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Plenarprotokoll 17/128

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

128. Sitzung

Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . 15066 A
neten Ulrich Petzold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15059 A
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 15059 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15068 B
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . 15069 B
Zusatztagesordnungspunkt 6: Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 15070 D
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15072 A
schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . 15074 B
(Vermittlungsausschusses) zu dem Steuerver-
einfachungsgesetz 2011 Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/
(Drucksachen 17/5125, 17/5196, 17/6105, DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15075 B
17/6121, 17/6146, 17/6583, 17/6875, 17/7025) 15059 B
Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 15076 C
Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 15077 D
Tagesordnungspunkt 28: Dietrich Monstadt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 15079 A
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der Versorgungsstruktu- Tagesordnungspunkt 29:
ren in der gesetzlichen Krankenversi- a) Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
cherung (GKV-Versorgungsstrukturge- Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
setz GKV-VStG) Abgeordneter und der Fraktion DIE
(Drucksache 17/6906) . . . . . . . . . . . . . . . . 15059 C LINKE: 40-jähriges BAföG-Jubiläum
b) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina für soziale Weiterentwicklung nutzen
Bunge, Agnes Alpers, Karin Binder, wei- (Drucksache 17/6372) . . . . . . . . . . . . . . . 15080 B
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE b) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
LINKE: Wirksamere Bedarfsplanung Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abge-
zur Sicherung einer wohnortnahen und ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
bedarfsgerechten gesundheitlichen Ver- DIE GRÜNEN: Studienfinanzierung
sorgung stärken – Das BAföG zum Zwei-Säulen-
(Drucksache 17/3215) . . . . . . . . . . . . . . . . 15059 D Modell ausbauen
Daniel Bahr, Bundesminister (Drucksache 17/7026) . . . . . . . . . . . . . . . 15080 C
BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15060 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 15062 A Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . 15062 C
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla
Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . 15064 A Burchardt, Swen Schulz (Spandau),
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer – zu dem Antrag der Abgeordneten


Abgeordneter und der Fraktion der Sabine Zimmermann, Agnes Alpers,
SPD: Notfallplan für die Hochschul- Jutta Krellmann, weiterer Abgeordne-
zulassung zum Wintersemester ter und der Fraktion DIE LINKE:
2011/12 jetzt starten Arbeitsmarktpolitik neu ausrichten
und nachhaltig finanzieren
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes – zu dem Antrag der Abgeordneten
Alpers, weiterer Abgeordneter und der Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin
Fraktion DIE LINKE: Hochschulzu- Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter
lassung bundesgesetzlich regeln – und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Sozialen Zugang und Durchlässig- GRÜNEN: Arbeitsmarktpolitik – In
keit in Masterstudiengängen sichern Beschäftigung und Perspektiven in-
vestieren statt Chancen kürzen
(Drucksachen 17/5899, 17/5475, 17/7051) 15080 C
(Drucksachen 17/6454, 17/5526, 17/6319,
Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 15080 D 17/7065) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15101 D
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 15082 D Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 15085 A BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15101 D

Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . 15086 D Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 15103 A

Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 15087 B Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 15104 D

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 15106 C


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15088 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 15091 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15108 A

Ulla Burchardt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15092 A Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 15109 B

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 15094 B Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15109 D

Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 15095 D Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . 15111 B

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 15097 C Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15112 A

Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 15098 D Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 15113 A

Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 15099 D Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 15113 C


Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . 15114 C
Tagesordnungspunkt 30: Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 15115 C
a) – Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Ent- Tagesordnungspunkt 31:
wurfs eines Gesetzes zur Verbesse-
rung der Eingliederungschancen am Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht
Arbeitsmarkt (Tuchenbach), Petra Crone, Petra Ernstberger,
(Drucksachen 17/6277, 17/6853, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
17/7065) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15101 B SPD: Kinderrechte in Deutschland umfas-
send stärken
– Bericht des Haushaltsausschusses ge- (Drucksache 17/6920) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15117 A
mäß § 96 der Geschäftsordnung
(Drucksache 17/7068) . . . . . . . . . . . . . 15101 B Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . 15117 B
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 15118 A
Ausschusses für Arbeit und Soziales
Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 15120 B
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Katja Mast, Gabriele Lösekrug-Möller, Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15121 B
Anette Kramme, weiterer Abgeordne- Katja Dörner (BÜNDNIS 90/
ter und der Fraktion der SPD: Arbeits- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15122 A
marktpolitik an den Herausfor-
derungen der Zeit orientieren – Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 15123 B
Weichen für gute Arbeit, Vollbe- Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 15125 A
schäftigung und Fachkräftesiche-
rung stellen Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 15125 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 III

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ Anlage 2


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15125 D
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . 15126 C des Entwurfs eines Gesetzes über die Neuord-
nung des Geräte- und Produktsicherheits-
rechts (Tagesordnungspunkt 32)
Tagesordnungspunkt 32:
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 15130 B
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15131 B
Gesetzes über die Neuordnung des Geräte- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 15132 B
und Produktsicherheitsrechts
(Drucksachen 17/6276, 176852, 17/7063) . . . 15127 C Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 15133 A
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15127 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15134 A

Anlage 1 Anlage 3
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 15129 A Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15134 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15059

(A) (C)

Redetext

128. Sitzung

Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Eduard Oswald: abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, guten Morgen! lung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache
Bitte nehmen Sie Platz. 17/7025? – Ein Blick genügt, um festzustellen, dass alle
Fraktionen zustimmen. Vorsichtshalber frage ich noch
Die Sitzung ist eröffnet. nach den Gegenstimmen. – Keine. Enthaltungen? –
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, darf ich Ih- Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenom-
nen sagen, dass wir Grund zur Freude haben, weil unser men.
Kollege Ulrich Petzold heute mit uns gemeinsam seinen
60. Geburtstag feiert. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:

(Beifall) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-


gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich dazu sehr serung der Versorgungsstrukturen in der
herzlich und wünsche alles Gute. gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Ver- (D)
(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist sorgungsstrukturgesetz GKV-VStG)
vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die – Drucksache 17/6906 –
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum
Überweisungsvorschlag:
Steuervereinfachungsgesetz 2011 zu erweitern, die Ausschuss für Gesundheit (f)
gleich als Erstes aufgerufen werden soll. – Sie sind da- Rechtsausschuss
mit einverstanden; ich höre keinen Widerspruch. Dann Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ist das auch so beschlossen. Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Karin Binder,
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Ver- LINKE
mittlungsausschuss) zu dem Steuervereinfa-
chungsgesetz 2011 Wirksamere Bedarfsplanung zur Sicherung
einer wohnortnahen und bedarfsgerechten ge-
– Drucksachen 17/5125, 17/5196, 17/6105,
sundheitlichen Versorgung
17/6121, 17/6146, 17/6583, 17/6875, 17/7025 –
Berichterstattung: – Drucksache 17/3215 –
Abgeordneter Dr. Michael Meister Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Kollege Michael Meister, wollen Sie Bericht erstat- Innenausschuss
ten? Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Das ist
nicht erforderlich!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Sie
– Es ist nicht erforderlich. Dann kommen wir gleich zur sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Abstimmung. Das spart uns an diesem Freitagmorgen
Zeit. Ich eröffne nun die Aussprache. Als Erster in unserer
Debatte hat Bundesminister Daniel Bahr für die Bundes-
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 regierung das Wort. Herr Bundesminister, bitte.
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im
Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
15060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

(A) Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit: Die Gesundheitsberufe wandeln sich. Während früher (C)
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen die Pflege immer weiblich war, war die Medizin männ-
und Kollegen! Jetzt, wo der Sommer zu Ende ist, lich. Wir stellen fest, dass in Deutschland sechs von zehn
Erstsemestern in der Humanmedizin mittlerweile Frauen
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Welcher sind. Junge Medizinerinnen wie junge Mediziner haben
Sommer?) heute eine andere Einstellung zum Arztberuf, als das frü-
her der Fall war. Früher war der Arzt in der Regel männ-
können viele Deutsche darauf zurückblicken, welche lich, hat 60 bis 70 Stunden – Notdienste und Wochen-
Gesundheitssysteme sie im Ausland erlebt haben. Eines enddienste eingerechnet – gearbeitet, und zu Hause hat
können wir immer wieder feststellen: Wenn ihnen im sich die Frau um die Familie gekümmert. Das wird nicht
Ausland etwas passiert, möchten sie so schnell wie mög- das Berufsbild des künftigen Arztes, der künftigen Ärz-
lich zurück nach Deutschland, um hier behandelt zu wer- tin sein. Deshalb brauchen wir eine bessere Vereinbar-
den. keit von Gesundheitsberuf und Familie. Weil die jungen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Medizinerinnen und Mediziner nach geregeltem Ein-
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kommen und geregelten Arbeitszeiten suchen, müssen
NEN]: Das hat Ihre Vorgängerin auch immer wir die Strukturen etwas verändern. Wir müssen auf die-
schon hervorgehoben! – Gegenruf des Abg. sen gesellschaftlichen Wandel eine Antwort haben, da-
Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja und?) mit nicht diejenigen, die ein teures Medizinstudium, aus
Steuermitteln finanziert, aufgenommen haben, später
Die Patienten in Deutschland wissen, dass sie hier den aufgrund der Rahmenbedingungen, die ihnen die Politik
Arzt, das Krankenhaus und auch die Krankenkasse ihres gibt, sagen: Wir gehen doch nicht in die ärztliche Versor-
Vertrauens selbst wählen können. Die Patienten in gung. Wir werden kein Arzt. – Hier läuft etwas falsch,
Deutschland vertrauen darauf, dass alles medizinisch und das ändern wir mit diesem Gesetz.
Mögliche für ihre Gesundheit getan wird und sinnvolle
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Innovationen schnell Eingang in die Praxis finden. Kurz:
Sie vertrauen auf unser deutsches Gesundheitssystem. Wir verbessern die Vertretungsregelung für Mediziner
Wir stellen fest, dass andere Länder uns um unser Ge- in der Praxis. Wir schaffen eine bessere Möglichkeit, ei-
sundheitssystem beneiden. nen Entlastungsassistenten einzustellen. Damit geben
wir den jungen Medizinern eine verlässliche Perspek-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tive, eine Praxis auch in der Fläche zu eröffnen.
Bei aller Kritik im Detail, bei allem, was man noch Früher wurde über die Ärzteschwemme diskutiert.
(B) besser machen kann – darum streiten wir hier im Deut- Heute stellen wir fest, dass mittlerweile gerade in der (D)
schen Bundestag –, wissen wir, dass es kaum ein anderes Fläche – im Münsterland an der niederländischen
Land auf dieser Welt gibt, das es schafft, freie Arztwahl, Grenze, in der Oberpfalz an der tschechischen Grenze, in
freie Krankenhauswahl, Therapiefreiheit, freie Wahl der der Uckermark, in Schleswig-Holstein und in vielen an-
Krankenkasse miteinander zu verbinden. Das, liebe Kol- deren Regionen in Deutschland – offene Stellen in Kran-
leginnen und Kollegen, gilt es auch für die Zukunft zu kenhäusern zu beklagen sind und Haus- und Fachärzte
erhalten. keine Nachfolger finden. Es bringt nichts, darüber zu
Die Herausforderungen, vor denen das deutsche Ge- streiten oder den drohenden Ärztemangel zu leugnen.
sundheitssystem steht, sind nicht leicht zu bewältigen. Diese Koalition, diese Regierung hat gehandelt. Wir ha-
Die demografische Entwicklung, die alternde Bevölke- ben das Problem angepackt, weil wir die Sorgen der
rung und der medizinisch-technische Fortschritt sind He- Menschen vor Ort ernst nehmen. Die Menschen werden
rausforderungen, die an die Finanzierbarkeit, aber auch uns danach beurteilen, ob wir ihnen eine medizinische
an die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswe- Versorgung vor Ort gewährleisten, und dafür sorgt diese
sens große Herausforderungen stellen. Tagtäglich leisten Koalition.
Tausende von Pflegern und Pflegerinnen, von Ärzten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
und Ärztinnen, von Arzthelferinnen und Arzthelfern,
von Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Ergothera- Regelungen, die vielleicht einmal ihre Berechtigung
peuten und Angehörige vieler anderer Berufsgruppen hatten, sind dort infrage zu stellen, wo Versorgungspro-
ihre Arbeit. Vor dem Hintergrund der demografischen bleme drohen. In überversorgten Gebieten hat die Men-
Entwicklung wird die Belastung bei dieser Arbeit zuneh- genabstaffelung sicher ihre Berechtigung. Aber wenn
men. Für die Leistung, die in den Gesundheitsberufen Mengenabstaffelung, was bedeutet, dass ein Arzt bei im-
tagtäglich erbracht wird, braucht es Motivation, Ver- mer mehr Patienten immer weniger Geld bekommt, dazu
trauen und Anerkennung. Genau das ist das Ziel des Ver- führt, dass junge Mediziner in der Fläche keine Arztpra-
sorgungsstrukturgesetzes. xis eröffnen, dann läuft etwas falsch. Wir heben diese
Mengenabstaffelung auf.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir erlauben Zuschläge, die gewährt werden können,
Wir wollen denjenigen, die im Gesundheitswesen arbei- um jungen Medizinern einen Anreiz zu geben, sich in
ten, Motivation, Vertrauen und Anerkennung für ihre der Fläche niederzulassen. Wir stärken den Grundsatz
Leistung geben und die Versorgung für die Patienten „Beratung vor Regress“, weil es nicht sein darf, dass ein
deutlich verbessern. Mediziner, der in der Fläche mehr Patienten betreut,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15061
Bundesminister Daniel Bahr
(A) doppelt bestraft wird, weil er möglicherweise mehr Arz- len Städten Diskussionen darüber erleben, wie häufig (C)
neimittel verschreiben muss. lange Wartezeiten sind, bis man einen Termin beim Arzt
bekommt. Die Diskussion über eine Überversorgung
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
müssen wir sachlich führen. Wir müssen die Überversor-
Wir stärken die Notdienste durch Kooperationen zwi- gung durch richtige Maßnahmen abbauen, statt einfach
schen Ärzten und Krankenhäusern. Wenn alle diese An- nur die Mediziner in Ballungsräumen durch Honorarkür-
reize nicht wirken, werden wir dafür sorgen, dass die zungen zu bestrafen; denn das ist der falsche Weg.
Kassenärztliche Vereinigung oder sogar Kommunen mit
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
eigenen Einrichtungen eine medizinische Versorgung
vor Ort gewährleisten können. Wir bauen Bürokratie ab. Wir schaffen mit diesem Gesetz auch eine neue Mög-
Wir regeln, dass delegationsfähige Leistungen von Ärz- lichkeit für fairen Wettbewerb zwischen den gesetzli-
ten auf andere Berufsgruppen übertragen werden kön- chen Krankenkassen. Wir geben den Versicherten die
nen, um den Arzt in seiner Tätigkeit zu entlasten und an- Möglichkeit der Wahlfreiheit, das heißt, ihre Kranken-
dere Berufsbilder in ihrer Tätigkeit zu stärken. kasse nach ihren Bedürfnissen wählen zu können. Kran-
kenkassen können künftig wieder Zusatzleistungen an-
Während SPD und Grüne während ihrer Regierungs-
bieten wie beispielsweise eine bessere Unterstützung
zeit und in den Debatten der letzten Wochen und Monate
durch Haushaltshilfen, wie beispielsweise eine zusätzli-
immer den drohenden Ärztemangel geleugnet haben, pa-
che Vergütung bei künstlicher Befruchtung oder wie bei-
cken wir als Koalition dieses Problem an.
spielsweise die Erstattungsfähigkeit von rezeptfreien
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Medikamenten. Dadurch schaffen wir einen fairen Wett-
bewerb um eine bessere Versorgung, um bessere Leis-
Wir wollen, dass der Landarzt für die Menschen nicht tungen der Krankenkassen untereinander. Wer profitiert
nur in einer idyllischen Vorabendserie existiert. Wir sor- von diesen Maßnahmen? Wen beglücken wir mit diesem
gen mit gezielten Anreizen – nicht mit der Gießkanne – Gesetz? Wir beglücken mit diesem Gesetz die Patientin-
dafür, dass sich auch die Menschen in der Fläche darauf nen und Patienten, weil sie dadurch mehr Wahlfreiheit
verlassen können, dass sie eine medizinische Versorgung und eine bessere Versorgung haben. Sie erleben, dass wir
vor Ort bekommen. ihre Sorgen und Nöte wirklich ernst nehmen.
Es stimmt: Es gibt nicht überall unterversorgte Ge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
biete. Aber wenn ich mir den Altersschnitt der Ärzte in
der Praxis anschaue, dann wird deutlich, dass dieses Pro- Ich möchte ein Beispiel anführen, mit dem meine
blem auf uns zukommen wird. Da gilt es, jetzt zu han- Vorvorgängerin, Frau Schmidt von der SPD, genauso be-
deln. lastet war; denn eine Krankenkasse bereitet uns seit Jah-
(B) (D)
ren wirtschaftliche Sorgen und Probleme. Als die City
Es gilt, den Medizinern eine verlässliche Perspektive
BKK in Berlin und Hamburg geschlossen werden
zu eröffnen und den Pflegern und Arzthelfern verlässli-
musste, haben wir erlebt, dass sich die Menschen offen-
che Rahmenbedingungen zu bieten. Wir schaffen eine
sichtlich nicht darauf verlassen können, dass die gesetz-
Bedarfsplanung, die sich am wirklichen Bedarf orien-
lichen Krankenkassen Solidarität untereinander zeigen,
tiert. Die bisherige Bedarfsplanung war rein historisch
und dass es offensichtlich nicht selbstverständlich ist,
begründet, setzte auf den Zustand Anfang der 90er-Jahre
dass man sich für den notwendigen Krankenversiche-
auf, anstatt die Demografie und die Morbidität zu be-
rungsschutz seine Krankenkasse selbst auswählen kann.
rücksichtigen, anstatt den wirklichen Bedarf zu berück-
sichtigen. Wir schaffen Flexibilität, Mit diesem Versorgungsstrukturgesetz sorgen wir da-
für, dass die richtigen Maßnahmen ergriffen werden, da-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
mit sich die Patientinnen und Patienten, die Versicherten
damit vor Ort geschaut werden kann: Wo gibt es wirk- darauf verlassen können, dass sie einen Krankenversi-
lich Überversorgung? Wo droht Unterversorgung? Wo cherungsschutz unabhängig vom Alter, unabhängig von
müssen gezielt Anreize gesetzt werden, damit sich dort Vorerkrankungen, unabhängig vom Geschlecht und un-
jemand niederlässt? abhängig vom sozialen Stand in Deutschland selbstver-
ständlich haben. Wir sorgen dafür, dass, wenn eine
Wir schaffen eine Regionalisierung in der Vergütung. Kasse geschlossen wird, unbürokratisch ein Wechsel zu
Das heißt, vor Ort wird wieder entschieden, wie vergütet einer anderen Kasse möglich wird. Wenn Kassen noch
wird. Wir können doch angesichts der unterschiedlichen einmal ein solch inakzeptables Abwimmelverhalten zei-
Situationen nicht glauben, man könne zentralistisch von gen, dann wird es drastische Strafen geben bis hin zur
Berlin aus die richtige Vergütung in ganz Deutschland Abberufung des Vorstandes. Das ist ein notwendiger
festlegen.
Schritt, der mit diesem Gesetz gegangen wird.
Wir bauen die Überversorgung ab, indem wir die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Möglichkeit bieten, dass frei werdende Arztsitze in über-
versorgten Gebieten aufgekauft werden. Das ist der rich- Insofern setzen wir mit diesem Gesetz gezielt An-
tige Weg, um die Überversorgung in Ballungsräumen reize, um die Versorgung der Menschen in Deutschland
schrittweise abzubauen. Ich halte nichts davon, dass wir zu verbessern. Das machen wir nicht mit der Gießkanne,
durch Strafen Ärzte demotivieren, die auch in überver- sondern mit gezielten Maßnahmen. Diese Maßnahmen
sorgten Gebieten viele Patienten zu versorgen haben. sind notwendig. Wenn wir nichts tun, dann wird es deut-
Wenn Sie durch Deutschland fahren, werden Sie in vie- lich teurer; denn der Ärztemangel in den Regionen führt
15062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Bundesminister Daniel Bahr


(A) zu deutlich höheren Kosten, als wenn wir jetzt die richti- stellt man fest, dass man auch dort warten muss. Das (C)
gen Anreize setzen, um Mediziner in die Fläche zu lo- stimmt. Das liegt aber nicht daran, dass dort Ärzte feh-
cken und damit die Versorgung in der Fläche zu gewähr- len, sondern das ist das Ergebnis Ihrer verfehlten Hono-
leisten. rarpolitik, an der Sie ebenfalls nichts ändern.
Herzlichen Dank und auf eine gute Beratung dieses (Beifall bei der SPD)
Gesetzentwurfs.
Sie produzieren die Überversorgung und machen nichts,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) um sie abzubauen.

Vizepräsident Eduard Oswald: Vizepräsident Eduard Oswald:


Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Der nächste Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unser Kollege Professor Karl Lauterbach.
Bitte schön, lieber Kollege. Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Sehr gerne, ja.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Dr. Karl Lauterbach (SPD): Bitte schön, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Zunächst einmal ganz konkret: Was
hat uns der Minister vorgetragen? Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Vielen Dank, Herr Präsident! – Sehr geehrter Herr
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Nur Kollege Lauterbach, Sie reden immer so viel von Über-
Gutes!) versorgung. Ist Ihnen bekannt, dass die sozialdemokrati-
Was hat der Minister wirklich gesagt? sche Senatorin in Hamburg Frau Prüfer-Storcks, die
auch immer gesagt hat, es gebe überall eine immense
Erster Punkt. Er hat die Verbesserung der Situation Überversorgung, auf die Frage, ob die Überversorgung
der Hausärzte und Landärzte angesprochen. Was passiert überhaupt bestehe und wie sie abgebaut werden könne,
denn konkret? Es werden insgesamt 100 Millionen Euro geantwortet hat: „In Hamburg gibt es keine Überversor-
zur Verfügung gestellt, nachdem vorher die Hausarztver- gung“? Hamburg ist, wie Sie vielleicht wissen, die
träge auf dem Land mehr oder weniger sang- und klang- zweitgrößte Stadt Deutschlands. Warum reden Sie also
los gekappt worden sind. Dem System wird bei der haus- immer von Überversorgung, wenn dies doch die eigenen
(B) ärztlichen Versorgung netto Geld entzogen. Die Minister bzw. Senatoren negieren und sagen: Nein, bei (D)
Hausärzte gehören nicht zu der Gruppe, die sich der uns natürlich nicht. – Mich würde interessieren, wie Sie
Klientelpolitik der FDP sicher sein könnte; die Haus- darauf reagieren.
ärzte sind nicht geschützt durch den Lobbyismus der
FDP. Den Hausärzten ist zunächst ein großer Teil des Vielen Dank.
Geldes entzogen worden. Jetzt werden auch noch Zu-
schläge für die unterversorgten Gebiete entzogen. Dann Dr. Karl Lauterbach (SPD):
gibt es zusätzlich ein Almosen von 100 Millionen Euro, Sie konfrontieren mich hier mit einem möglichen
und das will der Minister hier als eine Förderung der Zitat, welches ich weder prüfen kann noch kenne. Ich
hausärztlichen Versorgung verkaufen. Das ist doch Au- kann nur so viel sagen: Im Hinblick auf ein Gesetz, zu
genwischerei. In Wirklichkeit wird den Hausärzten Geld dem der Minister vorträgt, er wolle Überversorgung ab-
entzogen, und nichts anderes. bauen, erwarte ich vom Minister, dass er einen zumin-
(Beifall bei der SPD) dest plausiblen Mechanismus erklärt, wie das, was er
sich selbst zum Ziel setzt – er bestreitet somit ja die
Zweiter Punkt. Es wurde darüber gesprochen, was in Überversorgung nicht –, funktionieren kann.
den überversorgten Gebieten passiert. In den überver-
sorgten Gebieten können die Kassenärztlichen Vereini- (Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann
gungen ein Vorkaufsrecht geltend machen; sie können [FDP]: Das steht doch drin!)
dort Kassensitze kaufen. Aber welchen Anreiz dazu ha- Das Gesetz ist erneut handwerklich gescheitert.
ben sie denn? Dazu hat der Minister nichts gesagt. Im Meine Kritik ist: Wenn man eine Überversorgung ein-
Prinzip ist es so: Die Kassenärztliche Vereinigung kann räumt, was der größte Teil im Hause jederzeit bereit ist
zwar ein paar Sitze kaufen, die Politik aber macht nichts. zu tun, weil es offensichtlich ist – anderes zu behaupten,
Es ist doch Ihre Aufgabe, sehr verehrter Herr Minister, würde der Bestreitung gleichen, dass die Erde eine Ku-
für den Abbau der Überversorgung zu sorgen. Sie als gel ist –, und sie beseitigen will, muss man hier tätig
Minister können bei den Kassenärztlichen Vereinigun- werden. Da kann der Minister nicht zum Bittsteller bei
gen doch nicht als Bittsteller auftreten, ohne einen Me- der Kassenärztlichen Vereinigung degenerieren.
chanismus nennen zu können, wie das Ganze funktionie-
ren soll. Die Überversorgung wird durch dieses Gesetz (Heinz Lanfermann [FDP]: Auf die Frage ant-
überhaupt nicht angegangen. Das ist dem Minister auch worten Sie offensichtlich nicht! – Christine
klar; daher bestritt er die Überversorgung. Er hat gesagt: Aschenberg-Dugnus [FDP]: Vielen Dank für
Wenn man in die überversorgten Gebiete fährt, dann die Nichtbeantwortung der Frage!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15063

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: doch dazu führen, dass mehr Leistungserbringer die glei- (C)
Das war die Antwort auf die Zwischenfrage der Kol- chen Leistungen anbieten, sodass sich die Leistungen
legin Aschenberg-Dugnus. – Bitte schön, Sie haben das auf mehr Einheiten verteilen. Es wird dazu führen, dass
Wort. Onkologen, die kaum Erfahrung haben, Leistungen er-
bringen. Somit haben wir hier sogar den Fall, dass die
Dr. Karl Lauterbach (SPD):
bestehenden Leistungen nicht nur teurer, sondern auch
schlechter werden. Ich verstehe nicht, worin der Sinn ei-
Nichtsdestotrotz: Dieses Gesetz enthält eine Reihe ner solchen Regelung liegt.
von Kostensteigerungen, über die nicht so schnell hin-
weggegangen werden darf. Es ist zwar so, dass sich die (Heinz Lanfermann [FDP]: Die Ratlosigkeit
Versorgung nicht verbessert, aber die vorhandene Ver- ist rundum!)
sorgung – das darf man nicht außer Acht lassen – wird
deutlich teurer. So wird beispielsweise in den Regionen, Hinzu kommt, dass der Vorbehalt des Verbots im Hin-
in denen Ärztemangel besteht, die Mengenabstaffelung blick auf die Leistungen im Krankenhaus schwerer wird;
abgeschafft, was ökonomisch völlig unsinnig ist. Wenn denn um eine neue Leistung im Krankenhaus zu verbie-
ich mehr Leistungen der gleichen Art erbringe, habe ich ten, müssen zwei Drittel der Mitglieder des Gemeinsa-
natürlich geringere Fixkosten pro Leistung; somit sinken men Bundesausschusses ein Verbotsvorbehalt äußern.
auch meine Kosten für die Grenzleistung. Das ist ökono- Die Krankenhausgesellschaft kann also im Prinzip im
misch ein völlig natürlicher Prozess. Aber diese Abstaf- Block neue Leistungen im Krankenhaus zulassen, und
felung wird abgeschafft. zwar selbst dann, wenn deren medizinischer Wert in kei-
ner Weise erwiesen ist. Auch das ist ein Beispiel dafür,
(Heinz Lanfermann [FDP]: Wollen Sie die Ab- dass durch dieses Gesetz – wenn es denn konkret wird –
staffelung insgesamt erhöhen?) entweder die bestehenden Leistungen teurer werden oder
Leistungen eingeführt werden, die in medizinischer Hin-
Von einer Erhöhung spreche ich doch gar nicht, Herr
sicht unsinnig sind und deren medizinischer Wert zumin-
Lanfermann. Die Abstaffelung ist im Großen und Gan-
dest zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bestätigt werden
zen ein Ergebnis der Arbeit der Großen Koalition. Das
kann. Das ist also auch keine Verbesserung der Versor-
war nicht das Schlechteste, was wir gemacht haben.
gung.
Meine Kritik, dass die Abschaffung der Abstaffelung
Durch dieses Gesetz wird es in Zukunft möglich sein,
eine Verteuerung der bestehenden Leistungen darstellt,
als bisher nicht zugelassener Leistungserbringer Leistun-
ist berechtigt. Die vorhandene Versorgung wird teurer.
gen zu erbringen. Ich spreche dabei beispielsweise von
Das spiegelt sich auch in diesem Gesetzentwurf wider.
Homöopathen oder Heilern. Im Prinzip kann dann eine
(B) Weshalb sollte das gemacht werden? Weshalb stellen wir Leistung zulasten der Krankenkasse erbracht werden, (D)
nicht das Ziel in den Vordergrund, die Leistungen auszu-
die wir nach unserem jetzigen Verständnis gar nicht als
dehnen und zu verbessern? Was ist der Grund dafür? Die
eine medizinische Leistung ansehen. Bei allem Respekt
Leistungen in den unterversorgten Gebieten müssen aus-
vor der Homöopathie: Sind das tatsächlich Leistungen,
gedehnt werden; denn dort besteht ein Leistungsbedarf.
die über die Zusatzbeiträge der Versicherten bezahlt wer-
Dieser Leistungsbedarf wird im vorliegenden Gesetzent-
den sollten? Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?
wurf aber nicht angesprochen. Die Leistung bei beste-
Auch das ist doch nichts anderes als das Bemühen, die
hender Unterversorgung wird einfach nur höher vergü-
Versorgung aufzubohren.
tet. Somit handelt es sich hierbei nur um ein Geschenk
an ein paar Ärzte. Für die Patienten bessert sich die Ver- Ich komme zum Ende
sorgung in keiner Weise.
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Gott
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sie ha- sei Dank!)
ben nichts verstanden!)
und will das Gesetz in Gänze beurteilen. Sie selbst haben
Es handelt sich nicht um den Entwurf eines Strukturge- die Frage gestellt, wen Sie mit diesem Gesetz beglücken.
setzes, sondern um ein Geschenk an ein paar Ärzte. Eine Sie beglücken in erster Linie die Kassenärztlichen Verei-
Veränderung der Versorgungssituation wird es nicht ge- nigungen; denn sie werden den größten Teil der Rege-
ben. lungen dieses Gesetzes umsetzen müssen. Die Politik
(Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann wird somit zum Bittsteller der Kassenärztlichen Vereini-
[FDP]: Nichts verstanden!) gungen. Das bezieht sich sowohl auf den Bundesaus-
schuss als auch auf die Regelungen der regionalisierten
Eine ähnliche Entwicklung ist bei der spezialärztli- Bedarfsplanung. Außerdem beglücken Sie ein paar
chen Versorgung zu beobachten. In Zukunft wird jeder Ärzte, die die bestehenden Leistungen schlicht und
onkologische Leistungen anbieten können, der auf der ergreifend höher abrechnen können. Es wird dadurch
Grundlage einer Einschätzung der Kassenärztlichen Ver- nicht mehr Hausärzte geben. Es wird auch nicht zu
einigungen die Kriterien dafür erfüllt. Das wird natürlich einem Abbau der Unterversorgung oder zu einem Abbau
dazu führen, dass jede noch so kleine onkologische Ein- der Überversorgung kommen. Wen Sie definitiv nicht
richtung – ob Praxis oder Krankenhaus – diese spezial- beglücken, sind die Versicherten und die Patienten, da
ärztlichen Leistungen extrabugdetär abrechnet. Auch das von diesem Gesetz keine Initiative zur Verbesserung der
ist nichts anderes als eine Verteuerung, wenn nicht sogar Versorgungsqualität ausgeht. Es sind bestenfalls neutrale
eine Verschlechterung der jetzigen Leistungen. Das wird oder bedenkliche Vorschläge. Sie beglücken auch nicht
15064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dr. Karl Lauterbach


(A) die Beitragszahler; denn die Versorgungsstruktur wird Drittens. Wir schaffen einen Bonus für junge Land- (C)
verschlechtert und die Zusatzangebote werden am Ende ärzte. Ärzte, die sich in unterversorgten Bereichen nie-
über Zusatzbeiträge zu finanzieren sein, die dann die derlassen, werden künftig bei der Auswahl von Nachbe-
Nettoeinkünfte der Geringverdiener und Rentner schmä- setzungen in den Ballungsräumen, die vielen attraktiver
lern. Das ist das, worüber wir hier konkret sprechen. erscheinen, besonders berücksichtigt. Damit soll erreicht
werden, dass die erstmalige Niederlassung eines Arztes
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. in einer ländlichen Region nicht zu einer Lebensent-
(Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann scheidung wird, bei der der junge Arzt oder die junge
[FDP]: Es ist uns aber schwergefallen!) Ärztin das Gefühl hat, man könne sie nicht mehr revidie-
ren. Auf der anderen Seite werden wir die Überversor-
gung in bestimmten Regionen durch einen Abbau von
Vizepräsident Eduard Oswald:
Arztsitzen mindern. Das geschieht selbstverständlich
Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner in
über die KV, die Selbstverwaltung, weil sie das beste In-
unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser strumentarium bietet.
Kollege Johannes Singhammer. Bitte schön, Kollege
Singhammer. Viertens. Wir sorgen für eine bessere Vereinbarkeit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Familie und Beruf. Herr Minister Bahr, Sie haben zu
Recht darauf hingewiesen, dass viele von denen, die
künftig den ärztlichen Beruf ergreifen, junge Ärztinnen
Johannes Singhammer (CDU/CSU): sind. Deshalb kommt es entscheidend darauf an, ihren
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Wünschen hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen die und Beruf besser zu entsprechen.
Gesundheitsversorgung demokratischer, patientennäher
und gerechter gestalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deshalb tun wir dreierlei: Erstens. Die Möglichkeit für
der FDP) Vertragsärztinnen, sich im zeitlichen Zusammenhang mit
Deshalb bringen wir jetzt und heute das GKV-Versor- einer Entbindung vertreten zu lassen, wird von 6 auf
gungsstrukturgesetz ein und beenden damit die unerfreu- 12 Monate verlängert; das ist natürlich sinnvoll. Zwei-
tens. Die Möglichkeit der Beschäftigung einer Entlas-
liche jahrelange Praxis, Gesundheitsgesetze ausschließ-
tungsassistentin bzw. eines -assistenten wird bei der Er-
lich am Sparzwang auszurichten. Wir gestalten damit
ziehung von Kindern für bis zu 36 Monate sowie bei der
nachhaltig eine bessere ärztliche Versorgung, vor allem
Pflege von Angehörigen für bis zu 6 Monate eröffnet. Da-
in ländlichen Regionen. Wir wollen gleiche Lebensver-
(B) mit synchronisieren wir die Vertretungsmöglichkeiten (D)
hältnisse in den Ballungsräumen und den ländlichen mit anderen Gesetzen, die schon bestehen. Drittens. Bei
Regionen. Deshalb ist das Versorgungsstrukturgesetz da- der Auswahlentscheidung über die Nachbesetzung eines
rauf ausgerichtet, eine Balance zu finden und die Land- Vertragsarztsitzes in einem gesperrten Bereich werden
flucht zu stoppen. Kindererziehungs- und Pflegezeiten, durch die eine ärzt-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) liche Tätigkeit unterbrochen worden sind, künftig be-
rücksichtigt. – Das ist ein echter Zugewinn an Familien-
Wir haben uns auf folgende Maßnahme verständigt freundlichkeit. Wem das nicht passt, der soll hier einmal
– jetzt hören Sie einmal zu! –: aufstehen und dagegen sprechen.
Erstens: Demokratisierung der Bedarfsplanung. Die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Länder erhalten bei der Bedarfsplanung mehr Mitwir-
kungsrechte und können damit regionale Besonderheiten Fünftens. Wir sehen eine gerechtere Honorarvertei-
ganz anders berücksichtigen. lung vor. Die Verteilung der Honorare für die ambulante
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Versorgung erfolgt künftig wieder stärker auf der Ebene
GRÜNEN]: Das haben die Länder erstritten! der Kassenärztlichen Vereinigungen. Auch dadurch wird
Zum Glück!) regionalen Besonderheiten stärker Rechnung getragen.

Damit wird mehr Kompetenz dahin verlagert, wo die Sechstens. Wir setzen neueste Technologien ein. Wir
Entscheidungen getroffen werden. sorgen beispielsweise für den Ausbau der Telemedizin.
Wir sagen: Diejenigen, die von Ballungsräumen am wei-
Zweitens: mehr Ärzte in ländlichen Regionen. Ärzte, testen entfernt sind, sollen die modernste Technologie
die bereit sind, sich in unterversorgten Regionen nieder- bekommen. Deswegen machen wir das.
zulassen, erhalten – ja, selbstverständlich, Herr
Lauterbach – einen Blumenstrauß an erheblichen finan- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ziellen Anreizen. Sie werden von Begrenzungen der Ver- Breitband im ländlichen Raum!)
gütung ausgenommen, können Preiszuschläge für ihre
Leistungen erhalten und über einen Strukturfonds von Siebtens – das ist ganz wichtig – sorgen wir für mehr
den Kassenärztlichen Vereinigungen gefördert werden, Transparenz in der Selbstverwaltung. Wir werden die
damit die Attraktivität gesteigert wird. Struktur des Gemeinsamen Bundesausschusses neu ge-
stalten. Wir wollen ein transparenteres, nachvollziehba-
(Beifall der Abg. Willi Zylajew [CDU/CSU] res Verfahren. Damit sorgen wir für eine größere Akzep-
und Lars Lindemann [FDP]) tanz der Entscheidungen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15065
Johannes Singhammer
(A) Schließlich wollen wir mehr Offenheit. Damit sich – Horchen Sie einmal genau hin: Wir haben die Ausga- (C)
Versicherte bei der Wahl ihrer Krankenkasse umfassend ben für Medikamente um 6 Prozent gesenkt. Das bedeu-
auch über die wirtschaftliche Situation der Kassen infor- tet für die Krankenkassen eine monatliche Entlastung
mieren können, werden die Krankenkassen künftig ver- von 100 Millionen Euro. Die Arzneimittelindustrie leis-
pflichtet sein, die Geschäftsergebnisse des vergangenen tet dazu einen ganz erheblichen Beitrag; das gilt auch für
Jahres in verständlicher Form regelmäßig zu veröffent- den Großhandel und andere. Wenn gesagt wird, das sei
lichen. Auch damit schaffen wir ein großes Stück mehr Klientelpolitik, kann ich nur sagen: Die Dankbarkeit der
Verbraucherschutz und -freundlichkeit. Pharmaindustrie, die uns für diese Art von Klientelpoli-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tik entgegenschlägt, ist ungefähr so nachhaltig wie die
der Atomindustrie gegenüber den Grünen für den Atom-
Neben der Vielzahl von Verbesserungen, die bereits ausstieg.
jetzt im Gesetzentwurf vorgesehen ist, werden wir uns
im Rahmen des Beratungsverfahrens für eine Reihe von Wir haben damit eine klare neue Linie nicht nur auf-
zusätzlichen Verbesserungen einsetzen: gezeigt, sondern auch umgesetzt. Wir werden noch eine
ganze Reihe weiterer Verbesserungen im Gesundheits-
Dazu gehören erstens praktische Hilfen für Familien. bereich angehen. Wir werden zeigen, dass diese Regie-
Wir wollen beispielsweise, dass die Haushaltshilfe künf- rung handlungsfähig und in der Lage ist, das Gesund-
tig eine verpflichtende Leistung der Krankenkasse ist. heitswesen nachhaltig zu stabilisieren.
Warum ist das so wichtig? Weil wir aus einer Vielzahl
von Gesprächen wissen, dass das notwendig ist. Wenn in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
einer Familie beispielsweise die Mutter krank wird, im
Krankenhaus liegt, ist es notwendig, dass über einen län- Sie wollen immer an die Regierung; das ist verständ-
geren Zeitraum hinweg eine häusliche Unterstützung da lich.
ist. Diese Verlässlichkeit muss gegeben sein. Deshalb
wollen wir an dieser Stelle eine Verbesserung. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das wird auch gelingen!)
Zweitens. Wir wollen neue Versorgungsformen unter-
stützen. Kooperative Versorgungsformen wie Ärztenetze Aber man muss einmal schauen, was Sie eigentlich wol-
wollen wir unterstützen. Sie sollen gerecht gestaltet sein len und wie fähig Sie sind.
und nicht zu Verwerfungen, sondern zu sinnvollen Syner-
(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Sagen Sie ein-
gieeffekten führen.
mal, was Sie wollen!)
Drittens. Wir wollen kürzere Wartezeiten. Das ist
selbstverständlich. Die Wartezeit für einen Behandlungs- Ich möchte auf einen Punkt kommen, über den in dieser
(B)
termin beim Facharzt soll verkürzt werden. Die Selbst- Woche auch im Ausschuss diskutiert worden ist. Es ging (D)
verwaltung soll die Maßnahmen für ein besseres Versor- um die Abschaffung der Zuzahlungen; das ist ein wichti-
gungsmanagement vereinbaren. ger Punkt. Die Linken haben beantragt, alle Zuzahlun-
gen abzuschaffen. Es geht ja nur um eine Kleinigkeit
Wir haben einen ganz entscheidenden Schritt nach von 5 Milliarden Euro.
vorne unternommen, und zwar im Sinne einer Neuaus-
richtung der Gesundheitspolitik. Wir können das deshalb (Heinz Lanfermann [FDP]: 5,5!)
tun, und zwar nur deshalb, weil wir anders als im ver-
gangenen Jahr nicht mehr darüber diskutieren müssen, Entsprechende Hinweise darauf, wie dies ermöglicht
ob wir ein riesiges Haushaltsloch bei den gesetzlichen werden soll, sind natürlich nicht erfolgt. Die Sozialde-
Krankenkassen schließen müssen. Damals betrug das mokraten lehnen das ab – das ist, finde ich, richtig und
drohende Haushaltsloch bis zu 11 Milliarden Euro. Jetzt verantwortlich –, die Grünen enthalten sich der Stimme.
diskutieren wir möglicherweise darüber, was wir mit den So wollen Sie Regierung machen. Wir in Deutschland,
vorhandenen Überschüssen des Gesundheitsfonds ma- die deutschen Patienten und die in der Gesundheitswirt-
chen wollen. Eine Diskussion darüber, wie wir Milliar- schaft Tätigen, brauchen keine Chaoscombo, sondern
den aus dem Gesundheitsfonds richtig und nachhaltig eine seriöse Regierung.
verwenden, ist mir viel lieber als eine Diskussion da- (Lachen bei Abgeordneten der SPD)
rüber, wie wir vorhandene Haushaltslöcher schließen
können. Dass wir eine solche sind, zeigen wir mit diesem Gesetz-
entwurf.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das zeigt, dass sich in der Gesundheitspolitik Entschei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dendes getan hat. Weiteres wird mit diesem Gesetz fol- Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da sitzt
gen. sie doch, die Chaoscombo! Sie sitzt vor uns!)

Die Opposition behauptet immer, diese Regierung


würde in besonderer Weise Klientelpolitik betreiben; Vizepräsident Eduard Oswald:
weil mich das ärgert, muss ich das ansprechen. Nächste Rednerin in unserer Debatte ist unsere Kolle-
gin Frau Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Bunge.
NEN]: So ist es halt! Ihr liefert jeden Tag ei-
nen neuen Beweis dafür!) (Beifall bei der LINKEN)
15066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

(A) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): von aus, dass infolge dieser Regelung bald Kernleistun- (C)
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen gen zu Satzungsleistungen werden und die Regelleistun-
und Kollegen! „Gesetz zur Verbesserung der Versor- gen der Kassen immer weiter abgeschmolzen werden.
gungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversiche-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wo steht das
rung“, das ist ein vollmundiger Titel, der große Erwar-
denn? – Heinz Lanfermann [FDP]: Ist ja Un-
tungen weckt. Aber leider folgen den vollmundigen
sinn! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo lesen Sie
Ankündigungen – wie so oft bei dieser Regierung –
denn so etwas?)
keine, falsche oder nur halbherzige Taten.
– Dann lesen Sie einmal die Stellungnahmen.
Was sind für Sie eigentlich die Versorgungsstrukturen
der gesetzlichen Kassen? Ein großer Teil der Versorgung Eines ist klar: Noch bevor der erste Cent beim Sozial-
findet in Krankenhäusern statt. In Ihrem Gesetzentwurf ausgleich aus Bundesmitteln bezahlt wurde, steht fest:
finde ich kein Wort dazu. Ein großer Teil der Versorgung Dieser Sozialausgleich ist eine Farce, und: Wer sich auf
findet durch Krankenpflegepersonal statt. In Ihrem Ge- diese Regierung verlässt, ist verlassen.
setzentwurf finde ich kein Wort dazu. Besonders beim
Pflegepersonal drückt doch der Schuh erheblich. Ein an- (Beifall bei der LINKEN)
derer großer Teil der Versorgung findet durch Heilberufe Nun zur Versorgung. Sie haben vielfach angekündigt,
wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten usw. statt. Dies etwas gegen den vorhandenen und zu erwartenden Ärz-
ist für Sie offensichtlich Gedöns; denn dazu finde ich in temangel zu tun, aber Sie haben bis heute nicht verstan-
Ihrem Gesetzentwurf kein Wort. den, dass wir in allererster Linie ein Problem bei der
Wir alle sind in der Pflicht, die UN-Behinderten- Verteilung der Ärztinnen und Ärzte haben. Also noch
rechtskonvention umzusetzen. Dazu muss der Zugang einmal von vorne: Wir wissen doch gar nicht genau, wie
zur Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinde- viele Ärztinnen und Ärzte wir eigentlich für die Versor-
rungen endlich barrierefrei werden. Auch hier Fehlan- gung der Menschen brauchen. Aber wie wollen wir Ver-
zeige. Das alles ist untragbar. sorgung sicherstellen, wenn wir das Erforderliche nicht
kennen? Die heutige Bedarfsplanung beruht auf Daten
(Beifall bei der LINKEN) von 1990. Da wurden einfach die vorhandenen Ärztin-
nen und Ärzte gezählt, in Relation zur Bevölkerung ge-
Für Sie besteht die Versorgung offensichtlich allein setzt und der so ermittelte Wert für jede Arztgruppe als
aus ärztlichen Ambulanzen. Aber von den acht Schwer- 100-Prozent-Wert zugrunde gelegt. Damit agieren wir
punkten, die Sie selber in diesem Gesetzentwurf formu- bis heute. Seit über zwei Jahrzehnten!
liert haben, beschäftigt sich nur einer mit der flächen-
(B) deckenden ambulanten ärztlichen Versorgung. Wir Ausgehend von dieser völlig unzulänglichen Basis (D)
sehen: Nicht nur der Name Ihres Gesetzes, sondern auch haben wir heute im Bundesdurchschnitt bei allen Arzt-
inhaltlich ist Ihr Gesetz aufgebauscht. Das ist angesichts gruppen eine Versorgung von mehr als 100 Prozent, also
der Probleme, die wir haben und die auch von Ihnen offiziell Überversorgung. Bei Hausärzten reichen die
schon beschrieben wurden, fatal. Versorgungszahlen nach jetzigem Maßstab von 67 bis
167 Prozent. Aber die praktischen Erfahrungen der Pa-
(Beifall bei der LINKEN) tientinnen und Patienten sind: Überall klemmt es; man
Eines muss ich noch loswerden. Es dürfte als ein No- muss ewig auf einen Arzttermin warten, lange Wartezei-
vum in der Gesundheitspolitik in Deutschland gelten, ten in Kauf nehmen und, und, und. Das ist doch nicht
dass der Finanzminister, dass das Finanzministerium in hinnehmbar.
einer derart massiven Weise Einfluss auf ein Gesund- (Beifall bei der LINKEN)
heitsgesetz genommen hat. Weil der Bundeshaushalt
künftig mit den Kosten für den Sozialausgleich zu Ihrer An der Ausgangsbasis soll in Ihrem Versorgungsgesetz
Kopfpauschale belastet wird, hat der Finanzminister nichts geändert werden.
festschreiben lassen, dass zusätzliche Kosten für Ärzte
und Zahnärzte aus dem Geld für den Sozialausgleich he- Ganz speziell sieht die Lage bei den Psychotherapeu-
rausgerechnet werden müssen, wenn nicht an anderer ten aus. 1999 wurde das Psychotherapeutengesetz novel-
Stelle im Gesundheitssystem gespart wurde. Für das zu- liert, um Unterversorgung zu beheben. Die damals vor-
sätzliche Geld für Ärzte haften also immer die Versicher- handene Unterversorgung wurde 1999 dennoch mit einer
ten, entweder mit Leistungsminderungen oder mit Kür- 100-Prozent-Versorgung gleichgesetzt. Inzwischen sind
zungen des Sozialausgleichs. Beides, also die wir aber vorangekommen. Die Versorgung hat gegen-
Leistungen und der Sozialausgleich, sind aber Rechtsan- über dem damaligen Stand 150 bis 190 Prozent erreicht;
sprüche. Wie Sie das praktisch hinbekommen wollen, ist trotzdem haben wir in etlichen Gebieten immer noch
mir völlig schleierhaft. Unterversorgung. Gemäß den Regelungen des vorliegen-
den Gesetzentwurfs könnten jedoch Psychotherapeuten-
(Beifall bei der LINKEN) praxen aufgekauft und geschlossen werden, solange ein
Wert von 110 Prozent der damals festgestellten Versor-
Herr Bahr, ich schätze die Satzungsleistungen völlig gung überschritten wird. Das bedeutet: Fast die Hälfte
anders ein. Ich denke, Sie machen deshalb ein Einfallstor der Psychotherapeutensitze könnte zugemacht werden.
für Leistungsminderungen auf, indem Sie den Umfang Dieser Vorschlag ist doch unglaublich.
der freiwilligen Leistungen, also Satzungsleistungen der
Krankenkassen, erweitern. Selbst die Kassen gehen da- (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15067
Dr. Martina Bunge
(A) Was wir brauchen, ist, dass endlich wissenschaftlich (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ja, ja! (C)
evaluiert wird, wie viele Ärztinnen und Ärzte, aber auch Das wissen wir!)
wie viel Pflegepersonal, wie viele Physiotherapeuten,
Natürlich muss die Landarzttätigkeit mit ihren vielen
Hebammen usw. für die Versorgung eigentlich notwen-
Hausbesuchen und langen Anfahrtswegen, aber auch mit
dig sind. Grundlage dafür muss der Gesundheitszustand
ihrer sozialen Funktion adäquat vergütet werden. Nur:
der Menschen und der zeitliche Aufwand sein, einen
Ihr Vorschlag, die Abstaffelung der Leistungsmenge für
Arzt oder einen anderen Gesundheitsdienstleister zu er-
Ärzte in unterversorgten Gebieten aufzuheben, ist eine
reichen. Sie wollen den tatsächlichen Bedarf an Ärztin-
Lachnummer.
nen und Ärzten aber gar nicht wissen; das erinnert Sie
viel zu sehr an Planwirtschaft. Es geht hier aber um Da- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Na, na!)
seinsvorsorge. Hier ist der Staat gefordert und nicht der
Diese Regelung betrifft nicht einmal 40 Ärzte
von Ihnen so geliebte Markt.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie hat das Gesetz
(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/
nicht verstanden!)
CSU]: Seit’ an Seit’ marschieren!)
und bringt keinen Arzt zusätzlich aufs Land.
Unabhängig davon, ob wir nun zu viele oder zu we-
nige Ärzte haben, steht fest, dass die Regionen unter- (Beifall bei der LINKEN – Johannes
schiedlich gut versorgt sind. Es müssen mehr Ärztinnen Singhammer [CDU/CSU]: Sie haben es ja im-
und Ärzte in die offiziell unterversorgten Gebiete und mer noch nicht verstanden! Sehr schade!)
weniger Ärztinnen und Ärzte in die offiziell überver-
Aber Sie gehen damit hausieren – das tun Sie auch heute
sorgten Gebiete. Nur wenn an diesen beiden Stellschrau-
wieder –, als sei es das Ei des Kolumbus. Was wir brau-
ben gedreht wird, können wir wirklich etwas erreichen.
chen, ist eine dauerhaft aufwandsdeckende Vergütung
Nach Ansicht der Bundesregierung reicht es aber aus, der Landärzte für ihr oft unermüdliches Engagement in
vor allem finanzielle Anreize zu schaffen, damit Ärztin- dünnbesiedelten Gebieten.
nen und Ärzte vermehrt in unterversorgte ländliche Be-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Was denn jetzt? Doch
reiche gehen. Eine wissenschaftliche Studie hat aber ge-
mehr Geld oder nicht mehr Geld?)
zeigt, dass man sie mit Geld nicht aufs Land locken
kann. – Ja, aber dauerhaft; das muss man wissen. – Es darf
kein ständiges Hin und Her geben.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Womit denn dann?)
(Heinz Lanfermann [FDP]: Wie? Erst kein Geld
Wenn man die Versorgung gerechter organisieren will,
und dann dauerhaft? Das ist ja toll!)
(B) muss man tatsächlich an die Strukturen heran, wie es der (D)
Gesetzesname verspricht, und nicht nur an die Geldscha- – Hören Sie ordentlich zu!
tulle der Versicherten.
(Lachen des Abg. Heinz Lanfermann [FDP])
(Beifall bei der LINKEN – Christine
Das größte Hindernis für eine gerechtere, bessere Ver-
Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wohl mit DDR-
teilung der Ärzte ist Ihr fehlender Wille,
Ehrenmedaillen!)
(Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, genau! Und das
Wenn sich die Versorgung nicht oder nur schwer über
dauerhaft!)
freiberufliche Ärzte mit lebenslangen, sogar von Gene-
ration zu Generation vererbbaren Zulassungen organisie- in offiziell überversorgten Gebieten die Arztdichte zu
ren lässt, muss man davon Abstand nehmen. Wir brau- verringern. So sollen zum Beispiel die gerade erst einge-
chen mehr oder eigentlich generell befristete führten Abschläge wegfallen. Wir denken: Um für eine
Kassenzulassungen, und es muss viel mehr auf ange- bessere, gerechtere Verteilung der Ärztinnen und Ärzte
stellte Ärztinnen und Ärzte gesetzt werden. zu sorgen, müssen wir in den offiziell überversorgten
Gebieten ansetzen. Sonst bleibt alles beim Alten.
(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/
CSU]: Beim Staat wahrscheinlich! Alle beim Auf Dauer müssen wir dahin kommen, dass das Geld
Staat! – Heinz Lanfermann [FDP]: Oh ja! Su- dem Bedarf an Versorgung entsprechend in eine Region
per!) fließt und dort bleibt.
Damit wären die Sitze und Anstellungen in unterver- (Lars Lindemann [FDP]: Ach nein! Lesen Sie
sorgten Gebieten viel attraktiver und zukunftssicherer, doch mal den Gesetzentwurf!)
und das starre System wäre endlich flexibilisiert, das
Wird es nicht abgerufen, weil Ärztinnen und Ärzte feh-
heißt planbarer.
len, können damit andere Versorgungsformen wie mo-
(Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, genau! Unbe- bile Praxen, Shuttledienste oder eingerichtete Praxen
dingt! Kubanisches Modell! – Jens Spahn finanziert werden. Es ist doch ein Unding, dass das Geld
[CDU/CSU]: Stellen Sie die nur in Ihrer Partei gegenwärtig dorthin fließt, wo die meisten Ärztinnen
ein, oder was? Wollen Sie Parteiärzte?) und Ärzte sind, und nicht dorthin, wo die meisten Ärz-
tinnen und Ärzte gebraucht werden.
Wir brauchen auf dem Land mobile Arztpraxen und
Shuttledienste zu Ärztezentren. So sehen moderne Struk- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
turen aus. neten der SPD)
15068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dr. Martina Bunge


(A) Ich denke, Sie sollten sich, wenn Sie mir schon nicht Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Haben Sie eben (C)
zuhören, einmal in Ruhe den vorliegenden Antrag der eigentlich zugehört?)
Linksfraktion anschauen, in dem es darum geht, wie man
Herr Minister, Sie sollten vielleicht weniger Fernse-
zukunftsfähige Versorgungsstrukturen gestalten kann. Es
hen schauen und nicht die Soapoperas mit den Landärz-
lohnt sich, hineinzuschauen.
ten zum Leitbild erheben, sondern einmal mit Ihren
(Beifall bei der LINKEN) Fachleuten im Ministerium reden.
Mein Fazit: Ihrer vollmundigen Ankündigung, eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
flächendeckende Versorgung zu sichern, kommen Sie Heinz Lanfermann [FDP]: Sie sollten einmal
mit diesem Gesetzentwurf nicht oder zumindest nicht die Nachrichten hören!)
ausreichend nach.
Dann würden Sie nämlich erfahren, dass Ihre eigenen
(Heinz Lanfermann [FDP]: Ala! Dann also Fachbeamtinnen und Fachbeamten im Jahre 2008 im
doch!) Auftrag der Gesundheitsministerkonferenz an einem Be-
richt zur Sicherstellung der Primärversorgung in
Das ist kein Versorgungsgesetz für die Patientinnen und
Deutschland mitgearbeitet haben. Das ist heute unser
Patienten, sondern ein Versorgungsgesetz für die Ärzte-
Thema. Damals wurde errechnet, dass aufgrund der
schaft, aber nicht einmal für die Ärztinnen und Ärzte,
Alterung der Bevölkerung alleine bis zum Jahr 2020
die es am dringendsten bräuchten, sondern für den Be-
15 000 zusätzliche Hausärztinnen und Hausärzte not-
rufsstand insgesamt. Insofern sage ich – ich bin ja er-
wendig sein werden, und zwar nur, um den Status quo zu
staunt, dass Sie den Begriff „Beglückung“ übernommen
erhalten. Darin waren Versorgungsengpässe, die es in
haben –: Für den Berufsstand ist es ein Beglückungspa-
ländlichen Gegenden oder in den ärmeren Vierteln der
ket.
Großstädte bereits gibt, noch nicht eingerechnet.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie wollten doch ge-
Weiter hätten Sie, Herr Minister, dem Bericht entneh-
rade mehr Geld! Erst mehr Geld, dann nicht
men können, dass ein derartiger Anstieg eine Verdoppe-
mehr Geld, dann Beglückung! Was denn nun?)
lung der jährlichen Niederlassungen innerhalb der
In nicht einmal zwei Jahren Regierungszeit haben Sie nächsten zehn Jahre voraussetzt. Des Weiteren hätten Sie
es geschafft, dafür zu sorgen, dass der Bundesfinanz- dann festgestellt, dass nach Einschätzung sowohl Ihrer
minister im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung der eigenen Fachleute als auch der Fachleute aus den Län-
Bevölkerung mitbestimmt. Eines ist doch wohl klar: Die dern ein derartiger Anstieg in so kurzer Frist schlicht
Entscheidung, ob Geld in Banken oder in die medizini- nicht möglich ist und allein schon deshalb die vorhande-
sche Versorgung investiert wird, fällt bei Ihnen immer nen Potenziale nichtärztlicher Gesundheitsberufe, wie
(B) (D)
zugunsten der Banken aus. Für die gesetzlich Versicher- zum Beispiel die von Pflegekräften, zu erschließen sind.
ten bleibt eine Versorgung nach Kassenlage. Eine Politik Aber genau das tun Sie nicht.
für die Menschen, die Patientinnen und Patienten und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Versicherten sieht anders aus.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Das heißt, die steigende Nachfrage nach Hausbesuchen,
Dr. Karl Lauterbach [SPD]) nach Patientenberatung und -schulung und auch nach
Unterstützung betreuender Angehöriger wird sich durch
Ihr Gesetz nicht befriedigen lassen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die nächste Rednerin Diese seit drei Jahren vorliegenden Erkenntnisse und
in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Empfehlungen entsprechen auch dem, was 2007 der
Grünen unsere Kollegin Birgitt Bender. Bitte schön, Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen festge-
Frau Kollegin Bender. stellt hat. Aber davon ist in Ihren Gesetzentwurf nichts
eingegangen, außer einigen Plattitüden. Man kann auch
sagen: Außer Spesen nichts gewesen.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Auch ist in Ihrem Gesetzentwurf keine Rede von
Koalition besteht unser Gesundheitswesen offensichtlich neuen Versorgungsformen, wie etwa von Kommunen ge-
nur aus Ärztinnen und Ärzten. gründeten Arztstationen, um die Versorgung auf dem
Land zu verbessern. Stattdessen wird der weitere Aus-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bau von medizinischen Versorgungszentren, in denen
und bei der SPD)
Patientinnen und Patienten eine Versorgung aus einer
Wie anders lässt sich erklären, dass der Bundesgesund- Hand vorfinden, behindert, zum Beispiel indem Grün-
heitsminister den Anspruch erhebt, die medizinische dungswilligen der Zugang zum Kapitalmarkt versperrt
Versorgung, vor allem die auf dem Lande, zu verbessern, wird. Stattdessen wird der Geldhahn für die Ärztinnen
und dann einen Gesetzentwurf vorlegt, der sich nur auf und Ärzte aufgedreht. Zum vierten Mal innerhalb von
eine einzige Berufsgruppe im Gesundheitswesen be- vier Jahren steigen die Honorarmittel für die Ärzte-
zieht, nämlich auf die Ärztinnen und Ärzte? schaft, und das nicht etwa mit einer spezifischen Steue-
rungswirkung, nein, für alle, unabhängig davon, ob sie in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
über- oder unterversorgten Regionen praktizieren.
und bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]:
Ohne Ärzte wird es wohl nicht gehen! – (Jens Spahn [CDU/CSU]: Völliger Quatsch!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15069
Birgitt Bender
(A) Die bereits vor Jahren beschlossenen, aber bis heute von wir den drohenden Ärztemangel an und sorgen dafür, (C)
der Selbstverwaltung nicht umgesetzten Honorarab- dass die Menschen das Vertrauen in das deutsche Ge-
schläge in überversorgten Bezirken werden ersatzlos ge- sundheitssystem nicht verlieren.
strichen. Wirksame Anreize hingegen für die Niederlas-
sung auf dem Land oder in sozialen Brennpunkten gibt Der Entwurf eines GKV-Versorgungsstrukturgeset-
es keine. zes, das wir Ihnen heute hier vorlegen, ist ein erneuter
Beweis dafür, dass sich die christlich-liberale Koalition
An fehlenden Hausbesuchen, ermüdenden Wartezei- um die Sorgen der Menschen kümmert.
ten und langen Anfahrten zur nächsten Landarztpraxis
wird dieses Gesetz nichts ändern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Wer hat Ihnen das erzählt?)
Aber offensichtlich – ich kann es Ihnen nicht ersparen – Mit unserem Gesetzentwurf verbessern wir ganz konkret
hat diese Regierung gar nicht vor, Probleme der Gesund- die medizinische Versorgung der Patienten und rücken
heitsversorgung wirklich zu lösen. Vielmehr kämpft die wir den Menschen dorthin, wo er hingehört, nämlich in
FDP um ihr Überleben. Sie überlegt sich, wo sie viel- den Mittelpunkt unseres Handelns. Die Menschen vor
leicht noch ein Klientel vorfinden und befriedigen Ort werden spüren, dass ihre tatsächliche und auch er-
könnte – dies könnte innerhalb der Ärzteschaft sein –, lebte Versorgungssituation besser ist als in Zeiten sozial-
um einmal wieder 1 Prozent hinzuzugewinnen. demokratischer Gesundheitspolitik unter Ulla Schmidt.
Ich muss schon sehr ernsthaft sagen, Herr Minister: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Für die Zusammenschlüsse der Ärzteschaft ist es ein ab- der CDU/CSU – Stephan Thomae [FDP]: Das
solut legitimes Anliegen, für die wirtschaftlichen Inte- ist aber keine Kunst!)
ressen ihrer eigenen Mitglieder zu kämpfen. Wenn sich
aber eine Regierung dies zu eigen macht, dann ist das Verantwortlich dafür ist ein ganzes Bündel von Maßnah-
eine politische Bankrotterklärung. Das werfen wir Ihnen men. Sie müssen sich den Gesetzentwurf nur einmal
vor. durchlesen. Ich nenne vier Beispiele:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erstens. Die am Wohl des Patienten ausgerichtete
und bei der SPD) Weiterentwicklung der Bedarfsplanung. Sie ist nicht
zentralistisch, Frau Bunge, sondern zielgenau, flexibel
und die regionalen Besonderheiten berücksichtigend,
Vizepräsident Eduard Oswald:
was uns besonders wichtig ist.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin in
(B) unserer Debatte ist unsere Kollegin Frau Christine Zweitens. Die Weiterentwicklung der Steuerung des (D)
Aschenberg-Dugnus für die Fraktion der FDP. Bitte Niederlassungsverhaltens von Ärzten. Diese ist ebenfalls
schön, Frau Kollegin. flexibel und regionalisiert ausgestaltet; denn vor Ort
weiß man besser, was zu tun ist.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Drittens. Die stärkere Verzahnung von ambulanter
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und stationärer Behandlung.
und Kollegen! Ich muss Ihnen sagen: Wenn es hier im
Plenum um Gesundheitsthemen geht, freue ich mich im- Viertens. Die sektorenübergreifende Organisation des
mer schon Tage vorher darauf, hier vor Ihnen zu spre- ärztlichen Notdienstes. Auch durch den Ausbau mobiler
chen. Ich schaue in die netten Gesichter der Kolleginnen Versorgungskonzepte werden wir zur Sicherstellung ei-
und Kollegen, ner flächendeckenden und bedarfsgerechten Versorgung
beitragen.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das geht bei Ihnen nur noch zwei Jahre!) (Stephan Thomae [FDP]: Sehr wichtig!)
vor allem auf der linken Seite, von denen unentwegt Während die eine Hälfte des Hauses die Ärzte gebets-
Vorwürfe kommen: Lobbyismus, Klientelpolitik und mühlenartig als eigennützige Berufsgruppe bezeichnet,
wen wir angeblich alles beglücken. Ich freue mich jedes die möglichst viel Geld raffen will,
Mal darauf. Dabei sind Sie doch eigentlich nur verärgert
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
darüber, dass wir etwas regeln und etwas tun. Sie hinge-
NEN]: Ihre Politik ist klientelorientiert! Das
gen haben jahrelang nichts getan und immer behauptet,
ist das Problem!)
es müsse auch nichts getan werden. Sie ärgern sich doch
nur darüber. sehen wir es als selbstverständlich an, dass die Ärzte mit
ihrem Beruf auch Geld verdienen müssen. Das ist doch
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
wohl ganz klar. Deswegen finden wir es ganz im Gegen-
Meine Damen und Herren, unser Minister Daniel teil zu Ihnen auch überhaupt nicht schlimm, dass das
Bahr hat Ihnen soeben einen Gesetzentwurf vorgestellt, Niederlassungsverhalten der Ärzte über finanzielle An-
mit dem die zentralen Probleme in der Gesundheitsver- reize geregelt wird. Frau Bunge, ich habe es eben in ei-
sorgung gelöst werden. Mit dem Gesetzentwurf gehen nem Zwischenruf schon einmal gesagt: In der DDR gab
15070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Christine Aschenberg-Dugnus
(A) es eine Medaille zum Ehrentitel „Verdienter Arzt des (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (C)
Volkes“. Ich glaube, dafür gab es 8 000 Ostmark. Inso- CDU/CSU)
fern müsste Ihnen das eigentlich bekannt vorkommen.
Wir sagen nicht einfach: Geh aufs Land! Mach, dass du
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dort hinkommst! – Vielmehr bieten wir Anreize, sich in
der CDU/CSU – Dr. Martina Bunge [DIE unterversorgten Regionen niederzulassen. Wir ermuti-
LINKE]: Das ist ganz was anderes!) gen und bestärken junge Mediziner, sich bewusst auf
dem Land niederzulassen, weil es eben nicht mit Nach-
Meine Damen und Herren, ich komme aus einer länd- teilen verbunden sein wird, weil es eben nicht unattrak-
lichen Region in Schleswig-Holstein. Mein Wahlkreis ist tiv ist, sondern gewürdigt wird.
Rendsburg-Eckernförde. Glauben Sie wirklich, dass ich
einen jungen Arzt aus Kiel mit gutem Zureden überreden (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
kann, sich in einer ländlichen Gegend wie zum Beispiel
Brekendorf niederzulassen, nur weil dort ein Bedarf Sie werden es erleben: Wenn unser Versorgungsstruk-
besteht? Meinen Sie, er würde sein gesamtes bisheriges turgesetz in Kraft ist, werden Sie zugeben müssen, dass
familiäres und kulturelles Umfeld aufgeben, weil die Ihre verbale Geisterfahrt völlig unangemessen war. Wir
Politik nach zehn Jahren Ulla Schmidt gegensteuern und machen nämlich kein Ärztebeglückungsgesetz. Unser
den Ärztemangel auf dem Land bekämpfen muss, was Minister macht ein Patientenbeglückungsgesetz. Das
wir jetzt ja tun? Das glaube ich nicht. werden Ihnen die Patienten demnächst bestätigen.

Wir haben mit den Ärzten gesprochen und ihnen zu- Vielen Dank.
gehört. Das rate ich Ihnen auch. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald:
Natürlich ist den Ärzten das Honorar wichtig. Man muss Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin in
schließlich auch Geld verdienen; das ist völlig legitim. unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokra-
Deswegen schaffen wir einen finanziellen Anreiz da- ten unsere Kollegin Dr. Marlies Volkmer. Bitte schön,
durch, dass Landärzte von der Abstaffelung der Hono- Frau Kollegin Dr. Volkmer.
rare ausgenommen werden, damit sie für mehr Arbeit (Beifall bei der SPD)
nicht auch noch weniger Geld bekommen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer (SPD):
(B) der CDU/CSU) Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen (D)
und Kollegen! Alle Menschen in unserem Land müssen
Wer den Ärzten zuhört, der wird auch feststellen, dass
sich darauf verlassen können, eine gute medizinische
die Finanzen nicht das Wichtigste sind, sondern ganz be-
Versorgung zu bekommen, ganz gleich, ob sie in Bal-
sonders wichtig ist für junge Ärzte das Umfeld, in dem
lungsgebieten der Großstadt oder auf dem Land leben.
sie arbeiten und leben. Genau deshalb lockern wir die
Dazu gehört die Teilhabe am wissenschaftlichen Fort-
Residenzpflicht. Dass Mediziner dort wohnen müssen,
schritt. All das muss unter den Bedingungen der Demo-
wo sie ihre Praxis haben, ist einfach nicht mehr zeitge-
grafie in einer älter werdenden Gesellschaft erbracht
mäß. Wenn Menschen auf dem Land wohnen und in der
werden.
Stadt arbeiten können, dann muss das genauso gut auch
umgekehrt möglich sein. Ein Versorgungsgesetz muss sich daran messen las-
sen, wie es diese Ziele umsetzt. Ich sage von vornherein:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Dieser Gesetzentwurf wird den Zielen nicht einmal im
der CDU/CSU)
Anspruch gerecht,
Eine Lockerung der Residenzpflicht wird dazu beitra-
(Beifall bei der SPD)
gen, dass Mediziner ihre Lebensentwürfe stärker als bis-
her an der Vereinbarkeit von Familie, Privatleben und denn man kann die Anforderungen von morgen nicht mit
Beruf ausrichten können. Das betrifft vor allen Dingen den Strukturen von gestern lösen. Zu klären ist doch:
auch Frauen. Wir alle wissen ja: Die Medizin wird weib- Was müssen wir in unserem Gesundheitssystem verän-
lich. Durch diese Maßnahme wird die ärztliche Versor- dern? Wie müssen wir die Strukturen gestalten, damit
gung auf dem Land immens gestärkt. wir tatsächlich zu einer bedarfsgerechten Versorgung
kommen? Dabei ist die Frage entscheidend: Wie ist der
Nicht nur unsere konkreten Schritte zur Verbesserung
Zugang in dieses Gesundheitssystem?
der medizinischen Versorgung sind wegweisend, son-
dern auch der Geist dieses Gesetzentwurfs und der Men- Im geltenden Gesetz haben wir das geregelt. Wir hat-
talitätsunterschied zu den Ansätzen der Opposition sind ten noch niemals so viele Medizinerinnen und Mediziner
im besten Sinne bemerkenswert. im Lande wie heute. Trotzdem wissen wir alle aus der
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Praxis, dass Patientinnen und Patienten Schwierigkeiten
haben, Termine beim Facharzt zu bekommen. Sie haben
Wir setzen eben nicht auf Zwang, wie es der SPD-Men- Schwierigkeiten, einen Hausarzt zu finden, wenn ihr bis-
talität entsprechen würde, sondern wir setzen auf An- heriger Hausarzt in Rente geht. Das liegt an vielem, aber
reize und Motivation. es liegt auch daran, dass wir in den strukturschwachen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15071
Dr. Marlies Volkmer
(A) Regionen eine Unterversorgung und in den Ballungsge- Ärzte daran hindern, eine Landpraxis zu übernehmen (C)
bieten häufig eine Überversorgung haben. oder zu gründen.
Ein Versorgungsgesetz muss für eine bessere Vertei- (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das ha-
lung der Ärzte sorgen. Dazu gehört es, Überversorgung ben wir auch nicht gesagt! Sie haben mal wie-
abzubauen, und zwar wirksam. der nicht zugehört!)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) Ein wesentlicher Grund ist vielmehr, dass sie nicht als
Das ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht vorgesehen. Inzwi- Einzelkämpfer rund um die Uhr für ihre Patienten ver-
schen fordern auch Teile der Ärzteschaft, gesetzlich zu antwortlich sein wollen. Da ist es sehr schwer, Beruf und
regeln, dass überflüssige Praxen nicht wiederbesetzt, Familie zu vereinbaren.
sondern aufgekauft werden. (Beifall bei der SPD)
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist es doch! Sie wollen auch Zeit für eine kontinuierliche Fortbildung
Lesen Sie doch zur Abwechslung mal das und den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen ha-
Gesetz!) ben.
Freiwilligkeit nützt hier nichts. Damit kommen Sie nicht Deswegen liegt es auf der Hand, dass wir Strukturen
weiter. brauchen, die mehr Teamarbeit ermöglichen. Integrierte
Der Gesetzentwurf dieser Bundesregierung wird dazu Versorgungskonzepte und medizinische Versorgungs-
führen, dass der Ärztemangel regional sogar noch ver- zentren auch in Krankenhäusern sind gerade in den
stärkt wird, nämlich durch die Regelung für die spezial- strukturschwachen ländlichen Regionen extrem wichtig.
ärztliche Versorgung. Mit dem Gesetzentwurf tun Sie aber nichts, um diese
Strukturen zu verbessern. Sie erschweren vielmehr die
(Beifall bei der SPD) Gründung von medizinischen Versorgungszentren und
Ich will es ganz klar sagen: Sie sehen in Ihrem Gesetz- ihr Fortbestehen. Das ist zwar durchaus im Interesse der
entwurf vor, für die spezialärztliche Versorgung jegliche Kassenärztlichen Bundesvereinigung, aber es ist gegen
Bedarfsplanung und jegliche Mengenbegrenzung abzu- die Interessen von Patientinnen und Patienten und auch
schaffen. Das heißt, ein Arzt kann seine Leistungen in diesem Fall wieder gegen die Interessen vieler Ärztin-
überall im Lande erbringen, und zwar ohne Mengenbe- nen und Ärzte.
grenzung. Wer kann, der darf. Es ist auch an der Zeit, nichtärztliche Gesundheitsbe-
(B) (Hilde Mattheis [SPD]: Genau!) rufe stärker einzubinden. Ihre Forderung an den Ge- (D)
meinsamen Bundesausschuss, eine Liste delegierbarer
Ich muss keine Hellseherin sein, um vorauszusagen, was Leistungen zu erstellen, ist bloß ein Feigenblatt. Ärzte
passieren wird: Die Ärzte werden danach drängen, in die können doch schon heute Leistungen delegieren. Das
spezialärztliche Versorgung zu gehen. wird auch praktiziert.
Das hat zwei Folgen. Die eine Folge ist – das wissen Viele Maßnahmen der Bundesregierung kranken da-
Sie ganz genau – eine deutliche Verteuerung dieses Ge- ran, dass Sie den Arzt immer noch als Einzelkämpfer se-
sundheitssystems. Zu bezahlen haben es die Versicherten hen. Das ist aber überholt.
allein, nämlich durch Zusatzbeiträge.
Zusammenfassend stelle ich fest: Der Gesetzentwurf
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verbessert die Versorgung nicht, er verteuert sie aber.
NEN]: So ist es!) Die steigenden Kosten sind allein durch die Versicherten
Die zweite negative Folge ist: Der Anreiz von Medizin- über Zusatzbeiträge aufzubringen.
studenten, sich zum Allgemeinmediziner ausbilden zu Der Entwurf dieses Gesetzes mit dem wohlklingen-
lassen, sinkt. Dadurch wird es nicht mehr, sondern weni- den Namen Versorgungsstrukturgesetz oder, wie ich
ger Hausärzte geben. heute gelernt habe, Patientenbeglückungsgesetz
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Heinz Lanfermann [FDP]: Ja! Genau!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ist nichts anderes als eine teure, schillernde Seifenblase,
Das ist gegen die Interessen der Patientinnen und Patien-
ten, und es ist auch gegen die Interessen vieler Ärztinnen die schon beim bloßen Hinsehen zerplatzt.
und Ärzte. Um Überversorgung abzubauen, müssen au- (Beifall bei der SPD)
ßerdem die Honorarzuschläge in unterversorgten Gebie-
ten Honorarabschlägen in überversorgten Gebieten ge-
genüberstehen. Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt spricht als Nächs-
Sie haben von einem Blumenstrauß an finanziellen ter für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Jens
Anreizen gesprochen, den Sie Ärzten zur Verfügung Spahn. Bitte schön, Kollege Jens Spahn.
stellen wollen, die sich auf dem Land niederlassen. Mit
diesem Blumenstrauß werden Sie nicht viel erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Denn es sind nicht in erster Linie finanzielle Gründe, die neten der FDP)
15072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

(A) Jens Spahn (CDU/CSU): Wir haben in diesem Jahr schon das Krankenhaushygie- (C)
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- negesetz verabschiedet. Es enthält Regelungen in Bezug
gen! Man könnte schadenfroh sein, Herr Kollege auf das Thema: Wie ist eigentlich der Zustand im Kran-
Lauterbach und Frau Kollegin Volkmer, wenn man sieht, kenhaus? Kommt man aus dem Krankenhaus kränker
wie Sie sich hier winden müssen, heraus, als man hineingegangen ist, weil man sich Infek-
tionen zugezogen hat? Wir reden noch über das Patien-
(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Ich winde mich tenrechtegesetz. Die Eckpunkte stehen bereits fest. Es
nicht!) wird gerade am Gesetzentwurf gearbeitet. Wir wollen
die Patienten und ihre Rechte stärken.
um Argumente zu suchen und Haare in der Suppe zu fin-
den. Denn Sie wissen genau, dass Sie das, was wir mit (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dem Versorgungsstrukturgesetz angehen und was im NEN]: Das aktuelle Gesetz scheint nicht viel
Grunde die Debatte fast der letzten zehn Jahre über die zu bieten!)
Versorgung im ländlichen Raum widerspiegelt, in den
vergangenen Jahren längst hätten tun müssen. Es wurmt Natürlich steht im Mittelpunkt all dieses Tuns die Ab-
Sie, dass wir das jetzt tun. Deswegen suchen Sie mit al- sicht, sich anzuschauen, wie ein Patient die Versorgung
ler Gewalt und mit zum Teil etwas verqueren Argumen- auf Grundlage dieses Versorgungsgesetzes erlebt.
tationen das Haar in der Suppe.
Ein großes Thema in diesem Zusammenhang ist – das
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist hier schon angesprochen worden – die flächende-
NEN]: Wer hat denn in der letzten Legislatur- ckende Versorgung. In einer 20 000-Einwohner-Stadt
periode regiert?) wie Gescher im Münsterland, meiner Heimatregion, gibt
es noch sieben Hausärzte. Wenn man dort eine Veran-
Ärgern Sie sich nicht! Arbeiten Sie konstruktiv mit, staltung zum Thema Patientenversorgung durchführt,
damit der Gesetzentwurf in den Beratungen im Deut- kommen 200 Menschen. Die Menschen dort wissen
schen Bundestag noch besser wird! nämlich: Von den sieben Hausärzten dort sind fünf über
55 Jahre. Da man weiß, dass es für Hausärzte im Mo-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ment nicht attraktiv ist, aufs Land zu gehen, bewegen die
Wir haben im letzten Jahr die Finanzierung der ge- Menschen die Fragen: Was ist eigentlich in zehn Jahren?
setzlichen Krankenversicherung neu geregelt. Wir haben Was tun die Politiker gegen diese mangelnde Attraktivi-
eine zusätzliche Einnahmequelle jenseits einer lohnab- tät?
hängigen Finanzierung gefunden, die tragfähig und auf (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) Dauer angelegt ist. In diesem Jahr geht es, nachdem wir NEN]: Sie bieten doch gar keine Antwort für (D)
im letzten Jahr die Finanzierung besprochen haben, im das Problem! Das ist doch nichts!)
Schwerpunkt um die Frage, was mit dem Geld passiert.
Wie können wir die beiden entscheidenden Qualitäts- Es geht hier nicht um ein Ärztegesetz. Man bringt eine
merkmale des deutschen Gesundheitswesens, die uns gute Versorgung der Menschen nur mit den Menschen
deutlich von allen anderen Ländern in Europa und auf zustande, nicht gegen sie. Wir denken von den Sorgen
der Welt unterscheiden, auch für die Zukunft sichern? der Menschen her, wenn wir über diese Maßnahmen an
Diese beiden Merkmale sind erstens der schnelle Zugang dieser Stelle reden.
zu Innovation – man findet kaum noch ein Land, in dem
ein neu zugelassenes Medikament erstattungsfähig ist; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die Erstattungsfähigkeit in Deutschland beizubehalten, ist Ansetzen muss man bei der Definition des Istzustan-
uns wichtig, weil sie für viele Patienten, etwa für krebs- des. Sie haben recht: Die heutige Bedarfsplanung funk-
kranke, die Hoffnung auf Leidminderung bedeutet – und tioniert nicht. Sie wurde in den 1990er-Jahren zu Zeiten
zweitens eine flächendeckende Versorgung; Spitzenme- der Ärzteschwemme diskutiert. Aus den uns vorliegen-
dizin darf nicht nur in München oder in Hamburg ange- den Zahlen lässt sich die Frage, ob eine Region gut ver-
siedelt sein, sondern es muss sie auch andernorts geben; sorgt ist oder nicht, nicht angemessen beantworten. Des-
wir wollen, dass es überall rund um die Uhr einen guten wegen führen wir eine neue Bedarfsplanung durch. Wir
Zugang zur Versorgung gibt. Die Sicherung dieser bei- schauen dabei nicht mehr nur in die Landkreise oder
den Qualitätsmerkmale ist das eigentliche Ziel dessen, Städte, sondern wir gehen kleinräumiger vor, damit wir
was wir hier tun. genau wissen, wo im Land es einen Versorgungsbedarf
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gibt.

Es geht hier heute um ein – dieser Begriff ist zu Recht Das Ganze ist übrigens nicht nur – vieles in dieser
verwandt worden; mit dem Wort „Patientenbe- Debatte war für mich arg verkürzt – ein Stadt-Land-Pro-
glückungsgesetz“ tue ich mich allerdings schwer – Pa- blem. Natürlich gibt es bei uns im Münsterland, in der
tientengesetz. Das ganze Jahr schon stellen wir den Pa- Eifel, in Mecklenburg-Vorpommern und in vielen ande-
tienten und seine Bedürfnisse, seinen Blick, seinen ren Gegenden Versorgungsprobleme. Aber diese Pro-
erlebten Versorgungsalltag in den Mittelpunkt. bleme gibt es auch in den Städten. Vielleicht sollten wir
auch darüber einmal eine Diskussion führen. In Berlin-
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Neukölln gibt es zwar die meisten Kinder, aber in Ber-
Richtig!) lin-Charlottenburg gibt es die meisten Kinderärzte. Auch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15073
Jens Spahn
(A) in den Städten gibt es also Verteilungsprobleme. Auch schwierigen Stadtteilen oder im ländlichen Raum nieder- (C)
da müssen wir entsprechende Anreize setzen. zulassen. Wir blicken vor allem auf den Arzt, weil auf
Dauer der beste Apotheker ohne einen Arzt in der Nähe
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – es nicht schafft.
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dann muss man die Überversorgung (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
auch angehen!) NEN]: Und was ist mit den anderen Gesund-
heitsberufen?)
– Wenn das Einzige, was Ihnen zum Thema „flächende-
ckende Versorgung“ einfällt, der Abbau von Überversor- Eine Apotheke ohne Rezept funktioniert nicht gut. Die
gung ist, dann ist das aber arg wenig; das muss ich Ihnen Diskussion darüber, wie wir eine flächendeckende Ver-
sagen. Das in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, sorgung mit Ärzten hinbekommen, ist nichts anderes als
wird dem Thema nun wirklich nicht gerecht, zumal Sie eine Vorbotendebatte über die Frage, wie wir insgesamt
genau wissen, dass wir dieses Problem angehen. eine gute medizinische Versorgung der Bevölkerung hin-
bekommen. Es wäre gut, wenn Sie sich etwas konstrukti-
Jetzt komme ich zum Thema „flächendeckende Ver-
ver und etwas weniger plakativ in diese Debatte einbrin-
sorgung“. Frau Kollegin Bunge, ich muss mich schon
gen würden.
sehr wundern. Ich finde es gut, dass wir in einem frei-
heitlichen Staat leben, in dem jeder selbst entscheiden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kann, wo er eine Praxis eröffnet.
Ein weiteres Thema, das die Menschen auf allen Ver-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und anstaltungen wahnsinnig bewegt, sind die Wartezeiten,
der FDP) wenn es darum geht, einen Facharzttermin zu bekom-
Sie sprachen auch von angestellten Ärzten. Ich weiß men. Zum Teil gibt es objektive Probleme. Bei uns im
nicht, ob Sie damit eine Art kubanisches Modell „ange- Münsterland etwa ist die Zahl der Neurologen im Mo-
stellte Parteiärzte“ meinen. Wir jedenfalls haben ein Bild ment leider noch sehr überschaubar. Deswegen muss
von freiberuflichen Ärzten, die natürlich selbst entschei- man dort als Parkinsonpatient fünf, sechs Monate auf ei-
den, wo sie sich in unserem freien Land niederlassen. nen Termin zur Neueinstellung der Medikamente war-
ten. Zum Teil gibt es auch subjektive Probleme, wie man
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sie aus den großen Städten kennt. Herr Kollege
Lauterbach, da unterscheiden wir uns sehr deutlich. Ich
Man muss über Anreize reden, durch die es attraktiv
bin Ihnen dankbar, dass Sie in den letzten Monaten die
wird, sich auf dem Land niederzulassen. Über ein Staats-
Unterschiede so deutlich gemacht haben. Sie wollen mit
dekret geht das seit 1990 glücklicherweise jedenfalls
Strafen arbeiten. Der Arzt, der nicht innerhalb von zwei,
(B) nicht mehr. drei Wochen einen Termin anbietet, soll 20 000 Euro (D)
Aus den beschriebenen Gründen reden wir über sol- – oder wie viel auch immer – Strafe zahlen. Nach Ihrem
che Anreize. Dazu gehören finanzielle Anreize. Selbst- Arztbild müssen die Ärzte gezwungen werden, die Men-
verständlich muss es sich finanziell lohnen, aufs Land zu schen zu versorgen. Sie tun so, als ob die Ärzte gar
gehen; schließlich muss man dort viel mehr arbeiten als nichts mit Patienten zu tun haben wollten. Das ist nicht
in der Stadt: Praxen sind länger voll; man ist womöglich unser Arztbild. Wir wissen, dass wir eine gute Versor-
der einzige Arzt weit und breit. In Mecklenburg-Vor- gung der Menschen nicht gegen die Ärzte, sondern nur
pommern etwa muss man für einen Hausbesuch zum mit den Ärzten hinbekommen. Es ist schön, dass Sie die-
Teil 30 Kilometer fahren. Auf dem Lande hat man we- sen Unterschied zwischen uns im Zusammenhang mit
gen der Zersiedelung und der Kleinräumigkeit weitere den Maßnahmen, die wir ergreifen wollen, deutlich ge-
Wege. macht haben.
Hinzu kommen andere wichtige Rahmenbedingun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gen. Geld allein wird es nicht richten; da haben Sie
recht. In diesem Zusammenhang geht es um die bereits Wir wollen bei den Wartezeiten auf gemeinsame Ver-
angesprochene Residenzpflicht: Muss ein Arzt in der einbarungen setzen, aus denen hervorgeht, wie die Ab-
Nähe seiner Praxis wohnen, oder ist es ihm gestattet, in läufe zu erfolgen haben, wann ein Hausarzt einen Patien-
der Stadt zu wohnen und auf dem Land zu arbeiten? Da- ten an den Facharzt überweist, wie schnell Termine zu
rüber hinaus geht es um die Organisation von Notdiens- finden sind. Ärzte und Krankenkassen sollen vertragli-
ten. Ärzte auf dem Land haben zweimal im Monat am che Rahmenbedingungen vereinbaren. Natürlich geht es
Wochenende Notdienst, Ärzte in der Stadt hingegen nur dabei auch um Vergütungsstrukturen. Es muss sich loh-
ein Mal im halben Jahr. Angesichts dessen kann, glaube nen, sich um schwierige Fälle zu kümmern und einen
ich, jeder verstehen, dass dieser Aspekt für eine junge Patienten intensiv zu untersuchen.
Ärztin oder einen jungen Arzt ein Kriterium bei der Be- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
antwortung der Frage ist, ob man aufs Land oder in die
Stadt geht. Es dürfen nicht einmal im Quartal nur leichtere Fälle
einbestellt werden, weil dann die pauschale Finanzie-
Deswegen ist nicht nur Geld ein Thema, sondern es rung ausgelöst wird. Wir müssen also über die Anreize
müssen auch viele andere Rahmenbedingungen berück- reden und dürfen die Ärzte nicht pauschal diffamieren,
sichtigt werden. Genau das tun wir mit diesem Gesetz. wie Sie das tun. Wir haben hier einen anderen Ansatz.
Es enthält viele Maßnahmen – größere wie kleinere –,
um es insgesamt attraktiver zu machen, sich als Arzt in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
15074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Jens Spahn
(A) Ein weiteres Thema, das die Menschen bewegt, ist Jens Spahn (CDU/CSU): (C)
das Entlassungsmanagement im Krankenhaus. Wenn ich Erstens, Herr Kollege Lauterbach, ist es immer hilf-
als Patient am Freitagnachmittag nach einer Hüftopera- reich, die Wörter bis zum Ende zu hören. Ich habe vom
tion das Krankenhaus verlasse, dann möchte ich mich Münsterland gesprochen. Der Kollege Bahr kommt aus
nicht fragen müssen, was jetzt passiert. Es gibt schon der Stadt Münster. Ich komme aus den Weiten des Müns-
viele Häuser, in denen das sehr gut klappt. Aber es gibt terlandes. Die Stadt Münster ist hervorragend versorgt
auch viele, in denen es noch Probleme gibt. Es geht da- – manche sagen sogar: überversorgt –, während es in den
bei um folgende Fragen: Wie geht es nach der Entlas- Weiten des Münsterlandes ganz anders aussieht. Bei uns,
sung aus dem Krankenhaus weiter, ambulante Pflege 50 Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt,
oder stationäre Pflege? Gibt es eine Familie, die den Pa- ist es deutlich schwieriger, Ärzte zu finden, die sich dort
tienten auffängt, oder lebt der Patient allein? Wie geht es niederlassen. Insofern ist diese Unterscheidung schon
mit der Medikation weiter? Braucht der Patient vielleicht einmal wichtig. Also: Genau zuhören!
ein Rezept für die Physiotherapie oder für ein Arzneimit- Zweiter Punkt: Was ändert dieses Gesetz? Natürlich
tel? Bislang sind all diese Fragen zu oft ungeklärt. Wir ändert es etwas, weil die Unterversorgung, die die Men-
sagen: Das muss besser laufen. Das Einfachste ist eine schen täglich erleben und die tatsächlich vorhanden ist,
bessere Kommunikation zwischen Krankenhäusern und aufgedeckt wird – das ist heute nicht der Fall, weil die
niedergelassenen Ärzten. Aber auch zwischen Haus- und Statistik so schlecht ist – und eine bessere Vergütung der
Fachärzten muss es besser laufen. Deswegen wollen wir Ärzte geplant ist, die sich in Regionen wie dem Münster-
vernetzte Strukturen und eine bessere Zusammenarbeit. land niederlassen, die schlecht versorgt sind.
Der Patient soll einen Anspruch darauf haben, dass zwi-
schen Krankenhaus und niedergelassenem Arzt eine Die Frage, wer eigentlich in der Arztpraxis sitzt – das
Kommunikation stattfindet. Das wollen wir regeln. Da- betrifft die Zusammenarbeit der Ärzte untereinander –
bei setzen wir aber nicht auf Strafen, sondern auf An- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
reize; denn wir glauben, dass das die Versorgung letzt- Die Frage wird nicht beantwortet!)
lich verbessert.
– doch; hören Sie einmal genau zu, Herr Kollege Kuhn –,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hat mit den Vergütungsstrukturen zu tun. Wenn es nur
der FDP) Pauschalvergütungen gibt, dann ist das ein Anreiz dafür,
möglichst viele Patienten mit leichten Krankheiten ein-
mal im Quartal zu bestellen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Kollege Spahn, der Kollege Dr. Lauterbach möchte (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Was haben Sie
(B) für ein Bild von den Ärzten! Als ginge es nur (D)
eine Zwischenfrage stellen und damit Ihre Redezeit ver-
um das Geld!)
längern. Gestatten Sie dies?
Wenn es aber die Möglichkeit der Einzelleistungsvergü-
Jens Spahn (CDU/CSU): tung gibt, dann stellt das einen Anreiz dar, sich als Fach-
arzt in unterversorgten Gebieten niederzulassen. Wir ha-
Mit Freuden. ben viele konkrete Punkte aufgegriffen. Man hat aber
schon an Ihrer Rede gemerkt, dass Sie den Gesetzent-
Vizepräsident Eduard Oswald: wurf nicht besonders intensiv gelesen haben.
Bitte schön. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Den habe ich ge-
nau gelesen!)
Dr. Karl Lauterbach (SPD): Sie können das aber bei den Beratungen in den nächsten
Sie haben die Problemlage beschrieben, Wochen noch nachholen, Herr Kollege Lauterbach.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –


Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Richtig beschrieben!)
Das war eine Eiernummer! Spahn eiert! –
zum Teil nicht falsch. Aber Sie haben aus meiner Sicht Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die
zum Gesetzentwurf eigentlich nichts gesagt. Daher schlechte Nachricht ist: Für das Münsterland
greife ich das einzige konkrete Beispiel auf, das Sie ge- ändert sich nichts!)
nannt haben. Sie haben gesagt, dass man als Parkinson- Auch das Thema Regress beschäftigt die Menschen.
patient in Münster – wenn man so will, in Ihrer Heimat- Dabei geht es nicht nur um die Ärzte. Vielmehr haben
stadt – auf einen Termin für die Neueinstellung der die Patienten Angst, dass ihnen ihr Arzt aus Angst vor
Medikamente sechs Monate warten muss. Was ändert Regressforderungen nicht die Medikamente verschreibt,
denn Ihr Gesetzentwurf, den wir heute beraten, an die- die er wirklich braucht. Mit dieser Angst der Patienten
sem konkreten Fall? Meines Erachtens ändert sich da- müssen wir umgehen. Wir können doch nicht nur mit
durch nichts. Münster ist die Stadt, die vom Kollegen den Achseln zucken, sondern wir müssen darauf reagie-
Bahr und Ihnen sozusagen mit betreut wird. In dem ein- ren. Wir wollen den Ärzten die Angst vor dem Regress
zigen Fall, den Sie als Beispiel genannt haben, ändert nehmen, sie aber trotzdem zu wirtschaftlichem Verord-
sich durch das Gesetz aus meiner Sicht nichts. nen anhalten; denn es soll nichts verschwendet werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15075
Jens Spahn
(A) Deswegen muss das Prinzip „Beratung vor Regress“ und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
„Beratung vor Bestrafung“ gelten, damit der Arzt keine und bei der SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]:
Angst haben muss, wenn er Medikamente verschreibt, Geht es auch mal konkret?)
und vor allem der Patient sicher sein kann, dass er das
Nun will ich nicht behaupten, dass der Gesetzentwurf
bekommt, was er braucht. Wir tun mit vielen Einzelmaß-
überhaupt keine für die Versorgung sinnvollen Einzel-
nahmen etwas für die Patienten. Diese Beispiele machen
regelungen enthält. Es ist manches darunter, wofür Sie
das sehr deutlich.
unsere konstruktive Unterstützung haben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist schon mal
der FDP) ein Ansatz! – Weiterer Zuruf von der FDP:
Abschließend kann man mit Fug und Recht sagen, Das hören wir gern!)

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Blü- Ich nenne beispielsweise die Überarbeitung der ärztli-
hende Landschaften im Münsterland!) chen Bedarfsplanung mit regionalem Bezug, die Locke-
rung der Residenzpflicht, die Datengrundlage für die
dass wir mit diesem Gesetzentwurf die erlebte Versor- Versorgungsforschung und nach meiner Meinung – trotz
gungsrealität des Patienten in den Mittelpunkt stellen. aller Unbestimmtheit – im Grundsatz auch die Schaffung
Erstmals seit 10, 15 Jahren ist dies auch der Entwurf ei- der spezialärztlichen Versorgung.
nes Gesetzes im Gesundheitswesen, das kein Spargesetz
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Na, guck!)
ist, sondern durch das Strukturen verändert werden.
Aber gemessen an dem, was zur Verbesserung der Ver-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sorgung eigentlich getan werden müsste, ist dieser Ge-
der FDP) setzentwurf ein Flop.
Es geht darum, wofür wir wie viel Geld ausgeben, um Wir wissen, dass durch den demografischen Wandel
die Versorgung der Patienten zu verbessern. die Zahl der chronisch und mehrfach erkrankten Patien-
Ich verstehe, dass Sie sich ärgern und etwas schmal- tinnen und Patienten zunehmen wird, vor allem in ländli-
lippig sind, weil wir diese Dinge anstoßen, während Sie chen Räumen. Deshalb wird sich die Art der Versorgung
zehn Jahre lang nur darüber geredet haben. ohnehin ändern müssen, und zwar weg von der rein
arztzentrierten Behandlung hin zu einer ganzheitlichen
(Zurufe von der SPD: Oh! – Fritz Kuhn Versorgung der Patientinnen und Patienten.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange re-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) gieren Sie denn schon? Das sind jetzt schon (D)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
sechs Jahre!)
Dazu liegen zahlreiche Studien vor. Beispielsweise hat
Es wäre schön, wenn Sie sich in den nächsten Wochen der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwick-
konstruktiv in diese Debatte einbringen würden. Sie ha- lung im Gesundheitswesen wiederholt darauf hingewie-
ben noch viele Gelegenheiten dazu. Ich sage Ihnen eines sen, dass schon heute ein erheblicher Verbesserungsbe-
zu: darf in der gesundheitlichen Versorgung besteht. Dabei
geht es nicht nur um die erlebte Versorgungsqualität
Vizepräsident Eduard Oswald: – ohne Frage ein wichtiger Punkt –, sondern es geht auch
Das war doch schon ein wunderbarer Schlusssatz. um tiefgreifende Strukturveränderungen. Es geht um
eine Stärkung der integrierten Versorgung, damit endlich
die überkommene Grenze zwischen dem niedergelasse-
Jens Spahn (CDU/CSU): nen Bereich und den Krankenhäusern überwunden wird.
Wenn Sie zur Abwechslung einmal einen konstrukti- Es geht um eine andere Aufgabenverteilung, um bessere
ven Vorschlag machen, greifen wir ihn gerne auf. Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) um eine Stärkung der Primärversorgung. Meine These
lautet, dass sektoren- und professionenübergreifende
Versorgungsstrukturen die besten Chancen für eine
Vizepräsident Eduard Oswald: nachhaltig gute Versorgungsqualität bieten.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un-
Der Sachverständigenrat hat auch wiederholt darauf
serer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
hingewiesen, dass die Anreize in unserem Gesundheits-
unser Kollege Dr. Harald Terpe. Bitte schön, Kollege
wesen nicht stimmen. Der gesunde Patient lohnt sich für
Dr. Terpe.
den Arzt überhaupt nicht. Es geht nur noch darum, mög-
lichst viele Leistungen zu erbringen. Das führt zu einer
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): häufig entseelten, nicht am Gesundheitsnutzen der Pa-
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer nach den tientinnen und Patienten orientierten Medizin.
bisherigen enttäuschenden Gesundheitsgesetzen der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schwarz-gelben Koalition einen gesundheitspolitischen
Aufbruch erwartet hat, der wird auch diesmal enttäuscht: Es tut mir leid: Ich sehe in diesem Gesetzentwurf wenig
Trippelschrittchen in die Zukunft und weit ausholende oder nichts, durch das dieses spezifische Problem auch
Schritte in die Vergangenheit. nur im Ansatz zu lösen wäre.
15076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dr. Harald Terpe


(A) Stattdessen öffnen Sie die Tür für größtenteils unkon- Beispiel genannt worden: Wir müssen uns darum küm- (C)
ditionierte Honorargeschenke an Ihre vermeintliche mern, wie hier in der Stadt die Charlottenburger Kinder-
Klientel. Ich glaube, es werden mehr Anreize für eine ärzte nach Neukölln kommen.
bessere Versorgung, gerade im Primärbereich, ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
braucht; gebraucht wird nicht die Belohnung der clevers-
ten Leistungsausweitung. Honorare ja, aber leistungsge- Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist das!)
recht und transparent. Abschließend: Dieser unzulängliche Gesetzentwurf
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bräuchte im Verfahren eine grundlegende Neuorientie-
rung, nämlich eine Orientierung an den Patientinnen und
Ähnlich verfahren Sie mit dem Gemeinsamen Bun- Patienten und nicht am monetären Nutzen einzelner
desausschuss. Auch dort stärken Sie die finanziellen In- Leistungserbringer. Dafür hätten Sie jedenfalls unsere
teressen der Leistungserbringer. Künftig wird es noch volle Unterstützung.
schwerer sein, Behandlungsmethoden auszuschließen,
die uns alle nur Geld kosten, für die Patientinnen und Pa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
tienten aber keinen gesundheitlichen Nutzen bringen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner für die
Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass un- Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Lothar
solidarische Politik zulasten vieler und zum Nutzen we- Riebsamen.
niger leider Tradition in der FDP hat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Widerspruch bei der FDP)
Der Vorgänger im Amt des Gesundheitsministers, Herr Lothar Riebsamen (CDU/CSU):
Rösler, hat bei der Verabschiedung des GKV-Finanzie- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
rungsgesetzes im vergangenen Jahr an dieser Stelle be- Vor der Sommerpause haben wir den Entwurf des Kran-
klagt, dass im Gesundheitswesen reglementiert werde, kenhaushygienegesetzes vorgelegt, und kurz nach der
wer wann welche Leistung bei wem an welchem Ort er- Sommerpause, also heute, legen wir den Entwurf des
bringen dürfe oder eben nicht. Deshalb muss hier gefragt Versorgungsstrukturgesetzes vor. Sie können erkennen,
werden: Warum und zu wessen Nutzen reglementieren dass wir bei beiden Gesetzentwürfen die Versorgungs-
Sie eigentlich, wer in Deutschland ein Medizinisches qualität der Menschen in Deutschland in den Fokus rü-
Versorgungszentrum gründen darf? Sollen die MVZ in cken. Sie können auch erkennen, dass der Gesetzge-
Kliniken gar ausgebremst werden? Warum begrenzen bungsprozess des vergangenen Jahres – es ging darum,
(B)
Sie sogar die Wahl der Rechtsform eines solchen Versor- die GKV-Finanzierung auf der Einnahmeseite wie auf (D)
gungszentrums? Von den 1 700 MVZ sind ganze 5 MVZ der Ausgabenseite auf sichere Beine zu stellen – kein
in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Trotzdem Selbstzweck war. Damit haben wir sozusagen Mittel
wird Zeit darauf verschwendet, eine Regelung für diese freigeschaufelt, um die Versorgungsqualität, die in
fünf Fälle zu treffen. Ich finde, das ist Placebopolitik. Deutschland weitestgehend gut ist, zu sichern. Dort, wo
sie weniger gut ist – in ländlichen Räumen, aber auch in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – manchen Stadtbezirken –, soll sie deutlich verbessert
Zustimmung der Abg. Mechthild Rawert werden.
[SPD])
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf orientieren wir
Auch andere Regelungen in diesem Gesetzentwurf uns an der Lebenssituation der Patientinnen und Patien-
sind mehr als dürftig. Sie rühmen sich unter anderem da- ten, aber auch an der Lebenssituation der Ärztinnen und
mit, dass Ärztinnen und Ärzte in unterversorgten Regio- Ärzte im 21. Jahrhundert, an den Strukturen unseres Ge-
nen künftig keine Angst mehr vor Honorarkürzungen ha- sundheitssystems, insbesondere in den Sektoren und an
ben müssen. Wir haben dazu in einer Kleinen Anfrage deren Grenzen.
nachgefragt. Daraufhin wurde uns gesagt: Diese gesetz-
liche Regelung würde im Grunde aktuell 37,3 Ärztinnen Entscheidende Weichenstellungen sind in diesem Zu-
und Ärzte betreffen. Wenn man dann noch berücksich- sammenhang im Bereich der Bedarfsplanung vorgese-
tigt, dass Hausärztinnen und Hausärzte in den wirklich hen. Wir wollen weg von einer eher zentralen Bedarfs-
unterversorgten Regionen eigentlich ohnehin keine planung hin zu einer dezentralen Bedarfsplanung. Die
Honorarkürzungen haben, dann betrifft das nur noch Fachleute vor Ort kennen die Situation. Sie wissen, wie
7,3 Ärztinnen und Ärzte. viele Kilometer es bis zum nächsten Hausarzt, Facharzt
oder Krankenhaus sind. Es ist wichtig, diese Bedarfs-
(Lachen des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/
plangrenzen nicht an politischen Grenzen festzumachen,
DIE GRÜNEN])
sondern an Grenzen, die an der Vernunft und am Wissen
Es ist also auch eine Regelung, die im Grunde kaum eine der Fachleute vor Ort orientiert sind.
Bedeutung hat.
Es ist folgerichtig, dass die Länder erheblich mehr
Wir sind dann bei der Frage, die auch schon aufge- Mitwirkungsrechte bekommen. In den Landesausschüssen
worfen worden ist: Wie gehen wir mit der Unterversor- werden Sie mitberaten können. Die Bedarfsplanung ist
gung um – das ist das Wichtigste bei diesem Thema –, den Ländern vorzulegen. Sie werden auch beim Gemein-
aber auch mit der Überversorgung? Dazu ist schon ein samen Bundesausschuss ein Mitspracherecht bekom-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15077
Lothar Riebsamen
(A) men. Bei der Umsetzung werden allerdings nicht nur die Rolle. Es geht nicht darum, wie die Abstaffelung heute (C)
Länder einbezogen, sondern auch die Gemeinden. Wenn aussieht, sondern es geht darum, wie sich die Abstaffe-
die Kassenärztlichen Vereinigungen gemeinsam mit den lung entwickeln wird. Nehmen wir beispielsweise eine
Gemeinden erkennen, dass die Notwendigkeit besteht, Gemeinde mit 3 000 Einwohnern und zwei Ärzten.
eine Versorgungslücke zu schließen, können die Ge- Wenn ein Arzt in den Ruhestand geht und nur noch ein
meinden eigene Einrichtungen betreiben. Arzt übrig bleibt, so wird dieser selbstverständlich mehr
arbeiten müssen als vorher. Das soll nicht bestraft wer-
Neben der Bedarfsplanung geht es um die sektorüber-
den. Das wollen wir mit dieser Abstaffelung belohnen.
greifende Versorgung und um deren Ausbau. Hier ent-
Darum geht es.
stehen zusätzliche Möglichkeiten, insbesondere im spe-
zialärztlichen Bereich. Jeder, der eine entsprechende (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
medizinische Leistung erbringen kann – die Betonung
liegt auf „kann“; die Qualität der Behandlung ist die Mit diesem Gesetz sorgen wir für eine Verbesserung
erste und wichtigste Voraussetzung – darf behandeln. In der heutigen Situation. Vor allem aber werden wir die
beiden Sektoren muss die gleiche Leistung erbracht wer- Aufgaben erfüllen, die uns erwarten. Die Situation wird
den. sich aufgrund der demografischen Entwicklung und der
Morbiditätsentwicklung natürlich ein Stück weit drama-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tisieren. Wir begegnen dieser Problematik und werden
der FDP) mit diesem Gesetz die Situation der Patientinnen und Pa-
tienten in unserem Land ein weiteres Mal verbessern.
Wir orientieren uns an der Lebenssituation der Ärztin-
nen und Ärzte, die sich in den letzten Jahrzehnten geän- Herzlichen Dank.
dert hat. Wir haben in den medizinischen Berufen derzeit
mehr Abgängerinnen als Abgänger zu verzeichnen. Des- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wegen spielt es eine besondere Rolle, dass die Verein-
barkeit von Familie und Beruf verbessert wird. Auch in Vizepräsident Eduard Oswald:
diesem Zusammenhang spielen die Sektoren eine Rolle. Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin in
Es ist eine Erleichterung für Männer wie für Frauen, unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokra-
wenn zum Beispiel die niedergelassenen Ärzte bei der ten unsere Kollegin Dr. Carola Reimann. – Bitte schön,
notärztlichen Versorgung nicht auf sich alleine gestellt Frau Kollegin Dr. Reimann.
sind, sondern wenn großräumiger gedacht wird und auch
Krankenhäuser einbezogen werden und damit die Wo- (Beifall bei der SPD)
chenenden und die Nächte bei der Notversorgung freige-
(B) stellt sind. Dr. Carola Reimann (SPD): (D)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Eine weitere Erleichterung für Ärztinnen, die entbun- ren! Ich könnte zu Beginn meiner Rede an die vielen be-
den haben, sind die Entlastungsassistenten, die künftig rechtigten Kritikpunkte der Vorrednerinnen und Vorred-
für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren eingestellt ner anknüpfen. Zunächst einmal möchte ich aber der
werden können. schwarz-gelben Regierung meine Glückwünsche aus-
Auch die Residenzpflicht wurde angesprochen. Lei- sprechen. Bei all dem Chaos und Gezänk der vergange-
der ist es natürlich so, dass nicht alle Ärztinnen und nen Wochen – Herr Kollege Singhammer hat das Chaos-
Ärzte, die grundsätzlich bereit sind, ihren Beruf im länd- combo genannt –
lichen Raum oder in bestimmten Stadtbereichen auszu- (Heinz Lanfermann [FDP]: Damit waren Sie
üben, dort auch leben und wohnen wollen. Es geht auch gemeint!)
um die Situation der Ehegatten bzw. um die Arbeits-
platzfindung der Ehegatten. Deswegen macht es Sinn, grenzt es schon an ein kleines Wunder, dass Sie über-
die Residenzpflicht nicht mehr vorzusehen. haupt noch in der Lage sind, diesem Parlament einen
Gesetzentwurf vorzulegen.
Außerdem haben wir im Gesetzentwurf vorgesehen,
dass Aufgaben vom ärztlichen Bereich an den Pflegebe- Hinsichtlich der Pflege – der Minister hat an das ka-
reich delegiert werden können. Auch dies ist eine Er- lendarische Ende des Sommers erinnert – können Sie
leichterung insbesondere für die Versorgung des ländli- heute noch nicht einmal grobe Eckpunkte vorlegen. Bei
chen Raums. all dem, was wir inzwischen von Schwarz-Gelb so ge-
wohnt sind, sind das geradezu überraschende Ansätze ei-
Natürlich geht es auch um wirtschaftliche Anreize. Es
nes gemeinsamen Handlungswillens, die viele von uns
geht darum, dass es dort, wo es zu viele Arztsitze gibt,
gar nicht mehr erwartet hatten.
erleichtert wird, diese aufzukaufen. Ferner geht es da-
rum, die Honorarverteilung vor Ort dezentral vorzuneh- Die Abläufe bei Ihren hilflosen Reformbemühungen
men, sodass den örtlichen Gegebenheiten besser Rech- kennen wir aber leider inzwischen zu gut, um uns über
nung getragen wird. Ansätze so richtig freuen zu können. Egal ob bei der Ge-
sundheitsreform, bei der Pflege oder jetzt beim Versor-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
gungsstrukturgesetz: Die Abläufe sind gleich. Es wird
der FDP)
ausgiebig gestritten. Dann wird monatelang entgegen
Dabei spielt die Abstaffelung, die heute schon mehr- zahlreichen Ankündigungen – die Stichworte waren das
fach angesprochen worden ist, eine ganze besondere Zweibettzimmer oder die Terminvergabe bei Fachärz-
15078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dr. Carola Reimann


(A) ten – weiter gestritten und nichts vorgelegt. Wenn dann (Heinz Lanfermann [FDP]: Der ist übervor- (C)
am Ende doch noch etwas mit Hängen und Würgen prä- sichtig!)
sentiert wird, dann wünscht man sich, es wäre gar nicht
erst zu einer Einigung gekommen. Damit sind wir an der Stelle, wo Gesetze nicht nur
ihre Ziele nicht erreichen, sondern wo neue, zusätzliche
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Probleme geschaffen werden. Eben erst haben Sie mit
Entweder wurde wieder einmal munter an den eigent- dem GKV-Finanzierungsgesetz eine Kopfpauschale mit
lichen Problemen vorbeireformiert, oder – schlimmer der Beruhigungspille „Sozialausgleich“ eingeführt. Jetzt,
noch – das schwarz-gelbe Reformwerk präsentiert neue mit dem nächsten Gesetz, dem GKV-Versorgungsstruk-
zusätzliche Probleme. turgesetz, werden die Gelder für den Sozialausgleich
wieder genommen. Sie werden genommen, damit die
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Honorarmehrausgaben für die Ärzte finanziert werden
Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf ist eine Mischung können.
aus beidem. Er ist ein Sammelsurium von Vorschlägen Die Liste der Fehlentscheidungen in dem Entwurf
und Maßnahmen mit allen möglichen Auswirkungen auf lässt sich weiter fortführen. Nachdem wir mit der letzten
die Versorgung. Honorarreform gemeinsam in der Großen Koalition die
Das Hauptziel, nämlich die Versorgung, werden Sie Angleichung der bis dahin sehr verschiedenen Vergü-
damit aber sicher nicht erreichen. Die Versorgung der tungsniveaus in den Kassenärztlichen Vereinigungen auf
Patientinnen und Patienten in unserem Land wird so den Weg gebracht haben, kehren Sie jetzt wieder um.
nicht verbessert. Als Niedersächsin weiß ich, wovon ich rede. Was nutzen
mir denn Zuschläge für unterversorgte Gebiete im Nor-
Beginnen wir einmal mit der Kategorie „Gut gemeint, den – wie zum Beispiel im Harz –, wenn die eigentliche
aber an den eigentlichen Problemen vorbeireformiert“. Leistung wesentlich schlechter vergütet wird als zum
Sie gehen von der Annahme aus – davon muss ich aus- Beispiel bei Ihnen in Bayern? Herr Singhammer, das ist
gehen –, dass das, was für den Arzt gut ist, auch gut für ein Blumenstrauß allein für die Bayern.
den Patienten ist und ihm hilft. Der Minister hat selbst
davon gesprochen, wer mit diesem Gesetz beglückt (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
wird. Nur so kann man das verstehen; denn sonst ist es
Diese Regelung ist ein Rückschritt genauso wie Ihr
lupenreine Klientelpolitik.
Plan, weitreichende Einschränkungen bei den medizini-
Natürlich ist es richtig, Anreize auch finanzieller Art schen Versorgungszentren vorzunehmen, obwohl gerade
zu geben, um Ärztinnen und Ärzte aufs Land zu locken. diese im Sinne der Patientinnen und Patienten eine wich-
(B) Wenn man aber auf der einen Seite den Versicherten tige Brücke für eine bessere ärztliche Versorgung bilden (D)
diese zusätzlichen Kosten zumutet, dann muss es doch können.
auf der anderen Seite auch möglich sein, beim Abbau
der Überversorgung den Ärzten etwas abzuverlangen. (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])
Zur Erinnerung: Wir hatten noch nie so viele Ärzte im Bei der Erarbeitung dieses Entwurfs haben die Be-
Land wie heute. Es gibt genug; aber sie sind nicht immer dürfnisse und Interessen der Patienten – anders, als es
da – in der Analyse sind wir uns alle einig –, wo man sie hier gesagt worden ist – ganz offensichtlich keine Rolle
braucht. gespielt. Sie stellen, wie so häufig, den Arzt ins Zentrum
Um das zu ändern, müssen Sie, liebe Kolleginnen und Ihrer Bemühungen und werden deshalb das Ziel, eine
Kollegen, mit Privilegien brechen und etablierte Struktu- bessere Versorgung in Stadt und Land, nicht erreichen.
ren verändern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Ich kann Ihnen nur raten: Hören Sie auf, sich an alten
Aber dazu fehlt Ihnen die Kraft. Ihnen fehlt der Mut, bei- Besitzständen zu orientieren. Überwinden Sie etablierte
spielsweise nicht nur Honorarzuschläge – also mehr Strukturen, rückständige Zuständigkeiten und Arbeits-
Geld – zu verteilen, sondern in überversorgten Gebieten verteilungen. Haben Sie auch einmal den Mut, wirklich
Abschläge festzuschreiben. Ihnen fehlt der Mut – Kolle- allen die Bereitschaft zu Veränderungen abzuverlangen.
gen haben das angesprochen –, noch stärker auf eine Dann und nur dann werden Sie die Versorgungssituation
bessere Kooperation der Berufsgruppen zu setzen und in unserem Land – auch auf dem Land – im Sinne der
neue Aufgabenverteilungen einzufordern. Ihnen fehlt Patientinnen und Patienten wirklich verbessern.
einfach der Mut, auch der eigenen Klientel etwas abzu-
verlangen. Danke.

Stattdessen belasten Sie die Versicherten weiter durch (Beifall bei der SPD)
höhere Ausgaben für Ärztehonorare. Der Gesundheits-
minister spricht zwar immer noch von Ausgabenneutra- Vizepräsident Eduard Oswald:
lität, der Ministerkollege Schäuble aber, der für die Fi- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner für
nanzen zuständig ist, besteht auf einer Klausel zur die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Dietrich
Minderung der Zahlungen für den Sozialausgleich. Da- Monstadt. Bitte schön, Kollege Dietrich Monstadt.
bei kommt es doch nach Ihrer Überzeugung zu gar kei-
nen Mehrkosten. Das muss mir erst mal einer erklären. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15079

(A) Dietrich Monstadt (CDU/CSU): nale Besonderheiten besser berücksichtigt werden. Aus (C)
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- der Sicht eines Landes wie Mecklenburg-Vorpommern
gen! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser De- sind das die richtigen Schritte, um eine flächendeckende
batte einige Kritik der Opposition zu hören bekommen. und hochwertige Versorgung sicherzustellen. Dies wird
Es gab aber nicht nur Kritik, sondern wir haben auch ler- im Übrigen nicht nur von der Regierungskoalition so ge-
nen dürfen, welche Fernsehsendungen die Kollegin sehen. Positive Bewertungen kommen sowohl vonseiten
Bender offensichtlich bevorzugt. der Landespolitik als auch vonseiten der Selbstverwal-
tung und der Patientenvertreter.
Meine Damen und Herren von der SPD, liebe Frau
Kollegin Dr. Reimann, ich befürchte, es ist Ihnen nicht Erlauben Sie mir eine Bemerkung zur psychothera-
klar, was Sie permanent kritisieren. Das, was Sie kritisie- peutischen Versorgung: Wir wissen – viele von uns sind
ren, sind Auswirkungen der Politik, die Ihre Ministerin, in letzter Zeit darauf angesprochen worden –, dass es in
Frau Ulla Schmidt, auf den Weg gebracht hat. Diese diesem Bereich Wartezeiten und Engpässe gibt. Es gibt
Auswirkungen müssen wir jetzt mühsam wieder einfan- die Befürchtung, dass die Krankenversicherungen Psy-
gen. chotherapeutensitze abbauen, wenn eine nominelle
Überversorgung besteht, obwohl der tatsächliche Bedarf
Herr Kollege Dr. Lauterbach, Sie haben uns eine Bür- nicht gedeckt ist. Natürlich soll durch das Gesetz gerade
gerversicherung angekündigt. Auf dieses Konzept war- dies nicht möglich sein. Ziel ist vielmehr, die Verteilung
ten wir bis heute. Offensichtlich sind Sie mit der Arbeit der Praxissitze am tatsächlichen Bedarf der Menschen
der Koalition so zufrieden, dass Sie auf eigene Konzepte auszurichten. Der Abbau von Praxen, gerade auf Kosten
gänzlich verzichten. einer Facharztgruppe, ist damit eindeutig nicht gemeint.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl Wir werden aber prüfen, ob es im Versorgungsgesetz
Lauterbach [SPD]: Steht doch im Netz!) noch Klarstellungsmöglichkeiten gibt.
Trotzdem und gerade deswegen: Der vorliegende Ge- Eine wichtige Neuerung führen wir mit der Erpro-
setzentwurf ist ein erfreulicher Anlass für unsere heutige bung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
Debatte. Die Versorgung von Patientinnen und Patienten ein. Damit sichern wir gesetzlich versicherten Patienten
wird sich verbessern. Arztpraxen und Krankenhäuser den Zugang zu medizinischen Innovationen. Darüber hi-
werden schrittweise besser miteinander verzahnt. In der naus sorgen wir für die Gewinnung wissenschaftlicher
neuen spezialärztlichen Versorgung werden Kranken- Daten zum Nutzen einer Methode. Nach der heutigen
hausärzte und niedergelassene Ärzte ihre Patienten am- Rechtslage auf der Grundlage des § 137 c SGB V kann
bulant versorgen. der Gemeinsame Bundesausschuss eine im stationären
Bereich eingeführte neue Methode, zum Beispiel eine
(B) Lassen Sie mich auf einen Kernbereich unseres Ge- (D)
neue Krebstherapie, auf ihren Nutzen überprüfen. Das
setzgebungsvorhabens hinweisen, der gerade für mein soll auch so bleiben.
Bundesland Mecklenburg-Vorpommern besonders wich-
tig ist: die Sicherstellung der flächendeckenden Versor- Bislang ist es allerdings so, dass der Gemeinsame
gung. Die bundesweiten Zahlen zeigen zwar keinen Ärz- Bundesausschuss entweder den Nutzen als Beleg aner-
temangel auf. Wir haben aber ein zunehmendes kennt oder aber die Methode aus dem GKV-Leistungs-
Ärzteverteilungsproblem. Einerseits gibt es in attrakti- katalog ausschließen muss. Bisher hat der Gemeinsame
ven städtischen Ballungsräumen überversorgte Regio- Bundesausschuss keine Möglichkeit, selbst eine Studie
nen, andererseits sehen wir in ländlichen Gebieten, wie zu veranlassen, wenn der Nutzenbeleg noch unzurei-
es sie in Mecklenburg-Vorpommern und auch in anderen chend ist. Das ändern wir mit der Erprobung im neuen
Ländern gibt, eine drohende Unterversorgung. Die de- § 137 e. Der Gemeinsame Bundesausschuss kann künf-
mografische Entwicklung wird diese Probleme noch ver- tig innovative Methoden zeitlich begrenzt unter struktu-
stärken; Herr Minister Bahr ist darauf intensiv eingegan- rierten Bedingungen bei gleichzeitigem Erkenntnisge-
gen. Es ist richtig, in unterversorgten Regionen neue winn erproben. Er muss also nicht sofort zu seiner
Versorgungsstrukturen zu ermöglichen, die über die schärfsten Waffe, dem Ausschluss nach § 137c, greifen,
klassischen Praxismodelle hinausgehen. Deshalb gibt es wenn die Studiendaten noch nicht ausreichen. Damit er-
einen umfassenden Katalog von Anreizen und finanziel- hält der Gemeinsame Bundesausschuss ein neues Instru-
len Unterstützungen, der Ärzten die Entscheidung, sich ment für die Bewertung von Methoden, deren Nutzen
in ländlichen oder strukturschwachen Regionen nieder- zwar noch nicht mit hinreichender Evidenz belegt ist, die
zulassen, erleichtern soll. aber vielversprechend sind und therapeutisches Poten-
zial besitzen, weil sie zum Beispiel weniger invasiv sind
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) oder weniger Nebenwirkungen haben.
Mit einer leistungsgerechten Vergütung wollen wir Wenn eine Erprobung stattfindet, heißt das übrigens
die Bedingungen für die Ärzte in strukturschwachen Ge- nicht, dass Patienten außerhalb der Studie keinen Zu-
bieten verbessern. So soll der Arzt, der mehr arbeitet, gang mehr zu dieser Methode haben. Parallel zur Erpro-
weil er mehr Patienten versorgen muss, nicht finanziell bung unter Studienbedingungen haben Patienten weiter-
dafür büßen. Er wird von der Abstaffelung der Vergü- hin Zugang zu dieser Methode.
tung bei Mengenüberschreitungen befreit und damit ent-
scheidend bessergestellt. Wichtig ist auch, dass die Bun- Meine Damen und Herren, ein Teil der infrage kom-
desländer künftig mehr Mitwirkungsrechte bei der menden Methoden wird Medizinprodukte betreffen. Ich
Bedarfsplanung erhalten. Auf diese Weise können regio- habe neulich die Befürchtung gehört, künftig müsse je-
15080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dietrich Monstadt
(A) der Rollstuhl durch eine solche Erprobung, eine klini- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (C)
sche Studie. Solche Befürchtungen sind nicht begründet. DIE GRÜNEN
Es handelt sich um Medizinprodukte, die ihre klinische
Studienfinanzierung stärken – Das BAföG
Bewertung nach dem Medizinproduktegesetz längst hin- zum Zwei-Säulen-Modell ausbauen
ter sich haben, verkehrsfähig sind, legal vermarktet wer-
den dürfen und als Nachweis dafür die CE-Kennzeich- – Drucksache 17/7026 –
nung tragen. Wenn der G-BA feststellt, dass der Nutzen Überweisungsvorschlag:
eines solchen Medizinproduktes noch nicht hinreichend Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
belegt ist, heißt dies also nicht, dass das Produkt am Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nullpunkt seiner klinischen Entwicklung steht. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
In § 137 c und e des Fünften Buches Sozialgesetz-
buch geht es gar nicht um die Frage, ob solche Medizin- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
produkte auf den Markt kommen und verwendet werden richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
dürfen oder nicht, sondern darum, ob die gesetzlichen und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
Krankenkassen dafür zahlen oder nicht. Mit den Rege- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla
lungen des neuen § 137 e SGV V erleichtern wir den Pa- Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst
tientinnen und Patienten den Zugang zu Innovationen. Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Notfallplan für die Hochschulzulassung
Meine Damen und Herren, mit dem GKV-Versor- zum Wintersemester 2011/12 jetzt starten
gungsstrukturgesetz setzen wir unsere Reformen für ein
– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
stabiles, zukunftsfähiges, soziales Gesundheitssystem Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
fort. Ich lade Sie dazu ein, sich konstruktiv in die jetzt Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
anstehenden Beratungen einzubringen.
Hochschulzulassung bundesgesetzlich re-
Herzlichen Dank. geln – Sozialen Zugang und Durchlässigkeit
in Masterstudiengängen sichern
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
– Drucksachen 17/5899, 17/5475, 17/7051 –
(B) Vizepräsident Eduard Oswald: Berichterstattung: (D)
Herr Kollege, wir haben zu danken. Sie waren der Abgeordnete Tankred Schipanski
letzte Redner in unserer Debatte. – Ich schließe die Aus- Swen Schulz (Spandau)
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
sprache.
Nicole Gohlke
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Kai Gehring
den Drucksachen 17/6906 und 17/3215 an die in der Ta- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages- Fraktion Die Linke unserer Kollegin Nicole Gohlke.
ordnungspunkte 29 a bis c auf: Bitte schön, Frau Kollegin Gohlke.

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole (Beifall bei der LINKEN)
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Nicole Gohlke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
40-jähriges BAföG-Jubiläum für soziale Wei- Das BAföG hat am 1. September seinen 40. Geburtstag
terentwicklung nutzen gefeiert. Auch die Fraktion Die Linke gratuliert dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz zu seinem Jubi-
– Drucksache 17/6372 – läum, war doch das BAföG der erste Versuch in der Bun-
Überweisungsvorschlag: desrepublik, die Hochschulen für die Breite der Gesell-
Ausschuss für Bildung, Forschung und schaft und nach sozialen Kriterien zu öffnen: ein
Technikfolgenabschätzung (f) Studium nicht mehr nur für die Kinder von Rechtsanwäl-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ten und höheren Beamten, sondern auch für die Söhne
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
und endlich auch vermehrt für die Töchter von Fabrik-
Haushaltsausschuss arbeiterinnen und Bäckern. Wenn man sich das BAföG
heute anschaut, dann will es einem zu diesem Jubiläum
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai aber nicht so richtig feierlich zumute werden. Denn die
Gehring, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Ausbildungsförderung wird ihren ursprünglichen Zielen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15081
Nicole Gohlke
(A) immer weniger gerecht; sie ist eigentlich nur noch ein denn bereits die Verschuldung, die heutzutage mit dem (C)
Schatten ihrer selbst. BAföG verbunden ist, schreckt einen großen Teil der
jungen Menschen ab. Auch diese Regierung muss ir-
In der Gesetzesbegründung des BAföG von 1971
gendwann einmal zur Kenntnis nehmen, dass die berufli-
wurde der Anspruch formuliert, „soziale Unterschiede …
che Realität von jungen Menschen, auch die von jungen
auszugleichen“ und „durch Gewährung von individuel-
Akademikerinnen und Akademikern, schon seit Jahren
ler Ausbildungsförderung auf eine berufliche Chancen-
nicht mehr so ist, dass alle nach ihrem Studium tolle und
gleichheit der jungen Menschen hinzuwirken“. Diesem
Anspruch wurde das BAföG wahrscheinlich nie völlig hochbezahlte Jobs finden und dann nach wenigen Mona-
gerecht; aber es gab zunächst eine sehr positive Entwick- ten in der Lage sind, ihre Schulden, die sie während des
lung. Heute sind wir davon allerdings weiter entfernt Studiums gemacht haben, zurückzuzahlen. Muss man
denn je, obwohl diese Regierung angeblich eine „Bil- dieser Regierung wirklich erklären, dass auch hierzu-
dungsrepublik“ ausrufen möchte. lande und nicht nur in Griechenland oder Spanien viele
Hochschulabsolventinnen und -absolventen in Praktika
(Patrick Meinhardt [FDP]: Was wir auch tun!) oder in befristeten Beschäftigungsverhältnissen landen
Was sind die Fakten? In den 60er-Jahren, vor Einfüh- oder sie sich erst einmal lange mit irgendwelchen mies
rung des BAföG, lag der Anteil der Studierenden aus so- bezahlten Jobs, die gar nichts mit ihrem Abschluss oder
genannten sozial niedrigen Herkunftsgruppen bei durch- ihrem Studienfach zu tun haben, über Wasser halten
schnittlich 6 Prozent. 1982, nach Einführung des BAföG, müssen? Deswegen haben junge Menschen Angst vor
war der Anteil dieser Gruppe auf 23 Prozent gestiegen. der Verschuldung. Sie wissen nicht, ob und wie schnell
Und heute? Im Jahr 2009 gab es einen Rückgang auf nur sie in der Lage sein werden, ihre Schulden zurückzuzah-
15 Prozent. Eine andere Zahl: Nach der Einführung 1971 len. Frau Schavan sollte wirklich aufhören, mit dem Hin-
wurden 44 Prozent der Studierenden mit dem BAföG ge- tergrund einer gut dotierten Bundesministerin jungen
fördert; heute sind es nur noch knapp 20 Prozent. Menschen, die keine klare berufliche Perspektive haben,
eine Verschuldung zu empfehlen. Sie sollte stattdessen
Während das BAföG in den ersten Jahren für viele das BAföG so ausbauen, dass junge Menschen sorgen-
Studierende eine bedarfsdeckende Finanzierung war, frei studieren können.
deckt das BAföG heute nur noch 15 Prozent der Gesamt-
finanzierung der Studierenden ab. Zwei Drittel der Stu- (Beifall bei der LINKEN)
dierenden müssen parallel zum Studium arbeiten, um ihr
Leben und ihr Studium bestreiten zu können. Bei den Die Linke fordert, dass das BAföG endlich wieder als
heutigen Mietpreisen und Lebenshaltungskosten erlaubt Vollzuschuss gewährt wird; denn nur so kann man junge
es nicht einmal der Höchstsatz den Studierenden, ohne Menschen, vor allem die aus sogenannten sozial prekä-
(B)
Nebenjob auszukommen. ren Herkunftsgruppen, ermutigen, ein Studium aufzu- (D)
nehmen. Wir fordern die sofortige Anhebung des BAföG
Das BAföG war in seiner ursprünglichen Konzeption um 10 Prozent, eine jährliche Anpassung an die Lebens-
ein Vollzuschuss. Die Regierung Kohl hat es komplett haltungskosten und eine deutliche Ausweitung des Be-
auf ein Darlehen umgebaut. Das war ein Fehler, den lei- rechtigtenkreises. Und wir wollen, dass Schülerinnen
der auch die nachfolgenden Regierungen nicht mehr und Schüler der Oberstufe endlich wieder BAföG bezie-
vollständig korrigiert haben. Seit 1990 ist das BAföG hen können; denn die soziale Auslese, die das deutsche
zur Hälfte ein Darlehen und zwingt seitdem die Studie- Bildungssystem dramatisch durchzieht, beginnt in der
renden, sich zumindest teilweise zu verschulden. Schule, und das muss endlich durchbrochen werden.
All diese Zahlen machen deutlich, wie sehr die der-
zeitige Ausgestaltung des BAföG an dem vorbeigeht, Dabei hat die schwarz-gelbe Regierung durch die
was die Studierenden brauchen. Das ist für diese selbst- Veröffentlichung der neuesten OECD-Studie doch ge-
ernannte Bildungsrepublik der eigentliche Skandal. rade wieder einmal die Quittung für ihr sozial diskrimi-
nierendes Bildungssystem bekommen. Die Studie stellt
(Beifall bei der LINKEN) fest, dass in Deutschland nur 26 Prozent der jungen Er-
In dieser Situation lässt Frau Schavan vermelden, wachsenen einen Fachhochschul- oder Hochschulab-
dass die BAföG-Erhöhung des Jahres 2010 das vorgezo- schluss bzw. einen Meisterbrief machen, während der
gene Geschenk zum 40-jährigen Jubiläum gewesen sei Durchschnitt in den westlichen Industrieländern insge-
und sie weitere, von vielen Seiten dringend geforderte samt bei 37 Prozent liegt. Die Anzahl der Hochqualifi-
Erhöhungen ablehne. zierten und der Hochschulabsolventen in der Bundes-
republik wächst also unterdurchschnittlich.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Schlechter Scherz!) In dieser Situation hat Schwarz-Gelb nichts anderes
zu tun, als mit dafür zu sorgen, dass Jahr für Jahr Tau-
Als Ausgleich – das ist ihr Vorschlag – könnten die Stu- sende von Bewerberinnen und Bewerbern von den
dierenden ja noch ein Darlehen aufnehmen. Noch ein
Hochschulen abgewiesen werden und keinen Studien-
Darlehen! Also weitere Verschuldung statt Förderung.
platz erhalten. Tausende junge Menschen haben zwar
So ein Vorschlag, so ein Umgang mit den Studierenden
Abitur gemacht, haben also vielleicht mühevoll ihr
ist aus meiner Sicht wirklich zynisch und völlig lebens-
Recht auf ein Studium erlangt, können von ihrem Recht
fern;
aber keinen Gebrauch machen, weil es nicht genug Stu-
(Beifall bei der LINKEN) dienplätze gibt.
15082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Nicole Gohlke
(A) Mittlerweile unterliegen die meisten Studiengänge in 334 000 erhöht, benötigt werden allerdings – allen seriö- (C)
Deutschland lokalen oder bundesweiten Zulassungs- und sen Quellen zufolge – mindestens 500 000. Die Linke
Zugangsbeschränkungen. Im Wintersemester 2010/11 will, dass alle, die studieren möchten, auch tatsächlich
waren rund 51 Prozent örtlich zulassungsbeschränkt; bei studieren können.
den Masterstudiengängen sind es mindestens 37 Prozent.
(Beifall bei der LINKEN)
Für die meisten Studiengänge reicht schon lange nicht
mehr die Abiturnote aus. Nein, es gibt Eignungs- und Die, die studieren wollen, wissen selbst am besten, für
Sprachtests, es werden Praktikumsnachweise und Moti- welches Fach sie sich entscheiden und welche Hoch-
vationsschreiben verlangt. Jede Hochschule, jeder Stu- schule am besten für sie geeignet ist. Sie kennen ihre
diengang entwickelt eigene Ranking- und Auswahlsys- Neigungen, ihre Wünsche, ihre individuelle Lebenspla-
teme. Diese für die Bewerberinnen und Bewerber nung und ihre Qualifikationen. Dass sie, die Studieren-
wirklich schwierige Situation ist nicht neu, doch sie wird den und ihr Auswahlrecht – und nicht das der Hochschu-
seit Jahren hingenommen, obwohl der Bund seit 2006 len –, endlich in den Mittelpunkt gerückt werden, ist
für die Hochschulzulassung zuständig sein kann. Man nicht nur ein politisches Ziel an sich, es ist auch die Vo-
kann das Thema also nicht einfach den Ländern in die raussetzung für gutes Studieren.
Schuhe schieben. Doch die Regierung schaut beim Zu-
lassungschaos zu. Im Moment bewerben sich Tausende Das gilt auch für das Masterstudium. Die Entschei-
von Studierenden doppelt und dreifach auf Studienplätze dung, ob man nach seinem Bachelorabschluss noch ein
aus Angst, sonst überhaupt keinen Studienplatz zu erhal- Masterstudium anhängen möchte oder direkt in den Be-
ten. Weil es über diese Mehrfachbewerbungen aber kei- ruf einsteigen möchte, sollen die Studierenden selbst
nen bundesweiten Überblick gibt, bleiben trotz eigent- treffen können. Dies darf nicht durch die Hochschule, ir-
lichem Studienplatzmangel Studienplätze unbesetzt. Im gendwelche Zulassungshürden oder die ständige Män-
letzten Jahr waren es über 16 000. Die Lösung für dieses gelverwaltung im Masterstudium für sie entschieden
Problem sollte das dialogorientierte Serviceverfahren werden.
werden, eine Stelle, bei der alle Studienplätze und alle Die Linke fordert deswegen einen Ausbau der Stu-
Bewerber registriert und die Informationen abgeglichen dienplätze um 500 000, um endlich jedem und jeder Stu-
werden. Doch Software- und Schnittstellenprobleme dierwilligen das Recht auf einen Studienplatz zu sichern.
verhindern dessen Einführung seit Monaten. Es ist über- Wir fordern ein Bundesgesetz, das die transparente und
haupt nicht absehbar, wann es zu einer Lösung dieser koordinierte Vergabe von Studienplätzen regelt und die-
Probleme kommt. ses wahnsinnige Zulassungschaos beendet. Wir fordern
Seien wir einmal ehrlich: Das eigentliche Problem das Recht auf einen Masterstudienplatz für alle Bachelor-
(B) sind doch nicht Software- oder Technikfragen. Das absolventen. (D)
Grundproblem sind schlicht und ergreifend fehlende (Beifall bei der LINKEN)
Studienplätze und die mangelnde öffentliche Finanzie-
rung des Hochschulsystems. Derzeit kommen auf rund Eine Hochschulpolitik, die – wie die schwarz-gelbe
1,1 Millionen ausfinanzierte Studienplätze 2,2 Millionen Politik – mit dem realen Leben der Studierenden nichts
Studierende. Die gesamte Infrastruktur der Hochschulen zu tun hat und stattdessen in alter Ständepolitik verharrt,
– die Bibliotheken, die Räume, die Studentenwohnheime muss scheitern. Ich habe große Sympathie für all diejeni-
und die Mensen – ist eigentlich nur für die Hälfte der gen Studierenden und Schülerinnen und Schüler, die im
derzeitigen Studierenden ausgelegt. Das ist doch die ei- kommenden Wintersemester vielleicht wieder einmal
gentliche Katastrophe. auf die Straße gehen müssen, um auf ihre Situation und
Interessen aufmerksam zu machen.
(Beifall bei der LINKEN)
Vielen Dank.
In der Praxis sieht das dann so aus – diese Bilder
kennt man auch aus dem Fernsehen und der Presse –, (Beifall bei der LINKEN)
dass Studierende vor Hörsälen schlafen, um noch einen
Platz für die Vorlesung am nächsten Tag zu bekommen, Präsident Dr. Norbert Lammert:
oder dass Kirchen- und Kinosäle angemietet werden, um Der Kollege Stefan Kaufmann erhält nun das Wort für
das Raumproblem der Hochschulen zu lösen. Die, die die Fraktion der CDU/CSU.
studieren dürfen, studieren unter erschwerten, oft unzu-
mutbaren Bedingungen. Unter diesem Zustand leiden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
natürlich nicht nur die Studierenden, sondern auch die
Lehrenden und die Hochschulmitarbeiter. Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU):
(Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Heute werden wir über
Tausende Bewerberinnen und Bewerber erhalten gleich vier Oppositionsanträge abstimmen: zwei zum
überhaupt keinen Studienplatz. Dieses Wintersemester BAföG und zwei zur Regelung der Hochschulzulassung.
werden es wohl bis zu 50 000 sein. Im Rahmen des In meiner Rede möchte ich mich auf die beiden Anträge
Hochschulpakts II wurden zwar 275 000 Studienplätze zum BAföG konzentrieren und nur einen Satz zu dem
geschaffen, um die doppelten Abiturjahrgänge auszu- Antrag der Linken zur Hochschulzulassung und zu den
gleichen, und im Zuge der Aussetzung der Wehrpflicht verzerrenden Ausführungen von Frau Kollegin Gohlke
hat die Regierung die Zahl der Studienplätze auf sagen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15083
Dr. Stefan Kaufmann
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Eine wirklich beeindruckende Bilanz rot-grüner BAföG- (C)
der FDP) Politik!
Ihre Forderung, „Wer eine Studienberechtigung hat, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulla
hat das Recht, ein Studium im Fach und an der Hoch- Burchardt [SPD]: Vielleicht sollte die Regie-
schule seiner Wahl aufzunehmen“, hat bei mir ein rung ihre Abgeordneten einmal aufklären! –
Schmunzeln ausgelöst. Im Fach und an der Hochschule Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
seiner Wahl? Das heißt, jede Hochschule müsste entspre- 50 Prozent mehr gefördert!)
chend der Nachfrage ihr Studienplatzangebot beliebig Doch zurück zu den Anträgen: Wer bietet noch mehr?
erweitern und zusätzlich auch noch alle gewünschten Sie ahnen es: die Linken. Die Linken – wir haben es ge-
Studiengänge anbieten. Ich finde, ein bisschen mehr Re- hört – fordern eine Anhebung der Bedarfssätze um
alitätsnähe könnten wir auch von einer Oppositionspartei 10 Prozent bereits zum 1. Oktober.
erwarten.
(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das wäre ange-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie messen!)
des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]) Das ist aber noch nicht genug: Das BAföG soll sich jähr-
lich automatisch erhöhen, und die Freibeträge sollen
Nun zu den BAföG-Anträgen. Die Grünen fordern ebenfalls um 10 Prozent steigen. Zudem soll das BAföG,
gebetsmühlenhaft, die BAföG-Förderung auf ein soge- wie auch von den Grünen gefordert, in einen Vollzu-
nanntes Zwei-Säulen-Modell umzustellen. Beide Säulen schuss umgewandelt werden.
sind natürlich als Vollzuschüsse gedacht. Damit wollen
Sie erreichen, dass jeder, der sich an einer Hochschule Und nun das Beste: Bei der Berufsausbildungsbei-
einschreibt, einen direkt auszahlbaren, bedarfsunabhän- hilfe soll der Staat zusätzlich die Kosten übernehmen,
gigen Studierendenzuschuss bekommt. wenn der Auszubildende in eine eigene Wohnung um-
zieht. Auszubildende könnten sich also in Zukunft auf
(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ Staatskosten eine Wohnung dazumieten. Willkommen
DIE GRÜNEN]) im roten Schlaraffenland, meine Damen und Herren!
Meine Damen und Herren von den Grünen, das hört sich Dazu fällt mir, ehrlich gesagt, nur noch ein Ausspruch
für mich nach einem bedingungslosen Grundeinkommen von Franz Josef Strauß ein. Der hat einmal gefragt: Was
an. Ich weiß, dass es in Ihren Reihen und besonders bei passiert, wenn man in der Sahara den Sozialismus ein-
den Linken viele Anhänger dieser staatlichen Rundum- führt? Antwort: Zehn Jahre gar nichts – und dann wird
versorgung gibt, der Sand knapp.
(B) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Die gibt es
Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Hunderte
bei euch für die Banken!)
von Milliarden für Banken und Spekulanten!)
aber einmal ganz im Ernst: Wie viel soll Ihre BAföG- Für mich zeigen die vorliegenden Anträge vor allem
Reform kosten? Bei mehr als 2 Millionen Studierenden, eines: Die Opposition zieht wieder die Spendierhosen
die monatlich elternunabhängig einen dreistelligen an. Aber das natürlich nur, solange Sie in der Opposition
Grundbetrag überwiesen bekommen, wünsche ich Ihnen sind. Ministerin Annette Schavan hat es vorgestern im
viel Spaß bei den Auseinandersetzungen mit Ihren Haus- Ausschuss angesprochen: Nennen Sie mir doch einmal
hältern. ein einziges Bundesland, das von Ihnen regiert wird, das
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: eine BAföG-Erhöhung mitmachen würde.
Die tragen das mit!) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Seltsam ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Das werden wir ja sehen!)
Grünen, dass wir in Ihrer Regierungszeit von all diesen Gerade erst hat die neue grüne Wissenschaftsministerin
Reformvorschlägen zum BAföG nichts gesehen haben. in meinem Heimatland Baden-Württemberg, Theresia
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bauer, klargestellt, dass eine BAföG-Erhöhung für sie
keine Priorität hat.
Unter Rot-Grün hat sich praktisch überhaupt nichts ge-
tan. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört!
Hört!)
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist aber
eine Frechheit! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ Es ist genau das Gleiche wie beim BAföG-Änderungs-
DIE GRÜNEN]: Das war die größte Reform!) gesetz vor einem Jahr. Vormittags fordert die Opposition
pressewirksam BAföG-Erhöhungen, und abends im Ver-
Im Jahre 2002 stiegen die Förder- und Freibeträge nur mittlungsausschuss werden diese dann abgelehnt.
geringfügig. Zudem betraf dies ausschließlich Neuan-
(Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU]: Genau so
träge. Für die meisten Betroffenen kamen nicht einmal
ist es!)
10 Euro mehr im Monat heraus. Deshalb wurde diese
Minierhöhung von den Studenten auch als „Pizzare- Auch aktuell ist mir ein Drängen der rot-grünen oder
form“ verspottet; denn man bekam gerade so viel Geld der rot-roten Landesregierungen im Bundesrat auf eine
mehr, dass man sich davon eine Pizza kaufen konnte. BAföG-Erhöhung nicht bekannt. Im Gegenteil – darauf
15084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dr. Stefan Kaufmann


(A) hatte ich bereits in meiner letzten Rede zum BAföG hin- (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Man muss es (C)
gewiesen –: Von den Linken praktizierte Realpolitik nicht schlechtreden, es ist schlecht!)
sieht ganz anders aus. In Brandenburg wurden den
Sie haben sich zu früh gefreut. Natürlich bedarf es Zeit,
Hochschulen ihre Rücklagen in Höhe von 10 Millionen
eine neue Stipendienkultur in Deutschland zu etablieren;
Euro immer noch nicht zurückgegeben. In Ihrem vorlie- das haben wir von Anfang an gesagt. Dennoch geben die
genden Antrag beklagen Sie aber gleichzeitig „die struk- neuesten Zahlen zum Deutschlandstipendium Anlass zur
turelle Unterfinanzierung des deutschen Hochschulsys- Freude.
tems“. Fangen Sie also bitte vor Ihrer eigenen Haustür
an! (Beifall des Abg. Dr. Martin Neumann
[Lausitz] [FDP])
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
In Baden-Württemberg haben bereits 20 Hochschulen
Unter der CDU-geführten Bundesregierung und unter das Kontingent für 2011 voll ausgeschöpft,
Annette Schavan konnten wir hingegen vieles für die
Studierenden erreichen, und das trotz strikter Finanzdis- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie viele
ziplin und Weltwirtschaftskrise. So wurden zunächst sind denn das?)
2008 die Bedarfssätze des BAföG um satte 10 Prozent darunter auch Kunst- und Musikhochschulen. Das heißt,
und die Freibeträge um 8 Prozent angehoben. Zusätzlich es ist keineswegs so, dass nur technische Studiengänge
gab es kleine Verbesserungen wie zum Beispiel einen vom Deutschlandstipendium profitieren.
Kinderbetreuungszuschlag. Dies, der Richtigkeit halber
gesagt, haben wir zusammen mit Ihnen, den Kolleginnen (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Nennen Sie
und Kollegen der SPD, durchgesetzt. mal Zahlen! – Nicole Gohlke [DIE LINKE]:
Zahlen!)
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie gnädig!) Insgesamt hat bereits mehr als ein Drittel der teilneh-
CDU und FDP schafften es bereits zwei Jahre später, menden Hochschulen ihr Kontingent für 2011 voll aus-
das BAföG nochmals zu erhöhen. Es gab eine weitere geschöpft.
Anhebung der Bedarfssätze und der Freibeträge. Außer- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie
dem haben wir die Anhebung der Altersgrenze für das viel Prozent der Studis betrifft das denn?)
Masterstudium auf 35 Jahre durchgesetzt, die Auslands-
förderung für Schüler ausgeweitet, den BAföG-Höchst- Einige Hochschulen, etwa die FH Eberswalde, die
satz auf 670 Euro pro Monat angehoben und, und, und. RWTH Aachen, die Universität Augsburg und die TU
Dafür haben wir allein 2010 noch einmal 170 Millionen Bergakademie Freiberg, haben sogar deutlich mehr Sti-
(B) Euro zusätzlich ausgegeben. Insgesamt haben Bund und pendien eingeworben, als sie in 2011 vergeben können. (D)
Länder damit die Rekordsumme von fast 2,9 Milliarden (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Euro für das BAföG aufgebracht. Damit ist das BAföG Wie ist die soziale Zusammensetzung?)
der größte Einzelposten im Bildungshaushalt.
Ihre Befürchtungen, liebe Kolleginnen und Kollegen
Die Erfolge stellen sich ein: Die Zahl der BAföG- von der Opposition, dass das Programm nur in wohlha-
Empfänger nähert sich der Millionengrenze. Mit einer benden Regionen Westdeutschlands funktionieren
Steigerung von nochmals 5 Prozent gegenüber 2009 auf würde, haben sich also nicht bestätigt.
derzeit rund 916 000 BAföG-Empfänger ist diese Regie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
rung auf einem guten Weg. Das müssen auch Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, endlich Bauen Sie bitte keine Luftschlösser, sondern lassen
anerkennen. Sie uns in Zukunft gemeinsam am Erfolg des Deutsch-
landstipendiums weiterarbeiten! Lassen Sie uns auch ge-
Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass meinsam das BAföG behutsam weiterentwickeln! Dies
sich die Welt verändert. In den 70er-Jahren stehen zu heißt aus meiner Sicht eher, die Basis der Anspruchsbe-
bleiben rechtigten zu erweitern, als ständig nach einer Erhöhung
der Fördersätze zu rufen.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das von einem Konservativen!) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das hätten
Sie ja mit uns machen können!)
wie große Teile der Oppositionsfraktionen, hilft den
Menschen nicht weiter. Die Biografien werden vielfälti- Es muss in diesem Zusammenhang schon irritieren, dass
ger, und somit muss auch die Bildungsfinanzierung viel- laut FiBS nur circa 50 Prozent der Anspruchsberechtig-
fältiger werden. Mit Begabtenförderung und Stipendien- ten überhaupt einen BAföG-Antrag stellen.
programm setzen wir auf das richtige Pferd. Fazit: In Deutschland steht jedem ein Studium offen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschland ist ein attraktiver Studienstandort.
(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Warum sind
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort
wir dann im europäischen Vergleich so
zum Deutschlandstipendium sagen: Das ständige
schlecht?)
Schlechtreden des Deutschlandstipendiums, auch wieder
in Ihrem Antrag, liebe Kollegen von den Grünen, hat Und: Unser Bildungssystem ermöglicht sozialen Auf-
nichts genützt. stieg durch Leistung – trotz Ihrer Unkenrufe, liebe Frau
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15085
Dr. Stefan Kaufmann
(A) Kollegin Gohlke. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele, abhängen, ob jemand Bildung erhält oder nicht. Das ist (C)
die Sie der Presse entnehmen können. im Kern der Unterschied zwischen uns und Ihnen von
der Regierungskoalition.
Also: Hören Sie bitte auf, das BAföG im 40. Jahr sei-
nes Bestehens kleinzureden! Das BAföG ist und bleibt (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
die tragende Säule der Studienfinanzierung in Deutsch- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Stefan
land. Es hat Millionen Menschen eine akademische Aus- Kaufmann [CDU/CSU]: Nein! Da ist kein Un-
bildung ermöglicht, unter anderem mir selbst. terschied!)
Herzlichen Dank. Das BAföG war und ist Kernstück der Bildungsoffen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai sive, die wir in den 70er-Jahren gestartet haben. Das
Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Toll, BAföG war in der Tat sehr erfolgreich. Es hat Millionen
dass die CDU das endlich anerkennt!) Menschen ermöglicht, ein Studium oder den Schulbe-
such zu finanzieren. Aber, Herr Kaufmann: Wir dürfen
uns nicht darauf ausruhen. Wir dürfen es nicht dabei be-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
lassen. Wir müssen das BAföG fortwährend weiterent-
Swen Schulz ist der nächste Redner für die SPD- wickeln. Es gibt in der Tat einige Studien – wir haben
Fraktion. auch im Ausschuss für Bildung und Forschung über sie
(Beifall bei der SPD) diskutiert –, deren Ergebnisse zeigen, dass es in erster
Linie finanzielle Gründe sind, die Menschen daran hin-
Swen Schulz (Spandau) (SPD): dern, Bildungsangebote wahrzunehmen, oder sie veran-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lassen, ein Studium abzubrechen. Darum müssen wir das
Meine sehr geehrten Damen und Herren! 40 Jahre BAföG weiter ausbauen.
BAföG – das ist eine wechselvolle, insgesamt aber sehr (Ulla Burchardt [SPD]: Ja!)
stolze Geschichte, über die wir diskutieren.
Die Linke und vor allen Dingen die Grünen haben
(Beifall des Abg. Patrick Meinhardt [FDP]) hierzu Vorschläge vorgelegt, die durchaus diskutabel
Das BAföG wurde 1971 eingeführt, und zwar – man sind. Die SPD hat schon letztes Jahr einen umfassenden
höre und staune – von der sozialliberalen Koalition. Antrag zu diesem Thema vorgelegt. Uns geht es darum,
die Förderung zu erhöhen, damit das Geld während der
(René Röspel [SPD]: Das war noch eine FDP gesamten Dauer des Bildungsprozesses ausreicht. Wir
damals!) wollen vor allem, dass mehr Menschen in den Genuss
Damals konnte man mit der FDP tatsächlich noch Staat der Förderung kommen.
(B) (D)
machen.
Wir beobachten durchaus eine Art Mittelstandsloch,
(Heiterkeit bei der SPD – Ulla Burchardt wie wir es nennen: Das Einkommen der Eltern vieler
[SPD]: Ja! Da war die noch zu gebrauchen! – Studierender liegt an einer Grenze. Sie bekommen ent-
Patrick Meinhardt [FDP]: Wir konnten damals weder gar keine oder nur eine geringe Förderung, haben
noch mit Ihnen Staat machen!) aber trotzdem Schwierigkeiten, ihre Ausbildung zu
finanzieren. Da müssen wir durch die Ausweitung der
Aber es war natürlich die SPD,
Förderung und auch durch ein neues Instrument, das wir
(Zurufe von der FDP: Oh! Oh! – Na klar!) vorschlagen, nämlich das Nullzinsdarlehen, etwas ma-
chen. Auch müssen wir auf die Herausforderungen der
die schon damals der Motor war und darauf gedrängt
neuen Studienstruktur reagieren. Bei vielen gibt es in der
hat, das BAföG einzuführen. Die SPD hat das BAföG
Förderung eine Lücke zwischen Bachelor und Master.
immer verteidigt und es, wo sie konnte, nach Kräften
Das müssen wir ausgleichen.
ausgebaut. Das war auch 1998 der Fall, als wir gemein-
sam mit den Grünen die Bundesregierung übernommen Ich möchte ausdrücklich sagen, dass die Idee des ein-
haben. In der Kohl-Ära ist das BAföG nachgerade ka- heitlichen, elternunabhängigen Sockels durchaus reiz-
puttgemacht worden. Wir mussten es erst wieder auf- voll ist. Darüber müssen wir diskutieren. Dies ist natür-
bauen. lich eine schwierige Sache, weil wir dann auch das
(Ulla Burchardt [SPD]: Ja!) Kindergeld und die Steuerfreibeträge mit einbeziehen
müssen. Das ist – auch unter verfassungsrechtlichen Ge-
In der Großen Koalition haben wir das BAföG gegen sichtspunkten – nicht ganz leicht.
Angriffe von Ministerin Schavan verteidigt; das ist die
Wahrheit. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Aber möglich!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulla Ich denke, das müssen wir einmal gemeinsam diskutie-
Burchardt [SPD]: Das sollte noch nicht mal in ren, wenn wir wieder eine vernünftige Mehrheit im
den Koalitionsvertrag!) Deutschen Bundestag haben.
Wir unterstützen das BAföG nicht etwa aus Prinzi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
pienreiterei oder weil es eine schöne Tradition ist, son- DIE GRÜNEN – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/
dern weil wir davon ausgehen, dass es ein Menschen- DIE GRÜNEN]: Sehr gerne! – Ulla Burchardt
recht auf Bildung gibt. Es darf nicht vom Geldbeutel [SPD]: Das ist ja bald!)
15086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Swen Schulz (Spandau)


(A) In diesem Zusammenhang, weil ich über Steuern ge- Herr Kaufmann, Sie sagen immer – auch die Ministe- (C)
sprochen habe, will ich noch etwas zum Thema steuerli- rin hat dies vor zwei Tagen in der Ausschusssitzung ge-
che Absetzbarkeit sagen: Vor einiger Zeit gab es ein Ur- sagt –: Die Länder machen nichts. Auch sie müssen eine
teil des Bundesfinanzhofs. Der Kollege Meinhardt von BAföG-Erhöhung mitfinanzieren. Von ihnen kommt
der FDP hat dann gleich gesagt: Super! Jetzt gibt es die aber nichts. – Wie denn auch? Es sind doch Ihre verant-
Möglichkeit, weniger Steuern zahlen zu müssen. – Ich wortungslose Steuer- und Finanzpolitik und Ihre Steuer-
bitte Sie herzlich, einmal darüber nachzudenken. Das ist geschenke für Hoteliers und Reiche, die den Ländern die
doch der falsche Weg. Es kann doch nicht sein, dass die- Beine weghauen.
jenigen, die nach der Ausbildung viel Geld verdienen,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Steuergutschriften erhalten. Vielmehr muss es darum ge-
DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/
hen, dass die Leute jetzt, also in der Phase der Ausbil-
dung, Unterstützung erhalten. Da müssen wir Verände- CSU und der FDP – Albert Rupprecht [Wei-
den] [CDU/CSU]: Was ist mit der Körper-
rungen herbeiführen.
schaftsteuer?)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Sie können einem Schwimmer doch keine Bleigewichte
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) anhängen und sagen: Nun schwimm mal schneller! Das
Eine bessere Bildungsfinanzierung kostet Geld; das ist das, was Sie hier veranstalten.
wissen wir. Auch wissen wir, dass das Geld nicht auf den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
Bäumen wächst. Darum haben wir von der SPD ein GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)
Konzept vorgelegt, nämlich einen Pakt für Entschuldung
und Bildung. Wir wollen, dass jährlich 20 Milliarden – Ich weiß, dass das wehtut und dass Sie das aufregt,
Euro mehr von Bund und Ländern in Bildung investiert aber Sie müssen der Wahrheit einmal ins Gesicht sehen.
werden. Da das gegenfinanziert werden muss, wie wir
(Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Baden-
sehr wohl wissen, sagen wir – obwohl dies unpopulär
Württemberg hat einen ausgeglichenen Haus-
und streitig ist –, dass das mit Steuererhöhungen für die-
halt!)
jenigen mit hohen Einkommen und großen Vermögen
einhergehen muss. Ehrlich gesagt: Die Selbstbeweihräucherung, wie viel
toller Sie sind, als die rot-grüne Regierungskoalition es
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einmal war, und wie viel mehr Geld Sie für Bildung und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Forschung zur Verfügung stellen, geht auf die Nerven.
Darüber werden natürlich harte Diskussionen geführt
(B) werden, aber es ist eine klare Ansage und der richtige Präsident Dr. Norbert Lammert: (D)
Weg. Herr Kollege Schulz, möchten Sie noch unmittelbar
vor Schluss Ihrer Rede eine Zwischenfrage des Kollegen
Wir streiten tatsächlich für Bildung. Aber was macht
Rupprecht beantworten?
die Koalition?
(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Sie gibt Swen Schulz (Spandau) (SPD):
mehr Geld für Bildung aus!) Gerne, ja.
Sie dümpelt so vor sich hin.
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):
(Widerspruch bei der CDU/CSU) Lieber Kollege Schulz, kann es sein, dass Sie überse-
Im letzten Jahr gab es beim BAföG ein bisschen oben- hen haben, dass es vor zwei Wochen eine intensive Be-
drauf. In diesem Jahr gibt es eine Nullrunde. Was pas- richterstattung dahin gehend gegeben hat, dass der
siert denn im nächsten Jahr? Man weiß es nicht. größte Steuerausfall, den wir in den letzten 20 Jahren zu
verzeichnen hatten, durch die große Körperschaftsteuer-
Aber das Stipendienprogramm soll der große Erfolg reform von Rot-Grün verursacht wurde?
sein. Herr Kollege Kaufmann hat gesagt, da gehe es rich-
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Genosse der
tig voran. Ich habe einmal nachgeschaut – neulich gab es
Bosse!)
eine Presseerklärung des Ministeriums –: Aktuell gibt es
4 793 Stipendien. Diese Untersuchung wurde nicht von einem konservati-
ven Institut, sondern von einem gewerkschaftsnahen In-
(René Röspel [SPD]: Wow!) stitut durchgeführt.
Das sind 0,2 bis 0,3 Prozent aller Studierenden. Herzlichen
Glückwunsch, liebe Kolleginnen und Kollegen! Aber die Swen Schulz (Spandau) (SPD):
rund 1 Million BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger Das war eine Entscheidung, die wir gemeinsam ge-
lassen Sie links liegen. Das geht so nicht! troffen haben. In der Tat sind wir in der Lage, gegebe-
nenfalls auf neue Situationen entsprechend zu reagieren
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem und Konsequenzen daraus zu ziehen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Monika
Grütters [CDU/CSU]: Wir haben das BAföG (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
erhöht!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15087
Swen Schulz (Spandau)
(A) Wir haben ein klares Programm. Es muss dann eben Liebe Frau Gohlke, Ihre Feststellung, dass das BAföG (C)
auch Steuererhöhungen für bessere Bildung geben. Sie heutzutage ein Schatten seiner selbst sei, hat noch nicht
können sich aber nicht darauf einigen. Wir werden das einmal Ihre eigene Fraktion dazu gebracht, an der Stelle
dann nach der nächsten Bundestagswahl machen. zu applaudieren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Da gibt es auch
DIE GRÜNEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: nichts zu applaudieren!)
Eine Klatsche vom Bundesfinanzhof haben
Sie bekommen!) Ich darf hier im Namen des ganzen Hauses zuerst einmal
feststellen: 40 Jahre BAföG ist eine bildungspolitische
Ich war gerade dabei, noch einmal die Unterschiede Erfolgsgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland.
zwischen dieser Koalition und Rot-Grün bei der Finan-
zierung von Bildung und Forschung zu skizzieren. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das geht jetzt aber nicht mehr. Es war 1971 eine richtige Entscheidung, unter dem
Vorzeichen des Bürgerrechts Bildung klarzumachen,
(Heiterkeit) dass die Chancenverteilung im Bildungswesen auch
durch das Instrument BAföG in eine andere Richtung
Swen Schulz (Spandau) (SPD): gelenkt werden sollte. Ich glaube, das ist der richtige
Das ist schade. Ausgangspunkt, unter dem man die BAföG-Gesetzge-
bung und die BAföG-Reformen in diesen 40 Jahren be-
trachten muss.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ja, das finde ich auch. Es ist auch gut, dass es unter wechselnden Regierun-
gen unterschiedliche Akzentuierungen und Fortentwick-
lungen beim BAföG gab. Anhand der 23 Novellen, die
Swen Schulz (Spandau) (SPD):
es in diesen 40 Jahren gegeben hat, sieht man, dass es
Ich habe Sie vorhin so gelobt, Herr Präsident. Ich beim BAföG mit Sicherheit einen lernenden Prozess
dachte, jetzt bekomme ich eine Minute mehr. gibt. Ich sage auch ausdrücklich: Es war ein richtiges
Eigentlich hätte ich jetzt darauf hinweisen wollen, politisches Zeichen, dass die Große Koalition im Jahre
2008 die Bedarfssätze um 10 Prozent und die Freibe-
(Heiterkeit bei der SPD) träge um 8 Prozent erhöht hat. Die FDP-Fraktion hat da-
(B)
dass Ihnen die Steigerung im Haushalt durch die Strei- mals zugestimmt, weil wir es für ein richtiges bildungs- (D)
chung der Eigenheimzulage möglich ist, die wir als Rot- politisches Zeichen nach einer sehr langen Durststrecke
Grün immer beantragt haben, während Sie sie im Bun- gehalten haben, hier ordentlich etwas draufzusatteln.
desrat blockiert haben. Erst in der Großen Koalition ha- Es ist auch richtig gewesen, dass wir bei der BAföG-
ben wir das gemeinsam geschafft. Modernisierung im vergangenen Jahr noch einmal rich-
Wir stehen zum BAföG und streiten dafür, Sie düm- tig etwas draufgelegt haben: ungefähr 500 Millionen
peln herum. Na gut, dann machen wir das mit einer Euro mehr pro Jahr bzw. 1,6 Milliarden Euro mehr in
neuen Regierungskoalition besser. den kommenden drei Jahren. 43 000 Studierende mehr
können wir durch diese BAföG-Modernisierung schon
Vielen Dank. jetzt fördern. Wir sind auf dem Weg zur Millionen-
grenze. Entfall der Grenze von 30 Jahren bei der Master-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
förderung, verlässliches Beibehalten der Förderungsart
DIE GRÜNEN)
auch nach Fachrichtungswechsel, neue Berücksichti-
gung von Kinderbetreuungszeiten, Gleichstellung der
Präsident Dr. Norbert Lammert: eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe beim
Es ist schade, wenn der Höhepunkt einer Rede dem BAföG, Nichtanrechnung des Stipendiums von 300 Euro
brutalen Redezeitregime zum Opfer fällt. Ich kann nur auf das BAföG: All das zeigt, dass wir erkannt haben,
immer wieder meine Empfehlung wiederholen, mit dem dass das BAföG ein wichtiges Instrument ist. Deswegen
Höhepunkt zu beginnen. Dann entsteht dieses Problem war es ein richtiges Zeichen dieser Regierungskoalition,
regelmäßig nicht. hier zu modernisieren und einen großen Schritt voranzu-
gehen.
(Heiterkeit und Beifall)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Nun hat der Kollege Patrick Meinhardt das Wort.
In den vorliegenden Anträgen fordern Sie eine Erhö-
Patrick Meinhardt (FDP): hung der Fördersätze. Bei den Grünen sind es 5 Prozent
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und bei den Linken 10 Prozent. Beide Anträge sind of-
und Kollegen! fensichtlich mit sehr heißer Nadel gestrickt, nach dem
Motto „Wünsch Dir was“. Sie setzen hier einfach
(René Röspel [SPD]: Jetzt kommt der irgendwelche Beträge ein. Ich glaube, es ist wichtiger
Höhepunkt!) – das müssen wir ehrlich sagen –, dass wir eine verlässli-
15088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Patrick Meinhardt
(A) che Finanzierung haben. Das bedeutet, dass wir vom Die Besten der Besten zu fördern, heißt eben auch: Wir (C)
Bund und von den Ländern her Verlässlichkeit sicher- wollen das unabhängig vom Geldbeutel und unabhängig
stellen müssen. vom sozialen Status erreichen. Wir haben im Augenblick
die Situation, dass wir über die Begabtenförderungs-
Erinnern wir uns alle gemeinsam bitte an die letzte werke, deren Mittel wir deutlich erhöhen, 1 Prozent der
Debatte über das BAföG im vergangenen Jahr und da- Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland mit ei-
ran, welches Hickhack es hier aufgrund der 65/35-Finan- nem Stipendium ausstatten können. Beim Deutschland-
zierung mit den Ländern gab. stipendium ist daher der elementare Ansatz: Wir dürfen
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht länger das Schlusslicht in der Stipendienförderung
Weil Sie sie mit dem Deutschlandstipendium sein.
erpresst haben!) Wir wissen doch alle, dass im Moment Fachhoch-
schüler in der Bundesrepublik Deutschland in der Förde-
Wir als Fraktion sind gerne bereit, darüber nachzuden-
rung benachteiligt werden. Nur 9 Prozent der Stipendien
ken, wie wir erreichen können, dass es zu einer regelmä-
der Begabtenförderungswerke gehen an Fachhochschü-
ßigen Anpassung kommt. Aber eines muss dabei sicher-
ler. Gleichzeitig wissen wir, dass über 50 Prozent der
gestellt werden: Jeder muss seine Hausaufgaben
dort Studierenden aus nicht akademischen Familien
machen, auch in den eigenen Bundesländern.
kommen. Deswegen ist es für mich ein Zeichen von Bil-
(Beifall der Abg. Monika Grütters [CDU/ dungsgerechtigkeit, an den Hochschulen eine eigene Sti-
CSU]) pendienkultur in die Wege zu leiten, um dort für mehr
soziale Gerechtigkeit zu sorgen.
Ich weiß, Frau Gohlke, was passieren würde, wenn
Sie Ihrer brandenburgischen Landesregierung eine Erhö- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
hung des BAföG um 10 Prozent vorschlagen würden. Eine allerletzte Bemerkung. In Nordrhein-Westfalen
Die dortigen Minister würden sagen: Mit uns nicht! – werden auch unter der neuen rot-grünen Regierung wei-
Das gefällt mir an dieser Stelle überhaupt nicht. Wir terhin 2 600 Studierende durch ein Stipendienprogramm
müssen in diese Debatte eine ehrliche und verlässliche gefördert.
Finanzierungsstruktur als Thema hineinbringen.
(Ulla Burchardt [SPD]: Sollen wir die heraus-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulla schmeißen, Herr Meinhardt?)
Burchardt [SPD]: Brandenburg hat sogar das
Ich zitiere eine entsprechende Meldung aus Nordrhein-
Schüler-BAföG!)
Westfalen: SPD und Grüne wollen das NRW-Stipendium
(B) Wir alle wissen doch – die HIS-Studie ist hier schon so lange weiterführen, bis das Deutschlandstipendium in (D)
mehrfach angesprochen worden –, was eines der großen entsprechendem Umfang greift. – Ich wäre froh, wenn
Probleme überhaupt ist: Im Zusammenhang mit dem dieser Pragmatismus, der hinsichtlich der Studierenden
BAföG fühlen sich 33 Prozent – so das Ergebnis der in Nordrhein-Westfalen richtigerweise an den Tag gelegt
HIS-Studie – schlecht beraten; bei denjenigen mit einer wird, auch bundesweit bei Rot und Grün in der Debatte
niedrigen sozialen Herkunft waren es sogar 44 Prozent. um Bildungsgerechtigkeit vorherrschen würde.
Bei der BAföG-Beratung haben wir insgesamt einen (Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
enormen Nachholbedarf und müssen in allen Bundeslän- Das heißt, wir müssen das Pinkwart-Pro-
dern etwas voranbringen. Angesichts einer Förderquote gramm auslaufen lassen?
von nur 25 Prozent, obwohl über 70 Prozent der Studie-
renden einen Anspruch auf Förderung haben, muss eines Talentförderung ist kein Widerspruch zur Breitenförde-
klar sein: Wir müssen zusätzlich in ein frühzeitiges In- rung. Das Gegenteil ist der Fall. Dadurch wird ausge-
formationssystem über die Fördermöglichkeiten im Be- drückt, dass Bildung ein Bürgerrecht ist.
reich des BAföG investieren. Vielen herzlichen Dank.
Es geht darum, eine kluge Studienfinanzierung zu er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
reichen. Dabei geht es einerseits um Bildungsdarlehen
und andererseits um BAföG. Darüber hinaus geht es da-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
rum, eine moderne, intelligente, kluge, zeitgemäße und
sozial gerechte Stipendienkultur in der Bundesrepublik Kai Gehring ist der nächste Redner für die Fraktion
Deutschland zu justieren. Wir brauchen eine neue Sti- Bündnis 90/Die Grünen.
pendienkultur, um das hier sehr deutlich zu formulieren.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Grund, über die Einführung eines dezentralen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Deutschlandstipendiums nachzudenken, ist in allererster Zugang zu unseren Hochschulen ist ein ganz zentrales
Linie der, dass wir innerhalb der OECD-Staaten das Gerechtigkeitsthema und entscheidend für Wachstum
Schlusslicht in der Stipendienförderung sind. Es ist für und Wettbewerbsfähigkeit. Daher können wir es uns
eine Wirtschafts- und Bildungsnation wie die Bundes- schlichtweg nicht länger erlauben, dass der Weg zum
republik Deutschland fahrlässig, die Besten der Besten Campus für viele junge Menschen blockiert bleibt.
nicht zu fördern.
Um Zugänge zu verbreitern, muss die Regierung drei-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) erlei tun: Sie muss anlässlich des 40. BAföG-Geburts-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15089
Kai Gehring
(A) tags die staatliche Studienfinanzierung weiterentwi- muss endlich von der Zuschauertribüne herunterkom- (C)
ckeln. Sie muss den Studienplatzmangel bei Bachelor- men, um zu gestalten und zu handeln. Sie sollte im Übri-
und Masterstudiengängen wirksam bekämpfen. Sie muss gen auch an solchen Debatten wie der heutigen teilneh-
bundesweit für ein funktionierendes Hochschulzulas- men.
sungsverfahren sorgen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Moderne Hochschulpolitik eröffnet Chancen und er-
Es ist nicht hinnehmbar, dass unzureichendes BAföG, möglicht Teilhabe. An den Schnittstellen und Übergän-
fehlende Studienplätze, Zulassungschaos und bundes- gen in unserem Bildungssystem zeigt sich, ob Chancen-
weit gestiegene lokale NCs junge Menschen vom Stu- gleichheit besteht und Aufstieg durch Bildung gelingt.
dium abhalten. Vergleichsstudien stellen uns immer wieder ein schlech-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tes Zeugnis aus: Ein Sechstel aller Kinder wächst in
sowie bei Abgeordneten der SPD) ALG-II-Bedarfsgemeinschaften auf. Deren Chancen auf
einen Universitätsabschluss sind leider weiterhin sehr
Dass die OECD letzte Woche in ihrer Vergleichsstu- gering.
die Bildung auf einen Blick erneut festgestellt hat, dass
hierzulande Hochqualifizierte fehlen, nehmen wir als Jugendliche aus einkommensärmeren Nichtakademi-
Grüne sehr ernst. Die Bildungspolitiker der Koalition ker-Elternhäusern werden nach wie vor völlig unzurei-
würden diese alarmierende Botschaft am liebsten vom chend gefördert und zu wenig zum Bildungsaufstieg er-
Tisch wischen. Fakt ist aber: In Deutschland fehlen muntert. Es ist eine traurige Realität, dass Konto oder
Fachkräfte und Akademiker. Das muss Warn- und Weck- Pass der Eltern stärker über Bildungserfolg oder Bil-
ruf für die Bundesregierung sein. dungsmisserfolg in unserem Land entscheiden als Talent
und Potenzial.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der von Schwarz-Gelb beklagte Fachkräftemangel ist sowie bei Abgeordneten der SPD)
im Übrigen größtenteils hausgemacht. Sie nutzen das
Studierendenhoch nicht. Im Wintersemester fehlen min- Das muss sich ändern. Bisher ist es so. Daher kann
destens 50 000 Studienplätze. Deshalb fordern wir einen von Bildungsgerechtigkeit keine Rede sein. Wir müssen
Hochschulpaktnotfallplan sowie Nachverhandlungen die krassen Bildungsungerechtigkeiten weiter abbauen.
zwischen Bund und Ländern. Kein Studienberechtigter Wir brauchen breite Zugänge zum Campus, und deshalb
sollte ohne Platz in einer Warteschleife landen. Alle jun- geht es auch darum, die Studienfinanzierung zu verbes-
(B) sern. (D)
gen Menschen brauchen einen Zugang zur Hochschule.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vor 40 Jahren wurde das BAföG eingeführt. Es hat
sowie bei Abgeordneten der SPD) seitdem 4 Millionen Menschen ein Studium finanziert,
die es sich sonst nicht hätten leisten können. Wir können
Sie verwalten das anhaltende Zulassungschaos nur, heute sagen: Herzlichen Glückwunsch zu einer der gro-
Sie lösen es aber nicht. Es ist ein Fiasko, dass das dialog- ßen Erfolgsstorys des deutschen Sozialstaates! Das
orientierte Serviceverfahren nach wie vor nicht funktio- BAföG hat unser Land definitiv gerechter gemacht.
niert. Es ist auch ein Fiasko, dass trotz der Knappheit
Studienplätze unbesetzt geblieben sind – fast 10 000 al- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lein im letzten Semester –, da es nach vier Jahren Reden sowie bei Abgeordneten der SPD)
noch immer kein funktionierendes Einschreibungs- und 40 Jahre sind Anlass zum Feiern, aber auch zum Fort-
Zulassungsverfahren gibt. Deshalb brauchen wir bun- entwickeln. Alle Seiten dieses Hauses haben BAföG-Re-
deseinheitliche Zulassungsregeln und ein funktionieren- formen auf den Weg gebracht. Seit 1998 unter der rot-
des und transparentes Vergabesystem, an dem sich mög- grünen Bundesregierung ging es dabei glücklicherweise
lichst alle Hochschulen beteiligen und das angemessen nur noch um Aufbau und Ausbau statt um den Abbau
ausfinanziert ist. wie in den Zeiten davor.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In dem von uns vorgelegten Antrag fordern wir kurz-
sowie bei Abgeordneten der SPD)
fristige Reformschritte, darunter eine Erhöhung der Be-
Sie sorgen im Ausbildungsbereich nicht dafür, dass es darfssätze und Freibeträge um mindestens 5 Prozent, um
weniger Warteschleifen, Abbrecher und Altbewerber den Berechtigtenkreis zu erweitern und mehr jungen
gibt. Sie hoffen einfach auf eine demografische Lösung Menschen den BAföG-Bezug zu ermöglichen.
und lehnen sich zurück. Im Übrigen knausern Sie auch
Über diese Reparaturen hinaus wollen wir das BAföG
noch bei der Weiterbildung, statt ein umfassendes
mittelfristig zu einem Zwei-Säulen-Modell ausbauen.
Erwachsenenbildungsförderungsgesetz auf den Weg zu
Herr Kaufmann, ich erkläre es Ihnen und anderen gerne
bringen.
noch einmal: Dieses Modell kombiniert bedarfsabhän-
Das alles ist mangelhaft und hilft nicht, den Fach- gige und bedarfsunabhängige Elemente. Die erste Säule
kräfte- und Akademikermangel zu bekämpfen. Bundes- ist ein Zuschuss für alle Studierenden und schafft damit
ministerin Schavan müsste endlich die Bekämpfung des eine gewisse Basisabsicherung. Damit würden wir allen
Fachkräftemangels zur Chefinnensache machen. Sie Studienberechtigten einen starken Anreiz bieten, ein Stu-
15090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Kai Gehring
(A) dium aufzunehmen. Die zweite Säule ist ein Bedarfszu- Angesichts dessen ist es ein historischer Erfolg, dass vor (C)
schuss, der eine starke soziale Komponente für Studie- allem rot-grüne Länder die ungerechte Campusmaut ab-
rende aus einkommensarmen Elternhäusern garantiert. geschafft haben. Darauf sind wir gemeinsam stolz.
Das Ganze ist also bedarfsabhängig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Im Rahmen dieses Zwei-Säulen-Modells würden wir sowie bei Abgeordneten der SPD – Patrick
die familienbezogenen Leistungen, also das Kindergeld Meinhardt [FDP]: Und die Hochschulen im
und Steuerfreibeträge, in einen Sockel für alle überfüh- Regen stehen lassen! – Ulla Burchardt [SPD]:
ren. Dieses Geld käme dann den Studierenden direkt zu- Das wird in Bayern fortgesetzt!)
gute. Das wäre ein großer Vorteil im Vergleich zum bis- Letzte Gebührenbastionen sind jetzt Niedersachsen und
herigen BAföG. Bayern. Das sind die letzten Mohikaner, bei denen Stu-
diengebühren für alle anfallen. Ich sage Ihnen voraus:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Auch die werden wir knacken, und wir werden endlich
Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Sie wissen eine studiengebührenfreie Republik schaffen.
doch, dass das rechtlich problematisch ist!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Mit unserem Modell würden wir im Übrigen Studien- Patrick Meinhardt [FDP]: Dass Sie eine andere
berechtigte aus dem bisherigen BAföG-Mittelschichts- Republik wollen, ist klar! – Dr. Stefan
loch herausholen. Das ist eine ganz wichtige Herausfor- Kaufmann [CDU/CSU]: Aber nicht zum
derung. BAföG-Mittelschichtsloch heißt doch: Die Wohle der Hochschulen!)
Eltern verdienen knapp über der Grenze und können
trotzdem ihren Kindern das Studium nicht finanzieren. Ein weiterer Irrweg bleiben Ihre Deutschlandstipen-
dien. Die Energie und das Geld, mit dem Sie Ihren La-
Die Gruppe derjenigen, die in dieses Loch fallen, ist
denhüter auch heute hier promoten, sollten Sie wirklich
ziemlich groß, und da müssen wir Angebote machen. Es
lieber ins BAföG investieren. Das brächte auch ein di-
ist spannend, dass Linksfraktion, GEW und CHE ver-
ckes Plus für Bildungsgerechtigkeit.
gleichbare Säulenmodelle vorschlagen. Vielleicht – so
habe ich Herrn Schulz vorhin verstanden – macht sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die SPD ebenfalls noch auf den Weg, das mit uns ge-
Das Deutschlandstipendium ist doch nichts anderes als
meinsam zu diskutieren oder womöglich bald einzufüh-
eine Eliteförderung für bisher 0,3 Prozent aller Studie-
ren.
renden in Deutschland.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Patrick Meinhardt [FDP]: Tja! Hamburger
(B) Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Wir sind Boykott! Roter Boykott!) (D)
gespannt!)
Da kann man doch nicht von einer neuen Säule der Stu-
Bei Schwarz-Gelb scheint einerseits endlich die dienfinanzierung reden. Daran kann man erkennen: Sie
Phase überwunden zu sein, das BAföG schlechtzureden, setzen ganz klar eine falsche Priorität. Wir müssen eine
zu attackieren und stattdessen Studienkredite für alle zu bessere staatliche Studienförderung in der Breite errei-
propagieren, wie man es gerade Ende der 1990er-Jahre chen.
und in den 2000er-Jahren gemacht hat. Andererseits ist Wenn 71 Prozent der Akademikerkinder ein Studium
es bedauerlich, dass sich die Bundesministerin zum aufnehmen, aber nur 24 Prozent der Nichtakademiker-
40. BAföG-Geburtstag verweigert, ein Reformpaket zu kinder,
schnüren. BAföG ist kein Almosen, kein Geschenk, son-
dern Lebensunterhaltsfinanzierung vieler junger Men- (Patrick Meinhardt [FDP]: Dann müssen wir
schen in unserem Land. Sie brauchen es dringend. die Fachhochschulen mehr fördern!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – zeigt das doch, dass sich eine gerechte Studienfinanzie-
Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Dann er- rung auf diese potenziellen Bildungsaufsteigerinnen und
kennen Sie doch an, dass wir in den letzten Bildungsaufsteiger konzentrieren muss. Ihre neue Sti-
zwei, drei Jahren viel gemacht haben!) pendienkultur, die Sie auch heute hier proklamiert ha-
ben, ist nichts anderes als eine Fata Morgana.
Schwarz-Gelb wandert trotz gelegentlicher Erleuch- (Patrick Meinhardt [FDP]: Sie haben die Stipen-
tungen weiter auf Irrwegen. Im vergangenen Jahrzehnt dienwüste in Deutschland hinterlassen!)
haben sieben schwarz-gelb-regierte Bundesländer Stu-
diengebühren eingeführt. Das war sozial ungerecht. Das Ihr Programm ist die falsche Reaktion auf die soziale
ist und bleibt ungerecht. Das hat Studienberechtigte rei- Schieflage beim Hochschulzugang.
henweise vom Studium abgeschreckt, und es hat nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
mehr Mittel an die Hochschulen gebracht, weil Sie
gleichzeitig die Grundfinanzierung dieser Hochschulen Womöglich ist die Bundesregierung derzeit wieder
in den Ländern abgesenkt haben. dabei, einen neuen Irrweg einzuschlagen, nämlich beim
Umgang mit dem Urteil des Bundesfinanzhofs zur steu-
(Patrick Meinhardt [FDP]: Das hat deutlich erlichen Absetzbarkeit von Erstausbildungskosten. Wir
mehr Mittel an die Hochschulen gebracht! Das wollen keine nachlaufende Gutschrift, die vom Studien-
ist eine Lüge!) fach oder der Gehaltshöhe abhängt. Wir wollen auch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15091
Kai Gehring
(A) nicht, dass Studiengebühren an privaten Hochschulen Wir sind stolz darauf, diesen Schwerpunkt setzen zu (C)
über die Hintertür des Steuerrechts vom Steuerzahler können, trotz der schwierigen Haushaltssituation,
subventioniert werden, sondern wir wollen eine bessere,
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
direkte Förderung während der Ausbildungs- und Stu-
Steuermehreinnahmen!)
dienzeiten, die sich an der Bedürftigkeit des Einzelnen
bemisst. Fakt ist: Die staatliche Studienfinanzierung und das, ohne unser anderes großes Ziel, die Konsolidie-
muss gerechter, besser, verlässlicher und leistungsfähiger rung der Staatsfinanzen, aus den Augen zu verlieren.
werden. Niemand soll aus finanziellen Gründen auf ein Einfach mehr ausgeben, das kann jeder.
Studium verzichten müssen.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sie können es nicht! Sie setzen die falschen
Zuruf von der CDU/CSU: Muss er heute auch Prioritäten!)
nicht!)
Aber die Neuverschuldung konsequent zurückzuführen
Ich setze dabei auch auf die Erkenntnisse in der Ko- und dennoch einen solchen Akzent zu setzen, das ist
alition, dass Fachkräfte- und Akademikermangel Wohl- nachhaltige, das ist generationengerechte Politik.
stand, Wachstum und Innovation bremsen, und das umso
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
mehr in Zeiten demokratischer Schrumpfung und Alte-
rung, in denen das Arbeitskräftepotenzial dramatisch Das ist ein Markenzeichen dieser Bundesregierung und
sinkt. Wir brauchen daher dringend mehr Bildungsauf- dieser Koalition.
steiger. Kein Talent darf zurückgelassen werden. Das ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
keine Floskel und keine Phrase, sondern das muss die
Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Genau,
absolute Priorität haben. Alles andere wäre wirtschaft-
das können nur wir!)
lich widersinnig und absolut ungerecht.
Von unserem Schwerpunkt auf Bildung und For-
Vielen Dank.
schung haben in den vergangenen Jahren auch die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN BAföG-Empfänger profitiert. Nach der großen BAföG-
und bei der SPD) Novelle 2008 haben wir 2010 das BAföG noch einmal
erhöht. Die Bedarfssätze sind um 2 Prozent gestiegen,
Präsident Dr. Norbert Lammert: die Einkommensfreibeträge um 3 Prozent. Bund und
Das Wort erteile ich nun dem Kollegen Reinhard Länder haben im Jahr 2010 über 2,8 Milliarden Euro für
Brandl für die CDU/CSU-Fraktion. das BAföG ausgegeben. Das waren 170 Millionen Euro
mehr als im Vorjahr. 916 000 Schüler und Studenten ha- (D)
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben 2010 BAföG-Leistungen erhalten. Das waren über
40 000 mehr als 2009. Kollege Kaufmann hat weitere
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Verbesserungen beim BAföG angesprochen, die wir im
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zuge dieser Novelle vorgenommen haben. Ich brauche
Wir feiern in diesen Tagen 40 Jahre BAföG. Das ist ein das daher nicht zu wiederholen. Hinzu kommt, dass der
guter Grund, zu feiern; denn über Jahrzehnte hinweg hat Anteil derer, die ein Studium aufnehmen, in den letzten
das BAföG Millionen von Schülern und Studenten ge- Jahren konstant gestiegen ist, allein in den vergangenen
holfen, fünf Jahren um 10 Prozentpunkte auf heute 46 Prozent
des Altersjahrgangs.
(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Und Schülerinnen!) Das alles kann man natürlich kleinreden. Es geht im-
mer noch mehr. Ich weiß auch, dass im Bildungssystem
ihre Ausbildungskosten zu decken. Die christlich-libe- noch längst nicht alles in Ordnung ist. Aber wir haben
rale Koalition wird die Geschichte des BAföG erfolg- eben nicht nur Verantwortung für die finanzielle Unter-
reich weiterschreiben. Gerade in Zeiten, in denen land- stützung von Schülern und Studenten während ihrer
auf, landab vom Fachkräftemangel gesprochen wird, Ausbildungszeit, sondern auch Verantwortung für den
wird deutlich, welche zentrale Bedeutung eine gute Aus- Staatshaushalt und den Staat als Ganzes. Genauso wie
bildung nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für bei jeder anderen staatlichen Transferleistung müssen
unser Land als Ganzes hat. wir beim BAföG immer wieder das Interesse derer, die
die Leistung beziehen, mit den Interessen derer in Aus-
Die Förderung von Bildung und Forschung war von
gleich bringen, die mit ihren Steuern diese Leistungen
Anfang an eines der zentralen Projekte dieser Koalition.
bezahlen, obwohl sie selbst sie nie in Anspruch nehmen.
Der Haushaltsentwurf 2012 für das Bundesministerium
Auch das gehört zur Gerechtigkeit. Es kann dabei nicht
für Bildung und Forschung sieht wie die Jahre zuvor er-
danach gehen, wer am lautesten schreit; denn das schafft
neut eine massive Steigerung vor: im Vergleich zu 2011
nur Ungerechtigkeit.
um fast 10 Prozent auf 12,8 Milliarden Euro. Noch nie
hat eine Bundesregierung so viel Geld für Bildung und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Forschung ausgegeben.
Gerecht kann es nur auf einer sachlichen Basis ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schehen. Die Bundesregierung schafft seit Einführung
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dank Eigen- des BAföG eine solche Basis, indem sie alle zwei Jahre
heimzulage!) den BAföG-Bericht vorlegt, der aufzeigt, wie sich Ein-
15092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dr. Reinhard Brandl


(A) kommen und Verbraucherpreise entwickeln. Bei der Pannen. 1999 hat die rot-grüne Koalition den Hochschu- (C)
letzten Erhöhung 2010 sind wir sogar bewusst darüber len die Freiheit gegeben, Bewerber selber auszusuchen
hinausgegangen, um unser Schwerpunktthema Bildung – das als Hinweis für die Redenschreiber der Koalition.
noch einmal besonders herauszustellen. Der nächste Seitdem ist klar – 2002 hat die Kultusministerkonferenz
BAföG-Bericht kommt 2012. Auf dieser Basis und je das selber festgestellt –: Ohne ein Mindestmaß an zen-
nach Lage der Staatsfinanzen werden wir im nächsten traler Koordinierung kann das nicht funktionieren. Dann
Jahr darüber beraten, um wie viel wir das BAföG erhö- hat die Kultusministerkonferenz noch einige Jahre ge-
hen können. braucht, um auf die Idee zu kommen, die ZVS, eine Be-
hörde, in eine Stiftung umzuwandeln. Jetzt hat ein Stif-
Sie können sich darauf verlassen: Bildung und For- tungsrat die Verantwortung übernommen, der sich aus
schung bleiben auch in Zukunft ein Schwerpunktthema 16 Vertretern der Landesregierungen und 16 Vertretern
dieser Bundesregierung und der Koalition. Wir dürfen der Hochschulrektoren zusammensetzt. Erstmals sind die
aber auch nicht überziehen. Nur wenn wir das BAföG Hochschulrektoren mitverantwortlich, ob etwas klappt
mit Vernunft und Ernsthaftigkeit weiterentwickeln, oder nicht. Das möchte ich an dieser Stelle festhalten.
bleibt auch die breite Akzeptanz für dieses international Man sollte also die Forderungen nicht immer nur an die
herausragende Instrument der Studienfinanzierung er- Politik richten. Übrigens ist auch das BMBF Mitglied
halten. Nur dann werden wir in zehn Jahren einen guten des Stiftungsrates, wenn auch ohne Stimmrecht.
Grund zu feiern haben, nämlich das fünfzigjährige Jubi-
läum des BAföG. Über Jahre ist nichts passiert, weil widerstreitende In-
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. teressen und Erwartungen, wechselnde Wünsche von
Politik und Hochschulrektoren und ideologische Ressen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) timents gegenüber zentraler Koordinierung die Debatten
des Stiftungsrates dominierten. Die Praktiker, die viele
Präsident Dr. Norbert Lammert: Jahre für die Organisation der Bewerbungsverfahren bei
Nächste Rednerin ist die Kollegin Burchardt für die der ZVS, bei der Hochschule und dem Unternehmen
SPD-Fraktion. HIS verantwortlich waren, sind entweder nicht gefragt
worden oder auf sie wurde nicht gehört.
(Beifall bei der SPD)
Dieses Grundproblem ist virulent, seitdem die An-
Ulla Burchardt (SPD): schubfinanzierung von 15 Millionen Euro eingesetzt
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- wurde, die unser Ausschuss bei den Haushältern locker-
men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geld gemacht hat. Das durfte Frau Schavan dann öffentlich
verkünden. Auch dieses Hin und Her bei der Entwick-
(B) allein bringt noch nichts Gutes. Das sehen wir bei dem lung des dialogorientierten Serviceverfahrens hat eine (D)
neuen dialogorientierten Serviceverfahren, das zu die-
sem Wintersemester in Kraft treten sollte. Die Einfüh- Rolle dabei gespielt, dass es noch nicht in Kraft gesetzt
rung eines modernen effizienten Zulassungsverfahrens werden konnte. Dabei muss allen Verantwortlichen von
ist abermals verschoben worden. Das ist – ich glaube, Anfang an bewusst gewesen sein – Bund, Ländern und
das sehen wir alle so – eine Blamage für den Hochschul- Hochschulrektoren –, dass es dabei nicht nur um die Ent-
und Wissenschaftsstandort Deutschland. wicklung einer anspruchsvollen Technik geht, sondern
auch um ein hochkomplexes Geschäftsmodell. Ein
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ neues, zentrales technisches Verfahren muss mit der
DIE GRÜNEN) IT-Software, die an den Hochschulen vorhanden ist,
Der Ansturm der Bewerber zu diesem Wintersemester kompatibel sein. Das ganze System scheiterte, weil es an
kommt nicht unerwartet. Er ist schon länger bekannt. 80 Prozent der Hochschulen, die mit einer bestimmten
Das wissen alle. Die Studenten dieses Bewerberjahr- Software gearbeitet haben, nicht funktioniert hat. Das
gangs finden keinen geebneten Zugang zu den Fächern, kann eigentlich keine Überraschung gewesen sein, war
die sie studieren wollen, sofern die Hochschulen über- es aber für die Verantwortlichen in BMBF und Stiftungs-
haupt eine ausreichende Zahl an Studienplätzen zur Ver- rat doch. Jedes Unternehmen weiß, Herr Murmann:
fügung stellen. Selbst für diejenigen, die einen der knap- Wenn ein neues technisches System eingeführt wird,
pen Plätze erhalten, wird der Einstieg nicht geebnet, dann muss es eine Prozessanalyse und ein Schnittstellen-
sondern sie finden wieder einen Bürokratiedschungel management geben. Darauf haben die Damen und Her-
vor. Es ist zu befürchten, dass mit viel Geld finanzierte ren von Stiftungsrat und BMBF in ihrer Weisheit aber
Studienplätze brachliegen werden. So war es im letzten verzichtet.
Jahr. Lieber Kollege Gehring, die Zahl des BMBF hin-
sichtlich nicht besetzter Studienplätze, die mir bekannt Auch Frau Schavan ist ihrer Verantwortung nicht ge-
ist, lautet 20 000. Das kann nicht länger hingenommen recht geworden.
werden. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [SPD])
DIE GRÜNEN – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das ist noch schlimmer!) Sie hat zwar die 15 Millionen Euro vollmundig verkün-
det, sich aber anschließend um nichts mehr gekümmert.
Mit diesem Flop setzt sich eine fast zehn Jahre wäh-
rende Geschichte, ein neues Zulassungsverfahren einzu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
führen, fort. Es ist eine Geschichte von Pleiten, Pech und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15093
Ulla Burchardt
(A) Insofern hat nicht die Technik versagt, sondern das Ma- anpassen kann. Dort, wo die neue HIS-Software ange- (C)
nagement, und zwar auf ganzer Linie. wandt wurde, hat das Ganze übrigens funktioniert; des-
wegen ist es sowieso total falsch, das Unternehmen zu
Das BMBF hat nicht eingegriffen, als es aufgrund des beschimpfen. Die Gesellschafterversammlung – Bund
Finanzierungsstreits zwischen Ländern und Hochschu- und Länder – hat beschlossen, dass HIS 5 Millionen
len mit dem versprochenen Full Service für die Bewer- Euro erhält, um den Anpassungsprozess hinzubekom-
ber nichts wurde, sondern eine Version „light minus“ he- men. HIS ist ein Unternehmen. Es muss Gewinne erwirt-
rauskam. Es hat kein zentrales Bewerbungsmanagement schaften. Die Länderfinanzminister haben aber gesagt:
gegeben. Das ist keine Entlastung der Bewerber von Bü- Die 5 Millionen Euro gibt es nicht.
rokratie. Es hat keine Entlastung für die Hochschulen ge-
geben. Hochschulen mit Mehrfachstudiengängen konnten (Monika Grütters [CDU/CSU]: Richtig! Das
überhaupt nicht mitmachen. Damit war das Versprechen stimmt!)
der HRK überhaupt nicht einlösbar.
Im Oktober soll das Ganze anlaufen, und HIS hat bis
Sie sind mit dafür verantwortlich, dass es in diesem heute kein Geld gesehen. Meine Damen und Herren, lie-
System und in dem ganzen Verfahren keinen Plan B gab. ber Herr Staatssekretär, vielleicht kümmern Sie sich jetzt
Das kann keiner verstehen. Jeder muss wissen: Wenn es endlich einmal um die Sache.
um ein hochkompliziertes Modell geht, muss es einen
Plan B geben. Aber aufgrund des Finanzierungsstreits (Beifall bei der SPD – Monika Grütters [CDU/
haben Sie darauf verzichtet, im System eine Funktion CSU]: Die Länder!)
programmieren zu lassen, die einen Plan B ermöglicht Ich sage Ihnen heute: Aus dieser Verantwortung
hätte, nach dem die Hochschulen das Ganze in Ihrem kommt keiner mehr heraus. Es geht nicht an, das allein
Auftrag, nach Ihren Wünschen an die Zentrale in Dort- auf die Länder zu schieben. Die Länder darf man zwar
mund, an die Stiftung, hätten verlagern können. bei der Kritik nicht außen vor lassen, aber Sie können
Wenn jetzt HIS, also das Unternehmen Hochschul-In- auch nicht sagen: Das ist alles Ländersache; wir haben
formations-System, zum Sündenbock gemacht wird, damit nichts zu tun.
dann ist das degoutant und kaschiert nur die eklatante Es gibt viele gute Gründe, über mehr zu diskutieren
Fehleinschätzung, die es bei Ländern, bei den Hoch- als nur über dieses Zulassungsverfahren. Der wirkliche
schulrektoren und auch an der Spitze des BMBF gege- Skandal ist, dass es einen flächendeckenden Numerus
ben hat. Das BMBF ist zusammen mit den Ländern Ge- clausus gibt. Deswegen brauchen wir eine strukturell
sellschafter von HIS. Man hätte wissen können, dass an vernünftige Bildungsfinanzierung, eine Aufhebung des
80 Prozent der Hochschulen eine 13 Jahre alte HIS-Soft- Kooperationsverbots. Ich kann Ihnen sagen: Die SPD
(B) ware in Betrieb war. Kein Mensch käme auf die Idee, wird dies auf ihrem Bundesparteitag im Dezember be- (D)
dass man einen 13 Jahre alten Gebrauchtwagen so tunen schließen. Wir haben die Verständigung zwischen Bun-
kann, dass er bei der Formel 1 mitfahren kann, um dann des- und Landespolitikern erreicht.
dem Unternehmen die Schuld aufs Auge zu drücken und
zu sagen: Ach, er hat leider nicht das ganze Rennen (Patrick Meinhardt [FDP]: Wir werden uns an-
funktioniert. – Für ein solches Vorgehen fehlt wirklich gucken, ob Sie es wirklich so beschließen wer-
jegliches Verständnis. Man sollte in Klausur gehen und den!)
erkennen: So geht es nicht weiter. Sie haben die Chance, drei Wochen vorher etwas vorzu-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten legen. – Jetzt hätte es mal Beifall geben dürfen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
Jetzt hat der Neustart begonnen. Im Oktober sollen Wir müssen vor allen Dingen Schluss machen mit der
die ersten Testläufe stattfinden. Zum Wintersemester Ideologie der Bestenauslese. Ich habe den Satz von Ih-
2012/13 soll das ganze System in Betrieb gehen. Ein rem Staatssekretär Lange noch im Ohr, der gesagt hat:
paar Forderungen von uns sind erfüllt worden. Endlich Der NC ist eine Frage der Qualitätsauswahl. Machen Sie
ist ein Lenkungsausschuss eingesetzt worden. Klasse, Schluss mit dieser Mottenkiste, sonst kommen wir an
muss ich sagen; Hauptsache, man hat gelernt. Es hat aber dieser Stelle nicht weiter.
leider ein bisschen zu lange gedauert.
Wir brauchen endlich eine solide Bestandsaufnahme
Einen Notfallplan haben Sie leider nicht entwickelt. darüber, wie viele Studienplätze es gibt. Es kann doch
Die Studienplatzbörse, die nie richtig funktioniert hat, ist nicht sein, dass die KMK in ihrem Bericht zum Master-
auf dem alten Stand. Darum hat sich keiner gekümmert. bereich lapidar feststellt, dass es keine Kenntnis über die
Vor allen Dingen aber – das beunruhigt mich wirklich Anzahl bundesweit vorhandener Studienplätze gibt. Es
und, ich glaube, auch Frau Grütters; sie hat gestern im kann auch nicht sein, dass Sie nicht im Traum daran den-
Ausschuss entsprechende Andeutungen gemacht –: Man ken, eine solche Erhebung durchzuführen, weil sie mit
muss ernsthafte Zweifel haben, ob dieses System zum zu viel Bürokratie verbunden wäre. Das ist des Wissen-
Wintersemester 2012/2013 tatsächlich zum Einsatz schaftsstandorts Deutschland nicht würdig. Man muss
kommen kann, unter anderem deshalb, weil es wieder ei- doch eine vernünftige Ressourcenplanung machen kön-
nen unerträglichen Finanzierungsstreit gibt, diesmal um nen, und dafür braucht man eine empirische Basis.
5 Millionen Euro, die dem Unternehmen HIS zur Verfü-
gung gestellt werden sollen, damit es die alte Software (Beifall bei der SPD)
15094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: in der Lage ist. Den Notfallplan kann man daher aus un- (C)
Frau Kollegin. serer Sicht nur als weiße Salbe beschreiben.
Ich komme zum Antrag der Linken. Alle Welt spricht
Ulla Burchardt (SPD): von Vollbeschäftigung für Arbeitnehmerinnen und Ar-
Ich komme zum Schluss. – Wir brauchen ein Bundes- beitnehmer. Das ist ein redliches Ziel, völlig klar. Ge-
zulassungsgesetz und keine Wundertüte, wie die Linke nauso bedeutsam ist es natürlich, eine sogenannte Voll-
das verspricht. Wir brauchen solide, vernünftige Instru- beschäftigung für Studierwillige zu schaffen. Auch in
mente und empirische Daten, und zwar nicht nur, damit diesem Punkt sind wir uns einig.
man weiß, ob ausreichend Studienplätze zur Verfügung
stehen, sondern auch, damit man weiß, wie viele Stu- Doch es gibt auch gravierende Unterschiede; so be-
dienplätze es insgesamt gibt und wie viele Menschen ei- werten wir das zumindest. Sie sprechen von einem Heer
nen Studienplatz erhalten. von Studierwilligen. Die Zahlen zeigen, dass im letzten
Jahr weit über 10 000 zulassungsbeschränkte Studien-
Ich habe die dringende Bitte an die Ministerin und die plätze frei waren. Das entspricht einer Vakanz von 5 Pro-
Koalition: Machen Sie von Ihrer Kompetenz Gebrauch! zent und einer offensichtlichen Diskrepanz in Bezug auf
Sie haben im Zuge der Föderalismusreform zugestimmt, die Vermutung, dass Menschen, die studieren wollen,
dass der Bund die Kompetenz für die Zulassung hat. nicht studieren können. Die genannte Vakanz geht übri-
gens mit einer signifikanten Erhöhung der Studierenden-
Präsident Dr. Norbert Lammert: quote einher. Fast die Hälfte aller Schulabgänger des
Jahres 2010 begann mit einem Studium. Das ist ein
Frau Kollegin.
neuer Rekord. Das muss man an dieser Stelle würdigen.

Ulla Burchardt (SPD): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wenn Sie es nicht machen, dann werden wir es in An- Lassen Sie mich also feststellen: Wer studieren
griff nehmen. möchte, der kann das auch tun. Ich denke an Gespräche,
(Beifall bei der SPD – Patrick Meinhardt die ich zum Beispiel mit Handwerkskammerpräsidenten
[FDP]: Hat die SPD nicht zugestimmt?) führe. Sie sagen: Das ist in Ordnung. Der Weg ist richtig.
Wir brauchen Hochqualifizierte. – Auch das ist ein
Punkt, den es zu würdigen gilt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Martin Neumann ist der nächste Redner für die FDP- Weiter fordern Sie eine freie Studienplatzwahl an je-
der beliebigen Hochschule des Landes in jedem beliebi-
(B) Fraktion. gen Studiengang. Das haben Sie so geschrieben. Das (D)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) klingt ein bisschen nach „Wünsch dir was“. Der eine
oder andere Antrag, den Sie vorgelegt haben, hat diesen
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Anschein. Wenn man sich Ihre Anträge genauer an-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- schaut, dann muss man – Frau Gohlke, das muss ich an
nen und Kollegen! Ich möchte mich in meiner zur Verfü- dieser Stelle sagen – die Ernsthaftigkeit Ihrer Absicht in-
gung stehenden Zeit auf die Anträge von SPD und Lin- frage stellen.
ken zum Thema Hochschulzulassung konzentrieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Schauen wir uns die Anträge genau an. Wir sollten hin- der CDU/CSU – Dr. Rosemarie Hein [DIE
terfragen, wie die Probleme, die aufgezeigt werden, tat- LINKE]: Daran kann man sie erkennen!)
sächlich gelöst werden können.
Wenn man sämtliches Abstraktionsvermögen, über
Zum Antrag der SPD, in dem ein Notfallplan für die das man verfügt, einmal zusammennimmt und versucht,
Hochschulzulassung gefordert wird. Es ist klar – Frau ein Ziel herauszuarbeiten, dann stellen sich gleich meh-
Burchardt hat das eben deutlich gemacht –, dass das Ver- rere Fragen. Sie forderten gestern in diesem Hohen Haus
schieben des Starts des dialogorientierten Zulassungs- mehr Planungssicherheit für wissenschaftliche Mitarbei-
verfahrens mehr als nur ärgerlich ist. Darüber sind wir terinnen und Mitarbeiter sowie für Wissenschaftler. Sie
uns einig. Wir haben über die verschiedenen Ursachen, wollen also de facto weniger Zeitarbeit und weniger be-
zum Beispiel die Softwareprobleme, diskutiert. Wir ge- fristete Arbeitsverträge auf diesem Gebiet.
hen davon aus, dass alles geklärt werden kann. Allen Be-
teiligten ist klar, dass eine große Aufgabe vor uns liegt, (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Genau!)
die aber erfüllt werden kann. So weit, so gut. Das erfordert aber – jetzt kommen wir
Der Notfallplan und die damit verbundenen konkre- auf den Punkt – Planungssicherheit für die Hochschulen.
ten Forderungen an den Bund können nicht allein vom Wie sollen die Hochschulen das denn machen?
Bund erfüllt werden. Das muss man deutlich sagen. Hier (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das erfordert
hilft nur – das ist wichtig hervorzuheben – eine gemein- die Ausfinanzierung der Hochschulen!)
same Kraftanstrengung der Länder, der Stiftung für
Hochschulzulassung und der beteiligten Hochschulen. – Liebe Frau Gohlke, ohne entsprechende Steuerung
Der Bund hat vieles gemacht, vor allen Dingen hat er das käme jedes Jahr eine unbekannte Zahl an Studienanfän-
gemacht, wozu er rechtlich und insbesondere finanziell gern an die Hochschulen oder eben nicht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15095
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
(A) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das weiß man Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
vorher überhaupt nicht, wie viele Abiturienten Nein, eben nicht. Aber für eine schöne Schlussformel
wir haben!) reicht es allemal.
Umso wichtiger wäre es in dem Fall für Hochschulen, je
nach Bedarf Personal einstellen zu können und nicht be- Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
nötigte Kapazitäten abzuwickeln. Letztere Alternative Die Opposition schafft Studienbeiträge ab, spart kate-
stellt im Übrigen ein Problem dar. Werden weniger gorisch am falschen Ende und wirft uns dann vor, wir
populäre Universitäten nicht mehr so stark frequentiert, würden die Studierenden im Stich lassen.
dann müssten dort Stellen abgebaut werden. Ich weiß, das wollen Sie nicht hören, aber ich sage es
Aus Zeitgründen möchte ich nur ganz kurz auf das noch einmal ganz deutlich an dieser Stelle: Knapp die
Bundeshochschulzulassungsgesetz eingehen. Sie fordern Hälfte aller Deutschen hält Studienbeiträge für ein pro-
damit etwas heraus. Das muss Ihnen bewusst sein. Wir bates Mittel zur Studienfinanzierung. Mit einem durch-
wollen die Autonomie der Hochschulen. Wir sehen das dachten System dahinter können gute und auch sozial-
als einen sehr wichtigen Punkt an, weil damit in einem verträgliche Erfolge erzielt werden.
gewissen Sinne Freiheit für Wissenschaft entwickelt (Beifall bei der FDP – Ulla Burchardt [SPD]:
werden kann. Diese Forderung, die Sie gestellt haben, Deshalb sind Sie in Nordrhein-Westfalen ab-
werden wir von der FDP nicht mittragen. gewählt worden!)
Nun noch zu einer Behauptung, die Sie immer wieder Zum Abschluss noch ein Zitat von Herrn Brecht, der
anführen, nämlich zum angeblichen Mangel an Master- einst so treffend schrieb:
studienplätzen an deutschen Hochschulen. Ich will es an
dieser Stelle noch einmal ganz deutlich sagen. Wir haben Wer A sagt, muß nicht B sagen. Er kann auch er-
in Deutschland keinen Mangel an Masterstudienplätzen. kennen, daß A falsch war.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Da sind Sie Dann erkennen Sie es endlich!)
aber falsch informiert!) In diesem Sinne lege ich Ihnen nahe, Ihre Haltung zu
90 Prozent der Bachelorabsolventen 2009, die ein Mas- den eben genannten Punkten noch einmal zu überdenken
terstudium aufgenommen haben, gaben an, sowohl ihr und sie in ein nicht so ganz weltfremdes Licht zu rücken.
Wunschfach als auch einen Platz an ihrer Wunschhoch- Ich bedanke mich.
schule bekommen zu haben.
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D)
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört!
Hört!) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Drei Viertel aller Masterstudiengänge sind nicht mit Das Wort erhält nun die Kollegin Monika Grütters für
einem Numerus clausus belegt. Selbst bei den örtlich zu- die CDU/CSU-Fraktion.
lassungsbeschränkten Fächern blieben nach Ende des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Nachrückverfahrens
(Ulla Burchardt [SPD]: Sonstige Zulassungs- Monika Grütters (CDU/CSU):
beschränkungen sind in der Statistik gar nicht Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
erfasst!) Herren! Kolleginnen und Kollegen! Für Sie und nicht
zuletzt die jungen und anderen Zuhörer oben auf den
– Frau Burchardt, hören Sie doch erst einmal zu – fast Tribünen möchte ich noch einmal sagen: 40 Jahre
20 Prozent der Plätze frei. Wie erklären Sie das? BAföG sind eigentlich ein freudiger und guter Anlass für
(Ulla Burchardt [SPD]: Durch die Zulassungs- eine Plenardebatte.
regeln!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
Nicht alle Bachelorabsolventen – an dieser Stelle und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
komme ich auf den Sinn von Bologna zu sprechen; das – Das sehen wir alle gemeinsam so; auch das ist bemer-
dürfen wir nicht vergessen – streben einen Masterab- kenswert. – BAföG ist immerhin eines der weltweit er-
schluss an. Dies anzunehmen beweist wieder einmal Ihr folgreichsten Studienfördermodelle, um das wir von vie-
völlig falsches Verständnis des neuen Studiensystems. len anderen Ländern beneidet werden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das sagt kei- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ner!)
Es ist richtig, dass die Opposition und wir die Gunst
Sie verdrehen den Sinn des Bologna-Prozesses. der Stunde nutzen, um noch einmal über das leidige
(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Mit Absicht!) Thema Hochschulzulassung zu diskutieren. Frau
Burchardt hat natürlich recht: Die Situation ist zum Ver-
Ich stelle gerade fest, dass die Zeit etwas knapp wird. zweifeln; auch das eint uns leider. Wir haben im Plenum
Ich habe noch eine Minute. – das letzte Mal, glaube ich, im Frühjahr – und immer
15096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Monika Grütters
(A) wieder in den Ausschüssen, inklusive Anhörungen, da- (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Die Studieren- (C)
rüber sprechen müssen: Der Bund hat jenseits aller Zu- den in den Mittelpunkt stellen!)
ständigkeiten mit seiner Unterstützung in Form der Anfi-
Ich finde es nämlich unverantwortlich, wenn Sie auf
nanzierung in Höhe von 15 Millionen Euro – um die wir
diese Weise vor allen Dingen eines zur Disposition stel-
ringen mussten; aber diese Maßnahme war sicher rich-
len: die Autonomie der Hochschulen. Diese Autonomie
tig – seinerseits das Notwendige getan, um die Situation
gilt bei Ihnen offensichtlich reichlich wenig.
für die Studierenden maßgeblich zu verbessern: mit der
Möglichkeit, maximal 12 Studienwünsche anzugeben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
und durch die Möglichkeit der Kombination von Fach Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Es geht darum,
und Studienort die Suche wesentlich zu erleichtern. Es dass die Studierenden wählen dürfen!)
geht immerhin um nicht weniger als eine Entscheidung
für den künftigen Lebensweg. Insofern ist das keine Sie wäre das erste Opfer einer linken Hochschulpolitik.
Kleinigkeit, sondern ein zentraler Punkt der Hochschul- In diesem Zusammenhang erlaube ich mir einen Blick
politik. in das Hochschulgesetz des soeben abgewählten rot-
roten Senats in Berlin. Dieses Gesetz hat immerhin der
Aber: Selbst wenn das dialogorientierte Servicever-
Präsident der FU beklagt. Die kleinteilige und bürokrati-
fahren für die Hochschulzulassung derart stolpert, soll-
sche Gängelung könne er nicht mögen. Und der Präsi-
ten wir es jetzt noch nicht totreden und nicht infrage stel-
dent der Universität der Künste, Martin Rennert – der
len.
nicht verdächtig ist, ein Bürgerlicher zu sein –, hat das
(Ulla Burchardt [SPD]: Das tut ja keiner!) Gesetz schlichtweg als Misstrauensvotum des Senats ge-
genüber den Hochschulen bezeichnet.
Liebe Frau Gohlke, ich glaube, dass selbst die Piraten
Softwareprobleme nicht einfach wegbellen können. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Aber es gibt
auch politische Probleme!) Die Anträge von Linkspartei und SPD, die Hoch-
schulzulassung durch ein Bundesgesetz zu regeln, zei-
Sie können sich natürlich hier hinstellen und fordern, das gen keine Möglichkeit auf, wie es in dem Bereich berg-
Chaos gefälligst mal eben zu beseitigen. Es geht aber auf gehen könnte, sondern spiegeln Ihren Wunsch nach
schließlich nicht um politische Maßnahmen, sondern um Zentralismus und staatsgläubiger, kleinlicher Gängelung
Computerprobleme. wider. Das können wir nicht haben. Die Entmündigung
Die SPD fordert, dass wir eine Taskforce Hochschul- der deutschen Hochschulen wird es jedenfalls mit der
zulassung einrichten sollen. Da kann ich nur fragen: Was christlich-liberalen Koalition nicht geben. Wir glauben
(B) (D)
versprechen Sie sich von einer solchen Bundessteue- nach wie vor, dass die Hochschulen am besten wissen,
rung? Die steht uns weder zu, noch wird sie angestrebt, wie sie bei der Auswahl der Studierenden qualitätsorien-
noch könnten wir sie ausfüllen, tiert und sozial ausgewogen agieren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zur Forderung der SPD, die Deckelung des Hoch-
schulpakts 2020 aufzuheben und einen „Hochschulpakt
weil die Verantwortung für das Gelingen des neuen Ver- Plus“ zu etablieren, möchte ich wissen: Wie sehen das
fahrens formal und materiell bei den Ländern, bei der denn Ihre Ministerpräsidenten? Da käme doch eine er-
Stiftung, bei den Hochschulen und bei den Vertragspart- hebliche finanzielle Mehrbelastung nicht zuletzt auf
nern liegt. Wir sind keine KMK-Dompteure, wir sind Nordrhein-Westfalen zu. Herr Gehring, Sie wagen sich
auch keine HRK-Feuerwehr. sogar so weit vor, zu sagen: Wir fordern bis 2015 min-
(Ulla Burchardt [SPD]: Aber Beteiligte!) destens 400 000 zusätzliche Studienplätze. Die Zahl von
zusätzlich 335 000 Plätzen bis 2015 haben wir ja nicht
Übrigens nimmt der Bund seinen Sitz in dem Gremium willkürlich gegriffen. Sie beruhte auf einer Berechnung
natürlich wahr, selbst wenn er nicht stimmberechtigt ist. der KMK.
Es wäre frech, das hier in Abrede zu stellen. Mit Geset-
zen lassen sich Softwareprobleme eben nicht lösen; (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das war eine glatte Fehlprognose! Es sind ja
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) doppelt so viele gekommen wie prognosti-
im Übrigen auch nicht durch ein Bundeszulassungs- ziert!)
gesetz. Wir haben immer gesagt: Wenn es mehr werden, finan-
(Ulla Burchardt [SPD]: Das sagt auch keiner!) zieren wir diese nachlaufend nach zwei Jahren nach; so
haben wir das auch im Hinblick auf den Hochschulpakt I
Frau Gohlke, in Ihrem Antrag steht noch ein anderer gemacht. Ich finde es verwegen, hier irgendwelche Zah-
bemerkenswerter Satz, nämlich: len in den Raum zu stellen.
Der Ansatz, dass die Hochschulen selbst die aus ih- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai
rer Sicht besten Studieninteressierten auswählen Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber
sollen, muss als gescheitert betrachtet werden … man braucht doch realistische Prognosen!)
Darüber kann man sich jetzt lange streiten. Was aber die Ich will Sie nur davor warnen, unsere Zahlen durch ei-
politische Aussage dabei ist, möchte ich nicht verhehlen. gene Spekulationen zu überbieten. Denn diese Zahlen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15097
Monika Grütters
(A) sind wahrscheinlich nicht stichhaltig. Das gemeinsam Ich finde: Das ist auch gut so. (C)
von Bund und Ländern vereinbarte System zur Finanzie-
rung – zwei Jahre nachlaufend, weil dann die Zahlen Vielen Dank.
feststehen – ist doch besser, als neue Zahlen in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Raum zu stellen.
Ich darf Sie daran erinnern, dass diese Regierung den Präsident Dr. Norbert Lammert:
Etat des BMBF um satte 54 Prozent gesteigert hat. Nächster Redner ist der Kollege Rossmann für die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) SPD-Fraktion.

Wenn wir uns trotz der verfassungsrechtlichen Zuständig- (Beifall bei der SPD)
keiten mit den Ländern auf einen „Hochschulpakt ohne
Grenzen“, den die Opposition fordert, einigen würden, Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
glaube ich, dass er möglicherweise die SPD- und Grünen- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
geführten Landesregierungen überfordern würde. Schön Frau Gohlke hat am Anfang ihrer Rede das 40-jährige
wäre es, wenn das Stichwort von dieser Seite gekommen Jubiläum des BAföG in den Mittelpunkt gestellt. Ich
wäre. Aber auch in Berlin, lieber Herr Kollege Schulz, möchte dies gerne aufgreifen: Das BAföG ist wie eine
muss man erst einmal um jede Komplementärfinanzie- Katze, die einfach nicht kleinzukriegen ist. Es ist richtig
rung – so auch bei Exzellenzinitiative und Hochschul- stabil und ist immer wieder aufgestanden. Es verdient,
pakt – betteln. auch die nächsten zehn Jahre eine gute Perspektive zu
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ja, warum ist haben. Was sind die Anforderungen dafür?
Berlin denn pleite? Da hat die CDU ja wohl Die erste Anforderung ist sicherlich – Herr
ein paar Aktien drin! – Widerspruch bei der Kaufmann, uns hat es gefreut, dass auch Sie das in den
CDU/CSU und der FDP) Mittelpunkt gestellt haben –, dass wir zu den Zahlen aus
– Berlin hat 62 Milliarden Euro Schulden. Das war kein dem Jahre 1971 zurückkommen. Damals wurden 45 Pro-
gutes Stichwort, Herr Schulz. zent der Schüler und Studierenden durch das BAföG ge-
fördert. Aktuell sind es nur noch 25 Prozent. Selbst wenn
wir den Anteil von 45 Prozent so schnell nicht erreichen,
Präsident Dr. Norbert Lammert: sollte es unser gemeinsames Ziel sein, zum 50-jährigen
Einen Augenblick! Für die Verlängerung des Berliner Jubiläum auf 35 Prozent zu kommen. Das wäre schon et-
Wahlkampfes ist jetzt weder Anlass noch Zeit. Die Kol- was. Wenn wir gut sind, kommen wir vielleicht auch auf
legin sollte Gelegenheit bekommen, ihre Rede zu Ende 40 Prozent.
(B) (D)
zu führen.
Wir müssen an dem Ansatz festhalten, die Freibeträge
hochzusetzen. Auf diese Weise können auch weitere Be-
Monika Grütters (CDU/CSU):
völkerungskreise aus dem Grenzbereich zwischen Nicht-
Das stimmt. Ich bringe meine Rede zu Ende. Aller-
gutverdienenden und der Mittelschicht vom BAföG pro-
dings sind Schulden in Höhe von 62 Milliarden Euro
fitieren. Das war schon bei der letzten Debatte unser
nach zehn Jahren unter Rot-Rot eine eindeutige Antwort
Anliegen. Sie sind dem noch nicht nachgekommen. Wir
auf Ihre Frage, Herr Schulz.
freuen uns aber über alle, die dazulernen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der zweite Punkt ist, dass wir Ihre Aufmerksamkeit
Wir haben dem Qualitätspakt für die Lehre zusätzli- auf etwas richten wollen, das das BAföG damals stark
che 2 Milliarden Euro an Bundesgeldern zugeführt. Wir gemacht hat: Es gab auch eine Förderung für Schülerin-
haben einen Rekordetat für den Bildungsbereich mög- nen und Schüler, selbst wenn diese noch zu Hause wohn-
lich gemacht. Wir verbessern damit die Situation der ten. Man wollte anhand des BAföG die bildungsfernen
Studierenden nachhaltig. Wir arbeiten am Erreichen des Schichten für höhere Studien- und Bildungsperspektiven
10-Prozent-Ziels und an der Weiterentwicklung Deutsch- gewinnen. Diese Schülerförderung müssen wir wieder
lands zu einer Bildungsrepublik. Sie sollten weder die aufnehmen.
Erhöhung der Bundeszuschüsse zu den Begabtenförde-
rungswerken noch das Deutschlandstipendium schlecht- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Nicole
reden. Gohlke [DIE LINKE])

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir müssen das BAföG an die veränderten sozialen
Das ist einfach schlecht!) Bedingungen anpassen. Damals war es – das ist nicht
diskriminierend gemeint – das katholische Arbeitermäd-
Sie sollten auch die BAföG-Erhöhung dieser Regierung chen vom Lande, das man durch die BAföG-Förderung
nicht schlechtmachen. für weiterführende Bildung gewinnen wollte. Heute ist
es der eingewanderte Jugendliche aus Duisburg, der vor
Eines haben wir damit doch schließlich gemeinsam er-
folgende Frage gestellt wird: Mache ich eine Berufsaus-
reicht: Noch nie gab es so viele junge studierende Men-
bildung und verdiene schnell Geld, oder nehme ich ein
schen in Deutschland. Noch nie wurden so viele vom
Studium in Angriff? Er könnte dann über die Oberstu-
Bund und von den Ländern gefördert.
fenfinanzierung seine Schulausbildung weiterführen und
(Uta Zapf [SPD]: Trotz dieser Regierung!) danach sogar ein Studium aufnehmen. Vor diesem Hin-
15098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) tergrund sollten Sie einmal ernsthaft darüber nachden- Es wäre ein erster Weg, um ein Bildungsgeld zu finan- (C)
ken. zieren, ohne dass die Mittel aufgestockt werden müssten.
Wenn das Kindergeld an die erwachsenen Kinder ge-
Drittens. Das BAföG, das vor 40 Jahren aktuell war, zahlt würde, würde das ihre Emanzipation befördern.
muss sich auf neue Studienstrukturen einstellen. Ange-
sichts der heutigen Bachelor- und Masterstruktur muss (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
es eine Anpassung geben, zum einen durch Einführung Das ist doch unser Modell!)
einer Förderung ohne Unterbrechung für den Übergang Weil SPD und Grüne dies nicht allein schaffen, werben
vom Bachelor zum Master, zum anderen durch eine
wir jetzt dafür, dass auch die anderen das voranbringen.
deutliche Anhebung, wenn nicht gar einen Wegfall der
Altersgrenzen; wir wollen doch gerade den Wechsel (Ulla Burchardt [SPD]: Noch nicht!)
zwischen Studium und Arbeit fördern, aber das funktio-
– Wir schaffen es auch deshalb nicht, weil wir im gesam-
niert mit einer Altersbegrenzung nicht.
ten Bildungsförderungsverfahren des nächsten Jahr-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) zehnts – es gibt die Perspektive eines Bildungsgesetzbu-
ches – die Unterstützung der anderen Seite im Bundesrat
Es muss auch in Bezug auf die Teilzeitstudiengänge brauchen.
eine Verbesserung geben. Wir leben in einer Zeit, in der
vermehrt Teilzeitstudiengänge aufgenommen werden; Ich will ausdrücklich Herrn Brandl unterstützen, der
aber dies bildet sich noch nicht im BAföG ab. Dement- perspektivisch fragte: Wie sieht das BAföG im Jahr
sprechend müssten Aufstockungsbeträge für Teilzeitstu- 2021, beim 50. Geburtstag des BAföG, aus? Wenn wir
denten hinzukommen. ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass es 2002 unter
Rot-Grün mit der Deckelung der Darlehen und der
Eine weitere neue Dimension: Wir haben gemeinsam Nichtanrechnung des Kindergeldes eine deutliche Ver-
in der Großen Koalition die Anerkennung von Kinderer- besserung gegeben hat.
ziehungszeiten beim BAföG deutlich verbessert, aber
noch nicht die Pflegeverantwortung berücksichtigt, die (Ulla Burchardt [SPD]: Ja!)
Menschen möglicherweise tragen, wenn sie – vielleicht 2008 hat es unter Schwarz-Rot mit der Aufstockung der
sogar in einem höheren Alter – im Studium sind. Auch Freibeträge um 10 Prozentpunkte – das war der
das muss integriert werden; es ist eine neue soziale Qua- Struck’sche Kampf, den wir erfolgreich mit Ihnen führen
lität, die sich im BAföG wiederfinden sollte. konnten – und der besseren Anerkennung für studie-
Viertens. Das BAföG hat durch das Meister-BAföG rende Eltern deutliche Verbesserungen gegeben.
eine Erweiterung erhalten. Wenn wir darüber nachden- (Zuruf des Abg. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/
(B) ken, müssen wir anerkennen, dass wir auch beim (D)
CSU])
Meister-BAföG zu weiteren Verbesserungen kommen
müssen, unter anderem bei der Maßnahmenförderung. – Herr Kaufmann, wenn wir es bis 2021 schaffen, dass
Andererseits muss das vielleicht heißen, dass jemand, 35 Prozent der Studierenden mit BAföG gefördert wer-
der spät einen Masterstudiengang anfängt, auch eine den, und die neuen Bedingungen des Bachelors und des
Maßnahmenförderung erhält; aktuell müsste er den Le- Masters, die Anerkennung der Pflegeverantwortung und
bensunterhalt während des Studiums alleine tragen. die europäische Dimension einarbeiten, dann soll einem
um das BAföG nicht bange sein.
Es gibt also genügend konkrete Sacharbeit beim
BAföG, die wir im Hinblick auf die „Perspektive Bil-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
dung 2021“ zu leisten haben. Das gilt umso mehr, als die
ganze europäische Dimension 2021 viel virulenter sein Herr Kollege.
wird, als sie 1971 war. Wenn man die europäische Per-
spektive einnimmt, dann erkennt man, dass es in Europa Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
bei der Studienförderung zwei Denkschulen gibt: zum Dann haben wir hier bei der Bildungsförderung in
einen die skandinavische Denkschule – Elternunabhän- Deutschland nicht nur eine stabile, stressresistente
gigkeit –, zum anderen die angelsächsische Denkschule, Katze, sondern auch eine richtig schöne Katze.
nach der das Studium von den Betroffenen selbst finan-
Danke.
ziert wird. Wir in Deutschland haben zum Glück eine
Affinität zum skandinavischen Modell, aber noch nicht (Beifall bei der SPD)
in Bezug auf die Elternunabhängigkeit der Förderung,
die von den Grünen immer wieder eingefordert wird. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Es ist natürlich ein gewaltiger Schritt, ein solches Das Wort erhält nun der Kollege Axel Knoerig für die
Fundament, ein Bildungsgeld, zu finanzieren. Können CDU/CSU-Fraktion.
wir nicht darüber nachdenken, ob es eine Plausibilität (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dafür gibt, das Kindergeld für über 18-Jährige, das bis-
her an die Eltern gezahlt wird, stattdessen an die erwach-
Axel Knoerig (CDU/CSU):
senen Kinder zu zahlen?
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Genau das ist doch das grüne Modell!) Das 40. Jubiläum des BAföG ist ein Anlass, dieses Ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15099
Axel Knoerig
(A) setz zunächst einmal zu würdigen. Es hat den berufli- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja!) (C)
chen Werdegang vieler junger Menschen erheblich er-
leichtert bzw. überhaupt erst möglich gemacht. Darüber hinaus zahlen sie Steuern und Sozialabgaben
Insbesondere Kindern aus einkommensschwächeren Fa- und finanzieren so die Vollzeitstudenten mit. Allein an
milien hat dieses Gesetz die Tür zu einer akademischen der größten Privathochschule in unserem Land studieren
Laufbahn geöffnet. Wir sollten auch erwähnen: Für viele auf diese Weise über 17 000 junge Menschen ausbil-
Abgeordnete des Deutschen Bundestages ist das BAföG dungs- und vor allem berufsbegleitend. Ich meine die
Teil der persönlichen Lebensgeschichte. FOM Hochschule für Oekonomie & Management ge-
meinnützige GmbH mit über 20 Studienzentren in
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Deutschland.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
Diese Studierenden sind in gewisser Weise die akade-
Patrick Meinhardt [FDP])
mischen Lastenträger unserer Bildungspolitik; denn ab-
Es gibt ganz prominente Mitglieder des Hauses, die gesehen von der steuerlichen Absetzbarkeit ihrer Stu-
BAföG erhalten haben; damit ist viel gesagt. dienbeiträge fördern wir sie nicht, und das, obwohl ihre
Chancen am Arbeitsmarkt hervorragend sind. Es gibt
In Ergänzung zu meinen Vorrednern möchte ich mich viele Studien, die ausweisen, dass das berufsbegleitende
der Wirkung dieses Gesetzes und der Idee, die ihm zu- Studieren eine ideale Verbindung von Theorie und Pra-
grunde liegt, widmen. Dabei möchte ich vor allem die xis ist.
wirtschaftlichen Aspekte beleuchten. Grundlage war be-
kanntermaßen das Wissen um die Notwendigkeit, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des
geistigen Ressourcen in unserer Volkswirtschaft zu för- Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])
dern. Die staatliche Förderung von Bildung fließt in die
Die Situation beim sogenannten Meister-BAföG sieht
Kosten-Nutzen-Rechnung eines jeden Einzelnen ein.
ähnlich aus. Der Kollege von der SPD hat das zu Recht
Wir sollten uns einmal anschauen, wie die Rechnung angesprochen. Auch hier wird dieses Jahr ein kleines
ohne BAföG aussieht. Sich über ein Studium zu bilden, Jubiläum gefeiert: 1996, vor 15 Jahren, wurde das
ist für den Studenten mit verschiedenen Kosten verbun- Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz – schwieriges
den. Da sind einmal die Kosten für die Ausbildung Wort – verabschiedet. Junge Menschen, die nach der
selbst. Hinzu kommt der Ausfall des Verdienstes aus ei- Schule eine berufliche Ausbildung erfolgreich abschlie-
ner anderen, oft geringer qualifizierten Tätigkeit, der ßen, erwerben dadurch einen Rechtsanspruch auf staatli-
man sonst nachgegangen wäre. Diesen Kosten steht die che Unterstützung, wenn sie sich beruflich weiterqualifi-
Differenz zwischen dem erwarteten, höheren Einkom- zieren wollen. Diese Förderung ist – das sollten wir
(B) men nach dem Studium und dem Einkommen, das man herausstellen – von Einkommen und Vermögen unab- (D)
ohne akademischen Abschluss beziehen würde, also der hängig. 166 000 berufstätige Menschen wurden im ver-
mögliche Mehrverdienst aufgrund höherer Bildung, ge- gangenen Jahr mit Meister-BaföG-Leistungen gefördert.
genüber. Es ist erwähnenswert, dass der Wert der Per- Diese Zahl steigt weiter an.
sönlichkeitsentwicklung, die man durch ein Studium er- Vor dem Hintergrund, dass Fachkräfte aus den Berei-
fährt, einen besonderen Stellenwert hat. chen Industrie, Handel, Dienstleistungen und Handwerk
Das Gesetz leistet somit einen sinnvollen Beitrag zur in unserer Wirtschaft eine essenzielle Aufgabe erfüllen,
Wohlfahrt unserer Volkswirtschaft. Ohne BAföG ent- halte ich das Meister-BAföG für besonders förderungs-
ginge der Allgemeinheit der Wohlstandsbeitrag, der spä- würdig. Das ist insbesondere zu berücksichtigen, wenn
ter von dem Geförderten geschaffen wird. Dieser schlägt man über den Ausbau der Maßnahmen reden möchte.
sich unter anderem in höheren Steuerzahlungen nieder. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich möchte Ihnen aber auch eine andere Betrach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
tungsweise nahebringen: Die BAföG-Leistungen müs- bei Abgeordneten der SPD)
sen von Steuerzahlern aufgebracht werden. Diese sind
durchaus für die oben dargelegte Argumentation zu ge-
winnen, auch dann, wenn sie selbst keine Akademiker Präsident Dr. Norbert Lammert:
sind. Allerdings ist ihnen nicht zu vermitteln, dass derje- Ich bedanke mich für die vorbildliche Nichtinan-
nige, der später meist mehr verdient, seine Ausbildung, spruchnahme einer vorhandenen Redezeit. Ich nehme
wie von der Fraktion Die Linke gefordert, voll staatsbe- das als leuchtendes Beispiel zu Protokoll.
zuschusst und darlehensfrei erhalten soll. Ich frage Sie: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Warum soll nicht weiterhin ein Teil der Ausbildungskos- Kollege Philipp Murmann für die CDU/CSU-Fraktion.
ten zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Geförderte in
seinem Beruf tätig ist, zurückgezahlt werden? Das ist für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mich nicht nachvollziehbar, insbesondere nicht vor dem
Hintergrund, dass es eine Gruppe von Studierenden gibt, Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU):
die von uns zu wenig gewürdigt wird. Das sind diejeni- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
gen, die berufsbegleitend studieren und deswegen auch Kollegen! Ich werde versuchen, vier Höhepunkte in
kein BAföG erhalten. Wenn ihre Studiengebühren nicht meine Rede einzubauen.
vom Arbeitgeber übernommen werden, müssen sie
durchweg fast alle Kosten tragen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
15100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dr. Philipp Murmann


(A) Erstens. Nicht nur in Unternehmen, sondern auch in Zum dritten Aspekt: das geforderte Bundeshoch- (C)
der Politik gilt: Wer Erfolg haben will, braucht klare schulzulassungsgesetz. Liebe Kolleginnen und Kolle-
Ziele und Prioritäten. 10 Prozent des Bruttoinlandspro- gen an der linken Außenlinie, der Bund soll und kann im
duktes für Bildung und Forschung, das ist ein mutiges Alleingang keine Regelung beim Hochschulzugang tref-
und klares Ziel, wie es vor uns niemand so klar formu- fen.
liert hat.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
der FDP)
Dies würde einen Angriff auf die Autonomie der Hoch-
Das macht deutlich: Bildung und Forschung haben
schulen darstellen. Das wollen wir nicht, und das ma-
klare Priorität in unserer Politik. Wenn etwas Priorität
chen wir auch nicht mit. Wir wollen eigenständige
hat, dann muss dies auch erkennbar sein. 6 Milliarden
Hochschulen; denn nur eigenständige Hochschulen sind
Euro mehr für Bildung – davon übrigens ein großer Teil
der Garant für hohe Qualität.
für das BAföG – und 6 Milliarden Euro mehr für For-
schung, das verbessert die Chancen für unsere Jugend (Beifall der Abg. Sylvia Canel [FDP])
und für unser Land. Wo stehen wir heute? In 2010 liegen
wir bereits bei 9,3 Prozent, und das bei einem steigenden Wenn Sie eine Garantie für einen Masterstudienplatz
Bruttoinlandsprodukt. Im Forschungsbereich – dort ha- geben wollen, so können Sie das ja in Brandenburg, einem
ben wir das 3-Prozent-Ziel – liegen wir zum ersten Mal der letzten Bundesländer, in denen Sie noch mitregieren,
bei über 2,8 Prozent; denn nicht nur der Staat, sondern einführen. Dann werden Sie sehen, dass das keinen Erfolg
auch die Unternehmen haben ihre Forschungsanstren- hat. Man muss auch klar darauf hinweisen: Es gibt einen
gungen erhöht. Das macht sich bemerkbar: Starke Unter- diskriminierungsfreien Zugang zum Masterstudium. Die-
nehmen bedeuten starke Wirtschaft, geringe Arbeitslo- ser Zugang wird an transparente Leistungskriterien ge-
sigkeit, steigende Löhne, steigende Zahlen der knüpft. Das ist gut so; denn nur das Leistungsprinzip ga-
Auszubildenden und nicht zuletzt steigende Steuerein- rantiert eine hohe Qualität des Masterabschlusses, und
nahmen. Das ist nicht nur Glück, sondern auch das Er- diese Qualität brauchen wir. Deshalb ist Ihr Antrag, in
gebnis einer Politik mit klaren Prioritäten. dem eine reine Garantie für einen Masterstudienplatz ge-
fordert wird, auf keinen Fall zustimmungsfähig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Und der Ab- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
schaffung der Eigenheimzulage!) neten der FDP)
– Menschlich kann ich natürlich verstehen, dass sich bei
(B) Nun zu meinem vierten Punkt. Bildungspolitik lebt (D)
dem einen oder der anderen aus der Opposition ein we-
natürlich nicht nur von Zahlen, Bildungspolitik lebt auch
nig Neid einschleicht.
von Vorbildern. Vorgestern waren die Preisträger des
(Horst Meierhofer [FDP]: Ich kann es sogar diesjährigen „Jugend forscht“-Wettbewerbs bei der Bun-
politisch verstehen!) deskanzlerin. Zum ersten Mal haben sich mehr als
10 000 Schülerinnen und Schüler bei „Jugend forscht“
– Politisch können wir es auch verstehen.
angemeldet, mehr als je zuvor. Auf der Tribüne sitzen ei-
Zweiter Punkt: das BAföG. Wir feiern heute Geburts- nige junge Menschen; vielleicht war der eine oder an-
tag; das soll auch so sein. Mit 1,5 Milliarden Euro ist es dere von euch dabei.
der größte Einzeltitel in unserem Bildungshaushalt. Das
begrüßen wir alle, wenn auch mit unterschiedlicher Aus- (Beifall der Abg. Monika Grütters [CDU/
prägung. Zu Recht ist das BAföG eine wichtige Säule CSU])
der Bildungspolitik, aber das BAföG ist keine sozialisti-
Wenn Sie sich diese jungen Menschen anschauen, dann
sche Wunderwaffe, wie Sie es uns manchmal glauben
kommt Begeisterung auf. Sie stellen sich Fragen und su-
machen wollen. Es ist ein wichtiges Instrument im In-
chen Antworten. Sie sind interessiert und setzen sich ein.
strumentenkasten. Bei aller Euphorie über die hohe Zahl
Sie arbeiten selbstständig und häufig gemeinschaftlich.
der Studienanfänger – die Quote liegt bei 46 Prozent; da-
Sie trauen sich etwas zu und haben Spaß am Wettbe-
rüber freuen wir uns alle –, müssen wir zur Kenntnis
werb. Sie geben nicht auf, bis sie Lösungen gefunden ha-
nehmen, dass die Absolventenquote immer noch unter
ben. Wenn ich die Begeisterung dieser jungen Leute
30 Prozent liegt. Diese Zahl gilt es jetzt anzugehen. Wir
sehe, dann weiß ich: Wir sind bei Bildung und For-
brauchen nicht noch mehr Studienanfänger, wir brau-
schung auf einem richtigen und guten Weg.
chen mehr Absolventen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zum Schluss. Die Zahlen sprechen eine deutliche
Sprache. Wir alle haben sie heute gehört. Deswegen
Dies gilt ganz besonders in diesem Jahr, in dem der kann ich nicht verstehen, warum man mit so vielen An-
demografische Wandel zum ersten Mal richtig zuschlägt. trägen – es liegen vier Anträge vor – den Geburtstag des
Für 100 Akademiker, die in den Ruhestand gehen, kom- BAföG ein bisschen an den Rand schiebt.
men nur 90 nach. Das wird eine Wachstumsbremse; da-
rum müssen wir uns jetzt kümmern. Deswegen werden (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
die Studienberatung und der Qualitätspakt Lehre zukünf- Ohne die Anträge hätten wir gar nicht darüber
tig sehr hohe und klare Priorität haben. debattiert!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15101
Dr. Philipp Murmann
(A) Solche undurchdachten, unfinanzierbaren, undurchführ- Berichterstattung: (C)
baren und zum Teil auch rechtlich gar nicht umsetzbaren Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Forderungen können wir nicht unterstützen. Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Wir wollen klare Linien. Irrwege werden wir nicht Roland Claus
mitgehen. Wir lehnen sie ab und bleiben bei unserem Priska Hinz (Herborn)
Ziel: Vorfahrt für Bildung und Forschung. Das ist das
Markenzeichen der Politik dieser Bundesregierung. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
Herzlichen Dank. (11. Ausschuss)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Mast,
Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie Gabriele Lösekrug-Möller, Anette Kramme,
fahren aber immer in eine Sackgasse damit!) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Arbeitsmarktpolitik an den Herausforde-
Ich schließe die Aussprache. rungen der Zeit orientieren – Weichen für
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen gute Arbeit, Vollbeschäftigung und Fach-
auf den Drucksachen 17/6372 und 17/7026 an die in der kräftesicherung stellen
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Dazu gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann sind die Zimmermann, Agnes Alpers, Jutta Krellmann,
Überweisungen so beschlossen. weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Tagesordnungspunkt 29 c. Hier geht es um die Ab- LINKE
stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus- Arbeitsmarktpolitik neu ausrichten und
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- nachhaltig finanzieren
zung auf der Drucksache 17/7051.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der SPD- Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
Fraktion auf der Drucksache 17/5899 mit dem Titel tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
„Notfallplan für die Hochschulzulassung zum Winterse-
Arbeitsmarktpolitik – In Beschäftigung und
(B) mester 2011/2012 jetzt starten“. Wer stimmt für diese Perspektiven investieren statt Chancen kür- (D)
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist zen
mit Mehrheit angenommen. – Drucksachen 17/6454, 17/5526, 17/6319,
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung 17/7065 –
des Antrags der Fraktion Die Linke auf der Drucksache Berichterstattung:
17/5475 mit dem Titel „Hochschulzulassung bundesge- Abgeordnete Katja Mast
setzlich regeln – Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in
Masterstudiengängen sichern“. Wer stimmt dieser Be- Die Aussprache soll nach einer interfraktionellen Ver-
schlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer einbarung eine Stunde dauern. – Das ist offenkundig
enthält sich? – Auch hier ist die Beschlussempfehlung nicht umstritten, sodass wir so verfahren können.
mit Mehrheit angenommen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 30 a und b auf: Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau Dr. von
der Leyen.
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Beifall bei der CDU/CSU)
zur Verbesserung der Eingliederungschancen
am Arbeitsmarkt Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
– Drucksachen 17/6277, 17/6853 – Vielen Dank, Herr Präsident.
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Vielleicht, Frau Ministerin, warten wir noch ein paar
– Drucksache 17/7065 –
Sekunden, um den Schichtwechsel ordnungsgemäß ab-
Berichterstattung: zuwickeln. – Bitte schön.
Abg. Katja Mast
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
Arbeit und Soziales:
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ge-
– Drucksache 17/7068 – setz, das wir heute abschließend beraten, behandelt die
15102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) Instrumente der Arbeitsmarktpolitik. Wir wollen mit der dafür sorgen, dass Kinderbetreuung gewährleistet ist, (C)
Neuordnung der Instrumente vor allen Dingen die Zahl dass es familienfreundliche Arbeitsplätze gibt, dass
der Instrumente reduzieren; denn wir wissen, dass Ver- Netzwerke gebildet werden. – Wir stellen jetzt unter dem
mittlerinnen und Vermittler vor Ort aus dem Instrumen- Strich fest: Die Langzeitarbeitslosigkeit der Alleinerzie-
tenkasten ein bestimmtes Reservoir kennen und das dann henden sinkt schneller als die Langzeitarbeitslosigkeit
auch anwenden. Masse ist hier nicht gefragt – sie ver- insgesamt. Dies zeigt: Die passgenaue Ausrichtung un-
wirrt nur –, sondern Zielgenauigkeit. Wir wollen deshalb serer Instrumente ist in dieser Zeit der richtige Weg.
auch mehr Flexibilität für die Vermittlerinnen und Ver-
mittler vor Ort ermöglichen. Schließlich haben wir die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Akzente verschoben. Über all das wollen wir heute de- Immer wieder wird die Summe, die für die Instru-
battieren. mente der Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung gestellt
Das Gesetz kommt zur rechten Zeit; denn die Nach- wird, kritisiert. Die sinkende Arbeitslosigkeit bringt mit
frage nach Arbeit ist so hoch wie seit Jahren nicht mehr. sich, dass wir nicht mehr ein und dieselbe starre Summe
Das zeigt sich auch an allen Daten: Wir haben eine Re- ausgeben müssen. Dennoch steht im Rahmen der Grund-
kordbeschäftigung, die höchste seit der Wiedervereini- sicherung in 2012 knapp 1 Milliarde Euro mehr für Ein-
gung; es gibt 1 Million offene Stellen; die Arbeitslosig- gliederung und Verwaltung zur Verfügung, als es im Jahr
keit ist unter 3 Millionen gesunken; und es gelingt uns 2007 der Fall war. Alle wissen: Dazwischen gab es eine
inzwischen, die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit Krise und ein Konjunkturpaket gegen Arbeitslosigkeit.
langsam, aber sicher abzubauen. Das war viele, viele Der Vergleich zeigt: Heute steht 1 Milliarde Euro mehr
Jahre nicht der Fall. Allein in den letzten fünf Jahren ist zur Verfügung. Damals gab es aber 660 000 Langzeit-
die Zahl der Langzeitarbeitslosen von 1,7 Millionen fast arbeitslose mehr als heute. Das heißt, wir stellen mehr
auf die Hälfte gesunken, nämlich auf 880 000. Das ist er- Mittel zur Verfügung, obwohl es weniger Arbeitslose
freulich für die Menschen; das ist erfreulich für den Ar- gibt und der Arbeitsmarkt deutlich aufnahmefähiger ist.
beitsmarkt. Es ist ein Zeichen der guten Bilanz der Bun- Es geht also nicht nur um die Masse der Instrumente. Es
desregierung unter Angela Merkel. geht vor allen Dingen um Zielgenauigkeit und Präzision.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Diese gute Zeit am Arbeitsmarkt wollen wir nutzen
und die arbeitsmarktpolitischen Instrumente neu ausrich- Präsident Dr. Norbert Lammert:
ten. Wir rechnen weiterhin mit einer stabilen Wirtschaft Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage oder
und einem robusten Arbeitsmarkt, auch wenn wir wis- Zwischenbemerkung zu?
(B) sen, dass es internationale Risiken gibt. Trotzdem: Der (D)
Arbeitsmarkt ist robust.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Wir müssen umstellen von dem Szenario der Massen- Arbeit und Soziales:
arbeitslosigkeit, das wir lange hatten, auf das Szenario Nein. Wir sind am Anfang der Debatte. Im Laufe der
„Wir suchen Fachkräfte“. Dazu müssen die Menschen Diskussion können alle Argumente ausgetauscht wer-
passgenau qualifiziert werden. Das heißt, wir müssen den.
auch die alten Förderrezepte, die in der Zeit der Massen-
arbeitslosigkeit funktioniert haben, sorgfältig überprü- In der Grundsicherung für Arbeitsuchende verändern
fen. Das haben wir getan. Wir räumen gewissermaßen wir etwas, gerade mit Blick auf die öffentlich geförderte
den Instrumentenkasten mit diesem Gesetz auf. Beschäftigung. Wir gehen weg von der Dauerförderung
künstlich geschaffener Arbeitsplätze. Sie waren in der
Wir wollen eine einfache Handhabung, wir wollen Zeit der Massenarbeitslosigkeit richtig. Sie sind für
passgenaue und individuelle Hilfen. Deshalb möchte ich Menschen, die überhaupt keine Chance am Arbeitsmarkt
zwei Punkte aufgreifen, die oft in der Kritik sind, die haben, auch heute noch richtig. Aber in einer Zeit, in der
aber auch zeigen, wo die neuen Akzente liegen. auf dem ersten Arbeitsmarkt händeringend Arbeitskräfte
Wir gehen weg von der globalen Betrachtung der Ar- gesucht werden, dürfen sie nicht weiterhin das dominie-
beitslosen, insbesondere der Langzeitarbeitslosen, und rende Instrument sein.
sagen nicht mehr: „Alle Instrumente müssen für alle pas-
Die Untersuchungen der vergangenen Jahre haben ge-
sen“ – also nach dem Motto: „One fits all“, Instrumente
zeigt, dass zu häufig die Falschen künstlich geförderte
von der Stange –, sondern wir wollen Instrumente, die
Arbeitsplätze hatten und Menschen dadurch sogar Chan-
personenzentriert, individuell und passgenau sind.
cen, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren, ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) passt haben. Deshalb verfahren wir nicht mehr nach dem
Gießkannenprinzip. Wir sagen zum Beispiel: Es muss
Nehmen wir zum Beispiel die Gruppe der Alleiner- genau begründet werden, warum jemand einen 1-Euro-
ziehenden. Langzeitarbeitslose Alleinerziehende waren Job braucht. Dann kann er auch zur Verfügung gestellt
über Jahre ein Block, in dem sich kaum etwas bewegt werden. Dies darf aber nicht mehr mit der bisherigen
hat, weil die Grundhaltung in etwa lautete: Sie hat ein Pauschalität und in der bisherigen Größenordnung ge-
Kind; es lohnt sich sowieso nicht. – Wir haben im letzten schehen. Ich glaube, das ist eine richtige Umstellung.
Jahr eine Umstellung vorgenommen und gesagt: Das
Motto muss lauten: Weil sie ein Kind hat, müssen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15103
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(A) Wir müssen weg von der künstlich geförderten Be- Zusätzlich haben Sie schon Kürzungen im Bereich (C)
schäftigung und viel stärker auf Weiterbildung und Qua- der Arbeitslosenversicherung auf den Weg gebracht,
lifizierung setzen, damit die Menschen aufgrund ihrer nämlich 13 Milliarden Euro bis 2015 weniger durch das
Qualifikation Anschluss an den ersten Arbeitsmarkt fin- sogenannte Sparpaket und des Weiteren 12,15 Milliar-
den. Deshalb investieren wir bei weniger als 3 Millionen den Euro durch den Entzug eines halben Mehrwertsteu-
Arbeitslosen 3 Milliarden Euro in Weiterbildung und, erpunktes.
insbesondere mit Blick auf Jugendliche, 3,2 Milliarden
Euro in den Bereich des Übergangs von Schule, Ausbil- Frau Ministerin, Sie können sich nicht hier hinstellen
dung und Beruf. Dadurch helfen wir passgenau den jun- und sagen, es werde gar nicht gekürzt.
gen Menschen, die, obwohl es derzeit viele offene Lehr- (Beifall der Abg. Katja Mast [SPD])
stellen gibt, noch nicht die richtige Lehrstelle gefunden
haben. 500 000 jungen Menschen greifen wir damit un- Wenn man das, was Sie im Bereich der aktiven Arbeits-
ter die Arme. marktpolitik jetzt auf den Weg bringen, alles zusammen-
zählt, dann stellt man fest, dass Sie in vier Jahren
Ich glaube, wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, 40 Milliarden Euro zulasten von langzeitarbeitslosen
der zur rechten Zeit kommt, die richtigen Akzente setzt Menschen kürzen.
und die richtige Politik unterstreicht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Vielen Dank. DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Damit bin ich, weil ich davon gesprochen habe, dass
das eine doppelte Täuschung ist, bei einem weiteren
Punkt, der in Ihrer Rede wieder zum Vorschein gekom-
Präsident Dr. Norbert Lammert: men ist. Frau von der Leyen, es ist eine Milchmädchen-
Hubertus Heil ist der nächsten Redner für die SPD- rechnung – ich kann Ihnen diesen Begriff nicht ersparen –,
Fraktion.
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ganz
(Beifall bei der SPD) schön sexistisch! – Gegenruf der Abg. Iris
Gleicke [SPD]: Es gibt auch Milchbuben!)
Hubertus Heil (Peine) (SPD): wenn Sie nach dem Motto verfahren: Da es weniger Ar-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- beitslose gibt, braucht es auch weniger Mittel. – Tatsa-
ren! Frau Ministerin, was wir gerade erlebt haben, war che ist: Wir bekommen in Deutschland einen tief gespal-
tenen Arbeitsmarkt. Während auf der einen Seite immer
(B) der Versuch einer doppelten Täuschung der deutschen mehr Unternehmen aufgrund der Auswirkungen des de- (D)
Öffentlichkeit. Ich will Ihnen sagen, warum. Das, was
Sie uns eben geboten haben, war der Versuch, für eine mografischen Wandels am Arbeitsmarkt händeringend
Kürzungspolitik, die Sie mit dem schön klingenden Be- Fachkräfte suchen werden, haben wir nach wie vor einen
griff „Instrumentenreform“ verschleiern, eine Sprache verfestigten Sockel von Dauer- und Langzeitarbeitslo-
zu finden. Aber die Wahrheit ist: Es geht Ihnen nicht um sigkeit. Jeder, der sich in der Materie ein bisschen aus-
zielgenaue arbeitsmarktpolitische Instrumente, sondern kennt, weiß, dass die Menschen, die drei, vier, fünf,
um die Anpassung der Instrumente an Ihre Kürzungsbe- sechs Jahre und länger arbeitslos sind, begleitende Hil-
schlüsse aus dem letzten Jahr. Das war der erste Versuch fen, Qualifizierung und Maßnahmen brauchen, um zu ei-
der Täuschung. nem selbstbestimmten Leben in Beschäftigung zu kom-
men.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Iris Gleicke [SPD]: So ist das Frau von der Leyen, wenn Sie uns schon nicht glau-
leider! Leider wahr!) ben, dann glauben Sie wenigstens den Profis der Bun-
desagentur für Arbeit, die das letzte Woche deutlich ge-
Frau Ministerin, weil Sie, wie so oft, so mit Zahlen macht haben. Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann
hantiert haben, wie es Ihnen gerade in den Kram passt glauben Sie den Wohlfahrtsverbänden und den arbeitge-
– ich frage mich übrigens, warum Sie nicht 2008 als Re- bernahen oder arbeitnehmernahen Weiterbildungsträ-
ferenzjahr genannt haben; denn 2008 war das Jahr vor gern an diesem Punkt. Sie sagen Ihnen: Was Sie jetzt
der Krise, nicht 2007 –, will ich Ihnen und der deutschen machen, ist eine Zerstörung von Maßnahmen und Struk-
Öffentlichkeit sagen, was in den Jahren bis 2015 gesche- turen. Die langzeitarbeitslosen Menschen werden von
hen wird – die Kürzungspolitik zulasten langzeitarbeits- Ihnen abgehängt, und zwar dauerhaft.
loser und arbeitsloser Menschen, die Sie in den nächsten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Jahren fortsetzen, kann man nämlich, wenn man die der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Zahlenwerke insgesamt betrachtet, eindrucksvoll bele- GRÜNEN)
gen –: Sie kürzen erstens im Bereich des SGB II, also
zulasten von langzeitarbeitslosen Menschen, bis 2015, Frau von der Leyen, wenn Sie das fiskalisch damit be-
also innerhalb von vier Jahren, allein 8 Milliarden Euro gründen – Sie könnten das ja –: „Es ist weniger Geld da;
bei der Eingliederung. Sie kürzen zweitens durch die so- wir müssen auch bei mir sparen“, dann sage ich Ihnen ei-
genannte Instrumentenreform zusätzlich 7,5 Milliarden nes: Kurzfristig bewirken diese Kürzungen im Haushalt
Euro. Das macht zusammen „round about“ 15 Milliar- schöne Zahlen bei Ihnen und bei Herrn Schäuble. Aber
den Euro zulasten von Langzeitarbeitslosen. langfristig läuft das Ganze auf eines hinaus: Diese Ge-
15104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Hubertus Heil (Peine)


(A) sellschaft findet sich mit Langzeitarbeitslosigkeit ab. Damit, dass Sie bis 2015 40 Milliarden Euro im Be- (C)
Wir lassen die Menschen im Transfer mit allen Folge- reich der aktiven Arbeitsmarktpolitik streichen, sagen
kosten, die das hat. Sie diesen Menschen Folgendes: Bleibt draußen, nehmt
die Stütze, bleibt in Arbeitslosigkeit! – Was das für die
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist nicht betroffenen Menschen und übrigens auch für die Kinder
wahr, Herr Heil!) dieser Familien bedeutet, die in einer solchen Situation
sind und nicht erleben, dass es einen regulären Tagesab-
Das wird für den Staat und die Gesellschaft verdammt
lauf gibt und dass Menschen würdig in Arbeit kommen
teuer.
und von ihrer eigenen Hände Arbeit leben können, inte-
Reden wir einmal über die Menschen, die das, was ressiert Sie offensichtlich nicht. Angesichts der zerstöre-
Sie hier an Kürzungen machen, betrifft. Wer sind denn rischen Wirkung, die Sie durch diese Kürzungspolitik
die Langzeitarbeitslosen in dieser Zeit in diesem Land? verursachen, werden und müssen wir das spätestens
Das sind die jungen Menschen, die aufgrund von Proble- 2013 korrigieren. Darauf kann sich die deutsche Öffent-
men in den Familien oder Fehlleistungen im Bildungswe- lichkeit verlassen.
sen keine anständige Qualifikation haben. 65 000 junge (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Menschen verlassen Jahr für Jahr unsere Schulen ohne des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschen zwischen
20 und 30 Jahren haben keine berufliche Erstausbildung. Frau von der Leyen, ich finde es schier unerträglich,
Und was machen Sie? Sie hängen diese Jugendlichen dass Sie hier – das tun Sie auch sonst verstärkt – die
dauerhaft ab. Sie schaffen dauerhaften Nachwuchs für Wortvernebelungsmaschine angeworfen haben. Das tun
Hartz IV, indem Sie beispielsweise den Qualifizierungs- Sie in Talkshows, wie gestern Abend im Politikmagazin
zuschuss vollständig streichen. Das, Frau von der Leyen, Markus Lanz, und das tun Sie auch heute hier im Deut-
müssen Sie sich zurechnen lassen. Sie spalten den Ar- schen Bundestag wieder. Ich kann Ihnen diesen Vorwurf
beitsmarkt in einer Zeit des Fachkräftebedarfs, indem nicht ersparen.
Sie junge Menschen dauerhaft zurücklassen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der SPD) Herr Kollege.
Und was machen Sie noch? Wir haben ein bewährtes
Instrument – nach allen Expertenmeinungen ist es ein Hubertus Heil (Peine) (SPD):
gutes Instrument –, das beispielsweise Arbeitslosen in Wir haben gestern Seine Heiligkeit hier erlebt. Heute
der Vergangenheit die Möglichkeit eröffnet hat, nicht nur haben wir hier Ihre Scheinheiligkeit erlebt.
(B) in reguläre Beschäftigung zu kommen, sondern auch, (D)
Herzlichen Dank.
sich selbstständig zu machen, nämlich den Gründungs-
zuschuss. Viele Arbeitslose konnten sich mit dieser Hilfe (Beifall bei der SPD – Peter Weiß [Emmendin-
selbstständig machen. Das ist also ein Instrument sowohl gen] [CDU/CSU]: Das war nun wirklich unter
der Arbeitsmarkt- als auch der Wirtschaftsförderung, das allem, was es an Niveau gibt! – Weitere Zurufe
bewirkte, dass auch noch weitere Arbeitsplätze geschaf- von der CDU/CSU: Oh! – Gegenruf des Abg.
fen wurden. Sie jedoch trocknen dieses Instrument in Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Getroffene
wesentlichen Teilen aus. Auch das wird Folgen haben. Hunde bellen!)

Frau Ministerin, ich kann Ihnen an dieser Stelle eines Präsident Dr. Norbert Lammert:
nicht ersparen – das Motto „Warme Worte, kalte Taten“ Na ja. – Jetzt hat jedenfalls der Kollege Johannes
kennen wir ja schon; auch heute haben wir es wieder er- Vogel für die FDP-Fraktion das Wort.
lebt –: Ich befürchte langsam, dass in den Reihen der
schwarz-gelben Koalition möglicherweise ein Men- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
schenbild zu finden ist, das klammheimlich davon aus-
geht, dass es einen großen Sockel von Langzeitarbeitslo- Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
sigkeit, von Menschen gibt, die man gar nicht mehr in Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
Beschäftigung bringen mag und die man mit sozialem und Kollegen! Herr Heil, ich glaube, Ihre letzte Bemer-
Transfer abspeisen will. kung richtet sich selbst.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Herr Heil, das, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
was Sie heute erzählen, ist unter Ihrem Ni-
Ich will Ihnen sagen, was ich unerträglich finde: Un-
veau!)
erträglich finde ich es, wie Sie hier die Öffentlichkeit
Ich sage Ihnen: Wir bleiben bei dem Grundsatz „För- täuschen. Ich will nur einmal auf die Lage auf dem deut-
dern und Fordern“. Wir sagen: Fördern und Fordern ist schen Arbeitsmarkt hinweisen: Wir haben unter 3 Mil-
richtig. Es ist zwar richtig, zu sagen, dass sich Menschen lionen Arbeitslose. Das ist so wenig wie seit 20 Jahren
selbst anstrengen müssen. Aber Menschen, die beson- nicht mehr.
dere Vermittlungshemmnisse haben, brauchen an diesem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Punkt Unterstützung.
Die Sockelarbeitslosigkeit, die Zahl derjenigen, die lang-
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das tun wir!) zeitarbeitslos mit einer schlechten Perspektive sind,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15105
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) sinkt in diesem Aufschwung, lieber Herr Heil. Man kann (Katja Mast [SPD]: Wie sieht es denn für die (C)
sich bei der Jugendarbeitslosigkeit ja auch einmal die Langzeitarbeitslosen aus?)
Vergleichszahlen in den Ländern anschauen, in denen
Das ist richtig. Ich kann Ihnen aber sagen, was das Beste
Sie in der Landesregierung Verantwortung tragen, zum
ist, um einer Spaltung vorzubeugen, nämlich in Qualifi-
Beispiel hier in Berlin.
kation zu investieren.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie haben für
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Darum kürzen
Ihre Konzepte 1,8 Prozent bekommen, lieber
Sie jetzt gerade!)
Herr Vogel!)
Der Arbeitsmarkt wird nicht durch Flexibilität gespalten,
Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist die nied- sondern durch die mangelnde Qualifikation von einigen
rigste aller großen Industrienationen in Europa. Menschen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!)
Frankreich und auch Schweden haben eine doppelt so Ich schaue mir einmal die Zahlen an: 2005 hatten wir
hohe Jugendarbeitslosigkeit wie wir, lieber Herr Heil. 5 Millionen Arbeitslose, in diesem Jahr sind es unter
Gerade in dieser Lage sagt die Koalition eben nicht: 3 Millionen. 2005 war das letzte Regierungsjahr von
„Auf dem Arbeitsmarkt läuft alles gut“, sondern wir Rot-Grün. Dieses Jahr geben wir 1 Milliarde Euro mehr
widmen uns jetzt der Aufgabe, allen Menschen eine Per- für Qualifikation aus, als Sie das 2005 getan haben.
spektive zu geben. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb kürzen Von wegen schlechte Perspektive und gespaltener Ar-
Sie bei der Arbeitsmarktförderung!) beitsmarkt! Das war Ihre Politik. Wir machen eine an-
Das ist auch der Gedanke, der hinter dieser Instrumen- dere.
tenreform steht. Wir wollen die Arbeitsmarktvermittlung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
besser machen. Dieser Gesetzentwurf ist ein sehr guter Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Beitrag auf diesem Weg. NEN]: 2005 ist das Gesetz in Kraft getreten!
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist das Letzte!)
Sie nennen immer wieder die Zahlen. Das klingt na- In den letzten zwei Minuten will ich noch ein paar
türlich auch erst einmal gut. Sie addieren die Milliarden- Sätze zum Gesetzentwurf selbst sagen. Es geht in der Tat
beträge, die möglicherweise zurückgenommen werden. darum, dass wir den Instrumentenkasten aufräumen. Wir
(B) sagen: Es ist richtig, auf Instrumente zu verzichten, mit (D)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: „Möglicher- denen Menschen nicht in Arbeit gebracht werden. Des-
weise“? – Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: halb ist es eine gute Nachricht, dass zum Beispiel das In-
Das ist beschlossen!) strument ABM wegfällt, was nie ein erfolgreiches In-
Herr Heil, Sie vergessen aber, darauf hinzuweisen, dass strument war,
die einzig seriöse Betrachtung von Zahlen in diesem Fall (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und der Grün-
darin liegt, zu ermitteln, wie viel Geld pro Arbeitslosen dungszuschuss? Und der Qualifizierungszu-
zur Verfügung steht. schuss?)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) und dass wir uns gleichzeitig auf die Instrumente kon-
Lieber Herr Heil, ich kann nur sagen: Wir stellen uns der zentrieren, durch die den Menschen wirklich eine Per-
Aufgabe, den Haushalt zu konsolidieren. spektive gegeben wird. Das ist der Gedanke, der hinter
diesem Gesetzentwurf steht. So etwas legen wir hier vor.
Ich will auch auf die großen Risiken für den Arbeits-
markt hinweisen. Wir befinden uns mitten in der euro- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
päischen Schuldenkrise. Wir konsolidieren den Haus- der CDU/CSU)
halt, Sie wollen Schulden vergemeinschaften. Während Ich will noch auf einen anderen Aspekt eingehen. Ich
wir konsolidieren, sorgen wir dafür, dass nicht an der fal- freue mich nämlich – das sage ich besonders für meine
schen Stelle gespart wird. Fraktion –, dass wir auch die privaten Arbeitsvermittler
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb treiben im Instrumentenkasten der Arbeitsvermittlung erhalten
Sie die EZB auch in Staatsanleihen!) konnten.

Lieber Herr Heil, pro Langzeitarbeitslosen steht in (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)
diesem und im nächsten Jahr genauso viel Geld wie Es geht darum, kreative Konkurrenz im Markt zu haben,
2008 zur Verfügung, als Sie noch Regierungsverantwor- und zwar Konkurrenz um die besten Lösungen, wie wir
tung getragen haben. Das ist die Wahrheit. Alles andere den Menschen eine Perspektive geben können.
ist eine Täuschung der Öffentlichkeit.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der CDU/CSU)
Sie haben von der Gefahr der Spaltung des Arbeits- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich
marktes gesprochen. ahne schon, was gleich kommen wird. Es wäre für das
15106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) Niveau unserer Debatte – das sage ich offen – schön, Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
wenn wir auf derselben Grundlage ehrlich miteinander Ich erteile der Kollegin Sabine Zimmermann das
diskutieren würden. Wort, Fraktion Die Linke.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der LINKEN)
GRÜNEN]: Das hätten wir auch gerne!)
Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
Deshalb, Frau Kollegin Pothmer, würde ich mich freuen,
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
wenn Sie gleich darauf verzichten würden, hier wieder
Kollegen! Wir sollen uns heute abschließend mit dem
die Lüge zu erzählen, das sei ein schlechtes Instrument. von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Die Evaluation des IAB hat ergeben: Das ist ein gutes Gesetzes zur Verschlechterung der Eingliederungschan-
Instrument. Es bringt nämlich Menschen in Beschäfti- cen am Arbeitsmarkt beschäftigen.
gung. Deswegen erhalten wir es.
(Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU)
In der Tat wollen wir auch bei der öffentlich geförder-
ten Beschäftigung dafür sorgen, dass diese nicht das In- – Ach, ich habe mich versprochen, Entschuldigung. Ich
strument der ersten Wahl ist, zum Beispiel für junge meine natürlich: zur Verbesserung.
Menschen, sondern dass es um Qualifikation geht und (Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU und
dass wir uns in der öffentlich geförderten Beschäftigung der FDP: Ah!)
auf die konzentrieren, die sie wirklich brauchen und sie
in diesem Bereich wirkungsvoll halten. Mein Kollege Doch, ich habe ganz bewusst ausgesprochen – das hat
Kober wird dazu gleich etwas sagen. bei Ihnen auch Wirkung gezeigt –, was die Sozialver-
bände, Gewerkschaften, Erwerbsloseninitiativen und die
Zum Schluss will ich einen Aspekt, auf den Sie gar Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger von diesem Ge-
nicht eingehen – ich kann verstehen, warum –, hier in setz denken.
der Debatte anführen. Ich meine den Paradigmenwech-
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner
sel bei der Förderung der Weiterbildung von beschäftig- [Berlin] [FDP]: Rhetorisches Feuerwerk!)
ten Arbeitnehmern. Wir stellen uns mit diesem Gesetz-
entwurf auch der Aufgabe, den Arbeitsmarkt der Die Bundesregierung sorgt damit nur ein weiteres
Zukunft zu bauen. Es wird Regionen geben – diese gibt Mal für einen gigantischen Kahlschlag in der Arbeits-
es in diesem Land auch schon heute –, in denen Vollbe- marktpolitik, und das auf dem Rücken von erwerbslosen
schäftigung herrscht. Die Frage ist hier: Wie reagieren Menschen in diesem Land. Während der Rettungsschirm
wir auf den Fachkräftemangel? für die Banken immer größer wird, drückt die Bundesre-
(B) gierung den vielen erwerbslosen Menschen nur einen (D)
Wir schaffen hier einen echten Paradigmenwechsel. kleinen löchrigen Knirps in die Hand. Das ist ungerecht,
Erstmalig wird nicht nur die Möglichkeit geschaffen, die aber das ist Ihre Politik. Dabei machen wir nicht mit.
Weiterbildung von beschäftigten Arbeitnehmern, von
Geringqualifizierten und Älteren weiter zu finanzieren, (Beifall bei der LINKEN)
sondern auch die Möglichkeit, dass alle Arbeitnehmer Selbst in Zeiten des Aufschwungs gelingt es nicht,
von kleinen und mittleren Unternehmen in diesem Land Langzeitarbeitslose in nennenswerten Größenordnun-
– bei denen ist die Weiterbildungsquote nicht so hoch gen in Beschäftigung zu bringen. Ihr Anteil an allen Er-
wie bei den Konzernen – durch die Bundesagentur für werbslosen blieb im August mit 33 Prozent genauso wie
Arbeit teilgefördert werden. im Vorjahr. Damit liegt Deutschland deutlich über dem
Durchschnitt der europäischen Länder. Nur die Slowakei
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der hat einen noch höheren Anteil langzeitarbeitsloser Men-
CDU/CSU) schen. Mit Ihrem Gesetz zur vermeintlichen Verbesse-
rung der Eingliederungschancen werden Sie es bald
Das ist eine echte Innovation, die Sie nie geschafft ha-
schaffen, den Spitzenplatz in Europa zu erobern. Dazu
ben. Wir stellen uns der Aufgabe, auf den Fachkräfte- können wir nur sagen: Glückwunsch! Deutschland, das
mangel und das Problem von mangelnder Qualifikation, Land der Langzeitarbeitslosen! – Das ist Ihr Verdienst
das eine Spaltung des Arbeitsmarkts bewirkt, zu reagie- von Ihrer Regierung, meine Damen und Herren der
ren. Dieser Gesetzentwurf bringt einen echten Paradig- schwarz-gelben Koalition.
menwechsel.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Sie haben nichts Besseres zu tun, als über angebliche neten der SPD)
Haushaltskürzungen zu reden. Man könnte das schon als
Kompliment sehen: Was man an diesem Gesetzentwurf Ich möchte noch etwas zu den absoluten Zahlen sa-
inhaltlich kritisieren könnte, fällt Ihnen offenbar nicht gen. Im Juni betrug die offizielle Zahl der Langzeitar-
ein. Ich bin gespannt, ob dazu im Laufe der Debatte et- beitslosen im Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für
was kommt. Ich rechne nicht wirklich damit. Arbeit 868 000. Im Juli belief sich diese Zahl dann auf
962 000. Nun fragen Sie bestimmt, warum, Herr Vogel,
Vielen Dank. der Sie uns so schön Ihre Rechnungen aufmachen. Ich
kann Ihnen sagen, woran es liegt. Erstmals konnten näm-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lich Langzeitarbeitslose ausgewiesen werden, die von
der CDU/CSU) den Optionskommunen betreut werden. All die Jahre zu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15107
Sabine Zimmermann
(A) vor – das waren sieben Jahre; seit dieser Zeit bestehen ligmaßnahmen und Vermittlung in prekäre Beschäfti- (C)
die Optionskommunen – wurden sie vor der Öffentlich- gung setzt und damit lediglich die Arbeitslosenstatistik
keit offenbar versteckt. bereinigt. Es gilt, Qualifizierung und Vermittlung in gute
Arbeit zu stärken.
Ich frage mich: Was ist hier los?
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
ist ein Skandal!) neten der SPD)

Genau genommen weiß man gar nicht genau, wie viele Die Linke möchte nachhaltige Maßnahmen stärken,
Arbeitslose es in unserem Land gibt. Außerdem gibt es die am individuellen tatsächlichen Bedarf der Betroffe-
noch die knapp 100 000 über 58-jährigen arbeitslosen nen ausgerichtet sind. Damit verbunden sind Rechtsan-
Hartz-IV-Bezieher – die Sie vergessen haben, Herr Vogel –, sprüche der Betroffenen auf Fördermaßnahmen. Insbe-
die aus der Statistik herausgefallen sind, sondere müssen die Erwerbslosen mit den größten
Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt besser unterstützt wer-
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Wir den: Ältere, Menschen mit Behinderungen, aber auch
haben aber an der Statistik überhaupt nichts Langzeiterwerbslose. Denn diese Gruppen sind die gro-
verändert!) ßen Verlierer der letzten Jahre und werden dies aufgrund
weil sie in den letzten zwölf Monaten kein Jobangebot Ihres Gesetzentwurfs auch weiter sein.
vom Jobcenter bekommen haben. Die Bundesagentur für Arbeit darf von der Bundesre-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das gierung nicht weiter in die chronische Unterfinanzierung
ist unerhört!) getrieben werden. Damit meine ich die Abschaffung der
Defizithaftung des Bundes, die vorgesehene Reduzie-
Ich frage mich: Was ist hier los? Wie wollen Sie uns rung des Beitrages zur Arbeitsförderung und die Strafge-
darstellen, dass die Arbeitsmarktpolitik greift und die bühr beim Übergang vom Arbeitslosengeld I in Hartz IV.
Arbeitslosigkeit zurückgeht? Wenn etwas in Bewegung Sie pressen die Bundesagentur für Arbeit aus wie eine
ist, dann sind es nicht die Langzeitarbeitslosen auf dem Zitrone. Das geht zulasten der erwerbslosen Menschen.
Weg in ihren neuen Job, sondern allenfalls die Statisti-
ken. Nur 2,2 Prozent der Langzeitarbeitslosen gelang es (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
in den letzten zwölf Monaten, in einen Job zu kommen. neten der SPD)
Von großen Erfolgen am Arbeitsmarkt, insbesondere für Zudem darf die Arbeitsverwaltung nicht länger Motor
Langzeitarbeitslose, zu reden, halten wir für Augenwi- für prekäre Beschäftigung sein. Wir fordern eine Neuge-
scherei. staltung der Zumutbarkeitsregelungen und eine bessere
(B)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Absicherung gegen Arbeitslosigkeit, um dem Druck zur (D)
neten der SPD) Aufnahme von niedrig entlohnter und nicht qualifika-
tionsgerechter Beschäftigung entgegenzuwirken. Denn
Sie, allen voran unsere Ministerin Frau von der Leyen, es kann nicht sein, dass Menschen in Arbeit vermittelt
verschließen die Augen vor der Realität. werden und zusätzlich Hartz IV beziehen müssen. Damit
Vor allem Langzeiterwerbslose benötigen dringend muss endlich Schluss sein in diesem Land!
Weiterbildung und Qualifizierung, um eine Chance auf (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
einen Job zu erhalten. Das wurde heute schon mehrfach neten der SPD)
angesprochen. Die Hälfte von ihnen verfügt nicht über
eine abgeschlossene Berufsausbildung. Doch die Maß- Statt die öffentlich geförderte Beschäftigung einzu-
nahmen zur Weiterbildung und Qualifizierung haben Sie stampfen, wie es die Regierung derzeit tut, wollen wir
bereits in diesem Jahr drastisch zusammengestrichen. neue Rahmenbedingungen für gute öffentlich geförderte
Die Teilnehmerzahlen sind um 36 Prozent zurückgegan- Beschäftigung schaffen, um Langzeiterwerbslosen eine
gen, Herr Vogel. Perspektive zu geben. Dies sind eben nicht 1-Euro-Jobs;
es geht vielmehr um sinnvolle zusätzliche Arbeit, von
Gleichzeitig redet die Regierung, auch Sie, Herr der man leben und seine Familie ernähren kann.
Vogel, von einem Fachkräftemangel. Auf der einen Seite
werden die Gelder für aktive Maßnahmen gestrichen. Die Arbeitsverwaltung wurde in den letzten Jahren
Auf der anderen Seite jammern Sie auf hohem Niveau, immer mehr zu einem System umgestaltet, das sich aus-
dass wir einen Fachkräftemangel haben. Ich bitte Sie, schließlich negativ definiert: über Sperrzeiten, Sanktio-
das passt doch nicht zusammen. nen und wenig Förderung. Dieser falsche Weg muss ein
Ende haben.
Die Linke steht für eine andere Arbeitsmarktpolitik.
(Beifall bei der LINKEN)
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das
glaube ich!) Solange Sie mit Ihrem vorgelegten Gesetzentwurf die
Chancen von langzeitarbeitslosen Menschen so drama-
Ich denke, das wird Sie nicht wundern. Dazu haben wir tisch verschlechtern, werden wir als Linke nie zustim-
einen Antrag eingebracht, den Sie vielleicht einmal lesen men.
sollten.
Danke.
Notwendig ist eine Reform der Arbeitsmarktinstru-
mente – darin sind wir uns einig –, die aber nicht auf Bil- (Beifall bei der LINKEN)
15108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: ratungs- und Bürokratieaufwand verbunden ist. Aus Se- (C)
Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer, riositätsgründen will ich hier deutlich machen: Die
Bündnis 90/Die Grünen. Provision wird erst gezahlt, wenn jemand tatsächlich
sechs Wochen in Arbeit ist. Herr Vogel, was ist an
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 4,2 Prozent effizient?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
heute vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich nicht an sowie bei Abgeordneten der SPD)
den Anforderungen des Arbeitsmarktes. Der hier heute
vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich am Rotstift- Das hier ist kein Effizienzinstrument; das ist Wahl-
diktat des Finanzministers. kampfhilfe für die FDP.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: So viele
und bei der SPD) Wahlen gibt es auch nicht!)
Dem werden jedenfalls wir nicht zustimmen. So viele private Vermittler gibt es aber gar nicht, um der
FDP über die Fünfprozenthürde zu helfen. Hinzu kommt
Sie behaupten immer, Herr Vogel und Frau von der noch – das besagt im Übrigen auch die IAB-Studie –,
Leyen, dass die vorgesehenen Einsparungen durch Effi- dass die privaten Vermittler im Wesentlichen den Rahm
zienz und Zielgenauigkeit aufgefangen werden. Diese abschöpfen. Die wirklich schweren Fälle bleiben bei der
Effizienz und diese Zielgenauigkeit wollen Sie dadurch Bundesagentur für Arbeit und bleiben bei den Jobcen-
erreichen, dass die Entscheidungskompetenz der Jobcen- tern.
ter gesteigert wird. Deswegen werden Pflichtleistungen
in Ermessensleistungen umgewandelt. Jetzt will ich Ih- Aber die schwer Vermittelbaren interessieren Sie ja
nen einmal am Beispiel des Gründungszuschusses erläu- sowieso nicht; die haben Sie längst abgeschrieben. Die-
tern, wie das aussieht. Beim Gründungszuschuss sollen ser Gesetzentwurf konzentriert sich auf diejenigen, die
5 Milliarden Euro eingespart werden; das sind 83 Pro- ohne großen Unterstützungsbedarf in den ersten Arbeits-
zent des Etats. Die Ausweitung der Entscheidungskom- markt kommen. Frau von der Leyen, es geht Ihnen da-
petenz vor dem Hintergrund dieser Einsparungen ist rum, sich im schönen Schein der durch die Konjunktur
nichts anderes, als dass Sie die Drecksarbeit der Ableh- abnehmenden Arbeitslosenzahlen zu sonnen. Ich sage
nung nach unten verlagern. Ihnen: Wo Sonne ist, da ist auch Schatten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Lessing!)
bei der SPD und der LINKEN) Ich finde, die Aufgabe einer Arbeitsministerin besteht
(B) Es gibt aber interessanterweise eine Ausnahme: Die Ver- darin, sich diesem Schatten einmal zuzuwenden. (D)
mittlungsgutscheine für private Vermittler werden nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
in eine Ermessensleistung umgewandelt. Die Vermitt- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
lungsgutscheine für private Vermittler sind so etwas wie LINKEN)
die Mövenpick-Steuer der Arbeitsmarktpolitik.
Was wir nämlich nicht brauchen, ist eine Schattenkanz-
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ lerin. Was wir brauchen, ist eine Arbeitsministerin, die
CSU – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das sich genau um diese Schattenseiten kümmert, und das
ist in gleicher Weise arm und billig!) sind die schwer Vermittelbaren,
Das ist das einzige Instrument, das nicht zur Ermessens- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
leistung wird. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Sie sind angetreten, um den Instrumentenkasten nach das sind die gesundheitlich Eingeschränkten, das sind
dem Prinzip der Effizienz zu organisieren. Wie sieht die
die ohne Ausbildung, das sind die Älteren, und das sind
Effizienz bei den privaten Vermittlern eigentlich aus? Im die Alleinerziehenden.
Jahr 2010 sind 634 000 Vermittlungsgutscheine ausgege-
ben worden. Eingelöst worden sind davon 50 000. Das Frau von der Leyen, wenn Sie hier auftreten und sa-
entspricht 7,9 Prozent. gen, die Zahl der Arbeitslosen unter den Alleinerziehen-
den sei überproportional zurückgegangen, dann kann ich
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Ja
nur sagen: Das stimmt nicht. Genauso stimmt Ihre Rech-
und?)
nung nicht, dass Sie pro Kopf mehr als in den Jahren zu-
Arbeit haben davon nur 4,2 Prozent gefunden. Das ist vor ausgeben werden. Wenn Sie allerdings das Jahr 2005
das Prinzip der Effizienz à la FDP. zum Referenzjahr nehmen, also das Jahr, in dem diese
Regelung eingeführt worden ist und die Jobcenter im
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aufbau begriffen waren, dann zeigt das den Mangel an
sowie des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] – Seriosität in Ihrer Argumentation.
Lachen des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin]
[FDP]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Ich will hier aber gar nicht den Eindruck erwecken, als
würden schon mit dem Ausgeben des Vermittlungsgut- Die Zahl, die wirklich relevant ist, ist folgende: Die Zahl
scheines Kosten fällig, auch wenn damit durchaus Be- der Langzeitarbeitslosen ist im letzten Jahr um 4 bis 5 Pro-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15109
Brigitte Pothmer
(A) zent gesunken. Aber Sie kürzen in diesem Bereich um (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
25 Prozent. Sie können vieles außer Kraft setzen, nicht NEN)
aber Adam Riese.
Ich sage es Ihnen sehr deutlich: Auch Sie, Frau Kollegin
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pothmer, können Adam Riese nicht außer Kraft setzen.
sowie bei Abgeordneten der SPD) 5 Millionen Arbeitslose sind nun einmal mehr als knapp
3 Millionen Arbeitslose.
Die Probleme, die wir heute auf dem Arbeitsmarkt
haben, sind grundsätzlich anderer Natur als vor zwei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Jahren. Heute sind die Menschen arbeitslos, nicht weil
Arbeitsplätze fehlen, sondern weil ihnen die Qualifika- Wenn Sie die Zahlen nicht zur Kenntnis nehmen wollen,
tion für die vorhandenen Arbeitsplätze fehlt. Es ist Auf- dann nenne ich Ihnen hier in der Öffentlichkeit die Zah-
gabe der Arbeitsmarktpolitik, das zu verändern. Wenn len noch einmal: 2006 gab es 5 Millionen Arbeitslose.
das nicht gelingt, dann hat die Arbeitsmarktpolitik ver- Wir haben damals 1 643 Euro pro Kopf ausgegeben. Wir
sagt. Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeits- werden im Jahr 2011 2 524 Euro pro Kopf ausgeben,
losigkeit, das ist das Versagen der verantwortlichen damit Langzeitarbeitslose bzw. Arbeitslose in den Ar-
Ministerin. Dafür tragen Sie die Verantwortung. beitsmarkt integriert werden können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der neten der FDP)
LINKEN) Gegen Adam Riese werden Sie, Frau Kollegin Pothmer,
Die Anhörung hat das noch einmal deutlich gemacht. nicht argumentieren können.
Alle fordern eine Rücknahme der Kürzungen, aber auch
eine qualitative Verbesserung. Wir brauchen einen bes- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
seren Personalschlüssel. Wir brauchen besser qualifizier- Herr Kollege Schiewerling, erlauben Sie eine Zwi-
tes Personal in den Jobcentern. Wir brauchen Qualifizie- schenfrage der Kollegin Mast?
rungsmaßnahmen insbesondere für Geringqualifizierte,
die zu einem Abschluss führen. Wir brauchen die volle Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Finanzierung von Umschulungen, besonders in nachge-
Mit verhaltener Freude.
fragten Berufen wie in der Pflege. Welchen Sinn macht
es eigentlich, dass die Kosten der Umschulungen hier (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
nicht übernommen werden? Tatsächlich ist jede Um-
(B) schulung im Pflegebereich mit einer Jobgarantie verbun- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D)
den. Bitte schön, Frau Mast.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dazu finden wir in Ihrem Gesetzentwurf nichts, rein gar Katja Mast (SPD):
nichts. Mit diesem Gesetz treiben Sie die Spaltung des Herr Kollege Schiewerling, vielen Dank, dass Sie
Arbeitsmarktes und damit auch die Spaltung in der Ge- meine Zwischenfrage zulassen. – Mich interessiert, wie
sellschaft voran. Leider hat der Änderungsantrag, den sich die Pro-Kopf-Ausgaben für Langzeitarbeitslose in
die Fraktionen vorgelegt haben, daran nicht wirklich et- Deutschland seit Ihrer Regierungsübernahme entwickelt
was geändert. Deswegen werden wir diesem Gesetzent- haben bzw. entwickeln werden. Da Sie offenbar gerne
wurf nicht zustimmen. mit Zahlen agieren, wird es für Sie sicherlich kein Pro-
blem sein, uns auch hierzu konkrete Zahlen zu nennen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Karl Schiewerling (CDU/CSU):
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Die habe ich Ihnen gerade genannt.
LINKEN)
(Katja Mast [SPD]: Nein! Sie haben über Ar-
beitslosigkeit allgemein gesprochen, nicht
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: über Langzeitarbeitslosigkeit!)
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Karl Schiewerling. – Nein, Frau Kollegin, ich habe Ihnen die Zahlen ge-
nannt. – 2011 gibt es geschätzt 2,1 Millionen Arbeitslose
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im SGB-II-Bereich. Die Pro-Kopf-Ausgaben liegen bei
2 524 Euro. 2006 gab es 2,8 Millionen Langzeitarbeits-
Karl Schiewerling (CDU/CSU): lose. Damals wurden pro Kopf 1 643 Euro ausgegeben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Das sind die Zahlen.
Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es amüsant, dass (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Mast
sich die Opposition an unserer Bundesarbeitsministerin [SPD]: Sie haben über Arbeitslose allgemein
in persönlichen Fragen handfest abarbeitet. Sie scheint gesprochen!)
eine so gute Politik zu machen, dass Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, nur noch mit Schlägen Frau Kollegin Mast, es tut mir leid, dass die Zahlen nun
unterhalb der Gürtellinie operieren können. einmal so sind, wie sie sind, und dass Sie mit Ihrer Argu-
15110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Karl Schiewerling
(A) mentation nicht durchdringen. Aber auch Sie müssen Arbeitsplätze werden von der Wirtschaft geschaffen, und (C)
diese Zahlen einmal zur Kenntnis nehmen. die Wirtschaft kann sie nur bei einer entsprechenden
Konjunktur und dann schaffen, wenn gute Rahmenbe-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dingungen von der Politik gesetzt werden. Wir haben die
neten der FDP)
Rahmenbedingungen richtig gesetzt; sonst hätten wir
Wir schließen nach der Organisationsreform und der den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt nicht.
Reform der Regelsätze mit dem Gesetz, über dessen Ent-
wurf wir heute abschließend beraten, nun den dritten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Teil der Arbeitsmarktgesetzgebung, die Reform der ar- Der Weg ist von uns dadurch geebnet worden, dass
beitsmarktpolitischen Instrumente, ab. Ich finde, dass wir die Instrumente zusammengefasst haben, dass wir
wir in den letzten zwei Jahren einiges auf den Weg ge- mehr Flexibilität und Entscheidungsfreiheit vor Ort ha-
bracht haben. ben und die Instrumente zur Vermittlung auf den ersten
Arbeitsmarkt geschärft haben. Ich bin auf einige Dinge,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die wir jetzt erreicht, aber die wir zusammen in der letz-
Herr Kollege Schiewerling, auch Frau Kollegin ten Legislaturperiode nicht geschafft haben – das sage
Pothmer würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. ich Ihnen sehr deutlich –, ein klein wenig stolz. Wir ha-
ben es geschafft, die Entscheidungsfreiheit vor Ort anzu-
Karl Schiewerling (CDU/CSU): siedeln, weil die Situation zwischen Kiel und Konstanz,
Nein, jetzt nicht. zwischen Aachen und Görlitz völlig unterschiedlich ist.
Wir flexibilisieren, wir überlassen die Entscheidungs-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Mut freiheit den Verantwortlichen vor Ort, haben aber auch
verlässt ihn!) die dringende Bitte, dass diese Entscheidungsfreiheit
Die Notwendigkeit, die arbeitsmarktpolitischen In- wahrgenommen wird und die Möglichkeiten tatsächlich
strumente zu reformieren – ich sage Ihnen das in aller genutzt werden.
Deutlichkeit –, besteht unabhängig von der Konjunktur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und den Finanzen. Selbst wenn wir 4 Milliarden Euro
mehr zur Verfügung hätten, müssten wir die arbeits- Wir flexibilisieren sogar die Finanzierung dahin ge-
marktpolitischen Instrumente effizienter gestalten; denn hend, dass die Verantwortlichen entscheiden können, wie
ob 4 Milliarden Euro mehr oder 500 Millionen Euro we- sie immerhin 20 Prozent des gesamten Eingliederungsti-
niger, es geht in jedem Fall darum, die Steuergelder effi- tels – das sind weit mehr als 800 Millionen Euro – einset-
zient einzusetzen, weil wir gegenüber dem Steuerzahler zen, um die spezifischen Arbeitsmarktprobleme vor Ort
(B) für das, was wir tun – das bleibt immer so –, Verantwor- zu lösen. Das setzt Eigenverantwortung voraus. Darauf (D)
tung tragen. bauen wir, und darauf setzen wir unsere Akzente.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
neten der FDP)
Das hat auch etwas mit dem Fachkräftemangel zu tun.
Es geht bei dem, was wir tun, um einen Umbau und
Aber tun wir doch nicht so, als sei das Problem des
nicht – das wollen einige von Ihnen suggerieren – um ei-
Fachkräftemangels ein monolithischer Komplex. Es
nen Abbau der Sozialleistungen. Es geht erst recht nicht
handelt sich vielmehr um eine sehr differenziert zu be-
um einen Kahlschlag. Es geht darum, dass auch die
antwortende Frage,
Langzeitarbeitslosen ihre Chancen nutzen können, auf
dem ersten Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Zuruf von der LINKEN: Allgemeinplatz!) NEN]: Eben!)
Diese Gesetzgebung stellt in der Tat einen Paradigmen- weil die Situation der Menschen höchst unterschiedlich
wechsel dar. Wir müssen konsequent in die Qualifizie- ist. Dort, wo wir etwas leisten können, damit Jugendli-
rung investieren und konsequent eine Treppe zum ersten che, Heranwachsende und Menschen, die gerade in Be-
Arbeitsmarkt bauen. Einige brauchen mehr Stufen, um schäftigung gekommen sind, weiterqualifiziert werden,
dorthin zu kommen, einige brauchen nur eine Stufe oder um eine Perspektive zu haben, weil wir ihre Kraft, ihre
müssen nur einen Schritt gehen; es geht aber darum, dass Begabungen und ihre Fähigkeiten brauchen, investieren
wir die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt integrie- wir und bieten Qualifizierungsmöglichkeiten. Wir bitten
ren. alle Träger und Institutionen, die sich in diesem Bereich
engagieren, dies weiter mit voller Kraft zu tun.
Sie, Frau Kollegin Pothmer, sagen, uns habe die Kon-
junktur geholfen. Die Konjunktur hat uns überhaupt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nicht geholfen; sie ist vielmehr die Basis dafür, Men-
schen wieder im ersten Arbeitsmarkt unterzubringen. Es ist mir an dieser Stelle ein Anliegen, ein deutliches
Arbeitsmarktpolitische Instrumente schaffen keine Ar- Wort des Dankes an die vielen Initiativen und Träger zu
beitsplätze, sondern sie ebnen den Weg, um wieder in richten.
Beschäftigung zu kommen.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die werden
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sich aber über Ihre warmen Worte sehr
NEN]: Genau!) freuen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15111
Karl Schiewerling
(A) Ich weiß, dass in einigen Bereichen der Beschäftigungs- Gesellschaft auf Ihrer Seite. Wir haben in diesem Ver- (C)
initiativen, die sich für Langzeitarbeitslose einsetzen, fahren erlebt, wie Sozialverbände, Kirchen, Wohlfahrts-
Umstrukturierungen stattfinden werden. verbände und Initiativen gegen das Sturm gelaufen sind,
was heute verabschiedet wird.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kürzungen!
Reden Sie doch Deutsch!) (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Selbster-
Diejenigen, die ausschließlich Beschäftigung organisie- haltung! – Patrick Döring [FDP]: Blanker
Lobbyismus!)
ren, werden es schwer haben, weil wir sie auffordern,
Beschäftigung mit Qualifizierung zu verbinden und den Zwei Dinge müssen zusammen gesehen werden, Herr
Weg in den ersten Arbeitsmarkt zu organisieren. Zimmer: Ihre radikalen Kürzungen und die Veränderung
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit weniger der Instrumente. Die Kollegin Pothmer hat es auf den
Geld!) Punkt gebracht. Ich will es noch einmal sagen, weil Sie
es offenbar noch nicht verstanden haben: Sie geben den
Dafür werden wir die Mittel bereitstellen. Dafür werden Mitarbeitern in den Jobcentern vor Ort nur die Chance,
wir die Rahmenbedingungen schaffen. Wir erreichen Nein zu sagen, wenn sie ihr Ermessen ausüben. Das ist
mehr Effizienz, weil mehr Entscheidungsfreiheit vor Ort fahrlässig. Das haben sie auch wirklich nicht verdient.
entsteht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ohne Geld!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Ich bin ganz sicher, dass es nicht nur um die Frage geht, LINKEN)
wie wir die Mittel verteilen, sondern auch um die Frage, Wir wissen: Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist al-
wie wir die Mittel effizient einsetzen. les nichts. – Wir Sozialdemokraten haben einmal Instru-
In diesem Sinne freue ich mich darauf, dass wir zu mente reformiert, zusammen mit der CDU/CSU. Das
neuen Aufbrüchen in diesem Bereich kommen. Es geht war ein guter Schritt. Wir haben signalisiert: Wir sind
nicht um Abbau. Es geht um Umbau. Es geht um Schär- bereit, weiterzumachen. – Das gilt aber nicht, wenn Sie
fung. Es geht um gute Perspektiven für die Menschen, eine Instrumentenreform machen und sich die Instru-
junge wie ältere, damit sie eine gute und hoffnungsvolle mente nur noch auf das beziehen, was nach Ihren
Zukunft am Arbeitsmarkt haben. Ich bin froh darüber, Milliardenkürzungen hinter dem Komma noch übrig
dass sich die Zahlen so entwickelt haben, wie sie sich bleibt. Das ist Missbrauch von Reform.
entwickelt haben. Ich rate Ihnen, den Menschen das auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nicht schlechtzureden; des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(B) (D)
(Stefan Schwartze [SPD]: Das brauchen wir nicht! Das führt dazu, dass der Graben zwischen jenen Men-
Sie haben es so schlecht gemacht!) schen, die in guter Arbeit sind, und denen, die gar keine
denn sie brauchen Mut, und sie brauchen nicht perma- Arbeit haben oder zu schlechten Bedingungen arbeiten
nent Schwarzmaler, die ihnen sagen: Ihr habt sowieso müssen, noch tiefer wird. Das sind die Effekte Ihrer Ar-
keine Perspektive. – Sie haben eine Perspektive, und wir beitsmarktpolitik, auf die Sie so stolz sind.
eröffnen sie ihnen. Wir können das am Beispiel der Jugendwerkstätten in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Niedersachsen durchbuchstabieren. Frau Ministerin, Sie
kennen sich da aus. Sie wissen: Über 100 Einrichtungen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: arbeiten seit Jahren erfolgreich. Mehr als 5 000 junge
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Gabriele Menschen ohne Chance bekommen dort genau das, was
Lösekrug-Möller. sie brauchen, damit sie gut in Ausbildung und Arbeit
kommen. Wenn es nicht Proteste gegeben hätte, dann
(Beifall bei der SPD) wären diese Werkstätten radikal ans Ende ihrer Existenz
gekommen.
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): (Max Straubinger [CDU/CSU]: Ach je!)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Was wir jetzt haben, Kollege Straubinger, ist ein kleiner
Schiewerling, wer sich Effekte des Aufschwungs so an Fortschritt. Sie könnten sich bei Ihrer Kollegin
die Brust heftet, wie Sie es getan haben, der sollte die Connemann aus Niedersachsen informieren. Sie hat
andere Seite der Brust freilassen; denn dahin heften wir auch berechtigte Sorge in der Frage, wie es in diesem
dann die Effekte, die entstehen, wenn der Aufschwung Zusammenhang weitergeht.
nachlässt.
Das alles zeigt mir: Wenn es konkret darum geht, jun-
Was hier geschieht, ist unverantwortlich. Es ist unver- gen Menschen Chancen zu eröffnen, dann passen Sie
antwortlich, dass Sie sagen: All das Gute auf dem Ar- Ihre Politik nicht der Wirklichkeit an, sondern legen
beitsmarkt haben wir gemacht. – Ich glaube, die Men- wunderbare Sachen ins Schaufenster. Betreten dann aber
schen in Deutschland wissen das besser. Auch wenn Sie Bedürftige den Laden, finden sie leere Regale vor. – Das
so froh sind über das Gesetz, das heute verabschiedet ist die Politik, die Sie machen. Das gilt für den Grün-
wird, und sich einer Noch-Mehrheit im Parlament rüh- dungszuschuss. Das gilt für den Vermittlungsgutschein
men können, so haben Sie doch nicht die Mehrheit der für junge Leute. Da ist es ja eine wunderbare Ausnahme,
15112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Gabriele Lösekrug-Möller
(A) wenn es mit den Privaten funktioniert; wir haben das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- (C)
hier hinreichend erörtert. Auch das wird der FDP als chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
Partei nicht weiterhelfen. Möglicherweise eröffnet es GRÜNEN – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/
Personen, die irgendwann einmal ohne Mandat sein wer- DIE GRÜNEN]: Nicht einmal 2 Prozent!)
den, die Chance auf Vermittlung. Ich empfehle da auch
unsere öffentlichen Einrichtungen. Auch die vermitteln Ich möchte Sie für Folgendes sensibilisieren. Was ich
gut. Diese Aktion wäre nicht notwendig gewesen. eben genannt habe, waren die nackten Zahlen. Aber stel-
len Sie sich vor, wie viele persönliche Lebensschicksale
(Beifall bei der SPD) Hunderttausender sich konkret dahinter verbergen: Hun-
derttausende Menschen, die jetzt wieder schlafen kön-
Leider müssen wir den Gesetzentwurf ablehnen,
nen, Hunderttausende Familien, die in den Urlaub fahren
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie können können, Hunderttausende Menschen, die wieder eine
auch zustimmen!) Perspektive haben – das, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Opposition, sollten Sie anerkennen um des
trotz der Änderungsvorschläge, die von CDU/CSU und Lebensglücks dieser Menschen willen.
FDP immerhin noch gekommen sind. Einige waren bit-
ter nötig. Ich denke hier an die Wohnheime und an die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Förderung kleiner Einrichtungen, die offenbar von der Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die wählen jetzt
Frau Ministerin nicht beachtet worden sind. Es wird alle FDP!)
dringend Zeit, dass sich die Arbeitsmarkt- und Sozial-
Wir sind nicht so vermessen, alles auf unsere Regie-
politik in dieser Republik ändert.
rungsführung zurückzuführen.
Vielen Dank.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Gabriele
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lösekrug-Möller [SPD]: Das hörte sich aber
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) anders an!)
Wir wissen, dass bereits in der Vergangenheit Wesentli-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ches im Bereich der Wirtschaft geschehen ist, das dazu
Für die FDP spricht jetzt der Kollege Pascal Kober. geführt hat, dass es jetzt so viele Chancen für die Men-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schen auf dem Arbeitsmarkt gibt. Es gibt 1 Million of-
fene Stellen, die darauf warten, besetzt zu werden. Des-
halb ist es richtig, dass wir in die Weiterbildung
Pascal Kober (FDP): investieren. Wir investieren mehr, als Sie je zu investie-
(B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ren bereit waren. Sie haben 2005 2 Milliarden Euro in (D)
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie tun die Weiterbildung investiert.
mir schon leid;
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ NEN]: 2005 gab es die Jobcenter noch gar
DIE GRÜNEN: Oh! – Angelika Krüger- nicht! – Beate Müller-Gemmeke [BÜND-
Leißner [SPD]: Wir müssen Ihnen nicht leid NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Argumente wer-
tun, Herr Kober!) den nicht besser, wenn sie wiederholt werden!)
denn es ist offensichtlich sehr schwer, gegen eine so er- Wir investieren 3 Milliarden Euro. Das zeigt deutlich,
folgreiche Regierung Opposition zu machen. Ihnen fällt wo wir uns in der Verantwortung sehen. Wir ergänzen
nichts anderes ein, als auf persönliche Angriffe unter der das, was auf dem Arbeitsmarkt durch eine glücklicher-
Gürtellinie auszuweichen. weise gute Konjunkturentwicklung möglich war, durch
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: eine kluge Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
Welche persönlichen Angriffe denn?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich kann es nur wiederholen: Diese Regierung ist so Lassen Sie mich daran erinnern, dass ich Sie bei der
erfolgreich, wie Sie es sich im Interesse der Menschen in ersten Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfes gebe-
unserem Land nur wünschen könnten. Wir haben in der ten habe, sich nicht darauf zurückzuziehen, nur ständig
Bundesrepublik gegenwärtig 41 Millionen Erwerbstä- über die Rückführung von Mitteln zu klagen.
tige, so viele wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr.
Wir haben weniger als 3 Millionen Arbeitslose. Die (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das ist
Langzeitarbeitslosigkeit, die die Schwächsten der leider gescheitert!)
Schwachen betrifft, sank im letzten Jahr erstmalig seit Ich habe Sie aufgefordert, sich konstruktiv an der Ver-
Einführung des Hartz-IV-Systems um 6 Prozent. Die Ju- besserung der einzelnen Instrumente zu beteiligen; aber
gendarbeitslosenquote liegt bei unter 10 Prozent, also von Ihnen ist in dieser Hinsicht nichts gekommen. Wir
nur halb so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Im hingegen haben bei den bereits zur Verfügung stehenden
letzten Jahr wurden 684 000 zusätzliche sozialversiche- Instrumenten die Stellschrauben justiert, um so in Zu-
rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen. kunft größere Erfolge zeitigen können.
Von daher kann ich schon verstehen, dass es schwer ist,
Opposition gegen eine so erfolgreiche Regierung zu ma- Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Bei den 1-Euro-Jobs
chen. bzw. den Arbeitsgelegenheiten haben wir eine soge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15113
Pascal Kober
(A) nannte Nachrangigkeitsklausel eingeführt, sodass das In- geht es in der Tat gerade um die Schwächsten. Deshalb (C)
strument nur dann anwendbar ist, wenn – – – darauf können Sie vertrauen – werden wir auch weiter
mit Ihnen die Diskussion und die Auseinandersetzung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: suchen.
Herr Kollege Kober, ich wollte Sie eigentlich nicht Vielen Dank.
mitten im Satz unterbrechen. Möchten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Heil zulassen? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Pascal Kober (FDP): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:


Eine Zwischenfrage des Kollegen Heil natürlich Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
gerne. Max Straubinger.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön. Max Straubinger (CDU/CSU):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Hubertus Heil (Peine) (SPD): Wir verabschieden heute das Gesetz zur Verbesserung
Geschätzter Kollege Kober, in der vergangenen Wo- der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt. Damit
che war auf meine Einladung hin Herr Staatssekretär setzt sich nach der Jobcenterreform und der Leistungsre-
Brauksiepe in meinem Heimatwahlkreis. Dies ist der form die Reform der gesetzlichen Grundlagen der Ar-
Landkreis Peine, zwischen Braunschweig und Hannover beitsmarktpolitik der Bundesregierung fort. Ich glaube,
gelegen. Herr Staatssekretär Brauksiepe hat ähnlich ar- es ist ein sehr gutes Gesetz, das wir heute verabschieden,
gumentiert, wie Sie argumentiert haben, nämlich nach weil damit ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarkt-
dem Motto: Pro Kopf wird überhaupt nicht gespart. – politik verbunden ist. Es geht nämlich darum, mehr Ei-
Komischerweise erleben wir gerade, dass die Strukturen geninitiative bei den Jobcentern und bei der Arbeitsver-
einer hocheffizienten Berufsbildungs- und Beschäfti- mittlung insgesamt zuzulassen und diese nicht mit
gungsgesellschaft des Landkreises Peine zusammenbre- irgendwelchen Pflichtleistungen zu strangulieren. Das ist
chen. Derzeit vollzieht sich dort ein Strukturwandel. der entscheidende Gedanke bei dieser Gesetzgebung.
Dass die Caritas und die Diakonie über die Jugendwerk- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
stätten einiges zu berichten haben, hat die Kollegin der FDP)
Lösekrug-Möller bereits angesprochen.
Alle Arbeitsagenturen begrüßen die Möglichkeit der Ei-
(B) Ich habe eine einfache Frage an Sie. Ich schlage vor, geninitiative, die damit zukünftig verbessert wird. (D)
dass wir vereinbaren, dass Sie in einem Jahr in meinen
Wahlkreis kommen und den Menschen vor Ort erklären, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dass alles so toll ist, wie Sie es hier prognostizieren. NEN]: Das stimmt nicht!)
Nehmen Sie meine Einladung an? – Natürlich. – Darüber hinaus werden damit den Men-
schen mehr Chancen eröffnet.
Pascal Kober (FDP):
Lieber Hubertus Heil, zunächst einmal möchte ich da- In den vergangenen Jahren haben wir bereits eine er-
rauf hinweisen, dass dieses Gesetz noch gar nicht wirk- folgreiche Arbeitsmarktpolitik betrieben, auch in der
sam ist. Wenn die Träger jetzt verunsichert sind, was ih- Zeit der Großen Koalition; das möchte ich in keiner
Weise in Abrede stellen. Mittlerweile ist ein signifikan-
nen in Zukunft bevorsteht, dann liegt das im
ter Rückgang der Dauerarbeitslosigkeit festzustellen;
Wesentlichen daran, dass Sie hier nicht sachlich argu-
denn wir sind das Problem der Arbeitslosigkeit kontinu-
mentieren, sondern den Trägern Angst machen.
ierlich angegangen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Unter Rot-Grün gab es 5 Millionen Arbeitslose. Jetzt
Nun zu Ihrer Frage, Herr Heil. Ich komme gerne und sind es 2,8 Millionen Arbeitslose. Gestern wurde gemel-
lade Sie zugleich in meinen Wahlkreis ein. Danach tau- det, dass der Monat September den neuesten Tiefpunkt
schen wir uns darüber aus. Ich freue mich darauf. bei der Arbeitslosigkeit in Deutschland bedeuten wird.
Es wird 200 000 Arbeitslose weniger geben als vor ei-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nem Jahr im Monat September. Das zeigt sehr deutlich,
Wir haben im Bereich des 1-Euro-Jobs eine Nachran- dass der Arbeitsmarkt aufnahmefähig ist und dass es
gigkeitsklausel eingeführt, damit genau diejenigen da- deshalb geboten ist, die Instrumente so einzusetzen, dass
von profitieren, die es nötig haben und für die diese Ar- zunächst in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt wird und
beitsgelegenheit sinnvoll ist, statt sie zu verwenden, um nicht in irgendwelche Arbeitsgelegenheiten oder andere
irgendwelchen Trägern oder sonstigen Auftraggebern Formen der Eingliederung.
billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. So haben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
wir – die Zeit reicht nicht mehr, dies auszuführen – an ruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beides
ganz vielen Stellen gerade im Bereich des SGB II ganz ist wichtig!)
konkrete kleine Veränderungen vorgenommen, um diese
Instrumente zielgerichteter einzusetzen, damit mehr Ziel dieses Gesetzes ist es, den ersten Arbeitsmarkt zu
Menschen die Chance auf einen Arbeitsplatz haben. Uns bedienen. Ich habe natürlich Verständnis für diejenigen,
15114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Max Straubinger
(A) die sich als Leistungsanbieter von Eingliederungsmaß- (Beifall bei der SPD) (C)
nahmen betätigt haben. Wichtiger aber ist es, Menschen
in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Dass dieser Arbeitsmarkt aufnahmefähig ist, möchte Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
ich durch ein Beispiel aus meinem Heimatwahlkreis un- Kollegen! Was ich bis jetzt in der Debatte gehört habe,
termauern. Jüngst in der letzten Woche erschien dort könnte widersprüchlicher nicht sein. Es ist unglaublich.
eine Meldung von der Bundesagentur für Arbeit, dass Wir alle reden zum gleichen Gesetz, auf Regierungsseite
derzeit 197 Ausbildungsplätze nicht besetzt werden kön- sehr euphorisch, mit viel Lob und vielen Versprechun-
nen. Das bedeutet, dass es große Chancen für Jugendli- gen sowie viel Glauben daran, dass dieses Gesetz nun al-
che gibt. Sosehr ich die Leistungsfähigkeit von Jugend- les besser machen wird in der Arbeitsmarktpolitik.
netzwerken und sonstigen Einrichtungen schätze, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Natürlich
weitaus entscheidender ist es, die jungen Menschen zu- macht es alles besser!)
erst in eine Lehrstelle zu bringen. Nichts ist lehrreicher
als die praktische Erfahrung im Betrieb, um damit ein Die massive Kritik von der anderen Seite des Hauses,
selbstbestimmtes Leben führen zu können. Das ist der Herr Kolb, die hören Sie gar nicht. Die ignorieren Sie
Sinn dieser Gesetzgebung. genauso wie die Frau Ministerin, die die Oppositionskri-
tik und die Kritik auch der Verbände, der BA, der Ge-
Häufig wird kritisiert, es würden ständig nur finan- werkschaften und des Deutschen Landkreistags perma-
zielle Kürzungen vorgenommen. Es ist aber ein Unter- nent ignoriert. Eigentlich wundert mich das aber nicht.
schied – Vorredner haben es bereits gesagt –, ob wir Schon seit langer Zeit beobachte ich, dass Ihr Programm
5 Millionen Arbeitslose haben oder 3 Millionen oder un- heißt: Große Ankündigung, Versprechungen, Schönre-
ter 3 Millionen. Weil auch das oft bezweifelt wird, den, Sparen zulasten der Ärmsten und dann wider besse-
möchte ich darlegen: Im Jahr 2007 hatten wir im res Wissen Durchziehen mit der Kraft der Mehrheit der
SGB-II-Rechtskreis 2,5 Millionen Arbeitslose zu ver- Stimmen dieses Hauses.
melden. Im Jahr 2011 sind wir bei 2 Millionen ange-
langt. Das heißt, wir haben 500 000 Arbeitslose weniger. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Zahlen spre-
Im SGB-III-Rechtskreis hatten wir im Jahr 2007 chen doch für uns, Frau Krüger-Leißner!)
1,25 Millionen Arbeitslose zu verzeichnen, im Jahr 2010 Ich möchte eines klarstellen: Keiner von uns entzieht
waren es 900 000, und im Jahr 2011 – davon bin ich sich der Verpflichtung, auch Reformen der Instrumente
überzeugt – werden wir knapp 800 000 erreichen. der Arbeitsmarktpolitik zu machen. Nach den Evaluie-
Das zeigt sehr deutlich: Auch wenn wir geringere rungen erscheint es mir ohnehin notwendig, hier Verbes-
Mittelansätze im Haushalt tätigen, steht trotzdem je Fall serungen zu erbringen. Auch die Veränderungen in der
(B) mehr Geld zur Verfügung. In dem Zusammenhang kann Gesellschaft und in der Arbeitswelt erfordern das. Ich (D)
man hervorheben – es wurde bereits dargelegt –: Im Jahr frage Sie allerdings: Was ist eine Reform wert, die sich
2007 wurden je Fall ungefähr 2 000 Euro aufgewandt; nicht den dringendsten Fragen dieser Zeit stellt? Dazu
im laufenden Jahr werden es ungefähr 2 500 Euro je Fall gehören folgende Fragen:
sein. Wir werden unserer Verantwortung gegenüber den (Florian Bernschneider [FDP]: Was ist mit der
Arbeitslosen mitten in unserem Land gerecht und inte- Weiterbildung, Frau Kollegin?)
grieren sie in den ersten Arbeitsmarkt. Das ist zuvörderst
unsere Aufgabe. Wie gelingt es, die Verfestigung in der Langzeitarbeits-
losigkeit aufzubrechen? Wie begegnen wir dem zuneh-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- menden Fachkräftemangel? Oder: Wie verhindern wir
neten der FDP) Dumpinglöhne im Niedriglohnbereich? Auf all diese
Deshalb ist es kleinlich, was die Opposition heute be- Fragen sind in diesem Gesetzentwurf keine Antworten
trieben hat. zu finden. Stattdessen höre ich von Ihnen, dass mit der
Instrumentenreform alles viel einfacher, viel transparen-
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- ter und viel effizienter werden soll. Es soll mehr Gestal-
NIS 90/DIE GRÜNEN) tungsmöglichkeiten geben. Sie reden sogar von neuen
– Ja natürlich ist das alles kleinlich, was Sie dargelegt Perspektiven.
haben. – Sie haben selbst kein richtiges Konzept, außer (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Botschaft ist
nach immer mehr Geld und Finanzmitteln zu rufen, dann angekommen!)
aber nicht bereit zu sein, den Arbeitslosen die Chancen,
die der Arbeitsmarkt bietet, mit effizienter und effektiver Aber wo sind diese Perspektiven?
Arbeitsvermittlung zu eröffnen. Das werden wir mit den In der Anhörung haben selbst die Sachverständigen
neuen Instrumenten tun. Deshalb werbe ich für Zustim- diese neuen Perspektiven nicht gesehen. Bei allem Ge-
mung des ganzen Hauses. rede über Chancen für die Arbeitsuchenden und insbe-
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. sondere für die Langzeitarbeitslosen ist eines gewiss:
Mit diesem Gesetzentwurf wird alles viel schwieriger.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das gilt sowohl für die öffentliche Beschäftigung als
auch für die Qualifizierung, die berufliche Weiterbil-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dung, Umschulungen und die Chance, den Existenzgrün-
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Angelika dungszuschuss zu bekommen. Das betrifft nicht nur ein-
Krüger-Leißner. zelne Gruppen, sondern alle, quer durch die Bank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15115
Angelika Krüger-Leißner
(A) (Beifall bei der SPD) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): (C)
Danke schön. – Herr Präsident! Meine Damen und
All das ist schon schlimm genug. Das Fatale an die-
Herren! Der Heilige Vater hat gestern im Plenum dieses
sem Gesetzentwurf ist aber die Verknüpfung mit dem
Bundestages von dem „hörenden Herz“ gesprochen. Ich
Sparhaushalt, den wir in der letzten Sitzungswoche zum
finde, das ist eine sehr schöne Metapher.
ersten Mal beraten haben. Die Spielräume für die Job-
center und die BA werden enger und enger. Auch die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das linke Herz
Gestaltungsspielräume sind nicht mehr gegeben. Das gilt hat keine Ohren!)
insbesondere für die individuelle Beratung, für eine län-
gerfristige Förderung und für zielgenaueres Handeln. Da Wenn ich mir das eine oder andere, was heute von der
geht den Jobcentern die Luft aus. Opposition vorgetragen wird, anhöre, bekomme ich den
Eindruck, Sie sind der Meinung, ein hörendes Herz be-
Sie haben den Schwerpunkt Ihrer Sparmaßnahmen reits dann zu haben, wenn Sie spendierende Hosen anha-
genau im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik ange- ben. Das ist falsch.
setzt. Allein die für das nächste Jahr geplanten Kürzun-
gen in Höhe von 4 Milliarden Euro sind Beleg dafür, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dass diese Reform, über die wir heute reden, nichts wei- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein hörendes
ter als eine Makulatur ist. Auch die am Mittwoch vorge- Hirn wäre auch gut!)
nommenen Änderungen ändern nichts an der Fehlaus- Dies ist in der Anhörung vor einigen Tagen sehr deut-
richtung Ihres Gesetzentwurfs. Sie zeigen lediglich, dass lich geworden. Dort hat die Kollegin Mast erklärt: Ge-
das, was Sie eingebracht haben, ziemlich stümperhaft rade dann, wenn die Arbeitslosigkeit abnimmt, müssen
ist. wir doch mehr Geld ausgeben. Demnach müssen wir
Liebe Ministerin, ich bin überzeugt, dass Sie sehr mehr Geld ausgeben, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt,
bald zu der Erkenntnis kommen werden, dass die Kür- aber auch, wenn sie steigt. Da kann ich doch nur fragen:
zungen im Bereich der öffentlichen Beschäftigung der Können Sie mir eigentlich irgendeinen Zeitraum nennen,
schwerwiegendste Fehler sind. Das wird Ihnen auf die in dem wir weniger Geld ausgeben können? Oder führt
Füße fallen. Denn gerade in diesem Bereich brauchen ihr Modell dazu, dass für die Betreuung des letzten Ar-
wir intensive Aktivitäten und viele neue Anreize, um beitslosen 8 Milliarden Euro und 15 000 Eingliederungs-
dem künftigen Fachkräftebedarf gerecht zu werden. beamte zur Verfügung stehen? Was Sie hier vorschlagen,
kann doch eigentlich nicht Ihr Ernst sein.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Diese dringenden Investitionen in die Zukunft fehlen.
Das erinnert mich ein wenig an die britische Kolonial-
(B) Stattdessen gibt es ganz kuriose Regelungen – anders (D)
kann man das nicht sagen, Herr Vogel –, mit denen Sie verwaltung, die in der Zeit von 1935 bis 1957 ihr Perso-
nal verdreifacht hat, obwohl die Zahl der Kolonien stark
an erfolglosen Instrumenten festhalten. Aber es ist ja al-
les durchschaubar. abgenommen hat. Das muss eine sozialdemokratische
Regierung gewesen sein.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so-
Kommen Sie bitte zum Schluss. wie bei Abgeordneten der FDP – Beate
Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Und jetzt etwas zum Inhalt! – Hubertus
Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Heil [Peine] [SPD]: Ich finde Loriot übrigens
Danke, Herr Präsident. Auf der anderen Seite kürzen viel witziger als Sie!)
Sie die Mittel für Instrumente wie den Gründungszu-
schuss, für den es in diesem Land einen großen Bedarf Meine Damen und Herren, ich will, weil das nicht er-
gibt. Man kann nur sagen: ziemlich kopfloses Agieren, wähnt worden ist, auf einige Höhepunkte der Instrumen-
nicht weitsichtig und purer Lobbyismus. tenreform eingehen; ich glaube, das ist wichtig. Wir ha-
ben nicht nur die Instrumente gestrafft, sondern haben
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: auch – das finde ich besonders wichtig – die Mittel für
Kommen Sie jetzt bitte wirklich zum Schluss. die freie Förderung deutlich erhöht: Wir haben den An-
teil der Eingliederungsmittel, den die Bundesagentur für
die freie Förderung nach § 16 e und f SGB II aufwenden
Angelika Krüger-Leißner (SPD): darf, auf insgesamt 20 Prozent aufgestockt. Das gibt den
Diese Reform steht unter keinem guten Stern. Vermittlern vor Ort erheblich mehr Flexibilität.
Danke. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der SPD) NEN]: Aber dadurch wird die Decke nicht
größer!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir haben das Aufstockungs- und Umgehungsverbot he-
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt rausgenommen. Auch das trägt zu erheblich mehr Flexi-
erteile ich Dr. Matthias Zimmer von der CDU/CSU- bilität bei.
Fraktion das Wort.
Wir haben bei den Arbeitsgelegenheiten – sie sollen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wettbewerbsneutral ausgestaltet sein, zusätzlich geschaf-
15116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dr. Matthias Zimmer


(A) fen werden und im öffentlichen Interesse liegen – die schließe mich dem nur an –: Vielleicht sind wir eines Ta- (C)
Rolle der Beiräte gestärkt. Ich bin schon der Meinung, ges, am Ende unserer parlamentarischen Laufbahn, froh,
dass die Beiräte eine wichtige Funktion erfüllen können, auf einen guten, fähigen privaten Arbeitsvermittler zu
wenn es darum geht, vor Ort zu entscheiden, welche Ar- treffen, der uns in einer Notlage weiterhelfen kann.
beitsgelegenheiten geschaffen werden können.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Für die
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Kollegen der FDP!)
GRÜNEN]: Das sagen wir ja schon lange!)
Abschließend sage ich: Es ist ein gutes Gesetz, das
Wir haben die Senkung der Trägerpauschale auf maxi- den Notwendigkeiten am Arbeitsmarkt Rechnung trägt.
mal 150 Euro pro Teilnehmer vom Tisch bekommen. Ich empfehle Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Die Maßnahmen werden, sofern sie wirtschaftlich effi-
zient sind, nach wie vor gefördert; da gab es große Be- Vielen Dank.
denken bei den Trägern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Last, but not least – auch das ist mir wichtig; Kollegin
Lösekrug-Möller hat es erwähnt –: Das Jugendwohnen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ist wieder ins Gesetz aufgenommen worden. Verehrte Ich schließe die Aussprache.
Frau Kollegin, es war der Arbeitsminister Scholz, der es
herausgenommen hat; wir haben es jetzt wieder hinein- Tagesordnungspunkt 30 a. Wir kommen zur Abstim-
genommen. Ich finde das gut. Zudem haben wir eine pä- mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
dagogische Betreuung installiert. Gesetzentwurf zur Verbesserung der Eingliederungs-
chancen am Arbeitsmarkt. Der Ausschuss für Arbeit und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
Ich finde, darauf kann man einmal stolz sein. Wir empfehlung auf Drucksache 17/7065, den Gesetzentwurf
können sagen, wir haben hier eine gute Reform hinbe- der Bundesregierung – Drucksachen 17/6277 und
kommen. 17/6853 – in der Ausschussfassung anzunehmen.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das leider Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
nicht!) Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
Bei der einen oder anderen Wortmeldung, die ich hier entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
höre, hatte ich ein wenig den Eindruck, dass die Kritik, der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
die geübt wurde, weit über das Ziel hinausschießt. Frau tionsfraktionen angenommen.
(B) Kollegin Pothmer, das betrifft vor allen Dingen die Kür- (D)
zung des Gründungszuschusses. Dritte Beratung
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
NEN]: 83 Prozent!) stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen
Ich bin nicht der Meinung – es entspricht auch nicht der Abstimmungsverhältnis angenommen.
üblichen Diktion –, dass wir damit, wie Sie es formuliert
haben, „die Drecksarbeit der Ablehnung nach unten ver- Tagesordnungspunkt 30 b. Wir setzen die Abstim-
lagern“. mung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/7065 fort. Der
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch, so ist Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
es! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
GRÜNEN]: Reden Sie mal mit den Beamten tion der SPD auf Drucksache 17/6454 mit dem Titel
vor Ort! Sie empfinden das genau so!) „Arbeitsmarktpolitik an den Herausforderungen der Zeit
Ich finde, das ist starker Tobak. Ich glaube, die Beamten orientieren – Weichen für gute Arbeit, Vollbeschäftigung
und Mitarbeiter vor Ort machen das sehr verantwortlich. und Fachkräftesicherung stellen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
Frau Pothmer, es ist aber nicht verantwortlich, die Mit- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
nahmeeffekte beim Gründungszuschuss zu leugnen. Sie Oppositionsfraktionen angenommen.
könnten sonst auch gleich das Geld unter das Branden-
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
burger Tor legen und sagen: „Nehmt es doch mit!“ So
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
geht es nicht. sache 17/5526 mit dem Titel „Arbeitsmarktpolitik neu
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ausrichten und nachhaltig finanzieren“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Letzter Punkt: die private Arbeitsvermittlung. Ich Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die
finde es schon richtig, dass wir mit der privaten Arbeits- Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller
vermittlung einen Wettbewerber der Bundesagentur für übrigen Fraktionen angenommen.
Arbeit aufgestellt haben. Ich glaube auch, dass der Wett-
bewerb der Bundesagentur und den privaten Arbeitsver- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
mittlern guttut. Eine Kollegin hat es bereits gesagt – ich die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15117
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Grünen auf Drucksache 17/6319 mit dem Titel „Arbeits- Jetzt muss der zweite Schritt erfolgen. Wir müssen (C)
marktpolitik – In Beschäftigung und Perspektiven inves- die deutsche Gesetzgebung, und zwar die einfache Ge-
tieren statt Chancen kürzen“. Wer stimmt für diese setzgebung, daraufhin überprüfen, ob sie dem entspricht,
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- was die Kinderrechtskonvention vorschreibt. In der Kin-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derrechtskonvention gibt es den wunderbaren Art. 3.
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- Dieser schreibt den Staaten sehr dezidiert vor, dass sie
tionsfraktionen angenommen. bei all ihrem Handeln – Ämter, Gerichte, Parlamente –
vorrangig das Kindeswohl zu berücksichtigen haben.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: Das ist jetzt notwendig. Das heißt, wir haben die Vorbe-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene halte jetzt zwar zurückgenommen, aber wir haben die
Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Petra einfache Gesetzgebung keineswegs angepasst. Wir ha-
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak- ben die Flüchtlingskinder nicht aufgenommen; mein
tion der SPD Kollege Strässer wird nachher noch etwas zu den Punk-
ten sagen, die dringend überarbeitet gehören. Wir haben
Kinderrechte in Deutschland umfassend stär- ebenfalls nicht deutlich gemacht, dass wir wollen, dass
ken die Kinderrechte auch im Grundgesetz als Werteaus-
druck unserer Gesellschaft wiederzufinden sind, und
– Drucksache 17/6920 –
zwar mit den Kindern als Rechtssubjekte, nicht nur als
Überweisungsvorschlag: Objekte. Das alles haben wir noch nicht geschafft.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss Wir brauchen auch dringend ein klares Konzept für
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Kinder- und Jugendpolitik in Deutschland. Der Aktions-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union plan „Für ein kindergerechtes Deutschland“ ist ausgelau-
fen. Er müsste in allen Politikfeldern unter Beteiligung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die aller Kinder und Jugendlichen fortgeschrieben werden;
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es das ist dringend notwendig. Dabei ist ebenfalls notwen-
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dig, dass wir festlegen, wie wir messen, was wir erreicht
das so beschlossen. haben und ob wir etwas erreicht haben. Ein Monitoring-
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- verfahren muss also verankert werden. Auch das ist un-
nerin das Wort der Kollegin Marlene Rupprecht für die ser Ziel. Ich glaube, da gibt es bei uns Kinderpolitikern
antragstellende SPD-Fraktion. kaum Unterschiede. Wir Kinderpolitiker wollen das. Es
ist dringend notwendig; denn bei allem muss das Kin-
(B) (Beifall bei der SPD) deswohl im Mittelpunkt stehen. Also: Kinderrechte ins (D)
Grundgesetz und Fortführung des Aktionsplans mit ei-
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): nem Monitoringverfahren für Kinder- und Jugendpolitik
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! in Deutschland.
Die SPD hat einen Antrag „Kinderrechte in Deutschland Ein wichtiger Punkt ist die Beteiligung von Kindern
umfassend stärken“ eingebracht. Worum geht es uns? In und die Wahrnehmung der Rechte von Kindern. Wir ha-
diesem Jahr feiern wir „22 Jahre UN-Kinderrechtskon- ben keine Anlaufstellen für Kinder, um Beschwerden
vention“. Darin sind alle Rechte von Kindern – gemeint loszuwerden. Darüber haben wir bei den Runden Ti-
sind alle Kinder von 0 bis 18 Jahren – niedergelegt. Das schen zum Kindesmissbrauch diskutiert. Dort wurde ge-
ist übrigens das meistgezeichnete Dokument. Bis auf fordert – das steht auch im Abschlussbericht –, soge-
zwei Staaten, nämlich USA und Somalia, haben alle die nannte Anlaufstellen oder Ombudsstellen einzurichten,
Konvention gezeichnet und ratifiziert, auch wir. die im Interesse der Kinder handeln und die Stimme er-
Wir haben als Staat bei der Zeichnung aber festgelegt, heben. Diese Aufgabe müssen wir uns als nächstes vor-
dass wir bei bestimmten Punkten Vorbehalte, Anmer- nehmen.
kungen haben. Das Parlament fand das eigentlich über- Ich glaube, Deutschland muss sich mit dem, was wir
flüssig und hat immer wieder angemahnt, dies zurückzu- in all den Jahren auf den Weg gebracht haben, nicht ver-
nehmen. Das Parlament und die Kinderkommission stecken. Das möchte ich hier betonen. Aber wir dürfen
waren sich darüber einig, dass es auf internationaler nicht stehen bleiben und sagen, dass wir alles erreicht
Ebene nicht besonders gut aussieht, wenn Deutschland haben, sondern wir müssen fragen: Wie muss es weiter-
bei bestimmten Punkten Ausnahmen machen will. Diese gehen, damit unsere Kinder so aufwachsen, dass aus ih-
Ausnahmen betrafen unter anderem Adoptionskinder, nen selbstverantwortliche, für die Gesellschaft verant-
Kindersoldaten, aber auch Flüchtlingskinder. Im Grunde wortliche Menschen werden, die die Demokratie
genommen waren alle Punkte geregelt, bis auf die stärken? Wenn wir das erreichen, haben wir nicht das
Flüchtlingskinder. Das führte jedoch dazu, dass die Vor- Problem, das wir derzeitig feststellen, wenn es um politi-
behaltserklärung nach wie vor Bestand hatte. Letztes sche Beteiligung geht, nämlich dass sich die Hälfte der
Jahr ist es gelungen – danke an die Koalition; das muss Wahlberechtigten enthält. Das ist meiner Ansicht nach
ich einfach sagen –, dass sie zurückgenommen wurde. eine Katastrophe für die Demokratie.
International hat es uns geholfen, weil endlich gesehen
wurde: Deutschland nimmt es zurück. Ein erster großer Das kann man ändern, indem man Kindern klarmacht,
Schritt ist getan. dass man sie ernst nimmt, indem man auf Augenhöhe,
15118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Marlene Rupprecht (Tuchenbach)


(A) kindgerecht und altersgemäß mit ihnen arbeitet und in- werden kann. Noch 2007 – da waren, wie ich glaube, So- (C)
dem man ihre Rechte gut nachlesbar verankert. Das ist zialdemokraten in der Bundesregierung vertreten –
die Aufgabe und die Herausforderung für die nächsten herrschte politische Einigkeit, die ausländerrechtliche
Jahre. Aus diesem Grund haben wir einen Antrag vorge- Altersgrenze unangetastet zu lassen.
legt, von dem wir hoffen, dass er Ihre Zustimmung fin-
(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)
det und unterstützt wird, damit wir mit dem, was begon-
nen wurde, fortschreiten können. Insofern warne ich ein wenig vor zu starker Schwarzma-
lerei. Dadurch entstünde ein völlig falsches Bild. Natür-
Vielen Dank.
lich liegen uns die Rechte der Kinder, die zu uns kom-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem men, am Herzen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wenn wir jetzt darüber reden, was wir tun können, um
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der die Rechte von Kindern umzusetzen und zu gewährleis-
Kollege Dr. Peter Tauber. ten, dann gehört es auch zur Wahrheit, festzustellen, dass
es nicht allein in unserer Hand liegt. Darüber entschei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den nicht wir als Deutscher Bundestag allein, sondern es
geht hier um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): der eben auch andere Ebenen beteiligt sind. Religionsun-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine terricht zum Beispiel auch für muslimische Kinder
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir – diese Forderung haben Sie ja aufgegriffen – ist eine
über das Thema Kinderrechte sprechen, wenn wir da- Aufgabe, der sich die Länder stellen müssen. Das Glei-
rüber sprechen, wie wir Kinderrechte umfassend stärken che gilt für die Vermittlung von Medienkompetenz.
wollen, so ist es ganz gut, wie es die Kollegin Rupprecht Auch hier sind die Länder und ihre Bildungsplanungen
auch getan hat, die Probleme in den Blick zu nehmen. Es gefragt.
ist aber auch ganz gut, wenn wir uns einmal darüber ver-
Ein weiteres Thema, das immer wieder genannt wird,
ständigen, wie viel Gutes in den letzten Jahren eigentlich
sind die Beteiligungsrechte. Hier haben wir einiges auf
geschehen ist.
den Weg gebracht. Hauptgeldgeber bei der Schaffung ei-
Sie haben dankenswerterweise einen Punkt genannt, nes Individualbeschwerdeverfahrens ist die Bundesrepu-
nämlich die Rücknahme der Vorbehaltserklärung zu der blik, wenn es darum geht, beim zuständigen Ausschuss
UN-Kinderrechtskonvention. Ich glaube, dass das ein für die Rechte des Kindes Beschwerdemöglichkeiten für
(B) ganz starkes und wichtiges Signal war, dass wir als poli- Kinder einzurichten. (D)
tische Entscheidungsträger die Rechte der Kinder ernst
So schwarz-weiß und so negativ, wie Sie es andeuten,
nehmen und dafür die entsprechenden Rahmenbedin-
ist die Welt Gott sei Dank auch in diesem Punkt nicht.
gungen schaffen wollen.
Dieser Aspekt ist mir und meiner Fraktion sehr wichtig;
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denn wir müssen ein wenig aufpassen, mit welchem
Duktus wir über Kinder und Jugendliche und ihre Per-
Sie wissen aber auch, dass der einzige Punkt, der spektiven in diesem Land reden. Ich halte es schon für
noch offen ist, ein bisschen komplizierter ist. Hier geht richtig, den Finger in die Wunde zu legen und Probleme
es um Kinder, die im Rahmen eines Asylverfahrens nach auch zu benennen, statt sie schönzureden, aber in Ihrem
Deutschland kommen. Es beginnt bei der Frage, wie die Antrag und zum Teil auch in Ihren Ausführungen sugge-
Identität der Kinder festgestellt werden kann, wenn sie rieren Sie, dass die Rahmenbedingungen für Kinder und
ohne Papiere einreisen. Hier muss man auch fragen, wa- Familien in diesem Land schlecht seien.
rum sie keine Papiere haben. Es geht weiter mit der
Frage, ob es eine Verpflichtung zur Ausstellung einer Ein weiteres Problem ist, dass wir uns allzu oft in den
Geburtsurkunde geben soll. Auch das ist ja eine Forde- Debatten gegenseitig das Recht absprechen, diese Inte-
rung, die erhoben wird. Hier muss zunächst einmal ge- ressen wirklich in den Blick zu nehmen. Das ist nicht so.
sagt werden, auf welcher Basis denn dann eine Geburts- Wir können über die sachliche Angemessenheit eines
urkunde ausgestellt werden soll. Betreuungsgeldes streiten, aber dem anderen zu unter-
stellen, er sei bei diesen Überlegungen nicht von dem
Das alles ist also ein bisschen schwieriger und kom- Bemühen geleitet, die Rechte von Kindern und Familien
plizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Deswegen in den Blick zu nehmen, geht nicht. Wenn wir das nicht
rate ich dazu, ein bisschen vorsichtiger zu sein und nicht ändern, dann tun wir Kindern, Jugendlichen und vor al-
frank und frei darüber zu sprechen. Ansonsten könnte lem auch Familien in dieser Gesellschaft keinen Gefal-
nämlich der Eindruck entstehen, als ob hinter gewissem len. Deswegen mahne ich auch bei diesem Punkt ein
staatlichen Handeln böser Wille steht. Das, glaube ich, bisschen mehr Sachlichkeit in der Debatte an.
ist nicht so. Das kann man zurückweisen. Auch Ihre Par-
tei selbst hat das in der Vergangenheit ja so gewertet, (Beifall bei der CDU/CSU)
wenn ich das richtig sehe.
Welcher Eindruck entsteht nämlich? Bei jungen Paa-
Wir diskutieren dieses Thema nicht erst seit gestern. ren, die vor der Frage stehen, ob sie sich für Kinder ent-
Es gab wechselnde politische Mehrheiten in der Frage, scheiden, entsteht der Eindruck, dass sie von der Politik,
ob die Vorbehaltserklärung überhaupt zurückgenommen aber auch von der Gesellschaft selbst alleingelassen wer-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15119
Dr. Peter Tauber
(A) den. Ich glaube, dieser Eindruck ist falsch. Wir können groß werden können, wie wir alle es uns wünschen; man (C)
das so definitiv nicht stehenlassen. Denn die Politik hat könnte auch sagen: glücklich und behütet.
in den letzten Jahren an unheimlich vielen Stellen die
Rahmenbedingungen für Familien und damit für Kinder (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
deutlich verbessert. NEN]: Das ist aber nicht das Thema!)

(Beifall bei der CDU/CSU) Die Maßnahmen, die ich erwähnt habe, helfen dabei.
Deswegen gehören sie in diese Rede.
Das beginnt beim Ausbau der Betreuungsangebote.
Sie wissen, dass der Bund die Kommunen und die Län- Ich könnte ferner das Bildungspaket, das Kindern und
der hierbei mit einem unglaublich umfangreichen Pro- Jugendlichen die Teilhabe an unserer Gesellschaft er-
gramm, dem Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetz, un- möglichen soll, erwähnen.
terstützt, sowohl bei den investiven Maßnahmen im (Iris Gleicke [SPD]: Theorie und Praxis!)
Gebäudebereich als auch bei den laufenden Betriebskos-
ten. Wir werden dafür ab 2014 weiterhin 770 Millionen Zum Beispiel wollen wir Kindern den Zugang zur digita-
Euro jährlich zur Verfügung stellen. len Welt ermöglichen. Die Projektgruppe Medienkom-
petenz der Enquete-Kommission „Internet und digitale
Es geht weiter mit der Unterstützung und dem stärke- Gesellschaft“ unter Leitung von Thomas Jarzombek hat
ren Einsatz von Familienhebammen; auch dies ist ein einen wunderbaren Vorschlag gemacht, um allen Kin-
ganz wichtiges Instrument, das wir den Familien an die dern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, digitale
Hand geben wollen. Kompetenzen zu vermitteln: Jedem Schüler soll künftig
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. ein Laptop zur Verfügung gestellt werden.
Miriam Gruß [FDP]) Wir versuchen, die Menschen, die mit jungen Leuten
Ein weiterer Aspekt ist das Bundeskinderschutzgesetz, zu tun haben, fit zu machen, zu qualifizieren und auszu-
das wir auf den Weg bringen. Zudem bleiben trotz der bilden. Hierbei spielen die Ausbildung frühpädagogi-
Sparbemühungen im Hinblick auf den Bundeshaushalt scher Fachkräfte und die Medienqualifizierung für Er-
die Mittel des KJP weitgehend ungekürzt. zieherinnen und Erzieher im Netzwerk Frühkindliche
Bildung mit dem wunderbaren Namen BIBER eine
(Caren Marks [SPD]: Na, na, na!) wichtige Rolle.
Lediglich im Bereich der Bürokratie sparen wir ein. Die Ein weiteres Element ist das Elterngeld, das ermög-
Leistungen für die Verbände und damit für die Kinder licht, dass Familie in diesem Land ganz anders gelebt
und Jugendlichen bleiben gleich; auch dies ist ein ganz werden kann und Väter ihrer Verantwortung stärker ge- (D)
(B) wichtiges und starkes Signal.
recht werden können; auch darauf haben Kinder nämlich
(Beifall des Abg. Thomas Jarzombek [CDU/ ein Recht. Außerdem sind wir der Auffassung, dass Kin-
CSU] – Diana Golze [DIE LINKE]: Allein im derlärm keine Belästigung, sondern Zukunftsmusik ist.
Kinder- und Jugendplan 2 Millionen weniger! Auch dies muss man deutlich sagen. Das gehört dazu,
Das ist doch nicht nichts!) wenn wir über Kinderrechte in dieser Gesellschaft reden.
Hinzu kommt die Offensive „Frühe Chancen“ zur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sprach- und Integrationsförderung. In diesem Rahmen Ich habe eine Menge politischer Maßnahmen aufge-
stellen wir für 4 000 Schwerpunktkitas Sprache & Inte- listet.
gration 400 Millionen Euro bereit.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Caren Marks [SPD]: Wir reden aber nicht
NEN]: Ja! Aber jetzt mal zum Thema!)
über den Haushalt, sondern über Kinder-
rechte!) Ich persönlich bin der festen Überzeugung: Wenn wir
über Kinderrechte reden, dann geht es in allererster Linie
Auch durch die Erhöhung des Kindergeldes werden die
darum, dass Kinder ein Anrecht auf Liebe und Fürsorge
Familien gestärkt.
oder, wie es der Heilige Vater gestern gesagt hat, auf ein
(Diana Golze [DIE LINKE]: Das kommt bei hörendes Herz haben. Das kann die Politik nicht verord-
den Armen aber nicht an!) nen. Das können nur die Eltern ihren Kindern geben.
Damit stärken wir auch das Recht der Kinder, in einer (Beifall der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/
Familie groß zu werden. An dieser Stelle sei darüber hi- CSU] – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE
naus die Initiative „Jugend stärken“ erwähnt. GRÜNEN]: Politik muss Rahmenbedingungen
setzen!)
Da ich eben vonseiten der Sozialdemokraten den
Zwischenruf gehört habe, Zum Schluss ist mir wichtig, Folgendes festzustellen:
In diesem Land haben Kinder trotz vieler Probleme alle
(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Du musst
Chancen. Es gibt nur wenige Länder auf dieser Erde, in
aber gut hören können!)
denen Kinder unter solch guten Rahmenbedingungen he-
ich würde nicht zum Thema reden, sage ich Ihnen: Ich ranwachsen können und in denen sie solch gute Perspek-
rede sehr wohl zum Thema. Denn all diese Maßnahmen tiven haben. Wenn wir dies den jungen Menschen nicht
tragen am Ende dazu bei, dass Kinder in diesem Land so zurufen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn
15120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Dr. Peter Tauber


(A) sich zu wenige von ihnen für ein eigenes Kind entschei- Schauen wir uns die Probleme einmal an: wachsende (C)
den. Kinderarmut, Bildungsungerechtigkeit, fehlende Beteili-
gungsrechte für Kinder und die nach wie vor bestehende
Aus meiner Sicht haben Kinder vor allem ein Recht: massive Verletzung der Rechte von Flüchtlingskindern.
das Recht auf liebende und fürsorgliche Eltern. Weit Ja, die Bundesrepublik hat nach langer Debatte endlich
über 80 Prozent der Eltern in diesem Land machen einen den letzten Vorbehalt gegen die UN-Kinderrechtskon-
guten Job. vention zurückgenommen, der die minderjährigen unbe-
(Iris Gleicke [SPD]: Einen „Job“?) gleiteten Flüchtlinge betraf. Aber in der Praxis hat sich
nichts geändert.
In einer Diskussion über Kinderrechte muss man zu-
nächst einmal ihnen herzlich Dank sagen. Sie machen Die Aussage von 1992, dass sich die Bundesrepublik
das besser als wir, wenn wir nur reden und Regelungen vorbehalte, Unterschiede zwischen Inländern und Aus-
ins Grundgesetz schreiben. Das hilft den Kindern selten. ländern zu machen, war weder 1992 tragbar, noch ist sie
Die Kinder brauchen Eltern, die sich um sie kümmern. es heute.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
NEN]: Aber wir müssen die Rahmenbedin- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gungen dafür setzen!) Die betroffenen Kinder sind vor Krieg, Gewalt, drohen-
Viele von ihnen machen das ganz toll. Ihnen gilt es der Zwangsrekrutierung, drohender Zwangsverheiratung,
Danke zu sagen. Verfolgung und Beschneidung geflüchtet. Sie kommen
zum Teil nach einer dramatischen Flucht in Deutschland
Herzlichen Dank. an, erhalten aber nach wie vor nicht das, was wir deut-
schen Kindern ohne Vorbehalte zubilligen, indem wir ih-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen Rechte und einen Rechtsbeistand an die Seite stellen.
Es fängt doch schon damit an, dass Kinder ab 16 Jahren
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: auch nach der Rücknahme des Vorbehaltes ein Asylver-
Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze von der fahren ohne Beistand durchstehen müssen, dass sie in
Fraktion Die Linke. vollgestopften Sammelunterkünften untergebracht wer-
den, dass sie nur die notdürftigste Gesundheitsversor-
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. gung haben und dass sie in Abschiebehaft genommen
Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) werden. Das ist ein unhaltbarer Zustand!

(B) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem (D)
Diana Golze (DIE LINKE): BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolle-
ginnen und Kollegen! Kinder sind keine kleinen Er- Wir müssen dafür sorgen, dass diese Kinder – und
wachsenen. Das sagen nicht nur viele Kolleginnen und nach der UN-Kinderrechtskonvention sind es Kinder,
Kollegen hier im Haus, das sagt auch das Bundesverfas- Herr Dr. Tauber, auch wenn sie 16 oder 17 Jahre alt sind;
sungsgericht. Ich bin der Meinung, dass diese Auffas- die UN-Kinderrechtskonvention gilt für alle Kinder un-
sung endlich auch eine Mehrheit hier im Haus bekom- ter 18 Jahren – auch als solche behandelt werden, und
men sollte, mit der Folge, dass Kinderrechte im zwar menschenwürdig und ihrer Situation entsprechend.
Grundgesetz verankert werden. Wir wollen keine reine Symbolpolitik anstelle von
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem tatsächlicher Umsetzung. Wir wollen, dass das deutsche
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Asylrecht, das Aufenthaltsrecht, das Asylverfahrens-
recht und das Sozialrecht endlich angepasst werden und
Ein achtjähriger Junge hat mir gegenüber bei einem dass die Rücknahme des Vorbehaltes endlich in die Ge-
Workshop einmal den Satz geprägt: Kinderrechte sind setzgebung einbezogen wird.
das, was Kinder brauchen, damit es ihnen gut geht. – Ich
finde, treffender kann man es gar nicht formulieren. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
Doch was so einfach klingt, scheint schwer in die Reali- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
tät überführbar zu sein; denn sonst würden wir uns heute Wir bleiben dabei: Kinderrechte müssen für alle Kin-
nicht zum ich weiß nicht wievielten Mal im Parlament der gelten. Aber das bezieht sich auch auf andere Berei-
mit diesem Thema befassen. che in unserer Gesellschaft. Ich habe das Thema gerade
Es ist nicht zu bestreiten, dass sich der Blick auf die schon einmal kurz angesprochen, nämlich Kinderarmut.
Kinder in unserer Gesellschaft verändert hat. Bei diesem 2,6 Millionen Kinder in Deutschland leben auf Armuts-
veränderten Blick auf die Kinder merken wir natürlich niveau. Die Regelsätze der Grundsicherung für Kinder
auch, welche Aufgaben alle noch vor uns liegen. sind nicht an den Bedarfen von Kindern orientiert. Sie
reichen nicht für gesunde Ernährung, Beiträge für Sport-
1992 – Marlene Rupprecht hat es gesagt – wurde die vereine oder Musikunterricht, ganz zu schweigen von
UN-Kinderrechtskonvention durch die Bundesrepublik Kino- oder Theaterbesuch. Das wollte die Bundesregie-
ratifiziert. Das ist ziemlich lange her. Doch Deutschland rung durch das großangekündigte sogenannte Bildungs-
ist heute nach wie vor weit davon entfernt, ein wirklich und Teilhabepaket regeln. Aber wie jeder weiß: In der
kinderfreundliches Land zu sein. Praxis ist es ein Flop. Es ist bürokratisch und lebensfern.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15121
Diana Golze
(A) Die Nachweispflicht und die ständige gesonderte Bean- Recht zu verändern. Die Forderung nach einer Änderung (C)
tragung drangsalieren die betroffenen Eltern. Zudem des Asylrechts läuft also ins Leere.
grenzt es Kinder nach wie vor vom freien und vor allem
gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Gesellschaft (Caren Marks [SPD]: Nein! Sie haben es nicht
aus. Das ist genau das Gegenteil von dem, was die UN- verstanden!)
Kinderrechtskonvention einfordert. Im Übrigen haben wir in Bayern in vorbildlicher Weise
Seit Jahren wird die Bundesrepublik vom UN-Aus- einiges zugunsten der Familien verändert, die hier in
schuss für die Rechte der Kinder kritisiert, weil hier, wie schlimmen Unterkünften hausen mussten.
in kaum einem anderen Industrieland, der soziale Status
Die Vertragsstaaten der UN-Kinderrechtskonvention
der Elternhäuser über Schullaufbahn und Bildungserfolg
haben sich außerdem verpflichtet, dem Generalsekretär
entscheidet. Die Bundesrepublik sagt zwar in ihrem letz-
der UN Berichte über entsprechende Maßnahmen und
ten Staatenbericht, Kinder und Jugendliche haben ihre
die dabei erzielten Fortschritte vorzulegen. Wenn die
eigenen Rechte, aber davon ist in der praktischen Umset-
SPD jetzt einen EU-Staatenbericht fordert, dann ist das
zung und in der praktischen Politik nichts zu sehen.
also kein Mehrwert, sondern etwas, was von den Ver-
Ich wiederhole es daher: Kinder sind keine kleinen tragsstaaten bereits geliefert wird. Eines ist aber ganz
Erwachsenen. Um Kindern einklagbare Rechte zu ver- entscheidend: Mit der Rücknahme haben wir gezeigt,
leihen, ist es überfällig, den Vorgaben der UN-Kinder- dass das Kindeswohl im Mittelpunkt unserer Politik
rechtskonvention zu folgen und Kinderrechte auf steht.
Schutz, Förderung und Beteiligung im Grundgesetz zu
verankern. Zweitens: das Individualbeschwerdeverfahren. Rechte
ohne Durchsetzungsverfahren sind nichts wert. Deshalb
Im April nächsten Jahres jährt sich die Ratifizierung freut es mich, dass auf unsere Initiative hin erreicht
durch Deutschland zum 20. Mal. Ich fände das einen gu- wurde, dass der UN-Menschenrechtsrat im Juni 2011
ten Anlass dafür, dass Deutschland hier einen deutlichen dem Entwurf des Zusatzprotokolls zur UN-Kinderrechts-
Schritt vorwärtsgeht. Die Kinder warten darauf. konvention zur Errichtung eines Individualbeschwerde-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. verfahrens zugestimmt hat. Damit bekommen die Kinder
ganz individuell ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem sich gegen die Verletzung ihrer Rechte wehren können.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Mit dem Individualbeschwerdeverfahren können Kin-
der und Jugendliche ihre Rechte im UN-Ausschuss für
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(B) die Rechte des Kindes in Genf rügen, und das – darauf (D)
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
wurde Wert gelegt – im kindgerechten Verfahren. Es war
Miriam Gruß.
unsere Regierung, die diesen Antrag gemeinsam mit
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) neun anderen Staaten beim Menschenrechtsrat einge-
bracht hat.
Miriam Gruß (FDP): Drittens: Debatte zum Thema „Kinderrechte ins
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Grundgesetz“. Ich mache kein Hehl daraus und stehe
Damen und Herren! Ich gebe es zu: Der Antrag der SPD nach wie vor dazu: Als Mitglied der Kinderkommission
klingt sympathisch. Er beinhaltet aber nur wenig Neues. – ich gehöre ihr nach wie vor an, wenn auch nur als stell-
Deswegen möchte ich anhand von drei Punkten aufzei- vertretendes Mitglied – bin ich dafür, dass Kinderrechte
gen, wie wir die Kinderrechte in Deutschland konkret ins Grundgesetz aufgenommen werden.
gestärkt haben und weiterhin stärken:
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Erstens: die UN-Kinderrechtskonvention; sie ist jetzt
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
schon mehrfach angesprochen worden. Sie wurde im
Thomas Jarzombek [CDU/CSU])
Jahre 1992 mit einer Vorbehaltserklärung ratifiziert. Es
war diese Bundesregierung, die die Vorbehalte 2010 zu- Leider hat sich in unserer Koalition keine Mehrheit dafür
rückgenommen hat. Insofern freut mich die Anerken- finden können, aber ich mache mich persönlich nach wie
nung von dir, Marlene, in diesem Punkt. vor dafür stark.
(Beifall bei der FDP) (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich finde wirklich, ein besseres Zeichen der Kinder- NEN]: Nicht einmal in der eigenen Fraktion
freundlichkeit konnten wir in dieser Regierung fast nicht Zustimmung! Da hat niemand geklatscht! –
setzen. Das hat vorher nämlich keine Regierung hinbe- Gegenruf der Abg. Caren Marks [SPD]: Nur
kommen. einer aus der CDU/CSU – aus Versehen!)
Es war stets die Auffassung aller Bundesregierungen, Die Kinderrechte müssen in Deutschland umfassend
dass die Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention, ins- gestärkt und weiter bekannt gemacht werden. Es gibt
besondere der Schutz der Flüchtlingskinder nach Art. 22, aber auch die Möglichkeit – darauf haben wir uns ver-
in Deutschland ohne Einschränkung umgesetzt werden ständigt, und das hat auch Eingang in den Koalitionsver-
sollten. Mit der Rücknahme der Erklärung entsteht des- trag gefunden –, unterhalb der Ebene des Grundgesetzes
halb auch keine Notwendigkeit, das innerstaatliche Kinderrechte zu stärken, und das tun wir.
15122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Miriam Gruß
(A) Das beste Beispiel dafür ist der Kinderlärm; das ist … soweit nicht die gesetzlichen Regelungen zwi- (C)
schon angesprochen worden. Wir haben erreicht, dass schen deutschen und ausländischen Staatsangehöri-
Kinderlärm kein Grund mehr zur Klage ist. Tatsächlich gen differenzieren.
gilt der alte Spruch der Kinderkommission: Für uns ist
Kinderlärm jetzt endlich Zukunftsmusik. – Kinderlärm Liebe Kolleginnen und Kollegen, das passt vorne und
darf nicht mehr mit Industrielärm gleichgesetzt werden. hinten nicht zusammen.
Kinder haben ein Recht auf kindertypischen Lärm, und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
das ist gut so. Das ist das beste Beispiel dafür, dass wir bei der SPD und der LINKEN)
auch unterhalb der Ebene des Grundgesetzes eine Menge
für die Rechte von Kindern tun konnten und getan ha- Entweder haben alle unter 18-Jährigen die Rechte, wie
ben. sie in der Kinderrechtskonvention dargelegt sind, oder
wir unterscheiden nach Staatsangehörigkeit. Letzteres ist
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) aber der Kinderrechtskonvention zufolge überhaupt
nicht zulässig.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit der Ra-
Für die Grünen hat jetzt die Kollegin Katja Dörner tifizierung der UN-Kinderrechtskonvention längst selbst
das Wort. dazu verpflichtet, minderjährige Flüchtlinge eben nicht
wie Erwachsene zu behandeln. Wir Grünen fordern ganz
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): klar, endlich die notwendigen Änderungen im Asyl-, im
Aufenthalts- und im Sozialrecht vorzunehmen. Die un-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
selige Geschichte dieser Vorbehaltserklärung sollte und
Liebe Kollegen! Wenn man der Rede von Herrn Tauber
muss endlich voll und ganz ein Ende haben.
lauscht, könnte man glatt meinen, man sei bei Alice im
Wunderland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Bei euch
glaubt man, man sei bei Alice Cooper!) Wir hören und lesen sehr oft den Satz: Kinder sind
unsere Zukunft. Das stimmt. Kinder sind aber bei wei-
Das ist aber nicht der Fall. Ich werde in meiner Rede tem nicht nur unsere Zukunft, sondern Kinder sind heute
darlegen, dass die Wirklichkeit dieser Bundesregierung und jetzt. Kinder haben heute und jetzt eigene Rechte,
durchaus etwas anders aussieht. und zwar aus sich selbst heraus. „Kinder haben was zu
Fakt ist nämlich: Die Stärkung der Kinderrechte steht sagen“ – das ist auch das Motto des diesjährigen Welt-
nicht weit vorne auf der Agenda, wenn sie bei dieser kindertages. Wir müssen uns alle selber fragen, wo wir
(B)
Bundesregierung überhaupt vorkommt. Die Ministerin Kinder zu Wort kommen lassen. Wo und wie beziehen (D)
hat ganz lapidar verkündet: Die UN-Konvention ist in wir selbst die Perspektive von Kindern in unser eigenes
Deutschland voll umgesetzt. Es gibt überhaupt keinen Arbeiten, in die Gesetzgebung mit ein?
Handlungsbedarf. – Der Aktionsplan „Für ein kinderge- Die Kinderkommission, der ich selber angehört habe,
rechtes Deutschland“ ist ausgelaufen. Er wurde sang- leistet hier einen ganz wichtigen Beitrag als – im besten
und klanglos beerdigt. Es soll keinen Nachfolgeplan ge- Sinne – Lobby für Kinder im Bundestag. Aber auch die
ben. Ein Lichtschimmer an Aktivität – das haben wir Bundesregierung ist gefragt – vor allem nach den großen
heute schon gehört –, die Rücknahme der Vorbehaltser- Ankündigungen, die zu diesem Thema im Koalitionsver-
klärung, verlischt letztlich ohne Wirkung, weil die Rück- trag zu lesen sind, die aber bisher keine besonderen Aus-
nahme ausdrücklich keine konkreten Folgen haben soll. wirkungen hatten –, echte Beteiligungs- und Partizipa-
Ich finde, das ist eine Farce. tionsverfahren zu schaffen und auch anzuwenden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ähnlich verquer wie bei der Vorbehaltserklärung ar-
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten gumentieren Bundesregierung, CDU/CSU und FDP bei
der SPD) der Frage der Aufnahme der Kinderrechte ins Grundge-
Die Bundesregierung dreht im Zusammenhang mit setz. Die Argumentation läuft nach dem Motto: Das
der Rücknahme der Vorbehaltserklärung und den Folgen brauchen wir nicht, das hätte sowieso keine Folgen. –
für die minderjährigen Flüchtlinge ganz seltsame Pirou- Ich frage mich: Warum gibt es diesen Widerstand gegen
etten. Das kann man in der Antwort auf unsere Kleine eine Maßnahme, die nach eigener Angabe sowieso keine
Anfrage zur Situation und zur Stärkung der Kinderrechte Folgen hätte?
sehr schön nachlesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte ein Beispiel nennen. Wir haben gefragt, Die Antwort ist ganz simpel: weil Sie es selber besser
ob alle 16- und 17-jährigen Jugendlichen nach Auffas- wissen.
sung der Bundesregierung Kinder im Sinne der Konven-
tion seien. Die Antwort – Zitat –: In der UN-Kinderrechtskonvention ist eine klare An-
forderung formuliert. Ich möchte Art. 3 dieser Konven-
Ja, weil Artikel 1 der VN-Kinderrechtskonvention tion zitieren:
das so bestimmt.
Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen … ist
Wir haben weiter gefragt, ob alle 16- und 17-jährigen Ju- das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorran-
gendlichen die gleichen Rechte haben. Antwort: Ja, gig zu berücksichtigen ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15123
Katja Dörner
(A) Diesem Vorrangprinzip kann unserer Meinung nach Deswegen warne ich davor, solche Rechte ins Grundge- (C)
durch nichts mehr Durchschlagskraft verschafft werden setz aufzunehmen. Sie sind schon im Grundgesetz ent-
als durch die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundge- halten.
setz. Deshalb ist diese Aufnahme überfällig.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bei der SPD und der LINKEN) NEN]: Dann nennen Sie doch mal die Nach-
teile!)
Ich mache der Bundesregierung und den Koalitions-
fraktionen einen Vorschlag: Sie machen das einfach so Der Vorrang des Wohles des Kindes ist – das liegt in der
wie bei der Rücknahme der Vorbehaltserklärung. Wir er- Natur der Sache – schon im Grundgesetz niedergelegt.
arbeiten zusammen einen Gesetzentwurf zur Aufnahme (Diana Golze [DIE LINKE]: An welcher
der Kinderrechte ins Grundgesetz. Stelle, bitte?)
Die Opposition unterstützt das alles und verschafft die Die UN-Konvention vom 20. November 1989 über
für die Verfassungsänderung notwendige Zweidrittel- die Rechte des Kindes ist deshalb entstanden, weil man
mehrheit. Die rechte Seite des Hauses sagt einfach wei- festgestellt hat, dass die Kinder weltweit am ehesten und
terhin: Das hat keine Folgen. Die linke Seite des Hauses als Erste darunter zu leiden haben, wenn es zu Hungers-
macht dann etwas daraus. nöten, Epidemien und Konflikten kommt.
(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es gibt aber auch andere interessante Aspekte in der
NEN]: Sehr kreativ!) Konvention, mit denen man sich ebenfalls beschäftigen
muss. Das Übereinkommen stellt nämlich klar, dass, wie
Vielen Dank. Sie vorhin schon richtig gesagt haben, Kinder keine Er-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wachsenen im Kleinformat sind, sondern das Recht auf
bei der SPD und der LINKEN) Erziehung haben. Dazu gehören eine liebende Umge-
bung und das Recht, angenommen zu werden. Dass sie
das Recht auf Erziehung durch ihre Eltern haben, steht in
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Konvention. Das hat weitreichende Folgen, die ich
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege gleich noch darlegen werde. Ich weiß jetzt schon, dass
Norbert Geis das Wort. Sie nicht mit allem einverstanden sein werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Diana Golze [DIE LINKE]: Wenn wir dann
auch über Bildung und Teilhabe reden, können
(B) Sie das gerne machen!) (D)
Norbert Geis (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Sie haben das Recht auf Erziehung durch ihre Eltern.
Damen und Herren! Ich gehe gleich auf die Forderung
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ein, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Man
Da hat doch niemand etwas dagegen!)
kann zwar darüber diskutieren, aber denken Sie daran,
dass die Menschenrechte für alle Menschen gelten und Das Recht auf Erziehung durch ihre Eltern ist im Üb-
deshalb auch für die Kinder; denn Kinder sind ebenfalls rigen auch durch ein interessantes Urteil des Bundesver-
Menschen. Wer bezweifelt, dass die Menschenrechte für fassungsgerichts vom 1. April 2008 herausgestellt wor-
alle Menschen Geltung haben, der bezweifelt ihre Reich- den. Darin wird festgestellt, dass die Eltern nach Art. 6
weite. Grundgesetz die Pflicht haben, Kinder zu erziehen, dass
aber daraus auch folgt – das kommt in Art. 6 Grundge-
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- setz nicht direkt zum Ausdruck –, dass die Kinder ein
NEN]: Das bezweifeln wahrscheinlich nicht Recht darauf haben, dass die Eltern sie erziehen.
einmal Sie, Herr Geis!)
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dies ergibt sich letztlich auch aus der Konvention der NEN]: Ja! Das heißt die Mütter und die Väter! –
Vereinten Nationen vom 20. November 1989, die die Diana Golze [DIE LINKE]: Das ist auch die
Rechte der Kinder hervorhebt. Darin wird betont, dass einzige Stelle, wo Kinder vorkommen!)
das Kind von Anfang an eine Person ist und eine eigene
Würde hat, wie jeder andere Mensch auch. – Ich habe Sie nicht verstanden. Sie müssen eine Zwi-
schenfrage stellen; sonst kann ich nicht darauf eingehen.
Deshalb ist es nach meiner bescheidenen Auffassung
und auch nach Auffassung vieler anderer nicht notwen- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dig, diese Rechte eigens in das Grundgesetz aufzuneh- NEN]: Wir wollen Ihre Redezeit nicht unnötig
men. Das würde unter Umständen sogar, statt einen Ak- verlängern!)
zent zugunsten der Kinder zu setzen, zum Nachteil der – Wenn Sie das nicht wollen. Sie werden es mir sicher-
Kinder wirken, wenn nicht alles so im Grundgesetz nie- lich nicht übelnehmen, wenn ich meine Redezeit aus-
dergelegt wird, wie wir uns das vorstellen, was die Frage nutze.
angeht, welche Rechte Kinder haben.
(Caren Marks [SPD]: Wir sind schmerzfrei! –
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gegenruf des Abg. Dr. Peter Tauber [CDU/
NEN]: Welche Nachteile denn?) CSU]: Den Eindruck habe ich nicht immer!)
15124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Norbert Geis
(A) – Dann ist es ja gut. Aber die Schmerzen, die Sie berei- – Der Papst hätte mir nicht widersprochen. (C)
ten, sind manchmal kaum noch zu ertragen.
Lassen Sie mich wenigstens noch ein paar Gedanken
(Caren Marks [SPD]: Dann habe ich ja alles dazu äußern. Vielleicht haben Sie die Geduld, das wirk-
richtig gemacht! – Monika Lazar [BÜND- lich einmal anzuhören.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür sehen Sie noch
gut aus!) Ich wiederhole: Wenn es richtig ist, dass die Kinder
einen Anspruch darauf haben, von ihren Eltern erzogen
Am besten geht man dann hinaus. zu werden – das haben sowohl das Bundesverfassungs-
Aber wir wollen jetzt nicht über Schmerzfreiheit re- gericht als auch die UN-Kinderrechtskonvention festge-
den, sondern über Kinderrechte. Wenn es richtig ist, dass stellt –, dann müssen wir die Voraussetzungen dafür
die Kinder ein Recht darauf haben, von ihren Eltern er- schaffen. Wir müssen akzeptieren, dass die Erziehung
zogen zu werden, wie es im Bundesverfassungsgerichts- durch die Eltern die Regel ist. Wir müssen dort eingrei-
urteil von 2008 und in der Konvention aus dem Jahr fen, wo Ausfälle sind. Es gibt Ausfälle in der Bundesre-
1989 festgestellt wird, dann ist es auch richtig, dass die publik Deutschland, etwa bei 5 Prozent der Kinder. Wir
Familien stärker in den Fokus gelangen. Wir müssen die müssen stärker auf unterer Ebene, durch die Jugendäm-
Familien stärker ins Blickfeld nehmen. Kinder können ter, dafür Sorge tragen – ich weiß nicht, ob man das ganz
nämlich nur dann richtig erzogen werden, wenn ihre Fa- und gar gesetzlich regeln kann; wahrscheinlich ist das
milien funktionieren. nicht möglich –, dass die Elternkompetenz gestärkt wird
– das ist der nächste und wichtigste Schritt –, damit die
(Zuruf der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchen- Kinder in den ersten beiden Lebensjahren bei ihren El-
bach] [SPD]) tern bleiben können. Es gibt genug Gutachten darüber,
dass die Kinder in den ersten zwei Jahren die Nähe der
Bei manchen Äußerungen hat man das Gefühl – ganz Mutter und die Nähe des Vaters mehr als sonst in ihrem
und gar nicht bei Ihren, Frau Rupprecht –, dass die El- Leben brauchen. Diese Nähe ist so wichtig wie die tägli-
tern geradezu gefährlich sind für die Erziehung der Kin- che Nahrung.
der, dass man alles dem Staat überlassen muss
Sie sagten, wir hätten zu wenig zustande gebracht.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Man kann natürlich immer kritisieren. Denken Sie ein-
NEN]: Aber auch Bildungseinrichtungen sind mal daran, dass wir 1998 das neue Kindschaftsrecht ge-
nicht gefährlich für Kinder!) schaffen haben. Durch die Neuregelung wurde das Ver-
und dass man die Kinder – ich weiß, dass Sie jetzt wider- hältnis zwischen Eltern und Kindern ganz entscheidend
(B) sprechen – möglichst schnell in die Kita geben muss, da- geändert. Das wird allerseits anerkannt. Für die damalige (D)
mit sie dort ordentlich erzogen werden. Das ist falsch. Neuregelung war Edzard Schmidt-Jortzig verantwort-
lich. Er hat sich dadurch sicherlich große Verdienste er-
(Zuruf der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/ worben.
DIE GRÜNEN])
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen.
– Ich weiß, dass das Ihren ideologischen Vorstellungen Wir haben uns natürlich auch um die gewaltfreie Erzie-
durchaus nicht entspricht. – hung der Kinder zu bemühen. Auf Initiative der damali-
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen Justizministerin Däubler-Gmelin hat das Parlament
NEN]: Sie haben aber keine ideologischen im Jahre 2000 im BGB verankert, dass Kinder gewaltfrei
Vorstellungen!) zu erziehen sind. Auch daran wird deutlich, dass man im
Hinblick auf die Rechte des Kindes vieles bedacht hat.
Alle Gutachten bestätigen dies. Unser größtes Problem im Augenblick ist der sexuelle
Missbrauch. Hierzu gab es einen Runden Tisch. Dieser
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Runde Tisch hat, wie ich meine, wirklich gute Vor-
NEN]: Nein, nein!) schläge gemacht, die auch aufgenommen worden sind
– Sie kennen sie nicht, und Sie lesen sie nicht, weil Sie und im Kinderschutzgesetz niedergelegt werden sollen.
bereits eine ideologische Schranke haben. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Am nächsten
Montag findet dazu eine Anhörung statt. Deswegen will
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ich mich gar nicht über all das ausbreiten, was vorgese-
NEN]: Aber Sie nicht! – Caren Marks [SPD]: hen ist. Ich meine, dass wir mit einer Novellierung des
Sie sind von Schranken umzingelt!) Kinderschutzgesetzes vor allen Dingen in dem Versuch
einen Schritt weiterkommen, die Kinder vor dem Ver-
Das ist ja das Problem. Man kann sich mit Ihnen über- brechen des sexuellen Missbrauchs zu schützen.
haupt nicht darüber unterhalten. Sie regen sich bei die-
sem Thema sofort auf und gehen hoch wie ein Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist gut,
HB-Männchen. Man kann mit Ihnen überhaupt nicht or- sich darüber zu streiten. Ich hoffe, dass wir trotz des
dentlich diskutieren. Sie degradieren dieses Parlament Streits zu einem gemeinsamen Weg finden.
geradezu zum Kindergarten. Das ist wirklich wahr.
Danke schön.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Der Papst
hätte Ihnen gestern widersprochen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15125

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herzog richtig wahrgenommen haben. Es geht nicht um (C)
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Christoph das Recht eines jeden Kindes auf Erziehung, sondern da-
Strässer das Wort. rum, dass Kinder aufgrund ihrer besonderen Schutzbe-
dürftigkeit eines besonderen Schutzes bedürfen und dass
(Beifall bei der SPD)
dieser im Rahmen einer gesamtstaatlichen Regelung am
besten gewährleistet ist, wenn man ihre Rechte in das
Christoph Strässer (SPD): Grundgesetz aufnimmt. Ich füge als jemand, der der
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meinung ist, dass man mit der Aufnahme von Rechten in
Sehr geehrter Herr Kollege Geis, ich glaube, Ihr Exkurs das Grundgesetz sehr restriktiv umgehen sollte, hinzu:
in das Verfassungsrecht, was den Art. 6 des Grundgeset- Was ist nicht alles in den letzten Jahren geregelt worden!
zes angeht, beruht auf einem Verständnis des Gewollten, So ist der Tierschutz in Art. 20 a im Grundgesetz veran-
das fundamental anders ist als das, was Sie in diese Be- kert worden. Zudem ist geplant, Sport, Kultur – und was
stimmung hineinzuinterpretieren versuchen. Niemand weiß ich noch alles – als Staatsziele aufzunehmen. An-
hier braucht eine Belehrung darüber, dass Kinder Per- gesichts dessen kann man meiner Meinung nach nicht
sönlichkeiten sind, Persönlichkeitsrechte haben und den
ernsthaft darüber streiten, ob Kinderrechte den gleichen
Schutz des Grundgesetzes genießen – schon jetzt.
Verfassungsrang haben sollen wie die Staatsziele Sport
Darüber kann und darf es keinen Streit geben. Aber und Kultur. Dann muss man erst recht die Kinderrechte
das, was mit der geplanten Änderung des Art. 6 des aufnehmen. Vielleicht sollte man danach aufhören, das
Grundgesetzes geplant und gewollt ist, bezieht exakt das Grundgesetz weiter auszudehnen. Aber die Kinder brau-
ein, was im Prinzip alle Rednerinnen und Redner vorge- chen einen im Grundgesetz verankerten Schutz. Dabei
tragen haben, nämlich dass Kinder eines besonderen bleibe ich.
Schutzes bedürfen, dass Kinder in bestimmten Situatio-
nen eben nicht mit eigener Stimme sprechen können und (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
dass sie deshalb mehr als alle anderen auf staatlichen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Schutz angewiesen sind. Kinder bedürfen daher nach Sie haben schon sehr oft auf die Kinderrechtskonven-
meiner Überzeugung des Schutzes des Art. 6 GG. tion verwiesen. Art. 3 der Kinderrechtskonvention hat
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem aus meiner Sicht genau das, was wir im Hinblick auf das
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Grundgesetz einfordern, nämlich Verfassungsrang. Das
sollte auch in der deutschen Rechtsordnung so sein.
Da das alles sehr theoretisch klingt, möchte ich auf Dann könnten wir uns vielleicht andere Sachen sparen.
die Praxis zu sprechen kommen. Aber wir kämpfen noch immer darum, dass Art. 3 der
(B) (Abg. Norbert Geis [CDU/CSU] meldet sich Kinderrechtskonvention, in dessen Zentrum das Wohl (D)
zu einer Zwischenfrage) des Kindes steht, in der Gesetzgebung dieser Regierung
und dieser Koalition Berücksichtigung findet.
– Ich bin mir nicht sicher, ob das verfahrensmäßig geht.
Ich will deutlich auf das Recht derjenigen Kinder hin-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: weisen, die im Gegensatz zu vielen anderen Kindern in
Natürlich geht das. Wenn Sie es zulassen, kann der Deutschland – der überwiegenden Mehrheit geht es gut;
Kollege Geis Ihnen eine Zwischenfrage stellen. – Bitte das will ich nicht bestreiten; man wäre völlig verrückt,
schön. wenn man das täte – weniger Rechte haben. Diese Kin-
der bedürfen auch eines besonderen Schutzes durch die
Norbert Geis (CDU/CSU): Ausgestaltung der einfachgesetzlichen Regelungen.
Ich will nur darauf hinweisen – ich denke, dass Sie
mit mir darin übereinstimmen –, dass ich versucht habe, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
genau den Inhalt des Urteils des Bundesverfassungsge- Herr Kollege Strässer, die Kollegin Deligöz möchte
richts vom 1. April 2008 wiederzugeben. Danach haben Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie es er-
die Eltern die Verpflichtung, ihre Kinder zu erziehen. lauben.
Aber darauf begründet sich auch das Recht der Kinder
auf Erziehung gegenüber den Eltern. Insofern meine ich,
Christoph Strässer (SPD):
dass das, was Sie wollen, durch das Bundesverfassungs-
gericht ordentlich ausgelegt worden ist. Ja.
Es gibt einen Brief des ehemaligen Bundespräsiden-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ten und Verfassungsgerichtspräsidenten Roman Herzog
an die Bundeskanzlerin, in dem er klar darlegt, dass auf- Bitte schön.
grund dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichts eine
Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz nicht Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
erforderlich ist. Herr Kollege Strässer, können Sie mir bestätigen,
dass Herr Herzog im Jahre 2006 – das habe ich soeben
Christoph Strässer (SPD): im Internet gelesen – gemeinsam mit National Coalition
Ich will die hektische Debatte nicht fortführen, son- eine Erklärung in der Akademie der Künste in Berlin ab-
dern nur das darlegen, was weder Sie noch offenbar Herr gegeben hat, in der er fordert, Kinderrechte im Grundge-
15126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

Ekin Deligöz
(A) setz aufzunehmen? Das bestätigt alle Thesen, die Sie ge- und die Kinderrechtskonvention auch materiell in (C)
rade vorgetragen haben. Deutschland durchzusetzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Danke schön.
bei der SPD und der LINKEN) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Christoph Strässer (SPD):
Da ich nach der Geschäftsordnung des Deutschen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bundestages nicht befugt bin, am Rednerpult das Inter- Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
net zu nutzen, gehe ich davon aus, dass die Quelle rich- der Kollege Florian Bernschneider für die FDP-Fraktion
tig zitiert ist. Mich würde auch verwundern, wenn Herr das Wort.
Herzog etwas anderes vertreten hätte; denn er ist in der
von Ihnen erwähnten National Coalition höchst aktiv. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ich bestätige das also, ohne es zu wissen. Ich glaube, es der CDU/CSU)
stimmt.
Florian Bernschneider (FDP):
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der LINKEN Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nachge-
Ich möchte gerne noch einmal auf die Regelung der sehen: Zum 18. Mal in dieser Legislaturperiode diskutie-
besonders schutzbedürftigen Kinder zurückkommen – sie ren wir heute das Thema Kinderrechte.
ist hier angesprochen worden –, die ohne Pass nach (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Deutschland kommen. Sie, Herr Kollege Tauber, bekla- NEN]: Ist das zu viel, oder was? – Caren
gen, dass sie keinen Pass haben. Wenn sie mit einem Marks [SPD]: Ein wichtiges Thema!)
Pass an die deutsche Grenze kämen, würden sie zurück-
gewiesen, weil sie dann keine Flüchtlinge wären. Das al- – Dies ist ein wichtiges Thema, völlig zu Recht. – Grob
les sind Widersprüche, die hier jetzt keine Rolle spielen. überschlagen sind das etwa 13 Stunden Diskussion über
die Rechte der Kinder. Wenn man die Diskussionszeit
Herr Dr. Stadler, ich glaube, dass die Regelung in § 12 der vergangenen Legislaturperioden dazu zählt, haben
Asylverfahrensgesetz, wonach auch ein Ausländer, der wir mehrere Tage über die Rechte von Kindern gespro-
das 16. Lebensjahr vollendet hat, zur Vornahme von Ver- chen. Das ist zunächst einmal – da haben Sie völlig
fahrenshandlungen fähig ist, nicht in Übereinstimmung recht – ein gutes Zeichen; denn es zeigt, dass uns allen
mit der Kinderrechtskonvention steht, insbesondere – das ist einer der beliebtesten Sätze aus all diesen De- (D)
(B) nicht mit Art. 20 und 22. Dort wird nämlich differenziert
batten – die Rechte von Kindern am Herzen liegen.
zwischen Kindern, die in Deutschland leben, und Kin-
dern, die nach dem Schutzrecht der internationalen Kon- Wenn man sich einige der bisherigen Debatten einmal
vention geschützt werden. Hier wird die Grenze bei anschaut, dann muss man etwas schmunzeln, besonders
18 Jahren gezogen. über die Debatten, bei denen Redner aller Fraktionen am
Rednerpult stehen und sich darüber ereifern, Kinder an
Es gibt den Einwand, dass es in Deutschland Bereiche politischen Entscheidungen partizipieren zu lassen, und
gibt, in denen das Alter von 18 auf 16 Jahre gesenkt wor- das gegen 22 Uhr, also zu einer Tageszeit, zu der jedes
den ist. Aber § 12 Asylverfahrensgesetz ist Verfahrens- Kind im Bett liegt. Ich weiß, wir Fachpolitiker bestim-
recht. Verfahrensrechte sind Schutzrechte. Im Rechts- men nicht den Ablauf der Tagesordnung. Wir haben uns
staat wird Schutz durch das Verfahrensrecht gewährt. auch heute nicht in die Primetime eingetaktet. Trotzdem
Wenn man Kindern, die in diesem Alter nach Deutsch- muss man einmal kritisch sagen: Es ist auch gut, dass
land kommen, diesen Verfahrensschutz nimmt oder ihn Kinder nicht alle Diskussionen, die wir in den vergange-
relativiert, dann verstößt das für mich ganz klar gegen nen Jahren geführt haben, tatsächlich miterleben konn-
die Regeln der internationalen Kinderrechtskonvention. ten. Sie würden uns zu Recht fragen, warum wir Jahr-
Das muss geändert werden. zehnte brauchten, um eine Selbstverständlichkeit,
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) nämlich die Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinder-
rechtskonvention, umzusetzen. Wir als christlich-liberale
Ich glaube, dass auch an anderen Stellen viel nachzu- Koalition haben das jetzt endlich geschafft. Anstatt dies
bessern und viel nachzuholen ist. Das betrifft insbeson- anzuerkennen, nehmen Sie Fahrt auf für das nächste
dere die Frage: Was passiert eigentlich mit Kindern, die Mammutprojekt, nämlich die Aufnahme der Kinder-
zum Beispiel mit dem Flugzeug in Frankfurt ankommen rechte ins Grundgesetz. Ich wage einmal den Blick in die
und um Asyl bitten? Kann man auf diese Kinder wirk- Glaskugel:
lich das Flughafenverfahren anwenden? Können Kinder
(Caren Marks [SPD]: 1,8 Prozent)
in diesem Alter, die ohne Schutz, ohne Beistand, ohne
vernünftige Betreuung sind und die keine Schulbildung Selbst wenn es uns einmal gelingen wird, die Kinder-
haben, diesem Verfahren unterzogen werden? Nein, an rechte in das Grundgesetz aufzunehmen, dann werden
dieser Stelle waren wir froh über die Rücknahme. Wenn uns die Kinder die Frage stellen: Jetzt habt ihr jahrelang
es aber bei einem Placeboeffekt bleibt, dann machen wir darüber diskutiert, aber was bringt das genau? Es wurde
nicht mit. Wir werden Sie weiterhin mit Initiativen – in heute von allen Oppositionsrednern versprochen, darauf
Anführungszeichen – belästigen, um die Kinderrechte konkrete Antworten zu geben. Richtig konkrete Antwor-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15127
Florian Bernschneider
(A) ten habe ich aber nicht gehört. Die Verfassungsrechtler verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (C)
sagen uns, die Kinderrechte sind im Grundgesetz schon so beschlossen.
abgebildet. Deswegen wünsche ich mir, dass wir keine
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Zeit mit abstrakten Debatten verlieren, sondern uns kon-
kret damit beschäftigen, wie wir die Kinderrechte stär- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
ken können. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Neuordnung des Geräte- und Pro-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) duktsicherheitsrechts
Das haben in der Vergangenheit auch alle anderen – Drucksachen 17/6276, 17/6852 –
Koalitionsfraktionen getan. Ich glaube aber trotzdem,
dass wir die Leistung von Schwarz-Gelb in den letzten Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
zwei Jahren auf keinen Fall kleinreden dürfen. ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
– Drucksache 17/7063 –
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Caren Marks [SPD]: Das sehen die Bürger ge- Berichterstattung:
nauso! 1,8 Prozent!) Abgeordneter Dr. Matthias Zimmer
Kinderlärm ist kein Grund mehr für Klagen. Das Bun- Hierzu ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll
deskinderschutzgesetz sorgt dafür, dass viel Wichtiges genommen werden.1)
auf den Weg gebracht wird. Die Familienhebammen sind Deswegen kommen wir gleich zur Abstimmung. Der
die richtige Entscheidung, wenn es um den Präventions- Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner
gedanken geht. Wir investieren 12 Milliarden Euro mehr Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7063, den Ge-
in Bildung und Forschung. Mit der Offensive „Frühe setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/6276
Chancen“ setzen wir 400 Millionen Euro für Chancen- und 17/6852 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
gerechtigkeit ein. Die Freiwilligendienste, die Sommer- bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
ferienjob-Regelung, alles das sind konkret erlebbare schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Rechte für Kinder und Jugendliche in unserem Land. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
So berechtigt einige der im vorliegenden SPD-Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
aufgeworfenen Fragen auch sein mögen: Der Antrag lie- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der
fert wenig Konkretes. Selbst wenn man ihn beschlösse, SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktion Die Linke
kämen am Ende wenig spürbare Ergebnisse für die Kin- angenommen.
(B) der dabei heraus. Spürbare Ergebnisse aber müssen un- Dritte Beratung (D)
ser Ziel sein. Ich habe gerade ein paar Punkte aufgezählt,
die zeigen, dass die christlich-liberale Koalition genau und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
diesen Weg eingeschlagen hat, nämlich Konkretes zu lie- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
fern, anstatt viele abstrakte Debatten zu führen. Ich Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
würde mich freuen, wenn Sie uns dabei begleiten wür- ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
den. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 28. September 2011, 13 Uhr,
ein.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache. Die Sitzung ist geschlossen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Schluss: 14.42 Uhr)


Drucksache 17/6920 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- 1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15129

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bartol, Sören SPD 23.09.2011 Laurischk, Sibylle FDP 23.09.2011

Beckmeyer, Uwe SPD 23.09.2011 Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 23.09.2011

Behrens, Herbert DIE LINKE 23.09.2011 Leidig, Sabine DIE LINKE 23.09.2011

Bracht-Bendt, Nicole FDP 23.09.2011 Leutheusser- FDP 23.09.2011


Schnarrenberger,
Breil, Klaus FDP 23.09.2011 Sabine

Burkert, Martin SPD 23.09.2011 Liebing, Ingbert CDU/CSU 23.09.2011

Deutschmann, Reiner FDP 23.09.2011 Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 23.09.2011

Ernst, Klaus DIE LINKE 23.09.2011 Dr. Meister, Michael CDU/CSU 23.09.2011

Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/ 23.09.2011 Nahles, Andrea SPD 23.09.2011


DIE GRÜNEN
Niebel, Dirk FDP 23.09.2011
Flosbach, Klaus-Peter CDU/CSU 23.09.2011
Nietan, Dietmar SPD 23.09.2011
Dr. Friedrich, Hans-Peter CDU/CSU 23.09.2011
(B) Özoğuz, Aydan SPD 23.09.2011 (D)
Dr. Geisen, Edmund FDP 23.09.2011
Peter Pieper, Cornelia FDP 23.09.2011

Glos, Michael CDU/CSU 23.09.2011 Pitterle, Richard DIE LINKE 23.09.2011

Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ 23.09.2011 Roth (Heringen), SPD 23.09.2011


DIE GRÜNEN Michael

Grindel, Reinhard CDU/CSU 23.09.2011 Schaaf, Anton SPD 23.09.2011

Grund, Manfred CDU/CSU 23.09.2011 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 23.09.2011

Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 23.09.2011 Schirmbeck, Georg CDU/CSU 23.09.2011

Dr. Hendricks, Barbara SPD 23.09.2011 Schmidt (Fürth), CDU/CSU 23.09.2011


Christian
Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 23.09.2011
Schneider (Erfurt), SPD 23.09.2011
Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 23.09.2011 Carsten

Koch, Harald DIE LINKE 23.09.2011 Schreiner, Ottmar SPD 23.09.2011

Körper, Fritz Rudolf SPD 23.09.2011 Schwarzelühr-Sutter, SPD 23.09.2011


Rita
Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 23.09.2011
Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 23.09.2011
Krestel, Holger FDP 23.09.2011
Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 23.09.2011
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ 23.09.2011
DIE GRÜNEN Dr. Sitte, Petra DIE LINKE 23.09.2011
15130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

(A) umfassende wirtschafts- und damit auch arbeitsmarkt- (C)


entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich politische Bedeutung zukommt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf über die Neu-
Steinbach, Erika CDU/CSU 23.09.2011 ordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts wird
unter anderem die Geräte- und Produktsicherheit europa-
Dr. Stinner, Rainer FDP 23.09.2011 rechtlich harmonisiert. Diese Harmonisierung erleichtert
den Warenaustausch auf dem europäischen Markt, soll
Thönnes, Franz SPD 23.09.2011 aber in erster Linie den Verbraucher- und Arbeitsschutz
EU-weit auf hohem Niveau sichern.
Tillmann, Antje CDU/CSU 23.09.2011
Mit dem Produktsicherheitsgesetz wird unter ande-
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 23.09.2011 rem die Zusammenarbeit von Marktüberwachung und
DIE GRÜNEN Zoll gestärkt werden, um den Import unsicherer Pro-
dukte möglichst frühzeitig erkennen und verhindern zu
Dr. Troost, Axel DIE LINKE 23.09.2011 können. Mit dem Gesetzentwurf soll eine gut funktionie-
rende Zusammenarbeit zwischen Zoll- und Marktüber-
Weinberg, Harald DIE LINKE 23.09.2011 wachungsbehörden sichergestellt werden. Dabei sollen
die Zollbehörden insbesondere berechtigt und verpflich-
Werner, Katrin DIE LINKE 23.09.2011 tet werden, alle für weitere Maßnahmen erforderlichen
Informationen an die zuständige Marktüberwachungsbe-
Dr. Westerwelle, Guido FDP 23.09.2011 hörde weiterzugeben. Hierzu zählen zum Beispiel Infor-
mationen wie Name und Anschrift des Empfängers und
Wöhrl, Dagmar G. CDU/CSU 23.09.2011 des Absenders, Versendungsland, Ursprungsland etc.
Dies ermöglicht ein Eingreifen der Marktüberwachungs-
Wolff (Wolmirstedt), SPD 23.09.2011
behörden zu einem möglichst frühen Zeitpunkt, aber
Waltraud
auch die Informationsgewinnung über Produkte aus
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 23.09.2011 Drittländern, die sich bereits auf dem Gemeinschafts-
markt befinden. Dadurch wird eine Erhöhung der Effek-
tivität der Marktüberwachungsbehörden erreicht.
Anlage 2 Darüber hinaus werden Hersteller bei Einführung von
Produkten einer Dokumentationspflicht unterliegen. Es
(B) Zu Protokoll gegebene Reden muss für die zuständige Marktüberwachungsbehörde über- (D)
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über prüfbar sein, dass der Einführer seiner Dokumentations-
die Neuordnung des Geräte- und Produkt- pflicht nachgekommen ist. Die Nichterfüllung bildet
sicherheitsrechts (Tagesordnungspunkt 32) zugleich den Anknüpfungspunkt für einen Bußgeldtatbe-
stand. Ebenso werden die Marktüberwachungsbehörden
anhand angemessener Stichproben die Einhaltung der
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Dass die Frage Rechtsvorschriften kontrollieren müssen.
nach der Sicherheit von technischen Geräten in einem
europäischen Kontext beantwortet wird, war in den letz- Ebenso wollen wir das GS-Zeichen für „geprüfte Si-
ten Dekaden mitnichten eine tradierte Selbstverständ- cherheit“ nachhaltig stärken, um Missbrauch zu er-
lichkeit. Sie stellte sich erst mit dem freien Warenver- schweren, denn mit einem gefälschten GS-Zeichen wird
kehr in der Europäischen Gemeinschaft. Bis zu diesem nicht nur der betroffenen GS-Stelle ein wirtschaftlicher
Zeitpunkt wurde sie – wenn überhaupt – nationalstaat- Schaden zugefügt, sondern die Zuverlässigkeit der mit
lich beantwortet. Dies führte in der Tendenz eher dazu, dem GS-Zeichen verbundenen Aussage insgesamt in
dass aufgrund unterschiedlicher technischer Anforderun- Zweifel gezogen. Daher werden die GS-Stellen künftig
gen an die Produktsicherheit Handelshemmnisse aufge- verpflichtet, gegen Hersteller, die ihr GS-Zeichen uner-
baut wurden, anstatt sie abzubauen. laubterweise verwenden, vorzugehen. Sie wird geeignete
Maßnahmen zu treffen haben, wie zum Beispiel die Ab-
Gerätesicherheit wird mittlerweile nicht mehr isoliert mahnung eines widerrechtlichen Verwenders, die Auf-
nationalstaatlich definiert, sondern innerhalb der Euro- forderung zur Abgabe von Unterlassungserklärungen,
päischen Union miteinander abgestimmt. Mit dem Ge- das Einschalten der Wettbewerbszentrale oder die
räte- und Produktsicherheitsgesetz wurde ab 1. Mai 2004 Durchsetzung von Unterlassungsansprüchen im Klage-
die europäische Richtlinie über die allgemeine Produkt- wege vor den örtlichen Gerichten. Die anderen GS-Stel-
sicherheit in Deutschland in nationales Recht umgesetzt. len sind in diesen Fällen zu unterrichten, da nicht auszu-
Es regelt unter anderem das Inverkehrbringen von tech- schließen ist, dass auch andere GS-Zeichen von diesem
nischen Arbeitsmitteln, aber auch von komplexen Anla- Hersteller unerlaubterweise verwendet werden. Die Her-
gen und stellt somit auch eine Grundlage für einen funk- steller werden verpflichtet, Informationen zu Fälschun-
tionierenden Arbeitsschutz dar. Kurzum bietet es eine gen ihres GS-Zeichens zu veröffentlichen. Damit wird
Rechtsgrundlage, um unsichere Produkte vom Waren- die Grundlage für eine „Liste schwarzer Schafe“ gelegt,
verkehr auszuschließen. Es trägt damit zur Vermeidung die letztlich potenzielle Fälscher abschrecken soll. Da-
von Wettbewerbsverzerrungen bei, weshalb ihm eine rüber hinaus streben wir mit unserem Gesetzentwurf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15131

(A) eine Erhöhung des Bußgeldrahmens auf 100 000 Euro Produkte, die in der Produktion verwendet und herge- (C)
an. Bußgelder sollen bei schwerwiegenden Verstößen stellt werden, so sicher wie möglich machen, sodass we-
abschreckend sein und auch etwaige Gewinnmargen, die der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch die
durch einen Verstoß erzielt werden, berücksichtigen. Vor Verbraucher Schaden nehmen. Hier beginnt die sehr
diesem Hintergrund erscheint uns eine weitere Erhöhung praktische Anwendung des Gesetzes.
des Bußgeldrahmens für geboten.
Ich bin froh, dass wir in Deutschland ein so differen-
Ich möchte an dieser Stelle auch noch kurz auf darauf ziertes Gesetz über die Geräte- und Produktsicherheit
eingehen, warum wir auf eine explizite Ausnahme von haben, und zunächst möchte ich der Regierung danken,
Arzneimitteln im Produktsicherheitsgesetz nicht ver- dass dieses Gesetz nun rechtssystematisch angepasst
zichten können. Mir ist dies deshalb wichtig, weil im wird. Wir können viele unserer Gesetze in dieser Form
Laufe des Verfahrens mehrfach eine solche Änderung vereinfachen und damit für den täglichen Gebrauch
angeregt wurde. Grundsätzlich stellt die Regelung in § 1 handhabbarer machen. Diese Überarbeitung geht einher
Abs. 4 des Produktsicherheitsgesetzentwurfs klar, dass mit der Anpassung des Rechts an eine EU-Verordnung.
die Vorschriften des Produktsicherheitsgesetzes nicht zur Zudem werden mit der Neufassung zwei Richtlinien,
Anwendung kommen, wenn in anderen Rechtsvorschrif- nämlich die Spielzeugrichtlinie und die Richtlinie über
ten entsprechende oder weitergehende Vorschriften ent- Maschinen zur Ausbringung von Pestiziden, umgesetzt.
halten sind. Demnach haben andere Rechtsvorschriften, Hier ist jedoch mein erster Kritikpunkt: Diese Richtli-
die umfassend die Bereitstellung spezieller Produkte auf nien hätten bis zum 20. Januar bzw. bis zum 15. Juni die-
dem Markt regeln, Vorrang, und das Produktsicherheits- ses Jahres bereits umgesetzt werden müssen. Deswegen
gesetz ist nicht anzuwenden. Für den Fall, dass diese an- hat die Bundesregierung es auch so eilig mit der zweiten
deren Rechtsvorschriften Regelungen für spezielle Pro- und dritten Lesung im Parlament; denn diese Fristen
dukte im Hinblick auf bestimmte Teilaspekte für das wurden schlichtweg verschlafen.
Bereitstellen auf dem Markt treffen, können im Spezial-
Jedoch habe ich aus Sicht der Arbeitnehmer, die un-
recht Regelungslücken bestehen und dann kommt das
mittelbar von der Geräte- und Produktsicherheit betrof-
Produktsicherheitsgesetz insoweit ergänzend zur An-
fen sind, weitere Anmerkungen, die leider nicht in den
wendung.
uns heute zur Abstimmung vorliegenden Gesetzentwurf
Arzneimittelrechtliche Vorgaben können unter Um- Einzug gehalten haben. Wir hatten diese Änderungen be-
ständen eben nicht ausreichen, wie dies beispielsweise reits in einem Änderungsantrag zu diesem Entwurf im
bei Arzneimitteln in Druckgasbehältnissen der Fall ist. Ausschuss vorgelegt.
So regelt der Anhang 6 des EG-Good-Manufacturing- Erstens bin ich der Meinung, dass auch im Geräte-
(B) Practice-Leitfadens – kurz: EG-GMP-Leitfaden – die und Produktsicherheitsrecht klargestellt werden muss, (D)
Herstellung medizinischer Gase. Mit diesen Regelungen dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, Maschinen in der
werden die grundsätzlichen Anforderungen an die Arz- Produktion bereitzustellen, die auf dem Stand der Tech-
neimittelherstellung entsprechend der guten Herstellungs- nik sind. Diese Verpflichtung existiert im Arbeitsschutz-
praxis festgelegt. Dabei geht es insbesondere um die recht. Daher müssen wir hier Missverständnissen vor-
Anforderungen an Räume, Personal und die ordnungs- beugen und diese Verpflichtung auch ins Geräte- und
gemäße Abfüllung der medizinischen Gase, die Vermei- Produktsicherheitsgesetz aufnehmen.
dung von Kreuzkontaminationen und die Dokumenta-
tion des Herstellungsvorgangs. Anforderungen an die Zweitens muss klargestellt werden, dass ein Produkt
Behältnisse selbst werden nicht näher spezifiziert. Inso- am Markt nicht bereitgestellt werden darf, wenn Anfor-
fern können Arzneimittel nicht aus dem Produktsicher- derungen, die die Ministerien durch Rechtsverordnun-
heitsgesetz ausgeklammert werden. gen an Produkte stellen können, nicht berücksichtigt
werden. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit,
All das klingt sehr technisch. In der Quintessenz aber aber Rechtssicherheit ist immer der bessere Weg, als hier
geht es darum, den Konsumenten- und Arbeitsschutz Unklarheiten zu hinterlassen.
über die Geräte- und Produktsicherheit auf einem hohen
Niveau EU-weit sicherzustellen und einen fairen Wett- Drittens fordere ich, dass ein Produzent einer Doku-
bewerb um qualitativ hochwertige Produkte zu wahren. mentationspflicht unterliegen muss. Er muss dokumen-
tieren, dass er das Produkt, das er auf den Markt bringt,
Josip Juratovic (SPD): Das Geräte- und Produkt- ausreichend und mit Erfolg geprüft hat. Hier geht es da-
sicherheitsrecht klingt zuallererst nach einem sehr tech- rum, inwiefern auch gebrauchte Produkte noch auf dem
nischen Thema. Man denkt an technische Überprüfun- Markt gehandelt werden dürfen, wenn sie nicht dem ak-
gen beispielsweise von Steckdosen, wie sie in der tuellen Stand der Technik und dem aktuellen Stand der
vergangenen Woche in unseren Büros in Berlin stattfan- Gesetzgebung entsprechen. Bisher war geregelt, dass
den, oder daran, wie große Maschinen in der Produktion Produkte dem Rechtsstand entsprechen müssen, der zum
überwacht und gewartet werden. Zeitpunkt des Inverkehrbringens galt. Das ließ sich im
Nachhinein oft schwer nachvollziehen. Daher muss dem
Aber wir dürfen dieses Gesetz nicht nur technisch be- Händler eine Nachweispflicht für die Ungefährlichkeit
urteilen, sondern müssen schauen, was die Auswirkun- eines solches Produkts auferlegt werden. Hier muss er
gen auf die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmerinnen die Abweichung zur aktuellen Rechtslage dokumentie-
und Arbeitnehmer sind. Denn für uns muss klar sein: ren und die sich daraus ergebenden Risiken darstellen.
Wir müssen die Arbeitswelt, die Arbeitsmaschinen, die Damit können die Beschäftigten mit den Risiken vertraut
15132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

(A) gemacht werden, und die Risiken können bei der Erstel- zur Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusam- (C)
lung einer Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt wer- menhang mit der Vermarktung von Produkten. Daneben
den. Im Übrigen wäre dies auch ein Schritt gegen Pro- werden ausgewählte Bestimmungen der Spielzeugricht-
duktpiraterie. Wenn nämlich gefälschte Produkte auf linie 2009/48/EG und die Richtlinie 2009/127/EG über
unseren Markt kommen, die große Gefahren bergen, da Maschinen zur Ausbringung von Pestiziden über die Än-
sie nicht geprüft werden, kann das so nachvollzogen derung der Maschinenverordnung – 9. GPSGV – umge-
werden. setzt. Außerdem greift der Entwurf Vorschläge des Bun-
desrates zur Verbesserung der Marktüberwachung sowie
Viertens müssen wir den Informationsanspruch der der Ad-hoc-Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Stärkung
Öffentlichkeit regeln. Ich bin der Überzeugung, dass die der Marktüberwachung auf.
Öffentlichkeit grundsätzlich informiert werden muss,
wenn ein Produkt oder ein Gerät eine Gefahr birgt. Dies Das vorliegende Gesetz wird zukünftig die zentrale
darf nur eingeschränkt werden, wenn eine Gefahr für die Rechtsvorschrift für die Vermarktung und Überwachung
öffentliche Sicherheit besteht, wenn die Daten derzeit von technischen Non-food-Produkten in Deutschland
vor Gericht verwendet werden oder wenn Urheberrechte sein. Für die erfasste Produktpalette besteht ein bundes-
betroffen sind. Damit wollen wir verhindern, dass mehr weiter Markt, dessen Funktionsfähigkeit einheitliche Re-
Informationen als nötig geheim gehalten werden. geln erfordert. Aufgrund des erheblichen Änderungsum-
Fünftens – und dies habe ich bereits in meiner letzten fangs wurde das Gesetz komplett neugefasst, wodurch
Rede im Juni zum Geräte- und Produktsicherheitsrecht auch an einigen Stellen überfällige Rechtsklarheit ge-
gesagt – müssen die Sanktionen für Verstöße angehoben schaffen wurde. Durch die Zusammenfassung sind keine
werden. Art. 41 der Verordnung (EG) 765/2008 fordert umständlichen neuen Gesetzesnormen geschaffen wor-
Sanktionen, die „spürbar, verhältnismäßig und abschre- den, vielmehr wurden die bestehenden Regelungen er-
ckend“ sind. Die Regierung hatte ursprünglich heblich verschlankt.
50 000 Euro dafür vorgeschlagen. Das zahlen viele Un- Gerade in der Marktüberwachung haben wir den zu-
ternehmen doch aus der Portokasse! Wenn Unternehmen ständigen Behörden den Handlungsspielraum gegeben,
also ein Interesse daran haben, eine alte Maschine, die der notwendig ist, um ein hohes Sicherheitsniveau zu ge-
Risiken für die Arbeitnehmer birgt, weiter zu nutzen, währleisten und einen fairen Wettbewerb zwischen den
werden sie eher diese Sanktion zahlen, als dass sie eine einzelnen Unternehmen zu sichern. Dies wird unter an-
neue, sichere Maschine anschaffen. Deswegen müssen derem durch die intensivierte Zusammenarbeit zwischen
die Sanktionen dringend erhöht werden, und zwar emp- Marktüberwachung und Zoll erreicht. Dadurch können
findlich. In Übereinstimmung mit den Bundesratsemp- gefährliche Produkte möglichst frühzeitig aufgespürt
(B) fehlungen schlagen wir 300 000 Euro vor. Das wäre ein und aus dem Verkehr gezogen werden. (D)
gutes Zeichen für den Arbeitsschutz. Meine Damen und
Herren von der Bundesregierung, in Ihrem Änderungs- Durch eine verbesserte Marktüberwachung wird der
antrag, mit dem Sie ja nebenbei viele redaktionelle Än- faire Wettbewerb zwischen den Unternehmen unter-
derungen an Ihrem eigentlichen Entwurf vornehmen, er- stützt, gerade auch angesichts der Importe aus Drittlän-
höhen Sie die Sanktionen auf 100 000 Euro. Das ist ein dern außerhalb der EU. Durch die Erstreckung der
erster Schritt, reicht aber für einen wirksamen Arbeits- Marktüberwachungsbestimmungen auf alle dem Gesetz
schutz nicht aus. unterfallenden Produkte wird die bestehende Einheit-
lichkeit der Marktüberwachung gewahrt.
Eine weitere Sache, die wir nicht vergessen dürfen,
ist, dass all die Regelungen, die wir hier treffen, auch Für die Vollzugsbehörden in den Ländern wurden die
ausreichend kontrolliert werden müssen. Hier appelliere Möglichkeiten erweitert, die Kosten für Amtshandlun-
ich an die Länder, dass die Überwachungsbehörden, die gen – Prüfungen und Besichtigungen – im Falle berech-
in den letzten Jahren einen empfindlichen Personalabbau tigter Beanstandung von den betroffenen Wirtschaftsbe-
erleiden mussten, endlich wieder personell aufgestockt teiligten zu erheben. Damit wird dem Verursacherprinzip
werden. Denn was nützt uns ein gutes Arbeitsschutz- einmal mehr Rechnung getragen.
recht, wenn es letztlich an der Umsetzung hapert?
Gerade für uns Liberale ist der beste Weg im Verbrau-
Mit diesen Änderungen, die Sie in unserem Ände- cherschutz, Transparenz zu schaffen und somit den Ver-
rungsantrag schriftlich und juristisch genau nachlesen braucher durch Informationen in seiner freien Konsum-
können, könnten wir die Neuregelung des Geräte- und entscheidung zu unterstützen. Dies schafft ein Zeichen
Produktsicherheitsrechts dafür nutzen, dass der Arbeits- in Deutschland besser als alles andere: Das GS-Zeichen
schutz großgeschrieben wird. Ansonsten bleiben wir lei- – geprüfte Sicherheit – steht für Sicherheit und Verläss-
der dabei, dass das Gesetz zwar technisch erneuert wird, lichkeit bei Produkten und Geräten. Es ist neben dem
aber keine großen politischen Fortschritte zu verzeich- CE-Zeichen das einzige gesetzlich geregelte Prüfzeichen
nen sind. für Produktsicherheit in Europa. Verbraucher erhalten
über das GS-Zeichen die Information, dass ein Produkt,
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Mit diesem Gesetz das sie erworben haben, sicher ist. Und durch neue, noch
werden elf europäische Produktrichtlinien in deutsches strengere Regelungen wird das Vertrauen der Verbrau-
Recht umgesetzt. Kernelement des Entwurfs ist die Anpas- cher in das GS-Zeichen bestätigt und vertieft. So kann
sung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts an die seit noch besser als bisher Missbrauch bekämpft werden.
1. Januar 2010 geltende Verordnung (EG) Nr. 765/2008 Durch die Zusammenführung der Bestimmungen zum
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15133

(A) GS-Zeichen wird auch dem Verbraucher der Überblick hecheln. Und wir werden auch immer nur die Spitze des (C)
über die entsprechenden Regelungen erleichtert. Eisberges aus dem Verkehr ziehen können.
Dieser vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer Daran ändert auch die jetzt im Gesetzentwurf vorge-
Schritt, um die Europäische Union sicherer und für den sehene erhöhte Kontrollfrequenz für die Bundesländer
Verbraucher transparenter zu machen. Daher würde ich nichts. Zum einen haben heute schon einige Länder für
mich freuen, wenn auch in diesem Hohen Hause über die ihre Behörden eine größere Zahl von Kontrollen vorge-
Parteigrenzen hinweg diese Regelungen Zustimmung geben, und zum anderen nützt allein die quantitative
finden würden. Vorgabe nichts, wenn nicht gleichzeitig auch eine quali-
tative Vorgabe gemacht wird. Um möglichst einheitliche
Standards für die Länder zu schaffen, braucht es eine
Karin Binder (DIE LINKE): Wir behandeln heute die klare Definition, nicht nur über die Anzahl der Kontrol-
Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts, len, sondern auch über das „Wie“ der Überprüfungen.
die durch verschiedene Neuerungen auf EU-Ebene, un-
ter anderem durch die sogenannte Spielzeugrichtlinie, Auch die Bußgelder sind nicht zufriedenstellend gere-
notwendig wird. gelt. Der Hinweis der Regierung, dass ja auch der wirt-
schaftliche Vorteil, den der Täter aus der Ordnungswid-
Warum ich mit diesem Gesetzentwurf nicht zufrieden rigkeit gezogen hat, nach § 17 (4) OWiG abgeschöpft
bin, werde ich Ihnen jetzt erläutern. Allerdings möchte werden soll und das Höchstmaß der Geldbuße hierfür
ich zumindest anmerken, dass die Regierungskoalition überschritten werden kann, ist nicht wirklich strafver-
und auch die SPD mit ihren Änderungsanträgen einige schärfend. Wir alle wissen, wie schwierig das Thema
sinnvolle Vorschläge des Bundesrates aufgegriffen ha- „Gewinnabschöpfung“ ist, und dass sich die Behörden
ben. Aber das reicht leider nicht aus. sehr schwer damit tun, dem Unternehmen den unrecht-
mäßig erworbenen Gewinn nachzuweisen.
Wir haben noch immer das Problem, dass mit dem so-
genannten CE-Zeichen den Verbraucherinnen und Ver- Also ist die einzige Möglichkeit zur Abschreckung
brauchern eine vermeintliche Sicherheit vorgegaukelt eine weit höhere Geldbuße, die selbstverständlich den
wird, die jedoch nicht besteht. Tausendfach kommen Verbraucherorganisationen zugutekommen muss.
Produkte mit diesem CE-Zeichen und mit all ihren mög-
lichen Mängeln auf einen internationalen Markt. Sie Nun komme ich noch auf ein weiteres Problem für die
wurden nie auf ihre Sicherheit geprüft. Insbesondere Verbraucherinnen und Verbraucher zu sprechen. Es gibt
Kinder werden somit vermeidbaren Gefahren ausgesetzt. eine Vielzahl von Stellen, an denen Informationen einge-
hen und durchaus auch veröffentlicht werden. Allerdings
(B) Das belegt das EU-Informationssystem RAPEX, wo haben wir damit die typische Informationsflut, die ver- (D)
Spielzeuge als zweithäufigste Produktgruppe entspre- hindert, dass Verbraucherinnen und Verbraucher sich die
chende Warnmeldungen verursachen. Die Zahl der Mel- gewünschten Informationen ohne Probleme einholen
dungen ist nur noch im Bereich von Textilien höher. können. Zur vielbeschworenen Klarheit und Wahrheit
gehört, dass diese Informationen gebündelt auf einer
Beides sind Produkte des täglichen Bedarfs. Jeder Plattform zur Verfügung gestellt werden. Die Zuständig-
Mensch geht damit täglich um und kommt damit in Be- keit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsme-
rührung – zum Beispiel mit Schadstoffen, die zumindest dizin (BAuA) halte ich jedoch nicht für zielführend, dort
unsere Gesundheit gefährden können. Kinder können sucht niemand nach Verbraucherinformationen. Am bes-
Kleinteile verschlucken oder sich an scharfen Kanten ten sollten diese Informationen gesammelt auf einer
verletzen. Seite des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Le-
bensmittelsicherheit (BVL) zur Verfügung gestellt wer-
Jedes Auto muss zugelassen werden. Und selbstver- den.
ständlich muss es regelmäßig vom TÜV kontrolliert
werden, um seine Plakette zu bekommen. Aber Gegen- Zuletzt möchte ich noch einmal auf die Verantwor-
stände des täglichen Bedarfs, die wir an unsere Haut las- tung der Bundesregierung und der Bundesbehörden auf-
sen – unser wichtigstes und größtes Organ –, die wir in merksam machen. In der Rangliste der Herkunftsländer
den Mund nehmen oder einfach täglich gebrauchen, von beanstandeten Produkten sind nach China die „un-
müssen nicht einmal vor ihrer Fertigung auf ihre unbe- bekannten“ Herkunftsländer besonders auffällig. Rund
denkliche Tauglichkeit hin überprüft werden. Ist das lo- 10 Prozent der bei RAPEX gemeldeten Produkte können
gisch? nicht rückverfolgt werden, da sie nicht einmal eine Her-
kunftskennzeichnung haben, geschweige denn die Be-
Sie verweisen mich jetzt auf das GS-Zeichen, das Sie- schaffenheit der Produkte klar ist. Hier ist der Zoll gefor-
gel für geprüfte Sicherheit. Aber auch das liefert leider dert – und die Politik. Die einführenden Unternehmen
nicht immer die Qualität, die wir erwarten könnten. Und tragen hierfür die Verantwortung und müssen auch in die
sein größter Nachteil – es ist eine freiwillige Prüfung. Haftung genommen werden können.
Die Hersteller müssen sich dem Prozedere einer Sicher-
heitsprüfung nicht unterziehen. Die Sicherheitsinteressen der Verbraucherinnen und
Verbraucher, vor allem der Kleinsten, müssen gewahrt
Solange nicht alle Hersteller solche Sicherheitsprü- werden. Die Linke fordert deshalb, dass kein Produkt
fungen vornehmen lassen müssen, solange wird die Poli- ohne entsprechende Prüfung und ohne Zertifikat auf den
tik und werden die Kontrollbehörden immer hinterher- Markt gebracht werden darf.
15134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011

(A) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Bund genauso wenig direkten Einfluss wie auf eine (C)
NEN): Heute wird der Deutsche Bundestag ein neues dringend notwendige Stärkung des TÜV und der Ver-
Produktsicherheitsgesetz beschließen und das Geräte- braucherzentralen. Die fehlende Zuständigkeit darf für
und Produktsicherheitsrecht neu ordnen. Das begrüßen die Bundesregierung jedoch kein Anlass sein, sich zu-
wir. Der Gesetzentwurf hat allerdings nach wie vor Män- rückzulehnen. Wer den Ländern neue und umfassendere
gel. Viele dieser Mängel habe ich bereits in der ersten Aufgaben zuweist, muss auch sicherstellen, dass sie
Lesung benannt, und nur wenige davon, oft nur die re- wahrgenommen werden.
daktionellen Schnitzer, wurden im Beratungsverlauf
Neben effektiven Kontrollen bedarf es auch wirksa-
durch einen Änderungsantrag behoben. Es ist längst
mer, spürbarer und abschreckender Sanktionen bei Ver-
überfällig, dass die europäischen Rechtsvorgaben umge-
stößen, was auch für andere Bereiche des Arbeitsrechts
setzt werden, und wir erkennen an, dass das Produkt-
und des Arbeitsschutzes gilt. 50 000 Euro als Ober-
sicherheitsrecht nun insgesamt klarer strukturiert und
grenze des Bußgeldrahmens, wie ursprünglich vorgese-
weitgehend verständlicher gefasst wurde. Das ist ein
hen, sind zu wenig – und für große Konzerne Peanuts.
Schritt nach vorne. Deswegen werden wir Grüne dem
Vor diesem Hintergrund begrüße ich die Anhebung des
Gesetz zustimmen – auch wenn wir meines Erachtens
Bußgeldrahmens auf 100 000 Euro. Sie hätten aber ruhig
nach von einer klaren und einfachen Rechtsmaterie noch
mutiger sein können und – wie von Teilen der Opposi-
immer weit entfernt sind.
tion gefordert – eine Obergrenze von 300 000 Euro im
Das Produktsicherheitsrecht ist ein Kernelement des Gesetz verankern können. Das ist eine Summe, die selbst
Verbraucherschutzes. Es regelt, welche Produkte auf den von größeren Unternehmen nicht einfach aus dem Hut
Markt gelangen und stärkt das GS-Zeichen für geprüfte gezaubert werden kann.
Sicherheit. Die Marktüberwachungsbehörden müssen im
Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher konse-
quent dafür Sorge tragen, dass bei allen Produkten, ins- Anlage 3
besondere bei Kinderspielzeug, gewisse Grenzwerte für
Amtliche Mitteilungen
beispielsweise Weichmacher und Schwermetalle nicht
überschritten werden. Damit allein ist es jedoch noch Die Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Me-
nicht getan. Wir sind überzeugt, dass die Grenzwerte dien hat mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Ab-
selbst nicht niedrig genug sind und die Liste der gefährli- satz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Bericht-
chen Stoffe nicht vollständig ist. Dieses Problem wird erstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht:
durch den vorliegenden Gesetzentwurf nicht gelöst.
– Unterrichtung durch die Bundesbeauftragte für die Unterla-
Produktsicherheit betrifft auch den Arbeitsschutz. Ne- gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deut-
(D)
(B)
ben Verbraucherprodukten wird nämlich auch die Si- schen Demokratischen Republik
cherheit technischer Arbeitsmittel geregelt. Insbeson- Zehnter Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für
dere in der industriellen Fertigung, aber auch im die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema-
Handwerk und dem Baugewerbe, also immer, wenn mit ligen Deutschen Demokratischen Republik – 2011
Geräten gearbeitet wird, ist Sicherheit für diejenigen, die – Drucksachen 17/4700, 17/5122 Nr. 1.2 –
sie bedienen, unabdingbar. Beschäftigte, die unter Zeit-
und Leistungsdruck an komplexen Maschinen arbeiten, Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
müssen sich darauf verlassen können, dass festgelegte mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden
Sicherheitsstandards eingehalten werden. Arbeitgeber Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei-
und Betriebe sind für die Sicherheit ihrer Beschäftigten ner Beratung abgesehen hat.
und damit auch für die Sicherheit der Arbeitsmittel ver-
antwortlich. Sie müssen Garantien haben, dass Geräte,
die in Deutschland auf dem Markt sind, bestimmte Vor- Innenausschuss
gaben erfüllen. Und nicht zuletzt die Hersteller von Ge- Drucksache 17/4598 Nr. A.5
räten müssen vor unfairen Wettbewerbsbedingungen ge- Ratsdokument 14142/10
Drucksache 17/6010 Nr. A.1
schützt werden, die zulasten der Qualität gehen. Das Ratsdokument 9731/11
preiswertere Produkt darf nicht auf dem Markt angebo- Drucksache 17/6407 Nr. A.3
ten werden, wenn es die Sicherheit und Unversehrtheit Ratsdokument 10772/11
von Beschäftigten sowie Verbraucherinnen und Verbrau- Drucksache 17/6407 Nr. A.4
chern gefährdet. Ratsdokument 10784/11
Drucksache 17/6407 Nr. A.5
Um diesem hohen Anspruch gerecht zu werden, muss Ratsdokument 10834/11
das Produktsicherheitsrecht jedoch von allen beteiligten
Akteuren umgesetzt werden. Bei der Umsetzung werden Rechtsausschuss
sich die Mängel des Gesetzentwurfs leider auswirken. Drucksache 17/5822 Nr. A.17
So ist zwar die Intensivierung der Zusammenarbeit zwi- Ratsdokument 8609/11
schen Marktüberwachung und Zoll ein Schritt in die Drucksache 17/6010 Nr. A.2
richtige Richtung. Es ist jedoch fraglich, ob genügend Ratsdokument 8453/11
Drucksache 17/6407 Nr. A.10
Personal für diese Aufgaben zur Verfügung steht. Die Ratsdokument 11055/11
Länder sind zuständig für die Marktaufsichtsbehörden Drucksache 17/6407 Nr. A.11
und müssten sich dabei stärker einbringen – hierauf hat Ratsdokument 11212/11
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 128. Sitzung. Berlin, Freitag, den 23. September 2011 15135

(A) Drucksache 17/6407 Nr. A.12 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (C)
Ratsdokument 11664/11 Entwicklung
Drucksache 17/6568 Nr. A.2 Drucksache 17/1100 Nr. A.12
Ratsdokument 11658/11 EuB-EP 2005

(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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