geredet. Manchmal habe ich schon Gelüste,
träge eingebracht. Ich würde Ihnen anbieten: Nehmen
die Hartleibigen etwas unsanfter anzugehen, um endlich
Sie doch die drei Anträge und machen Sie daraus einen.
das durchzusetzen, was der Grund dafür ist, dass wir uns
Dann unterstützen wir Sie bei der Aufhebung der Vorbe-
heute hier versammelt haben.
halte. Ich habe schon dem Staatssekretär Hoofe gesagt:
Es geht um die Kinderrechte. Wir haben am Freitag, Sie haben mich an Ihrer Seite, wenn es darum geht, die
den 20. November 2009, 20 Jahre UN-Kinderrechte ge- Vorbehalte aufzuheben; ich halte auch den Innenminister
feiert. Alles, was Rang und Namen hat, war vertreten. fest, der immer z'widerwurzig ist. Machen Sie es, und
498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Marlene Rupprecht (Tuchenbach)


(A) zwar nicht erst irgendwann. Drei gute Anträge liegen sprechen. Denn vor fast genau 20 Jahren, am 20. No- (C)
vor. Nehmen Sie die Anträge und machen Sie einen da- vember 1989, hat die Generalversammlung der Verein-
raus! Ich garantiere Ihnen, dass die Fraktionen, die die ten Nationen das Übereinkommen über die Rechte des
Anträge eingebracht haben, Sie unterstützen. Es ist näm- Kindes verabschiedet. Alle Kinder auf der ganzen Welt
lich beschämend, dass es bei uns nach wie vor solche Re- haben damals verbriefte Rechte bekommen: das Recht
gelungen gibt, dass wir Kinder abschieben, ihnen keine auf Überleben, auf Entwicklung, auf Schutz und auf Be-
Schulbildung zukommen lassen, wenn sie 16 oder älter teiligung. Ich glaube, dass wir auf die vergangenen
sind, dass wir sie gesundheitlich benachteiligen und ih- 20 Jahre mit Stolz zurückblicken können, weil wir für
nen keine Maßnahmen der Jugendhilfe angedeihen las- die Kinder weltweit, aber natürlich ganz besonders hier
sen, dass wir also den Flüchtlingskindern all das, was in Deutschland in diesen 20 Jahren sehr viel erreicht ha-
den anderen Kindern zusteht, nicht gewähren. ben.
Mit einer Aufhebung der Vorbehalte würden wir deut- Sie wissen – das wurde angesprochen –, dass wir da-
lich machen: Wir erfüllen jetzt endlich die UN-Kinder- mals in Deutschland mit der Ratifizierung eine aus fünf
rechtskonvention. Dies hätte bestimmte Folgen: Wir Punkten bestehende Vorbehaltserklärung hinterlegt ha-
müssten alle Regelungen überprüfen, die noch Diskrimi- ben. Vier der fünf Punkte sind inzwischen gesetzlich ge-
nierungen von Kindern enthalten, zum Beispiel im Flücht- regelt. Der einzig relevante verbliebene Punkt betrifft
lingsrecht und im Ausländerrecht, aber auch alle Bestim- den ausländerrechtlichen Status minderjähriger Jugend-
mungen, die aus meiner Sicht europaweit längst geregelt licher. Es ist richtig, dass es bislang keiner Bundesregie-
worden wären, wenn die deutschen Länderinnenminister rung gelungen ist, den Vorbehalt zurückzunehmen.
dies nicht permanent blockiert hätten.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Ich fordere die Regierung, die die Vorbehalte aufhe- GRÜNEN]: Peinlich!)
ben muss, dazu auf, schnell eine Vorlage einzubringen,
– Keiner, Herr Ströbele, auch nicht der rot-grünen Bun-
damit die UN-Kinderrechtskonvention nach 20 Jahren
desregierung von 1998 bis 2005.
endlich auch in Deutschland gilt. Ursprünglich haben
viele gedacht, dass die Regelungen deshalb nur im Aus- (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Da
land und nicht bei uns gelten sollten, weil die Situation hat sich keiner mit Ruhm bekleckert! –
der Kinderrechte bei uns schon recht gut ist. Wir sollten Christoph Strässer [SPD]: Wir hätten es aber
endlich eingestehen, dass auch bei uns Nachholbedarf hingekriegt, wenn Sie mitgezogen hätten! –
besteht, wenn wir hier wie in allen anderen Bereichen in Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)
der ersten Liga spielen wollen, dass wir also rechtlich
nachbessern müssen. Die Forderungen in den nun vorliegenden Anträgen
(B) der Opposition nach Rücknahme der deutschen Vorbe- (D)
In diesem Sinne wünsche ich viel Erfolg. Ich bin mir haltserklärung beschäftigen uns demnach seit vielen Jah-
nicht sicher, dass es gelingt, die Vorbehalte aufzuheben. ren. Wir haben im Koalitionsvertrag zwischen Union
Es wäre toll, wenn Sie die Innenminister davon überzeu- und FDP festgehalten, dass wir uns das für diese Legis-
gen könnten. Ich wünsche es Ihnen, ich wünsche es uns laturperiode vornehmen.
allen, und ich wünsche es vor allem für die Kinder- und
Menschenrechte. Denn die UN-Kinderrechte sind die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ausformulierung der Menschenrechte für Kinder. Sie neten der FDP – Jörn Wunderlich [DIE
haben verdient, dass sie anerkannt werden. LINKE]: Wir sind die einzigen Unschuldigen!
Wir sind die einzigen Sauberen! Ihr habt alle
In diesem Sinne: Viel Erfolg. Dreck am Stecken!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir werden dies in enger Abstimmung nicht nur mit den
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Familienpolitikern – ich denke, zwischen den Familien-
LINKEN) politikern herrscht hier Konsens –, sondern auch mit un-
seren Innenpolitikern, zum einen den Innenpolitikern der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Fraktionen, zum anderen den Innenministern der Bun-
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär von der desländer, tun und tun müssen. Wir brauchen deshalb
CDU/CSU-Fraktion. keinen der drei vorliegenden Anträge, um tätig zu wer-
den.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Marlene Rupprecht [Tuchenbach]
Dorothee Bär (CDU/CSU):
[SPD]: Frau Bär, Sie hatten noch nie einen!)
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Frau Kollegin Rupprecht, ich habe gehört, dass dies Die neue Bundesregierung von Union und FDP hat
ungefähr Ihre 25. Rede zu diesem Thema gewesen ist. sich also nicht nur vorgenommen, die Vorbehaltserklä-
Das ist natürlich praktisch für Sie; Sie können immer rung zurückzunehmen, sondern wir wollen weitere
wieder die Redemanuskripte hervorholen. Aber deswe- wichtige Schritte hin zu einem noch kinderfreundliche-
gen sind wir heute nicht hier. Wir sind hier, weil die drei ren Deutschland gehen. Ich freue mich über die Anträge,
Oppositionsfraktionen drei Anträge eingebracht haben. weil ich jetzt dadurch die Möglichkeit habe, Ihnen zu er-
Wir freuen uns, dass wir diese Anträge zum Anlass neh- klären, wie es in den nächsten vier Jahren funktionieren
men können, heute über Kinder und Kinderrechte zu soll, dass Deutschland noch kinderfreundlicher wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 499
Dorothee Bär
(A) Einige Herausforderungen, die wir uns vorgenommen (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – (C)
haben, sind ein wirksamer Kinderschutz, gleiche Bil- Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ach,
dungschancen für alle Kinder von Anfang an und die Frau Bär! Lassen Sie mich doch auch einmal
Bekämpfung von Kinderarmut. Wir wollen Chancen- fröhlich sein! – Josef Philip Winkler [BÜND-
gleichheit schaffen. Dafür brauchen wir für alle Kinder NIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Rupprecht, viel-
die besten Rahmenbedingungen, damit die Talente, die leicht sollten Sie Ihren Abgeordneten einfach
wir in unserem Land haben, sehr früh gefördert und die einmal knuddeln!)
Schwächen rechtzeitig ausgeglichen werden.
Wir wissen auch, dass sich die meisten Kinder sehr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
liebevoll in ihren Familien aufgehoben fühlen können, Frau Kollegin Rupprecht würde Ihnen gerne eine
von ihren Eltern gut versorgt werden und viel Zuwen- Frage stellen, Frau Bär. Erlauben Sie das?
dung erhalten. Daneben gibt es aber auch Eltern, die mit
der Erziehung der Kinder überfordert sind und ganz Dorothee Bär (CDU/CSU):
dringend unserer Hilfe bedürfen. Deswegen möchte ich, Sie ist eine fränkische Landsfrau, auch wenn man es
dass wir alle dafür sorgen, dass diesen Eltern und Kin- nicht hört. Selbstverständlich darf sie eine Frage stellen.
dern rechtzeitig geholfen wird, dass wir alle früh hin-
schauen und auf diese Familien zugehen.
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Bär, ich möchte Sie gern fragen, ob Sie zur
neten der SPD und der FDP) Kenntnis nehmen, dass man sich, wenn man schon so
Eine besondere Pflicht zum Hinschauen haben die lange, wie es einige Kolleginnen und Kollegen quer
Behörden. Deswegen wird die schwarz-gelbe Bundes- durch die Fraktionen tun, an diesem Thema arbeitet, rie-
regierung ein Kinderschutzgesetz auf den Weg bringen, sig freuen kann, dass das, was ein paar wenige Kollegen
das einen Schwerpunkt auf präventive Maßnahmen legt. durchzusetzen versucht haben, jetzt endlich angekom-
men ist.
(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ich
finde es schön, dass Sie gelernt haben!) (Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist ange-
kommen! Darum seid ihr jetzt in der Opposi-
Wir werden verlässliche Netzwerke frühzeitiger Hilfen tion!)
ausbauen. Einen weiteren Schwerpunkt setzen wir auf
die Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz. Ich freue mich deshalb, weil ich den Lernprozess bezüg-
lich der Rücknahme der Vorbehalte bisher bei keinem
(B) Um für alle Kinder gleiche Teilhabemöglichkeiten festgestellt habe. Wenn beim Kinderschutz ab jetzt auch (D)
und gute Bildung zu gewährleisten, werden wir, wie an- die Prävention eine Rolle spielt, dann bin ich wirklich
gekündigt, auch die Zahl der Kinderbetreuungsplätze sehr stolz. Denn dafür haben wir gekämpft wie die Irren,
weiter ausbauen und jetzt haben wir es erreicht.
(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Wie (Markus Grübel [CDU/CSU]: Wie war Ihre
schön! Es ist also doch nicht ganz hoffnungs- Frage doch gleich?)
los!)
Ich freue mich, daran mitzuwirken, dass wir damit er-
sowie die Weiterbildung von Erzieherinnen und Erzie- folgreich sind. Würden Sie das bitte zur Kenntnis neh-
hern besser fördern und mehr in sie investieren. Gemein- men?
sam mit den Ländern werden wir auch Eckpunkte zur
frühkindlichen Bildung und insbesondere zur Sprachför- Sie sind jetzt neu in unserem Ausschuss. Deshalb
derung entwickeln. Wir werden die Kinderarmut verrin- glaube ich, dass es noch ein bisschen Zeit braucht, bis
gern, indem wir den Kinderzuschlag weiter ausbauen. das, was wir bisher erreicht haben, überall angekommen
ist. Wenn Sie bereit wären, auch dies zur Kenntnis zu
(Beifall der Abg. Ingrid Fischbach nehmen, wäre ich Ihnen dankbar.
[CDU/CSU])
(Florian Bernschneider [FDP]: Wo bleibt denn
Auch wir wissen, dass mehrere Kinder noch mehr nun Ihre Frage?)
Geld kosten.
Meine Frage ist, ob Sie sich bereits damit befasst haben,
(Heiterkeit der Abg. Marlene Rupprecht
welche Maßnahmen, auch zur Zeit der Großen Koali-
[Tuchenbach] [SPD])
tion, als wir diesen Weg gemeinsam gegangen sind, be-
– Frau Rupprecht, ich verstehe, ehrlich gesagt, Ihre aus- reits eingeleitet oder durchgeführt wurden. Ich breche
gelassene Heiterkeit an dieser Stelle nicht. nämlich nicht mit der Vergangenheit; schließlich haben
wir alle unseren Beitrag geleistet.
(Heiterkeit der Abg. Marlene Rupprecht
[Tuchenbach] [SPD]) (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Ge-
redet haben Sie doch schon! Wie ist denn jetzt
Wenn es wirklich so ist, dass Ihnen die Kinder so wahn- Ihre Frage?)
sinnig am Herzen liegen, dann würde ich mich eigentlich
freuen, wenn Sie mehr durch zustimmendes, wohlwol- Meine Frage lautet also: Haben Sie sich schon angese-
lendes Nicken auf sich aufmerksam machen würden. hen, was wir damals gemacht haben?
500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

(A) Dorothee Bär (CDU/CSU): Auch Deutschland hat einen solchen Vorbehalt geäu- (C)
Erstens, Frau Kollegin, nehme ich Ihre Freude natür- ßert. In diesem Haus wurde bereits viermal beschlossen,
lich sehr gerne zur Kenntnis. dass die Vorbehaltserklärung endlich zurückgenommen
werden soll. Mehrmals wurde dieses Thema auch in der
Zweitens. Wenn Sie das Neue feststellen, dann wissen letzten Legislatur von den damaligen Oppositionsfrak-
Sie auch, dass neue Besen gut kehren. tionen auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist das zweifel-
(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hafte Verdienst der Großen Koalition, dafür gesorgt zu
NEN]: Oh! Haben Sie sich gerade selbst als haben, dass diese Anträge in der vergangenen Legislatur
„Besen“ bezeichnet?) nicht einmal die Hürde der Fachausschüsse nehmen
konnten. Vor allem wegen der Blockadehaltung der
Insofern freue ich mich natürlich auf eine sehr gute Zu- CDU/CSU-Fraktion, Frau Bär, setzt sich dieser zwei
sammenarbeit mit Ihnen. Jahrzehnte schwelende Streit über die vollständige Um-
setzung der Kinderrechte in Deutschland fort.
Wenn Sie mit Ihrer Frage noch bis zu meinem nächs-
ten Absatz gewartet hätten, hätten Sie feststellen können, (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das kann
dass ich auch die letzte Legislaturperiode besonders her- Frau Noll bestätigen!)
vorgehoben hätte, weil in der letzten Legislaturperiode
unsere hervorragende Bundesfamilienministerin Frau Natürlich freut es mich und meine Fraktion, dass sich
von der Leyen verantwortlich war. in den Koalitionsverhandlungen zumindest in der Frage
der Rücknahme der Vorbehaltserklärung die FDP an-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) scheinend durchsetzen konnte.
Ich fahre in meiner Rede fort. Bereits in der letzten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Legislaturperiode haben wir die Staffelung des Kinder- neten der SPD – Michaela Noll [CDU/CSU]:
geldes für kinderreiche Familien, den Kinderbonus und Das stimmt nicht!)
das Schulbedarfspaket beschlossen. All diese Maßnah-
men waren natürlich sehr wichtig. So steht im Koalitionsvertrag:
Wir wollen die Vorbehaltserklärung zur UN-Kin-
Ein kleiner Punkt, der die Wertschätzung der Gesell-
derrechtskonvention zurücknehmen.
schaft gegenüber Familien mit Kindern ausdrückt, ist
unser Vorhaben, die bestehenden Gesetze so zu ändern, Dies wurde von den Medien als Erfolg meiner Kinder-
dass Kinderlärm nicht mehr als Störung, sondern als Zu- kommissionskollegin Miriam Gruß gedeutet, die sich
kunftsmusik empfunden wird und dass er keinen Anlass damit in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt
(B) für gerichtliche Auseinandersetzungen mehr sein darf. habe. Allerdings muss dieser Erfolg mit Vorsicht be- (D)
trachtet werden; denn Frau Gruß hat hier im Plenum für
(Zuruf von der SPD: Das steht doch in unse-
ihre Fraktion erklärt, dass sie die Auffassung der Bun-
rem Antrag!)
desregierung teilt, das deutsche Recht stehe schon jetzt
Ich würde mich sehr freuen, wenn alle Kolleginnen und in Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen,
Kollegen, auch die der Oppositionsfraktionen, unsere die sich aus der Kinderrechtskonvention ergäben, und
Regierung mit der gleichen Freude, Begeisterung und eine Änderung des deutschen Rechts sei deshalb nicht
Ausgelassenheit wie die Frau Kollegin Rupprecht in den erforderlich.
nächsten vier Jahren begleiten würden.
(Zuruf von der Linken: Hört! Hört!)
Vielen Dank.
Das kann man in den bisherigen Anträgen der FDP nach-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- lesen.
rufe von der SPD: Das wird nicht passieren! –
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dies ist
Das werden Sie noch erleben, Frau Bär!)
deutlich zu kurz gesprungen. Es geht nicht nur darum,
„ein Signal für ein kinderfreundliches Deutschland“ zu
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: setzen, oder darum, „Irritationen zu vermeiden“, oder
Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze von der darum, den „Dialog mit den Kinderrechtsorganisationen
Fraktion Die Linke. … [zu] entspannen“, wie Frau Gruß und ihre Fraktion es
formuliert haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir wollen nicht wie in den vergangenen Jahren reine
Diana Golze (DIE LINKE):
Symbolpolitik an die Stelle von wirklicher Umsetzung
der Kinderrechte setzen. Wir wollen nicht, dass eine
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Rücknahme der Vorbehaltserklärung wieder an den Län-
nen und Kollegen! Die Bedeutung des internationalen dern scheitert. Wir wollen, dass die dringend erforderli-
Übereinkommens über die Rechte von Kindern kann gar chen Änderungen im deutschen Aufenthalts-, Asylver-
nicht hoch genug eingeschätzt werden. Keine andere fahrens- und Sozialrecht endlich vorgenommen werden.
Menschenrechtskonvention ist von so vielen Staaten ra-
tifiziert und unterzeichnet worden. Gegenüber keiner an- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
deren gab und gibt es leider aber auch so viele Vorbe- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
halte wie gegenüber dieser Konvention. GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 501
Diana Golze
(A) Das, meine Damen und Herren, läge bereits jetzt in der Deutschland gibt es in Sachen Umsetzung der Kinder- (C)
Macht dieses Parlaments; es müsste nur endlich den Mut rechte also eine schlechte Note: Ungenügend.
dazu finden. Genau aus diesem Grund müssen sich alle
Bundesregierungen, die das Parlament vertröstet haben, Vielen Dank.
fragen lassen, wie ernst sie es mit den Kinderrechten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
wirklich meinen. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Es hilft den betroffenen jungen Menschen nicht weiter, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dass sich die Politik lautstark über den rechtlichen Stel- Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von
lenwert der Vorbehaltserklärung streitet. Fakt ist, dass der FDP-Fraktion.
die Vorbehaltserklärung existiert und Folgen hat.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Die Zahl der unbegleiteten Flüchtlinge zwischen CDU/CSU)
16 und 18 Jahren hat sich gegenüber dem Vorjahr mehr
als verdoppelt: 616 waren es in diesem Jahr. Diese Kin-
Sibylle Laurischk (FDP):
der sind geflüchtet vor Krieg, vor drohender Zwangs-
rekrutierung, vor Verfolgung, vor Beschneidung, vor Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Zwangsverheiratung. Diese Kinder kommen nach einer Damen und Herren! Es freut mich, dass das Thema
dramatischen Flucht hier in Deutschland an, erhalten Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinder-
aber nicht, was jedes Kind bekommen würde, dem so et- rechtskonvention erneut auf der heutigen Tagesordnung
was hier in Deutschland widerfahren wäre. Nein, statt- steht. Ich denke, inhaltlich gibt es in der Debatte um die
dessen folgen ein Asylverfahren ohne Beistand, die Un- Rücknahme der Vorbehaltserklärung nicht mehr viel hin-
terbringung in Sammelunterkünften und fragwürdige zuzufügen. Wie Sie wissen, haben wir uns als FDP in
Altersfeststellungsverfahren. den letzten Jahren für eine Rücknahme stark gemacht.
Durch die UN-Kinderrechtskonvention werden allen
Wir müssen dafür sorgen, dass diese Kinder endlich
Kindern Grundrechte gewährt: das Recht auf Überleben,
menschenwürdig und ihrer Situation entsprechend be-
das Recht auf Schutz vor Missbrauch und Gewalt, das
handelt werden.
Recht auf Bildung, das Recht auf einen eigenen Namen,
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- auf Information und auf Beteiligung am gesellschaftli-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE chen Leben.
(B) GRÜNEN) Vor über 16 Jahren trat für die Bundesrepublik (D)
Genau das ist der Grund, warum es um mehr geht als um Deutschland das Übereinkommen über die Rechte des
eine symbolische oder formelle Rücknahme der Vorbe- Kindes vom 20. November 1989 in Kraft. Eine im Zuge
haltserklärung. der Ratifizierung abgegebene Erklärung enthält jedoch
Vorbehalte, die sich insbesondere auf das elterliche Sor-
Es freut mich, dass die Kolleginnen und Kollegen der gerecht, die anwaltliche Vertretung und weitere Rechte
Grünen ihren Antrag aus der vergangenen Wahlperiode von Kindern im Strafverfahren sowie im Vorbehalt IV
um diesen Punkt erweitert haben. Ich freue mich auch auf die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, auf
über den Antrag der SPD; allerdings hat die SPD das, die Bedingungen ihres Aufenthalts und auf Unterschiede
was wir in unserem Antrag fordern, lediglich in der Fest- zwischen In- und Ausländern beziehen.
stellung formuliert.
Das deutsche Recht muss im Einklang mit den völ-
(Christoph Strässer [SPD]: Wir wären schon kerrechtlichen Verpflichtungen stehen, die sich für die
froh, wenn das gelingen würde!) Bundesrepublik Deutschland aus der UN-Kinderrechts-
konvention ergeben. Es besteht daher keine Notwendig-
Aus Ihrer Regierungserfahrung müssten Sie wissen, dass keit, länger an der Erklärung festzuhalten.
durch eine bloße Feststellung weder das Asylrecht noch
das Aufenthaltsrecht geändert wird. Insofern hoffe ich, (Beifall bei der FDP sowie der Abg.
dass Sie sich den weiter gehenden Forderungen der Grü- Dorothee Bär [CDU/CSU])
nen und meiner Fraktion, der Linken, anschließen.
Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung ist aber
Die Linke hat in der letzten Wahlperiode gesagt und nicht nur rechtlich notwendig, sie ist auch politisch ge-
bleibt dabei: Die Kinderrechte müssen für alle Kinder boten; denn es gilt, national wie international bestehende
gelten. Es ist nicht schwer, zu erahnen, was der UN-Aus- Zweifel am Willen Deutschlands, die UN-Kinderrechts-
schuss sagen wird, wenn die Bundesregierung den längst konvention uneingeschränkt durchzusetzen, auszuräu-
überfälligen Staatenbericht zur Umsetzung der UN- men.
Kinderrechtskonvention endlich abgegeben hat: (Beifall des Abg. Thomas Koenigs [BÜND-
Deutschland ist meilenweit davon entfernt, ein kinder- NIS 90/DIE GRÜNEN])
freundliches Land zu sein: wachsende Kinderarmut, Bil-
dungsungerechtigkeit, fehlende Beteiligungsrechte für Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung stellt ein drin-
Kinder und letztlich die massive Verletzung der Rechte gend notwendiges und überfälliges Signal für ein kinder-
von Flüchtlingskindern. Für die Bundesrepublik freundliches Deutschland dar.
502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Sibylle Laurischk
(A) (Beifall bei der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Dörner von
darauf hinweisen, dass es hier um das fundamentale Bündnis 90/Die Grünen.
Thema Menschenrechte geht, und zwar insbesondere um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Rechte minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge.
(Beifall des Abg. Thomas Koenigs [BÜND- Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Es kann und darf nicht sein, dass Flüchtlingskinder ab Liebe Kollegen! Nicht schlecht, habe ich bei meinem
16 Jahren im Asylverfahren wie Erwachsene behandelt ersten Blick in den Koalitionsvertrag gedacht. Denn die
werden und keinen juristischen Beistand bekommen. Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention sollen
zurückgenommen werden. Wir alle sind uns einig, so
(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN habe ich hier gehört: Die Rücknahme ist lange gefordert,
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie sie ist auch schon oft beschlossen worden, und sie ist
bei Abgeordneten der CDU/CSU) wirklich mehr als überfällig.
Es kann und darf nicht sein, dass ihre Asylanträge ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gelehnt werden, weil ihr Schicksal angeblich keine poli- sowie bei Abgeordneten der SPD)
tische Verfolgung im Sinne des deutschen Asylrechts
darstellt. Es kann und darf nicht sein, dass diese Kinder Jetzt, so wenige Wochen später, bin ich leider schon
und Jugendlichen in Abschiebehaft geraten können. enttäuscht. Die Koalition hat es noch nicht einmal ge-
Schließlich kann und darf es nicht sein, dass sie beim schafft, zu dieser heute nun wirklich erwartbaren De-
Schulbesuch, bei der medizinischen Versorgung oder bei batte einen eigenen Antrag vorzulegen.
den Ausbildungsmöglichkeiten schlechter als deutsche
Kinder gestellt sind. Von dem einen oder anderen war zu hören, die Zeit-
spanne sei auch etwas kurz gewesen. Aber ich finde, die-
(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN ses Argument kann man nicht gelten lassen. Die Koali-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie tion hat es sogar geschafft, einen Gesetzentwurf
bei Abgeordneten der CDU/CSU) vorzulegen, um das Kindergeld und den Kinderfreibe-
Dass all diese Szenarien nach jetziger Rechtslage in trag zu erhöhen.
Deutschland denkbar sind, ist ein inakzeptabler Miss-
(Jens Ackermann [FDP]: Das ist doch gut!)
(B) stand. Davon abgesehen machen wir uns auf internatio- (D)
nalem Parkett lächerlich. Es darf keine Irritationen und Eine solche Maßnahme kommt aber gerade den ärmsten
kein Zweifel am Willen Deutschlands geben, die UN- Kindern in unserem Land – das haben wir hier schon ei-
Kinderrechtskonvention uneingeschränkt durchzusetzen. nige Male gehört – nicht zugute.
Wir dürfen anderen Staaten keine Gründe liefern, selbst
Vorbehalte anzumerken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜND- KEN)
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte darauf verweisen, dass UNICEF Deutsch-
Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung stärkt die
land in der vergangenen Woche anlässlich des 20. Ge-
Position der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich
burtstags der Kinderrechtskonvention ausdrücklich die
des internationalen Menschenrechtsschutzes und hilft in-
wachsende Kluft zwischen den armen und reichen Kin-
nerhalb und außerhalb Deutschlands, Irritationen zu ver-
dern, zwischen Kindern mit Chancen und solchen ohne
meiden. Durch die Rücknahme der Erklärung wird sich
auch hier bei uns in Deutschland problematisiert hat.
zudem der Dialog mit den Kinderrechtsorganisationen,
die die Rücknahme seit langem fordern, merklich ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
spannen.
Frau Bär, Sie haben eben gesagt, dass Sie die Kinder-
Kinderrechte sind Menschenrechte. Die Rücknahme armut in Deutschland bekämpfen wollen. Lesen Sie ein-
der Vorbehaltserklärung ist ein dringend notwendiges mal in Ihrem Wachstumsbeschleunigungsgesetz nach,
und überfälliges Signal für ein kinderfreundliches was Sie an der Stelle machen! Gerade den ärmsten Kin-
Deutschland. Deswegen haben wir es uns in unserer Ko- dern in unserem Land wird das nicht zugutekommen.
alitionsvereinbarung auch so vorgenommen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
der CDU/CSU)
KEN)
Wir müssen den heute hier vorliegenden Anträgen auch
nicht zustimmen, weil wir handeln werden. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Rücknahme der
Vorbehalte ist mitnichten ein formaler Akt. Ich vermisse
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zu der Tatsa-
der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] che, dass die Rücknahme echte rechtliche Folgen haben
[SPD]: Da sind wir einmal gespannt!) muss.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 503
Katja Dörner
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Tierschutz ist im Grundgesetz verankert, das ist (C)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- auch gut so, die Kinderrechte nicht.
KEN)
(Christoph Strässer [SPD]: Zitieren Sie doch
Ich bin leider sehr skeptisch, dass hier von CDU/CSU nicht so eine liberale Journalistin!)
und FDP tatsächlich etwas bewegt werden wird, damit Ich finde, das sollte nicht so bleiben. Kinderrechte ge-
endlich der Zustand beendet wird, Kinder, die traumati- hören in unser Grundgesetz. Das ist weit mehr als nur
siert und alleine in Deutschland Schutz und Zuflucht su- Symbolik. Auch das ist aus meiner Sicht längst überfäl-
chen, in Sammellager zu verfrachten und 16-Jährige in lig.
ihren Asylverfahren wie Erwachsene zu behandeln. Ih-
nen wird der Zugang zu medizinischer und psychologi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
scher Behandlung verwehrt. In manchen Bundesländern bei der SPD und der LINKEN)
sind sie noch nicht einmal schulpflichtig. Ich finde, das
ist ein Skandal in unserem Land. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Kollegin Dörner, ich gratuliere Ihnen im Namen
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
KEN) Bundestag.
(Beifall)
Es muss ganz klar sein: Die Vorbehalte zurückzuneh-
men, darf keine Mogelpackung sein, mit der sich die Das Wort hat jetzt die Kollegin Michaela Noll von der
Bundesregierung schmückt, ohne rechtliche Konsequen- CDU/CSU-Fraktion.
zen folgen zu lassen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Welche Rolle spielen die Bundesländer? Ich gehe da- neten der FDP)
von aus, dass das zukünftig kein Problem mehr sein
wird. Denn in früheren Jahren haben alle Abfragen erge- Michaela Noll (CDU/CSU):
ben – darauf wurde schon hingewiesen –, dass es die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
schwarz-gelben Länder waren, die sich geweigert haben. Kolleginnen und Kollegen! Liebe Marlene, „the same
Zu denen werden Sie jetzt einen Superzugang haben. procedure“. Du hast recht in diesem Punkt.
Deshalb gehe ich einfach davon aus, dass das zukünftig
nicht mehr vorkommen wird. Ich freue mich sehr darüber, dass hier viele ehemalige
Mitglieder der Kinderkommission sitzen. Wir haben das
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thema UN-Kinderrechtskonvention immer wieder be- (D)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- sprochen. Ich schätze, Kollegin Ingrid Fischbach hat ihre
KEN – Diana Golze [DIE LINKE]: Man soll achtzehnte Rede dazu gehalten. Du, Marlene, bist bei der
die Hoffnung nie aufgeben!) fünfundzwanzigsten angekommen. Über dieses Thema
ist immer wieder im Plenum diskutiert worden. Ich bin
– Genau. Ich bin neu und darf noch optimistisch sein. froh, dass wir im Koalitionsvertrag darauf eingegangen
Grundsätzlich finde ich aber auch, dass die Bundesre- sind. Es war dabei sicherlich nicht schädlich, dass zwei
gierung an dieser Stelle keine falsche Rücksicht auf die Mitglieder der Kinderkommission an den Koalitionsver-
Bundesländer nehmen sollte. Den Bundesländern gegen- handlungen teilgenommen haben. Das war der Sache nur
über rücksichtsvoll zu sein – viele Bundesländer haben dienlich. Deswegen richte ich an dieser Stelle meinen
sich mittlerweile selber dahin gehend geäußert, dass sie Appell an alle Fraktionen. Ich würde mich freuen, wenn
die Vorbehaltserklärung gerne zurückgenommen sehen es uns wieder gelingt, eine Kinderkommission einzu-
wollen –, aber rücksichtslos gegenüber den Flüchtlings- richten; denn eine solche Kommission setzt eigene Ak-
kindern: Das wäre ein kinderrechtliches Trauerspiel. zente, hat das Kindeswohl im Auge und kann eine über-
parteiliche Beschlussfähigkeit aufweisen. Es würde
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – mich für die Sache sehr freuen.
Jens Ackermann [FDP]: Das macht doch kei-
ner!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei
Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Ich bin von CDU/CSU und FDP auch deshalb ent-
Ich bin sehr dankbar, liebe Marlene, dass du uns ge-
täuscht, weil ihr Engagement für die Kinderrechte in
lobt hast. Ich bin zuversichtlich, dass es uns diesmal ge-
Deutschland insgesamt wenig ambitioniert ist. Ich finde,
lingen kann; denn wir haben nun die Mehrheiten in Bun-
es braucht viel mehr als das, was wir wohl in den nächs-
destag und Bundesrat. Ich hoffe, dass die Innenminister
ten vier Jahren erwarten dürfen. Wir brauchen beispiels-
zu der Einsicht gelangen, dass hier dringender Hand-
weise eine umfassende Strategie zur Umsetzung der
lungsbedarf besteht. Ich jedenfalls habe diese Hoffnung
Kinderrechte in Deutschland. Der Nationale Aktionsplan
nicht aufgegeben. Wir werden entsprechende Gespräche
muss weiterentwickelt und engagiert fortgeführt wer-
führen.
den. Der deutsche Staatenbericht muss endlich vorge-
legt werden. Darauf warten wir seit Monaten. Wir müs- Ich bin auch sehr dankbar, dass Kollegin Dorothee
sen auch – davon bin ich überzeugt – unsere Verfassung Bär den Spannungsbogen aufgezeigt und geschildert hat,
ändern. UNICEF-Botschafterin Sabine Christiansen hat was wir über die Konvention hinaus für Kinder machen
den Satz geprägt – ich zitiere –: wollen. Der aktive Kinderschutz, die Bildungschancen
504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Michaela Noll
(A) und die Kinderarmut wurden schon angesprochen. Es paar Punkte. Ein Beispiel ist die Kindschaftsrechtsre- (C)
geht auch darum, wie Kinder in Deutschland tatsächlich form. Das war 1998 eines der großen Projekte. Das
leben. Sie hat das Stichwort „Kinderlärm“ erwähnt. Ich Herzstück war die Regelung zum gemeinsamen Sorge-
hätte nicht gedacht – ich glaube, das trifft wohl auf fast recht.
jeden Wahlkreis zu –, dass Einrichtungen geschlossen
werden, weil Nachbarn plötzlich der Ansicht sind, es (Beifall bei der CDU/CSU)
werde zu viel Kinderlärm gemacht. Ich habe es bei ei- Für Eltern und vor allem für die Kinder war es wichtig,
nem alle zwei Jahre stattfindenden Schüler-Sponsoren- dass sich hier etwas getan hat. Wir haben zudem das Ge-
Lauf zugunsten eines südamerikanischen Schulprojekts setz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und das
– Schüler unterstützen Schüler – erlebt: Wir dürfen den Tagesbetreuungsausbaugesetz auf den Weg gebracht. Ich
Startschuss nicht mehr geben, weil sich die Nachbarn finde, einiges ist erreicht worden.
genervt fühlen. Ich bin froh, dass im Koalitionsvertrag
auch auf dieses Thema eingegangen wird; denn auch das Die Aussage – das ist auch der Tenor des Antrags der
trägt zu einer Änderung in den Köpfen bei und rückt die Linken –, dass die Kinder, die sich illegal in Deutschland
Frage in den Mittelpunkt, wie wir mit Kindern umgehen. aufhalten, nicht entsprechend betreut werden, möchte
Schaffen wir ein kinderfreundliches Land! ich so nicht stehen lassen. In der Antwort der Bundesre-
gierung auf die Große Anfrage der Grünen heißt es – es
Liebe Kollegin Golze, ich bin froh, dass wir in der wäre ganz sinnvoll, wenn die Linken das nachlesen wür-
heutigen Debatte einen etwas gemäßigten Ton ange- den; Drucksache 16/6076 –:
schlagen haben. Ich hatte schon die größten Befürchtun-
gen. Was wir in der Geschäftsordnungsdebatte in der Nach Auffassung der Bundesregierung entspricht
letzten Legislaturperiode gehört haben, war zum Teil al- das Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht in vollem
les andere als schön. Aber eines ist falsch: Ich denke, un- Umfang den Vorgaben der UN-Kinderrechtskon-
sere Bilanz der letzten vier Jahre ist wirklich gut. vention. Das Bundesamt für Migration und Flücht-
Schauen Sie sich an, was wir in der Familienpolitik auf linge berücksichtigt bei der Bearbeitung von Asyl-
den Weg gebracht haben! Nicht umsonst hat Familien- anträgen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge
politik im Fokus der Öffentlichkeit gestanden. Wir ha- deren spezifische Bedürfnisse auf vielfältige Weise.
ben den Ausbau der Betreuungsplätze vorangebracht so- Gerade die asylverfahrensrechtliche Anhörung bei
wie das Elterngeld und die Elternzeit eingeführt. Es gibt Minderjährigen wird einfühlsam und weniger for-
noch viele andere Aspekte. Eltern haben sich in mal durchgeführt als bei den Volljährigen.
Deutschland plötzlich ernst genommen und wahrgenom- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das nennt
men gefühlt. Unter vielen anderen Regierungen war die man schriftliche Lüge!)
(B) Familienpolitik leider ein Randthema. Deswegen (D)
möchte ich das, was Sie gesagt haben, so nicht stehen Wir haben Sonderbeauftragte, die wirklich versuchen,
lassen. im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf die Bedürfnisse der
Kinder einzugehen. Deswegen, meine ich, ist das, was
Frau Dörner, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ers-
Sie hier vorgetragen haben, in der Sache nicht korrekt.
ten Rede. In einem Punkt haben Sie recht. Sie haben
am Anfang Ihrer Rede gesagt, dass Sie beim Lesen des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Koalitionsvertrages gedacht hätten: Nicht schlecht! – der FDP)
Genau so ist es. Sie haben dann gefragt, warum wir
keine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht haben. Seit 1992 gab es nicht nur schwarz-gelbe Regierun-
Richtig ist: Wir sind erst in der zweiten Sitzungswoche. gen. An der Aufrechterhaltung der Vorbehalte waren alle
Die Ausschüsse haben sich gerade erst konstituiert. beteiligt. Es ist aber keinem gelungen, ihre Rücknahme
der Vorbehalte durchzusetzen.
Ich finde folgende Aussage in Ihrem Antrag sehr
wichtig: Die UN-Kinderrechtskonvention ist ein Meilen- (Diana Golze [DIE LINKE]: Berlin ist
stein in der Geschichte der Kinderrechte. – In diesem unschuldig!)
Punkt gibt es große Akzeptanz und einen großen Kon- – Auch die hatten schon Innensenatoren, die sich ableh-
sens in diesem Plenum. Dass es nach wie vor zwei Län- nend angestellt haben.
der gibt, die diese Konvention nicht ratifiziert haben,
finde ich bedauerlich. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Lafontaine war
mal Ministerpräsident und hat auch nichts ge-
(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: macht!)
Somalia ist dabei!
Wichtig ist, zu fragen: Was wollen wir? Ich glaube,
– Dann ist es ja gut. Dann gibt es nur noch ein Land. Wir
wir sollten die gute Chance durch den jetzigen Koali-
können versuchen, auf internationaler Ebene Einfluss zu
tionsvertrag einfach nutzen. Wir sollten uns dafür einset-
nehmen.
zen, die Rücknahme der Vorbehalte wirklich zu errei-
(Christoph Strässer [SPD]: Wenn wir mal chen. Das wäre auf internationaler Ebene ein gutes
unsere Pflicht erfüllen!) Zeichen. Ich glaube, dass wir die Kraft dazu haben. Wir
werden uns daher alle in diesem Rahmen entsprechend
Bislang ist aber noch nicht deutlich geworden, was bemühen. Das ist versprochen.
wir alles im Zusammenhang mit der UN-Kinderrechts-
konvention auf den Weg gebracht haben. Ich nenne ein Danke.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 505
Michaela Noll
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Die Zahlen, die genannt worden sind, sprechen eine (C)
Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Dein ganz deutliche Sprache. Es ist wirklich nicht nachvoll-
Wort in Gottes Ohr!) ziehbar, mit welchen Argumenten ein Bundesland – wel-
ches auch immer – sagen kann: Wir wollen diese Umset-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zung in dieser Situation nicht durchführen. Ich kann nur
Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Strässer von sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber auch das, was
der SPD-Fraktion. ich im Koalitionsvertrag gelesen habe, überzeugt mich
definitiv nicht. Auf die einfache, pauschale Formulie-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) rung „Wir wollen etwas erreichen“ müssen Taten folgen.
Sie können sich nicht darauf zurückziehen, dass die Le-
Christoph Strässer (SPD): gislaturperiode gerade erst angefangen hat.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe (Sibylle Laurischk [FDP]: Zweite Sitzungs-
Kolleginnen und Kollegen! Von denjenigen, die nicht woche!)
zum ersten Mal zu diesem Thema sprechen, bin ich
wahrscheinlich derjenige, der am ältesten aussieht. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten gehört
und gelesen, dass sich CDU/CSU und FDP darauf vor-
(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) bereitet haben, gemeinsam zu regieren. Wenn es möglich
Das soll aber nichts daran ändern, dass es auch im ge- gewesen wäre, in einem solch relativ einfachen Fall
steigerten Alter noch wichtig und richtig ist, sich für die schnell eine Abstimmung herbeizuführen, dann hätten
Rechte von Kindern einzusetzen. wir diese Diskussion heute Abend nicht. Ich unterstütze
Sie doch, Frau Laurischk. Sie sind doch diejenigen, die
Frau Kollegin Noll, Sie haben recht: Natürlich würde das wahrscheinlich betrieben haben. Sie können darauf
es der Bundesrepublik Deutschland gut anstehen, wenn zählen, dass Sie die Unterstützung der Opposition haben,
sie mit hoher Legitimation die Umsetzung der Kinder- wenn Sie das umsetzen wollen. Aber die Erfahrungen,
rechtskonvention in den Staaten, wo dies noch nicht ge- die wir haben – das sage ich Ihnen noch einmal ganz
schehen ist, vorantreiben könnte. Wieso sollen aber aus- deutlich –, sprechen eine ganz andere Sprache.
gerechnet wir aus Sicht anderer Länder Glaubwürdigkeit
besitzen, wenn wir selbst nicht in der Lage sind, die Kin- Ich möchte Ihnen deshalb ein Beispiel nennen, um zu
derrechtskonvention ihrem Sinne und Inhalt nach kom- zeigen, um was es eigentlich geht.
plett und vollständig umzusetzen? Das ist doch genau
der Punkt, mit dem wir es die ganze Zeit zu tun haben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
(B) Fischbach? (D)
Ich bin weiß Gott nicht jemand, der alles auf andere
schieben will. Herr Kollege Haibach, wir haben in den Christoph Strässer (SPD):
letzten vier Jahren im Menschenrechtsausschuss wirk- Ja, sicher. Ich habe heute schon viele gute Zwischen-
lich eingehend versucht, einen Konsens in der Großen fragen gehört, die immer beste Profilierungschancen ge-
Koalition hinzubekommen. Ich weiß, dass das Hindernis boten haben.
nicht die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist. Ich muss
aber doch konstatieren, dass es im letzten Jahr, im
Herbst 2008, eine Bundesratsinitiative von SPD-regier- Ingrid Fischbach (CDU/CSU):
ten Ländern gegeben hat. Die gibt es immer noch, und Dann hoffe ich jetzt auf eine gute Antwort, Herr Kol-
im Mai wird wahrscheinlich noch Weiteres dazukom- lege Strässer.
men; das ist ja ganz gut. Ich darf Sie daran erinnern, wo- Ich wollte nur fragen, ob Ihnen bewusst ist, dass in
ran dieser Vorstoß gescheitert ist. Er ist daran geschei- den rot-grünen Regierungsjahren selbst Ihre Minister vor
tert, dass diese Initiative im Bundesrat noch nicht einmal der Kinderkommission gesagt haben, sie brauchten es
diskutiert worden ist. Die CDU-regierten Länder haben gar nicht zu versuchen, und sie würden es auch nicht
die Diskussion verweigert. Sie haben gesagt: Wir ma- versuchen, die Vorbehalte zurückzunehmen, weil da ei-
chen das nicht. gentlich nichts richtig zurückzunehmen ist. Die Ent-
Ich kann Ihnen auch sagen, warum das so ist. Man hat wicklungen seien eigentlich so fortgeschritten, dass man
damals – das ist doch der eigentliche Skandal – den aus- sie gar nicht mehr zurücknehmen müsse. Deshalb sei
länderrechtlichen Vorbehalt in den Ratifizierungsprozess man diesen Weg nicht gegangen.
eingeführt, weil man der Meinung war – Entschuldi- Stimmen Sie mit mir darin überein, dass es auch unter
gung, ich sage das etwas platt und überspitzt –: Wenn Ihrer Ägide – Sie sagten gerade, es liege nur an der
Deutschland das macht, dann werden wir von Kindern CDU –, also selbst unter Rot-Grün, nicht möglich war,
überschwemmt, auf die diese Kinderrechtskonvention diesen Weg zu gehen?
zutrifft. – Das ist absurd. Das ist zynisch. Das ist men-
schenfeindlich. Das muss man ganz einfach einmal sa-
Christoph Strässer (SPD):
gen.
Ich glaube, Sie haben mir nicht richtig zugehört. Ich
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten habe zu Beginn gesagt: An der Tatsache, dass wir jetzt
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE darüber streiten, sind alle mitschuldig. Nur, ich kann Ih-
GRÜNEN) nen noch einmal sagen – das betraf den Hinweis auf die
506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Christoph Strässer
(A) Bundesratsinitiative des letzten Jahres –: Alle SPD-re- Der erste Punkt: Wir haben, anstatt nach vorne zu (C)
gierten Bundesländer haben diesen Antrag im Bundesrat schauen – gerade Sie, Herr Kollege, haben das jetzt noch
eingebracht, und er ist ausschließlich an den Bundeslän- einmal getan –, eine Verursacherdebatte geführt und ge-
dern gescheitert, die von Ihrer Partei regiert werden. fragt, wer eigentlich wann schuld gewesen ist und wa-
Dann können Sie sich bitte schön hier nicht hinstellen rum wir die Vorbehaltsregelung in der gegenwärtigen
und bei uns Glaubwürdigkeit in Anspruch nehmen, die Form noch haben. Ich glaube nicht, dass das weiterhilft,
Sie in den letzten vier Jahren aus meiner Sicht massiv und ich glaube auch nicht, dass das jemanden, der be-
verspielt haben. troffen ist, interessiert. Auch das sage ich Ihnen ganz of-
fen. An der Stelle kann ich mir eine Bemerkung nicht
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) verkneifen. Schauen Sie sich an, wer 1992 die Mehrzahl
Wie gesagt: Mir geht es gar nicht darum, jetzt die Ver- der westlichen Bundesländer regiert hat.
gangenheit zu bewältigen, sondern mir geht es darum, (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Dann machen
dafür zu sorgen, dass es nach vorne geht. Ich will Ihnen Sie doch das Gleiche!)
dazu ein Beispiel nennen, was sich in diesem Jahr, im
Jahr 2009, im Land Niedersachsen abgespielt hat. Wir – Ja, aber ich nehme mir heraus, der Wahrheit die Ehre
reden hier immer ganz pauschal über Verfahren, wir re- zu geben und von unserer Seite daran zu erinnern.
den ganz pauschal über Grundrechte, aber es sind Ein-
zelschicksale. Da wird ein 16-jähriges Romamädchen (Beifall bei der CDU/CSU)
unbegleitet in das Kosovo abgeschoben. Dieses Mäd-
chen ist aus Furcht vor sexuellen Übergriffen, die es er- Wie gesagt: Schauen Sie sich an, wer 1992 in neun Län-
litten hat, nach Deutschland gekommen. Wo seine Eltern dern die Regierung gestellt hat. In diesen Ländern gab es
sind, weiß kein Mensch. Es wird alleine nach Pristina rot-grüne Landesregierungen. Der Ministerpräsident des
abgeschoben, obwohl wir wissen, dass das die europäi- Saarlandes hieß Oskar Lafontaine. Das ist ein gutes Bei-
sche Drehscheibe für Menschenhandel, für Frauenhan- spiel dafür, dass wir mit solch einer Verursacherdebatte
del und für Prostitution ist. Das ist die praktische Folge nicht weiterkommen.
dessen, was wir hier seit vielen Jahren bekämpfen. Al- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
leine deshalb sage ich: Die Frage der Umsetzung der Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Kinderrechtskonvention hat auch massiv etwas mit Men- GRÜNEN])
schenwürde, mit Kinderrechten insgesamt zu tun.
Der zweite Punkt ärgert mich auch. Sie suggerieren,
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem dass wir durch die Rücknahme der Vorbehaltsregelung
(B) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu fundamental anderen Rechtsgrundlagen kommen (D)
Ich sage das angesichts aller fortschrittlichen Dinge, würden. Die Kollegin hat dankenswerterweise aus der
die unter Rot-Grün und der Großen Koalition geschehen Antwort auf die Große Anfrage der Grünen zur Rück-
sind: Solange das nicht geregelt ist, ist für viele Kinder nahme der Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention vom
und Jugendliche in diesem Alter der Anspruch, dass Juli 2007 zitiert. Die Antwort auf die Frage 10 ist ganz
Deutschland ein kinderfreundliches Land ist, ein purer klar: Das deutsche Asylverfahrensrecht und das Aufent-
Etikettenschwindel. Wir sind gerne bereit, diesen Etiket- haltsrecht entsprächen schon heute in vollem Umfang
tenschwindel dadurch zu beseitigen, dass wir es jetzt der UN-Kinderrechtskonvention. Wir können da viel-
endlich in den nächsten vier Jahren hinbekommen. leicht noch über rechtliche Details streiten, aber doch
nicht darüber, dass wir von dem, was angestrebt wird,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten längst nicht so weit weg sind, wie Sie es suggerieren.
der LINKEN) Auch das ärgert mich.
Der dritte Punkt – ihn halte ich eigentlich für beson-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ders schlimm –: Durch die Art der Argumente und die
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Wahl der Worte nehmen Sie bewusst in Kauf, dass der
der Kollege Dr. Peter Tauber von der CDU/CSU-Frak- Eindruck entstehen könnte, dass Deutschland massive
tion das Wort. Defizite im Bereich Kinderrechte hat. Natürlich stimme
ich Ihnen zu: Es gibt immer etwas, was wir im Interesse
(Beifall bei der CDU/CSU) der Kinder, im Interesse der Familien noch besser ma-
chen können; das gilt gerade für so zentrale Fragen wie
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei jungen Paa-
ren. Natürlich haben wir da immer noch viel zu tun.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine
Herren! Liebe Frau Rupprecht, ich habe Ihnen wegen Ih- Aber wahr ist auch, dass es auf diesem Globus wahr-
rer mitreißenden und Ihrer optimistischen Art sehr gerne scheinlich nur wenige Länder gibt, in denen Kinder sol-
zugehört. Aber nach dem weiteren Verlauf der Debatte che Zukunftsperspektiven haben, in denen Kinder in ei-
bin ich doch geneigt, mein ebenfalls relativ optimistisch ner solchen Sicherheit groß werden, wie es in unserem
gehaltenes Manuskript beiseite zu legen und auf vier Land der Fall ist.
Punkte einzugehen, die aus meiner Sicht in den letzten
Minuten der Debatte einen zu großen Schwerpunkt ein- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
genommen haben. neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 507
Dr. Peter Tauber
(A) Durch solche Diskussionen schaffen Sie eher Verun- Rüdiger Veit (SPD): (C)
sicherungen und machen Sie eben nicht deutlich, dass Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
das, was man gemeinhin eine glückliche Kindheit nennt, Deutschland gibt es nach Schätzungen zwischen
für den größten Teil der Kinder in diesem Land allein 500 000 und 1,5 Millionen ausländische Mitbürgerinnen
aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Mitbürger ohne Papiere. Im Gegensatz zur Gruppe
– damit meine ich nicht nur das Sozialsystem, das Ge- der Geduldeten, über die wir hier vor ungefähr zweiein-
sundheitssystem und das Bildungssystem, sondern vor halb Stunden gesprochen haben, sind das Menschen, die
allem die Tatsache, dass es unheimlich viele Menschen offiziell überhaupt nicht existent sind. Aber sie sind da,
gibt, die sich für Kinder engagieren – möglich ist. Das und deswegen ist die Schätzungsschwankungsbreite so
blenden Sie aus oder nivellieren es, und das halte ich für groß.
nicht sehr glücklich.
Es gibt seit mindestens zehn Jahren – diesen Zeitraum
Der vierte Punkt – das finde ich persönlich ein biss- kann ich überblicken – hier in Berlin den Arbeitskreis
chen schade –: Durch Ihre Ausführungen haben Sie ei- IIlegalität, der von den beiden großen christlichen Kir-
gentlich die Chance vertan, dass wir gemeinsam, also chen maßgeblich gestaltet und organisiert wird. Wenn
FDP, CDU/CSU und die drei Fraktionen der Opposition, Sie mir das an der Stelle erlauben, möchte ich mich bei
etwas auf den Weg bringen.
denjenigen, die von den beiden großen Kirchen daran
Damit möchte ich schließen. Ich glaube, die betroffe- mitgewirkt haben, herzlich für ihre Leistung bedanken.
nen Kinder, aber auch die Eltern fragen nicht danach, Ich denke da vor allen Dingen an Schwester Bührle und
wer wann wie schuld war. Sie fragen nicht danach, wer Pater Alt, die im Augenblick an anderer Stelle im Ein-
was getan hat oder wer wann welchen Schaufenster- satz sind, sich aber große Verdienste erworben haben, in-
antrag formuliert hat. Sie fragen ganz konkret: Wann dem sie sich um diese illegal bei uns lebenden Menschen
verändert sich was? Wenn wir das in den künftigen De- gekümmert haben.
batten ein bisschen mehr in den Mittelpunkt stellen,
dann wäre allen geholfen. (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Herzlichen Dank. bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In diesem Arbeitskreis Illegalität – das ist zunächst
einmal positiv hervorzuheben – haben eigentlich Mit-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: glieder aller Fraktionen dieses Hauses die ganze Zeit
Herr Kollege Tauber, auch Ihnen gratuliere ich im Na- über mitgewirkt und, wie ich finde, konstruktiv mitge-
men des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bun- wirkt. Wir haben uns immer wieder gefragt: Wie können
(B) destag. wir wenigstens die humanitäre Situation der Menschen (D)
(Beifall) dann, wenn sie krank werden, Arbeitslohn einklagen
wollen oder müssen oder ihre Kinder schulpflichtig wer-
Ich schließe die Aussprache. den, ein bisschen verbessern? Niemand hat in dem Zu-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf sammenhang jemals die Behauptung aufgestellt, wir
den Drucksachen 17/57, 17/61 und 17/59 an die in der müssten sie alle im Hinblick etwa auf einen Aufenthalts-
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. status regelrecht legalisieren. Das will ich einmal klar
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann und deutlich sagen. Wir haben jedoch alle die humanitä-
sind die Überweisungen so beschlossen. ren Notwendigkeiten gesehen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Das hat dazu geführt, dass wir eine ganze Zeit lang
parteiübergreifend überlegt haben, wie wir durch ent-
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- sprechende Veränderungen unserer Rechtslage oder der
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Verwaltungspraxis eine Verbesserung der sozialen Situa-
Änderung des Aufenthaltsgesetzes tion bewirken können. Eine Zeit lang haben wir uns da-
– Drucksache 17/56 – bei auf die Verwaltungsvorschriften zum Aufenthalts-
Überweisungsvorschlag: recht konzentriert, weil wir nicht so richtig wussten, wie
Innenausschuss (f) wir das Ganze gesetzlich fassen sollten. Später hat das
Rechtsausschuss etwas andere Formen angenommen.
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Wir haben dann zu Zeiten der Großen Koalition die
Ausschuss für Bildung, Forschung und Verabredung getroffen, zu prüfen, welche Möglichkeiten
Technikfolgenabschätzung
zum Helfen bestehen, und danach zu handeln. Dazu ist
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die es schlussendlich aber leider nicht mehr gekommen. Ich
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage- will Ihnen auch sagen, warum: Die Unionskollegen wa-
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das ren mit uns eigentlich durchaus der Auffassung, dass
so beschlossen. man zumindest einmal die Übermittlungspflichten einer
kritischen Würdigung unterziehen sollte; denn – das
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
wurde auch durch den Prüfbericht, den der Bundes-
ner dem Kollegen Rüdiger Veit von der SPD-Fraktion
minister des Innern veranlasst hat, festgestellt – diese soge-
das Wort.
nannten Übermittlungspflichten sind bei uns in Deutsch-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) land – typisch deutscher Perfektionismus – eigentlich
508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Rüdiger Veit
(A) einmalig in Europa dergestalt geregelt, dass jedermann, Hilfe leistet, läuft Gefahr, sich damit strafbar zu machen. (C)
der von Illegalen und ihrem Aufenthalt hier in Deutsch- Aufgrund dieser Erkenntnis haben wir den Fall der qua-
land Kenntnis erhält, darüber den Behörden, insbeson- lifizierten Beihilfe, übrigens mit einem entsprechenden
dere der Ausländerbehörde, Mitteilung machen muss. Umsetzungsgesetz, richtigerweise aus dem Aufenthalts-
gesetz herausgestrichen. Wir haben damals aber überse-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
hen, dass auch der Fall der einfachen Beihilfe nach den
NEN]: Jeder im öffentlichen Dienst!)
Vorschriften des StGB Allgemeiner Teil nach wie vor
– Selbstverständlich jeder im öffentlichen Dienst, jede strafbar wäre.
öffentliche Stelle. In der Tat, Kollege Wieland. – Vor
diesem Hintergrund war dann immerhin mit der Union (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: „Wäre“! –
eine Verständigung darauf erreichbar, dass der Schulbe- Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
such der Kinder von Illegalen nicht verunmöglicht wer- GRÜNEN]: Darauf haben wir euch im Aus-
den sollte. An dieser Stelle war man bereit, sich ein schuss aber hingewiesen!)
Stück zu bewegen. Das hat dann aber leider nicht funk- Deswegen ist es notwendig, an der Stelle nachzubessern
tioniert, wie wir wissen. Auch ein Gesetzentwurf, den und im Gesetz klarzustellen, dass derjenige, der aus rein
wir in der letzten Legislaturperiode schon fertiggestellt humanitären Gründen, ohne einen Vorteil davon zu ha-
hatten, konnte nicht auf den Weg gebracht werden, weil ben, Illegalen in Deutschland hilft, sich nicht strafbar
namentlich die B-Länder gesagt hatten, sie machten da macht. Das ist das, was wir jetzt erreichen wollen.
nicht mit.
(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Kennen Sie
Worum geht es uns mit dem jetzt vorliegenden Ge- einen Fall?)
setzentwurf? Wir wollen erstens erreichen, dass Kinder
Illegaler hier in Deutschland zur Schule gehen können, – Herr Kollege Dr. Uhl, Ihr Zwischenruf gibt mir die
ohne dass sie oder ihre Eltern Angst davor haben müs- Möglichkeit, diesen Gedanken auszuweiten. Sie fragten,
sen, dass die Lehrer oder die Schulleiter der Ausländer- ob es einen solchen Fall gebe. Nein, den gibt es in der
behörde Mitteilung machen. Wir wollen zweitens errei- Tat nicht. Es gibt einen einzigen Fall, der aber unter ei-
chen, dass sich illegal in Deutschland aufhaltende nem anderen rechtlichen Gesichtspunkt behandelt wird,
Menschen ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen können, nämlich unter dem der Veruntreuung öffentlicher Gelder
ohne dass sie Angst haben müssen, dass der Kranken- bei der Hilfeleistung für Illegale. Aber es gibt eine ganze
hausträger, die Abrechnungsstelle oder auch das Sozial- Reihe von Menschen in dieser Republik – Ärzte, Sozial-
amt den Tatbestand des illegalen Aufenthalts der Aus- arbeiter, Geistliche, Lehrer usw. –, die vielleicht bereit
länderbehörde mitteilen. wären, Illegalen zu helfen, die aber Angst davor haben,
(B)
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: sich strafbar zu machen. Diese Angst sollten wir ihnen (D)
Vernünftig!) nehmen. Auch oder gerade weil es bisher noch keinen
entsprechenden Fall gab, sollten wir in dieser Hinsicht
Wir wollen drittens erreichen, dass die Illegalen, die hier im Gesetz endlich für eine Klarstellung sorgen. Es dürfte
in Deutschland zum Teil auch entgeltpflichtig beschäf- wohl niemanden stören, wenn wir das jetzt ausdrücklich
tigt werden, in der Zukunft von ihren Arbeitgebern min- festschreiben. Das Gleiche gilt, wie gesagt, für die Über-
destens nicht mehr um ihren Lohn geprellt werden kön- mittlungspflichten. Auch da ist eine Regelung überfällig.
nen. Das ist bisher der Fall, weil auch die Arbeitsrichter
verpflichtet sind, wenn sie denn Kenntnis davon erhal- Dass wir jetzt, in der Oppositionszeit, mit diesem An-
ten, der Ausländerbehörde den Status der Illegalen und trag kommen, liegt auf der Hand. In der Koalition mit
ihre Personalien mitzuteilen. der Union war eine solche Regelung nicht möglich, weil
– ich wiederhole es – uns die Innenminister der B-Län-
Ich glaube, wir alle hier im Hause stimmen überein, der ausgebremst hätten, denn auch hierfür hätten wir die
dass man diese Gewährung humanitärer Mindeststan- Zustimmung im Bundesrat gebraucht. Wir wollen das
dards in Deutschland jetzt dringend wiederherstellen jetzt hier auf den Tisch legen, zumal sich auch in Ihrer
muss, um auf die Art und Weise dann auch den Stan- Koalitionsvereinbarung ein Hinweis findet. Dort steht,
dards der Mehrheit der übrigen europäischen Staaten zu Sie wollen die Wahrnehmung des Schulbesuchs von
entsprechen. Kindern ermöglichen. Wir begrüßen das ausdrücklich.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Wir hätten uns auch in diesem Punkt, liebe Kolleginnen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Josef Philip und Kollegen von der FDP, noch ein bisschen mehr ge-
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In wünscht, als Sie in der Koalitionsvereinbarung haben
der letzten Wahlperiode habt ihr noch dagegen durchsetzen können.
gestimmt!) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Seien Sie
Im Übrigen gibt es auch eine europäische Richtlinie aus doch mal zufrieden!)
diesem Jahr, also von 2009, die gerade in der Frage des
So weit waren wir in diesem Punkt in der Großen Koali-
Einklagens von Arbeitslohn entsprechende Vorgaben
tion auch schon. Aber auch hier gilt der Satz, der vorhin
macht. Hier haben wir also auch Handlungsbedarf.
vom Kollegen Strässer geprägt wurde und den ich als
Außerdem haben wir im Arbeitskreis Illegalität des Zwischenruf wiederholt habe: Die Hoffnung stirbt zu-
Öfteren folgende Situation diskutiert: Jemand, der in letzt. – Jetzt sollten wir uns bewegen. Sehen Sie bitte zu,
Deutschland aus rein humanitären Gründen Illegalen dass Sie die B-Länder auf die richtige Seite bekommen!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 509
Rüdiger Veit
(A) Dann können wir endlich das tun, was seit mehr als zehn (Rüdiger Veit [SPD]: Sagte ich doch!) (C)
Jahren überfällig ist.
Wir wissen aber auch, dass die Sicherheitsbehörden da-
Vielen Dank. von ausgehen, dass die kursierenden Zahlen – auch die,
die Sie genannt haben – maßlos übertrieben sind. Das
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Seriöseste, was man sagen kann, ist, dass wir keine ge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nauen Zahlen haben. Ich denke, wir sollten nicht so tun,
als ob wir mehr wüssten.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Dr. Kristina Köhler von der Zu dieser Gruppe gehören nun Menschen in den un-
CDU/CSU-Fraktion. terschiedlichsten Lebenssituationen. Das sind Zwangs-
prostituierte, das sind abgelehnte Asylbewerber, das sind
(Beifall bei der CDU/CSU) aber auch Akteure im Bereich der organisierten Krimi-
nalität. In ihrem Gesetzentwurf sucht die SPD nun nach
Dr. Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Lösungen, wie man in den unterschiedlichen Bereichen
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- verhindern kann, dass die Ausländerbehörde Kenntnis
ren! Die Debatte über die Situation von illegalen Auslän- davon erhält, dass sich jemand illegal in Deutschland
dern in Deutschland ist schwierig. Man ist allzu leicht aufhält.
geneigt, sich gegenseitig fehlende Humanität oder ein Gehen wir einmal die einzelnen Themenfelder durch.
fehlendes rechtsstaatliches Verständnis vorzuwerfen. Ich Zunächst: Wie ist die Rechtslage im Bereich der Kran-
glaube, dass uns solche Vorwürfe nicht weiterführen. kenbehandlung? Die Realität ist: Auch wer sich illegal in
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Das hat er Deutschland aufhält, hat das Recht auf medizinische
nicht gemacht!) Versorgung; das ist klar. Deshalb kann sich jeder – auch
jeder Illegale – natürlich auf eigene Rechnung bei einem
Denn tatsächlich sind Menschenrechte und Rechtsstaat- Arzt behandeln lassen, und er muss keine Angst haben,
lichkeit keine Widersprüche. Humanitäre Standards kön- dass da irgendetwas übermittelt wird.
nen nur in einem Rechtsstaat verwirklicht werden. Um-
gekehrt muss sich jede ordnungsrechtliche Maßnahme Jetzt ist es natürlich völlig richtig, dass sich dies nur
im Lichte der Grundrechte bewähren. die wenigsten Illegalen leisten können. Deshalb gilt in
Deutschland auch, dass illegale Migranten in Notfällen
Lassen Sie mich deshalb für meine Fraktion zwei genauso behandelt werden wie jeder andere auch. Wer
Dinge klarstellen: mit einem gebrochenen Bein in ein Krankenhaus
(B) kommt, muss nicht befürchten, entdeckt zu werden. (D)
Erstens. In einem Rechtsstaat kann illegale Migration
nicht akzeptiert werden. (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Genau!)
(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: So ist es!) Das schreiben auch Sie in Ihrem Gesetzentwurf. Das So-
zialamt zahlt in diesen Fällen; aber es übermittelt keine
Wer sich unerlaubt in einem Land aufhält, hat dieses
Daten an die Ausländerbehörde.
Land zu verlassen. Das ist keine deutsche Eigenheit,
sondern dieser Grundsatz gilt auf der ganzen Welt. Sie (Rüdiger Veit [SPD]: Doch!)
würden die Integrationsbereitschaft der Bevölkerung
überfordern, wenn Sie unbegrenzt illegalen Aufenthalt Jetzt gibt es aber nicht nur Notfälle. Unser Rechtsstaat
akzeptieren würden. sieht vor, dass Illegale in sogenannten akuten Krank-
heitsfällen genauso wie diejenigen Ausreisepflichtigen
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE behandelt werden, die sich legal in Deutschland aufhal-
GRÜNEN]: Das will ja nun keiner!) ten, nämlich nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Zweitens ist aber auch richtig, dass illegale Ausländer Hier übernimmt der Sozialträger die Behandlung, ist
natürlich Menschen und damit Träger der unantastbaren aber verpflichtet, seine Kenntnis vom illegalen Aufent-
Menschenwürde sind. halt an die Ausländerbehörde weiterzugeben. In der Pra-
xis spielt dies zwar keine große Rolle. Aber dies ist der
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Gut, dass Sie Grund dafür, warum man als kranker Mensch ohne Pa-
das wenigstens anerkennen!) piere sagen kann: Dann sehe ich lieber von einer Be-
handlung ab.
Illegale Migration ist zwar rechtswidrig; aber sie ist
eine Realität, der wir uns stellen müssen und der auch (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Richtig
diese Bundesregierung sich stellen muss. Wenn wir uns erkannt!)
aber dieser Realität gemeinsam stellen wollen, dann
müssen wir uns erst einmal auf eine gemeinsame Reali- Meine Damen und Herren, ich kann durchaus verste-
tät einigen. Da gibt es gerade in der Debatte über illegale hen, dass man an dieser Stelle sagt: „Unterlasst doch in
Migration einige unterschiedliche Sichtweisen. diesen akuten Fällen so wie bei Notfällen eine Übermitt-
lung der Daten“, weil die Betroffenen ansonsten notwen-
Das beginnt schon mit der Frage nach dem Umfang dige Behandlungen nicht vornehmen lassen. Das klingt
von illegaler Migration; Herr Veit, Sie sprachen es eben im ersten Moment sehr humanitär. Aber ich sage Ihnen
an. Die Wahrheit ist: Niemand weiß genau, wie viele es auch: Die Manifestierung eines rechtsfreien Zustands ist
sind. keine Lösung des Problems. Wenn wir den Rechtsstaat
510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Dr. Kristina Köhler (Wiesbaden)


(A) unterhöhlen, dann ist niemandem geholfen. Es ist nicht Deshalb können Sie doch nicht ernsthaft von uns verlan- (C)
Aufgabe der Sozialkassen, dauerhaft Illegalität zu stüt- gen, dass wir Schwarzarbeit unterstützen.
zen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Befürworter dieser Streichung – auch Sie haben
sie befürwortet – verweisen sehr gerne auf andere euro- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
päische Länder. Oft heißt es: Deutschland ist das einzige Frau Köhler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Land mit einer Übermittlungspflicht. So einfach ist es Kollegen Veit?
aber nicht. Dies ist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich
sind die Gesundheitssysteme in den unterschiedlichen
europäischen Ländern sehr verschieden. Es gibt ganz un- Dr. Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU):
terschiedliche Wege, wie die Ausländerbehörden jeweils Ja, bitte sehr.
zu ihren Informationen kommen, beispielsweise im viel
gelobten Spanien. Hier brauchen Illegale eine Gesund- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
heitskarte, und für deren Erhalt müssen sie sich registrie- Bitte schön, Herr Veit.
ren lassen. Zu diesen Listen haben auch die Ausländer-
behörden Zugang. Es stimmt also: In Spanien findet
Rüdiger Veit (SPD):
keine Übermittlung statt. Aber die Ausländerbehörden
holen sich in Spanien ihre Daten eben selbst. De facto Frau Kollegin Köhler, kennen Sie die europäische
besteht also kein Unterschied zur Situation in Deutsch- Richtlinie mit der Nummer 2009/52/EG vom 18. Juni
land. 2009? Darin heißt es in Art. 6 Abs. 2, dass die Mitglied-
staaten Mechanismen einrichten müssen, mittels derer
Ein zweites Beispiel: Schweden. Als Illegaler können sich illegal aufhaltende Ausländer Ansprüche gegen ih-
Sie dort zum Arzt gehen und sich dort behandeln lassen, ren Arbeitgeber geltend machen können oder sich an die
ohne Angst haben zu müssen, aufgedeckt zu werden. zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaates
Der Nachteil ist nur: In Schweden zahlen Sie diese Be- wenden können, um ein Verfahren auf Beitreibung ein-
handlung grundsätzlich aus eigener Tasche. Damit be- zuleiten, ohne dass sie in diesem Fall Gefahr laufen müs-
steht dort aber exakt die gleiche Situation wie in sen, entdeckt zu werden. Kennen Sie diese Richtlinie?
Deutschland. Auch hier werden, wenn die Behandlung Würden Sie mir zustimmen, dass wir als Deutsche ge-
selbst gezahlt wird, keine Daten übermittelt. Daten wer- halten sind, diese europäische Richtlinie in deutsches
den erst dann übermittelt, wenn die Behandlung vom Recht umzusetzen?
Staat gezahlt werden soll.
(B) Dr. Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): (D)
Man kann also nicht so tun, als nehme Deutschland Herr Kollege, ich kenne diese Richtlinie. Ich emp-
einen Ausnahmestatus ein. Es ist nicht so einfach, die fehle Ihnen, auch Art. 1 dieser Richtlinie zu lesen. Darin
verschiedenen Länder innerhalb der Europäischen Union steht, warum diese Richtlinie erlassen worden ist. Dort
mal soeben miteinander zu vergleichen. steht explizit, dass diese Richtlinie zu dem Zweck erlas-
Kommen wir zum Thema Arbeitnehmerschutz. sen wurde, illegale Beschäftigung so weit wie möglich
Grundsätzlich gilt: Auch bei Illegalen entsteht mit der zurückzudrängen. Das ist der eigentliche Grund dieser
Arbeitsaufnahme ein faktisches Arbeitsverhältnis, und Richtlinie, während das, was Sie fordern, genau das Ge-
daraus ergibt sich ein Lohnanspruch. Dieser Lohn- genteil bewirkt: Es setzt Anreize zu weiterer illegaler
anspruch kann auch gerichtlich eingeklagt werden. Al- Beschäftigung. Deswegen werden Sie mit Ihrem Gesetz-
lerdings muss hier der Richter, wenn er in einem Pro- entwurf diesem eigentlichen Ziel der Richtlinie nicht ge-
zess, in dem es um den Arbeitslohn eines Illegalen geht, recht.
davon erfährt, dieses Wissen an die Ausländerbehörde (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
weitergeben. Dies wollen Sie ändern, und das halten wir neten der FDP – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/
für falsch. CSU]: Die Kollegin ist gut vorbereitet!)
(Rüdiger Veit [SPD]: Europäisches Recht!) Kommen wir zum letzten Thema, zum Thema Schule.
Auch das ist ein eher theoretisches Problem, weniger ein
Zum einen wollen Sie gerade Richter, die der Inbe- praktisches. Fragen Sie doch zum Beispiel in Ihrem
griff von Recht und Gesetz sein sollen, davon abhalten, Bundesland bei Ihrem Innenministerium nach, wie viele
dass sie gegen einen rechtswidrigen Zustand vorgehen. Kinder, die sich illegal in Deutschland aufhalten, von
Das ist schon eine bemerkenswerte Vorstellung. Aber Schulleitern gemeldet wurden und dann auch tatsächlich
noch viel wichtiger ist der folgende Einwand: Illegale abgeschoben wurden. Ich habe das in Hessen gemacht.
Arbeiter arbeiten grundsätzlich schwarz und billig. Jede Dort wurde in den letzten zehn Jahren kein einziger Fall
illegale Beschäftigung geht zulasten der Arbeitnehmer bekannt.
und der Arbeitsuchenden, egal, ob Einheimische oder
Migranten. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Weil es gute Schuldirektoren gibt! –
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Rüdiger Veit [SPD]: Weil es dort bis vor kur-
GRÜNEN]: Sie können ihren Lohn nicht ein- zem unter Androhung von Disziplinarverfah-
klagen! Sie bekommen ihn oft gar nicht!) ren verboten war, diese Kinder zu beschulen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 511
Dr. Kristina Köhler (Wiesbaden)
(A) Nichtsdestotrotz verstehe ich, wenn man sagt: Die Sie sprechen in den Debatten über Illegalität immer (C)
Kinder können am allerwenigsten für diese Situation. von illegalen Menschen. Ich muss für meine Fraktion
Ich verstehe auch, wenn man sagt, dass die Kinder in der klarstellen: Es gibt keine Menschen, die illegal sind. Es
Zeit, die sie in Deutschland verbringen, auch etwas ler- gibt nur Menschen, die illegalisiert werden, wie von Ih-
nen sollen; denn hier wird die Grundlage für ihr gesam- nen.
tes weiteres Leben gelegt. Deswegen ist sich die Koali-
tion einig, dass wir in diesem Bereich im Hinblick auf (Beifall bei der LINKEN – Josef Philip
die Übermittlungspflichten etwas tun werden. Darauf Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
können Sie sich verlassen: Das wird kommen. ist aber nicht das Hauptproblem!)

Der Antrag der SPD mag gut gemeint sein. In Debatten über Illegalisierte wird immer gesagt, dass
es eine Pflicht des Staates gebe, illegale Einwanderung
(Rüdiger Veit [SPD]: Er ist auch gut gemacht!) oder den illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. So eine
Aber er führt zu einer Art klandestinen Parallelwelt, ei- Verpflichtung gibt es nicht. Was es allerdings gibt, sind
ner Parallelwelt, in der sie zum Arzt gehen können, ohne Verpflichtungen, die sich aus dem Grundgesetz ergeben,
gemeldet zu sein, in der sie zur Arbeit gehen können, zum Beispiel die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt,
ohne gemeldet zu sein, in der sie zur Schule gehen kön- die Menschenwürde zu achten, sie zu schützen und sich
nen, ohne gemeldet zu sein. Dies kann und darf nach un- zu den unveräußerlichen Menschenrechten als Grund-
serer Auffassung in einem Rechtsstaat nicht möglich lage jeder menschlichen Gemeinschaft zu bekennen. Das
sein, weil es zu einer Aufspaltung des Rechts führen ergibt sich aus Art. 1 Grundgesetz. Es gibt die Verpflich-
würde, die mit unserer Grundrechtsordnung unvereinbar tung des Staates, das Recht auf freie Entfaltung der Per-
ist. sönlichkeit und auf körperliche Unversehrtheit als abso-
lut geltende Rechte aller Menschen zu schützen. Das
(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip ergibt sich aus Art. 2 Grundgesetz. Es gibt auch noch
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Art. 20 Grundgesetz, in dem erklärt wird, dass die Bun-
Art. 1 gilt doch trotzdem!) desrepublik Deutschland ein demokratischer und
Verstehen Sie mich richtig: Es ist ehrenwert, in dieser sozialer Rechtsstaat ist und eben kein Staat, der sich ge-
Frage nach Lösungen zu suchen. Aber ich glaube, Sie gen Flüchtlinge abschottet, die aus anderen Teilen der
suchen an der falschen Stelle. Denn wenn Sie bei Aus- Welt hierherkommen wollen.
länderbehörden nachfragen, stellen Sie fest, dass es für Ich war in dieser Woche mit dem Kollegen Tören von
den großen Teil der Illegalen Legalisierungsmöglichkei- der FDP bei „Ärzte der Welt“, die zu einer Tagung zu ge-
ten gäbe. Darum muss es uns doch eigentlich gehen und nau diesem Thema eingeladen haben. Ich hätte mich ge-
(B) nicht darum, die Menschen in der Illegalität zu halten. freut, wenn die CDU oder die CSU eine Vertreterin oder (D)
Vielmehr soll es darum gehen, dass die bestehenden Le- einen Vertreter geschickt hätte. Wenn Sie mit den Men-
galisierungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. schen dort gesprochen hätten, hätten Sie verstanden,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dass es um Folgendes geht: Diese Menschen müssen be-
Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE fürchten, festgenommen, inhaftiert und abgeschoben zu
GRÜNEN]: Die Ausländerbehörden haben werden, wenn sie die Umsetzung eines ihrer unveräußer-
doch gar keinen Kontakt zu diesen Leuten!) lichen Menschenrechte in Anspruch nehmen. Zu diesen
Menschenrechten gehören zum Beispiel das Recht auf
Schulbildung, das Recht auf ein Privatleben, das Recht
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
auf medizinische Versorgung und das Recht auf eine ge-
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sevim Dağdelen von
rechte Entlohnung für ihre Arbeit sowie das Recht auf
der Fraktion Die Linke.
körperliche Unversehrtheit. Frau Köhler, die engstirnige,
(Beifall bei der LINKEN) bürokratische Verweigerungshaltung muss aufgegeben
werden, nach der Betroffenen nicht geholfen werden
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): könne oder dürfe, weil ihr Aufenthalt auf einem Rechts-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau bruch basiere
Köhler, ich kann es nicht lassen. Eines muss ich Ihnen (Beifall bei der LINKEN)
sagen: Das Problem besteht doch nicht darin, dass man
versucht, einen Rechtsbruch in einem Rechtsstaat – – und der Aufenthalt deswegen nicht durch Legalisierung
oder auch nur durch die Gewährung des Zugangs zu Bil-
(Dr. Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/ dung oder medizinischer Versorgung in Deutschland be-
CSU]: Nicht?) lohnt werden dürfe.
– Nein, darum geht es nicht. Es geht darum, dass man in
Bei der Debatte über illegalisierte Menschen in
einem Verfassungsstaat, der sich wie die Bundesrepublik
Deutschland geht es aber eigentlich um die Abschot-
Deutschland als Rechtsstaat definiert, Menschenrechte
tungspolitik und die restriktive Migrationspolitik in
für jeden geltend macht. Es geht nicht darum, sozusagen
Deutschland und Europa. In den letzten Jahren ist vor
klandestin sich aufhaltenden Menschen irgendwelche
allen Dingen der ehemalige Bundesinnenminister
Möglichkeiten einzuräumen. Es geht darum, dass wir in
Schäuble auf europäischer Ebene mit Verve dafür einge-
Deutschland unseren Pflichten nachkommen.
treten, dass Spanien, Frankreich, Portugal und andere
(Beifall bei der LINKEN) Länder damit aufhören, solchen Menschen einen Zugang
512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Sevim Daðdelen
Dağdelen
(A) zu Menschenrechten zu gewähren. Das halte ich für ei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
nen Skandal. Rüdiger Veit [SPD]: Es hätte auch ein bisschen
mehr sein können!)
(Beifall bei der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Ergebnis – das sage ich hier voller Freude und Zu-
versicht – ist bemerkenswert und stellt endlich einen
Der sogenannte illegale Aufenthalt von schätzungs- echten Fortschritt dar.
weise einer halben Million bis 1,5 Millionen Menschen
in Deutschland ist in erster Linie Folge dieser restrikti- Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen. Ein
ven Flüchtlings- und Migrationspolitik, einer Politik, die Punkt ist die Stärkung der Kinderrechte. Die FDP ist seit
in den letzten Jahren bedauerlicherweise auch – das jeher dafür eingetreten, die Vorbehaltserklärung zur UN-
muss ich hinzufügen, Herr Veit – von der SPD getragen Kinderrechtskonvention zurückzunehmen. Auch die
wurde. Solange ungleichgewichtige soziale, ökonomi- SPD hatte sich das immer großspurig auf die Fahnen ge-
sche und gewaltsame Verhältnisse in der Welt existieren schrieben; das Ergebnis konnten wir jedes Jahr in den
und Nationalstaatsgrenzen sich zwischen Menschen UNICEF-Berichten nachlesen. Wir haben uns mit dem
schieben, wird es Migration geben, wenn nicht mit, dann Koalitionspartner CDU/CSU eindeutig und klar dazu be-
eben ohne behördliche Erlaubnis. kannt, die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen.
In diesem Zusammenhang möchte ich aus Die Nacht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
von Lissabon von Erich Maria Remarque zitieren: der CDU/CSU)

Die Küste Portugals war die letzte Zuflucht gewor- Das bedeutet, allen Kindern in Deutschland die gleichen
den für die Flüchtlinge, denen Gerechtigkeit, Frei- Rechte zuzugestehen. Das ist auch in Bezug auf den Zu-
heit und Toleranz mehr bedeuteten als Heimat und gang minderjähriger Flüchtlinge zur Gesundheitsversor-
Existenz. Wer von hier das gelobte Land Amerika gung ein wesentlicher Fortschritt.
nicht erreichen konnte, war verloren. Er musste ver- Ich möchte einen weiteren wesentlichen Fortschritt
bluten im Gestrüpp der verweigerten Ein- und Aus- darstellen, und zwar bei der Übermittlungspflicht für öf-
reisevisa, der unerreichbaren Arbeits- und Aufent- fentliche Schulen, die vielen von uns Bauchschmerzen
haltsbewilligungen, der Internierungslager, der bereitet hat. Lassen Sie mich klar sagen: Kinder tragen
Bürokratie, der Einsamkeit, der Fremde und der nicht die Verantwortung für den illegalen Aufenthalt der
entsetzlichen allgemeinen Gleichgültigkeit gegen Eltern.
das Schicksal des einzelnen, die stets die Folge von
Krieg, Angst und Not ist. Der Mensch war um diese (Beifall bei der FDP, der SPD und dem
Zeit nichts mehr; ein gültiger Pass alles. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg.
(B) (D)
Dr. Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/CSU])
Wir müssen uns an unsere Geschichte erinnern. Kein
Mensch ist illegal. Deshalb unterstützen wir den Gesetz- Kinder, egal ob mit oder ohne gültigen Aufenthaltssta-
entwurf, gehen aber in unseren Forderungen weiter, weil tus, haben ein Recht auf Bildung. Die FDP steht seit eh
wir der Auffassung sind, dass wir eine humanitäre und je für dieses Recht ein; es ist unter anderem in der
Flüchtlingspolitik brauchen, um die Ursache des Pro- UN-Kinderrechtskonvention verankert.
blems zu bekämpfen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Memet GRÜNEN]: So ist es!)
Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) In einigen Bundesländern gibt es hierzu bereits erfreuli-
che Regelungen, beispielsweise in Bayern und Nord-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rhein-Westfalen. Hier unterliegen statuslose Kinder der
Das Wort hat jetzt der Kollege Serkan Tören von der Schulpflicht und können auf diese Art und Weise ihr
FDP-Fraktion. Recht auf Bildung verwirklichen. Nehmen wir Hessen:
Dort wird aktuell eine Verordnung vorbereitet, nach der
(Beifall bei der FDP) auch solche Kinder zum Schulbesuch berechtigt sind,
die nicht schulpflichtig sind, aber ihren tatsächlichen
Serkan Tören (FDP): Aufenthaltsort in Hessen haben.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir (Rüdiger Veit [SPD]: Das wird höchste Zeit!)
Liberale waren uns mit Vertretern anderer Fraktionen in
diesem Hause, von Kirchen, gemeinnützigen Organisa- Zugleich soll in Zukunft auf die Vorlage einer gültigen
tionen und Wohlfahrtsverbänden immer einig darüber, Meldebescheinigung verzichtet werden. In diesen Bun-
dass die gegenwärtige Situation der in Deutschland le- desländern bewegt sich etwas. Ich muss in diesem Hause
benden Ausländer ohne gültige Papiere unbefriedigend sicherlich nicht erwähnen, welche Regierungen diese
ist. Zentrale Themen sind hierbei immer wieder die me- Länder führen.
dizinische Versorgung und der Schulbesuch. (Beifall bei der FDP)
Wir stehen hier in der Verantwortung, diese Punkte Dennoch: Wir wollen die Verantwortung für diese
ins Auge zu fassen, kritisch zu diskutieren und Lösungen Problematik nicht abschieben, wie Sie, werte Kollegin-
zu finden. Genau das haben wir in den Koalitionsver- nen und Kollegen von der SPD, es in Ihrer Regierungs-
handlungen getan. zeit jahrelang getan haben. Es wird hierzu auf Bundes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 513
Serkan Tören
(A) ebene eine Regelung geben; denn FDP und CDU/CSU Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
bekennen sich im Koalitionsvertrag eindeutig dazu, die Herr Kollege Tören, auch Ihnen gratuliere ich im Na-
Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen dahin ge- men des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bun-
hend abzuändern, dass der Schulbesuch von Kindern er- destag.
möglicht wird. (Beifall – Serkan Tören [FDP]: Danke schön!)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Wort hat jetzt der Kollege Memet Kilic von
NEN]: Bei Frau Köhler klang das eben ganz Bündnis 90/Die Grünen.
anders!)
Das ist ein riesiger Fortschritt, der nicht häufig genug Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
betont werden kann. Der Arme ist ohne Trost, der Fleißige ohne Ruhe,
selbst der König ohne Sicherheit. – Sehr geehrter Herr
Wir stellen uns der Verantwortung, einen angemesse- Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf unserer
nen Umgang mit illegaler Migration und bereits hier le- Erde gibt es genauso viele Einzelschicksale, wie es Men-
benden Menschen ohne gültige Papiere zu entwickeln. schen gibt. Viele Menschen in unserem Land müssen
ohne gültige Papiere leben, weil sie für sich und für ihre
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Sie spre- Kinder keine anderen Auswege kennen. Aufgrund mei-
chen hier zwei verschiedene Sprachen!) nes Berufes und meines Engagements habe ich viel über
die Schicksale von papierlosen Menschen erfahren.
Wir haben aber immer auch den Standpunkt vertreten: Diese Menschen müssen ständig in Angst leben, dass sie
Wenn man in den Bereichen Migration und Integration denunziert werden oder bei einer einfachen Kontrolle
Politik betreibt, ist es dringend notwendig, sich dabei ihre Identität nicht nachweisen können. Sie besuchen
immer Gedanken über die Grundlagen unseres Zusam- keinen Arzt, selbst wenn sie schwer krank sind. Sie kön-
menlebens zu machen. Deshalb sage ich Ihnen hier klipp nen ihren niedrigen Lohn nicht einfordern, wenn der Ar-
und klar: Die Einhaltung und der Vollzug des Ausländer- beitgeber diesen nicht ausbezahlen will.
rechts sind wesentliche Bestandteile unserer demokrati- Vielen von ihnen tut am meisten weh, dass sie ihre
schen Rechtsordnung. wissenshungrigen und intelligenten Kinder nicht auf die
Schule schicken können. Wenn unsere Kinder krank
(Rüdiger Veit [SPD]: Völlig unbestritten!)
sind, gehen wir zu Recht sofort zum Arzt und lassen sie
Wir können und dürfen nicht das Spannungsfeld ignorie- behandeln. Können Sie sich vorstellen, was die papierlo-
ren, das sich hieraus in Bezug auf den Umgang mit Men- sen Väter und Mütter in solchen Fällen erleben? Sie füh-
(B) schen ergibt, die sich nicht rechtmäßig in der Bundesre- len sich hilflos und einsam. Auch wer diesen Menschen (D)
publik aufhalten. Dabei wende ich mich aber ganz klar in Not helfen will oder sogar muss, wie die Ärzte oder
Schuldirektoren, hat es nicht leicht. Sie sind einge-
dagegen, diese Debatte im Sinne einer einfachen Dicho-
klemmt zwischen rechtlichen Zwängen und ihrem Be-
tomie beispielsweise von rechtsstaatlicher Ordnung ver- rufsethos.
sus Menschenrechte zu führen, wie es einige Kollegin-
nen und Kollegen gerne tun. Diese Kolleginnen und Liebe Frau Dr. Köhler, wenn wir von sogenannten
Kollegen verkennen die Komplexität dieses Themas und Illegalen reden, reden wir nicht über die jungen Männer,
ignorieren eindeutig die Belange aller Betroffenen. die mit dem Messer im Mund durch die Wälder laufen,
sondern über Familienväter und -mütter, die in den Hin-
Noch einmal: Wir sollten Menschenrechte nicht ge- terzimmern von Restaurants arbeiten, um ihre Familie
gen unsere rechtsstaatliche Ordnung ausspielen. Wir ste- über Wasser zu halten.
hen im Dialog mit den relevanten Akteuren, mit Leuten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
aus der Praxis und mit Betroffenen. Wir werden gemein- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
sam mit unserem Koalitionspartner die Herausforderun- LINKEN)
gen bewältigen und Lösungen finden. Aber ich betone
noch einmal: Es müssen pragmatische Lösungen sein, Heute haben Sie eine gute Gelegenheit, den Menschen,
die menschenrechtliche Standards berücksichtigen, aber die sich in einem humanitären Drama befinden, zu hel-
im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Ordnung liegen. fen und Barmherzigkeit und Nächstenliebe zu praktizie-
Alles andere wäre verantwortungslos. ren, indem Sie Ihre Meinung zu diesem Gesetzentwurf
ändern und Zustimmung signalisieren.
(Beifall bei der FDP – Rüdiger Veit [SPD]:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dann könnt ihr ja zustimmen!) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Die SPD ist, als sie die Chance dazu hatte, nicht über LINKEN)
die Vereinbarung eines Prüfauftrags zur Illegalität im Es ist sicherlich traurig, dass die SPD während ihrer
Koalitionsvertrag hinausgekommen. Da haben wir Libe- Regierungszeit solch einen Gesetzentwurf nicht über ihr
rale bisher mehr erreicht. Darauf können wir stolz sein. Herz gebracht hat, sondern vielmehr mit den Verschär-
fungen der Voraussetzungen für Familienzusammenfüh-
Vielen Dank. rung und Einbürgerung beschäftigt war.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall der Abg. Sevim Dağdelen [DIE
der CDU/CSU) LINKE])
514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Memet Kilic
(A) Wir hoffen aber, dass der uns vorliegende Gesetzentwurf Tochter oder der Sohn in den Ferien etwas geleistet hat. (C)
Erfolg hat. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht nur leis-
tungsfeindlich. Es ist auch ungerecht, und vor allem de-
„Weigere dich nicht, dem Dürftigen Gutes zu tun“ –
mütigt es die betroffenen Jugendlichen.
bitte, Hand aufs Herz; denn kein Mensch ist illegal.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Vielen Dank.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der Ferienjob wird für die Schülerinnen und Schüler
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
aus armen Familien fast zu einem Nullsummenspiel. Die
LINKEN)
Anrechnung der Ferienjobs diskriminiert Jugendliche
aus Arbeitslosengeld-II-Haushalten, und sie demotiviert
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Betroffenen. Durch die Kürzung wird ihnen der Ein-
Herr Kollege Kilic, ich gratuliere auch Ihnen zu Ihrer druck vermittelt, dass sich ihre Leistung nicht lohnt. Das
ersten Rede im Deutschen Bundestag im Namen des Gegenteil ist doch richtig: Die Eigeninitiative junger
ganzen Hauses. Schülerinnen und Schüler muss honoriert und darf nicht
(Beifall) bestraft werden.

Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
Kolb [FDP]: Einverstanden!)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 17/56 an die in der Tagesordnung Während andere über ihre Einkünfte aus Ferienjobs
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander- beliebig verfügen können, bleibt den Schülerinnen und
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Schülern aus SGB-II-Haushalten fast nichts übrig. Dabei
Überweisung so beschlossen. sind diejenigen, die von ihren Eltern wenig bekommen
können, weil sie selbst nichts haben, ganz besonders auf
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 13 auf: das Geld aus dem Ferienjob angewiesen. Nein, diese zu-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja sätzliche Benachteiligung ist entwürdigend, und sie
Kipping, Klaus Ernst, Dr. Gesine Lötzsch, weite- muss dringend korrigiert werden.
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Beifall bei der LINKEN)
Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das Meine Damen und Herren, die Linksfraktion rechnet
Arbeitslosengeld II dabei mit Ihrer Unterstützung. Schließlich hatten Vertre-
(B) – Drucksache 17/76 – ter fast aller Fraktionen im Fernsehen erklärt, dass dieser (D)
Unsinn geändert werden muss. In der Sendung „Hart
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) aber fair“ vom 26. August dieses Jahres, also mitten im
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wahlkampf, wurde der Fall der 15-jährigen Laura ge-
schildert. Sie hatte sich in den Ferien einen elektroni-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die schen Bass erarbeitet, und ihrer Mutter wurde daraufhin
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- das Sozialgeld gekürzt. Dazu sagte der Vorsitzende der
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag in der
schlossen. ARD – ich zitiere –:
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
Wir müssen uns das noch mal sehr genau an-
ner dem Kollegen Matthias Birkwald von der Fraktion
schauen. Ich will, dass ein solcher Fall nicht beste-
Die Linke das Wort.
hen bleibt.
(Beifall bei der LINKEN)
Volker Kauder versprach – Zitat –:
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Ich sage Ihnen: Dieser Fall wird geregelt werden.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Der wird so nicht mehr vorkommen können.
Damen und Herren! Viele Schülerinnen und Schüler job- Zitat Ende.
ben in den Schulferien, um sich etwas zu erarbeiten, zum
Beispiel einen PC, Reitunterricht oder ein Mofa. Ich Klaus Wowereit, heute stellvertretender SPD-Vorsit-
kann mich noch gut an meine Ferienjobs als Bahnpost- zender, versprach – Zitat –:
fahrer oder am Fließband in der Hundekuchenproduk- Da muss eine Korrektur her. … Da gibt es eine Ge-
tion erinnern. Nach einigen Wochen den selbstverdien- rechtigkeitslücke, die geschlossen werden muss.
ten Lohn in den Händen zu halten, das war sehr
befriedigend. Zitat Ende.
Für Jugendliche aus Hartz-IV-Familien gilt das nicht. Für die Grünen forderte Fritz Kuhn in der Sendung
Sie können sich so viel anstrengen, wie sie wollen. Weil – Zitat –:
sie in sogenannten Bedarfsgemeinschaften leben, wer-
Ferienarbeit muss ein zweckbestimmtes Einkom-
den ihre Einkommen bis auf einen kleinen Betrag ange-
men sein. Sie darf nicht angerechnet werden.
rechnet. Das heißt, der Familie des Ferienjobbers oder
der Ferienjobberin wird das Sozialgeld gekürzt, weil die So weit, so gut.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 515
Matthias W. Birkwald
(A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hat die FDP schafft, was die Linkspartei die letzten vier Jahre nicht (C)
denn gar nichts dazu gesagt?) geschafft hat: Zustimmung bzw. die ausgestreckte Hand
anzubieten und zu sagen: Wir wollen hier etwas
Am 8. September dieses Jahres wurde hier im Plenum
ändern. – Das ist mir bei wenigen Anträgen Ihrer Partei
über den Antrag der Linken dazu abgestimmt. Was ge-
in den letzten Jahren leichter gefallen als heute, lieber
schah? Die Grünen stimmten mit Ja, die FDP enthielt
Herr Wunderlich.
sich, aber SPD und Union lehnten unseren Antrag ab.
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Pfui!) Liebe Kollegen von den Linken, mit Ihrem Antrag,
über den wir heute diskutieren, sprechen Sie ein Thema
Versprochen, gebrochen. an, das in der letzten Zeit häufiger in den Medien präsent
Meine Damen und Herren, auch wir Linken kennen war. Sie haben die Sendung aus der Reihe Hart aber fair
die Geschichte von Saulus, der zum Paulus wurde, sehr vom 26. August dieses Jahres angesprochen, in der es
gut. um die Anrechnung von Ferienjobs auf Hartz IV ging.
Es ist richtig, dass unser Fraktionsvorsitzender in der
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh! Die steht Weisheit, für die er bekannt ist, geäußert hat: Wir müs-
aber doch gar nicht im Kommunistischen sen uns das anschauen, und wir müssen hier tätig wer-
Manifest!) den.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Söhne (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was der Chef
und Töchter von Erwerbslosen bei der Ferienarbeit ge- sagt, wird gemacht!)
nauso behandelt werden wie die Kinder von Normalver-
dienenden oder Wohlhabenden. Von der Anrechnungs- – Bitte? Das ist bei uns nicht anders als bei der FDP. –
freiheit der Ferienjobs ginge die Bundesrepublik Sie behandeln damit ein Problem, das sicherlich einer
Deutschland nicht unter und auch nicht pleite. Stehen Lösung bedarf. Ich gehe davon aus, dass die Rednerin,
Sie zu Ihrem Wort. die nach mir für die SPD sprechen wird, Frau Katja
Mast, das ähnlich sehen wird. Ich glaube, da haben wir
Danke schön. einen ziemlich breiten Konsens.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Allerdings erliegen Sie, liebe Freunde von der Lin-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ken, auch hier Ihrem Hang zur Vereinfachung. Sie stel-
len den konkreten Fall so dar: Jobben Kinder, die in ei-
Präsident Dr. Norbert Lammert: ner Bedarfsgemeinschaft von SGB-II-Beziehern leben,
Lieber Kollege Birkwald, das war Ihre erste Rede im in den Ferien, komme ihr Zubrot, von den 100 Euro pro
(B) Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulie- Monat, die anrechnungsfrei sind, abgesehen, ausschließ- (D)
ren möchte. lich der öffentlichen Hand zugute. Deshalb müsse die
Anrechnung von Einkommen aus Ferienjobs von Schü-
(Beifall)
lern grundsätzlich ausgeschlossen werden.
Wäre diese Debatte live im Fernsehen übertragen wor-
den, was, wie Sie wissen, nur noch selten vorkommt, In Ihrem Antrag zu demselben Thema vom Septem-
ber dieses Jahres haben Sie außerdem gefordert, das
(Heiterkeit) Schonvermögen zur Alterssicherung von SGB-II-Bezie-
hätte sie außer der Aufmerksamkeit im Plenum bei über- hern zu erhöhen.
schaubarer Besetzung der Tribünen sicher eine beachtli- In Teilen Ihrer Begründung muss ich Ihnen recht ge-
che zusätzliche Aufmerksamkeit gefunden, die nun über ben: Auch ich bin der Meinung, dass die Eigeninitiative
das pünktlich fertiggestellte Protokoll des Deutschen von Schülern nicht blockiert werden darf.
Bundestages hoffentlich hergestellt wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für bei Abgeordneten der LINKEN und des
die CDU/CSU-Fraktion, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. – Wollen Sie nicht klatschen? Das gilt doch auch für die
Kolb [FDP]: Los, Paul! Jetzt aber!) SPD. – Ein Ferienjob stellt in der Regel den ersten Kon-
für den die gleiche Versuchsanordnung gilt. takt mit der Arbeitswelt dar und führt im Idealfall später
zum ersten Arbeitsverhältnis. Ferienjobs helfen, die ei-
(Heiterkeit) genen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen und geben
– Bitte schön. Selbstbewusstsein für die Bewerbungsphase. – Sie ha-
ben es ausgeführt, Herr Kollege. Was haben Sie produ-
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
ziert: Hundekuchen? Etwas Vernünftiges auf jeden
Fall. – Mit einem Ferienjob kann man testen: Wo kann
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
ich mich einbringen? Man kann Disziplin lernen, kann
werte Kollegen! Herr Präsident, gemeinsam mit Ihnen
lernen, früh aufzustehen, kann stolz sein auf das, was
bedauere ich, dass wir für dieses zweifelsohne wichtige
man selber erwirtschaftet hat. Nicht zuletzt können Fe-
Thema nicht mehr Aufmerksamkeit haben.
rienjobs Jugendlichen, deren Eltern auf Hartz IV ange-
Herr Birkwald, auch von mir Gratulation zu Ihrer ers- wiesen sind und die eigenes Erwerbseinkommen aus ih-
ten Rede! Sie haben mit Ihrer ersten Rede etwas ge- rem familiären Umfeld nicht oder zu wenig kennen, Mut
516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Paul Lehrieder
(A) machen. Sie können helfen, Perspektivlosigkeit und Re- Schon im Koalitionsvertrag haben wir unter anderem (C)
signation vorzubeugen. Deshalb kann niemand wollen, festgeschrieben, dass wir den Freibetrag beim Schonver-
dass die SGB-II-Gesetzgebung einen gegenläufigen, die mögen im SGB II, der verbindlich der Altersvorsorge
Schüler demotivierenden Effekt entwickelt. dient, auf 750 Euro pro Lebensjahr wesentlich erhöhen
und die Hinzuverdienstregelung in der Grundsicherung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für Arbeitsuchende deutlich verbessern werden. Das-
Nach der Lektüre Ihres Antrages, liebe Kollegen von selbe gilt auch für den Hinzuverdienst bei sozialversi-
den Linken, muss ich anerkennend feststellen, dass Sie cherungsfreien Minijobs.
das Wahlprogramm der Union gelesen haben. Ja, es Sie sehen: Wir bevorzugen Lösungsmechanismen,
stimmt: Wir müssen uns über die Höhe des Schonvermö- mit denen sicherlich wichtige Einzelaspekte nicht iso-
gens und die Hinzuverdienstgrenzen Gedanken machen. liert, sondern im Gesamtzusammenhang betrachtet wer-
Wenn Sie sich die Ergebnisse der Kabinettsklausur auf den. – Jetzt wäre ein Applaus fällig.
Schloss Meseberg genauso gründlich vorgenommen hät-
ten, wüssten Sie: Wir haben uns längst an die Arbeit ge- (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)
macht und das gründlicher und umfassender, als Sie es
– Ja, das muss man schon einmal sagen.
vorschlagen. Diese Tatsache hätten Sie in Ihrem Antrag
ruhig erwähnen können.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der gesamte Komplex SGB II ist sehr wichtig. Wenn Herr Kollege Lehrieder, ich muss Sie darauf aufmerk-
wir Änderungen vornehmen wollen, müssen wir deren sam machen, dass es weder verfassungsrechtlich noch
Auswirkungen und auch die Wechselwirkungen im nach unserer Geschäftsordnung einen Anspruch auf Bei-
Blick haben, damit die Änderungen wirklich im Sinne fall während der Reden gibt.
der Betroffenen sind.
(Heiterkeit im ganzen Hause)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das stimmt
allerdings!) Dass auf Ihre Aufforderung dieser Beifall jetzt schein-
bar spontan erfolgt, ist eine bemerkenswerte Großzügig-
Im Rahmen einer geordneten Gesetzgebung dürfen wir keit der Kolleginnen und Kollegen, die ich ausdrücklich
keinen Flickenteppich schaffen, frei nach dem Motto im Protokoll vermerken möchte.
„Eine Reform zu einem Teilaspekt hier, eine Änderung
eines Teilproblems dort“. Deshalb müssen wir Ihren An- (Beifall im ganzen Hause)
trag, liebe Kollegen von den Linken – so viel Sinn das,
was Sie vorschlagen, im Einzelnen sicherlich macht – Paul Lehrieder (CDU/CSU):
(B) ablehnen. (D)
Ich weiß, Herr Präsident. Sie dürfen versichert sein,
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Oh!) dass ich diese großzügige Geste des Plenums unterwür-
fig und ehrerbietig zu würdigen weiß.
– Ja, Herr Wunderlich; Sie werden nicht überrascht sein.
Mir ist es wichtig, kurz genauer zu beleuchten, wo-
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Doch, es er- rum es bei der Anrechnung von Ferienjobs eigentlich
staunt mich über alle Maßen, dass Sie einen geht.
Antrag von uns ablehnen!)
Sie können sich vielleicht noch an die Antwort der
– Das kommt sicherlich nicht überraschend für Sie, Herr Bundesregierung vom 26. August 2008 auf Ihre Anfrage
Wunderlich; dafür kennen wir uns lange genug. zum selben Thema erinnern. Dort heißt es unter ande-
rem:
Auf Schloss Meseberg hat die Bundesregierung am
17./18. November dieses Jahres den Beschluss gefasst, Die Bundesregierung teilt nicht die Auffassung …,
Änderungen der Erwerbstätigenfreibeträge insgesamt zu wonach bei der Bemessung von Leistungen zur Si-
prüfen und unter anderem das Schonvermögen von cherung des Lebensunterhalts das Einkommen von
Hartz-IV-Empfängern zu erhöhen. Ziel ist nach wie vor, Schülerinnen und Schülern als Einkommen der ge-
die Anreize, eine Arbeit aufzunehmen – bis hin zu einer samten Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt wird.
voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung –, zu Auch trifft es nicht zu, dass ein Schüler oder eine
erhöhen. Dazu wird eine ressortübergreifende Arbeits- Schülerin
gruppe unter Federführung des Bundesarbeitsministe-
– das hatten Sie in Ihrer damaligen Anfrage dargestellt –
riums bis Ende Juni 2010 einen Vorschlag erarbeiten, in
dem das Zusammenspiel mit Kinderzuschlag und Wohn- 80 Prozent des Einkommens aus seinem Ferienjob,
geld sowie eintretender Sozialversicherungs- und Steu- das 100 Euro übersteigt, „in den Topf der Bedarfs-
erpflicht berücksichtigt wird. gemeinschaft werfen“ müsse. Im Zweiten Buch So-
zialgesetzbuch … ist geregelt, dass das Einkommen
Mitbeteiligt werden auch das Bundesministerium für unverheirateter Kinder, die mit ihren Eltern in Be-
Finanzen, das Bundesministerium für Wirtschaft und darfsgemeinschaft leben, nur als eigenes Einkom-
Technologie, das Bundesministerium für Verkehr, Bau men und nicht als solches der Bedarfsgemeinschaft
und Stadtentwicklung und das Bundesgesundheitsminis- zu berücksichtigen ist.
terium sein. Alle Regelungen des SGB II werden dort
auf den Prüfstand gestellt werden. (Katja Mast [SPD]: Genau!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 517
Paul Lehrieder
(A) Darüber hinaus mindert das bei Schülerinnen und Heute diskutieren wir aber nicht über den Antrag aus der (C)
Schülern zu berücksichtigende Einkommen ledig- letzten Legislaturperiode, sondern über den aktuell vor-
lich ihren Anspruch auf Leistungen zur Sicherung liegenden Antrag. Darin geht es ausschließlich um die
des Lebensunterhalts, so dass diesen das (Netto-) Anrechnung von Ferienjobs.
Einkommen auch faktisch in voller Höhe zur Verfü-
Mit Ferienjobs verdienen junge Menschen in der Tat
gung steht.
etwas hinzu. Der Ferienjob dient auch mehr als nur dem
In der Vergangenheit ist es allerdings auch vorgekom- Geldverdienen; denn dies ist auch praktizierte Berufs-
men, dass aufgrund nicht gemeldeter Einnahmen aus Fe- orientierung. Erste Eindrücke vom Berufsleben werden
rientätigkeit die Erstattung überzahlter Leistungen zur gesammelt, egal, ob am Band, im Restaurant oder im
Sicherung des Lebensunterhalts verlangt worden ist. Kaufhaus. Es ist nur schade, dass diese Ferienjobs nicht
Dieser Hintergrund sollte mitberücksichtigt werden, für jeden jungen Menschen gleich attraktiv sind. Denn
wenn man die SGB-II- und die Hinzuverdienstregelun- die Jugendlichen, deren Eltern Arbeitslosengeld II erhal-
gen reformieren will. ten, bekommen ihren Lohn angerechnet und müssen ei-
nen Teil davon für ihre Lebenshaltung ausgeben.
Im Sommer wurde der Eckregelsatz von 351 Euro auf
359 Euro erhöht, und auch der eigene Sicherungsbetrag (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hätte die
für Kinder zwischen dem 6. und dem 15. Lebensjahr SPD doch längst ändern können!)
wurde im Sommer bereits eingeführt. Derzeit läuft das
Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht darüber, Sie sind also in doppelter Hinsicht benachteiligt: Einer-
ob die Regelsätze für Kinder und Jugendliche ausrei- seits steht ihnen das Geld nicht zur Verfügung, und ande-
chend sind. All dies wird hier angepasst. rerseits – das scheint mir fast der wichtigere Punkt –
kommt es bei ihnen zu einem mangelnden Anreiz, sich
Es wurde heute bereits ausgeführt: Hartz IV ist ein beruflich zu orientieren.
lernendes System. Wir haben das System jetzt einige
Jahre auf dem Prüfstand gehabt. Wir merken, dass es Warum ist das so? Lassen Sie mich ein Beispiel aus
noch zu bestimmten Korrekturen und Nachjustierungen meinem Wahlkreis nennen. Julia und Markus gehen
kommt. beide in Pforzheim zur Schule. Beide haben in den Fe-
rien bei einem Hersteller für Autoteile gearbeitet.
Ich hätte noch etwas zu sagen, aber für die Großzü-
gigkeit des Auditoriums bedanke ich mich dadurch, dass (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ich
ich dem Auditorium 1 Minute und 20 Sekunden Rede- dachte, für Schmuck!)
zeit schenke und Sie etwas eher nach Hause lasse. Sie haben vier Wochen Stecker verpackt. Von Mitte Juli
Herzlichen Dank. bis Mitte August haben beide jeden Tag gearbeitet. Da- (D)
(B)
für haben sie 1 200 Euro Lohn bekommen. Julia wird
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie davon ihren Führerschein machen, und Markus will eine
bei Abgeordneten der SPD) E-Gitarre kaufen, damit er in der Schulband mitspielen
kann.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Aber ein kleines Detail unterscheidet Julia und
Herr Kollege Lehrieder, falls ich bei Ihrer nächsten Markus. Denn Markus lebt in einer sogenannten Be-
Rede zufällig wieder hier auf dem Stuhl sitzen sollte, darfsgemeinschaft. Während Julia ihr Geld in voller
dann würde ich Ihnen diese Gutschrift auch ohne ge- Höhe behalten darf, bekommt Markus zwar auch das
schäftsordnungsrechtlichen Anspruch zur Verfügung stel- Geld in voller Höhe auf sein Konto überwiesen, aber
len. seine Eltern bekommen im Juli und August jeweils
287 Euro weniger vom Amt. Das sind rund 600 Euro.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Ich werde mich darauf verlassen. Danke schön. Markus muss also von seinen 1 200 Euro fast die
Hälfte seinen Eltern geben, damit sie den Lebensunter-
halt bestreiten können. Aus der E-Gitarre wird nichts,
Präsident Dr. Norbert Lammert: und damit auch nichts aus der Schülerband. Markus sagt
Im Protokoll haben wir das jedenfalls so vermerkt. sich, dass er nächstes Jahr lieber ins Schwimmbad geht
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Mast für die als zu arbeiten.
SPD-Fraktion. Was läuft da schief? Grundsätzlich will die SPD-Bun-
(Beifall bei der SPD) destagsfraktion, dass sich die Arbeit für Markus genauso
lohnt wie für Julia. Wir wollen es uns aber nicht so leicht
machen wie die Antragsteller und einfach nur die Bun-
Katja Mast (SPD):
desregierung zum Handeln auffordern. Wir wollen einen
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
eigenen Antrag vorlegen. Denn wir haben nicht nur eine
Der Kollege Lehrieder hat, glaube ich, ein bisschen zu
Aufforderung im Sinn, sondern eine klare denkbare Lö-
einem alten Antrag gesprochen, weil er sehr viel auf das
sung. Wir wollen nämlich, dass das einmalige Einkom-
Schonvermögen verwiesen hat.
men aus dem Ferienjob nicht nur im Monat der Überwei-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, er hat sung berücksichtigt, sondern auf zwölf Monate verteilt
schon einen Blick nach vorne gerichtet, Frau wird. In unserem Beispiel würde das praktisch heißen,
Mast!) dass Markus auf das Jahr gerechnet die gesamten
518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009

Katja Mast
(A) 1 200 Euro behalten kann und die E-Gitarre und damit Sie können sicher sein: Wir werden konkreter werden (C)
auch die Teilnahme an der Schülerband an seiner Schule als der vorliegende Antrag. Das Ziel ist klar: Wir wollen
möglich sind. erreichen, dass die jungen Menschen mehr von ihrem
Verdienst behalten können. Wir setzen uns für eine Lö-
Ich will aber noch darauf eingehen, was die Linke mit sung ein, die Eigenverantwortung und Berufsorientie-
ihrem Antrag will und wo bei diesem Thema der Unter- rung fördert. Unser Sozialstaatsversprechen gilt auch bei
schied zu uns Sozialdemokraten liegt. Unser sozialde- der Anrechnung des Verdienstes aus Ferienjobs: Wer
mokratisches Kernverständnis von Sozialstaat ist: Wenn sich selbst nicht helfen kann, dem hilft die Solidarge-
du dir selbst nicht mehr helfen kannst, dann hilft dir die meinschaft.
Solidargemeinschaft. Die Linke will dieses Grundprin-
zip abschaffen. Das steht im Übrigen auch in ihrem so- Vielen Dank.
genannten 10-Punkte-Sofortprogramm. Genau dieser (Beifall bei der SPD)
Punkt steht unter dem Motto „Abschaffen des Arbeits-
losengeldes II“. Im Kern will die Linke, dass jeder trotz
eigenem Einkommen die Solidarität der Gemeinschaft in Präsident Dr. Norbert Lammert:
Anspruch nehmen kann. Dazu haben wir ein grundsätz- Der Kollege Pascal Kober ist der nächste Redner für
lich anderes Verständnis. Wir wollen fördern und for- die FDP-Fraktion.
dern. (Beifall bei der FDP)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gilt das noch,
Frau Mast? Fördern und fordern?) Pascal Kober (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
– Das gilt nach wie vor, aber Sie können gerne eine Zwi- wird Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspar-
schenfrage stellen, wenn es Sie genauer interessiert. tei, wohl kaum verwundern, dass wir von der FDP eine
grundsätzliche Sympathie für den Kerngedanken Ihres
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Ich wollte
Antrages empfinden. Immerhin greifen Sie ein Kernele-
nur einen Zuruf machen!)
ment liberaler Gerechtigkeitsvorstellungen auf, das wir
Bei den Jugendlichen gibt es eine Gerechtigkeitslü- gerne unter dem Motto „Leistung muss sich lohnen“
cke, die man so schließen kann, dass sie ihr Ferienjobge- zum Ausdruck bringen.
halt behalten können, ohne mit der Grundüberzeugung (Beifall bei der FDP)
zu brechen: Wer sich selbst helfen kann, soll das auch
tun. Das ist unser sozialdemokratischer Weg, und wir Dass das natürlich für jede und jeden gelten muss, ist uns
fordern von der Bundesregierung, dass auch aus Markus völlig klar. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag fest-
(B) ein Eric Clapton oder vielleicht sogar ein Jimi Hendrix gehalten, dass wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten für (D)
werden kann. Denn sozial gerecht handeln, heißt auch ALG-II-Empfänger verbessern möchten.
verantwortlich handeln. (Beifall bei der FDP)
Da wir davon ausgehen, dass die Bundesregierung Sie greifen allerdings mit Ihrem Antrag viel zu kurz.
und mit ihr die schwarz-gelbe Koalition nicht ausrei- Es kann doch nicht nur um die Jugendlichen gehen, die
chend kreativ sein wird, werden wir den versprochenen in den Schulferien arbeiten. Was ist denn beispielsweise
eigenen Antrag einbringen. mit denen, die wöchentlich Zeitungen austragen oder
(Zuruf von der CDU/CSU: Da unterschätzen wöchentlich als Babysitter jobben? Auch in der Begrün-
Sie uns! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Keine dung Ihres Antrages greifen Sie viel zu kurz. Ihnen geht
Sorge!) es dort vor allen Dingen um die materielle Gleichstel-
lung von Jugendlichen aus ALG-II-Bedarfsgemeinschaf-
– Daran können Sie sich gerne beteiligen, Herr Kolb. ten mit anderen Jugendlichen. Das ist in der Tat ein be-
Schon heute fordere ich Sie auf, auf unsere Kreativität rechtigtes Anliegen. Wir von der FDP haben aber noch
bei der Anrechnung von Ferienjobs zurückzugreifen und einen anderen Fokus. Ganz entscheidend sind für uns Li-
unseren Vorschlag schnell umzusetzen. berale die Erfahrungen, die Jugendliche bei der Auf-
nahme einer solchen Tätigkeit machen können. Es geht
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und wenn wir dabei um Erfahrungen des Gelingens, die Entwicklung
noch eine bessere Idee haben, Frau Mast?) von Selbstbewusstsein und das Erlernen von Vertrauen
– Dann werden wir darüber diskutieren. – Wir sollten in die eigenen Fähigkeiten.
das Ferienjobeinkommen von Jugendlichen so auf die (Beifall bei der FDP)
Monate verteilen, dass ein Anreiz bleibt, und zwar nicht
nur für Ferienjobs, sondern auch für Berufserfahrung Das alles sind innere Kompetenzen. Wir wissen auf-
und Berufsorientierung in frühen Jahren. grund von Studien, dass solche Kompetenzen leider bei
Kindern aus Familien in prekären Lebensverhältnissen
Ich weiß mich mit dieser Forderung nicht nur mit überdurchschnittlich häufig fehlen oder zu gering ausge-
meiner Bundestagsfraktion einig. Ich bin vor allen Din- prägt sind. Der Gedanke der Vermittlung von Erfahrung
gen froh, dass die SPD das nicht nur in Talkshows ver- des Gelingens steht für uns Liberale im Vordergrund.
kündet, sondern auch auf ihrem Dresdner Parteitag be- Natürlich dürfen wir nicht vergessen, Missbrauch auszu-
schlossen hat, die Anrechnung des Verdienstes aus schließen. Wir müssen Regelungen finden, bei denen die
Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II zu verändern. Wir Vorzüge für die Jugendlichen herausgearbeitet sind und
stehen am Anfang der Beratungen. Wir haben noch Zeit. bei ihnen ankommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 519
Pascal Kober
(A) (Beifall bei der FDP) des Jobcenters zugegriffen und man Ihnen gesagt hätte: (C)
Nein, das stimmt gar nicht. Mehr als die Hälfte davon
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Ihr bekommst du erst gar nicht. – Diese Demotivation be-
Antrag greift nicht nur zu kurz, sondern ist nach unserer deutet eine Zerstörung der Eigenmotivation und auch,
Auffassung auch etwas voreilig. Wir haben im Koali- Herr Schiewerling, der kleinbürgerlichen Tugendhaftig-
tionsvertrag festgehalten, dass wir die Verbesserung der keit, auf die Sie aufbauen und auf die Sie sich in Ihrer
Hinzuverdienstmöglichkeiten für ALG-II-Empfänger in Politik beziehen.
Angriff nehmen wollen, dass wir in diesem Bereich also
tätig werden wollen. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Der bürgerli-
chen Tugendhaftigkeit, Herr Kollege!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Insofern müssten Sie ein Interesse daran haben, das
In diesem Zusammenhang werden wir Ihren Kerngedan- zu ändern.
ken aufgreifen und ihn in ein schlüssiges Gesamtkonzept
einarbeiten, das sicherstellt, dass Missbrauch ausge- Ich sage Ihnen aber auch: Sie kommen nicht damit
schlossen ist und alle – auch in Ihrem Sinne – profitieren durch, dass Sie sich mit verbesserten Hinzuverdienst-
können. möglichkeiten oder erhöhtem Schonvermögen an der
Stelle sozialpolitisch reinwaschen. Was bleibt, ist die
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. große Aufgabe, die Regelsätze für Kinder und Jugendli-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) che zu erhöhen. Das dürfen wir in dieser Debatte nicht
vergessen.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der und bei der LINKEN)
Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Ich sage Ihnen heute auch – vielleicht haben Sie es
Grünen. schon im Nachrichtenticker gelesen –: Auf der Arbeits-
und Sozialministerkonferenz in Berchtesgaden, die
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): heute getagt hat, wurde mit 15 Stimmen bei einer Ent-
Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen haltung entschieden, zu fordern, im Rahmen des Kinder-
und Kollegen! Von der sozialrechtlichen Systematik des regelsatzes Kosten für Bildung vorzusehen, also endlich
SGB II her scheint alles klar zu sein: Auch der Verdienst einen höheren Regelsatz für Kinder zu verlangen. Das
aus einem Ferienjob stellt ein Einkommen dar, und Ein- bleibt eine Aufgabe, die Ihnen ins Stammbuch geschrie-
kommen ist vorrangig einzusetzen, bevor Sozialleistun- ben ist. Darauf werden wir auch immer hinweisen.
(B) gen greifen. Insofern gilt der Nachranggrundsatz bei der Vielen Dank. (D)
Leistung nach SGB II.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das, was sozialrechtlich einleuchtet, muss aber nach
und bei der LINKEN sowie der Abg. Anette
dem Alltagsverständnis und dem Verständnis von Ge-
Kramme [SPD])
rechtigkeit längst nicht plausibel sein. Ebenso wie die
Menschen im Lande nicht verstehen können, warum
eine Kindergelderhöhung, die jetzt anstehen soll, bei Präsident Dr. Norbert Lammert:
denjenigen nicht greift, die das Geld am nötigsten haben, Ich schließe die Aussprache.
nämlich bei den ALG-II-Beziehern, versteht die Öffent-
lichkeit auch nicht, warum ausgerechnet Ferienjobs von Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die auch der der Drucksache 17/76 an die in der Tagesordnung aufge-
Stärkung des Selbstbewusstseins des Einzelnen dienen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
– das wurde schon vielfach beschworen –, größtenteils verstanden?
angerechnet werden sollen. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ganz
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN überwiegend!)
und bei der LINKEN) – Ganz überwiegend? Gibt es irgendjemanden, der damit
Ich bitte Sie alle, sich einmal an die eigene Jugend zu nicht einverstanden ist? – Das ist nicht der Fall. Dann
erinnern. Der Kollege Birkwald hat sein erstes eigenes stelle ich das vermutete Einvernehmen zu dieser Über-
Geld mit dem Backen von Hundekuchen und ich selber weisung hiermit fest.
habe es mit anderen Tätigkeiten, nämlich mit dem Eintü- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ten von Kalendern, verdient. Wir alle haben unser erstes ordnung.
Geld wahrscheinlich als Schülerinnen und Schüler hin-
zuverdient. Versuchen Sie einmal, sich emotional in die Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf
Lage zu versetzen, in der Sie sich damals befunden ha- Mittwoch, den 2. Dezember 2009, 13 Uhr, ein.
ben, als am ersten Zahltag endlich die knisternden Geld- Bis dahin wünsche ich Ihnen, für welche anderen In-
scheine in der Hand lagen und Sie sich voller Stolz sagen teressen und Verpflichtungen auch immer, alles erdenk-
konnten: Das ist meins. Das ist nicht das Taschengeld. lich Gute.
Das ist mein erstes selbst verdientes Geld.
Ich schließe hiermit die Sitzung.
Versuchen Sie einmal, sich vorzustellen, wie Sie sich
gefühlt hätten, wenn in diesem Moment die harte Hand (Schluss: 21.33 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009 521

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Brase, Willi SPD 26.11.2009 Marks, Caren SPD 26.11.2009

Dr. Braun, Helge CDU/CSU 26.11.2009 Möller, Kornelia DIE LINKE 26.11.2009

Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 26.11.2009 Mücke, Jan FDP 26.11.2009


Land), Axel E.
Dr. Neumann, FDP 26.11.2009
Dr. Geisen, Edmund FDP 26.11.2009 Martin

Günther (Plauen), FDP 26.11.2009 Obermeier, Franz CDU/CSU 26.11.2009


Joachim
Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ 26.11.2009
Dr. Happach-Kasan, FDP 26.11.2009 DIE GRÜNEN
Christel
Scholz, Olaf SPD 26.11.2009
Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 26.11.2009
Süßmair, Alexander DIE LINKE 26.11.2009
Krüger-Leißner, SPD 26.11.2009
Angelika Tillmann, Antje CDU/CSU 26.11.2009

Lafontaine, Oskar DIE LINKE 26.11.2009 Dr. Uhl, Hans-Peter CDU/CSU 26.11.2009

(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44
ISSN 0722-7980

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