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Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 17/139

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

139. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär


neten Max Lehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16451 A BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16453 C
Wahl der Abgeordneten Ralph Lenkert und Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16454 D
Sabine Stüber als Schriftführer . . . . . . . . . . 16451 B Kai Wegner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 16456 B
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 16458 B
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16451 B
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/
Absetzung der Tagesordnungspunkte 11, 13 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16459 C
und 33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16453 A
Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16461 B
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 16462 C
Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16462 C
Tagesordnungspunkt 3:
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . . 16462 D
Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer,
Dr. Michael Fuchs, Kai Wegner, weiterer Ab- Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . 16464 A
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 16465 A
sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia Lena Strothmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 16466 A
Bögel, weiterer Abgeordneter und der Frak-
Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 16467 B
tion der FDP: Weniger Bürokratie und Be-
lastungen für den Mittelstand – Den Er-
folgskurs fortsetzen
(Drucksache 17/7636) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16453 B
Tagesordnungspunkt 4:
a) – Zweite und dritte Beratung des von
in Verbindung mit
den Abgeordneten Rüdiger Veit,
Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf Scholz,
weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der SPD eingebrachten Entwurfs
Zusatztagesordnungspunkt 2: eines Gesetzes zur Änderung des
Staatsangehörigkeitsrechts
Antrag der Abgeordneten Andrea Wicklein, (Drucksachen 17/773, 17/7675) . . . . . 16468 C
Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Sta- – Zweite und dritte Beratung des von
gnation beim Bürokratieabbau überwin- den Abgeordneten Memet Kilic, Josef
den – Neue Schwerpunktsetzung für den Philip Winkler, Kai Gehring, weiteren
Mittelstand umsetzen Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
(Drucksache 17/7610) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16453 C NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- zes zu dem Abkommen vom 13. Fe-
rung des Staatsangehörigkeitsrechts bruar 2007 zwischen der Regierung der
(Drucksachen 17/3411, 17/7675) . . . . 16468 D Bundesrepublik Deutschland und der
Regierung des Staates Kuwait über die
b) Beschlussempfehlung und Bericht des In-
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
nenausschusses zu dem Antrag der Abge-
(Drucksache 17/7601) . . . . . . . . . . . . . . . 16489 D
ordneten Sevim Dağdelen, Jan Korte, Ulla
Jelpke, weiterer Abgeordneter und der c) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Fraktion DIE LINKE: Ausgrenzung be- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
enden – Einbürgerungen umfassend er- zes zu dem Abkommen vom 22. Fe-
leichtern bruar 2009 zwischen der Regierung der
(Drucksachen 17/2351, 17/7675) . . . . . . . 16468 D Bundesrepublik Deutschland und der
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär Regierung des Staates Katar über die
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16469 B Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
(Drucksache 17/7602) . . . . . . . . . . . . . . . 16490 A
Aydan Özoğuz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16471 A
d) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 16473 A
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 16475 A zes zu dem Abkommen vom 10. März
2009 zwischen der Regierung der Bun-
Renate Künast (BÜNDNIS 90/
desrepublik Deutschland und der Re-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16476 A
gierung der Republik Kroatien über die
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 16476 D Zusammenarbeit bei der Bekämpfung
der Organisierten und der schweren
Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 16478 B
Kriminalität
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . 16479 D (Drucksache 17/7603) . . . . . . . . . . . . . . . 16490 A
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . 16481 B e) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16482 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Abkommen vom 27. Mai
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 16483 B 2009 zwischen der Regierung der Bun-
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ desrepublik Deutschland und der Re-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16484 C gierung des Königreichs Saudi-Arabien
über die Zusammenarbeit im Sicher-
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 16484 D heitsbereich
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 16485 B (Drucksache 17/7604) . . . . . . . . . . . . . . . 16490 A

Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ f) Erste Beratung des von der Bundesregie-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16485 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Abkommen vom 14. April
Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 16487 A 2010 zwischen der Regierung der Bun-
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ desrepublik Deutschland und der Re-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16488 D gierung der Republik Kosovo über die
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 16489 B (Drucksache 17/7605) . . . . . . . . . . . . . . . 16490 B

Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 16489 C g) Erste Beratung des von der Bundesregie-


rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Abkommen vom 30. August
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16493 D 2010 zwischen der Regierung der Bun-
desrepublik Deutschland und dem Mi-
nisterkabinett der Ukraine über die
Zusammenarbeit im Bereich der Be-
Tagesordnungspunkt 34: kämpfung der Organisierten Kriminali-
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- tät, des Terrorismus und anderer Straf-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- taten von erheblicher Bedeutung
zes zur Durchführung der Internationa- (Drucksache 17/7606) . . . . . . . . . . . . . . . 16490 B
len Gesundheitsvorschriften (2005) und
h) Antrag der Abgeordneten Dorothea
zur Änderung weiterer Gesetze
Steiner, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
(Drucksache 17/7576) . . . . . . . . . . . . . . . . 16489 D
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
b) Erste Beratung des von der Bundesregie- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einfuhr
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- und Verwendung von Asbest und as-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 III

besthaltigen Produkten in Deutschland gelung energiewirtschaftsrechtlicher


umfassend verbieten Vorschriften
(Drucksache 17/7478) . . . . . . . . . . . . . . . . 16490 C (Drucksache 17/7632) . . . . . . . . . . . . . . . 16491 A
i) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton b) Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe,
Hofreiter, Ekin Deligöz, Hans-Josef Fell, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bau der Leitlinien für Transparenz und Um-
dritten Start- und Landebahn am Flug- weltverträglichkeit bei der Förderung
hafen München Erdinger Moos ausset- von unkonventionellem Erdgas
zen – Keine unumkehrbaren Tatsachen (Drucksache 17/7612) . . . . . . . . . . . . . . . 16491 B
schaffen
c) Antrag der Abgeordneten Dr. Matthias
(Drucksache 17/7479) . . . . . . . . . . . . . . . . 16490 C
Miersch, Dirk Becker, Marco Bülow, wei-
j) Antrag der Abgeordneten Beate Müller- terer Abgeordneter und der Fraktion der
Gemmeke, Dr. Wolfgang Strengmann- SPD: Monitoring für versenkte Atom-
Kuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeord- müllfässer im Atlantik sicherstellen und
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Maßnahmen gegen weitere Strahlenex-
GRÜNEN: Leiharbeit und Werkver- position einleiten
träge abgrenzen – Kontrollen verstär- (Drucksache 17/7633) . . . . . . . . . . . . . . . 16491 B
ken
(Drucksache 17/7482) . . . . . . . . . . . . . . . . 16490 C
k) Antrag der Abgeordneten Andrej Hunko, Tagesordnungspunkt 35:
Dr. Diether Dehm, Thomas Nord, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung
LINKE: Die Europäische Sozialcharta des von der Bundesregierung eingebrach-
unverzüglich umsetzen ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
(Drucksache 17/7484) . . . . . . . . . . . . . . . . 16490 D kommen vom 3. Februar 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und
l) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, dem Königreich Spanien zur Vermei-
Paul Schäfer (Köln), Harald Koch, weite- dung der Doppelbesteuerung und zur
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE Verhinderung der Steuerverkürzung
LINKE: Konversion von Bundeswehr- auf dem Gebiet der Steuern vom Ein-
standorten als Entwicklungschance für kommen und vom Vermögen
Kommunen (Drucksachen 17/7318, 17/7554) . . . . . . . 16491 C
(Drucksache 17/7504) . . . . . . . . . . . . . . . . 16490 D
b) Zweite und dritte Beratung des von der
m) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Dietmar eines … Strafrechtsänderungsgesetzes
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der zur Umsetzung der Richtlinie des Euro-
Fraktion DIE LINKE: Die Billigkeits- päischen Parlaments und des Rates
richtlinie zu den Umstellungskosten aus über den strafrechtlichen Schutz der
der Umwidmung von Frequenzen den Umwelt
Realitäten anpassen (Drucksachen 17/5391, 17/7674) . . . . . . . 16491 D
(Drucksache 17/7655) . . . . . . . . . . . . . . . . 16491 A
c) Zweite und dritte Beratung des von der
n) Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), eines Gesetzes zur Änderung des EG-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Verbraucherschutzdurchsetzungsgeset-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Qualität zes und zur Änderung des Unterlas-
der Integrationskurse verbessern sungsklagengesetzes
(Drucksache 17/7639) . . . . . . . . . . . . . . . . 16491 A (Drucksachen 17/7235, 17/7672) . . . . . . . 16492 A
d) Beschlussempfehlung und Bericht des
in Verbindung mit Sportausschusses zu dem Antrag der Ab-
geordneten Klaus Riegert, Eberhard
Gienger, Stephan Mayer (Altötting), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Zusatztagesordnungspunkt 3:
Joachim Günther (Plauen), Dr. Lutz
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Knopek, Gisela Piltz, weiterer Abgeordne-
CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- ter und der Fraktion der FDP: Klima- und
wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neure- Umweltschutz im und durch den Sport
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

stärken – Für eine verantwortungsvolle Tagesordnungspunkt 5:


Sportentwicklung in Deutschland
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
(Drucksachen 17/5779, 17/7608) . . . . . . . 16492 C
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
e) Beschlussempfehlung und Bericht des lung
Rechtsausschusses: zu dem Streitverfah- – zu dem Antrag der Abgeordneten
ren vor dem Bundesverfassungsgericht Veronika Bellmann, Dirk Fischer (Ham-
2 BvE 8/11 burg), Arnold Vaatz, weiterer Abgeordne-
(Drucksache 17/7668) . . . . . . . . . . . . . . . . 16492 D ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
f) – k) der Abgeordneten Oliver Luksic, Patrick
Döring, Werner Simmling, weiterer Abge-
Beratung der Beschlussempfehlungen des ordneter und der Fraktion der FDP: Weiß-
Petitionsausschusses: Sammelübersich- buch Verkehr – Auf dem Weg zu einer
ten 331, 332, 333, 334, 335 und 336 zu nachhaltigen und bezahlbaren Mobili-
Petitionen tät
(Drucksachen 17/7492 (neu), 17/7493,
17/7494, 17/7495, 17/7496, 17/7497) . . . . 16492 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Groß, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
in Verbindung mit SPD: EU-Weißbuch Verkehr – Neuaus-
richtung der integrierten Verkehrspoli-
tik in Deutschland und in der Europäi-
schen Union nutzen
Zusatztagesordnungspunkt 4: – zu dem Antrag der Abgeordneten
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter
lung zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wagner, Elisabeth Scharfenberg, Tabea NEN: Weißbuch Verkehr für Trend-
Rößner, weiterer Abgeordneter und der Frak- wende der Verkehrspolitik in Deutsch-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Der älter land und Europa nutzen
werdenden Gesellschaft gerecht werden – (Drucksachen 17/7464, 17/7177, 17/5906,
Barrieren in Wohnungen und im Wohnum- 17/7679) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16512 D
feld abbauen
(Drucksachen 17/7188, 17/7630) . . . . . . . . . . 16493 C Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 16513 B
Martin Burkert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16514 D
Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16516 B
Zusatztagesordnungspunkt 5: Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 16517 C
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/
DIE LINKE: Haltung der Regierungskoali- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16518 C
tion zur Einführung eines Mindestlohns . . 16496 A
Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 16519
0000 A
C
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 16496 A
Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 16520 C
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 16497 B
Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16521 B
Andrea Nahles (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16498 B Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16522 C
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 16499 A Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 16523 C
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16500 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16524 A
Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 16501 C Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) . . . . . . 16525 A
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 16503 A
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 16504 D
Tagesordnungspunkt 6:
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 16506 C
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke,
Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 16508 A Paul Schäfer (Köln), Wolfgang Nešković,
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16509 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Widerruf der gemäß § 8 des Parla-
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 16511 B mentsbeteiligungsgesetzes erteilten Zu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 V

stimmungen zu den Anträgen der Bundes- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/


regierung vom 28. Januar 2011 und DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16548 C
23. März 2011 – Bundeswehr aus Afghanis-
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 16549 C
tan abziehen
(Drucksache 17/7547) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16526 C Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 16550 B
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 16526 D Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16551 A
Robert Hochbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 16527 D Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 16552 B
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16552 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16528 A
Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16552 D
Johannes Pflug (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16529 B
Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 16553 D
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 16531 A
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 16531 C
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 9:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16532 D
Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 16533 C der Beteiligung bewaffneter deutscher
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16533 D tion „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisie-
rung des Friedensprozesses in Bosnien und
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 16534 C Herzegowina im Rahmen der Implementie-
rung der Annexe 1-A und 2 der Dayton-
Friedensvereinbarung sowie an dem
NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen
Tagesordnungspunkt 7: Aufgaben, auf Grundlage der Resolution
des Sicherheitsrates der Vereinten Natio-
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
nen 1575 (2004) und Folgeresolutionen
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
(Drucksache 17/7577) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16554 D
Gesetzes zur Neuordnung des Pflanzen-
schutzrechtes Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
(Drucksachen 17/7317, 17/7369, 17/7671) . . 16535 C AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16555 A
Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 16535 D Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16556 B
Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16536 D Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär
BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16557 C
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . 16538 C
Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 16558 C
Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . . 16540 A
Katja Keul (BÜNDNIS 90/
Harald Ebner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16559 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16540 D
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16560 C
Dr. Max Lehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 16541 D

Tagesordnungspunkt 10:
Tagesordnungspunkt 8:
Beschlussempfehlung und Bericht des Sport-
Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer,
ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten
Fritz Kuhn, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Martin Gerster, Sönke Rix, Sabine Bätzing-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jetzt Voraus-
Fraktion der SPD: Rechtsextremistische
setzungen für die Einführung eines Min-
Einstellungen im Sport konsequent be-
destlohns schaffen
kämpfen – Toleranz und Demokratie nach-
(Drucksache 17/7483) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16543 C
haltig fördern
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 17/5045, 17/7597) . . . . . . . . . . 16561 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16543 D
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 16544 C BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16561 D
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . . 16546 B Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16563 B
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . 16546 C Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16564 B
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 16547 C Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 16565 B
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . 16572 A


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16565 D
Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 16573 A
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 16566 D
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/
Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16568 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16573 D
Karin Strenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16574 D

Zusatztagesordnungspunkt 15:
Tagesordnungspunkt 12:
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Antrag der Abgeordneten Angelika Graf (Ro-
schäftsordnung: Antrag auf Genehmigung senheim), Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer
zur Durchführung eines Strafverfahrens Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
(Drucksache 17/7682) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16568 D Glücksspielsucht bekämpfen
(Drucksache 17/6338) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16576 C
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . 16576 D
Tagesordnungspunkt 32: Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 16577 D
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
Verteidigungsausschusses DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16579 B
– zu dem Antrag der Fraktionen CDU/ Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 16580 D
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . 16581 D
DIE GRÜNEN: Ausgleich für Radar-
geschädigte der Bundeswehr und Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/
der ehemaligen NVA DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16583 A
– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) . . . . . . . 16584 A
Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD:
Ausgleich für Radargeschädigte der Tagesordnungspunkt 15:
Bundeswehr und der ehemaligen
NVA voranbringen a) Beratung der Unterrichtung durch den Par-
lamentarischen Beirat für nachhaltige
– zu dem Antrag der Abgeordneten Entwicklung: Bericht des Parlamentari-
Agnes Malczak, Katja Keul, Tom schen Beirats über die Nachhaltigkeitsprü-
Koenigs, weiterer Abgeordneter und fung in der Gesetzesfolgenabschätzung
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und die Optimierung des Verfahrens
NEN: Umfassende Entschädigung (Drucksache 17/6680) . . . . . . . . . . . . . . . 16585 A
für Radarstrahlenopfer der Bundes-
wehr und der ehemaligen NVA b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
(Drucksachen 17/7354, 17/5365, 17/5373, Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung
17/7553) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16568 D durch den Parlamentarischen Beirat für
nachhaltige Entwicklung: Europäische
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ver- Nachhaltigkeitsstrategie
teidigungsausschusses zu dem Antrag der (Drucksachen 17/5295, 17/7678) . . . . . . . 16585 A
Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer
(Köln), Kathrin Vogler, weiterer Abgeord- Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 16585 B
neter und der Fraktion DIE LINKE: Um- Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 16586
0000 A
B
fassende Entschädigung für Radar-
strahlenopfer der Bundeswehr, der Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16587 C
ehemaligen NVA und ziviler Einrichtun-
gen Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 16588 A
(Drucksachen 17/5233, 17/6556) . . . . . . . 16569 A Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16589 A
Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär
BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16569 B Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 16590 A
Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16570 C Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . 16591 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 VII

Tagesordnungspunkt 14: Tagesordnungspunkt 16:


a) Beschlussempfehlung und Bericht des a) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
schaft und Verbraucherschutz zu dem An- Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab-
trag der Abgeordneten Jan Korte, geordneten Sylvia Kotting-Uhl, Dorothea
Dr. Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, wei- Steiner, Hans-Josef Fell, weiterer Abge-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
LINKE: Ökosysteme schützen, Arten- DIE GRÜNEN: Kein CASTOR-Trans-
vielfalt erhalten – Kormoranmanage- port nach Gorleben zu Lasten des
ment einführen Strahlenschutzes – Zwischenlagerung
(Drucksachen 17/5378, 17/5955) . . . . . . . 16592 A hochradioaktiver Wiederaufarbeitungs-
abfälle verursachergerecht neu gestal-
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- ten
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und (Drucksachen 17/7465, 17/7677) . . . . . . . 16608 B
Verbraucherschutz zu dem Antrag der Ab-
geordneten Franz-Josef Holzenkamp, b) Antrag der Abgeordneten Dorothée
Peter Altmaier, Cajus Caesar, weiterer Ab- Menzner, Johanna Voß, Eva Bulling-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU Schröter, weiterer Abgeordneter und der
sowie der Abgeordneten Dr. Christel Fraktion DIE LINKE: CASTOR-Trans-
Happach-Kasan, Rainer Erdel, Angelika port 2011 nach Gorleben stoppen
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der (Drucksache 17/7634) . . . . . . . . . . . . . . . 16608 C
Fraktion der FDP: Fischartenschutz vo- Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . 16608 C
ranbringen – Vordringliche Maßnah-
men für ein Kormoranmanagement Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 16609 D
(Drucksachen 17/7352, 17/7673) . . . . . . . 16592 B Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 16611 C
Cajus Caesar (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16592 C Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . 16612 C
Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16594 C Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16613 C
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . 16595 D
Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16614 B
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16597 B
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16614 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16598 C Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 16615 A
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . 16599 C Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16615 D
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 16600 A

Tagesordnungspunkt 18:
Tagesordnungspunkt 17:
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
Erste Beratung des von der Bundesregierung desregierung eingebrachten Entwurfs eines
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gesetzes über die Besetzung der Großen
Einrichtung und zum Betrieb eines bun- Straf- und Jugendkammern in der Haupt-
desweiten Hilfetelefons „Gewalt gegen verhandlung
Frauen“ (Hilfetelefongesetz – Hilfetele- (Drucksachen 17/6905, 17/7276, 17/7669) . . 16617 A
fonG)
(Drucksache 17/7238) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16601 A
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . 16601 C
Tagesordnungspunkt 20:
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . 16602 D Erste Beratung des von der Bundesregierung
Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16603 D eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung der Verordnung (EU)
Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 16604 C Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 16. Februar 2011 über
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ die Bürgerinitiative
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16605 C (Drucksache 17/7575) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16617 C
Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16606 C Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 16617 C
Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 16607 C Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 16618 C
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16619 B Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 16631 C


Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16619 D Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16632 C
Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 16620 D
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16621 B
Tagesordnungspunkt 24:
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Kultur und Medien zu dem An-
Tagesordnungspunkt 19: trag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP
Antrag der Fraktion der SPD: Nachhaltige und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gedenk-
Entwicklung in Subsahara-Afrika durch ort für die Opfer der NS-„Euthanasie“-
die Stärkung der Menschenrechte fördern Morde
(Drucksache 17/7370) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16622 B (Drucksachen 17/5493, 17/7596) . . . . . . . . . . 16633 D
Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 16634 A
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . 16634 C
Tagesordnungspunkt 22: Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . 16635 B
Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16636 B
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung von Vorschriften Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . 16637 A
über Verkündung und Bekanntmachungen
(Drucksachen 17/6610, 17/7560) . . . . . . . . . . 16622 C Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16638 A
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 16622 C
Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 16623 C
Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 16624 D Tagesordnungspunkt 23:

Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 16625 B Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge,
Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiterer
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16626 A Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen
von DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2016
verlängern
(Drucksache 17/7486) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16638 D
Tagesordnungspunkt 21:
Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 16639 A
a) Antrag der Abgeordneten Uta Zapf,
Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger, Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 16639 C
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16640 B
der SPD sowie der Abgeordneten Agnes
Malczak, Volker Beck (Köln), Marieluise Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . . 16641 A
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 16641 D
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Gegen eine Aufweichung des Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Verbots von Streumunition (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . 16642 B
(Drucksache 17/7637) . . . . . . . . . . . . . . . . 16627 A
b) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Jan
van Aken, Christine Buchholz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE Tagesordnungspunkt 25:
LINKE: Streumunition nicht wieder zu- Antrag der Abgeordneten Markus Tressel,
lassen – Gegen ein Protokoll über Streu- Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abge-
munition zum CCW ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
(Drucksache 17/7635) . . . . . . . . . . . . . . . . 16627 A GRÜNEN: Kontaminierte Kabinenluft in
Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16627 B Flugzeugen unterbinden
(Drucksache 17/7480) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16643 A
Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16628 C
Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 16630 D in Verbindung mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 IX

Zusatztagesordnungspunkt 6: NEN: Gutachten über die geplanten EU-


Fluggastdatenabkommen mit den USA und
Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim
Australien beim Gerichtshof der Europäi-
Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz Paula, wei-
schen Union einholen
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
(Drucksachen 17/6331, 17/7676) . . . . . . . . . . 16656 A
Flugzeugbesatzungen und Reisende vor
kontaminierter Kabinenluft schützen Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 16656 B
(Drucksache 17/7611) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16643 A
Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16658 A
Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16643 B
Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16658 D
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . . 16644 B
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16659 B
Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . 16645 C
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16647 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16660 A
Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 16648 A
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16661 C
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16648 C

Anlage 1
Tagesordnungspunkt 26: Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 16663 A
Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen,
Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Anlage 2
50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeab-
kommen – Assoziationsrecht wirksam um- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
setzen Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) zur Ab-
(Drucksache 17/7373) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16650 A stimmung über die Beschlussempfehlung zu
dem Antrag: Fischartenschutz voranbringen –
Vordringliche Maßnahmen für ein Kormoran-
in Verbindung mit
management (Tagesordnungspunkt 14 b) . . . 16663 B

Zusatztagesordnungspunkt 7:
Anlage 3
Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten
des Entwurfs eines Gesetzes über die Beset-
Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Marieluise
zung der Großen Straf- und Jugendkammern
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und
in der Hauptverhandlung (Tagesordnungs-
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
punkt 18)
Visumfreie Einreise türkischer Staatsange-
höriger für Kurzaufenthalte ermöglichen Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 16663 D
(Drucksachen 17/3686, 17/5989) . . . . . . . . . . 16650 B
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . 16665 C
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 16650 B
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 16666 B
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 16651 B
Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 16667 D
Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16652 C
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 16653 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16668 C
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16655 B Bundesministerin der Justiz . . . . . . . . . . . . 16669 D

Tagesordnungspunkt 27: Anlage 4


Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten des Antrags: Nachhaltige Entwicklung in
Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland, Subsahara-Afrika durch die Stärkung der
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter Menschenrechte fördern (Tagesordnungs-
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- punkt 19)
X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 16670 C Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16674 D


Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 16672 A Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 16676 C
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 16673 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16677 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16451

(A) (C)

139. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Überweisungsvorschlag:


Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Innenausschuss
Rechtsausschuss
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Finanzausschuss
begrüße Sie herzlich zur 139. Sitzung des Bundestages Ausschuss für Arbeit und Soziales
in dieser Legislaturperiode. Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Der Kollege Max Lehmer hat am 6. November sei- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
nen 65. Geburtstag gefeiert. Ich möchte ihm im Namen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
des ganzen Hauses dazu auch auf diesem Wege herzlich Haushaltsausschuss
gratulieren und alles Gute für die nächsten 65 Jahre wün-
schen. ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
(Beifall)
(B) (D)
Die Kollegen Heidrun Dittrich und Andrej Hunko ha- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
ben ihre Schriftführerämter niedergelegt. Als neue CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Schriftführer schlägt die Fraktion Die Linke die Kolle- Zweiten Gesetzes zur Neuregelung energie-
gen Ralph Lenkert und Sabine Stüber vor. Sind Sie da- wirtschaftsrechtlicher Vorschriften
mit einverstanden? – Drucksache 17/7632 –
(Zuruf) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
– Eine Vorstellung wäre denkbar, ist aber eigentlich Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
nicht üblich. Ich nehme auch an, dass dazu allgemeines Verbraucherschutz
Einvernehmen besteht. – Das ist der Fall. Dann sind die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
beiden Kollegen hiermit gewählt. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver- Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste Abgeordneter und der Fraktion der SPD
aufgeführten Punkte zu erweitern:
Leitlinien für Transparenz und Umweltver-
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der träglichkeit bei der Förderung von unkonven-
SPD: tionellem Erdgas
Nein zum Betreuungsgeld – Familien- und Bil- – Drucksache 17/7612 –
dungspolitik zukunftsfähig gestalten Überweisungsvorschlag:
(siehe 138. Sitzung) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wicklein, Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine), Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Stagnation beim Bürokratieabbau überwinden –
Neue Schwerpunktsetzung für den Mittelstand c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
umsetzen Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Marco
Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
– Drucksache 17/7610 – der SPD
16452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Monitoring für versenkte Atommüllfässer im Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehö- (C)
Atlantik sicherstellen und Maßnahmen gegen riger für Kurzaufenthalte ermöglichen
weitere Strahlenexposition einleiten
– Drucksachen 17/3686, 17/5989 –
– Drucksache 17/7633 – Berichterstattung:
Überweisungsvorschlag: Abgeordnete Reinhard Grindel
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Daniela Kolbe (Leipzig)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ulla Jelpke
Memet Kilic
ZP 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
sprache ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-
Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und der CDU/CSU
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing,
der Abgeordneten Daniela Wagner, Elisabeth Dr. Hermann Otto Solms, Björn Sänger, weiterer
Scharfenberg, Tabea Rößner, weiterer Abgeord- Abgeordneter und der Fraktion der FDP
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN Ratingagenturen besser regulieren
– Drucksache 17/7638 –
Der älter werdenden Gesellschaft gerecht wer-
den – Barrieren in Wohnungen und im Wohn- ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
umfeld abbauen
Neuer Anlauf zur Finanzmarktregulierung er-
– Drucksachen 17/7188, 17/7630 – forderlich

Berichterstattung: – Drucksache 17/7641 –


Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara) ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
LINKE:
Schick, Fritz Kuhn, Dr. Thomas Gambke, weite-
Haltung der Regierungskoalition zur Einfüh- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
(B) (D)
rung eines Mindestlohns DIE GRÜNEN

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- Einsetzung einer Kommission des Deutschen
Joachim Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz Bundestages zur Regulierung der Großbanken
Paula, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Drucksachen 17/7359, 17/7665 –
der SPD
Berichterstattung:
Flugzeugbesatzungen und Reisende vor konta- Abgeordnete Björn Sänger
minierter Kabinenluft schützen Dr. Gerhard Schick
– Drucksache 17/7611 – ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Überweisungsvorschlag:
Dr. Hermann E. Ott, Viola von Cramon-Taubadel,
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der
Ausschuss für Tourismus (f) Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Innenausschuss
Rechtsausschuss China als wichtiger Partner im Klimaschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und – Drucksache 17/7481 –
Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Gesundheit Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ZP 12 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
Haushaltsausschuss
Federführung strittig setzes zur Wiedergewährung der Sonderzah-
lung
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu – Drucksache 17/7631 –
dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Josef Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen), Rechtsausschuss
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Verteidigungsausschuss
NIS 90/DIE GRÜNEN Haushaltsausschuss
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16453
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) ZP 13 Beratung des Antrags der Fraktion BÜND- ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea (C)
NIS 90/DIE GRÜNEN Wicklein, Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Euratom-Vertrag ändern – Atomausstieg eu-
ropaweit voranbringen – Atomprivileg been- Stagnation beim Bürokratieabbau überwinden –
den Neue Schwerpunktsetzung für den Mittelstand
umsetzen
– Drucksache 17/7670 –
– Drucksache 17/7610 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Bildung, Forschung und Innenausschuss
Technikfolgenabschätzung Rechtsausschuss
Federführung strittig Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Ausschuss für Gesundheit
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Schuldenfinanzierte Steuersenkungspläne der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Bundesregierung – Folgen für künftige Gene-
Haushaltsausschuss
rationen und für die soziale Gerechtigkeit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Dabei soll, wie immer, von der Frist für den Beginn die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. –
der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen wer- Auch dazu gibt es offensichtlich Einvernehmen. Dann
den. ist das so beschlossen.
Die Tagesordnungspunkte 11 und 13 werden abge- Wir beginnen mit dem Parlamentarischen Staatsse-
setzt. Anstelle von Tagesordnungspunkt 11 soll nun der kretär Burgbacher, dem ich hiermit das Wort erteile.
Tagesordnungspunkt 32 beraten werden. Die Tagesord-
nungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entspre- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
chend vor. Für den Tagesordnungspunkt 32 soll morgen
der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Wieder- Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär beim Bun-
gewährung von Sonderzahlungen debattiert werden. desminister für Wirtschaft und Technologie:
Schließlich wird der Tagesordnungspunkt 33 abgesetzt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Le
und stattdessen der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Mittelstand Allemand“ – das ist in Frankreich zu einem
(B) Grünen zur Änderung des Euratom-Vertrages aufgeru- (D)
Fachbegriff geworden, den die Franzosen voll Respekt
fen. Darf ich auch zu diesen zwischen den Fraktionen verwenden. In vielen Ländern werden wir um unsere
abgestimmten Veränderungen Ihr Einvernehmen fest- mittelständische Struktur beneidet.
stellen? – Das ist der Fall. Dann ist das hiermit so be-
schlossen. Wir alle sind uns wahrscheinlich einig, dass der Mit-
telstand einen ganz wesentlichen Verdienst daran hatte,
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatz- dass wir so gut aus der Krise herausgekommen sind.
punkt 2 auf: Mittelstand heißt: viele Familienunternehmer, die die
Krise auch genutzt haben, um sich neu aufzustellen, die
3 Beratung des Antrags der Abgeordneten ihre Beschäftigten gehalten haben. Deshalb ist es ange-
Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai bracht, all diesen Unternehmerinnen und Unternehmern
Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion den Dank dieses Hauses für ihre Leistung zu sagen.
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion NISSES 90/DIE GRÜNEN)
der FDP 60 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Ar-
Weniger Bürokratie und Belastungen für den beitsplätze sind im Mittelstand. Über 99 Prozent der
Mittelstand – Den Erfolgskurs fortsetzen deutschen Unternehmen sind kleine und mittlere Unter-
nehmen. Über 83 Prozent der Auszubildenden werden
– Drucksache 17/7636 – vom Mittelstand ausgebildet. Auch das ist etwas, um das
Überweisungsvorschlag: uns eigentlich die ganze Welt beneidet. Das heißt, wir
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) müssen den Mittelstand in Deutschland stärken; wir
Innenausschuss müssen alles dafür tun, dass er gestärkt wird, weil er das
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
stabile Element in unserer Volkswirtschaft ist.
Ausschuss für Arbeit und Soziales (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Meine Damen und Herren, wenn man zu Mittelständ-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
lern kommt und sie fragt, was sie von der Politik erwar-
Ausschuss für Kultur und Medien ten, dann heißt es häufig: Lasst uns arbeiten, gebt uns
Haushaltsausschuss nicht ständig neue Regelungen, gängelt uns nicht! – Ge-
16454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Parl. Staatssekretär Ernst Burgbacher


(A) nau das ist das Markenzeichen der christlich-liberalen wir jetzt schon im Anfangsstadium sehen, was aus Eu- (C)
Regierung: Wir geben dem Mittelstand Freiraum. Wir ropa kommt, also rechtzeitig reagieren und handeln kön-
entlasten den Mittelstand von Bürokratie. Wir lassen die nen. Auch das ist eine gute Nachricht für den Mittel-
Unternehmer arbeiten – das ist das, was sie wollen – und stand.
überziehen sie nicht ständig mit neuen staatlichen Vor-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
schriften. Im Gegenteil: Wir bauen Vorschriften ab; wir
der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Ein biss-
bauen Bürokratie ab. Das ist das Markenzeichen der
chen dünn bisher!)
Mittelstandspolitik dieser christlich-liberalen Regierung.
Schließlich, meine Damen und Herren, komme ich
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auf einen besonders wichtigen Punkt zu sprechen: Cor-
Es ist notwendig, dass wir den ordnungspolitischen porate Social Responsibility. Das unterstützen wir alle.
Rahmen immer wieder überarbeiten, dass wir ihn an ak- Aber es kann nicht sein, dass die EU kleinen Unterneh-
tuelle Gegebenheiten anpassen. Wir können gute Erfolge men Vorgaben für ausführliche Berichtspflichten macht.
vorweisen. Noch vor fünf Jahren hatte die deutsche Dann wird aus dem gut gemeinten Projekt plötzlich wie-
Wirtschaft Bürokratielasten im Umfang von 50 Milliar- der neue Bürokratie.
den Euro zu tragen. Wir haben diese Lasten um Deshalb sage ich auch für diese Bundesregierung:
10,5 Milliarden Euro zurückgeführt. Ein Teil davon Wir werden das stoppen. Wir wollen Corporate Social
wurde in der Großen Koalition erreicht. Das waren aller- Responsibility, aber rein nach dem Freiwilligkeitsprinzip
dings die Früchte, die niedrig hingen, die man nur zu und nicht durch neue bürokratische Vorschriften.
pflücken brauchte. Wir haben jetzt eine weitere Reduzie-
rung um 4,5 Milliarden Euro erreicht. Ich glaube, das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nach zwei Jahren eine stolze Bilanz, die sich wirklich se- Vieles hat diese Bundesregierung in den zwei Jahren
hen lassen kann. getan. Der Mittelstand hat eine deutliche Entlastung er-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fahren. Der Antrag weist weitere Punkte zu der Frage
auf, was jetzt noch zu tun ist.
Ich will einige ganz konkrete Beispiele nennen; ich
beginne mit ELENA. ELENA war ein Vorhaben, das gut Wir sind bei vielen Punkten in der Vorbereitung. Wir
gemeint war, eigentlich ein Vorhaben, um Bürokratie ab- werden das umsetzen. Wir werden zeigen: Mittelstands-
zubauen. Es hat sich aber gezeigt, dass es gerade für politik ist ein Kernstück dieser christlich-liberalen Re-
kleine und mittlere Unternehmen eher schwierig war, die gierung. Mittelstandspolitik heißt, Unternehmerinnen
Vorgaben zu erfüllen, dass es bei ihnen eines gewaltigen und Unternehmern endlich wieder die Luft zum Atmen
zu geben und ihnen das zu ermöglichen, was sie am
(B) Aufwandes mit gewaltigen Kosten bedurfte, um diese liebsten tun, nämlich etwas zu unternehmen.
(D)
Vorgaben zu erfüllen. Deshalb bin ich froh, dass der
Deutsche Bundestag am 29. September beschlossen hat, Dafür hat die Politik die richtigen Rahmenbedingun-
ELENA auslaufen zu lassen, und zwar schon in diesem gen zu setzen. Genau das machen wir.
Jahr. Das ist ein gutes Zeichen für viele kleine und mitt-
lere Unternehmen in Deutschland, Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
auch wenn wir natürlich darüber reden müssen, was wir Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Wicklein
mit den Daten machen und wie wir Dinge, die bereits ge- für die SPD-Fraktion.
schehen sind, für die Zukunft nützen können.
(Beifall bei der SPD)
Ein zweites Beispiel: das Thema Vergaberecht. Bei
öffentlichen Ausschreibungen müssen Unternehmen die
Andrea Wicklein (SPD):
Eignung nachweisen. Was wir getan haben: Es gibt jetzt
ein deutlich vereinfachtes Verfahren für diesen Eig- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
nungsnachweis, was es gerade kleinen und mittleren Un- Kollegen! Herr Burgbacher, in der Sache sind wir uns ei-
ternehmen leichter und auch kostengünstiger macht, an nig: Natürlich müssen wir alles dafür tun, den Mittel-
öffentlichen Ausschreibungen teilzunehmen. stand von unnötiger Bürokratie zu entlasten. Wir sind
uns auch einig, was die Bedeutung des Mittelstands be-
Ein drittes Beispiel. Wenn wir draußen im Land sind, trifft – gar keine Frage.
bekommen wir alle etwas davon mit: die Klagen über
Aber was ist eigentlich in den letzten zwei Jahren mit
EU-Vorgaben. Nun will ich deutlich sagen: Manchmal
dem Regierungsprogramm Bürokratieabbau passiert?
ist die Kritik ein Stück weit überzogen; die EU muss für
Sie haben nicht, wie vor fünf Jahren festgelegt, das 25-Pro-
vieles herhalten. Aber richtig ist, dass viele Bürokratie-
zent-Nettoabbauziel bei den Informations- und Statistik-
lasten durch EU-Vorgaben entstehen. Deshalb haben wir
pflichten erreicht.
den Koalitionsvertrag umgesetzt: Wir haben im Bundes-
wirtschaftsministerium ein Frühwarnsystem für europäi- Auf europäischer Ebene, die in der Tat zu 50 Prozent
sche Regelungen eingerichtet. Dieses Frühwarnsystem für die bürokratischen Belastungen der deutschen Ge-
wird ermöglichen, dass wir europäische Vorgaben nicht setzgebung verantwortlich ist, ist seit zwei Jahren so gut
erst dann behandeln, wenn es zu spät ist, sondern dass wie gar kein Fortschritt erzielt worden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16455
Andrea Wicklein
(A) Für den neuen Ansatz, den Erfüllungsaufwand in aus- Wir erwarten natürlich, dass Sie nächstes Jahr eine (C)
gewählten Bereichen zu verringern, wie durch das NKR- neue Zielmarke für Bürokratieabbau setzen. Oder wollen
Gesetz im März 2011 festgelegt, haben Sie gerade ein- Sie etwa 2012 den Bürokratieabbau ad acta legen? Auch
mal ein Handbuch vorgelegt. Ansonsten geht nach wie bei der Umsetzung des NKR-Gesetzes muss gehandelt
vor die Umsetzung dieses wichtigen politischen Ziels werden. Die Bundesregierung muss die Kosten, die
leider nur sehr schleppend voran. Insgesamt stagniert durch die Rechtsanwendung entstehen, schnell bewerten
also die Umsetzung des Regierungsprogramms. und den Bürokratieabbau zu einem eigenständigen Poli-
tikziel entwickeln. Dazu brauchen wir ein festes quanti-
Ich schaue mich um und frage mich: Was ist eigent-
tatives Abbauziel.
lich mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Bü-
rokratieabbau? Fragen Sie einmal in unserem Land, wer Wir stellen fest: Auf EU-Ebene ist die Kommission
Eckart von Klaeden in dieser Funktion kennt! nach wie vor nicht bereit, den Bürokratieabbau von ei-
nem unabhängigen Gremium bewerten zu lassen. Das ist
(Zuruf von der CDU/CSU: Er sitzt da!)
sehr bedauerlich; denn so wie in Deutschland Bürokra-
– Jetzt sehe ich ihn. Er sitzt auf der Regierungsbank – tiekosten nach einheitlichen Maßstäben erfasst und in ei-
ganz versteckt. nem komplexen Prozess bewertet werden, müsste das
ebenfalls auf EU-Ebene passieren. Wir brauchen einen
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er leistet hervor-
europäischen Normenkontrollrat, der Regelungsvorha-
ragende Arbeit!)
ben der EU schon in der Frühphase auf mögliche Büro-
– Herr Hinsken, fragen Sie im Land, ob jemand den Bü- kratiekosten hin kontrolliert.
rokratiebeauftragten der Bundesregierung kennt!
(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]:
(Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär: Ab- Das macht alles der Edmund Stoiber!)
bau! – Zurufe von der CDU/CSU: Bürokratie-
abbaubeauftragten!) Wie eben aufgezeigt, gibt es seit zwei Jahren einen
Stillstand beim Bürokratieabbau, und das ist fatal, ge-
Dann merken Sie: Fehlanzeige! Niemand kennt ihn. Kei- rade im Hinblick auf die wirtschaftlichen Herausforde-
ner weiß, dass es einen Bürokratieabbaubeauftragten der rungen, vor denen wir stehen. Wir müssen alles unter-
Bundesregierung gibt. nehmen, um unnötige Kosten zu senken, damit sich die
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Unternehmen auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren
Edmund Stoiber ist das! – Gegenruf des Abg. können.
Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie-
Dann kam Kelber! Dann hat man Bürokratie rungsfraktionen, sicherlich ist Ihnen das auch aufgefal- (D)
(B)
aufgebaut!) len. Deshalb haben Sie jetzt kurz vor Toresschluss einen
Dabei war die Große Koalition vor fünf Jahren sehr Antrag formuliert. In ihm fordern Sie Ihre eigene Regie-
eindrucksvoll gestartet. In sehr kurzer Zeit gelang es, rungsmannschaft endlich zum Handeln auf. Festzustel-
den Normenkontrollrat zu etablieren, das Standardkos- len ist aber: Dieser Antrag kommt zu spät, erst Ende
tenmodell einzuführen, die drei Mittelstandsentlastungs- 2011. Ich frage Sie: Warum nicht früher? Warum nur ein
gesetze zu verabschieden und so innerhalb relativ kurzer Antrag? Warum haben Sie nicht gleich ein viertes und
Zeit die Belastung der Wirtschaft durch unnötige Büro- ein fünftes Mittelstandsentlastungsgesetz vorgelegt?
kratie um 20 Prozent abzubauen. Erreicht werden sollten (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Weil wir es ma-
aber bis Ende 2011 25 Prozent. chen, Frau Kollegin Wicklein! Wir machen es
(Kai Wegner [CDU/CSU]: Bis Ende 2011?) ja!)
Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren sind verbindli- – Bei insgesamt 24 Forderungen, Herr Hinsken, hätten
che Abbauziele. Ich frage daher die Bundesregierung Sie doch genügend Material für einen solchen Entwurf
– dazu haben Sie, Herr Staatssekretär, nicht viel gesagt –: parat gehabt. Sie machen es vielleicht irgendwann. Aber
Wie wollen Sie innerhalb der kurzen Zeit, also innerhalb warum haben Sie es bis jetzt nicht getan? Sie hatten
der uns verbleibenden drei Sitzungswochen, noch die lange genug Zeit. Zwei Jahre sind vertan worden.
fehlenden Entlastungsmaßnahmen im Umfang von (Beifall bei der SPD)
2 Milliarden Euro im Bundestag beschließen?
In der Tat gibt es viel zu tun. Ein Blick in den aktuel-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten len Jahresbericht des Normenkontrollrats reicht. Darin
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sind ernstzunehmende Empfehlungen enthalten. Deshalb
Das funktioniert also nicht. Folglich können wir fordern wir:
schon heute kritisieren, dass Sie das versprochene Ab-
Erstens. Beenden Sie schnellstens den Stillstand beim
bauziel nicht erreichen werden.
Bürokratieabbau! Bauen Sie das bisher erfolgreiche Re-
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gierungsprogramm besonders für kleine und mittlere
NEN]: Das müssen wir mal festhalten!) Unternehmen weiter aus, und erweitern Sie es für die
Bürgerinnen und Bürger!
In der Tat erwartet der deutsche Mittelstand von der
Bundesregierung eine sehr schnelle Umsetzung des Ab- Zweitens. Überprüfen Sie endlich die Bürokratiekos-
bauziels. ten von EU-Richtlinien, und entwickeln Sie gemeinsam
16456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Andrea Wicklein
(A) mit anderen EU-Ländern Strategien zum Bürokratieab- Das zeigt, liebe Frau Wicklein, welchen Stellenwert wir (C)
bau und zu weiteren Vereinfachungen! Wirken Sie mit diesem Thema in dieser Koalition geben.
Nachdruck auf die Europäische Kommission ein, und
bestehen Sie auf einer plausiblen Abschätzung der Büro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
kratiekosten aller Gesetzesvorschläge! der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Symbolpoli-
tik!)
Drittens. Bringen Sie neuen Schwung in das E-Govern-
Liebe Frau Wicklein, hätten Sie dem Staatssekretär
ment! Achten Sie darauf, dass es zu einem Abbau unnö-
Burgbacher gerade zugehört, dann hätten Sie die Rede
tiger Bürokratie genutzt wird! In der Vergangenheit
so, wie Sie sie gerade gehalten haben, glaube ich, nicht
führte die mangelhafte Abstimmung zwischen den
halten können.
Ministerien teilweise zu mehr statt zu weniger Bürokra-
tie. Auch die Koordinierung mit den Bundesländern Bürokratie kostet Zeit und Geld. Beides sind entschei-
muss an dieser Stelle verbessert werden. dende Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit in unserem
Land. Die christlich-liberale Koalition hat sich zum Ziel
(Beifall bei der SPD) gesetzt, die Belastungen durch Bürokratie so weit wie
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der möglich abzubauen, insbesondere für den deutschen
CDU/CSU- und der FDP-Fraktion, wenn Sie unsere bei- Mittelstand.
den Anträge nebeneinander legen, dann können Sie fest- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
stellen, dass es bei den Forderungen viel Übereinstim- der FDP)
mung gibt. Es ist schön, dass Sie dem von uns
eingeschlagenen Weg folgen wollen. Auch beim Tempo Wenn wir über Bürokratieabbau in Deutschland spre-
und bei der konsequenten Umsetzung sollten Sie sich chen, verwenden wir immer gerne Bilder. Ich vergleiche
wieder mehr an uns orientieren. Das hat in der Großen ihn stets mit einem Marathonlauf: Am Start ist man vol-
Koalition ganz gut funktioniert. ler Energie, und man bewältigt den größten Teil der Stre-
cke problemlos, bis es anfängt, wehzutun. Dann darf man
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, nicht aufgeben. Man muss alle vorhandenen Kraftreser-
legen Sie endlich ein schlüssiges, in die Zukunft gerich- ven nutzen, um die Ziellinie zu erreichen. Liebe Kolle-
tetes Konzept vor! Beschließen Sie verbindliche Ziele ginnen und Kollegen, wir haben einen großen Teil un-
für die Zeit ab 2012! Setzen Sie Beschlüsse um! Ich bin serer Strecke geschafft. Wir werden diesen Weg
gespannt, ob diese Bundesregierung dazu überhaupt konsequent weitergehen. Wir müssen allerdings aufpas-
noch in der Lage ist. sen – diesbezüglich haben Sie recht, Frau Wicklein –,
(Beifall bei der SPD) dass wir uns durch neue Regulierungen den Weg nicht
(B) zusätzlich erschweren. (D)
Unser Mittelstand kann sich keine weiteren Verzögerun-
gen beim Bürokratieabbau leisten. Machen Sie endlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Nägel mit Köpfen, der FDP)
Noch vor fünf Jahren mussten die Unternehmen in
(Claudia Bögel [FDP]: Machen wir doch!)
Deutschland rund 50 Milliarden Euro im Jahr für Büro-
und investieren Sie in den Bürokratieabbau! Der Mittel- kratiekosten aufwenden. Inzwischen sparen sie jährlich
stand und die Bürgerinnen und Bürger werden es Ihnen deutlich über 10 Milliarden Euro ein. Wir werden diesen
danken. Weg weitergehen und über die Informationspflichten hi-
naus auch den sogenannten Erfüllungsaufwand reduzie-
Ganz herzlichen Dank. ren. Die Zahlen beweisen es: Wir sind auf dem richtigen
(Beifall bei der SPD) Weg.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei der
Kai Wegner ist der nächste Redner für die CDU/CSU- Bundesregierung und beim Bundeswirtschaftsminister
Fraktion. bedanken. Insbesondere möchte ich mich bei unserem
Staatsminister Eckart von Klaeden für seine beharrliche
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
und erfolgreiche Arbeit bedanken.
der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ernst
Kai Wegner (CDU/CSU): Hinsken [CDU/CSU]: Aufstehen!)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Liebe Frau Wicklein, wenn Sie von dieser erfolgreichen
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, dies ist ein Arbeit nichts mitbekommen haben, dann ist das nicht
guter Tag, ein guter Morgen für kleine und mittelständi- das Problem der Koalition, sondern Ihr Problem. Wir
sche Unternehmen in unserem Land. Wir beraten zur sind fest davon überzeugt, dass Herr von Klaeden eine
besten Zeit hier im Deutschen Bundestag, zur Kernzeit, gute Arbeit leistet, die er fortsetzen wird.
das Thema Bürokratieabbau.
Einen Dank möchte ich auch den Mitgliedern des Na-
(Rainer Brüderle [FDP]: Es ist auch richtig tionalen Normenkontrollrates aussprechen. Der Nor-
voll hier!) menkontrollrat ist mit seinen Stellungnahmen und Anre-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16457
Kai Wegner
(A) gungen stets ein guter und wichtiger Begleiter bei Daher fordern wir zum Beispiel, die gesetzlichen (C)
unseren Bemühungen, Bürokratiekosten zu reduzieren. Aufbewahrungsfristen für Unternehmen und private
Herrn Dr. Ludewig möchte ich an dieser Stelle ganz Haushalte im Handels-, Steuer- und Sozialrecht zu ver-
herzlich danken, natürlich auch seinen Mitstreiterinnen einheitlichen und endlich zu verkürzen.
und Mitstreitern.
(Beifall der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU])
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Zugleich sollen die steuerlichen Betriebsprüfungen zeit-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- lich näher zum Veranlagungsjahr stattfinden, damit das
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Christine Scheel mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen harmo-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dem kann niert.
man schon danken! Sie müssen nur umsetzen,
was er vorschlägt!) Diese Maßnahmen werden die Mittelständler, die
Handwerker, aber auch private Personen spüren und er-
Gerade in turbulenten Zeiten von Wirtschafts- und Fi- fahren. Sie können dann getrost den einen oder anderen
nanzkrisen sind wir verpflichtet, die Bedingungen für Aktenordner und Papierstapel wegwerfen oder vernich-
unternehmerisches Handeln in Deutschland weiter zu ten. Das schafft Platz im Lager und im Regal, und das
verbessern. Nur so kann die deutsche Wirtschaft in Eu- entlastet die Unternehmen spürbar. Deswegen wollen
ropa die Konjunkturlokomotive bleiben. Unternehmerin- wir da ran.
nen und Unternehmer sollen sich auf ihr eigentliches
Kerngeschäft konzentrieren können. Sie sollen innovativ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sein und im wahrsten Sinne des Wortes etwas unterneh- neten der FDP)
men. Wir müssen dafür sorgen, dass sie in der Lage sind,
Unter den vielen weiteren wichtigen Forderungen im
mehr in ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit zu investieren
Antrag zur Vereinfachung und zum Bürokratieabbau
anstatt in häufig überflüssige Bürokratie. Nur ein ausge-
möchte ich eine Forderung besonders erwähnen. Unter-
wogenes Verhältnis von individueller Freiheit und staat-
nehmerinnen und Unternehmer aus Berlin haben mir
lichen Rahmenvorgaben gibt zusätzliche Impulse für
mehrfach berichtet, wie zeitraubend es ist, immer und
kleine und mittlere Unternehmen, für das Handwerk und
immer wieder die gleichen Daten und Informationen
den Handel und schafft somit Wachstum und Beschäfti-
über das eigene Unternehmen an verschiedene Verwal-
gung.
tungen und unterschiedlichste öffentliche Einrichtungen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) melden zu müssen. Daraus entstand die Idee, in Zusam-
menarbeit mit dem Statistischen Bundesamt ein Konzept
Der Bürokratieabbau hat den Charme, dass er im Ge- zu erarbeiten, welches die öffentlichen Verwaltungen
(B) gensatz zu manch anderen Maßnahmen nichts kosten verpflichtet, bereits gemeldete Daten zu nutzen, bevor (D)
muss – ein wahres Konjunkturprogramm zum Nulltarif. Unternehmer erneut aufgefordert werden, öffentlich zu-
Deshalb ist uns dieses Thema so wichtig. gängliche Angaben gegenüber der Verwaltung zu wieder-
holen. Mit einem solchen Konzept werden wir erreichen,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass Unternehmen zukünftig nur noch einmal ihre Daten
neten der FDP) melden müssen und die Verwaltungen diese Daten im
Dazu soll unser Antrag einen Beitrag leisten. Wir ha- Bedarfsfall im Austausch nutzen. Auch damit wäre ein
ben in diesem Antrag einen umfangreichen Katalog an großer Schritt in Richtung spürbarer Entlastung – zeitlich
Maßnahmen vorgeschlagen, der weniger Bürokratie und und finanziell – erreicht.
weniger Belastung für den Mittelstand bringen soll. Ich möchte natürlich auch kurz auf den Antrag der
Mit den ersten beiden Forderungen halten wir die SPD-Fraktion eingehen. Sie bescheinigen uns, dass wir
Bundesregierung an, ihr Programm „Bürokratieabbau beim Bürokratieabbau erfolgreich sind, dass wir unsere
und bessere Rechtsetzung“ fortzuschreiben und zu inten- Ziele bisher erreicht haben und dass das sehr eindrucks-
sivieren. voll ist.
(Ulrich Kelber [SPD]: Das genaue Gegenteil
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Noch mehr Pa-
steht dort! Lesen wäre schon angebracht! –
pier!)
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nicht mal
Wir erwarten auch Maßnahmen, damit das Thema Büro- Applaus von den eigenen Leuten!)
kratieabbau nach dem Erreichen des 25-Prozent-Ziels Es freut mich natürlich sehr, dass Sie das in Ihrem An-
seine Dynamik behält. trag so formulieren, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Unsere Maßnahmen müssen in der Tat zu spürbaren SPD. Was allerdings Ihre Forderungen im Einzelnen be-
Entlastungen für die Wirtschaft, für die Verwaltung, für trifft, bin ich schon enttäuscht.
die Bürgerinnen und Bürger führen. Niemandem ist ge- (Zurufe von der SPD: Oh!)
holfen, wenn wir stets vorrechnen, wie stark die Belas-
tungen bereits gesunken sind, ohne dass die, die davon Ich muss wieder einmal feststellen, dass Sie dem Regie-
profitieren sollen, diese Entlastungen spüren. rungshandeln hinterherlaufen. Sie fordern beispiels-
weise, in Zukunft beim Bürokratieabbau auch Entlastun-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gen für Bürgerinnen und Bürger stärker ins Auge zu
der FDP) fassen. Das passiert doch bereits, zum Beispiel durch die
16458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Kai Wegner
(A) Projekte „Einfacher zum Studierenden-BAföG“, „Einfa- Das ist das entscheidende Kraftpotenzial, das die kleinen (C)
cher zum Wohngeld“ oder „Einfacher zum Elterngeld“. und mittleren Unternehmen brauchen.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Erklären Sie Herr Wegner, auch wenn Sie sich hier gerühmt haben:
doch einmal das Betreuungsgeld!) Ein weiterer Nachteil bleibt der bürokratiebedingte Auf-
Ein weiteres Beispiel: Sie fordern, die Methodik zur wand der KMU. Auf Kleinunternehmen mit bis zu neun
Berechnung des Erfüllungsaufwandes in das Bürokratie- Beschäftigten entfallen pro Beschäftigten und Jahr
abbauprogramm aufzunehmen. Dies ist mit Inkrafttreten 64 Stunden und 4 361 Euro an rein bürokratiebedingtem
des Leitfadens zur Ermittlung und Darstellung des Erfül- Aufwand.
lungsaufwands in Regelungsvorhaben der Bundesregie- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!)
rung bereits geschehen. Sie sehen: Wir sind auf dem
richtigen Weg. Das entspricht einer Steigerung um 25 Prozent seit 1994.
(Andrea Wicklein [SPD]: Aber nicht umge- Bürokratismus kommt aber nicht nur von staatlichen
setzt!) Behörden wie einem Fiskus, der auch bei unverschuldeter
Wir bauen Bürokratie ab. Insolvenz immer noch viel zu stur exekutiert, nicht nur
von der EU mit ihrer idiotischen Dienstleistungsrichtli-
Ich komme zum Schluss meiner Rede zum Bild des nie, sondern diese bürokratische bzw. bürokratistische
Marathonlaufs zurück. Wir sind gut gestartet, haben ei- Bevormundung liegt auch an der Macht der Konzerne,
nen Großteil der Strecke bewältigt, sind aber noch nicht vor allem der Banken und Versicherungskonzerne, ge-
am Ziel. Deshalb bleibt der Abbau von überflüssiger Bü- genüber kleinen Unternehmen. Das fehlt im SPD-Antrag
rokratie auch in den nächsten Jahren eine Daueraufgabe. genauso wie im Koalitionsantrag.
Wir werden insbesondere kleine und mittlere Unterneh-
men von Belastungen durch Bürokratie, von Einschrän- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben ja
kungen der Handlungsfähigkeit und von unnötigen Kos- überhaupt keinen Antrag!)
ten befreien.
Schauen Sie sich einmal die verschlüsselten Versiche-
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rungsbedingungen und die unterschiedlichen, fast gegen-
Das ist nur eine Absichtserklärung!) sätzlichen Einkaufs- und Verkaufsbedingungen von Kon-
Unser Ziel bleibt es, den Mittelstand zu entfesseln, um zernen an. Hier geht es nicht nur um unnötig komplizierte
damit Wachstum und Beschäftigung in unserem Land zu formale Regelungen. Hier geht es um die Ausübung
schaffen. nackter wirtschaftlicher Macht. Hier geht es darum, dass
ein Teil der Wertschöpfung kleiner Unternehmen mittels
(B) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rechtlicher Vormacht von großen Unternehmen angeeig- (D)
NEN]: Nur eine Absichtserklärung! Nichts da- net wird. Dagegen will die Linke eine demokratische Bü-
hinter!) rokratiekontrolle. Ich wiederhole: eine demokratische
Ich freue mich auf die weitere Debatte und danke für Bürokratiekontrolle.
Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN – Christine Scheel
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Oh! –
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Marathon- Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wollen Sie wirk-
mann!) lich mit uns über Demokratie reden?)
Wir wollen die Überwachung und Einschränkung von
Präsident Dr. Norbert Lammert:
allgemeinen Geschäftsbedingungen, nicht nur zum
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Diether Dehm für
Schutz der Verbraucher, sondern auch zum Schutz der
die Fraktion Die Linke.
3,6 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, die
(Beifall bei der LINKEN) das Rückgrat unserer Wirtschaft sind.
Nehmen wir das Supply Chain Management in der
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
Automobilbranche. Das ist eine reine Abwälzung der
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und wesentlichen Produktionsschritte durch den auftragge-
Herren! Kleine und mittelständische Unternehmen stellen benden Großkonzern auf den mittelständischen Zuliefe-
79 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäf-
rer, der den Druck seinerseits dann an noch kleinere Zu-
tigungsverhältnisse und 82 Prozent der Ausbildungs-
lieferer weitergibt. Dadurch entsteht ein Preisdruck, der
plätze. 99,7 Prozent aller Unternehmen in Deutschland
sind kleine und mittlere; sie generieren aber nur 39 Pro- an Existenzen nagt. Die Erpressung durch Konzerne, die
zent des Umsatzes. Ein Grund dafür ist, dass Schwarz- darin zum Ausdruck kommt, dass Zulieferer Innovatio-
Gelb zwar sonntags vom Mittelstand redet, aber werktags nen in großem Umfang vorfinanzieren müssen, was ihre
an der Leine der Exportkonzerne trottet. eigene Finanzierungskraft übersteigt, gehört überwun-
den.
Wir brauchen nicht nur pauschal entbürokratisierende
Maßnahmen – keinesfalls brauchen wir eine unbürokra- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Michael Fuchs
tische Milliardenhilfe für Banken! Was wir brauchen ist: [CDU/CSU]: Genau! Alles verstaatlichen!)
unbürokratischen Einsatz für mehr Binnennachfrage.
Wenn dann der Auftraggeber die Zahlungen verzögert,
(Beifall bei der LINKEN) geht wieder ein Zulieferer pleite.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16459
Dr. Diether Dehm
(A) Welche Bürokratie verlangen BMW und Daimler, be- kleinen privaten Unternehmern, die wir wollen – übri- (C)
vor sie einen Reparaturbetrieb vor Ort lizenzieren! Die gens auch im Sozialismus.
Produkte, die die Konzerntore verlassen, ob Pkw oder
(Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken
Monitore, sind häufig kurzlebig; ihre Lebensdauer über-
[CDU/CSU]: Donnerwetter: Mittelstand und
steigt oft nur knapp die Garantiezeit. Die Linke will da-
Sozialismus!)
rum eine Reparaturoffensive unbürokratischer Art. Kon-
zerne müssen gezwungen werden – das ist dann
notwendige Bürokratie –, wieder reparaturfreundlich zu Präsident Dr. Norbert Lammert:
produzieren, damit jeder Handwerker unbürokratisch re- Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Christine
parieren kann, Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
LINKE])
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
weniger Module weggeworfen werden, mehr Stoffe ge- Herr Dr. Dehm, zur Reparaturklausel.
spart und mehr Arbeitsplätze, auch in infrastruktur-
schwachen Regionen, geschaffen werden. Eine Repara- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Gute
turoffensive ist für unser Handwerk das Gebot der Idee!)
Stunde. Ich glaube, Sie müssen noch einmal darüber nachden-
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. ken,
Ulrich Kelber [SPD]) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Warum?)
Das heißt: mehr Freiheit für Kleinunternehmen und we- wie es funktionieren soll, dass die Arbeitsplätze im
niger Freiheit für Konzerne und Banken. Das ist die Handwerk dann auch erhalten bleiben.
Lösung, die die Linke übrigens auch in ihrem Parteipro-
gramm festgeschrieben hat. Die Linke ist so mittel- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Da hat sie sogar
standsfreundlich wie keine andere Partei und setzt sich recht! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]:
für kleine und mittlere Unternehmen ein. Wenn mehr repariert wird!)

(Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken – Das haben wir schon verstanden.
[CDU/CSU]: Was? Sie und Mittelstand? Da Ich würde ganz gerne einmal etwas aufgreifen, was in
fallen mir ja die restlichen Haare aus!) dem Antrag der CDU/CSU so schön geschrieben steht.
Es wäre jetzt naheliegend, auf die Banken und ihr Ich zitiere das gerade noch einmal:
(B) (D)
Kerngeschäft zu verweisen. Wer einmal einen Kreditan- Gerade die mittelständische Wirtschaft als unver-
trag bei einer großen privaten Bank ausgefüllt hat, weiß, zichtbarer Wachstums- und Beschäftigungsfaktor
was Bürokratismus ist. Das ist entwürdigend und hat und Stabilitätsgarant in der globalisierten Welt sieht
nichts mit den Sonntagsreden zu tun, die Sie gelegent- sich überproportionalen bürokratischen Lasten aus-
lich für KMU halten. gesetzt.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir tun was da- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Stimmt!)
für!)
Deren Sinnhaftigkeit und Zeitgemäßheit stehen
Sparkassen und öffentliche Banken sind halt bessere vielfach zu Recht in Frage. Statt in die eigene Wett-
Partner für das Handwerk und den Mittelstand – auf je- bewerbsfähigkeit müssen die Unternehmen Zeit
den Fall bessere Partner als die Ackermänner und die und Geld in häufig überflüssige Bürokratie „inves-
Deutsche Bank. tieren“.
(Beifall bei der LINKEN) Sehr verehrte Damen und Herren von der Union, das ist
völlig richtig. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen
Die Linke verschließt nicht die Augen vor dem Büro-
Sie in den letzten Jahren daraus gezogen haben.
kratismus. Hier ist sie die einzige Partei gegen bürokrati-
sierende Konzerne und Großbanken. Sie schiebt das al- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
les nicht nur auf die öffentliche Hand, auf den Staat. Es sowie der Abg. Andrea Wicklein [SPD] – Kai
ist ja teilweise wohlfeil, wie Sie den Staat hier immer auf Wegner [CDU/CSU]: Eine ganze Menge!
die Anklagebank setzen, als ob der Staat der einzige Pro- Über 10 Milliarden Euro!)
duzent von Bürokratismus ist, während Sie die Konzerne
und Großbanken dabei außen vor lassen. Mit einem bestimmten zeitlichen Abstand legen Sie
immer wieder einen schönen Antrag vor. Letztens haben
Die Linke will eine antimonopolistische Deregulie- Sie einen Antrag eingebracht, in dem Sie sich auch mit
rung. Das ist die Regulierung, die wir brauchen. der Bürokratie und dem Mittelstand beschäftigt haben.
Dieser Antrag enthielt, wenn ich mich recht erinnere,
(Beifall bei der LINKEN)
15 Punkte. Nur 4 davon sind umgesetzt bzw. beibehalten
Eiserne Regeln für die Ackermänner und die Finanz- worden. Alles andere, was in dem Antrag stand, haben
märkte, weniger Druck auf die kleinen und mittleren Un- Sie weder gesetzgeberisch noch über Verordnungen auf
ternehmen, das ist das Gebot der Stunde. Das hat durch- den Weg gebracht. Das heißt, Anspruch und Wirklich-
aus mit Antikapitalismus zu tun, aber auch mit starken keit gehen bei dieser Koalition völlig auseinander.
16460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Christine Scheel
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr Power in dem Sinne ausgestattet werden, dass er (C)
sowie bei Abgeordneten der SPD) mehr Befugnisse bekommt. Der Normenkontrollrat hat
gesagt: Diese Regierung hat noch keine konsistente
Wir sind der Meinung, dass es nicht reicht, im Halb- IT-Strategie vorgelegt. Sie können nicht erwarten, dass
jahresrhythmus eine unnötige Bauchpinselei zu betrei- ein Normenkontrollrat eine IT-Strategie zum Thema Ent-
ben, wenn man eine gewissenhafte und seriöse Politik bürokratisierung entwickelt, sondern es ist die Pflicht
für den Mittelstand machen will, sondern der Mittelstand und die Aufgabe dieser Koalition, das zu tun, damit der
hat zu Recht den Anspruch, dass Sie als Regierung etwas Normenkontrollrat prüfen kann, ob Sie das vernünftig
dafür tun, dass wirklich Bürokratie abgebaut wird. umgesetzt haben.
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das machen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wir!)
Hier nutzt es auch nichts, wenn man sagt: Wir haben den Bedauerlich ist auch, dass das Thema Forschungsför-
Mittelstand um 10 Milliarden Euro entlastet. – Auf dem derung für den Mittelstand im Zusammenhang mit dem
Papier ja, aber in der Realität nein. Bürokratieabbau überhaupt nicht mehr auftaucht.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Warum?) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-


NEN]: Oh ja!)
Lieber Ernst Hinsken, wir sagen immer wieder: Das
muss ankommen. Es ist zum großen Teil aber nicht an- Dieses Thema hat sehr viel mit Bürokratieabbau zu tun.
gekommen, weil von diesem Entlastungsprogramm im Wir wissen, dass die steuerliche Forschungsförderung
Umfang von 10 Milliarden Euro ein ganz großer Teil – das zeigen uns die Beispiele aus anderen europäischen
noch nicht einmal umgesetzt worden ist; das ist die Ländern – für die Unternehmen mit Abstand die unbüro-
Wahrheit. Man kann deshalb nicht sagen: Das haben wir kratischste Förderung in den Bereichen „Innovation“
super gemacht. – Angepeilt wurde eine Reduzierung der und „Förderung von neuen Technologien“ ist.
Bürokratiekosten um 25 Prozent, ein großer Teil – die Sie haben uns von Anfang an versprochen – das steht
Kollegin der SPD hat das auch angesprochen – ist aber auch im Koalitionsvertrag –, dass diese Forschungsför-
überhaupt nicht vollzogen. derung kommen wird. Aber bis heute ist sie nicht umge-
Wir fragen uns, wie Sie das bis zum Jahresende schaf- setzt. Auch dieses Thema gehört in einen solchen An-
fen wollen. Sie haben keinen einzigen Antrag in dieses trag. Aber darum haben Sie sich wieder herumgemogelt.
Parlament eingebracht, aus dem ersichtlich würde, dass Sie reden ja nicht einmal mehr darüber. Hier sehen wir
ein Teil dieser Vorgaben, die Sie sich selbst gesetzt ha- ein Manko; denn diese Art von Förderung würde eine
(B) ben, noch in dieser Jahresfrist angegangen wird. wirkliche Entlastung bedeuten. (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die Verbände – damit meine ich nicht nur die großen Stichwort Bilanzierung. Es wurde auf der europäi-
Verbände, sondern ich rede auch von denen, die vor Ort schen Ebene lange darüber diskutiert, dass eine Befrei-
im Handwerksbereich oder im gewerblichen Bereich ak- ung von kleinen GmbHs und kleinen Personengesell-
tiv sind – sagen ganz klar, dass die versprochenen Leis- schaften von der Pflicht zur Bilanzierung, ähnlich wie
tungen dieser Regierung nicht bei ihnen angekommen das bei Einzelkaufleuten hinsichtlich der Grenzwerte
sind. Man kann sich die einzelnen Beispiele anschauen. möglich ist, sehr viel helfen würde. Aber nein! Ich ver-
mute einmal, dass sich der Steuerberaterverband an die-
Thema ELENA. Aussagekräftig wird die Zahl von ser Stelle wieder durchgesetzt hat. Die Unternehmen,
10 Milliarden Euro an eingesparten Bürokratiekosten auch die ganz kleinen GmbHs mit wenig Umsatz, sind
erst dann, wenn man einmal das gegenrechnet, Herr also verpflichtet, eine Bilanz vorzulegen, wofür sie im
Burgbacher, was Sie aufgrund des ständigen Hickhacks Durchschnitt 2 500 Euro zahlen. Dieses Geld würde in
beim ELENA-Verfahren an Belastungen für die Unter- den kleineren Unternehmen, in GmbHs mit geringen
nehmen verursacht haben. Laut den Spitzenverbänden Umsätzen, für Wichtigeres als für eine unnötige Bilan-
sind für die Wirtschaft etwa 300 Millionen Euro an Be- zierung gebraucht.
lastungen entstanden, weil Sie dieses Hickhack verur-
sacht haben. Ergebnis: Das Verfahren wurde zwar nicht Wir wünschen uns, dass Sie hier endlich Farbe beken-
umgesetzt, aber die Belastung ist bei der Wirtschaft hän- nen. Die EU-Kommission hat geschätzt, dass es hier um
gen geblieben. Solche Belastungen muss man berück- 6,3 Milliarden Euro geht. Das betrifft 5,3 Millionen Un-
sichtigen, wenn man über Bürokratieabbau spricht. Das ternehmen auf der europäischen Ebene. Hier könnten Sie
wäre eine ehrliche Aussage, aber das tun Sie leider nicht. tätig werden, wenn Sie wollten; denn es ist möglich,
dass Deutschland hier vorangeht. Wir müssen feststel-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
len, dass hierzu auf der europäischen Ebene zwar Vor-
sowie der Abg. Andrea Wicklein [SPD])
schläge gemacht worden sind, Sie aber dafür gesorgt ha-
Sie haben durch Doppelbelastungen Kosten verursacht. ben, dass es in Europa zu einer ganz eigenartigen
Auch das müssen Sie benennen. Kompromisslösung gekommen ist, die uns bei diesem
Problem nicht weiterbringt.
Der Normenkontrollrat – er ist auch aus unserer Sicht
ein hervorragendes Gremium – sollte mit ein bisschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16461
Christine Scheel
(A) Auch die Einführung einer Europäischen Privatge- wir handeln. Wir müssen die Unternehmen weiterhin (C)
sellschaft ist ein wichtiges Thema für den exportieren- deutlich von Bürokratie entlasten. Stichworte dazu sind
den deutschen Mittelstand. Auch hierzu fehlt es in Ihrem zum Beispiel Steuervereinfachung, Beschleunigung von
Antrag an Vorschlägen, ganz abgesehen vom Thema Planungs- und Genehmigungsverfahren, Frühwarnsys-
Bürgerbeteiligung bei Planungs- und Genehmigungsver- teme für EU-Regulierung und anwenderfreundliche
fahren, ganz abgesehen von der Frage der Entbürokrati- elektronische Behördendienste.
sierung bei Visumverfahren, ganz abgesehen davon, wie
Die vordringlichste Aufgabe dabei ist, die Rahmenbe-
aus Ihrer Sicht ein wirklicher Bürokratieabbau vonstat-
dingungen für unsere mittelständische Wirtschaft konti-
tengehen soll.
nuierlich zu verbessern und den Fokus auf die Entfaltung
Dafür braucht es eine Strategie. Auf diese Strategie von Wettbewerb zu legen, weg von bürokratischen Hin-
wartet der Mittelstand zu Recht. Auf diese Strategie war- dernissen, weg von ökologischer Diktatur
tet auch die Opposition, weil wir uns gerne damit aus-
einandersetzen würden, was Sie im nächsten Jahr tun. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was ist
Aber dazu braucht es nicht nur wohlfeile Worte, sondern denn eine ökologische Diktatur? – Kerstin
eine Vorlage, aus der man das erkennt. Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
würde mich auch interessieren, was eine öko-
Danke schön. logische Diktatur ist!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und weg von sozialistischer Zwangsregulierung hin zum
sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Dialog mit der Politik, zum Handeln und Mitarbeiten zu-
Kauder [CDU/CSU]: Sie sind ja leider nicht gunsten weniger Bürokratie.
mehr dabei! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]:
War das die Abschiedsrede? Dann hätte ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
mitgeklatscht!) der CDU/CSU)
Wie besang es schon Reinhard Mey vor vielen Jahren
Präsident Dr. Norbert Lammert: so schön:
Die Kollegin Claudia Bögel erhält jetzt das Wort für Einen Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars,
die FDP-Fraktion. zur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschrift-
(Beifall bei der FDP) exemplars, dessen Gültigkeitsvermerk von der Be-
zugsbehörde stammt, zum Behuf der Vorlage beim
Claudia Bögel (FDP): zuständigen Erteilungsamt.
(B) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Singen! – (D)
Kollegen! 90 Prozent der Weltbevölkerung – davon bin Ulrich Kelber [SPD]: Zu dem Zeitpunkt hat
ich fest überzeugt – würden gerne mit dem deutschen die FDP regiert!)
Elend tauschen: Die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig
wie seit 20 Jahren nicht. Die Wirtschaft ist robust, der Gottlob, davon sind wir nun um einige Längen entfernt.
Umsatz stetig. Die Binnennachfrage steigt, den Men- Wir sind aber noch lange nicht am Ziel.
schen geht es gut. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wir alle wissen: Das liegt an den mittelständischen der CDU/CSU)
Unternehmen, die mit Fleiß, Erfindergeist und sozialver-
antwortlichem Handeln wesentlich zu unserem Erfolg Präsident Dr. Norbert Lammert:
beitragen. Frau Kollegin Bögel, der Kollege Dehm würde gerne
der Sache mit dem Antragsformular nachgehen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE
LINKE]: 15 000 Insolvenzen jedes Jahr!) Claudia Bögel (FDP):
Nein.
Das liegt aber auch an der Politik, die in den vergange-
nen Jahren die richtigen Impulse gesetzt hat. (Ulrich Kelber [SPD]: Die Vorlesung darf
nicht unterbrochen werden!)
(Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt! Davon
profitieren wir seit zwei Jahren!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die kleinen und mittleren Unternehmen haben mit Risiko- Na ja, dann eben nicht.
und Leistungsbereitschaft Wachstum, Wohlstand und
Innovation in Deutschland gesichert. Der Erfolgskurs des
Claudia Bögel (FDP):
Mittelstandes muss gefestigt werden.
Ein Weg dorthin ist die freiwillige Betriebsprüfung mit
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nur einem Abschlussbericht – das spart Zeit und Geld –
der CDU/CSU) oder der Abbau von Hindernissen für die elektronische
Kommunikation mit der Verwaltung. Das gesetzlich vor-
Wir halten keine Sonntagsreden;
gesehene Ungetüm mit dem Namen „Schriftformerforder-
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aber ja! Sie nis“ ist sicherlich kein Erfordernis, sondern eher ein Hin-
haben 15 000 Insolvenzen!) dernis. Die gesetzlichen Aufbewahrungsfristen für
16462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Claudia Bögel
(A) Unternehmen und private Haushalte können wir vereinfa- Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): (C)
chen, indem wir das Handels-, Steuer- und Sozialrecht Ich hätte Ihnen lieber eine Zwischenfrage gestellt;
vereinheitlichen und verkürzen. aber Sie wollten das ja nicht zulassen.
Die Entlastung durch Bürokratieabbau in Wirtschaft, Sie haben am Anfang Ihrer Rede sinngemäß gesagt:
Verwaltung und bei den Bürgerinnen und Bürgern be- Viele Mittelständler anderer Kontinente würden gerne in
läuft sich schon jetzt nachweislich auf 10 Milliarden dem Elend bei uns leben. Dann sprachen Sie von der
Euro jährlich, nicht zuletzt durch die Stärkung des Nor- Überwindung der ökologischen Diktatur. Beides veran-
menkontrollrates und durch bessere Rechtsetzung. Das lasst mich dazu, Sie, erstens, zu bitten, über die Gefahr
Ziel lautet: Reduktion der Bürokratiekosten für die Wirt- der Inflationierung des Wortes Diktatur nachzudenken,
schaft um 25 Prozent. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Haben Sie ja
Jedes Verfassungsorgan kann seit Beschluss der Ko- auch gesagt!)
alition seine Initiativen dem Nationalen Normenkon- und, zweitens, dem Hohen Hause zu erklären, was Sie
trollrat zuleiten. Diese Initiative wird dazu führen, dass mit „ökologischer Diktatur“ meinten und damit, dass es
es demnächst zum guten Ton gehört, sich bei der Ein- sehr viele Menschen auf anderen Kontinenten gebe, die
bringung von Gesetzesinitiativen erst der Expertise des gerne in diesem – in Anführungszeichen – „Elend“ bei
NKR zu bedienen. uns leben würden.
Dies sind nur einige Beispiele, bei denen Bürokratie (Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken
abgebaut und Geld gespart werden kann. Das ist Geld, [CDU/CSU]: Recht intelligent war die Frage
das der Mittelstand besser zu investieren weiß. Zahlrei- ja nicht!)
che Maßnahmen des Programms „Bürokratieabbau und
bessere Rechtsetzung“ wurden bereits umgesetzt. Der Präsident Dr. Norbert Lammert:
Mittelstand braucht von der Politik ein klares Bekenntnis Bitte, zur Erwiderung.
zur sozialen Marktwirtschaft, weg von sozialistischen
Zwangsregulierungen. Der Mittelstand braucht von der
Claudia Bögel (FDP):
Politik klare Vorgaben und nicht noch mehr Papierbögen
und Durchschläge. Der Mittelstand braucht von der Poli- Herr Dehm, ich habe nicht davon gesprochen, dass
tik ein klares Bekenntnis zu einem gesunden Verhältnis der europäische Mittelstand oder wer auch immer hier in
von staatlichen Rahmenvorgaben und individueller Frei- unserem Elend leben möchte. Ich habe nur gesagt: Ich
heit. bin der festen Überzeugung, dass 90 Prozent der Ange-
(B) hörigen der Staaten in unserer Welt mit unserem deut- (D)
Gesellschaftliche Verantwortung ist, auch wirtschaft- schen Elend – das habe ich ironisch gemeint; ich sage
lich gesehen, ein Erfolgsfaktor für den Mittelstand und das, damit es Ihnen verständlich wird – zufrieden wären.
wird durchaus gezielt eingesetzt, um die Wettbewerbsfä- Es wundert mich immer wieder, wenn die Opposition
higkeit zu stärken. Dies muss in jedem Fall auf dem hier behauptet, in welchem Elend wir hier angeblich le-
Prinzip der Freiwilligkeit basieren. ben; denn das kann ich absolut nicht feststellen.

Diese Koalition wird auch weiterhin neue Freiräume (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Jetzt kommt
schaffen und Chancen für Investition und Beschäftigung die ökologische Diktatur!)
eröffnen. Ein Zentralkomitee, das dem Mittelstand die – Ökologische Diktatur, das ist ein Aufzwingen anderer
Vorgaben diktiert, das wollen wir nicht. Lebensweisen auf jeden Menschen in dieser Republik,
und das möchte ich nicht.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
LINKE]: Oh, klasse!) der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE
LINKE]: Das ist Diktatur! Da klatschen sie
Der Mittelstand ist unser Garant für Leistung, Innova- auch noch! – Gegenruf des Abg. Ernst
tion und Fortschritt. Wir werden unseren Erfolgskurs so- Hinsken [CDU/CSU]: Das haben Sie davon,
mit fortsetzen und die Unternehmen durch weiteren Bü- dass Sie so dumm gefragt haben!)
rokratieabbau in ihrer Leistungskraft stärken, für noch
mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze, für noch mehr Präsident Dr. Norbert Lammert:
Innovationen und für noch mehr Fortschritt und Wachs- Nächste Rednerin ist die Kollegin Rita Schwarzelühr-
tum. Sutter für die SPD-Fraktion.
Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Präsident Dr. Norbert Lammert: Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Stichwort
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Dehm Ökodiktatur: Sie haben wohl noch nie etwas von Mese-
das Wort. berger Beschlüssen, Klimawandel und ökologischer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16463
Rita Schwarzelühr-Sutter
(A) Wende – was hat Ihre Regierung erst in diesem Frühjahr mus eingehen. Herr Burgbacher, ich schaue einmal in (C)
beschlossen? – gehört. Mir gefällt jedoch das Schlag- Ihre Richtung. Sie kennen es; die Schweiz liegt nicht
wort von der antimonopolistischen Deregulierung. Ich weit von Ihrem Wahlkreis entfernt. In der Schweiz müs-
verweise auch auf das von Herrn Burgbacher angespro- sen deutsche Handwerker eine Kaution von 5 000 bis
chene Laisser-faire. 10 000 Franken hinterlegen.
Nach Max Weber ist eine moderne Bürokratie ein ef- (Birgit Homburger [FDP]: Das haben die
fizientes Mittel, um das Zusammenleben einer Vielzahl Schweizer entschieden!)
von Menschen zu organisieren. Transparenz schützt vor
– Das hat die Schweiz entschieden, und die Bundesre-
Willkür. Sie verhindert Korruption und Günstlingswirt-
gierung wollte das – Herr Brüderle hat das versichert –
schaft. Beamte halten sich natürlich an fixierte Regeln. –
bilateral klären. Sie hat aber leider nichts zustande ge-
So weit die Theorie. Bürokratie als funktionierende Ver-
bracht.
waltung ist in einem Staatswesen somit sinnvoll und not-
wendig. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Versagt!)
(Beifall bei der SPD) Viel versprochen, wenig realisiert.
Bürokratismus dagegen belastet Bürgerinnen und (Beifall bei der SPD)
Bürger und vor allem Unternehmen. Jedem von uns, der
an die Steuererklärung denkt, treibt es die Schweißtrop- Hier geht es den Handwerkern tatsächlich an den Kra-
fen auf die Stirn. Für Unternehmen ist Bürokratie nicht gen. Sie müssen nämlich zum einen eine Kaution hinter-
nur Aufwand, sondern bedeutet auch erhebliche Kosten. legen – jetzt gibt es auch eine Bürgschaft; die muss man
Darüber hinaus bringen übermäßige Regelungen und natürlich bezahlen – und zum anderen bei einer Lohndif-
Vorschriften für deutsche Unternehmen Nachteile im in- ferenz von zum Beispiel nur 35 Franken, die vielleicht
ternationalen Wettbewerb. Der Mittelstand, besonders anfällt, eine Strafe von 1 500 Franken bezahlen. Für
das Handwerk, kämpft mit der überbordenden Bürokra- kleine und mittlere Handwerksunternehmen ist das eine
tie. Die Betriebe wollen sich auf ihre produzierende Tä- Katastrophe.
tigkeit konzentrieren und sich nicht mit unproduktiven (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Bun-
Lasten herumschlagen. desregierung guckt zu! – Ulrich Kelber [SPD]:
Die knappen Personalressourcen müssen da einge- Das will Herr Brüderle nicht hören!)
setzt werden, wo sie produktiv sind, nicht für unproduk- Sie feiern heute Ihre vermeintlichen Erfolge, gleichzeitig
tive Bürokratie. Manchmal braucht man sogar Fach- wird an anderen Stellen ein Bürokratiemonster aufge-
(B) kräfte, um die Bürokratie zu bewältigen. Neben baut. Da hilft der Satz: „Wir lassen die Unternehmen at- (D)
Personalkosten entstehen auch Sachkosten, die nicht un- men“ wenig. Nein, die Unternehmen brauchen Unter-
erheblich sind. Zehntausende von Nachweis-, Dokumen- stützung und müssen wirklich entlastet werden.
tations- oder Berichtspflichten müssen Unternehmen er-
füllen. Bürokratismus bedroht die Rentabilität und (Beifall bei der SPD)
Innovationskraft von kleinen und mittleren Unterneh- Wir wollen keine Markteintrittsbarrieren, und wir
men und besonders von Handwerksbetrieben. brauchen auch auf europäischer Ebene eine Entlastung.
Auch wenn man bedenkt, dass der Aufwand für unnö- Ein bloßes Bekenntnis, sich auch bei europäischen
tige und überflüssige Bürokratie von 2006 bis jetzt um Rechtsetzungsverfahren für ein geringes Maß an Büro-
ungefähr 10 Milliarden Euro abgebaut werden konnte, kratie einzusetzen, ist zu wenig. Unternehmen wollen
sollten Sie das nicht schönreden. Es fehlen immer noch sich auf eine einfache und qualitativ hochwertige Recht-
einige Milliarden Euro, bis das 25-Prozent-Ziel dieser setzung verlassen können. Deshalb brauchen wir einen
Regierung erreicht ist. Die anfänglich beim Bürokratie- europäischen Normenkontrollrat. Die Grundprinzipien
abbau spürbare Dynamik hat zuletzt erkennbar nachge- einer guten Gesetzgebung sind Transparenz, Verantwort-
lassen. Typisch für diese Koalition: Sie ist kraft- und lichkeit, Verhältnismäßigkeit, Konsistenz und Zielerrei-
saftlos. Ich will als ein Beispiel die E-Bilanz nennen. chung. Mit der Zielerreichung hapert es bei Ihnen.
Man geht in der Zwischenzeit davon aus, dass eine Würde sich nämlich die Bundesregierung an diese Prin-
Mehrbelastung von insgesamt 3,15 Milliarden Euro auf zipien halten, würden nicht immer neue Bürokratien ent-
den Mittelstand zukommt. Gut gemeint ist nicht gut ge- stehen.
macht. Die schwarz-gelbe Regierung muss nun endlich mit
(Beifall bei der SPD) dem Ernst machen, was sie hier ankündigt, um in den
verbliebenen zwei Jahren tatsächlich noch zu dem Ziel
Eine Onlineumfrage des Baden-Württembergischen zu kommen, das sie uns versprochen hat.
Handwerkstages von Anfang dieses Jahres hat im Übri-
gen ein interessantes Ergebnis hervorgebracht. Nur Herzlichen Dank.
27 Prozent der Handwerker, die sich an der Umfrage be- (Beifall bei der SPD)
teiligt haben, haben das Gefühl, dass sie tatsächlich ent-
lastet werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich möchte auf ein aktuelles und besonders ärgerli- Das Wort erhält nun der Kollege Andreas Lämmel für
ches Exempel von grenzüberschreitendem Bürokratis- die CDU/CSU-Fraktion.
16464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Europäische Union hat noch lange nicht den (C)
der FDP) Stand erreicht, den wir in Deutschland erreichen konn-
ten. Wir haben mehrere Mittelstandsentlastungsgesetze
gemacht und damit die deutsche Wirtschaft entlastet.
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Andrea Wicklein [SPD]: In der Großen Koali-
ren! Der berühmte deutsche Raketentechniker Wernher tion!)
von Braun wurde einmal auf die Auswüchse der Büro- Wenn man sich den Bericht anschaut, findet man sehr
kratie auf seiner Arbeitsstelle in der NASA angespro- interessante Zahlen: Trotz eines Abbaus von 10 Milliar-
chen, und er sagte den folgenden Spruch: Wir können den Euro an Bürokosten, sind 1 500 neue Informations-
die Schwerkraft mit unserer Technologie überwinden, pflichten über Gesetze eingeführt worden. Jetzt muss
aber der Papierkram erdrückt uns. man natürlich den Saldo berechnen; das ist ganz klar.
Der Nationale Normenkontrollrat beziffert die Entlas-
Das ist das Gefühl, das auch sehr viele Unternehmer
tung auf 8,5 Milliarden Euro und die Mehrbelastung auf
und Bürger mit dem Thema Bürokratie verbinden. Büro-
1 Milliarde Euro. Somit kommt er zu ungefähr 7,5 Mil-
kratie ist ein sehr emotional diskutiertes Thema, und in
liarden Euro an direkter Entlastung.
den letzten Jahren – hierbei schaue ich in die Reihen der
Grünen; Frau Scheel hat sich vorhin so ereifert – und Man hat in den letzten fünf Jahren auch ziemliche
insbesondere zu rot-grünen Zeiten eierte man beim Ausschläge im Gesetzgebungsprozess erlebt. Wir haben
Thema Bürokratieabbau hin und her und brachte nichts zum einen das Steuervereinfachungsgesetz 2011, das aus
zustande. Die Grundlagen, die wir mit dem Nationalen Sicht des Nationalen Normenkontrollrats zu 4,05 Mil-
Normenkontrollrat gelegt haben, hatte man damals noch liarden Euro Entlastung geführt hat. Zum anderen hat
nicht. Man konnte die Bürokratiekosten gar nicht richtig beispielsweise das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz
beziffern. Deswegen muss man doch festhalten – und eine Entlastung von 2,5 Milliarden Euro gebracht. Im
das wird seitens der Opposition durchaus gewürdigt –, Gegenzug – und das ist hoch kritisch – hat das Gesetz
dass wir beim Abbau der Bürokratie in Deutschland seit zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie eine ein-
2006 einen riesigen Sprung gemacht haben. zige Branche mit Bürokratiekosten in Höhe von einer
halben Milliarde Euro belastet.
Den Bürokratieabbau an sich kann man durch Gesetz
befehlen, aber letztendlich muss ein Bewusstseinswan- Man muss also immer genau hingucken, wenn man
del eintreten. Jeder muss sich immer wieder klarmachen, über das Thema spricht: Was steht auf der positiven
dass zusätzliche Bürokratie die Wirtschaft und die Bür- Seite? Was steht auf der negativen Seite?
(B) ger belastet. Deswegen muss jeder, der über Gesetzes- Auf der wirklich positiven Seite der letzten fünf Jahre (D)
texte oder Verordnungen nachdenkt, auch das Thema steht die Aussage des Nationalen Normenkontrollrats,
Bürokratieabbau im Hinterkopf haben. Ein solcher Be- dass sich die Qualität der ausgearbeiteten Gesetzent-
wusstseinswechsel ist jedoch nicht innerhalb eines Jah- würfe deutlich verbessert hat. Meine Damen und Herren,
res erreichbar, sondern ein mittel- und langfristiger Pro- es ist doch schon ein Wert an sich, wenn sich die Recht-
zess. setzung auch mithilfe der Arbeit des Nationalen Nor-
Blicken wir doch einmal kurz zurück. Als wir 2006 in menkontrollrats verbessert hat.
der Großen Koalition mit dem Bürokratieabbau Ernst Natürlich gibt es noch Baustellen; das ist doch ganz
machten, waren andere Länder schon weiter. klar. Schließlich befinden wir uns mitten im Prozess.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Hedge- Erstens. Ein Beispiel ist die Spürbarkeit des Abbaus.
fonds!) Das ist ständig Thema, und wenn wir mit unseren aus-
ländischen Freunden reden, sagen uns diese, dass es bei
Zum Beispiel hatten die Holländer schon viele Erfahrun- ihnen nicht anders ist. Es ist nun einmal so: Wenn eine
gen mit dem Bürokratieabbau gesammelt, und auch in Informationspflicht wegfällt, merkt das Unternehmen
Schweden und Großbritannien war man schon viel wei- dies nicht unbedingt. Denn das Unternehmen wartet
ter. Aber jetzt, nach der Arbeit der letzten fünf Jahre, ist nicht darauf, dass das Statistikamt oder sonst irgendje-
Deutschland eindeutiger Spitzenreiter, und zwar erstens mand einen Fragebogen schickt, den es auszufüllen hat,
hinsichtlich der theoretischen Grundlagen des Bürokra- um seiner Informationspflicht nachzukommen. Aber die
tieabbaus und zweitens hinsichtlich dessen, was wir bis- Spürbarkeit des Abbaus – das stellt der Nationale Nor-
her wirklich geschafft haben. Das bescheinigt uns auch menkontrollrat ganz klar fest – muss noch verbessert
der Nationale Normenkontrollrat in seinem fünften Jah- werden. Einige diesbezügliche Vorhaben stehen ja auch
resbericht, den er im September vorgelegt hat. Insofern in unserem Antrag. Wenn wir diese Vorhaben umsetzen,
können Sie dies nicht einfach ignorieren. dann wird auch die Spürbarkeit deutlich stärker werden.
10 Milliarden Euro an Bürokratiekosten sind der Zweitens. Die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger
deutschen Wirtschaft nachweisbar erspart worden. Es ist eine weitere Baustelle, die im Rahmen des Bürokra-
sind zwar immer noch 40 Milliarden Euro, die auf der tieabbaus jetzt auch in Angriff genommen werden muss.
Wirtschaft lasten, aber 10 Milliarden Euro Einsparungen Wir müssen hier für weitere Beschleunigung sorgen. Das
sind ein erstes Pfand, das wir in der Hand haben, um auf ist gar keine Frage. Aber die letzten 20 Prozent, wenn
diesem Wege weiterzugehen. man schon 80 Prozent der Themen abgeräumt hat – das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16465
Andreas G. Lämmel
(A) wissen auch Sie genau –, zu verwirklichen, stellt einen (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Kann (C)
wirklich großen Schritt dar. man gar nicht! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]:
Ja, aber dafür können die Kammern nichts!
Drittens. Wir müssen erfassen, wie der Stand der Er-
Das haben wir gemacht! – Gegenruf des Abg.
füllung der Vorhaben ist.
Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist ja
Fassen wir einmal alles zusammen. Aus dem Bericht das, was sie gerade sagte!)
des Nationalen Normenkontrollrates geht ganz klar her-
– Das ist es ja. – Ich mache es einmal einfach: De facto
vor: Das System funktioniert. Die Rechtsetzung ist bes-
sieht die Handwerksordnung nämlich keine Beitragsbe-
ser geworden. Der Bürokratieabbau ist im Fluss. Wir ha-
freiung vor, egal ob Betriebe kaum Gewinne oder gar
ben mit dem Normenkontrollrat ein hochmodernes
Verluste machen. Ganz paradox ist, dass häufig ein Be-
Instrument geschaffen, um das uns manche andere Parla-
trieb, der keinen Gewinn macht, denselben Beitrag be-
mente und Regierungen beneiden.
zahlen muss wie ein Betrieb, der 20 000 Euro Jahresge-
Wir wollen deswegen auf diesem Wege weitergehen. winn ausweist; denn der Grundbeitrag ist in vielen
Ich bitte Sie ganz einfach, unseren vorliegenden Antrag Handwerkskammern einheitlich, während die Freigren-
zu unterstützen. zen für Zusatzbeiträge meist zwischen 10 000 und
20 000 Euro liegen. Das ist ungerecht. Das geht an der
Vielen Dank.
Wirklichkeit vorbei.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der LINKEN)
neten der FDP)
Wir brauchen gerechtere Beitragsordnungen, kleine und
Präsident Dr. Norbert Lammert: Kleinstbetriebe müssen entlastet werden. Der Beitrag
Nächste Rednerin ist die Kollegin Johanna Voß für muss an die Leistungsfähigkeit angepasst werden. Das
die Fraktion Die Linke. wäre das Minimum, was hier zu leisten wäre.

(Beifall bei der LINKEN) Ich komme zu einem zweiten Punkt: die Wahlord-
nung. Sie antworten auf unsere Anfrage:
Johanna Voß (DIE LINKE): Als Regelfall geht die … Wahlordnung aber von
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Zulassung von mehreren Wahlvorschlägen und
Meine Damen und Herren von der Koalition, einen schö- der Durchführung einer Briefwahl aus.
nen Titel haben Sie gewählt: „Weniger … Belastungen
So weit, so gut. Seit 1953 – da trat die Handwerksord-
für den Mittelstand“. Wunderbar! nung erstmals in Kraft – wird nun alle fünf Jahre in jeder
(B) (D)
(Kai Wegner [CDU/CSU]: Danke schön!) der 53 Handwerkskammern die Vollversammlung ge-
wählt. Wissen Sie, wie oft tatsächlich mehrere Wahlvor-
Dafür sind wir auch; doch die Wirklichkeit sieht ganz schläge zugelassen wurden, das heißt, wie oft wirklich
anders aus. Der Mittelstand und insbesondere Handwer- eine Briefwahl stattgefunden hat? Ich kann es Ihnen sa-
kerinnen und Handwerker wollen, dass ihre Probleme gen: im Ganzen dreimal.
ernst genommen und sie tatsächlich entlastet werden.
Leider weigern Sie sich, die Probleme überhaupt zu se- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was? So häu-
hen. Das ergibt sich ganz klar aus den Antworten auf die fig?)
Kleine Anfrage, die Kolleginnen und Kollegen von mir
Auch Sie könnten merken, dass die Handwerksordnung
und ich zu den Handwerkskammern gestellt haben.
in diesem Punkt den Praxistest nicht bestanden hat. Da
Der Beweis: In der Antwort auf unsere Kleine An- muss etwas geändert werden.
frage schreiben Sie:
(Beifall bei der LINKEN)
Die Bundesregierung sieht bei den Handwerkskam-
Wir wollen selbstverständlich Handwerkskammern,
mern keine Missstände.
die gut funktionieren, Kammern, die die Handwerkerin-
Das kann doch wohl nicht wahr sein. Die Selbstverwal- nen und Handwerker entlasten und nicht belasten. Dazu
tung der Kammern ist ein hohes Gut. Das heißt aber braucht man Wahlen, bei denen jede und jeder eine
nicht, dass man keine Kritik üben darf. Ohne Kritik Chance hat, zu kandidieren. Bisher ist es nicht so. Bisher
keine Verbesserungen. Verbesserungsbedarf gibt es müssen komplette Listen eingereicht werden, die noch
zweifellos. dazu einen bestimmten Proporz für die Gewerke und den
genauen Proporz für die Regionen einhalten müssen.
Ein Beispiel sind die Regelungen zu den Handwerks-
Das ist so aufwendig, dass nur die bestvernetzten Be-
kammerbeiträgen: Hier herrscht ein richtiger Paragra-
triebe die Listenaufstellung überhaupt drucken können.
fendschungel. Da steht: Nur Personen, die eine gewerbli-
Die anderen bleiben außen vor. Sorgen Sie dafür, dass
che Tätigkeit nach § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 der
sich hier etwas bessert!
Handwerksordnung ausüben und unter § 90 Abs. 3 fal-
len, müssen gemäß § 113 Abs. 2 Satz 4 bis 5 200 Euro Wie ernst die Lage für viele Handwerkerinnen und
Jahresgewinn keinen Beitrag zahlen, wenn laut § 90 Handwerker ist, zeigen zahlreiche Briefe, die meine
Abs. 4 – folgen Sie mir noch? – die Tätigkeit erstmals Fraktion bekommen hat. Zum Beispiel heißt es in einem
nach dem 31. Dezember 2003 angemeldet wurde. – Al- Newsletter von friseur-intern im September dieses Jah-
les verstanden? res: Im Gegensatz zu CDU/CSU und FDP, die sich stets
16466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Johanna Voß
(A) als Sprachrohr für das Handwerk sehen, greift die Links- Es gibt viele Pflichten, die für die Unternehmen keinen (C)
fraktion den Unmut vieler Handwerksbetriebe auf. Mehrwert haben. Insgesamt übernehmen die deutschen
Unternehmen 651 Tätigkeiten, für deren Kosten sie al-
(Beifall bei der LINKEN)
lein aufkommen. Die Rahmenbedingungen für erfolgrei-
Ich empfehle Ihnen: Öffnen Sie die Augen für diese ches Unternehmertum orientieren sich aber an Auftrags-
Probleme! Sie sind es doch, die in jeder Sonntagsrede lage, Fachkräften, Investitionen usw.
das Hohelied auf das Handwerk singen. Geben Sie But-
Die Wirtschaftslage in unserem Land ist im Augen-
ter bei die Fische! Tun Sie etwas! Nicht die Bürokratie
blick gut, auch im Handwerk. Aber möglicherweise
insgesamt soll abgebaut werden, sondern der Bürokratis-
kommen schwierige Zeiten auf uns zu. Deshalb ist die
mus. Wir brauchen eine Handwerksordnung. Wir brau-
Entlastung unserer Betriebe so wichtig, vor allem bei
chen eine Regelung für den Beitrag, aber bitte eine ver-
den Dingen, die den Staat nichts kosten.
nünftige und verständliche.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ich danke Ihnen.
neten der FDP)
(Beifall bei der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten hier
aktiv auf zwei Ebenen: zum einen Abbau von Bürokratie
Präsident Dr. Norbert Lammert: bei bestehenden Gesetzen und zum anderen die Vermei-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Lena Strothmann dung von Bürokratie bei neuen Gesetzen. Hier kommt
für die CDU/CSU-Fraktion. dem Nationalen Normenkontrollrat eine wichtige Auf-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gabe zu. Seine Einsetzung und die Behandlung des The-
mas auf höchster Ebene, nämlich direkt im Kanzleramt,
gehören meiner Meinung nach zu den Meilensteinen der
Lena Strothmann (CDU/CSU):
politischen Entscheidungen in den letzten Jahren.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Voß, ich will (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
meine Redezeit nicht dafür verwenden, Ihnen zu antwor- Über das Abbauziel von 25 Prozent haben wir vor
ten. Aber als Handwerkerin will ich Ihnen gerne einmal
fünf, sechs Jahren lange diskutiert. Uns war klar, dass
in einer stillen Stunde erklären, wie wir Handwerker die diese Marke sehr anspruchsvoll ist. In den vergangenen
Vorzüge der Selbstverwaltung des Handwerks sehen. Jahren haben wir viele Gesetze überprüft. Es gibt viele
(Rainer Brüderle [FDP]: Das kennen die nicht Erfolgsnachrichten – einige sind hier schon genannt
von der Produktionsgenossenschaft! – Gegen- worden –, auch für das Handwerk.
(B) ruf der Abg. Johanna Voß [DIE LINKE]: Das (D)
Ich will Ihnen Beispiele nennen. Im MEG III haben
war sehr praktisch!)
wir damals die Grundlage für die Handwerkszählung ge-
Ein Handwerksbetrieb hat im Durchschnitt acht Mit- ändert. Mindestens 460 000 der 1 Million Handwerksbe-
arbeiter: den Meister, die Gesellen und die Auszubilden- triebe haben davon profitiert. Das heißt, wir greifen nicht
den. In der Regel übernimmt die Ehefrau die Buchfüh- mehr auf direkte Erhebungen in den Betrieben zurück,
rung, und eine Personal- und Rechtsabteilung gibt es in sondern nutzen bereits vorliegende Verwaltungsdaten.
unseren Betrieben nicht. Statistische Erhebungen, Mel- Die erste Handwerkszählung fand im Sommer statt, und
depflichten und die vielen zusätzlichen Dinge werden sie ist gut verlaufen.
also von Mitarbeitern mit erledigt, die ansonsten Kosten-
Ein zweites Beispiel. Auch die Entfristung bei der Ist-
voranschläge bearbeiten oder Löhne berechnen. Jede zu-
besteuerung ist ein Beitrag zum Bürokratieabbau. Wir
sätzliche Informations- und Dokumentationspflicht wird
haben dauerhaft und deutschlandweit die Umsatzgrenze
als echte Belastung empfunden.
für die Istbesteuerung auf 500 000 Euro festgelegt. Das
Nur um diese unnötigen Pflichten geht es bei dieser schafft Rechtssicherheit für die Unternehmen und Fi-
Bürokratiedebatte. Viele Regelungen sind im Sinne der nanzverwaltungen.
sozialen Marktwirtschaft sogar notwendig. Nur geord-
Die Forderungen in unserem Antrag umfassen auch
nete Strukturen ermöglichen erfolgreiches unternehmeri-
die Aufbewahrungsfristen. Aufbewahrt werden müssen
sches Denken und sozialen Zusammenhalt. Aber unnö-
Handelsbücher, Inventarlisten, Jahresabschlüsse, Lage-
tige Bürokratie kostet Zeit und Geld.
berichte, Zollanmeldungen usw. Das alles müssen Origi-
Viele Rechtsgebiete sind durch ständige Veränderun- nale sein; sie müssen feuer- und wasserfest gelagert wer-
gen und politische Kompromisse unüberschaubar ge- den, und das bis zu zehn Jahren. Die zusätzliche
worden. Unternehmer können Steuerrecht, Tarifrecht Lagerfläche ist mit Kosten verbunden. Die jährliche An-
und Hygieneverordnungen ohne externen Rat oft über- passung ist aufwendig. Im Grundsatz muss alles jeder-
haupt nicht mehr überblicken. zeit den Behörden zur Verfügung stehen. Hier sehen wir
großen Handlungsbedarf.
Wir alle sind für Bürokratieabbau. Jeder beklagt sich.
Aber leider übersteigt oft – das ist meine Wahrnehmung – Auch die Befreiung der Kleinstunternehmer von der
die Angst vor Veränderung das Interesse an Erneuerung Bilanzierung ist unser Anliegen und einer der Kernvor-
in unserem Land. Hier ist noch viel Überzeugungsarbeit schläge auf EU-Ebene. Die EU will mit einem eigenen
zu leisten. Denn leider ist die öffentliche Wahrnehmung, Bürokratieabbauprogramm die Verwaltungskosten bis
was die Abschaffung von Bürokratie angeht, sehr gering. 2012 deutlich verringern. Auch hier ist das Ziel 25 Pro-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16467
Lena Strothmann
(A) zent; das entspricht 150 Milliarden Euro. Denn gerade (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
die Bedeutung der kleinen und mittleren Betriebe ist in neten der FDP – Dr. Diether Dehm [DIE
Europa angekommen. Think small first: Auch hier geht LINKE]: Wie meinen Sie das?)
der KMU-Test auf europäischer Ebene in die richtige
Das kann nicht von der Hand gewiesen werden. In der
Richtung. Das betonen wir in unserem Antrag. Brüssel
Bundesrepublik Deutschland gab es im Jahre 2005 6 588
wird immer noch als Quelle überbordender Bürokratie
Gesetze und Verordnungen. Hier haben wir angesetzt.
wahrgenommen. Hier müssen wir sichtbarer vorankom-
Heute gibt es „nur“ noch 5 991 Gesetze. Das ist immer-
men, um die Akzeptanz der EU in diesem Bereich zu
hin ein Abbau von fast 600 Gesetzen.
verbessern.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Also, wenn
Aber auch die Wirtschaft selbst ist gefragt. Im Be-
alle weg sind, ist das der größte Erfolg!)
reich der Normung funktioniert das bereits sehr gut.
Normen ermöglichen den Betrieben, sich schnell und Damit sind wir auf einem guten und vernünftigen
umfassend über Abläufe zu informieren. Der Austausch Weg, der sich durchaus sehen lassen kann. Das kann sich
von Waren und Dienstleistungen erfordert europaweit vor allem deshalb sehen lassen, weil wir so dem Mittel-
einheitliche Vorschriften. Hier werden unzählige Einzel- stand weiterhelfen können, für den die Bürokratie eine
bestimmungen vermieden. Die Weiterentwicklung im besondere Belastung ist. Ein Kleinunternehmen braucht
Bereich der Normung ist eine wichtige Zukunftsaufgabe. für die Bewältigung der Bürokratie pro Jahr durch-
schnittlich 60 Stunden pro Mitarbeiter, ein Großunter-
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir haben viel nehmen hingegen nur 5,5 Stunden. Das muss man sich
zu tun, um Wirtschaft, Handwerk und Mittelstand von vor Augen halten.
Bürokratie zu entlasten. Dazu braucht es viel Überzeu-
gungskraft und Mut zu Entscheidungen. Ich lade Sie ein, Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von Rot-
daran mitzuwirken. Grün, ich darf daran erinnern, dass von Ihnen 1999 mit
der Initiative zum Abbau von Bürokratie viel heiße Luft
Herzlichen Dank. erzeugt wurde. Es kam aber wenig Konkretes dabei he-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) raus. Sie sollten sich ein Beispiel daran nehmen, was wir
in den letzten beiden Jahren an Großartigem geleistet ha-
ben.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion. der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir geben dem Mittelstand endlich die Luft zum At-
(B) (D)
men, die er braucht. Wir setzen den Rotstift an und strei-
chen die Vorschriften, Regelungen, Ausführungsbestim-
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
mungen, Verordnungen, Gesetze und was es sonst noch
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen gibt, rigoros zusammen. Gerade kleine und mittlere Un-
und Kollegen! Zunächst möchte ich einen Dank ausspre- ternehmen erwarten das dringend. Wir wollen die
chen, einen Dank an Staatsminister von Klaeden, aber Wachstumsfesseln durch Bürokratieabbau lösen. Die
auch an Sie, Herr Brüderle, weil Sie als Bundeswirt- unionsgeführte Bundesregierung hat den Bürokratieab-
schaftsminister dem Bürokratieabbau einen neuen Schub bau beschleunigt und sich das Ziel gesetzt, bis Ende
gegeben haben. Sie beide zusammen haben die notwen- 2011 25 Prozent der Kosten für die Informationspflich-
digen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir schon ten abzubauen.
heute positive Ergebnisse vorzeigen können.
Ein Blick zurück zeigt: Vor fünf Jahren mussten deut-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sche Unternehmen jährlich rund 50 Milliarden Euro für
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit welchem amtliche Statistiken, Antragsformulare, Rechnungsle-
Gesetz? Mit der Hotelsteuer oder was?) gung etc. aufbringen. Inzwischen sind diese Kosten für
Etwas anderes fällt Ihnen gar nicht ein. Sehen Sie, so die Unternehmen bereits um 10,5 Milliarden Euro ge-
arm sind Sie an Geist. sunken und sind damit 21 Prozent niedriger als im Jahr
2006. Das kann sich sehen lassen. Wir sind auf dem rich-
Meine Damen und Herren, wenn Sie Mittelständler tigen Weg. Diesen Weg müssen wir weiter gehen, und
fragen, was ihnen am meisten helfen würde, dann ant- das werden wir auch tun.
worten 11 Prozent: Förderprogramme, 18 Prozent: Steu-
ersenkungen, 20 Prozent: einfachere Kreditvergabe und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
41 Prozent: Abbau von Bürokratie. – Das sagt doch al- Zum ersten Mal ist es gelungen, die Belastungen der
les. Die Bürokratie ist die Geißel des Mittelstandes, die Wirtschaft durch die Bürokratie nachzuweisen und zu
vom Staat auferlegt worden ist. Diese gilt es zurückzu- senken. Auch dieser Erfolg kann sich sehen lassen. Die
nehmen und so dem Problem Rechnung zu tragen. größte Entlastung ergibt sich aus der Vereinfachung der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) elektronischen Rechnungsstellung. Die Herabsetzung der
Anforderungen an elektronisch übermittelte Rechnungen
Auf dem Sektor Bürokratie sind wir das, was wir bei und die Anerkennung von Rechnungen per E-Mail durch
der Fußballweltmeisterschaft nicht geworden sind, näm- das Finanzamt führen in der Wirtschaft bereits zu Entlas-
lich Weltmeister. tungen in Höhe von 4,1 Milliarden Euro im Jahr. Durch
16468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Ernst Hinsken
(A) die Änderung der Vergabeordnung sparen die Unterneh- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
men künftig über 265 Millionen Euro jährlich. Herr Herr Kollege.
Fraktionsvorsitzender Kauder, darauf sind wir stolz. Das
haben wir auf den Weg gebracht.
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden dem auch in Zukunft Rechnung tragen.
Die bisher geforderten Nachweise zur Eignung der Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Bieter – also Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuver-
lässigkeit – können künftig in etwa 80 Prozent der betref- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
fenden Ausschreibungen durch entsprechende Eigener-
klärungen der Bieter ersetzt werden. Weitere Entlastungen Präsident Dr. Norbert Lammert:
für Unternehmen sind im Steuervereinfachungsgesetz
Ich schließe die Aussprache.
2011 – im Umfang von 4,1 Milliarden Euro – sowie im
Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – im Umfang von Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
2,5 Milliarden Euro – enthalten. Meine Damen und Her- auf den Drucksachen 17/7636 und 17/7610 an die in der
ren, wir müssen das auch sagen und es nicht nur zur Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Kenntnis nehmen. Denn es ist Fakt und es lässt sich Gott Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann sind
sei Dank hier vermelden, dass wir das durch vernünftige die Überweisungen so beschlossen.
Politik, insbesondere was den Bürokratieabbau beim
Mittelstand anbelangt, erreicht haben. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
Ich darf bei dieser Gelegenheit auch darauf verwei-
sen, dass sich die EU auf dem richtigen Weg befindet. a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
Die Kommission mit Altministerpräsident Stoiber an der neten Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf
Spitze – er war im Wirtschaftsausschuss und in verschie- Scholz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
denen anderen Ausschüssen – leistet hier hervorragende der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Arbeit. So wurden bis Juli 2011 auf EU-Ebene mehrere zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts
Maßnahmen verabschiedet. Dort wurden die Bürokratie-
– Drucksache 17/773 –
kosten um 22 Prozent gesenkt; bis 2012 ist ein Abbau
um insgesamt 25 Prozent avisiert. Damit werden Unter- Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
nehmen um circa 27 Milliarden Euro entlastet. Was die schusses (4. Ausschuss)
Kommission ansonsten Positives bewirkt hat, steht in
(B) meinem Redemanuskript; aber ich kann das nicht vortra- – Drucksache 17/7675 – (D)
gen, weil es den zeitlichen Rahmen sprengen würde.
Berichterstattung:
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Schade! Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting)
Redezeitverlängerung!) Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Bürokratie- Sevim Dağdelen
abbau – das sollten wir alle uns voll zu Herzen nehmen – Memet Kilic
ist ein Wachstumsprogramm zum Nulltarif. Bürokratie-
abbau stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland, macht – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
ihn zukunftsfähig und muss mit Nachdruck fortgesetzt neten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Kai
werden. Die Vermeidung und der Abbau überflüssiger Gehring, weiteren Abgeordneten und der Frak-
Bürokratie sind insbesondere im Mittelstand von ähnlich tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
fundamentaler Bedeutung für den wirtschaftlichen Er- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
folg wie Innovation, Fachkräfte, Unternehmensnachfol- Staatsangehörigkeitsrechts
gen und -gründungen, Marktchancen im Ausland, Finan-
zierung, Rohstoffe sowie Energie- und Materialeffizienz. – Drucksache 17/3411 –
Dem wollen wir Rechnung tragen. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
Lassen Sie mich zum Abschluss dem Nationalen Nor- schusses (4. Ausschuss)
menkontrollrat ein großes Kompliment aussprechen: – Drucksache 17/7675 –
Unter Leitung von Dr. Ludewig wurde hier Hervorra-
gendes geleistet. Machen wir uns nichts vor: Wir werden Berichterstattung:
in dem Fall schon ein bisschen kontrolliert, denn jedes Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting)
Gesetz, das wir beschließen, muss zunächst die Zustim- Rüdiger Veit
mung des Nationalen Normenkontrollrates erfahren; Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
sonst kann es nicht in Kraft treten. Sevim Dağdelen
Memet Kilic
Das sind vernünftige Ansätze; das ist der richtige
Weg. Wir gehen diesen Weg. Wir reden nicht nur, son- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
dern handeln, weil die Bürokratie für den Mittelstand so richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem
belastend ist. Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16469
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Die Grünen – das ist der eindeutigste Beweis dafür, (C)
Fraktion DIE LINKE dass es Ihnen gar nicht mehr um Integration geht – wol-
len darüber hinaus den Einbürgerungstest abschaffen.
Ausgrenzung beenden – Einbürgerungen umfas-
send erleichtern Auch den Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaa-
tigkeit geben Sie auf. Sie wollen die doppelte Staatsbür-
– Drucksachen 17/2351, 17/7675 – gerschaft sowohl beim Erwerb nach dem Geburtsorts-
Berichterstattung: prinzip als auch bei der Einbürgerung auf Dauer
Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting) hinnehmen.
Rüdiger Veit Wir haben hierzu eine dezidiert andere Meinung. Für
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) uns ist die Einbürgerung Ausdruck gelungener Integra-
Sevim Dağdelen tion. Sie steht nicht am Anfang, sondern sie setzt bereits
Memet Kilic eine Reihe von Integrationsleistungen voraus.
Der Innenausschuss hat den Gesetzentwurf der Frak- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Staatsan- neten der FDP)
gehörigkeitsrechts auf der Drucksache 17/3411 in seine
Beschlussempfehlung einbezogen. Über diese Vorlage Hierzu gehören angemessene Aufenthaltszeiten, ausrei-
soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. Darf chende Kenntnisse der deutschen Sprache und ein Ver-
ich auch hierzu Ihr Einvernehmen feststellen? – Das ist ständnis für unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung.
der Fall. Eine ganz wesentliche Voraussetzung für uns ist, dass
der Einbürgerungsbewerber und derjenige, der seine
Über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD wer- Staatsangehörigkeit dadurch erwirbt, dass er in Deutsch-
den wir später namentlich abstimmen. land geboren wurde,
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was er-
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich warten Sie von der Regierung?)
höre keinen Widerspruch. Das heißt, wir werden die na-
mentliche Abstimmung vermutlich irgendwann kurz vor seine frühere Staatsangehörigkeit aufgibt und sich ohne
12 Uhr erwarten können. Vorbehalte zu seinem neuen Staat bekennt, meine Da-
men und Herren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Ole Schröder das Gerade in diesem letzten Punkt hatte es 1999 bei der
Wort. Einführung des Geburtsortsprinzips noch einen Kompro-
(B) miss gegeben, der nun von Ihnen aufgekündigt wird. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Damals waren Sie bereit, mit der Entscheidung für die
Optionspflicht noch an der Vermeidung von Mehrstaa-
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes- tigkeit festzuhalten.
minister des Innern: (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und GRÜNEN]: Um das Paket zu retten, haben wir
Herren! Man muss es deutlich sagen: Das, was SPD, dem zugestimmt!)
Grüne und Linke hier in ihren Gesetzentwürfen und im
Antrag vorschlagen, ist ein Paradigmenwechsel im Nun sind die ersten Kinder aus der Übergangsrege-
Staatsangehörigkeitsrecht. lung in das optionspflichtige Alter gekommen. Sie von
Rot und Grün wollen nun vom zweiten Teil des Kompro-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der misses, nämlich dass sich jeder für eine Staatsangehörig-
Abg. Kersten Steinke [DIE LINKE]) keit entscheiden muss, nichts mehr wissen.
Bisher ist es so, dass die Einbürgerung den Abschluss ei- (Zuruf von der SPD)
nes gelungenen Integrationsprozesses darstellt. Sie mei-
nen offensichtlich, dass sich jemand allein dadurch inte- Sie wollen die Regelung bereits abschaffen, obwohl
griert, dass Sie ihm die Staatsbürgerschaft geben. noch kein einziges Kind aus der Ius-soli-Regelung das
Ende der Optionsfrist erreicht hat.
(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ihr Ziel ist eine erhebliche Absenkung der Einbürge- Wir wollen die Gesetze evaluieren, wenn sich
rungsvoraussetzungen. So schlägt die SPD zum Beispiel die Wirklichkeit ändert!)
vor, die erforderlichen Aufenthaltszeiten auf nur noch
Woher nehmen Sie eigentlich die Erkenntnis, dass das
sieben Jahre zu verkürzen. Die Grünen wollen sogar nur
damals von Ihnen beschlossene Optionsverfahren ge-
sechs Jahre.
scheitert ist?
Auf diese Frist sollen dann auch noch Zeiten ange-
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Roland
rechnet werden, in denen jemand lediglich geduldet
Koch! – Aydan Özoğuz [SPD]: Auch von Ih-
wurde, also keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel in
nen!)
Deutschland hatte. Ebenso wollen Sie Zeiten im Asyl-
verfahren berücksichtigen, selbst wenn das Asylverfah- Die Koalition hat in ihrer Koalitionsvereinbarung das
ren am Ende erfolglos bleibt. Thema ernst genommen. Wir haben uns darauf verstän-
16470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder


(A) digt, die Erfahrung mit den ersten Optionsjahrgängen Liegt der Lebensmittelpunkt in einem neuen Land, so (C)
auf möglichen Verbesserungsbedarf hin zu überprüfen. verlieren die staatsbürgerlichen Rechte im alten Heimat-
Zugleich werden wir das Einbürgerungsrecht insgesamt land natürlich an Gewicht. Bundespräsident Wulff hat in
auf unverhältnismäßige Hemmnisse überprüfen. seiner Rede anlässlich der Einbürgerungsfeier im
Schloss Bellevue im September 2011 festgestellt, dass
(Zuruf von der SPD)
die Einbürgerung für die Einwanderer nicht die Abkehr
Die Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migra- von ihrer Familiengeschichte und Herkunft bedeutet.
tion und Flüchtlinge – das wissen Sie – führt derzeit eine Vielmehr legen sie ein Bekenntnis zu ihrer Zukunft in
umfassende wissenschaftliche Untersuchung zur Op- Deutschland ab.
tionsregelung und zum Einbürgerungsverhalten insge-
samt durch. Es stellt sich die Frage, ob die Fixierung der Opposi-
tion auf den Aspekt der doppelten Staatsangehörigkeit
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: So kann weniger der Sache als vielmehr der politischen Zuspit-
man Dinge auch verschieben, wenn man sie zung dient. Der Komplexität der einbürgerungsrechtli-
verschieben will!) chen Problematik wird sie in keinem Fall gerecht; denn
Die Evaluierungsergebnisse werden in der ersten sie vernachlässigt weitere wichtige Aspekte, die sich auf
Hälfte des nächsten Jahres vorliegen. Ich meine, dass wir das Einbürgerungsverhalten auswirken.
diese abwarten sollten. Denn eine sachliche Diskussion Betrachtet man die Zahlen, die belegen, wie sich die
ist nur möglich, wenn wir die Fakten kennen. Einbürgerung in den letzten Jahren entwickelt hat, dann
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stellt man von Bundesland zu Bundesland sehr unter-
neten der FDP – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ schiedliche Entwicklungen fest. Während in Hamburg
DIE GRÜNEN]: Wie lange noch? – die Zahl der Einbürgerungen um über 40 Prozent gestie-
Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Herr Kol- gen ist, ist sie in Berlin unter Rot-Rot um über 12 Pro-
lege, wir kennen die Fakten! Auch Sie kennen zent gesunken.
die Fakten!)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
An dieser Stelle ist es mir wichtig, noch einmal die Sag ich ja: Die können es auch nicht!)
Bedeutung der Vermeidung von Mehrstaatigkeit hervor-
zuheben. Sie ist letztlich der Ausdruck der Funktion von Bereits 2009 war die Zahl in Berlin entgegen dem Bun-
Staatsangehörigkeit überhaupt, nämlich einen einheitli- destrend um 8,1 Prozent zurückgegangen.
chen Staat zu bilden. Doppelte Staatsangehörigkeit kann
An Maßnahmen der Bundesregierung kann das wirk-
zu Loyalitätskonflikten führen.
(B) lich nicht gelegen haben. Selbstverständlich liegt es an (D)
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Maßnahmen, die in dem jeweiligen Bundesland getrof-
GRÜNEN]: Was ist mit Herrn McAllister? Er fen wurden. Es liegt daran, dass Hamburg erhebliche
hat auch zwei Staatsangehörigkeiten!) Anstrengungen unternommen hat: In den Einbürge-
rungsbehörden ist Personal eingestellt worden, man hat
Die Gefahr besteht immer dann, wenn der jeweils an- Werbung für die Einbürgerung gemacht, in einigen Be-
dere Staat versucht, die Betroffenen für seine politischen reichen wurden Informationsoffensiven gestartet. Das
Ziele zu instrumentalisieren. Ein anschauliches Beispiel zeigt: Einbürgerung wird nicht allein durch die gesetzli-
hierfür hatten wir beim Auftritt des türkischen Minister- chen Regelungen, sondern ganz wesentlich durch die
präsidenten Erdogan 2008 in der Kölnarena sowie jüngst konkrete Umsetzung und Handhabung in den jeweiligen
bei seinen Äußerungen anlässlich seines Besuchs in Verwaltungen beeinflusst. Informationen und Werbung
Deutschland. für die deutsche Staatsangehörigkeit bringen insofern
Hierbei gilt es, sich klar zu entscheiden und klar abzu- mehr für die Einbürgerung als wohlfeile politische For-
grenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren. derungen. Im Interesse der bei uns lebenden Ausländer
sollten Sie für die Einbürgerung in Deutschland werben.
(Beifall bei der CDU/CSU) Rühren Sie nicht immer nur die große Trommel der dop-
Mehrstaatigkeit kann zu erheblichen Rechtsunsicher- pelten Staatsangehörigkeit.
heiten führen. Im Familien- und Erbrecht und im Be-
reich der konsularischen Betreuung Lassen Sie uns die Ergebnisse der Evaluierung abwar-
ten.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Oh, wie schrecklich!) (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wie lange noch?)
bestehen dann konkurrierende Regelungen, die sich
überlagern, und Ansprüche, die nicht klar sind. Mit der Dann können wir auf gesicherter Grundlage darüber
Aufgabe der früheren Staatsangehörigkeit verlangen wir sprechen, wo es Hemmnisse gibt und was der Grund da-
nichts Unzumutbares. Sie bedeutet in keiner Weise den für ist, dass sich viele eben nicht einbürgern lassen wol-
Abbruch der sozialen und kulturellen Bindung zum frü- len. Interessanterweise ist es so, dass sich gerade aus der
heren Heimatland. Die Staatsangehörigkeit soll demjeni- Gruppe, für die wir eine doppelte Staatsangehörigkeit
gen, der dauerhaft in einem Land lebt, die Teilnahme an zulassen, nämlich für diejenigen, die aus EU-Mitglied-
der Willensbildung und die Mitwirkung an der Aus- staaten kommen, besonders wenig Menschen einbürgern
übung der Staatsgewalt ermöglichen. lassen. Da stellt sich die Frage, woran das liegt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16471
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
(A) (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
An der Rechtsunsicherheit! Zum Beispiel im der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Aufenthaltsrecht oder im Arbeitsrecht!) GRÜNEN)
Es hängt damit zusammen, dass der Rechtsrahmen mehr Es ist damals gelungen, Sie davon zu überzeugen,
oder weniger der gleiche ist, unabhängig davon, ob sie dass es absurd ist, Kinder der zweiten, dritten oder vier-
sich in Deutschland lediglich aufhalten oder ob sie deut- ten Generation immer weiter als Ausländer in Deutsch-
sche Staatsbürger sind. Das sollten wir berücksichtigen. land zu betrachten, obwohl sie hier geboren und soziali-
siert wurden. Es ist auch gelungen, dafür zu sorgen, dass
Wir glauben, dass es richtig ist, weiterhin daran fest-
Kindern mit einem ausländischen Elternteil, die in
zuhalten, dass die Staatsangehörigkeit nur eine einzige
Deutschland geboren werden, unter bestimmten Voraus-
sein kann. Das hat mit Loyalität zu tun. Das ist Ausdruck
setzungen die deutsche Staatsangehörigkeit per Geburt
von gelungener Integration. Ich frage mich, warum Sie
verliehen wird. Herr Staatssekretär, ich weiß nicht, wann
daran nicht festhalten wollen. Ist es nicht vielleicht Aus-
für Sie der Integrationsprozess beginnt. Nach Ihren
druck dessen, dass es Ihnen nicht um Integration geht, da
Maßstäben muss er bereits im Mutterbauch beginnen.
Sie es zulassen wollen, dass hier Menschen leben, die
sich überhaupt nicht um Integration bemühen? Das soll- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ten Sie eindeutig zum Ausdruck bringen und nicht über NEN]: Er sieht nichts!)
den Umweg des Staatsangehörigkeitsrechts.
Leider war damals nur die Optionspflicht, also der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zwang, sich zwischen dem 18. und dem 23. Lebensjahr
Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden, als Kom-
Das ist ein Schuss nach hinten, Herr promiss möglich. Mit unserem Gesetzentwurf wollen
Schröder!) wir dieses Optionsmodell, also den Zwang zur Aufgabe
einer Staatsbürgerschaft, abschaffen. Wir wollen ein
Präsident Dr. Norbert Lammert: konsequentes Bekenntnis zur doppelten Staatsbürger-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Özoğuz für die schaft hier geborener Kinder ausländischer Eltern. Auch
SPD-Fraktion. bei Einbürgerung soll die doppelte Staatsangehörigkeit
möglich sein. In diesem Zusammenhang – Sie haben es
(Beifall bei der SPD) zu Recht erwähnt – fordern wir in unserem Gesetzent-
wurf auch eine moderate Absenkung der Voraufenthalts-
Aydan Özoğuz (SPD): zeiten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Es gibt ja Hoffnung auf Einsicht, auch bei Ihnen. In
(B) Kollegen! Herr Staatssekretär, man könnte Ihnen mit ei- (D)
der vergangenen Sitzungswoche haben wir hier eine sehr
nem Satz antworten: Wir halten die Optionspflicht sachliche und angenehme Debatte über das Thema
schlicht für falsch und unzeitgemäß, und wir wollen das „50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei“ geführt.
ändern. Ich werde das jetzt aber natürlich noch ein biss- Sie selbst haben von der teils mangelnden Attraktivität
chen ausführen. Deutschlands für hier geborene, gut ausgebildete Men-
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das wird schen gesprochen. Sie haben auch davon gesprochen,
auch nötig sein!) dass viele von ihnen unser Land verlassen, dass wir se-
henden Auges auf einen Fachkräftemangel zusteuern
Wir Sozialdemokraten haben es gemeinsam mit den und dass wir das alles billigend in Kauf nehmen.
Grünen 1999 geschafft, das Staatsangehörigkeitsrecht
von 1913 weitgehend den Realitäten unseres Landes an- Ihre Pressemitteilung, Herr Wolff – das muss an die-
zupassen. Über einen unzureichend gelösten Punkt spre- ser Stelle erwähnt werden –, in der steht, wir würden das
chen wir heute. Man sollte auch erwähnen: Es ist uns Abstammungsrecht abschaffen wollen, muss Ihrer Ver-
2005 gemeinsam mit der Union gelungen – die Zustim- zweiflung geschuldet sein, dass Sie gar nicht wissen, wie
mung der Grünen war gegeben –, endlich ein Zuwande- Sie sich dazu verhalten wollen.
rungsrecht zu verabschieden, in dem unter anderem die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des
Integrations- und Sprachkurse eine ganz wesentliche BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Rolle spielen. Die Verabschiedung dieses Gesetzent-
wurfs war nicht leicht. Manch einer wird sich vielleicht Ich kann das nicht nachvollziehen. Niemand möchte das
an das Schauspiel im Bundesrat erinnern. Es ist trotzdem Abstammungsrecht abschaffen. Ein Kind deutscher El-
gelungen. Das Interessante ist: Es gibt kaum eine Partei, tern, ob es an der Elfenbeinküste oder sonst wo geboren
die sich dafür bei allen Gelegenheiten so sehr selbst fei- wird, wird weiterhin Deutscher sein.
ert, wie die damals so zögerliche Union. Meine Damen (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ich er-
und Herren von der Union, wir Sozialdemokratinnen zähle es Ihnen gleich!)
und Sozialdemokraten geben Ihnen mit unserem Gesetz-
entwurf heute erneut die Gelegenheit, als letzte Fraktion Das müssten Sie uns wirklich einmal genauer erläutern.
hier im Hause die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
in den nächsten Jahren für die Abschaffung des Options-
NEN]: Nein!)
modells und für das Bekenntnis zu einer modernen und
gleichzeitig solidarischen Gesellschaft mit uns allen ge- Wir wollen ein integrationspolitisches Signal setzen.
meinsam feiern zu lassen. Die Betroffenen werden als Deutsche mit Rechten und
16472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Aydan Özoğuz
Özoðuz
(A) Pflichten, einschließlich des Wahlrechts, in die Gesell- tieabbau stärkt den Standort Deutschland. – Ja, dann ma- (C)
schaft aufgenommen, aber eben ohne dass ihnen abver- chen Sie das auch, und verabschieden Sie sich endlich
langt wird, dass sie die für sie so wichtige und symbol- von dieser Optionspflicht.
trächtige alte Staatsbürgerschaft aufgeben, was meist
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sehr belastend ist. Weil der Optionszwang einfach nicht
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
in unsere Zeit und zu den realen Lebensumständen der
GRÜNEN)
Menschen passt, haben von SPD und Grünen geführte
Länder im Bundesrat am 23. September dieses Jahres ei- Die zentralen Argumente gegen die Hinnahme mehr-
nen Gesetzesantrag zur Aufhebung des Optionszwangs facher Staatsangehörigkeiten sind längst überholt, so wie
eingebracht. Interessant ist, dass Innenminister etwa – dieses Argument haben wir eben wieder gehört –
Schünemann von der CDU im Bundesrat zu Protokoll der Verweis auf Loyalitätskonflikte. Staatssekretär Ole
gab, dass der Optionsregelung vorgeworfen werde, sie Schröder war sich noch in der Debatte am 28. Oktober
sei ein bürokratisches „Verwaltungsmonstrum“, und er letzten Jahres nicht zu schade, zu argumentieren, dass
dem zustimme. Recht hat er. das im Zusammenhang mit der Wehrpflicht ein Problem
sein könnte.
Das Optionsmodell wirft tatsächlich integrationspoli-
tische und verwaltungspraktische Probleme auf. Integra- (Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär: Immer
tionspolitisch entbehrt es jeglicher Logik; das habe ich noch!)
schon ausgeführt. Ich verstehe nicht, warum wir junge
Menschen, die in Deutschland geboren, aufgewachsen Dass Sie so etwas gesagt haben, während gleichzeitig
und hier zur Schule gegangen sind, die hier verwurzelt nebenan im Verteidigungsministerium darüber nachge-
sind und bis zur Volljährigkeit mit zwei Staatsangehörig- dacht wurde, wie die Wehrpflicht abgeschafft werden
keiten gelebt haben, nun plötzlich zwingen wollen, sich kann, das ist nun wirklich bezeichnend für die Rückstän-
für eine zu entscheiden. digkeit dieser Bundesregierung in Sachen Staatsbürger-
recht.
Verwaltungspraktisch ist es noch interessanter. Es be-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des
steht schon heute Handlungsbedarf, nicht erst in einigen
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Jahren. Es gibt schon heute die seit 2008 optionspflichti-
gen Jugendlichen nach § 40 b Staatsangehörigkeitsge- Eines muss ich Herrn Kollegen Hartfrid Wolff noch
setz. Bisher haben gut 15 000 Jugendliche – in diesem mitgeben. Er hat damals an die Grünen die Aussage ge-
Jahr sind es rund 4 160 – Post von der Behörde bekom- richtet, sie würden „die deutsche Staatsangehörigkeit auf
men. Im 8. Bericht der Beauftragten der Bundesregie- dem Multikultibasar verramschen“.
(B) rung für Migration heißt es zu diesem Bürokratiemon- (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D)
strum Optionsmodell treffend:
Pfui!)
Der Aufwand für die Durchführung eines Options-
Ich gebe Ihnen eine kleine Denkhilfe aus Ihrem eigenen
verfahrens bei den Staatsangehörigkeitsbehörden
Parteiprogramm:
ist nach den bisherigen Erfahrungen in der Praxis
mindestens so groß wie der Aufwand für ein voll- Die Integration kann jedoch auch durch doppelte
ständiges Einbürgerungsverfahren. … Schon bei Staatsbürgerschaft gefördert werden, wie die vielen
der heutigen Situation mit Fallzahlen von etwa Fälle von gut integrierten Mitbürgern mit Doppel-
3.000 bis 4.000 Optionskindern pro Jahr bundes- staatsbürgerschaft zeigen.
weit wurde von größeren (vor allem personellen)
Schwierigkeiten bei der Umsetzung berichtet. Ver- (Zurufe von der SPD: Oh!)
bunden wurden diese oft mit den Befürchtungen für Also, wenn eine Partei ihre Programmatik komplett auf
die Zeit ab 2018, wenn jährlich rund 40.000 Ju- dem Koalitionsbasar verramscht hat, dann, würde ich sa-
gendliche bundesweit optionspflichtig werden. gen, ist es die FDP.
Nun schreibt Professor Thränhardt von der Universi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tät Münster in seinem Gutachten für das Land Nord- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
rhein-Westfalen: Geschieht nichts, so würde die Op- LINKEN)
tionsregelung die Einbürgerungsbehörden lahmlegen,
falls nicht in großem Ausmaß neues Personal eingestellt Ein letzter Punkt. Die Realität hat Sie im Grunde
würde. Mit diesem Aufwand werden die Länder bzw. die längst eingeholt. Die vielen Abweichungen vom Prinzip
Kommunen belastet. – Das wollen Sie zulassen. Das ist „Eine Person – ein Pass“, die es heute schon gibt, führen
ein bürokratischer Wahnsinn, auf den unser Land zusteu- dazu, dass laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2010
ert, und Sie wissen das. bei 53 Prozent der Einbürgerungen Mehrstaatigkeit hin-
genommen wurde. Staatssekretär Schröder sprach von
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einer Minderheit; da sollten Sie sich noch einmal
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE schlaumachen. Viel deutlicher kann eine statistische Ent-
GRÜNEN) wicklung nicht ausfallen.
Sie haben doch gerade in der vorangegangenen Debatte Ich hoffe, dass Sie den warmen Worten, die Sie in der
über Bürokratieabbau gesprochen. Herr Hinsken hat letzten Debatte von diesem Pult aus gesagt haben, Taten
eben noch hier am Pult gestanden und gesagt: Bürokra- folgen lassen. Es geht an der Lebensrealität der jungen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16473
Aydan Özoğuz
Özoðuz
(A) Menschen bei uns in Deutschland vollkommen vorbei, Inzwischen erleben wir aber immer häufiger, dass die (C)
sie vor eine derart absurde Wahl zu stellen. Stimmen Sie deutsche Sozialdemokratie sogar ihren Kompass ver-
mit uns heute für unseren Gesetzentwurf, und lassen Sie liert.
sich dann in den nächsten Jahren mit dafür feiern. (Lachen des Abg. Dr. Frank-Walter Steinmeier
Danke. [SPD])

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sachlich bleibt ohnehin klar: Die Abschaffung des
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Optionsmodells zu fordern, ist aus meiner Sicht völlig
GRÜNEN) absurd; hier hat der Staatssekretär recht. Die Initiative ist
bei weitem nicht die erste. Alle Oppositionsparteien ha-
ben das schon gefordert, auch im Bundesrat. Auch da
Präsident Dr. Norbert Lammert: gibt es also nicht Neues. Angesichts der Konkurrenz im
Das Wort erhält nun der Kollege Hartfrid Wolff für linken Lager – von Piraten, Grünen und Linken – wirkt
die FDP-Fraktion. dieser Versuch der SPD, ein Thema zu besetzen, eher
hilflos, wie eine Art Überbietungswettbewerb.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Thomas Oppermann [SPD]: Jetzt bitte eine li- Wir Liberale haben das Optionsmodell seinerzeit vor-
berale Rede, Herr Kollege!) geschlagen, um den Weg zu einer Öffnung des deutschen
Staatsangehörigkeitsrechts in Richtung auf das Jus Soli
zu ermöglichen. Es macht nach wie vor keinen Sinn, ein
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Gesetz zu ändern, für dessen Wirkung es praktisch noch
Die SPD fordert wieder einmal die Abschaffung des keine verwertbaren Daten gibt.
Optionsmodells, das sie selbst vor zehn Jahren einge-
führt hat. Es ist schon spannend, zu hören, wie Sie die (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Natürlich
Bürokratie geißeln, Frau Kollegin. gibt es die!)
Es ist einfach sinnvoll, erst einmal Erfahrungsberichte
(Manuel Höferlin [FDP]: Ja! In der Opposi- abzuwarten – bleiben Sie ein bisschen seriös, Kollegin –,
tion!)
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ich bin
Hätten Sie das mal früher gedacht! seriös!)
(Aydan Özoğuz [SPD]: Das habe ich damals um beurteilen zu können, wie sich diese Regelung tat-
schon gesagt!) sächlich auswirkt,
(B) Das ist bei der SPD aber nichts Neues. Erst schaffen Sie (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Was? Die (D)
Bürokratie, und an anderer Stelle geißeln Sie sie. Das ist gibt es doch!)
keine stringente Linie der SPD. und danach die rechtlichen Anpassungsmöglichkeiten zu
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) prüfen. So ist es auch im Koalitionsvertrag vorgesehen.
Alles andere ist wohlfeiler sozialdemokratischer Aktio-
Vor zehn Tagen wurden wir von der SPD überrascht. nismus, der kein Problem löst, sondern – im Gegenteil –
Es hieß, es gebe neue Forderungen für die Hinnahme eher neue Probleme schaffen könnte.
von Mehrfachstaatsangehörigkeiten. Heute beraten wir
Für in Deutschland aufgewachsene junge Menschen
einen Gesetzentwurf der SPD vom Februar 2010. Es ent-
ist es nach Auffassung von Rot-Rot-Grün unzumutbar,
steht der Eindruck: Dieser Opposition fällt nichts wirk-
sich bei Volljährigkeit für die deutsche Staatsangehörig-
lich Neues ein. Ich muss ganz ehrlich sagen: Eine so
keit zu entscheiden. Linke Parteien tun sich mit der
schwache Opposition haben wir als Regierung nicht ver- Wahlfreiheit, der Kompetenz des Individuums, sich ent-
dient. scheiden zu dürfen, ja generell etwas schwerer.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Anders als Kinder deutscher Eltern sollen die Betref-
CDU/CSU – Zurufe von der SPD) fenden durch Mehrfachstaatsangehörigkeit privilegiert
Da nützt es auch nichts, dass der Fraktionsvorsitzende werden. Ausdrücklich besagt der SPD-Gesetzentwurf,
nachher kurz vor dem SPD-Parteitag selbst das Wort er- (Aydan Özoğuz [SPD]: Was sagt denn die
greift. Sie sollten sich einmal neue Gedanken machen FDP?)
und nicht immer wieder Ihre alten Ideen aufwärmen.
es solle fürderhin ein konsequentes Bekenntnis zur dop-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – pelten oder mehrfachen Staatsbürgerschaft geben. Viel-
Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD], zur CDU/ leicht hofft die SPD auf Unterstützung durch den Wahl-
CSU gewandt: Ihr nächster Parteitag ist näher, kämpfer Erdogan, der die Erhaltung des Türkentums in
wenn ich richtig informiert bin!) Deutschland beschwört.

Dass sich die SPD von den Ergebnissen ihrer eigenen (Aydan Özoğuz [SPD]: Oh, ist das schlecht!)
Regierungszeit distanziert, haben wir schon ein paar Mal Meine Damen und Herren, die SPD frohlockte einst
erlebt. über die Abschaffung des Abstammungsprinzips bei der
Staatsangehörigkeit.
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das
kommt bei Ihnen ja nicht vor!) (Aydan Özoğuz [SPD]: Unterirdisch!)
16474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


(A) – Hören Sie mir zu; denn Sie haben mich vorhin tig zwei Staaten angehören. Durch Migrantenschicksale (C)
gefragt. – Sie wollten das Abstammungsprinzip abschaf- zeigt sich oft, dass genau dies eben nicht möglich ist.
fen. Wer weder ganz hier noch ganz dort bleiben will, ist nir-
gendwo als gleichberechtigter Mitbürger akzeptiert –
(Aydan Özoğuz [SPD]: Nein! Das haben wir
ganz unabhängig vom formalrechtlichen Status.
noch nie gefordert!)
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
Aber für Migranten wollen Sie es jetzt beibehalten.
müssen Sie den Menschen überlassen!)
(Aydan Özoğuz [SPD]: Das ist doch Quatsch!)
– Herr Kollege, unabhängig davon.
Wer die doppelte Staatsangehörigkeit fordert, stoppt die
Rot-Rot-Grün tut so, als ob Migration allein eine geo-
Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts.
grafische Standortveränderung wäre, und damit basta.
(Aydan Özoğuz [SPD]: Wer wollte denn das Das ist gefährlicher Unfug. Jeder, der sich mit Migranten
Abstammungsprinzip abschaffen? Wann auseinandergesetzt hat, weiß, dass Zuwanderung nicht
denn? Erklären Sie das mal!) einfach durch eine Änderung des Territoriums, sondern
durch den Umzug in ein Land mit anderen Menschen,
Galt Linken, Grünen und SPD das Abstammungs-
anderer Tradition, Sprache und Kultur erfolgt. Wer das
recht bei deutschen Aussiedlern noch als reaktionäres verschweigt oder kleinreden will und das Ganze allein
Rechtsprinzip,
geografisch sieht, der zerstört die Zukunftschancen ge-
(Aydan Özoğuz [SPD]: Ach! Das ist doch rade der Migranten hier in Deutschland.
Blödsinn!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ist es für die doppelte Staatsangehörigkeit, etwa für Ara- der CDU/CSU – Aydan Özoğuz [SPD]: Wer
ber, plötzlich wieder erwünscht. verschweigt das denn?)
(Aydan Özoğuz [SPD]: Sie haben das Gesetz Mit einer Einbürgerungsregelung, die von weiten Tei-
nicht verstanden!) len der Bevölkerung nicht akzeptiert wird, wird die Ak-
zeptanz von Migranten keinesfalls gestärkt.
Es ist in der Tat absurd, in dem Land, in man geboren ist
und dauerhaft leben will, Ausländer zu sein. Allerdings: (Aydan Özoğuz [SPD]: Aha!)
Niemand in diesem Haus will Menschen, die sich ein-
Wer die Zukunft einer deutschen Nation erstrebt, in der
deutig für Deutschland entscheiden, die die deutsche
nicht Hautfarbe oder Abstammung, sondern allein der
Sprache beherrschen und sich auf unsere Grundwerte
Wille und die freiwillige Verpflichtung, dazuzugehören,
verpflichten, daran hindern, deutsche Staatsangehörige
(B) entscheidend für die Zugehörigkeit sind, der muss ver- (D)
zu werden.
hindern, dass Abstammungsfragen in Deutschland wie-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der salonfähig werden, wie das durch das Instrument der
der CDU/CSU) mehrfachen Staatsangehörigkeit geschieht.
Nicht die Optionsmöglichkeit, sondern die desinte- (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
grative Haltung von bestimmten Verbänden, die eine Art Das tun Sie ja gerade!)
von Herkunftsnationalismus beschwören, geht an der
Die Koalition aus Union und FDP hat beeindruckende
Lebenswirklichkeit der betreffenden Menschen vorbei.
Weichenstellungen in der Abkehr von rot-rot-grüner
Dass sich die Oppositionsparteien vor diesen reaktionä-
Multikultiideologie vorgenommen.
ren Karren spannen lassen, ist aus meiner Sicht ein Ar-
mutszeugnis. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der Die FDP wird die freie Entscheidung der Individuen
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- und die Integrationsleistungen jedes Einzelnen weiterhin
NEN – Aydan Özoğuz [SPD]: Ich glaube, Sie höher schätzen als die Beschwörung von Herkunft und
müssen erst einmal begreifen, worum es über- ethnischen Milieus.
haupt geht!)
(Aydan Özoğuz [SPD]: Das ist ja warmher-
Fortschrittlich wäre es dagegen, das Jus Soli weiterzu- zig!)
entwickeln.
So gestalten wir den überfälligen Neuanfang in der Inte-
Integration in die deutsche Gesellschaft kann nur ge- grationspolitik auf dem Weg zu einer Kultur des Will-
lingen, wenn man sich mit den gleichen Rechten und kommens auf der Basis von Gleichberechtigung, gegen-
Pflichten wie die anderen Staatsbürger in die deutsche seitiger staatsbürgerlicher Loyalität und fairem Mitei-
Gesellschaft integriert. nander.
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Darum Vielen Dank.
geht es, genau!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Mit einer doppelten Staatsangehörigkeit wird die Inte- der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜND-
gration erschwert, wenn Migranten mit Doppelstaatsan- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist das Willkom-
gehörigkeit dem Irrtum verfallen, man könne gleichzei- men?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16475

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der europäische Vergleich zeigt doch, dass es anders (C)
Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Dr. Gesine geht. Die Bundesregierung muss einfach nur über den ei-
Lötzsch für die Fraktion Die Linke. genen Tellerrand schauen. Wir können von unseren eu-
ropäischen Partnern wirklich viel lernen. Aber im Au-
(Beifall bei der LINKEN) genblick vermittelt die Bundesregierung den Eindruck,
dass alle anderen EU-Länder „deutscher“ werden müs-
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): sen. Wer wirklich ein gemeinsames Europa will, der
wählt damit einen sehr schlechten Ansatz, einen Ansatz,
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten der scheitern muss.
Damen und Herren! Die Linke will Ausgrenzung been-
den und Einbürgerungen umfassend erleichtern. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen: Wir können von Schweden, von Portugal
und von Polen lernen.
Wir sagen den Menschen, die hier leben und bleiben
wollen: Willkommen, ihr gehört zu uns. Wir haben versucht, mit unserem Antrag die europäi-
schen Erfahrungen aufzunehmen, und gehen damit wei-
Immer weniger Menschen werden in Deutschland ter als SPD und Grüne. Beide Fraktionen haben unseren
eingebürgert. Warum ist das so, und warum ist die Situa- Anträgen leider nicht zugestimmt. Das finden wir
tion zum Beispiel in Schweden, Portugal oder Polen schade. Aber trotzdem werden wir den Gesetzentwürfen
ganz anders? von SPD und Grünen zustimmen. Ich hoffe, wir fördern
damit die Bereitschaft dieser beiden Fraktionen, in der
In europäischen Ländern mit einer hohen Einbürge-
Frage der Einbürgerung noch europäischer zu denken.
rungsquote ist es folgendermaßen: Einbürgerungen sind
Ich glaube, das ist nötig.
auch dann möglich, wenn die Menschen weniger als fünf
Jahre in diesem Land leben, ein eigenständiges Einkom- (Beifall bei der LINKEN)
men muss nicht nachgewiesen werden, in diesen Län-
dern ist Mehrstaatigkeit generell erlaubt, und auf Einbür- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich
gerungstests wird verzichtet. Das ist eine sehr möchte mich jetzt besonders an Sie wenden und etwas
vernünftige Regelung. von Kollegen aus Ihrer Partei anführen. Ich zitiere mit
Erlaubnis des Präsidenten:
(Beifall bei der LINKEN)
Der Umstand, dass … eine ganze Generation junger
Herr Kollege Schröder, Sie haben gesagt: Wir wissen Türken gezwungen ist, sich zu entscheiden zwi-
(B) noch gar nichts. – Das stimmt nicht. Das Gesetz ist nun schen dem Land ihrer Eltern und dem Land ihrer (D)
zwölf Jahre alt, die Analysen liegen auf dem Tisch. Im Lebenswirklichkeit, muss endlich beendet werden.
Jahr 1999 haben SPD, Grüne und FDP ein Gesetz be-
schlossen, das sich in einem ganz wesentlichen Punkt An anderer Stelle heißt es:
zum Einbürgerungsverhinderungsgesetz entwickelt hat. Entscheidend ist, wo Menschen ihren Lebensmittel-
Das muss heute dringend korrigiert werden. punkt haben. Pässe sollten zweitrangig sein.
(Beifall bei der LINKEN) Dieses Zitat stammt aus einem Papier der FDP-Fraktion
im Niedersächsischen Landtag. Offensichtlich sind Ihre
Ich finde, wir müssen uns jetzt für die Menschen ent- Kollegen in Niedersachsen schon weiter als Sie hier in
scheiden, die seit Jahren in unserem Land leben. SPD Berlin. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Orientieren Sie
und Grüne haben sich mit ihren Gesetzentwürfen ebenso sich in dieser Frage an Ihren Kollegen aus Niedersach-
wie die Linke mit ihrem Antrag eindeutig für die Einbür- sen!
gerung von Menschen entschieden, die gern in unserem
Land leben und den Wunsch haben, an der Gestaltung (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
der Gesellschaft demokratisch mitzuwirken. Ich bin der Aydan Özoğuz [SPD])
festen Überzeugung: Das kann für uns alle nur gut sein!
Die Bundesregierung spricht gerne über Integration,
(Beifall bei der LINKEN) baut aber immer höhere Mauern gegen die Integration
auf. Ich sage Ihnen: Wir brauchen in Deutschland bei der
Wenn CDU/CSU und FDP die Vorlagen ablehnen, Einbürgerung endlich europäische Normalität und nicht
dann schaffen sie in unserem Land neue Mauern zwi- deutsche Sonderwege. Wenn wir Menschen in unserem
schen den Menschen, Land willkommen heißen, dann ist das für uns alle bes-
(Zuruf von der FDP: Von Mauern verstehen ser.
Sie ja was!) Vielen Dank.
verhindern die demokratische Teilhabe von Millionen (Beifall bei der LINKEN)
von Menschen und befördern Rassismus und Fremden-
feindlichkeit in unserem Land. Das ist verantwortungs-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
los.
Das Wort hat nun Renate Künast für die Fraktion
(Beifall bei der LINKEN) Bündnis 90/Die Grünen.
16476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der Frage der Auswanderung von jungen Men- (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man schen, die schon lange hier leben, bieten Sie ihnen nichts
die Reden von Herrn Staatssekretär Schröder und von als einen Optionszwang, statt zu sagen: Ja, wir wollen,
Herrn Wolff hört, dann kann das schon zu Irritationen dass sie hier bleiben. – Es ist unter dem Niveau dieses
führen. Bei Herrn Schröder denke ich: Immer wenn von Hauses, dass der gelernte Rechtsanwalt Herr Schröder
der Regierungsbank Daten des Statistischen Bundesam- uns im Rahmen seines persönlichen Vorlesetages erzählt,
tes vorzulesen sind, wird Herr Schröder geschickt. Das es gebe Interessenkonflikte. Herr Schröder, mit zwei ju-
kommt mir so vor, als wäre heute der nationale Vorlese- ristischen Staatsexamen
tag. Das ist er aber gar nicht, Herr Schröder. (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Examina!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN können Sie hier nicht sagen, es gäbe später konsulari-
sowie bei Abgeordneten der SPD) sche Konflikte bei der Erbschaft. Unter uns Anwältinnen
und Anwälten: So etwas lässt sich doch lösen, nicht
Bei Herrn Wolff denke ich: Jetzt gibt es gleich einen
wahr?
Vortrag über die Mendel’sche Abstammungslehre. Aber
auch das ist nicht das Thema. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie können mir auch nicht erzählen, dass es bei der
Ein Thema ist hier und heute, dass wir 50 Jahre nach Verteidigung des Landes Komplikationen gäbe. Wie soll
dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen überlegen es denn bei jemandem, der zum Beispiel die deutsche
müssen: Wo sind wir angekommen? und die türkische Staatsangehörigkeit hat, Komplikatio-
(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das steht nen bei der Verteidigung des Landes oder bei Auslands-
nicht auf der Tagesordnung!) einsätzen geben, wenn es um zwei NATO-Länder geht?
Dann müssten Sie an der Stelle sagen, dass auch
Es reicht an dieser Stelle nicht, zu feiern und sich Filme McAllister einen Interessenskonflikt hat. Aber er kann
anzuschauen, in denen gezeigt wird, woher die damali- britisch und deutsch und Ministerpräsident sein.
gen sogenannten Gastarbeiter kommen. Vielmehr geht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
es auch darum, zu reflektieren: Was ist in den 50 Jahren sowie bei Abgeordneten der SPD)
passiert? Max Frisch hat gesagt: Es wurden Arbeits-
kräfte eingeladen, aber es sind Menschen gekommen. – Genau das wollen wir für die jungen türkischen Men-
Wie gehen wir denn mit diesen Menschen um? Ihre Kri- schen, die hier aufgewachsen sind: dass auch sie einmal
(B) terien sind für die Frage des Umgangs miteinander defi- Ministerpräsidentin oder Ministerpräsident werden kön- (D)
nitiv unbrauchbar. nen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es geht nicht darum, dass diese Personen einen Inte-
und bei der SPD) ressenkonflikt hätten. Vielmehr entspricht es deutschen
Interessen, bestehende Konflikte endlich aufzulösen: mit
Schauen Sie sich einmal Folgendes an: Heute leben einer doppelten Staatsbürgerschaft.
fast 8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in
Deutschland, die mehr als 8 Jahre hier sind. Der Punkt Was wir wollen, ist eine Art zweite deutsche Einheit.
ist: Sie erfüllen die wichtigsten Einbürgerungsvorausset- Dabei geht es nicht um zwei Teile, sondern um alle
zungen. In anderen europäischen Ländern – das zeigt der Schichten und Teile dieser Gesellschaft. Lassen Sie uns,
Vergleich – wären sie alle schon eingebürgert. Was ist wie Prantl schreibt, eine zweite deutsche Einheit versu-
bei uns passiert? Bei uns werden die Kinder der Einwan- chen. Das heißt im Übrigen: Wir haben gemeinsame In-
derer zu Auswanderern. Wir sind ein Auswandererland, teressen, und dann muss man logischerweise zur doppel-
weil gut gebildete Migranten, zum Beispiel junge Tür- ten Staatsbürgerschaft kommen. Dann können wir alle
kinnen und Türken, in Brüssel oder Istanbul ihre beruf- Probleme in einem anderen Sprachduktus miteinander
liche Karriere besser weiterverfolgen können. lösen.
Wir bitten um Ihre Zustimmung.
Ich sage Ihnen ganz klar: Sie können es nicht. Es geht
nicht um die Gnade der Einbürgerung, sondern es geht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wie in der Europapolitik und in der Außenpolitik, auch sowie bei Abgeordneten der SPD)
knallhart um deutsche Interessen, und die werden nicht
von der schwarz-gelben Koalition vertreten. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSU-
sowie bei Abgeordneten der SPD) Fraktion.

Es ist doch fatal: Wir erleben einen Fachkräfteman- (Beifall bei der CDU/CSU)
gel, und Ihnen fällt dazu nichts anderes ein, als die Ver-
dienstgrenze beim Zuzug von Fachkräften auf 48 000 Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Euro zu reduzieren. Dabei kriegen Leute mit Hochschul- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
abschluss keinen Job, mit dem sie 48 000 Euro verdie- Sehr geehrte Kollegen! Es ist nichts Neues, dass die Op-
nen. Also kommen sie auch nicht. position in regelmäßigen Abständen mit Gesetzentwür-
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Stephan Mayer (Altötting)
(A) fen und Anträgen um die Ecke kommt, die die Änderung Frau Özoğuz, Sie haben behauptet, das jetzige Op- (C)
unseres Staatsangehörigkeitsrechts zum Gegenstand ha- tionsmodell sei ein bürokratischer Wahnsinn. Frau
ben. Özoğuz, Sie haben es mitbeschlossen: Rot-Grün hat es
beschlossen.
(Aydan Özoğuz [SPD]: Was heißt denn „um
die Ecke kommen“?) (Aydan Özoğuz [SPD]: Das haben wir gar nicht
Aber ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, beschlossen! Stimmt doch gar nicht!)
meine werten Kolleginnen und Kollegen von der Oppo- Also sollten Sie jetzt keine Rede halten, in der Sie dieses
sition, dass der eigentliche Grund der heutigen Debatte Modell als schwach und als bürokratischen Wahnsinn
ein anderer ist. diffamieren. Sie selbst haben die Verantwortung dafür zu
Der SPD-Parteitag naht. Sehr geehrte Frau Kollegin tragen.
Özoğuz, ich gönne es Ihnen wirklich, dass Sie desi-
gnierte stellvertretende Parteivorsitzende sind. Deutschland ist gut mit dem Grundprinzip in seinem
Staatsangehörigkeitsrecht gefahren, dass man Mehrstaat-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lichkeit vermeidet. Einbürgerung kann nur am Ende ei-
NEN]: Was hätten Sie erzählt, wenn wir die nes erfolgreich abgeschlossenen Integrationsprozesses
Debatte in drei Wochen hätten?) stehen und kann und darf nie am Anfang des Integra-
tionsprozesses stehen.
Der eigentliche Grund der heutigen Debatte war unter
anderem, Ihnen die Plattform zu bieten, eine Bewer- (Aydan Özoğuz [SPD]: Bei der Optionspflicht
bungsrede für Ihre Kandidatur zur stellvertretenden Par- wird man damit geboren, Herr Mayer!)
teivorsitzenden zu halten.
Durch die Staatsangehörigkeit wird ein Loyalitäts-
(Thomas Oppermann [SPD]: Was wäre daran
band zwischen dem Staat auf der einen Seite und dem
schlimm?)
Staatsangehörigen auf der anderen Seite geknüpft. Die-
Ich sage Ihnen aber ganz offen, meine verehrten Kolle- ses Loyalitätsband kann und darf nie eine Einbahnstraße
gen von der SPD: Unser deutsches Staatsangehörigkeits- sein; dieses Loyalitätsband eröffnet Rechte und Pflichten
recht ist zu kostbar, als es nur als Profilierungsplattform für beide Seiten.
dafür zu nutzen, dass Sie, Frau Özoğuz, stellvertretende
Parteivorsitzende werden. (Aydan Özoğuz [SPD]: Ach? Das ist ja was
ganz Neues!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(B) der FDP – Zuruf von der SPD: So etwas Deswegen muss es weiterhin ein fester Grundsatz des (D)
Schwaches! – Aydan Özoğuz [SPD]: Wenn Sie deutschen Staatsangehörigkeitsrechts sein, dass eine
sonst kein Argument haben!) doppelte Staatsangehörigkeit nach Möglichkeit abzuleh-
nen und zu vermeiden ist, weil sie erhebliche rechtliche
Meine werte Kollegin Künast, ich kann mich auch Schwierigkeiten aufwirft: Auf der einen Seite eröffnet
nicht des Eindrucks erwehren, dass Sie insbesondere sie gewisse Privilegierungstatbestände für die Doppel-
deshalb heute in dieser Debatte sprechen, weil Sie nach staatler, zum Beispiel was das Wahlrecht anbelangt. Es
Ihrem schwachen Abschneiden bei der Berliner Land- besteht die akute Gefahr der Rosinenpickerei: Man greift
tagswahl in enormen innerparteilichen Schwierigkeiten sich je nachdem, was einem gerade in den Sinn kommt,
stecken. Sie sind eben nicht Regierende Bürgermeisterin das günstigere Recht, zum Beispiel das Wahlrecht, he-
von Berlin geworden. Jetzt gibt es deutlichen Druck in raus. Auf der anderen Seite gibt es offenkundig rechtli-
der eigenen Partei. che Nachteile. Die Juristerei spricht von sogenannten
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hinkenden Rechtsverhältnissen, zum Beispiel im Ehe-
NEN]: Aber das Thema ist nicht neu!) und Familienrecht und auch im Namensrecht.
Ich glaube, dass auch dies ein Grund ist, warum Sie (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Nicht al-
heute so aufgekratzt und emotional argumentiert haben. les, was hinkt, ist ein Vergleich!)
(Manuel Höferlin [FDP]: Getroffene Hunde! – Es ist sehr wohl der Fall, dass man sich von der doppel-
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten Staatsangehörigkeit fälschlicherweise etwas ver-
NEN]: Dass Sie behaupten, dass ich emotional spricht, was in der Praxis nicht zu halten ist.
bin, ist schon eine Menge wert!)
Gleiches gilt für die Kollegin Lötzsch, die, wie man Frau Künast, es gibt ganz konkrete Fälle. Ich selbst
den Medien entnehmen kann, auch unter enormem war in der letzten Legislaturperiode Mitglied des BND-
Rechtfertigungsdruck in der eigenen Partei steht. Hier Untersuchungsausschusses. Wir hatten unter anderem
gilt aber das Gleiche: Unser deutsches Staatsangehörig- den Fall Mohammed Haydar Zammar zu behandeln. Er
keitsrecht ist zu kostbar, als es für eine bloße und sehr ist Doppelstaatler – er ist Deutscher und Syrer –, war in
durchsichtige parteipolitische Profilierung zu nutzen. syrischer Haft in einem berüchtigten Gefängnis in Da-
maskus. Ganz ehrlich: Die deutsche Staatsangehörigkeit
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hat ihm persönlich überhaupt nichts gebracht. Konsulari-
der FDP – Aydan Özoğuz [SPD]: Haben Sie scher Schutz wurde ihm nämlich von der syrischen Seite
auch was Inhaltliches beizutragen?) strengstens verwehrt,
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Stephan Mayer (Altötting)


(A) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): (C)
NEN]: Das liegt ja an Syrien und nicht an den Herr Kollege Pronold, der hochmögende ehemalige
internationalen konsularischen Regeln!) Europaabgeordnete Otto von Habsburg hat diese Kon-
flikte nicht nur zum Wohle Bayerns ausgehalten, son-
weil die Syrer die deutsche Staatsangehörigkeit nicht an- dern zum Wohle Deutschlands.
erkannt haben. Also hat er keine Möglichkeit gehabt, auf
konsularischen Schutz zurückzugreifen. Ganz im Ge- (Aydan Özoğuz [SPD]: Na, also!)
genteil, er wurde von den Syrern nur als Syrer angese- Man sollte an dieser Stelle noch einmal sehr respektvoll
hen. erwähnen, welche großen Leistungen sich Otto von
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Habsburg um Deutschland, um die Wiedervereinigung,
NEN]: Wollen Sie denn sagen, ein deutscher um die Integration Europas und auch um die Vereini-
Pass ist nichts wert? Sie als Bundestagsabge- gung Europas erworben hat.
ordneter!) (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Also, es
geht doch! Jawohl!)
Man macht sich manche Vorstellungen und knüpft Er-
wartungen an die doppelte Staatsangehörigkeit, die sich Natürlich gibt es Mehrstaatler in Deutschland; das ist
dann in der Praxis als falsch herausstellen. gar keine Frage.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, (Aydan Özoğuz [SPD]: Sogar ganz viele!)
wir sind gut damit gefahren, dass wir das Staatsangehö- Ich bitte schon, zu berücksichtigen, dass Otto von Habs-
rigkeitsrecht 2007 novelliert haben, dass wir darin deut- burg die deutsche Staatsangehörigkeit genauso wie die
liche Verbesserungen aufgenommen haben, zum Bei- österreichische hatte; aber daraus erwachsen keine un-
spiel was den Nachweis ausreichender deutscher mittelbaren Konfliktfelder.
Sprachkenntnisse und die Sicherung des Lebensunter-
halts für Personen unter 23 Jahren anbelangt. (Lachen bei der SPD)
Das zu übersehen, ist der große Trugschluss, dem Sie
(Aydan Özoğuz [SPD]: Das tut schon ein biss-
unterliegen. Die doppelte Staatsangehörigkeit in den
chen weh!)
Fällen, in denen sie in Deutschland meistens vorhanden
Insbesondere die Einführung des Einbürgerungstests ist, bezieht sich auf zwei oder drei europäische Länder,
war ein Meilenstein in der Veränderung des deutschen und es entstehen aufgrund der Ähnlichkeit der Rechts-
Staatsangehörigkeitsrechts. ordnungen dieser Länder keine Konfliktfelder.
(B)
(Aydan Özoğuz [SPD]: Das spielt bei der Op- Ich sage Ihnen ganz offen: Natürlich bestehen größere (D)
tionspflicht ja überhaupt keine Rolle!) Konfliktfelder, wenn eine Person neben der deutschen
auch die türkische Staatsangehörigkeit hat. Das muss
Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Kanada, in man in aller Deutlichkeit sagen. Weil Sie Otto von Habs-
den USA oder auch in den Niederlanden ist es der Fall, burg angesprochen haben, möchte ich sehr lobend und
dass derjenige, der Staatsbürger in dem betreffenden sehr respektvoll erwähnen, dass in Deutschland immer-
Land werden will, mit einem Einbürgerungstest natürlich hin 1 Million Bürger lebt, die türkischer Abstammung
auch dokumentieren muss, dass er sich – in dem Fall – zu sind und mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit
Deutschland, zur deutschen Sprache, zur deutschen Kul- haben. Ich ziehe den Hut vor diesen Menschen.
tur und auch zur deutschen Verfassung bekennt. Ich (Abg. Florian Pronold [SPD] nimmt Platz)
glaube, das ist nicht zu viel verlangt.
– Bitte, Herr Pronold, das gehört noch zur Beantwortung
der Frage, die Otto von Habsburg betrifft.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Abg. Florian Pronold [SPD] erhebt sich wie-
Kollegen Pronold? der von seinem Platz)
Otto von Habsburg war ein großer Befürworter der Ver-
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): ständigung zwischen Deutschland und der Türkei. Ge-
rade die 1 Million Türkischstämmigen, die mittlerweile
Sehr gerne. die deutsche Staatsangehörigkeit haben, haben sich ganz
bewusst für die deutsche Staatsangehörigkeit entschie-
Florian Pronold (SPD): den und ihre türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben.
Herr Kollege Mayer, Sie erinnern sich ja sicher, dass Ich glaube, gerade dieser Personenkreis zeigt, wie mo-
die CSU im Europaparlament durch Otto von Habsburg dern und erfolgreich das deutsche Staatsangehörigkeits-
vertreten war. Er hatte meines Wissens drei Staatsbürger- recht ist.
schaften. Wie konnte er diese Konflikte trotzdem zum (Aydan Özoğuz [SPD]: Danke, dass Sie sich
Wohle Bayerns aushalten? vor uns verneigen!)
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Gleichwohl bietet unser Staatsangehörigkeitsrecht
SPD und der LINKEN – Ingo Wellenreuther ausreichende Möglichkeiten, Härtefällen zu begegnen.
[CDU/CSU]: Ein Lebenskünstler!) § 12 des Staatsangehörigkeitsgesetzes bietet die Mög-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16479
Stephan Mayer (Altötting)
(A) lichkeit, wenn besondere Härten entstehen und die Auf- träglich, dass Sie, Frau Kollegin Lötzsch, uns, der christ- (C)
gabe der eigenen Staatsangehörigkeit eine besondere lich-liberalen Koalition, vorwerfen, der Fremdenfeind-
Schwierigkeit in vermögensrechtlicher oder anderweiti- lichkeit in Deutschland Vorschub zu leisten.
ger Hinsicht darstellt, die deutsche Staatsangehörigkeit
zusätzlich zu der ursprünglichen auszureichen. Das wie- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Da hat sie
derum zeigt, dass wir ein modernes und flexibles Staats- aber vollkommen recht!)
angehörigkeitsrecht haben, das durchaus allen unter- Ich glaube, dass dieser Vorwurf wirklich ungebührlich
schiedlichen Bedürfnissen in ausreichender Weise ist und der Seriosität und Ernsthaftigkeit der Debatte in
gerecht wird. keiner Weise gerecht wird.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
GRÜNEN]: Das ist eine Selbsttäuschung! Was
ist daran modern?) Das ist eine Debatte, die heute zur Unzeit geführt
wird. Wir haben noch genügend Zeit, wenn die Ergeb-
Es laufen derzeit zwei Studien, die von der For- nisse der Evaluierung des Optionsmodells vorliegen, uns
schungsgruppe am Bundesamt für Migration und Flücht- darüber auszutauschen.
linge durchgeführt werden und in denen die ersten Ergeb-
(Aydan Özoğuz [SPD]: Sie finden doch immer
nisse des Optionsmodells evaluiert werden. Die Ergeb-
eine Ausrede! Immer nur verschieben!)
nisse werden aller Voraussicht nach im ersten Halbjahr
des kommenden Jahres vorliegen. Ich bitte Sie, meine In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerk-
lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: samkeit.
Lassen Sie uns erst einmal diese Ergebnisse abwarten.
Die ersten Personen, die die Optionsmöglichkeit wahr- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nehmen können, gibt es seit dem Jahr 2008; es ist schon
erwähnt worden. Jedes Jahr kommen zwischen 3 000 und Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
5 000 neue Personen hinzu. Die ersten Personen, die op- Das Wort hat nun Frank-Walter Steinmeier für die
tieren müssen, haben dafür immerhin bis Ende 2013 Zeit. SPD-Fraktion.
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des
Sie sind seit 2008 mit diesem Problem kon- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
frontiert!)
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
(B) Es ist momentan viel zu früh, zu sagen, ob sich das Op- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (D)
tionsmodell bewährt hat oder nicht, ob rechtliche
Schwierigkeiten auftauchen oder nicht. Wir sollten uns Herren! Dass sowohl der Herr Minister als auch die Frau
wirklich die Zeit nehmen, die Ergebnisse der Evaluie- Staatsministerin heute keine Zeit haben, nehmen wir zur
rung abzuwarten, und zu gegebener Zeit auch in diesem Kenntnis. Ich muss Ihnen sagen: Es wundert mich nicht.
Hause darüber debattieren, wie wir darauf reagieren. Denn die Woche der Festakte ist schließlich vorbei.

Ich glaube, dass wir gerade bei dieser gesellschafts- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
politisch relevanten Debatte deutlich machen müssen, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hartfrid Wolff
dass die Ausreichung der deutschen Staatsangehörigkeit [Rems-Murr] [FDP]: Der SPD-Parteitag
mehr ist, als nur einen Personalausweis, ein Legitima- kommt erst noch!)
tionspapier zu überreichen. Es geht bei der deutschen – Ich weiß gar nicht, was Sie immer mit Parteitagen ha-
Staatsangehörigkeit wie bei der Staatsangehörigkeit ge- ben. Ich meine, der CDU-Parteitag ist viel näher als un-
nerell auch sehr stark darum, ein Bekenntnis zu einem serer.
Staat abzugeben. Deswegen ist es mir auch so wichtig,
darauf hinzuweisen, dass wir die Debatte über eine mög- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Aber ihr
liche Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts nicht habt eine Personalentscheidung!)
auf dem Altar von Parteipolitik opfern sollten. Es sollte Insofern müssten wir schlechte Gedanken haben, was
schon Konsens hier in diesem Haus sein, dass die Ver- Ihre Tagesordnungspunkte angeht. Herr Wolff, da Sie
fassungstreue und das Bekenntnis zu unserer freiheit- schon dazwischenrufen, lassen Sie mich noch eines sa-
lich-demokratischen Grundordnung ein Grundpfeiler des gen: Ich hätte nicht gedacht, dass Sie in der Lage sind,
deutschen Staatsangehörigkeitsrechts sind. Ich glaube, das Diskussionsniveau Ihrer Partei doch so nachhaltig zu
dass man nicht umhinkann, festzuhalten, dass durchaus unterschreiten. Das war wirklich auffällig.
die Gefahr besteht, dass Loyalitätskonflikte bei Personen
entstehen, die mehrere Staatsangehörigkeiten haben. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Aydan Özoğuz [SPD]: Mein Gott, die anderen
europäischen Länder sind auch nicht unterge- Zu Ihrem Hinweis, dass es Konkurrenz innerhalb der
gangen!) Opposition gebe, muss ich Ihnen eines sagen: Das
schreckt mich nicht wirklich, solange ich weiß, dass Sie
Vor dem Hintergrund bitte ich Sie herzlich, hier nicht mit solchen Reden dafür sorgen, dass die FDP – jeden-
falsche Ängste zu schüren. Ich halte es für wirklich uner- falls in Zukunft – außer Konkurrenz läuft.
16480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Übergangslösung. Auch der Sprachgebrauch war verrä- (C)
DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU: Das ist terisch: Der Gastarbeiter war eben Gast. Er blieb fremd
wirklich billig!) und war nicht vollberechtigter Teil der Gesellschaft.
Ansonsten hätte ich mir gewünscht, dass wir diese Das, was für uns galt, galt aber auch für diejenigen,
Debatte mit mehr Ernsthaftigkeit führen. die gekommen sind. Ich habe in der letzten Woche in öf-
fentlichen Reden gesagt: Auch die türkischen Arbeits-
(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das machen
emigranten, die kamen, lebten in demselben Proviso-
Sie ja gerade vor!)
rium. Für sie stand der Rückkehrwunsch immer fest. Nur
Deshalb sage ich zu Anfang: Über die doppelte Staatsan- der Zeitpunkt hat sich verschoben – erst um Monate,
gehörigkeit darf man streiten und muss man streiten – dann um Jahre. Es kam die erste Generation der Kinder,
vielleicht auch heute. Man sollte jedoch vielleicht damit die in Deutschland geboren war. Dann kam die zweite,
beginnen, dass es ein paar Gemeinsamkeiten in diesem und jetzt ist es die dritte.
Hohen Hause gibt. Ich habe das jedenfalls gespürt, als
Das hat natürlich dazu geführt, dass das Band der Ver-
wir in der letzten Woche unterwegs waren und die vielen
bundenheit zu unserem Lande immer enger wurde, und
Veranstaltungen zu 50 Jahre deutsch-türkisches Anwer-
deshalb würde ich, Herr Mayer, hier nicht laufend von
beabkommen besucht haben.
Loyalitätskonflikten sprechen. Ich freue mich darüber,
Viele auch Ihrer Redner haben darauf hingewiesen, dass die Verbundenheit zu unserem Lande größer gewor-
wie sehr diejenigen, die von weit hergekommen sind, den ist. Es bestehen Konflikte, die wir nicht durch die
dieses Land bereichert haben. Die, die hergekommen Verweigerung der Änderung des Staatsangehörigkeits-
sind, haben hier – weit weg von zu Hause – gearbeitet, rechts bessern oder heilen können. Vielmehr tragen die
ohne die Sprache dieses Landes zu verstehen, haben da Menschen diesen Konflikt in ihrer Person in sich. Diesen
angepackt, wo die Arbeit am schwersten war, haben die Konflikt kann man nicht aufgrund einer einzigen Geset-
Kohle aus der Erde geholt, haben als Stahlkocher Hitze zesänderung lösen. Man kann ihn aber auch nicht durch
und Dreck widerstanden, haben auf dem Bau geschuftet die Verweigerung von Recht lösen, und deshalb müssen
und Autos zusammengeschraubt. Sie waren diejenigen, wir anders und ernsthaft darüber sprechen.
die dafür gesorgt haben, dass die wirtschaftliche Aufhol-
jagd in diesem Lande tatsächlich stattfinden konnte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Es muss uns auch in einer solchen Debatte klar sein:
Das war mit den Feierveranstaltungen der letzten Woche Vielleicht können Sie den Weg mitgehen und gemein-
nicht abgeschlossen. Auch in einer solchen Debatte sam mit uns überlegen, ob wir die politischen Aufgaben
(B) muss uns klar sein, dass das deutsche Wirtschaftswun- bewältigt haben, die sich aus der Arbeitsmigration in den (D)
der, dieses Wachstum von beispielloser Stabilität und die 60er- und 70er-Jahren ergeben. Vielleicht kommen wir
Steigerung des Wohlstandes, die hier in Deutschland für dann auch zu einem gemeinsamen Ergebnis und können
breite Schichten der Bevölkerung – und das nur zwei feststellen: Wir haben sie wahrscheinlich nicht oder
Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – nicht ausreichend bewältigt. Darüber würden wir uns im
möglich waren, eben auch getragen waren von der Ar- Zweifel noch einig sein. Mit Blick auf all das, was ich in
beit von Zehntausenden, von Hunderttausenden von Mi- der letzten Woche von den Rednern der CDU, der CSU
granten. Deshalb sage ich: Unser Erfolg ist auch deren und der FDP gehört habe,
Erfolg, und es war in der letzten Woche Zeit, dafür end- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Gehört,
lich herzlichen Dank zu sagen. aber nicht verstanden!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lässt sich jedenfalls festhalten, dass eigentlich fast alle
DIE GRÜNEN) gesagt haben: Wir sind in der Integration nicht so weit
Ich lasse jetzt die Reden beiseite, die hier gehalten gekommen, wie es nötig gewesen wäre und wie viele
worden sind. Denn wir müssen uns die Frage stellen von uns es eigentlich wollten.
– das sage ich mit großem Ernst –: Was haben die Veran- Deshalb muss ich nicht in erster Linie das Hohe Haus
staltungen in der letzten Woche mit dem Streit heute zu davon überzeugen, wie wichtig es ist, dass wir jetzt end-
tun? lich das nachholen, was wir in der Vergangenheit schul-
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Was hat dig geblieben sind. Das sind wir eben nicht nur denjeni-
das mit der Staatsangehörigkeit zu tun?) gen schuldig, die zugewandert sind, und den hier
geborenen Kindern und Kindeskindern der Zugewander-
Ich glaube, folgende Frage bleibt: Haben wir damals ei- ten, sondern wir sind es auch uns selbst schuldig.
gentlich gewusst, was Arbeitsmigration in der Größen-
ordnung, wie wir sie erlebt haben, wirklich bedeutete? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des
Haben wir gewusst, was sie in der Gesellschaft, aus der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
die Arbeitsmigranten kamen, und was sie in der Gesell-
schaft, in die viele Neue kamen, um hier zu arbeiten, Wer es nämlich zulässt – das fällt in unsere Verantwort-
verändert hat? lichkeit als Politiker –, dass in diesem Lande zu viele
Menschen zu wenige Chancen und nicht gleiche Rechte
Wir in Deutschland haben doch viel zu lange ge- haben, wer das in Kauf nimmt, der setzt den inneren Zu-
glaubt: Das alles ist ein Provisorium. Das alles ist eine sammenhalt dieser Gesellschaft aufs Spiel. Hier geht es
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16481
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) aber um unsere Zukunft. Die dürfen wir nicht aufs Spiel (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
setzen. Seit 2008!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie sind aber schnell dabei, Ihre Position zu ändern. Wie
DIE GRÜNEN – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] stehen Sie denn dazu?
[FDP]: Was hat das mit der Staatsangehörig-
keit zu tun?) Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Wenn wir über Staatsangehörigkeit als ein Element Herr Wolff, Sie sind offenbar nicht so ganz in der
von Integration reden, reden wir also nicht nur über Zu- Sache drin. Das habe ich an dem Vortrag, den Sie eben
gewanderte und deren Kinder, sondern auch über die Zu- gehalten haben, auch schon gesehen.
kunft dieses Landes. Deshalb sage ich Ihnen: Wer Inte- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
gration wirklich ernst nimmt, der muss auch bereit sein, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
über Staatsangehörigkeit zu reden. Angesichts der Re-
den, die wir hier vonseiten der Koalitionsfraktionen ge- Jeder, der sich mit Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts
hört haben, und mit Blick auf das, was die Regierung tut wirklich befasst, kann in jedem Jahr mindestens fünf
und insbesondere nicht tut, befürchte ich: Wir tun das große Konferenzen und Tagungen besuchen, bei denen
genaue Gegenteil, regelmäßig alles erreichbare statistische Material vorge-
legt wird. In diesem Rahmen könnten Sie zur Kenntnis
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) nehmen, ob die Bereitschaft jüngerer Zuwanderungsge-
indem wir jungen Menschen eine Entscheidung abzwin- nerationen besteht, von dieser Option Gebrauch zu ma-
gen, die sie ganz offenbar nicht in der Lage sind zu tref- chen, ja oder nein. Wenn Sie das nicht tun und hier lieber
fen. so tun, als ob wir über ein Phantom reden würden, zu
dem noch kein belastbares Material vorliege, liegt das
(Serkan Tören [FDP]: Das wissen wir doch wahrlich nicht in der Verantwortung der SPD-Fraktion.
noch gar nicht!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Jetzt sage ich Ihnen eines: Ja, wir haben diese Op- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
tionsregelung mitgetragen. Jetzt, nach zehn, elf Jahren, Frau Merkel hat beim Festakt zum Jahrestag des An-
stelle ich mich auch hierher und sage mit Blick auf das, werbeabkommens gegenüber der türkischstämmigen
was hinter uns liegt: Sie können doch nicht, wo uns sonst Mitbevölkerung gesagt:
überall abverlangt wird, gelegentlich einmal zu kontrol-
lieren, ob wir mit unserer Gesetzgebung erfolgreich ge- Sie sind ein Teil von Deutschland. Sie gehören
(B) wesen sind, beim Staatsangehörigkeitsrecht sagen: Da dazu. (D)
dürft ihr euch, bitte, nicht korrigieren.
Das ist richtig; aber das ist natürlich zunächst einmal
(Zuruf des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole leicht gesagt. Was heißt das eigentlich genau? Das ent-
Schröder) scheidende Element von Zugehörigkeit zu einem Ge-
meinwesen ist doch ganz ohne Zweifel die politische
Nein, umgekehrt verhält es sich! Ich sage mit Blick auf Teilhabe, das heißt die Teilhabe als Staatsbürgerin und
die zehn, elf Jahre, die jetzt hinter uns liegen: Wir haben Staatsbürger dieses Landes. Deshalb sage ich: Wenn das,
damals gemeinsam einen Versuch gemacht. Wir haben was Frau Merkel hier richtigerweise gesagt hat, mehr
ein Angebot unterbreitet. Aber wir müssen auch zur sein soll als ein Lippenbekenntnis, dann kommen wir
Kenntnis nehmen, dass dieses Angebot ausgeschlagen nicht umhin, allen dauerhaft hier lebenden Menschen die
wird; diese Optionsregelung funktioniert nicht. Deshalb faire Chance zu geben, Bürgerin oder Bürger dieses Lan-
können wir sie nicht einfach weiter mit uns herum- des zu werden – mit allen Rechten und Pflichten; das ge-
schleppen. hört dazu. Aber wir müssen es machen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Natürlich haben Sie recht, Herr Mayer, wenn Sie da-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: rauf hinweisen, dass viele bei uns lebende Menschen aus
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Einwandererfamilien eingebürgert sind. Ja, das gibt es.
Kollegen Wolff? Natürlich ist es auch richtig, dass allen Eingewanderten
diese Option prinzipiell offensteht. Die Frage ist jedoch,
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): zu welchem Preis. Darum geht es doch, wenn wir uns
Selbstverständlich. fragen, warum das Angebot der deutschen Staatsangehö-
rigkeit ausgeschlagen wird. Wir verlangen die Aufgabe
der bisherigen Staatsangehörigkeit. Offenbar ist es mit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): der Identität aber nicht ganz so einfach, wie wir uns das
Herr Kollege Steinmeier, Sie haben gerade gesagt, vor zwölf Jahren bei unseren politischen Entscheidungen
dass Sie Ihre Position ändern. Aber es ist doch Tatsache, vorgestellt haben. Schwarz oder weiß, Inländer oder
dass die Regelungen, die von Ihnen selbst eingeführt Ausländer, das ist für diese Generation eben nicht mehr
wurden, erst seit Anfang dieses Jahres gelten. die Frage; denn sie fühlt beides. Die Begründung mit
16482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) dem Loyalitätskonflikt ist der falsche Ansatz. Wir müs- sen Sie mich besser sagen: an einer Anerkennung und (C)
sen uns der Realität stellen. Es sind Menschen, die die- Wertschätzung –, dann hätten Sie heute beispielsweise
sen Identitätskonflikt in sich spüren. Aber das ist kein über das Anerkennungsgesetz sprechen können, das die
Grund, ihnen die Staatsangehörigkeit zu verweigern. christlich-liberale Koalition beschlossen hat. Denn künf-
Das ist die Verweigerung von Politik. tig hat die türkische Krankenpflegerin endlich ein Recht
auf Prüfung ihrer Qualifikationen. Künftig darf sich die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
jordanische Ärztin endlich auch als solche in Deutsch-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
land niederlassen. Das, was wir als christlich-liberale
Koalition damit leisten,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Aydan Özoğuz [SPD]: Das
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
habt ihr euch doch nicht ausgedacht!)
Ich muss zum Ende kommen. Deshalb verweise ich ist viel mehr an Integration als das, was Sie in Ihrer Re-
auf unseren Gesetzentwurf, den wir hier unterbreitet ha- gierungszeit vorgelegt haben oder jetzt vorschlagen.
ben. Wir bitten Sie – jenseits der Reden, die dazu in der
Vergangenheit und auch heute im Parlament gehalten Heute geht es um gleiche Chancen. Es muss um die
worden sind –, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Möglichkeit gehen, sein Leben in Deutschland selbst in
die Hand zu nehmen. Das ist Respekt und Wertschät-
Lassen Sie mich abschließend den Herrn Bundesprä- zung. Die doppelte Staatsangehörigkeit hier als Beloh-
sidenten zitieren, der kürzlich in einer Rede zum 20. Jah- nung anzuführen,
restag der deutschen Einheit gesagt hat: Der Satz „Wir
sind ein Volk“ sollte heute mehr denn je auch als Einla- (Aydan Özoğuz [SPD]: Das macht ihr doch
dung an alle, die hier leben, verstanden werden, ob ein- selber!)
gewandert oder nicht. – Lassen Sie uns Ernst machen da-
ist doch völlig absurd und zeigt einmal mehr: Sie sind im
mit!
Oktober 1961 stehengeblieben, mit einem patriarchali-
Herzlichen Dank. schen und gönnerhaften Blick auf Migranten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Aydan Özoğuz [SPD]: Das macht die Union!)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) Unser Ziel ist es, aus Migranten Bürger dieses Landes
zu machen, Bürger, die sich verantwortlich fühlen, parti-
(B) zipieren und Deutschland mitgestalten. Genau das (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wollen auch die meisten Migranten. Wir tun doch nie-
Das Wort hat nun Serkan Tören für die FDP-Fraktion. mandem einen Gefallen, wenn wir die doppelte Staats-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten angehörigkeit großzügig und karitativ als Bonus ver-
der CDU/CSU) teilen, am besten noch ohne irgendwelche Voraus-
setzungen.
Serkan Tören (FDP): (Aydan Özoğuz [SPD]: Wer tut denn das?)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Steinmeier, ich habe mich offenbar im Gegensatz Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht: Das Staats-
zu Ihnen mit Ihrem Gesetzentwurf beschäftigt. Sie haben angehörigkeitsrecht ist gut, wie es ist, und wir müssen
im Zusammenhang mit der doppelten Staatsangehörig- uns keine Gedanken um dessen Modernisierung machen.
keit gesagt, man müsse in diesem Rahmen nicht über Ganz im Gegenteil! Das sage ich hier ganz klar. Aber
Loyalitätskonflikte sprechen. Ich zitiere aus Ihrem Ge- wir müssen erst einmal die Evaluation des Optionsmo-
setzentwurf: dells abwarten.
Zum anderen finden sich viele der betroffenen Ju- (Aydan Özoğuz [SPD]: Die FDP duckt sich
gendlichen in einem Loyalitätskonflikt wieder. weg! Das ist die Tatsache!)
Insofern sollten Sie sich vielleicht mit Ihrem Gesetzent- Ich sage Ihnen auch, weshalb. Entgegen Ihren Ausfüh-
wurf beschäftigen, bevor Sie hier in Ihrer Rede nur all- rungen höre ich nämlich sehr Unterschiedliches von den
gemeinpolitische Ausführungen zur Integration ma- Einbürgerungsbehörden. Viele vermelden erfreulicher-
chen, ohne auf die Sache zu kommen. weise eine sehr klare Tendenz bei den jungen Migranten
für die deutsche Staatsangehörigkeit. Gleichzeitig variie-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
ren die Rückmeldungsquoten sehr stark. Einige Behör-
CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Lesen Sie
den haben hohe Rückmeldungsquoten, andere kaum
mal das Protokoll!)
welche. Einer der Gründe hierfür liegt in der sehr unter-
Zudem habe ich mich sehr über den Zeitpunkt gewun- schiedlichen Leistungsfähigkeit und dem Dienstleis-
dert. Sie haben das vor 50 Jahren geschlossene Anwerbe- tungscharakter der einzelnen Behörden. Aber das ist ein
abkommen zwischen Deutschland und der Türkei ange- anderes Thema. Wer also bereits jetzt für ganz Deutsch-
führt. Die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit land ein klares Fazit zieht und die Optionspflicht als ge-
soll in Ihren Augen eine Art Belohnung sein. Wenn Ih- scheitert abtut, arbeitet nicht seriös. Deshalb sage ich:
nen wirklich etwas an einer Belohnung liegt – oder las- Lassen Sie uns die Evaluation abwarten!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16483
Serkan Tören
(A) Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Thema Einbürge- (Thomas Oppermann [SPD]: Haben Sie noch (C)
rung ist in Deutschland kein Selbstläufer. Hier haben etwas anderes drauf? – Weitere Zurufe von der
Einwanderer mit einer Niederlassungserlaubnis bereits SPD)
sehr weitgehende Rechte. Politische Partizipation in
Zerstörung der gesetzlichen Rente und einer Praxisge-
Form von Wahlen hat derzeit leider keine Hochkonjunk-
bühr hätten diese Millionen von Menschen verzichten
tur. Wirkliche Anreize insbesondere für gut integrierte
können.
Einwanderer fehlen. Zudem haben einige Debatten in
vergangener Zeit nicht zur viel zitierten Willkommens- (Beifall bei der LINKEN)
kultur bzw. Anerkennungskultur beigetragen. Deshalb
gilt: Wir müssen für die deutsche Staatsangehörigkeit Schauen Sie sich einmal die Zahlen an, die zeigen, wie
werben, ich meine nicht: für eine Urkunde, sondern für es den Menschen geht, die von Altersarmut, von einer
unser wunderbares Land und unsere Gesellschaft als sol- doppelt so hohen Arbeitslosigkeit und von einer über-
che. proportional hohen Beschäftigungsquote im Niedrig-
lohnbereich betroffen sind. Wenn Sie diesen Menschen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auch angesichts der Tatsache, dass Sie ihnen in der Ver-
der CDU/CSU) gangenheit etwas schuldig geblieben sind, wirklich
Danke sagen wollen, dann sollten Sie erst einmal die
Machen wir uns nichts vor: Ein Einbürgerungstest oder
Fehler beseitigen, die Sie während der elf Jahre Ihrer Re-
ein Stück Papier macht noch keinen loyalen, partizipie-
gierungszeit gemacht haben. Dann werden die Men-
renden Bürger aus. Das gilt für alle Deutschen – ob mit
schen Ihr Dankeschön ernst nehmen.
Zuwanderungsgeschichte oder ohne.
(Beifall bei der LINKEN – Thomas
Wir werden diese Debatte verstärkt und engagiert Oppermann [SPD]: Wir wollen uns nicht mit
führen, die Evaluation des Optionsmodells abwarten und Hartz IV bedanken, sondern mit Arbeitsplät-
Ihre Ablenkungsmanöver nicht mitmachen. zen!)
Zum Schluss eine kurze Bemerkung zu meiner Per- Auch bei den Einbürgerungszahlen kann die Linke
son. Ich war bis vor einigen Jahren Doppelstaatler, habe das Eigenlob – ich sage nur, dass Eigenlob stinkt – von
mich dann aber entschieden, die türkische Staatsbürger- SPD und Grünen nicht nachvollziehen. Die Einbürge-
schaft abzugeben. Der Grund dafür war, dass Deutsch- rungszahlen des letzten Jahres, also 2010, sind mit rund
land meine Heimat geworden ist, dass ich zu dieser Ge- 100 000 immer noch niedriger als vor zehn Jahren, als
sellschaft gehöre und ein Teil davon bin. das antiquierte deutsche Reichs- und Staatsangehörig-
(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist doch gut! keitsgesetz aus dem Jahre 1913 galt.
(B) Das ist okay!) (D)
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Eine praktische Erwägung war, dass ich keinen Militär- NEN]: Die Rede passt nicht zum Abstim-
dienst ableisten musste. Diese Frage wird auf viele zu- mungsverhalten!)
kommen. Ich bin mit meiner Entscheidung sehr glück- Warum ist das so? Sie von der SPD haben während Ihrer
lich. Regierungszeit, ob es in der rot-grünen Koalition oder in
Vielen Dank. der Großen Koalition war, durchweg für Verschlechte-
rungen gesorgt. Ich nenne beispielsweise die Erhöhung
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – der Anforderungen an Sprachkenntnisse von A1 auf B1.
Aydan Özoğuz [SPD]: Aber müssen es deshalb
alle machen? Das ist doch eine Option!) (Beifall bei der LINKEN)
Warum ist das für die Linke ein Problem, und warum
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: verlangt die Linke umfassende Erleichterungen bei der
Das Wort hat nun Sevim Dağdelen für die Fraktion Einbürgerung? Das Bundesverfassungsgericht spricht
Die Linke. von einem Demokratiedefizit in Deutschland, das darin
liegt, dass Millionen von Menschen die politische Mit-
(Beifall bei der LINKEN) bestimmung durch Wahlen versagt bleibt, obwohl sie im
Durchschnitt seit fast 20 Jahren in Deutschland leben.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Wir von der Linken wollen nicht, dass immer mehr Men-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist zu schen über einen längeren Zeitraum in Deutschland le-
begrüßen, dass der 50. Jahrestag des deutsch-türkischen ben, ohne die gleichen Rechte zu haben, ohne ihren Be-
Anwerbeabkommens Anlass bietet, im Deutschen Bun- ruf frei wählen zu können oder nach 20 Jahren festem
destag über das Thema Einbürgerungserleichterungen Aufenthalt nicht vor Ausweisung sicher zu sein. Deshalb
und über das Staatsangehörigkeitsrecht insgesamt zu de- brauchen wir keine Sprechblasen über Willkommenskul-
battieren. Aber ich muss auch sagen, Herr Steinmeier: Ihr tur, sondern endlich gleiche Rechte.
Dankeschön an die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter,
(Beifall bei der LINKEN)
die vor 50 Jahren nach Deutschland gekommen sind und
ihre Familien nachgeholt haben – so war es beispiels- Wenn Sie von der Regierungskoalition immer mit Ih-
weise auch in meiner Familie der Fall –, lässt zu wün- rem anachronistischen Popanz von vermeintlichen Loya-
schen übrig. Auf Ihr Dankeschön in Form von Hartz IV, litätskonflikten bei Menschen mit mehr als einem Pass
Leiharbeit, kommen, dann muss ich sagen: In der Praxis ist die
16484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Mehrstaatigkeit doch längst Realität. Die Mehrzahl der Sevim Dağdelen (DIE LINKE): (C)
Einbürgerungen in Deutschland geschieht unter Beibe- – sondern auch als Regierungspartei.
haltung der alten Staatsangehörigkeit. Mehr als 57 Pro-
Vielen Dank.
zent aller Eingebürgerten sind Doppelstaatler, das sind
mehr als 4,5 Millionen Menschen. Es wird überhaupt (Beifall bei der LINKEN)
nicht darüber diskutiert, ob diese Menschen Loyalitäts-
konflikte haben. Ebenso wenig wird darüber diskutiert, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dass in elf EU-Staaten die Situation ähnlich ist. Wenn es Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
nicht Ausdruck eines wirklichen Ausgrenzungswillens gen Christian Ströbele.
wäre, wäre das Ganze zum Lachen, Herr Kollege Mayer.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Wer heute noch dem Prinzip der Einstaatigkeit anhängt, Frau Kollegin, Sie haben uns Eigenlob vorgeworfen.
folgt eher dem Prinzip der Einfältigkeit. Das ist bei Ih- Ich sage Ihnen: Wir haben Lob verdient, obwohl wir
nen aber nichts Neues. 1999 ein Gesetz auf den Weg gebracht haben, das die be-
sagte Optionsregelung enthält, von der wir schon damals
(Beifall bei der LINKEN) wussten, dass sie ein Fehler war.
Ich bin dankbar für die neue Ehrlichkeit in der CDU/ Ich habe dieser Regelung damals zugestimmt, und
CSU-Fraktion. Im Innenausschuss gab es gestern eine zwar deshalb, weil nach der Hessen-Wahl im Jahr 1999
bemerkenswerte Klarstellung des Kollegen Mayer von mehr einfach nicht drin war.
der CDU/CSU-Fraktion. Er bekannte unmissverständ-
lich, dass Mehrfachstaatsangehörigkeiten bei EU-Ange- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hörigen ja kein Problem seien. Zum Problem würden sie und bei der SPD)
aber, wenn es um türkische Staatsangehörigkeiten gehe. Ich stand vor der Frage: Soll ich diesem Gesetz nicht zu-
Ich kann nur sagen: Wir haben verstanden. Sie halten stimmen und damit Hunderttausenden in Deutschland
Menschen, die entweder aus der Türkei eingewandert geborenen Kindern von Migranten die deutsche Staats-
oder die hier geboren und aufgewachsen sind und zufäl- bürgerschaft verweigern, oder soll ich diesem Gesetz in
lig die türkische Staatsangehörigkeit haben, für eine be- Kenntnis dessen zustimmen, dass es Hunderttausenden
sondere Bedrohung und potenzielle Gefahr. Wenn das zugutekommen wird, die damit automatisch die deutsche
nicht rassistisch und fremdenfeindlich ist, was ist es Staatsbürgerschaft erwerben? Bereits damals habe ich
dann? gesagt: Diese Regelung ist im Grunde falsch; wir müs-
(B) (D)
sen sie aufheben, wenn es zum Schwur kommt, also
(Beifall bei der LINKEN – Ingo Wellenreuther etwa zehn Jahre später. Ich halte es nach wie vor für
[CDU/CSU]: Langsam! Langsam!) richtig, dass wir damals diese Entscheidung getroffen
Zum Schluss möchte ich vorwegnehmen – meine haben. Zwingend notwendig ist aber, dass diese Rege-
Kollegin Frau Lötzsch hat es schon gesagt –: Die Linke lung jetzt korrigiert wird.
wird den Gesetzentwürfen von der SPD und den Grünen Lob haben wir verdient, weil wir damit Zehntausen-
zustimmen, und das, obwohl sie unglaubwürdig sind. den von jungen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ermög-
Das gilt insbesondere für den Antrag der SPD. Sie waren licht haben, durch ihre Geburt in Deutschland die deut-
elf Jahre lang pausenlos in der Regierung und haben die sche Staatsbürgerschaft zu erwerben, und wir damit das
Einbürgerungszahlen, die in den letzten Jahren katastro- Dogma gebrochen haben, dass die Staatsbürgerschaft
phal niedrig sind, mit zu verantworten. Aber nicht nur nur über die Blutsverwandtschaft vermittelt werden
das. Sie haben vor noch nicht allzu langer Zeit hier im kann. Die Entscheidung damals war richtig und gut; sie
Bundestag unsere Verbesserungsvorschläge zum Staats- war notwendig. Heute ist es richtig, es endgültig so zu
angehörigkeitsgesetz und zu anderen Themen wie dem regeln, dass es für diese Leute keinerlei Zumutungen
kommunalen Wahlrecht für Drittstaater genauso abge- gibt.
lehnt, wie Sie es gestern im Innenausschuss getan haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erteile
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): ich Kollegen Stephan Mayer.
Ich komme zum Schluss. – Glaubwürdig sind Sie aber
erst dann, wenn Sie unseren Verbesserungsvorschlägen Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
zustimmen und solcherlei Anträge nicht nur vorlegen, Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben meine Äußerungen
wenn Sie in der Opposition sind, – in der gestrigen Sitzung des Innenausschusses erwähnt.
Ich möchte Sie darauf hinweisen und darf Sie bitten, zur
Kenntnis zu nehmen, dass ich türkische Staatsangehörige
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nicht als „Problem“, schon gar nicht als „Bedrohung“ be-
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. zeichnet habe. Ich habe auf folgenden Umstand hinge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16485
Stephan Mayer (Altötting)
(A) wiesen – ich tue das auch hier in aller Deutlichkeit –: Die Die Zahlen sprechen doch eine klare Sprache: In Zei- (C)
doppelte Staatsangehörigkeit von EU-Staatsangehörigen ten des alten Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes
innerhalb der Europäischen Union ist deshalb kein Pro- hatten wir über 140 000 Einbürgerungen im Jahr; mit Ih-
blem, weil es schon aufgrund des EU-Rechts heute so ist, rem Gesetz haben Sie für einen stetigen Rückgang ge-
dass EU-Staatsangehörige in Deutschland auch dann, sorgt. Wir haben jetzt nur noch rund 100 000 Einbürge-
wenn keine doppelte Staatsangehörigkeit besteht, fast rungen im Jahr. Sie müssen doch auch diese Realitäten
alle Rechte haben, die auch Deutschen zustehen. Deshalb anerkennen. Sie dürfen sich nicht nur loben, sondern
ist die Ausreichung der doppelten Staatsangehörigkeit müssen auch einmal Selbstkritik anwenden und sagen:
auch ohne das Gegenseitigkeitsprinzip kein Problem. Wir haben auch Fehler gemacht. –
Ich habe aber mitnichten behauptet, dass türkische (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Staatsangehörige eine „Bedrohung“ für unsere Gesell-
schaft darstellen. Ich muss mich deshalb wirklich in aller Diese Fehler muss man aber irgendwann auch einmal
Entschiedenheit auch insoweit gegen Ihre Äußerungen korrigieren. Wenn Sie diesen Weg gehen würden, wären
wenden, dass Sie mir „rassistische“ Erwägungen unter- Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, um einiges glaub-
stellt haben. Das muss ich in aller Deutlichkeit von mir würdiger.
weisen. Ich habe in meiner Rede darauf hingewiesen: Zu Herrn Mayer muss ich sagen: Herr Mayer, jetzt
Ich bin dankbar und froh, wenn sich türkische Staatsan- können Sie natürlich behaupten, Sie hätten es so nicht
gehörige in Deutschland so verwurzelt fühlen, dass sie gesagt. Aber Sie haben es eigentlich mit Ihren Aussagen
sich um die deutsche Staatsangehörigkeit bemühen und gestern im Innenausschuss so deutlich gemacht. Sie ha-
darum bewerben. Mittlerweile gibt es immerhin schon ben gesagt, dass bei den EU-Mitgliedstaatsangehörigen
über 1 Million türkischstämmige Bürger in Deutschland. die doppelte Staatsangehörigkeit sowieso erlaubt ist und
Ich möchte betonen: Ich bin froh um jeden türkischen Sie da kein Problem sehen, es aber ein Problem wäre,
Staatsangehörigen, der sich in Deutschland integriert hat wenn man jetzt so vielen türkischen Staatsangehörigen
und am Ende des erfolgreichen Integrationsprozesses die auf einmal die deutsche Staatsangehörigkeit unter Hin-
deutsche Staatsangehörigkeit annimmt. nahme einer mehrfachen Staatsangehörigkeit geben
Herzlichen Dank. würde. Insoweit lässt das natürlich die Vermutung zu,
dass Sie bei denen eine Bedrohung sehen – Ihr Popanz
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von vermeintlichen Loyalitätskonflikten –, aber bei de-
neten der FDP) nen, die aus den EU-Mitgliedstaaten kommen, nicht.
Die Zahlen aus Ihrem Bundesland Bayern machen es
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: eigentlich deutlich. Ich habe mir vom Statistischen Bun- (D)
(B) Kollegin Dağdelen, bitte schön. desamt die Einbürgerungsquoten türkischer Staatsange-
höriger, differenziert nach Bundesländern, geben lassen:
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Während sie im Jahr 2010 im Bundesdurchschnitt bei
Zunächst wende ich mich an den Kollegen Ströbele. 1,6 lag, betrug sie in Bayern gerade einmal 1,0. Was aber
Herr Ströbele, es kann sein, dass Sie wieder einmal einen noch viel krasser ist: Während im Bundesdurchschnitt
Abwägungsprozess hatten, wie es bei der Grünen-Frak- 27,7 Prozent der türkischen Staatsangehörigen ihre alte
tion in den letzten Jahren – auch bei den Themen Krieg Staatsangehörigkeit nach der Einbürgerung behalten
und Frieden – oftmals der Fall war, konnten, waren es in Bayern lächerliche 3,7 Prozent,
also 78 Personen. Das heißt, Bayern hat eine rigide Pra-
(Zuruf von der SPD: Das habt ihr auch gar xis bei der Frage, was es heißt, wenn Menschen ihre alte
nicht nötig! – Britta Haßelmann [BÜND- Staatsangehörigkeit behalten wollen – besonders bei tür-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr stimmt doch kischen Staatsangehörigen.
gleich zu! Macht doch nicht so eine Welle!)
Ihre Ausführungen gestern im Innenausschuss bestä-
und Sie sich vielleicht gezwungen sahen, zwischen ei- tigen wieder einmal mehr, dass Sie ein Problem bei den
nem größeren und einem kleineren Übel zu entscheiden. Türkinnen und Türken sehen.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN)
NEN]: Was Sie da reden, passt doch nicht!)
Das Problem ist doch Folgendes: Die Migrantinnenorga- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nisation, in deren Geschäftsführung ich damals war und Das Wort hat nun Memet Kilic für die Fraktion Bünd-
noch heute bin, hat diese Entscheidung damals, wie viele nis 90/Die Grünen.
andere Organisationen auch, als einen faulen Kompro-
miss bezeichnet; aber Sie wenden nur Lob und keinerlei Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Selbstkritik an. Sie haben mit Ihrem Gesetz dafür ge-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
sorgt, dass Zehntausende Menschen die deutsche Staats-
meinem Kollegen Hans-Christian Ströbele dankbar, dass
angehörigkeit verloren haben.
er einiges richtiggestellt hat.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Liebe Frau Dağdelen, Sie haben gesagt, dass Sie un-
Sie haben mit dafür gesorgt, dass sich junge Menschen seren Gesetzentwürfen zustimmen werden, obwohl diese
für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen. unglaubwürdig seien. Das wundert mich bei Ihrer Partei
16486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Memet Kilic
(A) nicht. Eine Partei, die einfache Utopien zum Parteipro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
gramm erklärt, kann auch Unglaubwürdigem zustim- sowie bei Abgeordneten der SPD)
men; das ist kein Widerspruch für Sie, Frau Dağdelen.
Die FDP hat gefragt, warum wir jetzt die Abschaf-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fung des Optionszwangs fordern, obwohl für die jungen
sowie bei Abgeordneten der SPD) Menschen die gesetzlichen Regelungen gerade erst rele-
vant werden. 50 000 junge Menschen mit Ausbürgerung
Mich wundert aber, dass die Regierungsfraktionen die zu konfrontieren und dann erst über den Sinn dieser Re-
Frage gestellt haben, warum wir unsere Gesetzentwürfe gelung zu entscheiden, ist keine fürsorgliche liberale
zur Erleichterung der Einbürgerung ausgerechnet jetzt Position, liebe FDP.
ins Plenum einbringen. Warum nicht? Das größte Einbür-
gerungspotenzial liegt bei den türkeistämmigen Einwan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
derern. Wir haben gerade vor einer Woche das 50-jährige und bei der SPD – Zuruf von der FDP: Herr
Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei Schröder hat es gerade erklärt!)
und Deutschland gewürdigt. Auch die Regierungspar- Wir wollen nicht, dass sich viele junge Menschen zwi-
teien haben sich für die Verdienste dieser Menschen, ins- schen den beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden
besondere derjenigen der ersten Generation, bedankt. müssen, mit denen sie groß geworden sind. Herr Stephan
Meine Oma pflegte immer zu sagen: Was nützt mir eine Mayer von der CSU und Herr Schröder haben im Innen-
trockene Danksagung? Wenn wir uns bedanken, muss ausschuss angebliche Loyalitätskonflikte von Doppel-
wenigstens ein bisschen Saft dabei sein. – Meine Oma staatlern als Gegenargument vorgeschoben und meinten,
hatte recht, meine Damen und Herren. dass ein Mensch nicht Diener zweier Herren sein könne.
Dies zeugt von einem veralteten Staatsverständnis. Indi-
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ viduen sind keine Untertanen der Staaten, sondern ste-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der hen als freie Bürger in einem Rechtsverhältnis zu dem
SPD) Souverän – mit allen Rechten und Pflichten.
Herr Kauder, zur Aktualität Ihrer Inhalte beim Staats- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
angehörigkeitsrecht: Diese sind etwas älter als meine sowie bei Abgeordneten der SPD)
Oma.
Unionsbürger können Doppelstaatler sein. Sie müssen
(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- also erklären, warum Menschen Diener von 27 Staaten
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) sein können, aber nicht von zwei. Diese Erklärung sind
Sie uns schuldig.
Deshalb sollten Sie überdenken, ob Sie Ihre Inhalte nicht
(B) ändern wollen. Gerade Einwanderer der ersten Genera- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (D)
tion besitzen bekanntermaßen lückenhafte Sprachkennt- DIE GRÜNEN)
nisse, und ihre Rente reicht trotz jahrzehntelanger Arbeit Ich habe gestern im Innenausschuss vorsichtig davor
oftmals nicht ganz aus. Ausgerechnet diese Menschen gewarnt, diese Argumentation auch angesichts der zahl-
faktisch von der Einbürgerung auszuschließen, ist keine reichen binationalen Ehen nicht zu verwenden. Mit die-
Danksagung, sondern eher eine Verhöhnung dieser Ge- ser Argumentation diskreditieren sie die binationalen
neration. Ehen und unterstellen den daraus hervorgegangenen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kindern, dass sie gegenüber Deutschland illoyal wären.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Das ist hirnrissig und ideologisch gesehen verheerend
LINKEN) separatistisch.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Daher wollen wir mit unserem Gesetzentwurf die Ein-
und bei der SPD)
bürgerung insbesondere für Rentnerinnen und Rentner
sowie für ältere Menschen erleichtern, indem wir uns Mehrstaatigkeit ist weder eine Ausnahme noch ein
mit Kenntnissen der gesprochenen Sprache begnügen Tabu, sie ist vielmehr eine Lebenswirklichkeit im Ein-
und die Inanspruchnahme von Grundsicherung im Alter wanderungsland Deutschland. Lassen Sie uns die Ein-
für unschädlich erklären. wanderinnen und Einwanderer nicht ausschließen, son-
dern sie als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger
Wenn wir die Großmütter und Großväter aufgrund feh- gewinnen.
lender deutscher Sprachkenntnisse oder fehlender finan-
zieller Kraft von der Einbürgerung ausschließen, bürgern Vielen herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kolle-
wir auch die Enkelkinder emotional aus. Das ist nicht gut gen.
für unser Land. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
und bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Wir müssen den Enkelkindern die Möglichkeit geben, Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile
dass auch sie sagen können, ihre Großeltern seien eben- ich Kollegen Ingo Wellenreuther für die CDU/CSU das
falls deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gewe- Wort.
sen. Das ist gut für unser Land, liebe Freundinnen und
Freunde. Das müssen wir tun. (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16487

(A) Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): behalten will. Falls es sich in diesen fünf Jahren zwi- (C)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schen dem vollendeten 18. und 23. Lebensjahr nicht ent-
Kollegen! Zur Debatte stehen heute Gesetzentwürfe von scheidet, geht die deutsche Staatsangehörigkeit verloren,
SPD und Grünen sowie ein Antrag der Linken über eine und zwar automatisch. Kein Mensch verlangt dabei, per-
Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts. Um es gleich sönliche Verbindungen zu anderen Ländern oder famili-
vorweg zu sagen und damit dem Kollegen Mayer recht äre Wurzeln zu kappen. Vielmehr geht es bei der Op-
zu geben: Sie kommen mit Ihren Anträgen wieder ein- tionspflicht um die Entscheidung, welchem Land man
mal zur Unzeit; denn wir haben im Koalitionsvertrag be- mit all seinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten
schlossen, das Optionsmodell bzw. das Staatsangehörig- zugehörig sein will.
keitsrecht generell grundlegend zu überprüfen. Das Im Zuge des Optionsmodells konnten durch eine
nehmen wir ernst. Wir lassen derzeit umfassende wis- Übergangsregelung auch Kinder, die am 1. Januar 2000
senschaftliche Untersuchungen dazu durchführen, deren das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, auf
Ergebnisse im ersten Halbjahr des kommenden Jahres zu Antrag eingebürgert werden. 50 000 haben davon Ge-
erwarten sind. Damit ist klar: Sie wollen heute mit dem brauch gemacht. Die ersten dieser Kinder wurden somit
Thema „doppelte Staatsbürgerschaft“ den Bundestag im Jahr 2008 18 Jahre alt und müssen sich deshalb bis
wieder einmal zur Bühne für eine Schauveranstaltung spätestens 2013 entscheiden. In den kommenden Jahren
machen. Das machen wir nicht mit. bis 2017 erreichen jährlich lediglich zwischen rund
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 4 000 und 6 500 Jugendliche aus der Übergangsregelung
neten der FDP) das Optionsalter. Ab dem Jahr 2018 werden es circa
40 000 Jugendliche pro Jahr sein.
Den Gesetzentwürfen der SPD und der Grünen ist un-
ter anderem gemeinsam, dass nicht nur das sogenannte Im Koalitionsvertrag unserer christlich-liberalen Ko-
Optionsmodell abgeschafft werden soll, sondern auch alition haben wir festgehalten, dass wir eine nennens-
das Prinzip, mehrfache Staatsangehörigkeit zu vermei- werte Anzahl der ersten Optionsfälle auswerten und die
den, aufgegeben werden soll. Auf beide Punkte werde Ergebnisse anschließend sowohl in verfahrenstechni-
ich gleich eingehen. scher als auch in materieller Hinsicht auf möglichen Ver-
besserungsbedarf hin überprüfen wollen. Dazu brauchen
Zuvor noch einige Worte zu dem noch viel weiterge- wir über die tatsächlichen Fälle Informationen, die von
henden Antrag der Linken: Die Linken wollen Einbürge- den Ländern bis zum 31. Januar 2012 erbeten wurden.
rungen umfassend erleichtern und haben vor, die Staats- Außerdem ist uns wichtig, zu erfahren, wie die Betroffe-
angehörigkeit geradezu mit der Gießkanne zu verteilen. nen selbst die Sache sehen und welche Entscheidung sie
Auf ausreichende Deutschkenntnisse oder Kenntnisse im Rahmen der Optionspflicht treffen. Genau dies unter-
(B) über unseren Staatsaufbau, unsere Rechts- und Gesell- sucht die Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migra- (D)
schaftsordnung, unsere Werte oder unsere Geschichte tion und Flüchtlinge in umfassenden Studien. Die Ergeb-
will die Linke verzichten und eine Einbürgerung nicht nisse der Evaluierungen und Studien werden erst in der
mehr davon abhängig machen. Wesentliche Grundbedin- ersten Hälfte des Jahres 2012 vorliegen. Schon allein
gungen, um ein Zugehörigkeitsgefühl entstehen zu las- deshalb sind die vorliegenden Gesetzentwürfe heute ab-
sen, fehlen somit. Selbst nicht unerheblich straffälligen zulehnen.
Ausländern oder Ausländern, die sich jahrelang unrecht-
mäßig in Deutschland aufgehalten haben, soll der deut- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sche Pass verliehen werden. Das Einzige, was die Linke
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
damit befördert, sind Parallelgesellschaften.
Kollegin Özoğuz?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ingo Wellenreuther (CDU/CSU):
Insgesamt ist das unseres Erachtens ein integrationspoli-
tischer Blindflug. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat für Nein, in Anbetracht der vorangeschrittenen Zeit
die Linke ganz offensichtlich weder einen rechtlichen komme ich zum Ende meiner Rede.
noch einen emotionalen Wert. Ihre Forderungen offenba- Parallel dazu überprüfen wir generell das Einbürge-
ren nur eines: Die Linke hat ein gestörtes Verhältnis zur rungsrecht und das Einbürgerungsverfahren. Sehr erfreu-
nationalen Identifikation. Eine darüber hinausgehende lich in diesem Zusammenhang ist übrigens, dass die
Auseinandersetzung mit Ihrem Antrag können Sie daher Zahl der Einbürgerungen im letzten Jahr um 5,6 Prozent
von uns nicht erwarten. im Vergleich zum Vorjahr angestiegen ist, bei einem
leichten Rückgang des Anteils der Einbürgerungen mit
Ich möchte zunächst Ausführungen zur Optionspflicht
fortbestehender Staatsangehörigkeit.
machen. 1999 wurde das Staatsangehörigkeitsrecht geän-
dert. Seitdem kann man die deutsche Staatsangehörigkeit Wir werben dafür, dass möglichst viele, die die Ein-
nicht nur durch Abstammung oder Einbürgerung, son- bürgerungsvoraussetzungen erfüllen, unsere Staatsbür-
dern auch durch Geburt erwerben. Die damals einge- gerschaft annehmen – Herr Kollege Mayer hat bereits
führte Optionspflicht beinhaltet, dass sich ein Kind mit darauf hingewiesen –; denn dadurch wird die Zugehörig-
Eintritt der Volljährigkeit bis zum 23. Lebensjahr ent- keit zu unserem Land und die wechselseitige Verantwor-
scheiden muss, ob es die deutsche Staatsangehörigkeit tung seiner Bürger am stärksten ausgedrückt. Wir wollen
oder aber die ausländische Staatsbürgerschaft eines sei- aber – darauf kommt es auch mir an – gut integrierte
ner Elternteile, die es durch Abstammung erworben hat, Ausländer, die Deutschland als ihre Heimat empfinden
16488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Ingo Wellenreuther
(A) und sich einbürgern lassen, weil sie Deutsche werden sagt. Das beabsichtigen die Antragsteller aber. Damit (C)
wollen, und nicht, weil sie unter Beibehaltung ihrer würde das Pferd von hinten aufgezäumt; denn die Aus-
Staatsbürgerschaft lediglich die Vorteile einer deutschen händigung eines Passes muss am Ende und darf nicht am
Staatsbürgerschaft zusätzlich in Anspruch nehmen wol- Anfang eines Integrationsprozesses stehen. Integration
len. Das ist ein innerer Prozess, den der Staat fördern entscheidet sich vielmehr im konkreten Zusammenleben
muss. Das ist nicht einfach. Das ist mühsam. Wir sind und nicht formal durch eine doppelte Staatsangehörig-
der Auffassung, dass SPD und Grüne es sich mit der ge- keit. Das heißt, Integration kann nicht mit Papieren aus-
nerellen Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft viel gehändigt werden. Integration ist vielmehr eine Sache
zu einfach machen. Wir meinen, dass sie integrations- des Kopfes und des Herzens.
politisch damit auf dem Holzweg sind.
Worauf kommt es für eine gelungene Integration
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wirklich an? Höchste Priorität muss haben – das vertre-
ten CDU und CSU –, dass die hier lebenden Ausländer
SPD und Grüne wollen mit ihren Entwürfen außer-
die deutsche Sprache lernen und beherrschen. Das ist der
dem das völkerrechtlich anerkannte, im deutschen
Schlüssel für eine gute Bildung und für eine gute Ausbil-
Staatsangehörigkeitsrecht geltende Prinzip der Vermei-
dung. Dies wiederum bildet die Grundlage für berufliche
dung von Mehrstaatigkeit aufheben. Dies passt im Übri-
und gesellschaftliche Teilhabe. Gerade weil wir erkannt
gen genau zu dem, was Ministerpräsident Erdogan bei
haben, dass Sprachförderung an erster Stelle steht, haben
seinem Besuch in Deutschland vor wenigen Tagen ge-
wir seit dem Jahr 2005 die Integrationskurse, Sprach-
sagt hat. Er hat sich nämlich für die Ausweitung der dop-
lehrgänge, Orientierungs- und Alphabetisierungskurse
pelten Staatsbürgerschaft ausgesprochen. Dazu sage ich:
für Migranten intensiviert und dafür viel Geld in die
Das ist mit uns, mit der Union, nicht zu machen. Auch
Hand genommen.
wenn es in der Praxis zahlreiche Ausnahmen gibt, wol-
len wir den Grundsatz beibehalten, mehrere Staatsange- (Aydan Özoğuz [SPD]: Sehen Sie, dafür feiern
hörigkeiten zu vermeiden. sie sich!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Generell hat die CDU/CSU-geführte Bundesregie-
rung seit 2005 das Thema Integration zur Schlüsselauf-
Dafür sprechen, wie bereits angesprochen, mehrere gabe erkoren und zahlreiche konkrete Maßnahmen er-
Gründe, rechtliche, den einzelnen Menschen betreffende griffen. Sie alle kennen diese Maßnahmen, aber ich rufe
und politische. sie ganz kurz in Erinnerung. Es sind die Programme für
Der erste Punkt ist: Mehrere Staatsangehörigkeiten Schulverweigerer, die zusätzlichen Ausbildungsplätze
führen natürlich zu staats- und völkerrechtlichen Proble- für Jugendliche mit Migrationshintergrund, eine verbes-
(B) men. serte Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse, (D)
die Einführung einer Integrationsbeauftragten im Bun-
(Aydan Özoğuz [SPD]: Wo leben Sie eigent- deskanzleramt, die Schaffung eines Integrationsplans
lich?) und die Gründung der Deutschen Islam Konferenz im
Auch wenn diese zu einem großen Teil durch internatio- Jahre 2006 durch Minister Schäuble.
nale Übereinkommen theoretisch lösbar sind, kann es Die vorliegenden Gesetzentwürfe von SPD und Grü-
praktisch zu Konflikten kommen, was den diplomati- nen sowie der Antrag der Linken sind ein großer Rück-
schen Schutz, das Steuerrecht, das Strafrecht, das inter- schritt bei den umfassenden Bemühungen um eine ge-
nationale Privatrecht oder die Ausübung politischer lungene Integration. Deshalb lehnen wir sie entschieden
Rechte angeht. Diese Schwierigkeiten sind bei nur einer ab.
Staatsangehörigkeit nicht vorhanden.
Danke schön.
(Aydan Özoğuz [SPD]: Sie sind doch Jurist!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Weiterhin sprechen Gründe, die in der Person des neten der FDP)
jeweils Betroffenen liegen, gegen eine generelle Zulas-
sung der Mehrstaatigkeit. Viele Menschen haben ins-
besondere aus familiären Gründen persönliche Verbin- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dungen zu unterschiedlichen Ländern. Es geht in keiner Das Wort zu einer Kurzintervention erhält Kollege
Weise darum, diese einzuschränken. Es ist aber unbe- Omid Nouripour.
streitbar, dass die staatsbürgerliche Zugehörigkeit eines
Menschen zu seinem Land, zu seiner Kultur und Werte- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ordnung zu einer besonderen emotionalen Bindung Herr Kollege, ich habe mich zu Wort gemeldet, weil
führt. Zur Vermeidung von Konflikten sollte im Grund- ich von dem, was Sie beschrieben haben, persönlich be-
satz auf eine solche Bindung zu mehreren Staaten ver- troffen bin. Ich bin so etwas wie ein Kronjuwel der Inte-
zichtet werden. gration.
(Aydan Özoğuz [SPD]: Sie können sich das (Lachen des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr]
nur nicht vorstellen! Das ist der Punkt!) [FDP])
Schließlich ist es politisch der vollkommen falsche Ich bin im Deutschen Bundestag im Verteidigungsaus-
Ansatz, mit der Aushändigung eines Passes die Integra- schuss, also für die Verteidigung des Vaterlandes zustän-
tion voranbringen zu wollen; auch das wurde schon ge- dig. Mein Kind ist blond. Ich habe zwei Pässe. Ich habe
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16489
Omid Nouripour
(A) den iranischen Pass, den ich gar nicht abgeben kann, und Die obligate Frage: Haben alle Mitglieder des Hauses (C)
ich habe den deutschen Pass. Ich habe keinerlei Schwie- ihre Stimme abgegeben? – Ich höre keinen Protest. Dann
rigkeiten, das mit mir zu vereinbaren. Ich habe keinerlei ist das offensichtlich erfolgt.
Schwierigkeiten, zu diesem Land loyal zu sein. Ich sitze
im Deutschen Bundestag und vertrete die Menschen in Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die
Deutschland. Wenn ich zu Hause bin, gibt es Momente, Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
in denen ich eine andere Identität habe. lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich verstehe schlicht nicht, wie Sie darauf kommen,
hier eine Loyalitätsparanoia aufzubauen. Wir sind immer noch bei Tagesordnungspunkt 4.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Ände-
LINKEN) rung des Staatsangehörigkeitsrechts. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
Sie greifen ein einziges Merkmal von komplexen Per- lung auf Drucksache 17/7675, den Gesetzentwurf der
sönlichkeiten auf und reduzieren die Menschen genau Fraktion der Grünen auf Drucksache 17/3411 abzuleh-
darauf. Sie werden dem menschlichen Wesen damit nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
nicht gerecht. Sie werden dem Dienst, den auch die men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
Menschen mit mehreren Staatsangehörigkeiten in die- gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter
sem Land leisten, nicht gerecht. Sie werden vor allem Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die
der Loyalität von Hunderten, von Tausenden von Men- Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit
schen, die in diesem Land schuften, Steuern zahlen etc. entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
pp. nicht gerecht. Die Menschen haben die gleichen tung.
Pflichten, sie sollten daher auch die gleichen Rechte ha-
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
ben.
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7675
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Drucksache 17/2351 mit dem Titel „Ausgrenzung been-
LINKEN) den – Einbürgerungen umfassend erleichtern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-
(B) Kollege Wellenreuther, wollen Sie reagieren? – Bitte gen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD (D)
schön. und Grünen angenommen.
(Aydan Özoğuz [SPD]: Verzicht wäre besser! – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ordnungspunkt 34 a bis n sowie den Zusatzpunkt 3 a bis c
NEN]: Sind Sie auch im Verteidigungsaus- auf:
schuss?)
34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): führung der Internationalen Gesundheitsvor-
Herr Kollege Nouripour, ich beglückwünsche Sie so- schriften (2005) und zur Änderung weiterer
wohl zu Ihrer familiären als auch zu Ihrer staatsbürgerli- Gesetze
chen Situation.
– Drucksache 17/7576 –
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Überweisungsvorschlag:
DIE GRÜNEN) Ausschuss für Gesundheit (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache. b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- kommen vom 13. Februar 2007 zwischen der
wurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Staatsange- Regierung der Bundesrepublik Deutschland
hörigkeitsrechts. Der Innenausschuss empfiehlt unter und der Regierung des Staates Kuwait über
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
che 17/7675, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/773 abzulehnen. – Drucksache 17/7601 –
Überweisungsvorschlag:
Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlan- Innenausschuss (f)
gen der Fraktion der SPD namentlich ab. Ich bitte die Auswärtiger Ausschuss
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Rechtsausschuss
Plätze einzunehmen. – Ist das erfolgt? – Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung. 1) Ergebnis Seite 16493 D
16490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- h) Beratung des Antrags der Abgeordneten (C)
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
kommen vom 22. Februar 2009 zwischen der weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Regierung der Bundesrepublik Deutschland NIS 90/DIE GRÜNEN
und der Regierung des Staates Katar über die
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich Einfuhr und Verwendung von Asbest und as-
besthaltigen Produkten in Deutschland umfas-
– Drucksache 17/7602 – send verbieten
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f) – Drucksache 17/7478 –
Auswärtiger Ausschuss Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Verbraucherschutz
kommen vom 10. März 2009 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
der Regierung der Republik Kroatien über die Dr. Anton Hofreiter, Ekin Deligöz, Hans-Josef
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Or- Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
ganisierten und der schweren Kriminalität BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 17/7603 – Bau der dritten Start- und Landebahn am
Überweisungsvorschlag: Flughafen München Erdinger Moos aussetzen –
Innenausschuss (f) Keine unumkehrbaren Tatsachen schaffen
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss – Drucksache 17/7479 –
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
kommen vom 27. Mai 2009 zwischen der Re- Ausschuss für Tourismus
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung des Königreichs Saudi-Arabien j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbe- Müller-Gemmeke, Dr. Wolfgang Strengmann-
reich Kuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) – Drucksache 17/7604 – (D)
Überweisungsvorschlag:
Leiharbeit und Werkverträge abgrenzen –
Innenausschuss (f) Kontrollen verstärken
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss – Drucksache 17/7482 –
Überweisungsvorschlag:
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Rechtsausschuss
kommen vom 14. April 2010 zwischen der Re- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
gierung der Bundesrepublik Deutschland und k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrej
der Regierung der Republik Kosovo über die Hunko, Dr. Diether Dehm, Thomas Nord, weite-
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
– Drucksache 17/7605 –
Die Europäische Sozialcharta unverzüglich
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
umsetzen
Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 17/7484 –
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
kommen vom 30. August 2010 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland Höger, Paul Schäfer (Köln), Harald Koch, weite-
und dem Ministerkabinett der Ukraine über rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
die Zusammenarbeit im Bereich der Bekämp- Konversion von Bundeswehrstandorten als
fung der Organisierten Kriminalität, des Ter- Entwicklungschance für Kommunen
rorismus und anderer Straftaten von erhebli-
cher Bedeutung – Drucksache 17/7504 –
Überweisungsvorschlag:
– Drucksache 17/7606 – Verteidigungsausschuss (f)
Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Innenausschuss (f) Finanzausschuss
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16491
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (C)
Ausschuss für Tourismus Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Dietmar ten Verfahren ohne Debatte.
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
Die Billigkeitsrichtlinie zu den Umstellungs- überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/7484 – das
kosten aus der Umwidmung von Frequenzen betrifft Tagesordnungspunkt 34 k – soll federführend
den Realitäten anpassen beim Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werden.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
– Drucksache 17/7655 –
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a bis k sowie
Innenausschuss Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-
hen ist.
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Tagesordnungspunkt 35 a:
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
NIS 90/DIE GRÜNEN von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Qualität der Integrationskurse verbessern eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Fe-
bruar 2011 zwischen der Bundesrepublik
– Drucksache 17/7639 – Deutschland und dem Königreich Spanien zur
Überweisungsvorschlag: Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
Innenausschuss Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
ZP 3a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Vermögen
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Neuregelung energie- – Drucksache 17/7318 –
wirtschaftsrechtlicher Vorschriften
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
– Drucksache 17/7632 – schusses (7. Ausschuss)
(B) (D)
Überweisungsvorschlag: – Drucksache 17/7554 –
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Berichterstattung:
Verbraucherschutz Abgeordnete Manfred Kolbe
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Lothar Binding (Heidelberg)
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Die Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer empfehlung auf Drucksache 17/7554, den Gesetzent-
Abgeordneter und der Fraktion der SPD wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7318 an-
Leitlinien für Transparenz und Umweltver- zunehmen.
träglichkeit bei der Förderung von unkonven- Zweite Beratung
tionellem Erdgas
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
– Drucksache 17/7612 – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Überweisungsvorschlag: Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) wurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktio-
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
nen und der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung angenommen.
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Tagesordnungspunkt 35 b:

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Marco gierung eingebrachten Entwurfs eines … Straf-
Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion rechtsänderungsgesetzes zur Umsetzung der
Richtlinie des Europäischen Parlaments und
der SPD
des Rates über den strafrechtlichen Schutz der
Monitoring für versenkte Atommüllfässer im Umwelt
Atlantik sicherstellen und Maßnahmen gegen
– Drucksache 17/5391 –
weitere Strahlenexposition einleiten
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
– Drucksache 17/7633 – schusses (6. Ausschuss)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) – Drucksache 17/7674 –
16492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 35 d: (C)
Abgeordnete Ansgar Heveling
Ingo Egloff Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Jörg van Essen richts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zu
Halina Wawzyniak dem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert,
Jerzy Montag Eberhard Gienger, Stephan Mayer (Altötting),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim
empfehlung auf Drucksache 17/7674, den Gesetzent- Günther (Plauen), Dr. Lutz Knopek, Gisela Piltz,
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5391 in weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- Klima- und Umweltschutz im und durch den
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- Sport stärken – Für eine verantwortungsvolle
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in Sportentwicklung in Deutschland
zweiter Beratung mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD, – Drucksachen 17/5779, 17/7608 –
FDP und Grünen bei Enthaltung der Linken angenom-
men. Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Dritte Beratung Martin Gerster
Dr. Lutz Knopek
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Katrin Kunert
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Viola von Cramon-Taubadel
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor Der Sportausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
angenommen. empfehlung auf Drucksache 17/7608, den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
Tagesordnungspunkt 35 c: 17/5779 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-
zur Änderung des EG-Verbraucherschutz- den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD
durchsetzungsgesetzes und zur Änderung des bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen.
Unterlassungsklagengesetzes Tagesordnungspunkt 35 e:
(B) (D)
– Drucksache 17/7235 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-
cherschutz (10. Ausschuss) fassungsgericht 2 BvE 8/11
– Drucksache 17/7672 – – Drucksache 17/7668 –
Berichterstattung: Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
Abgeordnete Mechthild Heil empfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzuge-
Elvira Drobinski-Weiß ben und den Präsidenten zu bitten, Rechtsanwalt Profes-
Dr. Erik Schweickert sor Dr. Marcel Kaufmann als Prozessbevollmächtigten
Caren Lay zu bestellen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –
Nicole Maisch Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und von SPD
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/7672, den Gesetzentwurf der Der Tagesordnungspunkt 35 f bis k betrifft die Be-
Bundesregierung auf Drucksache 17/7235 anzunehmen. schlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Tagesordnungspunkt 35 f:
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Beratung einstimmig angenommen. ausschusses (2. Ausschuss)
Dritte Beratung Sammelübersicht 331 zu Petitionen
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 17/7492 (neu) –
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
wurf ist in dritter Beratung ebenfalls einstimmig ange- tungen? – Die Sammelübersicht 331 ist einstimmig an-
nommen. genommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16493
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Tagesordnungspunkt 35 g: Tagesordnungspunkt 35 k: (C)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 332 zu Petitionen Sammelübersicht 336 zu Petitionen
– Drucksache 17/7493 – – Drucksache 17/7497 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 332 ist mit den Stimmen tungen? – Die Sammelübersicht 336 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen bei Enthaltung der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
der Linken angenommen. tionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 h:
Zusatzpunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Sammelübersicht 333 zu Petitionen Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Daniela Wagner, Elisabeth
– Drucksache 17/7494 –
Scharfenberg, Tabea Rößner, weiterer Abgeord-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tungen? – Die Sammelübersicht 333 ist mit den Stimmen NEN
von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen die Stim-
men der Linken angenommen. Der älter werdenden Gesellschaft gerecht wer-
den – Barrieren in Wohnungen und im Wohn-
Tagesordnungspunkt 35 i: umfeld abbauen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksachen 17/7188, 17/7630 –
ausschusses (2. Ausschuss)
Berichterstattung:
Sammelübersicht 334 zu Petitionen Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara)
– Drucksache 17/7495 – Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Wer stimmt lung auf Drucksache 17/7630, den Antrag der Fraktion
dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 334 Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7188 abzu-
(B) ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP ge- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – (D)
gen die Stimmen von Linken und Grünen angenommen. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
Tagesordnungspunkt 35 j: fraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthal-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- tung von SPD und Linken angenommen.
ausschusses (2. Ausschuss)
Bevor wir zur Aktuellen Stunde kommen, will ich das
Sammelübersicht 335 zu Petitionen von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Ent-
– Drucksache 17/7496 –
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörig-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- keitsrechts, Drucksachen 17/773 und 17/7675, mitteilen:
tungen? – Die Sammelübersicht 335 ist mit den Stimmen abgegebene Stimmen 587. Mit Ja haben gestimmt 278,
von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen mit Nein haben gestimmt 308, Enthaltungen 1. Der Ge-
von SPD und Linken angenommen. setzentwurf ist damit abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis Doris Barnett Edelgard Bulmahn Karin Evers-Meyer


Abgegebene Stimmen: 587; Dr. Hans-Peter Bartels Marco Bülow Elke Ferner
davon Klaus Barthel Ulla Burchardt Gabriele Fograscher
ja: 278 Sören Bartol Martin Burkert Dr. Edgar Franke
Bärbel Bas Petra Crone Dagmar Freitag
nein: 308
Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dr. Peter Danckert Michael Gerdes
enthalten: 1
Dirk Becker Martin Dörmann Martin Gerster
Uwe Beckmeyer Elvira Drobinski-Weiß Iris Gleicke
Ja Lothar Binding (Heidelberg) Garrelt Duin Günter Gloser
Gerd Bollmann Sebastian Edathy Ulrike Gottschalck
SPD Klaus Brandner Ingo Egloff Angelika Graf (Rosenheim)
Ingrid Arndt-Brauer Willi Brase Siegmund Ehrmann Kerstin Griese
Rainer Arnold Bernhard Brinkmann Dr. h. c. Gernot Erler Michael Groschek
Heinz-Joachim Barchmann (Hildesheim) Petra Ernstberger Michael Groß
16494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Wolfgang Gunkel Werner Schieder (Weiden) Ralph Lenkert Oliver Krischer (C)
Hans-Joachim Hacker Ulla Schmidt (Aachen) Michael Leutert Agnes Krumwiede
Bettina Hagedorn Silvia Schmidt (Eisleben) Stefan Liebich Fritz Kuhn
Klaus Hagemann Carsten Schneider (Erfurt) Ulla Lötzer Stephan Kühn
Michael Hartmann Ottmar Schreiner Dr. Gesine Lötzsch Renate Künast
(Wackernheim) Swen Schulz (Spandau) Thomas Lutze Markus Kurth
Hubertus Heil (Peine) Ewald Schurer Ulrich Maurer Undine Kurth (Quedlinburg)
Rolf Hempelmann Frank Schwabe Dorothée Menzner Monika Lazar
Dr. Barbara Hendricks Dr. Martin Schwanholz Cornelia Möhring Dr. Tobias Lindner
Gustav Herzog Rolf Schwanitz Kornelia Möller Nicole Maisch
Gabriele Hiller-Ohm Stefan Schwartze Niema Movassat Agnes Malczak
Petra Hinz (Essen) Rita Schwarzelühr-Sutter Wolfgang Nešković Jerzy Montag
Frank Hofmann (Volkach) Dr. Carsten Sieling Thomas Nord Kerstin Müller (Köln)
Dr. Eva Högl Sonja Steffen Petra Pau Beate Müller-Gemmeke
Christel Humme Peer Steinbrück Jens Petermann Ingrid Nestle
Josip Juratovic Dr. Frank-Walter Steinmeier Richard Pitterle Dr. Konstantin von Notz
Oliver Kaczmarek Christoph Strässer Yvonne Ploetz Omid Nouripour
Johannes Kahrs Kerstin Tack Ingrid Remmers Friedrich Ostendorff
Ulrich Kelber Dr. h. c. Wolfgang Thierse Paul Schäfer (Köln) Dr. Hermann E. Ott
Lars Klingbeil Franz Thönnes Michael Schlecht Lisa Paus
Dr. Bärbel Kofler Wolfgang Tiefensee Dr. Ilja Seifert Brigitte Pothmer
Daniela Kolbe (Leipzig) Rüdiger Veit Kathrin Senger-Schäfer Tabea Rößner
Fritz Rudolf Körper Ute Vogt Raju Sharma Claudia Roth (Augsburg)
Anette Kramme Dr. Marlies Volkmer Dr. Petra Sitte Krista Sager
Nicolette Kressl Andrea Wicklein Kersten Steinke Manuel Sarrazin
Angelika Krüger-Leißner Heidemarie Wieczorek-Zeul Sabine Stüber Elisabeth Scharfenberg
Ute Kumpf Dr. Dieter Wiefelspütz Alexander Süßmair Christine Scheel
Christine Lambrecht Uta Zapf Dr. Kirsten Tackmann Dr. Gerhard Schick
Christian Lange (Backnang) Dagmar Ziegler Frank Tempel Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Karl Lauterbach Manfred Zöllmer Dr. Axel Troost Dorothea Steiner
Burkhard Lischka Brigitte Zypries Alexander Ulrich Dr. Wolfgang Strengmann-
Gabriele Lösekrug-Möller Kathrin Vogler Kuhn
Kirsten Lühmann DIE LINKE Johanna Voß Hans-Christian Ströbele
Sahra Wagenknecht Dr. Harald Terpe
Caren Marks Jan van Aken
Halina Wawzyniak Markus Tressel
(B) Katja Mast Agnes Alpers (D)
Harald Weinberg Jürgen Trittin
Hilde Mattheis Dr. Dietmar Bartsch
Katrin Werner Daniela Wagner
Petra Merkel (Berlin) Herbert Behrens
Sabine Zimmermann Dr. Valerie Wilms
Ullrich Meßmer Karin Binder Josef Philip Winkler
Dr. Matthias Miersch Matthias W. Birkwald
Franz Müntefering BÜNDNIS 90/
Heidrun Bluhm
Dr. Rolf Mützenich DIE GRÜNEN Nein
Steffen Bockhahn
Andrea Nahles Christine Buchholz Kerstin Andreae
Dietmar Nietan Eva Bulling-Schröter Volker Beck (Köln) CDU/CSU
Manfred Nink Dr. Martina Bunge Cornelia Behm Ilse Aigner
Thomas Oppermann Roland Claus Birgitt Bender Peter Altmaier
Holger Ortel Sevim Dağdelen Viola von Cramon-Taubadel Peter Aumer
Aydan Özoğuz Dr. Diether Dehm Ekin Deligöz Dorothee Bär
Heinz Paula Heidrun Dittrich Katja Dörner Thomas Bareiß
Johannes Pflug Werner Dreibus Harald Ebner Norbert Barthle
Joachim Poß Dr. Dagmar Enkelmann Hans-Josef Fell Günter Baumann
Dr. Wilhelm Priesmeier Klaus Ernst Dr. Thomas Gambke Ernst-Reinhard Beck
Florian Pronold Wolfgang Gehrcke Kai Gehring (Reutlingen)
Dr. Sascha Raabe Nicole Gohlke Katrin Göring-Eckardt Manfred Behrens (Börde)
Mechthild Rawert Diana Golze Britta Haßelmann Veronika Bellmann
Stefan Rebmann Annette Groth Bettina Herlitzius Peter Beyer
Gerold Reichenbach Dr. Gregor Gysi Priska Hinz (Herborn) Steffen Bilger
Dr. Carola Reimann Heike Hänsel Dr. Anton Hofreiter Clemens Binninger
Sönke Rix Dr. Rosemarie Hein Bärbel Höhn Peter Bleser
René Röspel Inge Höger Ingrid Hönlinger Dr. Maria Böhmer
Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Barbara Höll Thilo Hoppe Wolfgang Börnsen
Karin Roth (Esslingen) Andrej Hunko Uwe Kekeritz (Bönstrup)
Michael Roth (Heringen) Ulla Jelpke Katja Keul Wolfgang Bosbach
Marlene Rupprecht Dr. Lukrezia Jochimsen Memet Kilic Norbert Brackmann
(Tuchenbach) Harald Koch Sven-Christian Kindler Klaus Brähmig
Axel Schäfer (Bochum) Jan Korte Maria Klein-Schmeink Michael Brand
Bernd Scheelen Jutta Krellmann Ute Koczy Dr. Reinhard Brandl
Marianne Schieder Katrin Kunert Tom Koenigs Helmut Brandt
(Schwandorf) Caren Lay Sylvia Kotting-Uhl Dr. Ralf Brauksiepe
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16495
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Dr. Helge Braun Hans-Werner Kammer Eckhardt Rehberg Willi Zylajew (C)
Heike Brehmer Steffen Kampeter Katherina Reiche (Potsdam)
Ralph Brinkhaus Alois Karl Lothar Riebsamen FDP
Cajus Caesar Bernhard Kaster Josef Rief
Jens Ackermann
Gitta Connemann Siegfried Kauder (Villingen- Klaus Riegert
Christine Aschenberg-
Alexander Dobrindt Schwenningen) Dr. Heinz Riesenhuber
Dugnus
Thomas Dörflinger Volker Kauder Johannes Röring Daniel Bahr (Münster)
Marie-Luise Dött Dr. Stefan Kaufmann Dr. Norbert Röttgen Florian Bernschneider
Dr. Thomas Feist Roderich Kiesewetter Dr. Christian Ruck Sebastian Blumenthal
Enak Ferlemann Eckart von Klaeden Erwin Rüddel Claudia Bögel
Ingrid Fischbach Ewa Klamt Albert Rupprecht (Weiden) Nicole Bracht-Bendt
Hartwig Fischer (Göttingen) Volkmar Klein Anita Schäfer (Saalstadt) Klaus Breil
Dirk Fischer (Hamburg) Jürgen Klimke Dr. Wolfgang Schäuble Rainer Brüderle
Axel E. Fischer (Karlsruhe- Axel Knoerig Dr. Annette Schavan Angelika Brunkhorst
Land) Jens Koeppen Dr. Andreas Scheuer Ernst Burgbacher
Dr. Maria Flachsbarth Hartmut Koschyk Karl Schiewerling Marco Buschmann
Klaus-Peter Flosbach Thomas Kossendey Norbert Schindler Sylvia Canel
Herbert Frankenhauser Michael Kretschmer Tankred Schipanski Helga Daub
Dr. Hans-Peter Friedrich Gunther Krichbaum Georg Schirmbeck Reiner Deutschmann
(Hof) Rüdiger Kruse Christian Schmidt (Fürth) Dr. Bijan Djir-Sarai
Michael Frieser Bettina Kudla Patrick Schnieder Patrick Döring
Erich G. Fritz Dr. Hermann Kues Dr. Andreas Schockenhoff Mechthild Dyckmans
Dr. Michael Fuchs Günter Lach Nadine Schön (St. Wendel) Rainer Erdel
Hans-Joachim Fuchtel Dr. Karl A. Lamers Dr. Kristina Schröder Jörg van Essen
Alexander Funk (Heidelberg) Dr. Ole Schröder Ulrike Flach
Ingo Gädechens Andreas G. Lämmel Bernhard Schulte-Drüggelte Otto Fricke
Dr. Thomas Gebhart Dr. Norbert Lammert Uwe Schummer Paul K. Friedhoff
Norbert Geis Katharina Landgraf Armin Schuster (Weil am Dr. Edmund Peter Geisen
Alois Gerig Ulrich Lange Rhein) Dr. Wolfgang Gerhardt
Eberhard Gienger Dr. Max Lehmer Detlef Seif Heinz Golombeck
Michael Glos Paul Lehrieder Johannes Selle Miriam Gruß
Josef Göppel Dr. Ursula von der Leyen Reinhold Sendker Joachim Günther (Plauen)
Peter Götz Ingbert Liebing Dr. Patrick Sensburg Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Wolfgang Götzer Matthias Lietz Bernd Siebert Heinz-Peter Haustein
(B) Ute Granold Dr. Carsten Linnemann Thomas Silberhorn Manuel Höferlin (D)
Reinhard Grindel Patricia Lips Johannes Singhammer Elke Hoff
Hermann Gröhe Dr. Jan-Marco Luczak Jens Spahn Birgit Homburger
Michael Grosse-Brömer Daniela Ludwig Carola Stauche Dr. Werner Hoyer
Markus Grübel Dr. Michael Luther Dr. Frank Steffel Heiner Kamp
Manfred Grund Karin Maag Erika Steinbach Michael Kauch
Monika Grütters Dr. Thomas de Maizière Christian Freiherr von Stetten Dr. Lutz Knopek
Olav Gutting Hans-Georg von der Marwitz Dieter Stier Pascal Kober
Florian Hahn Andreas Mattfeldt Gero Storjohann Dr. Heinrich L. Kolb
Dr. Stephan Harbarth Stephan Mayer (Altötting) Stephan Stracke Gudrun Kopp
Jürgen Hardt Dr. Michael Meister Max Straubinger Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Gerda Hasselfeldt Maria Michalk Karin Strenz Sebastian Körber
Dr. Matthias Heider Dr. h. c. Hans Michelbach Lena Strothmann Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Helmut Heiderich Dr. Mathias Middelberg Michael Stübgen Heinz Lanfermann
Mechthild Heil Philipp Mißfelder Dr. Peter Tauber Sibylle Laurischk
Ursula Heinen-Esser Dietrich Monstadt Antje Tillmann Harald Leibrecht
Frank Heinrich Dr. Gerd Müller Dr. Hans-Peter Uhl Sabine Leutheusser-
Rudolf Henke Stefan Müller (Erlangen) Arnold Vaatz Schnarrenberger
Michael Hennrich Dr. Philipp Murmann Volkmar Vogel (Kleinsaara) Lars Lindemann
Jürgen Herrmann Michaela Noll Stefanie Vogelsang Christian Lindner
Ansgar Heveling Dr. Georg Nüßlein Andrea Astrid Voßhoff Dr. Martin Lindner (Berlin)
Ernst Hinsken Franz Obermeier Marco Wanderwitz Michael Link (Heilbronn)
Christian Hirte Eduard Oswald Kai Wegner Dr. Erwin Lotter
Robert Hochbaum Henning Otte Marcus Weinberg (Hamburg) Oliver Luksic
Karl Holmeier Dr. Michael Paul Peter Weiß (Emmendingen) Patrick Meinhardt
Franz-Josef Holzenkamp Rita Pawelski Sabine Weiss (Wesel I) Gabriele Molitor
Joachim Hörster Ulrich Petzold Ingo Wellenreuther Jan Mücke
Anette Hübinger Dr. Joachim Pfeiffer Peter Wichtel Petra Müller (Aachen)
Thomas Jarzombek Sibylle Pfeiffer Klaus-Peter Willsch Burkhardt Müller-Sönksen
Dieter Jasper Ronald Pofalla Elisabeth Winkelmeier- Dr. Martin Neumann
Dr. Franz Josef Jung Christoph Poland Becker (Lausitz)
Andreas Jung (Konstanz) Eckhard Pols Dagmar G. Wöhrl Dirk Niebel
Dr. Egon Jüttner Thomas Rachel Dr. Matthias Zimmer Hans-Joachim Otto
Bartholomäus Kalb Dr. Peter Ramsauer Wolfgang Zöller (Frankfurt)
16496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Gisela Piltz Christoph Schnurr Torsten Staffeldt Dr. Volker Wissing (C)
Dr. Christiane Ratjen- Jimmy Schulz Dr. Rainer Stinner Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Damerau Marina Schuster Stephan Thomae
Dr. Birgit Reinemund Dr. Erik Schweickert Florian Toncar
Dr. Peter Röhlinger Werner Simmling Serkan Tören
Enthalten
Dr. Stefan Ruppert Judith Skudelny Dr. Daniel Volk
SPD
Björn Sänger Dr. Hermann Otto Solms Dr. Guido Westerwelle
Frank Schäffler Dr. Max Stadler Dr. Claudia Winterstein Hans-Ulrich Klose

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf: „Wenn ich die Menschen nicht überzeugen kann, dann
verwirre ich sie“. Das ist offensichtlich Ihre Position.
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
CDU/CSU: So ein Blödsinn!)
Haltung der Regierungskoalition zur Einfüh-
rung eines Mindestlohns Wenn ich ins Detail gehe und mir ansehe, was Sie ei-
gentlich wollen, dann stelle ich fest, dass ein Teil Ihrer
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aus-
Fraktion eine Lohnuntergrenze irgendwo auf dem Ni-
sprache und erteile Kollegen Klaus Ernst für die Frak-
veau der Leiharbeit will, zwischen 7,01 Euro und
tion Die Linke das Wort.
7,89 Euro. Das entspricht den unterschiedlichen Löhnen
(Beifall bei der LINKEN) in Ost und West. Ein anderer Teil sagt: „Das wollen wir
eigentlich nicht. Wir wollen nur dort eine Niedriglohn-
Klaus Ernst (DIE LINKE): grenze einziehen, wo es keine Tarifverträge gibt.“ Wie
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und wir wissen, verdienen Friseure im Osten oft weniger als
Herren! Der eigentliche Skandal ist, dass wir in regelmä- 4 Euro; dort liegen die Tariflöhne unter 4 Euro. Wollen
ßigen Abständen Milliardenbeträge zur Rettung des Sie dort, wo es Tariflöhne gibt, diese 4 Euro beibehal-
Euro oder der Banken beschließen und dass es seit zwei ten? Oder wollen Sie dort auch die Untergrenze einfüh-
Legislaturperioden nicht gelungen ist, Armutslöhne in ren? Was wollen Sie eigentlich? Das ist aus Ihrer Posi-
dieser Republik durch die Einführung von Mindestlöh- tion in keiner Weise ersichtlich.
nen zu verhindern. Das ist ein Skandal an sich! (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir wollen
(B) (D)
(Beifall bei der LINKEN) höhere Löhne, Herr Ernst! – Weitere Zurufe
von der SPD)
1,2 Millionen Menschen erhalten einen Lohn von
unter 5 Euro. 1,2 Millionen! 3,6 Millionen Menschen – Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann bin
bekommen einen Stundenlohn von unter 7,50 Euro. ich gerne bereit, sie zu beantworten. Ansonsten bitte ich
14 Prozent der unter 20-Jährigen erhalten Stundenlöhne um etwas mehr Disziplin. Das würde Ihnen nicht scha-
von bis zu 5 Euro. Insofern freut es mich natürlich, dass den.
sich inzwischen bei der CDU zumindest eine Debatte (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Es
entwickelt hat, die sich tatsächlich den realen Problemen gibt keine Zwischenfragen in der Aktuellen
der Menschen zuzuwenden scheint. Ich sage aber: zuzu- Stunde!)
wenden scheint!
Lassen Sie uns einmal festhalten, was heute im Bran-
91 Prozent der Menschen sprechen sich für eine feste denburger Landtag beschlossen wurde. Dort wurde be-
Lohnuntergrenze aus. Nur 8 Prozent lehnen einen gene- schlossen, und zwar mit Mehrheit der Linken, der SPD
rellen Mindestlohn ab. Das hat laut dpa eine aktuelle und der Grünen:
Stern-Umfrage vom 9. November ergeben. Es wurde
also Zeit, dass sich bei Ihnen etwas bewegt. Aber was Der Landtag fordert die Einführung eines allgemei-
bewegt sich denn nun wirklich? Ich würde mich freuen, nen bundesweiten gesetzlichen Mindestlohns, der
wenn die heutige Debatte darüber Auskunft geben für jeden Alleinstehenden bei Vollzeitarbeit exis-
würde, wohin der Weg der CDU beim Thema Mindest- tenzsichernd ist.
lohn eigentlich geht. (Beifall bei der LINKEN)
Es ist schon bemerkenswert, wenn auf der einen Seite Ihre Fraktion hat dagegen gestimmt.
Herr Laumann, den ich noch zitieren möchte, deutlich
sagt: „Wir müssen Schmutzkonkurrenz beseitigen“, und (Zuruf von der SPD: Skandal!)
auf der anderen Seite Hans Michelbach von der CSU die
Weil Sie mich gerade so nett angucken, sage ich es Ih-
Position vertritt, die Festlegung einer Lohnuntergrenze
nen ganz persönlich: Was Sie hier betreiben, ist nichts
sei – ich zitiere – „ordnungspolitisch nicht vertretbar, da-
anderes, als Nebelkerzen zu werfen und so zu tun, als
mit können wir nicht leben“.
wären Sie jetzt auch für den gesetzlichen Mindestlohn.
Wohin geht nun eigentlich die Reise in der CDU? Ich In Wirklichkeit sind Sie sich nicht nur nicht einig, son-
habe den Eindruck, Sie machen Politik nach dem Motto dern Sie wollen ihn eigentlich nicht. Das ist die Realität.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16497
Klaus Ernst
(A) (Beifall bei der LINKEN) Dass Sie Probleme mit demokratischer Entscheidungs- (C)
findung haben und dadurch verwirrt sind, ist mir völlig
Die heutige Debatte könnte dazu beitragen, ein wenig klar.
Licht in die Dunkelheit zu bringen, die Sie verbreiten.
Ich möchte an dieser Stelle gleich auf ein Argument ein- (Beifall bei der CDU/CSU)
gehen. Weil Herr Kolb so nachdenklich dasitzt, möchte
ich ihn persönlich ansprechen. Ein Argument gegen ei- Herr Ernst, Sie haben die Studie des Bundesarbeits-
nen Mindestlohn, das auch von Ihnen immer in die Welt ministeriums zu den Mindestlöhnen und der Arbeits-
gesetzt wird: Ein gesetzlicher Mindestlohn würde Ar- platzverträglichkeit von Mindestlöhnen angesprochen.
beitsplätze kosten. Die Regierung selber hat eine Studie Wenn es wirklich so wäre, dass sie unsere Position un-
in Auftrag gegeben. terstützt, dann wären wir doch daran interessiert, dass
die Studie herauskommt.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die liegt noch
gar nicht vor!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich kann sie Ih-
nen geben! Seit 31. August gibt es diese Stu-
– Weil Sie sie nicht veröffentlichen. Denn Sie wissen, die! Sie halten sie unter Verschluss, weil es
dass das Gegenteil von dem drinsteht, was Sie erwartet nicht passt!)
haben, Herr Kolb. Das ist die Realität.
Sie unterstellen uns irgendwelche dunklen Machen-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- schaften, eine solche Studie nicht zu publizieren. Das ist
neten der SPD – Zuruf von der LINKEN: Eine in hohem Maße albern.
Sauerei!)
Meine Damen und Herren, ich glaube schon, dass in
Aus der Studie geht hervor, dass es keinen negativen dem Redebeitrag des Kollegen Ernst der Unterschied
Zusammenhang zwischen der Einführung einer Lohnun- zwischen einem CDU-Parteitag und einem Parteitag der
tergrenze und einer negativen Beschäftigungsentwick- Linken sehr klar geworden ist.
lung gibt.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das stimmt!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das glaube ich
nicht, dass das da drinsteht, Herr Ernst! Sie Wir werden auf unserem Parteitag sehr ernsthaft darüber
sollten sie erst mal lesen!) diskutieren, ob und inwiefern wir Familien dadurch stüt-
zen können, Familiengründungen dadurch unterstützen
Ich habe Verständnis dafür, dass Sie das immer wieder können, dass wir ordnungspolitische Leitlinien in den
vertreten, weil Sie nicht wahrhaben wollen, was wahr Arbeitsmarkt integrieren.
ist. Aber Sie haben eine Studie in Auftrag gegeben, in
(B) der herauskommt, was inzwischen schon alle Welt weiß, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie auch (D)
nämlich dass die Einführung eines gesetzlichen Mindest- eine Meinung?)
lohns schon aus einem einzigen Grund das Gebot der Sie diskutieren darüber, Drogen freizugeben, was zur
Stunde wäre: Folge hat, dass Familien kaputtgemacht werden und
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kommt ja Elend über die Familien gebracht wird.
gerade nicht heraus!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dass die Menschen von ihrer Arbeit leben können müs- Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist unter Ihrem
sen und dass Arbeit etwas mit Würde zu tun hat. Niveau!)

(Beifall bei der LINKEN) Es ist natürlich schön, dass eine so große Aufmerk-
samkeit für dieses Thema von Anfang an – schon vor
Wer das verweigert – das machen auch Sie von der dem Parteitag – existiert, auch in der öffentlichen Wahr-
CDU, von der CSU und von der FDP –, der nimmt den nehmung. Das unterstreicht unsere Bedeutung als füh-
Menschen die Würde. Dagegen werden wir uns weiter rende und gestaltende Partei in der Bundesrepublik.
zur Wehr setzen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Andrea Nahles
(Beifall bei der LINKEN) [SPD]: Das glauben Sie selber nicht!)
Insofern ist es sinnvoll, Ihnen vorab schon die Gelegen-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
heit zu geben, das eine oder andere zu sagen. Auch der
Das Wort hat nun Matthias Zimmer für die CDU/ eine oder andere Arbeitgeberverband hat vorab schon et-
CSU-Fraktion. was dazu gesagt. Darauf will ich ganz kurz eingehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin der Meinung, dass ein Arbeitgeberverband im
Wesentlichen ein Tarifpartner ist. Wenn wir bei den Ar-
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): beitgeberverbänden, etwa bei dem Arbeitgeberverband
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Gesamtmetall, feststellen, dass zwischen 2005 und 2010
Herr Kollege Ernst, über die Frage, wie wir zum Min- die Anzahl der Mitgliedschaften ohne Tarifbindung um
destlohn stehen, werden wir auf dem Parteitag demokra- 84 Prozent gestiegen ist, dann ist das für mich ein beun-
tisch entscheiden. ruhigendes Merkmal.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auf welchem?) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hört! Hört!)
16498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Matthias Zimmer


(A) Damit wird gerade jene Tarifautonomie unterminiert, die Nach jahrelangem Ringen hört man: Die CDU kommt (C)
die Tarifpartner doch so deutlich anmahnen. Ich bin der der Realität einen Schritt näher. Außerdem hört man:
Meinung, dass hier auch die Arbeitgeberverbände in der Eine allgemeine, verbindliche Lohnuntergrenze soll auf
Pflicht sind; denn ein Arbeitgeberverband ist mehr als dem kommenden Parteitag beschlossen werden. – Das
ein Country Club mit angeschlossener Rechtsberatung. ist noch etwas unklar. Es reicht mir zwar noch nicht,
aber ich habe mich trotzdem gefreut, weil viele Millio-
(Katja Mast [SPD]: Schöne Überschrift!)
nen Menschen draußen, die in miesen Löhnen festste-
Wir sind unserem Grundprinzip treu geblieben und cken, das als Hoffnungssignal verstanden haben. – Das
sagen: Wir sind gegen gesetzliche Mindestlöhne. war letzte Woche.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo denn?) Diese Woche muss ich feststellen, dass das Ganze zur
Farce mutiert.
Wir sind in der Tat der Meinung, dass der Gesetzgeber
der falsche Partner dafür ist, Mindestlöhne festzulegen. (Zuruf von der CDU/CSU: Och je!)
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Merkel, der Wackeldackel dieser Bundesregierung,
Ohne Gesetze wird es nicht gehen!) ist nämlich wieder einmal umgefallen,
Vielmehr wollen wir uns an den Tarifpartnern orientie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ren. Denn ansonsten passiert genau das, was jetzt pas- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
siert ist: Es gibt einen Überbietungswettlauf in der GRÜNEN)
Frage, wie hoch der gesetzliche Mindestlohn sein soll.
und diesmal in die falsche Richtung. Es ist mittlerweile
(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Das ist doch so, dass sie eine offene Brüskierung der Sozialpolitiker
ganz einfach!) und der Arbeitsministerin, die sich prinzipiell positiv
Ich kann mich erinnern: Wir fingen einmal an bei 7,50 Euro. dazu verhalten haben, in Kauf nimmt, indem sie im
Die SPD ist für 8,50 Euro. Die Linken haben mittler- Grunde die Lohnuntergrenze zum Schweizer Käse
weile die Höhe des Mindestlohnes, die sie fordern, mit macht. Wer nämlich behauptet, er wolle eine allgemeine,
dem Wahlergebnis synchronisiert, nämlich 10. verbindliche Lohnuntergrenze, der kann nicht gleichzei-
tig sagen, dass diese regionale und branchenbezogene
(Beifall des Abg. Alexander Ulrich [DIE Abweichungen verträgt. Das ist nicht möglich. Das ist
LINKE] – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die ein Witz. Es wird deswegen mit Ihnen – leider, sage ich –
FDP auch, bei 3!) keinen Mindestlohn in Deutschland geben. Das ist aber
Ich bin mir sicher, dass es der SPD früher oder später das, was wir brauchen. Wir brauchen auch keine Beleh-
(B)
auch noch gelingen wird, den geforderten Mindestlohn rungen über die Differenzierung im Tarifsystem. Das (D)
auf die Höhe hochzuschrauben, die ihrem Wahlergebnis Bundesarbeitsministerium kann darüber Auskunft ge-
entspricht. ben. Wir haben ein hochflexibles Tarifsystem. 60 000
Tarifverträge, die auf die unterschiedlichsten Bedürf-
Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht. Wir nisse eingehen, haben wir bereits.
sind der Meinung, dass die Tarifpartner weiterhin in der
Pflicht sind, dass die Tarifpartner weiterhin die entschei- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Richtig! So
dende Aufgabe haben, die Lohnuntergrenzen in soll es auch weiterhin sein!)
Deutschland festzulegen. Wir wollen die Tarifpartner Wir stellen trotzdem fest, dass es eine massive Tarifflucht
nicht aus der Pflicht entlassen. Das ist der wesentliche gibt und Tarifverträge durch sogenannte christliche Ge-
Impetus unseres Leitantrages, den wir in Leipzig disku- werkschaften massiv unterlaufen werden. Deswegen sa-
tieren werden. Ich bin mir sicher, dass wir zu guten Er- gen wir: Wir brauchen eine Ergänzung, und das kann nur
gebnissen, vor allen Dingen zu demokratischen Ergeb- ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro sein.
nissen kommen, Herr Ernst. Wir wissen nicht vorab, wie
die Mehrheit der Delegierten entscheidet. Auch das un- (Beifall bei der SPD)
terscheidet uns von Ihrer Partei, in der Sie das offen-
Gerne kann auch eine Mindestlohnkommission einge-
sichtlich schon vorher genau wissen.
richtet werden. Die hat sich zum Beispiel in Großbritan-
Danke schön. nien bewährt. Deswegen gibt es in dieser Hinsicht gar
keinen Widerspruch.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Wenn Sie – das möchte ich Ihnen einmal klar sagen –
die Tarifautonomie hochhalten, dann sind wir damit
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: selbstverständlich einverstanden. Die Wahrheit ist aber,
Ich erteile das Wort Andrea Nahles für die SPD-Frak- dass die Tarifflucht das mittlerweile in ganzen Regionen,
tion. vor allem in Ostdeutschland, zu einer wirklich leeren
Forderung macht. Sie wissen genau: Die Menschen, die
(Beifall bei der SPD) für 3 Euro oder 4 Euro pro Stunde arbeiten, brauchen
eine klare Aussage darüber, welche Rechte sie haben. Sie
Andrea Nahles (SPD): brauchen kein Verwirrspiel: 25 verschiedene Lohnunter-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und grenzen in einem Bundesland, zum Beispiel in der Pfalz
Kollegen! Letzte Woche habe ich mich ehrlich gefreut. 5,60 Euro, in der Eifel, woher ich komme, 7,20 Euro. Das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16499
Andrea Nahles
(A) kann doch in direkten Verhandlungen zwischen Arbeit- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
nehmern und Arbeitgebern überhaupt nicht funktionie- der CDU/CSU)
ren.
Hier wird immer so getan – auch Sie, Herr Kollege
Das Schönste am Chaos ist die Planung. Wenn Sie das Ernst, haben versucht, dieses Bild zu malen –, als ob es
nächste Mal etwas in Sachen Lohnuntergrenze planen in Deutschland ganz schrecklich sei. Ich lege Wert da-
und den Menschen zum Beispiel eine Verbesserung ver- rauf, festzustellen: Der Normalfall in Deutschland ist,
sprechen, die Menschen aber nur wieder hinter die dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Tarifverträ-
Fichte führen, was Sie gerade wieder planen, dann sitzen gen oder auch einzelvertraglich auf Löhne einigen, die
Sie in der Opposition. Das ist die gute Nachricht. Das auskömmlich und wirtschaftlich vernünftig sind und we-
verspreche ich Ihnen. Die Menschen in Deutschland ha- der Arbeitsplätze vernichten noch Neueinstellungen ver-
ben nämlich einen Mindestlohn verdient. Sie können hindern. Das ist die Realität in Deutschland, Herr Ernst,
nicht liefern. Wir werden das erledigen müssen. in der weit überwiegenden Zahl der Fälle.
Vielen Dank. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: 4,50 Euro, das ist
vernünftig, Herr Dr. Kolb?)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Die deutsche Tarifautonomie gibt es nun einmal, und
GRÜNEN) es ist gut so, dass es sie gibt. Sie besagt, dass sich die
Politik aus der Lohnfindung heraushalten soll. Sie funk-
tioniert und ist das Herzstück unseres Sozialstaats. Sie
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ist erfolgreich. Das sieht man daran, dass es nun weniger
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Frak- als 2,8 Millionen Arbeitslose gibt, nachdem wir noch vor
tion. wenigen Jahren 5 Millionen zu verzeichnen hatten – und
das nach einer schweren, einschneidenden Krise –, und
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): dass wir die im europäischen Vergleich drittniedrigste
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jugendarbeitslosigkeit haben. Das ist für mich der Be-
Herr Kollege Ernst, dieser Aktuellen Stunde mit dem weis dafür, dass die Tarifautonomie in Deutschland
schönen Titel „Haltung der Regierungskoalition zur Ein- funktioniert.
führung eines Mindestlohns“ hätte es nicht bedurft.
(Beifall bei der FDP – Klaus Ernst [DIE
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Weil Sie keine LINKE]: Bei 4,50 Euro! Sagen Sie doch mal
Haltung haben!) was dazu!)
(B) Ein Blick in das Bundesgesetzblatt und in den Koali- Ihre Kritik am Arbeitsmarkt hält einer Überprüfung (D)
tionsvertrag hätte genügt. Im Bundesgesetzblatt hätten häufig nicht stand. Auch in diesem Aufschwung sind die
Sie gesehen, welche Branchenmindestlöhne diese Koali- Tariflöhne real gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt
tion eingeführt hat, zum Beispiel in der Pflege oder im man, legt man die Zahlen des Statistischen Bundesamtes
Wach- und Sicherheitsgewerbe. zugrunde.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das mussten (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie sind gesun-
wir Ihnen abringen!) ken!)
Bei der Zeitarbeit sind wir auf dem Weg. Mit einem Der Niedriglohnsektor in Deutschland war politisch ge-
Blick in den Koalitionsvertrag hätten Sie sich folgenden wollt, und zwar von SPD und Grünen.
Satz vor Augen führen können: „Einen einheitlichen ge- (Zuruf von der LINKEN: Aber nicht von uns!)
setzlichen Mindestlohn lehnen wir ab.“ Das ist die Ver-
einbarung dieser Koalition, und zu dieser Vereinbarung Er eröffnet vielen Menschen, gerade geringer qualifizier-
stehen wir. ten, in Deutschland eine Einstiegschance.
Nun interessiert Sie anscheinend mehr, was die in der Worauf es aber ankommt – diese Unterscheidung will
Regierung vertretenen Parteien denken, als das, was die ich Ihnen hier sehr deutlich machen –, ist Folgendes: Die
Regierungskoalition denkt. Ich will Ihnen gerne die weit überwiegende Anzahl der Arbeitgeber entlohnt ihre
Position der FDP und insbesondere der FDP-Bundes- Mitarbeiter im Sinne eines ehrbaren Kaufmanns fair. Es
tagsfraktion darlegen. Die FDP will faire Löhne. geht aber nicht, dass ein Arbeitgeber einem Mitarbeiter
vor dem Hintergrund des staatlichen Transfers einen ge-
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: 4,50 Euro!) ringeren Lohn zahlt, obwohl es ihm eigentlich, gemessen
Sie will faire Löhne für Arbeitnehmer, die hart arbeiten. an der Produktivität seines Unternehmens, möglich
Sie will faire Löhne für Unternehmer, wäre, einen höheren Lohn zu zahlen; das geht nicht.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das passiert
(Zuruf von der SPD: Kombilöhne!)
aber!)
die Verantwortung für den Bestand und den wirtschaft-
– Das sind doch extreme Ausnahmen.
lichen Erfolg ihrer Unternehmen tragen. Aber sie will
auch faire Löhne für Arbeitnehmer, die einen Zugang Ich möchte Ihnen schildern, wie es im Moment in
zum Arbeitsmarkt suchen. Deswegen lehnen wir einen Deutschland aussieht. Die Tarifbindung liegt bei 80 Pro-
allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn entschieden ab. zent, 60 Prozent direkt und 20 Prozent durch Bezug-
16500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) nahme. Dabei handelt es sich durchweg um gute, aus- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
kömmliche Löhne für die Mitarbeiter und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Mitarbeiterinnen der Unternehmen. Kolb, nichts ist mächtiger als die Idee, deren Zeit ge-
kommen ist,
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das stimmt ein-
fach nicht!) (Zuruf von der LINKEN: So ist es!)
Da, wo es Probleme gab, haben wir – genauso wie die und es sieht ganz danach aus, als würde die Zeit auf Sie
rot-grüne Koalition und die Große Koalition zuvor – in keine Rücksicht mehr nehmen. Die Zeit geht über die
den letzten Jahren für 4 Millionen Arbeitnehmer Bran- FDP hinweg.
chenmindestlöhne eingeführt, die das leisten müssen,
was Sie hier fordern. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus
Ernst (DIE LINKE – Dr. Heinrich L. Kolb
(Zuruf von der LINKEN: In Ost und West un- [FDP]: Warten wir es erst einmal ab! – Max
terschiedlich! – Andrea Nahles [SPD]: Dabei Straubinger [CDU/CSU]: Totgesagte leben
waren Sie immer sehr hilfreich, Herr Kolb!) länger!)
Da, wo es weiße Flecken gibt – das sind nun wirklich die Es gibt einen einzigen Fortschritt: Wir haben bislang
Ausnahmen –, haben wir ein doppeltes Fangnetz instal- hier in diesem Parlament noch keine Mindestlohndiskus-
liert. Es gibt zum einen ein Verbot sittenwidriger Löhne sion geführt, in der wir nicht ausführlich begründen
und zum anderen das Mindestarbeitsbedingungenge- mussten, warum ein Mindestlohn in Deutschland not-
setz, das zuletzt unter Ihrer Ägide, Herr Kollege Heil, wendig ist. Dass nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen
geändert wurde. Haben Sie denn damals Mist produ- wird, dass wir einen Mindestlohn brauchen, dazu haben
ziert? Das Gesetz ermöglicht es, genau in den angespro- die Gutachten, die diese Bundesregierung in Auftrag ge-
chenen Fällen einzugreifen. Aber die Erfahrungen der geben hat, einen Beitrag geleistet.
letzten Jahre zeigen: Einen entsprechenden Bedarf gibt
es offensichtlich nicht. Die sozialen Verwerfungen, die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das können Sie
Sie als Voraussetzung hier genannt haben, gibt es eben doch gar nicht wissen, Frau Kollegin! Diese
nicht. Gutachten gibt es doch gar nicht!)
(Widerspruch bei der SPD und der LINKEN) Wir haben es jetzt schwarz auf weiß, Herr Kolb, dass
Ihre Behauptung, Mindestlöhne würden Arbeitsplätze
Wir wollen keinen gesetzlichen Mindestlohn. Ich vernichten, einfach falsch ist. Das hat lange gedauert,
finde es richtig, dass wir darauf achten, dass die Men- aber wir diskutieren heute nicht mehr über die Frage, ob
(B) schen ein ausreichendes Mindesteinkommen haben. Das ein Mindestlohn eingeführt werden soll, sondern über (D)
ist in der Tat der Fall: Es gibt bei 22 Millionen sozial- die Frage, wie der Mindestlohn ausgestaltet werden soll.
versicherungspflichtigen Beschäftigten gerade einmal Das ist in der Tat eine ziemlich entscheidende Frage.
11 000 Vollzeit arbeitende, alleinstehende Beschäftigte,
die aufstocken müssen. Was ist denn von dem Merkel-Mindestlohn nach dem
mehrmaligen Zurückrudern übrig geblieben? Ich kann
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Also kein Pro- dazu nur sagen: Dabei handelt es sich um einen Schein-
blem! Alles super!) riesen; denn je näher Sie ihn mit der Lupe untersuchen,
Das zeigt, dass die Probleme eine andere Dimension ha- desto kleiner wird er.
ben, als Sie es uns hier weismachen wollen. Deshalb hal- (Andrea Nahles [SPD]: So ist es!)
ten wir am Koalitionsvertrag und an der Linie, die wir
bei den Koalitionsverhandlungen vereinbart haben, fest. Er soll erstens nur für die Branchen gelten, in denen es
Mit uns wird es keinen gesetzlichen flächendeckenden keine Tariflöhne gibt. Aber was heißt das konkret? Die
Mindestlohn geben. Ein Mindestlohn schadet den Men- Friseurin in Sachsen mit einem Verdienst von 3,06 Euro
schen, die einen Arbeitsplatz suchen. in der Stunde hat keinen Cent mehr in der Tasche. Das
Gleiche gilt für die Floristin in Thüringen. Das gilt auch
für eine hohe Zahl an Beschäftigten im Hotel- und Gast-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
stättengewerbe, beim Gartenbau und in der Landwirt-
Sie müssen zum Schluss kommen. schaft. Für all diejenigen ändert sich durch den Merkel-
Mindestlohn gar nichts.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Nicht so-
Deswegen sollten Sie darüber nachdenken, ob Ihre
fort, aber dann! Das ist doch Unfug!)
Position richtig ist.
Mit anderen Worten: Beim Merkel-Mindestlohn gehen
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Sie davon aus, dass Hungerlöhne dann akzeptabel sind,
(Beifall bei der FDP) wenn sie den tariflichen Segen haben. Das ist eine Einla-
dung an die Arbeitgeber zu Dumpinglöhnen. Das wer-
den wir nicht mitmachen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Dafür gibt
Bündnis 90/Die Grünen. es doch die Gewerkschaften!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16501
Brigitte Pothmer
(A) Zweitens. Der Merkel-Mindestlohn sieht keine ein- Schwarz-Gelb? Wir wissen, wo wir stehen, meine Da- (C)
heitliche Lohnuntergrenze vor. Da kann ich mit Herrn men und Herren!
Laumann wirklich nur sagen: Auch ich kann mir kein
Deutschland vorstellen, in dem es 500 unterschiedliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lohnuntergrenzen gibt. Dieser Flickenteppich wäre im sowie bei Abgeordneten der SPD)
Übrigen auch eine Zumutung für die Wirtschaft. Das
werden wir nicht mitmachen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Frank Heinrich für die CDU/CSU-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fraktion.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Dann wollen wir einmal schauen, was sich eigentlich
bei Ihrer Mindestlohnkommission herauskristallisiert.
Eine Mindestlohnkommission in der Art, wie Sie sie sich Frank Heinrich (CDU/CSU):
vorstellen, haben wir schon. Wir haben sie in Form des Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Hauptausschusses gemäß Mindestarbeitsbedingungen- Kollegen! Die Debatte geht über unsere Haltung als Re-
gesetz, und zwar seit 2009. Bislang hat dieser Hauptaus- gierungskoalition zum Thema Mindestlohn.
schuss nicht einen einzigen Mindestlohn durchgesetzt.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, richtig, die
Ich sage Ihnen: Wenn Sie Ihrer Mindestlohnkommission
Haltung!)
keinen anderen Geist einhauchen, dann wird sich nichts,
aber auch gar nichts im Bereich Dumpinglöhne ändern. Wenn Sie, Frau Kollegin Pothmer, jedoch die ganze Zeit
von einem Merkel-Mindestlohn reden, kann ich Ihnen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nur entgegnen: Sie reden von einer Phantomsituation.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Wir führen diese Debatte nämlich erst.
KEN)
Ich befürchte, genau das ist Ihr Ziel. Der Mindestlohn, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
den Sie diskutieren, ist nichts anderes als weiße Salbe. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Merkel als
Deswegen hat, wie ich befürchte, Michael Fuchs, der Phantom, sehr gut!)
Vertreter Ihres Wirtschaftsflügels, recht. Er hat nämlich Eine große Volkspartei führt eine Debatte, und wir wol-
auf die Frage der Leipziger Volkszeitung, was sich durch len das auch in aller Breite diskutieren. In diesem Pro-
die von der CDU vorgesehene Lohnuntergrenze ändern zess befinden wir uns. Wir haben noch keinen Merkel-
würde, gesagt: „Nichts, rein gar nichts.“ Das wollen wir Mindestlohn festgelegt.
(B) (D)
aber nicht. Wir wollen einen echten Mindestlohn, und
wir wollen, dass es zu einer echten sozialpolitischen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha!)
Kehrtwende, zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität Es verwundert mich, dass sowohl von der Opposition,
kommt. insbesondere von den Linken, als auch in der Presse und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Öffentlichkeit so getan wird, als ob es an der Stelle
schon einen grundlegenden Richtungswechsel gäbe. In
Frau Merkel verfolgt wahltaktische und machtstrate- Deutschland wurde 1997 – Helmut Kohl war an der Re-
gische Ziele mit der Mindestlohndiskussion. gierung – zum ersten Mal ein Mindestlohn eingeführt,
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da und zwar in der Elektrobranche.
lacht doch die Koralle!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sie will ein Wahlkampfthema vom Tisch räumen, und Da fällt mir die Werbung für ein bestimmtes Bonbon ein:
sie will sich hübsch machen für andere Koalitionspart- „Wer hat’s erfunden?“ – Wir haben den Mindestlohn
ner, mit Vorliebe für eine Große Koalition. nicht erfunden, wohl aber in die Tat umgesetzt.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das schafft sie (Andrea Nahles [SPD]: Das war ja wohl Olaf
nicht!) Scholz! Das ist ja unglaublich!)
– Das will ich einmal hoffen, Hubertus. Auf euch ist ja Mindestlöhne gelten inzwischen in verschiedenen Bran-
nicht so viel Verlass. chen, und sie leisten – so Frau von der Leyen am letzten
(Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die angespro- Sonntag – „einen großen Beitrag“ auch zu unserem Job-
chenen Versuche sind ja unübersehbar!) wunder.
Dass sie mit der FDP keinen Staat mehr machen kann, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
hat sich ja bis zu ihr herumgesprochen. Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sagen Sie doch
mal, was Sie wollen!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Merkel-Min-
destlohn geht es um nichts anderes als um der Kaiserin Jetzt wird – je länger, desto mehr – thematisiert, dass es
neue Kleider. Diese neuen Kleider sollen in diesem Fall noch Bereiche gibt, die ebenfalls eine solche Lohnunter-
sozialpolitischer Natur sein. Aber für die Beschäftigten grenze brauchen. Diese Diskussion beginnt aber nicht
im Niedriglohnsektor geht es wahrlich um mehr. Sie ste- erst jetzt, wie Sie, Herr Ernst, vorhin gesagt haben. Nein,
hen vor der Frage: Lohngerechtigkeit oder Weiter-so mit wir wollen seit Monaten dieses Thema behandeln.
16502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Frank Heinrich
(A) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber ihr macht (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Man darf froh (C)
nichts! Das sieht man doch jetzt wieder! Ihr ei- sein, leben zu dürfen, genau!)
ert doch rum!)
dass Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit in ein men-
Wir sind dabei. Auch die CDA hat ihren Teil beigetragen schengerechtes Verhältnis zueinander gesetzt werden.
und, ebenfalls durch Frau von der Leyen, Stellung bezo-
gen in dieser Debatte. Das ist vielleicht der Unterschied: Ich zitiere, was am vergangenen Sonntag in Chem-
Wir wollen eben nicht nur von politischen Forderungen nitz, meiner Stadt, gesagt wurde: Sprechen Sie nicht
getrieben handeln, über Mindestlöhne – wir sprechen heute nicht direkt da-
rüber,
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das seid ihr aber:
getrieben!) (Andrea Nahles [SPD]: Das ist mir völlig egal!
Hauptsache, Sie machen es!)
sondern ordentliche Arbeit abliefern. Wir wollen keinen
Überbietungswettbewerb und keinen Unterbietungswett- das ist aber der Konsens heute Morgen –, sondern über
bewerb. Löhne, von denen Menschen in Würde ihr Leben gestal-
ten können.
(Zuruf von der SPD: Taten statt Worte!)
Prinzipiell ist es richtig, dass jeder, der vollerwerbstä-
Weil wir gute Arbeit machen wollen,
tig ist, ohne Unterstützung des Staates auskommen
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ihr seid eine sollte.
Bremsertruppe!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann machen
hat die Bundesregierung den Auftrag im Koalitionsver- Sie doch mal was!)
trag ernst genommen und ein entsprechendes Gutachten
erstellen lassen. Aber hier gilt es zu differenzieren. Wenn ich – ich war
selber Sozialhilfeempfänger – für meine Familie Hartz IV
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha, es gibt beantrage, dann liegt dieser Satz bei ungefähr
doch ein Gutachten!) 2 700 Euro. Der Lohn, den ich demnach verdienen
Sie hat verschiedene Branchenmindestlöhne von ver- müsste, um in Würde leben zu können, liegt bei etwa
schiedenen Institutionen untersuchen lassen. Es geht 16 bis 17 Euro pro Stunde. Das könnte Anlass geben, in
also nicht, wie Sie hier mutmaßen, um einen allgemei- dem von Ihnen betriebenen Überbietungswettbewerb
nen Mindestlohn, sondern es sind einzelne Branchen- mitzuspielen. Das wollen wir aber nicht. Es gibt für uns
mindestlöhne untersucht worden. zwei verschiedene Kategorien von Mindestlöhnen: den
(B) gesetzlich festgelegten Mindestlohn, flächendeckend für (D)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die haben wir alle Regionen und Branchen – den lehnen wir ab –,
doch schon! Warum dann die Debatte?)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist doch ein
Auf die Ergebnisse der Evaluation bin ich sehr gespannt. Eiertanz, den Sie hier aufführen! Glauben Sie
Worum geht es uns? Sie haben mich danach gefragt, eigentlich selber, was Sie sagen?)
und Sie fragen in dieser Debatte danach. Die FDP hat für und den von den Tarifpartnern ausgehandelten spezifi-
sich Stellung genommen, ich möchte das für uns tun. Die schen, für die Branche festgelegten Mindestlohn, der
Schnittmenge ist sehr groß. Wir wollen in einer spannen- vom Gesetzgeber als allgemeinverbindlich erklärt wer-
den und, wie ich finde, angemessenen Diskussion einen den kann.
Weg suchen, wie wir einer gerechten Entlohnung noch
näher kommen können. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir brauchen
beides!)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Also haben wir sie
jetzt nicht!) Wir wollen das Erste nicht, am Zweiten arbeiten wir, und
wir wollen das erweitern.
Ich müsste Ihrer Meinung nach, Frau Nahles, brüskiert
sein als Sozialpolitiker, aber das bin ich nicht. Was ist Die Höhe darf nicht von der Politik, sondern muss
denn gerechter Lohn? Bezieht er sich auf, wie von Ihnen von den Tarifparteien entschieden werden, unterstützt
genannt, die Friseurin in Sachsen oder auf die in Rhein- und ermutigt von Politik und Wissenschaft. Ein Vor-
land-Pfalz auf dem Land lebende Helferin im Drogerie- schlag dafür lautet, dass wir uns an den in der Zeitarbeit
markt, die mit 5,30 Euro zufrieden sein muss? Oder ausgehandelten Mindestlohn anlehnen.
muss man noch andere Gerechtigkeitsfaktoren betrach-
ten: den Markt als solches, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das hat Frau
Merkel schon abgelehnt!)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Nicht vom Markt,
sondern vom Lohn leben, darum geht es!) Auch hier bin ich gespannt auf die Diskussion in den
nächsten Tagen und darauf, wie die Verhandlungen der
die Leistung, wie sie gerade genannt wurde, die Situa- Tarifpartner sich entwickeln werden.
tion – es gibt einen Unterschied zwischen dem Gehalt im
Erzgebirge und dem Gehalt in München –, den Aufwand
und den Bedarf? Es kennzeichnet den sozialen Rechts- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
staat, in dem ich froh bin leben zu dürfen, Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16503

(A) Frank Heinrich (CDU/CSU): periode in dieser Sache überhaupt etwas tut. Das ist die (C)
Ich komme zum Ende. – Neben dem hohen Gut der schlechte Nachricht für die Menschen in Deutschland.
Tarifautonomie selbst und dem oft eingeforderten (Max Straubinger [CDU/CSU]: Aber Herr
Grundsatz der Solidarität ist es ein großer Gewinn, dass Heil!)
wir in der sozialen Marktwirtschaft von Subsidiarität re-
den: So wenig Staat wie möglich, so viel Staat wie nötig. Ich sage Ihnen ganz offen: Das künstliche Auseinan-
derdividieren von über das Arbeitnehmer-Entsendege-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: setz geschaffenen tarifvertraglichen Mindestlöhnen und
einer allgemeinen Lohnuntergrenze bzw. eines gesetzli-
Herr Kollege!
chen Mindestlohnes, der diesen Namen auch verdient,
wird der Sache nicht gerecht. Sie könnten ohne Weiteres
Frank Heinrich (CDU/CSU): etwas dafür tun, dass tarifvertragliche Mindestlöhne ein-
Ich bin der Überzeugung – das hat auch der Staatsse- facher vereinbart werden können – das haben wir Ihnen
kretär gestern im Ausschuss gesagt –: Die Tarifparteien im Frühjahr vorgeschlagen –, indem Sie allen Branchen
können das. Wir werden sie dazu ermuntern. diese Möglichkeit im Arbeitnehmer-Entsendegesetz er-
öffnen. Sie tun es nicht, weil sich die CDU nicht gegen
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
die FDP durchsetzen konnte. Das ist an dieser Stelle die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wahrheit.
neten der FDP) Für jede neu hinzukommende Branche müssen wir
das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sozusagen anfassen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bisher gilt es nämlich nur für zehn Branchen. Es ist da-
Das Wort hat nun Hubertus Heil für die SPD-Frak- her ein zähes Ringen um tarifvertragliche Mindestlöhne;
tion. denn erstens muss eine neue Regelung, was den Kreis
der betroffenen Branchen angeht, in das Gesetz aufge-
(Beifall bei der SPD) nommen werden, und zweitens muss die Mehrheit im
Tarifausschuss entscheiden. Das zu ändern, wäre der
Hubertus Heil (Peine) (SPD): erste Schritt, den wir machen könnten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- Wir Sozialdemokraten wollen einen Vorrang für tarif-
nen und Kollegen! Frau Ministerin, zu dieser Frage hätte vertragliche Mindestlöhne. Darum haben wir Jahr für
uns die Haltung der Bundesregierung interessiert. In der Jahr gekämpft – dies mussten wir Ihnen auch in den Ver-
gestrigen Debatte über das Betreuungsgeld war Ihre Kol- handlungen im Frühjahr Branche um Branche abringen –,
(B) legin Schröder so mutig, zu versuchen, uns ihren Stand- (D)
und deshalb sind wir so weit gekommen.
punkt zu erklären.
(Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist ihr auch CSU]: Der Erste war Herr Kolb, der das als
gelungen!) Staatssekretär im Bau eingeführt hat!)
Was Sie meinen, das lesen wir in der Bild am Sonntag. Wir wollen, wie gesagt, einen Vorrang der Tarifautono-
Als ich Ihr Interview gelesen habe, erging es mir wie mie. Wir wollen aber auch die Möglichkeit für tarifver-
meiner Kollegin Nahles. Ich dachte nämlich: Hossa, die tragliche Mindestlöhne weiter ausbauen. Daneben brau-
Waldfee! Da bewegt sich etwas. chen wir eine Lohnuntergrenze, also einen allgemeinen
Herr Kober, Sie sind von Hause aus evangelischer gesetzlichen Mindestlohn, als untere Auffanglinie.
Theologe. Ich bin evangelischer Christ. Daher ist folgen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der Satz nahe liegend: Im Himmel ist mehr Freude über des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
einen reuigen Sünder als über 100 Gerechte. – Zu
Deutsch: Wenn Sie sich in Sachen Mindestlohn tatsäch- Ich sage Ihnen auch, warum. Die Kollegin Pothmer hat
lich unseren Vorschlägen anschließen, Frau von der nämlich vollkommen recht: In einigen Bereichen gibt es
Leyen, dann würden wir das nicht kritisieren. Tarifverträge, die diesen Namen nicht mehr verdienen.
Das liegt an der Tarifflucht auf Arbeitgeberseite und
(Pascal Kober [FDP]: Man darf sich aber nicht auch an der Tatsache, dass es für Gewerkschaften in vie-
selbst zum Gerechten machen!) len Branchen außerordentlich schwierig ist, sich zu orga-
An dieser Stelle sage ich aber ganz klar: Die Diskussion nisieren. Das ist die Wahrheit.
bei Ihnen hat sich in den letzten Tagen zerbröselt. Sie Der Mindestlohn ist notwendig, weil beispielsweise
wissen nicht nur nicht, was Sie wollen, Sie wissen auch ein Stundenlohn von – wenn ich mich richtig erinnere –
nicht, was Sie tun. 3,12 Euro im Friseurgewerbe in Sachsen leider Gottes
Bestandteil eines Tarifvertrages ist.
(Beifall bei der SPD)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wollen Sie in
Es gibt da die buntesten Vorschläge. Frau von der Leyen,
Tarifverträge eingreifen?)
ich befürchte, dass am Ende Herr Laumann recht hat, der
heute in einem Interview gesagt hat, er rechne angesichts Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Die Tarifautonomie hat
der Verhältnisse in seiner Partei und bei seinem Koali- sich jahrzehntelang bewährt. Wer die Augen aber davor
tionspartner nicht damit, dass sich in dieser Legislatur- verschließt, dass die aktuelle Entwicklung, die sich in
16504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Hubertus Heil (Peine)


(A) der Tarifflucht und in der aktuellen Schwäche auf Ar- derenfalls wäre es nicht möglich, eine Familie zu (C)
beitgeber- und Gewerkschaftsseite zeigt, dazu geführt ernähren.
hat, dass Lohnfindungsprozesse bei 3,12 Euro oder bei
Wissen Sie, wer das schrieb, Herr Kolb?
3,06 Euro enden, der muss handeln. Deshalb sage ich Ih-
nen: Es ist nicht akzeptabel, dass Sie sich hier hinstellen, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Irgendein
rumeiern und die verschiedensten Vorschläge machen. Papst?)
Für die Öffentlichkeit und für die betroffenen Menschen
– Nein, das ist kein Papst gewesen, sondern das war ein
ist es vollkommen uninteressant, welcher Flügel der
gewisser Adam Smith im Jahre 1776. 235 Jahre nach
CDU sich in dieser Frage durchsetzt. Es zählen Taten. Es
dem Urvater der liberalen Vorstellung von Marktwirt-
gilt der Satz von Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes, au-
schaft haben Sie es immer noch nicht begriffen.
ßer man tut es.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist schon länger
(Beifall bei der SPD) her!)
Frau Ministerin, Sie haben in der Bild am Sonntag an- Ich sage Ihnen: Das werden die Menschen Ihnen nicht
gekündigt, dass Sie noch in dieser Legislaturperiode ei- mehr durchgehen lassen. Frau Merkel kann nicht länger
nen Gesetzesvorschlag machen wollen. Nach Ihrem rumeiern. Wir werden Sie stellen; wir werden Sie auffor-
Leipziger Parteitag werde ich Sie täglich fragen, wann dern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, –
Sie liefern.
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das hat Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sie wirklich nicht verdient!) Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich kann Ihnen aber nur die alte Kaufmannsweisheit ent-
gegenhalten: Man kann nur liefern, wenn man etwas auf Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Lager hat. Diese Koalition hat nichts auf Lager. Das – und wir werden unseren Gesetzentwurf einbringen,
führt zu dem Ergebnis, dass Sie manchmal Expertisen, weil es uns darum geht, dass Menschen, die hart arbei-
die Ihnen nicht in den Kram passen, unterdrücken. ten, von ihrer Arbeit auch leben können.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist Herzlichen Dank.


doch Unfug, Herr Heil!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Das angesprochene Gutachten von renommierten Insti- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
tuten wie IAQ, IAW, IAB und ZEW im Auftrag des Bun- GRÜNEN)
(B) desministeriums für Arbeit und Soziales, mit Steuergel- (D)
dern bezahlt, liegt Ihnen doch seit dem 31. August vor. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Ministerin, es ist ganz interessant, dass man mit ei- Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Johannes
nem wissenschaftlichen Gutachten erst einmal in die Vogel für die FDP-Fraktion.
Ressortabstimmung mit FDP-Ministern eintreten muss, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
um zu schauen, ob einem die Ergebnisse passen. Das ist
ein dickes Ding, das Sie sich da leisten.
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
(Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier wird nach der
Haltung der Regierungskoalition gefragt. Sie ist im Ko-
Dieses Gutachten beleuchtet die Arbeitsplatzeffekte alitionsvertrag ganz klar niedergelegt – darauf wurde
der tarifvertraglichen Mindestlöhne in den Branchen. schon hingewiesen –: Einen allgemeinen gesetzlichen
Daraus ergibt sich, dass das, was die FDP seit Jahren be- Mindestlohn wollen wir nicht. Warum denn, Herr Heil?
hauptet, dass nämlich Mindestlöhne Arbeitsplätze ver-
nichten würden, schlicht und ergreifend Unsinn ist. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Es ist doch eindeutig falsch, was Sie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten machen! Es wird sehr einsam um Sie! Ihr Ko-
der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: alitionspartner ist weiter als Sie!)
Die meisten Arbeitsplätze hat Rot-Grün ver-
nichtet in Ihrer Regierungszeit! – Zuruf des – Nein, Frau Kollegin Pothmer. – Warum denn? Lassen
Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Sie uns einmal im Detail darüber reden.
– Wenn Sie schon nicht auf uns hören, Herr Kolb, dann Sie haben vorhin die Realität in Deutschland be-
will ich Ihnen einen Rat von einem Menschen geben, schrieben. Wir alle wollen, dass die Menschen von ih-
dem sie vielleicht mehr zutrauen als uns; das kann ja rem Lohn leben können.
sein. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das verhindern
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Jedem!) Sie aber!)

Ich zitiere: Bei der Debatte müssen wir uns eines klarmachen. Es
geht um Fairness gegenüber drei Gruppen, erstens ge-
Ein Mensch muss von seiner Arbeit leben können genüber den Arbeitnehmern, die gute Löhne wollen. Das
und sein Lohn muss wenigstens existenzsichernd wollen wir alle, deswegen tun wir mehr für Qualifikation
sein! Ja, er sollte in der Regel etwas höher sein. An- – und zwar mehr, als Sie getan haben, liebe Kolleginnen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16505
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) und Kollegen –, gerade von beschäftigten Arbeitneh- ternehmen gibt, die einen niedrigeren Lohn zahlen als (C)
mern. sie könnten?
(Andrea Nahles [SPD]: Mithilfe der Arbeits- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
marktförderung, die Sie halbieren! Das ist GRÜNEN]: Und was machen Sie dagegen?)
wohl ein Witz!) Wie schafft man das? Die Tarifautonomie hat sich be-
Zweitens geht es um Fairness gegenüber Arbeitge- währt. Daher ist wohl klar, dass man in drei Schritten
bern und Unternehmen, die die Löhne zahlen können vorgeht. Für die 80 Prozent der Beschäftigten in
müssen. Drittens schließlich geht es um Fairness gegen- Deutschland, die tarifgebunden sind, funktioniert die Ta-
über denjenigen, die erst auf den Arbeitsmarkt wollen. rifautonomie.
Das ist doch die Voraussetzung für alles Weitere. Echte (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Leistung muss
Teilhabe in der Gesellschaft ist natürlich am besten mög- sich lohnen, Herr Kollege! – Klaus Ernst [DIE
lich, wenn man auf dem Arbeitsmarkt dabei ist. Das LINKE]: So ein Unfug!)
müssen wir im Blick haben.
Hier brauchen wir keine Lösung, weil das Ganze bei den
Zum deutschen Jobwunder gehört die Tarifautono- Tarifpartnern richtig funktioniert.
mie, das heißt, dass in unserer sozialen Marktwirtschaft
die Löhne von den Tarifpartnern ausgehandelt werden. In diesem Zusammenhang werden immer die Friseure
Das dürfen wir nicht gefährden. Genau das fordern Sie aus Thüringen angeführt. Wenn wir ehrlich miteinander
aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- debattieren wollen, dann gehört hier auch dazu, dass die-
tion. ser Friseurtarifvertrag aus Thüringen,
Schauen wir uns doch einmal an, wie die Lage ist, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sachsen!)
Herr Heil! Wie viele Menschen in Deutschland können eine wesentliche Umsatzbeteiligung vorsieht.
denn nicht von ihrem Lohn leben?
(Karin Binder [DIE LINKE]: Ihr Risiko auf
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: 300 000! – Klaus die Beschäftigten abladen, genau! – Klaus
Ernst [DIE LINKE]: 300 000 Vollzeit!) Ernst [DIE LINKE]: Machen Sie es doch ab-
Es wird immer die Zahl von 1,4 Millionen Aufstockern hängig von der Haarlänge!)
genannt. Von dieser Gruppe arbeiten 900 000 nur in Teil- Das heißt, es ist unfair, wenn Sie nur auf die Lohnhöhe
zeit. Hier ist nicht die Lohnhöhe das Problem, sondern schauen. Das können Sie gar nicht vergleichen. Die Ge-
die Arbeitszeit. Warum ist das so? Weil Sie die Hinzu- werkschaften, denen Sie offenbar nicht mehr vertrauen,
(B) verdienstgrenzen bei Hartz IV so ausgestaltet haben, Herr Heil, machen in unserem Land bei der Lohnfindung (D)
dass man kaum aus diesen Grenzen herauswachsen keinen Unsinn.
kann. Dieses Problem wollen wir uns im nächsten Jahr
noch einmal vornehmen. Bei den Branchen, in denen es einzelne schwarze
Schafe gibt, besteht die Möglichkeit, die unterste Lohn-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oh mein Gott! – höhe für allgemeinverbindlich zu erklären.
Die Steuerzahler sollen die Armutslöhne auf-
stocken! Das wollen Sie! – Klaus Ernst [DIE (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
LINKE]: Da müsst ihr euch aber beeilen!) GRÜNEN]: Was ist mit den Branchen, wo es
keinen Arbeitgeberverband gibt?)
125 000 Menschen aus dieser Gruppe sind selbststän-
dig. Man muss untersuchen, ob diese Menschen ein gu- Das hat diese Regierungskoalition in mehr Fällen getan
tes Geschäftsmodell als Grundlage haben und was man als Sie in der rot-grünen Regierungszeit.
für sie tun kann, um gegebenenfalls nachzubessern. Hier (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sagt ei-
geht es nicht um die Lohnhöhe. gentlich Frau Ministerin dazu? Ist sie auch Ih-
rer Meinung?)
300 000 Menschen arbeiten Vollzeit und stocken auf.
Herr Heil, die weit überwiegende Zahl dieser Menschen Der Unterschied zum allgemeinen Mindestlohn, den Sie
stockt aber nicht auf, weil die Lohnhöhe so niedrig ist, wollen, ist eben nur: Hier liegt die Lohnfindung weiter-
sondern weil sie eine große Familie haben. Das muss hin in den Händen der Tarifpartner und nicht hier im
man einmal sagen. Es ist eine sozialpolitische Errungen- Deutschen Bundestag, in den Händen von Herrn Ernst
schaft in diesem Land, dass wir Familien nicht alleine und anderen.
lassen, sondern ihre wirtschaftliche Lage verbessern.
(Beifall der Abg. Gisela Piltz [FDP] – Andrea
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Nahles [SPD]: Ihre spitzfindigen Ausführun-
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und jetzt ma- gen helfen niemandem!)
chen Sie Betreuungsgeld, damit die zu Hause
Das wollen wir so lassen.
bleiben!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Alles in Ord-
Die Frage lautet: Wie gehen wir als Staat damit um, nung in Deutschland! – Weiterer Zuruf von der
dass wir den Vorrang für Tarifpartner wollen, dass wir SPD: Alles super!)
natürlich – der Kollege Kolb hat es ausgeführt – nicht
wollen, dass es einzelne schwarze Schafe unter den Un- – Nein.
16506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es ist eine Un- Deshalb werden wir weiter differenzierte Lösungen fin- (C)
verschämtheit den Menschen gegenüber, die den, die den Menschen wirklich helfen, und die Tarif-
das betrifft, alles schönzureden!) autonomie als wesentliches Element der sozialen Markt-
wirtschaft achten, und das ist auch gut so.
– Nein, wir reden nichts schön; wir stellen die Realität in
Deutschland dar. Dazu gehört eben, dass wir das deut- Vielen Dank.
sche Jobwunder haben und die Löhne in der Regel aus-
kömmlich sind. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie erzählen Un-
sinn! Sie wissen nicht, von was Sie reden! – Vizepräsident Eduard Oswald:
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Augen vor
der Realität verschließen! – Gegenruf des Abg. Das war unser Kollege Johannes Vogel für die FDP-
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es steht uns nicht Fraktion. – Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke un-
zu, die Tarifparteien zu kritisieren, Herr Heil!) sere Kollegin Jutta Krellmann. Bitte schön, Frau Kolle-
gin Jutta Krellmann.
Das können wir nicht erhalten, indem wir uns einer Poli-
tik anschließen, die alles zurückdreht und alles verän- (Beifall bei der LINKEN)
dern will, was dieses deutsche Jobwunder ausmacht. Das
wäre eine Unverschämtheit gegenüber den Menschen, Jutta Krellmann (DIE LINKE):
die dann arbeitslos werden, Herr Kollege Heil. Schauen Vielen Dank, Herr Präsident. – Guten Tag, liebe Kol-
Sie sich doch einmal im europäischen Ausland um! Das leginnen und Kollegen! Ich möchte da anknüpfen, wo
wollen wir nicht. mein Kollege Klaus Ernst aufgehört hat,
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die haben doch (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh weh!)
den Mindestlohn! Wenn Sie sich umschauen,
dann sehen Sie: Der Mindestlohn ist über nämlich bei Art. 1 Grundgesetz – ich zitiere daraus, da-
10 Euro! Sie wissen gar nicht, von was Sie re- mit auch Sie es verstehen –: „Die Würde des Menschen
den!) ist unantastbar.“ Zur Würde gehört auch, dass die Men-
schen von ihrer Arbeit leben können.
– Ja, Herr Ernst. Er spielt eine wesentliche Rolle bei der
Frage der hohen Arbeitslosigkeit. (Beifall bei der LINKEN – Johannes Vogel
[Lüdenscheid] [FDP]: Und dass sie Arbeit ha-
Bleiben wir aber bei dem Fall. Für die wenigen wei- ben, Frau Kollegin!)
(B) ßen Flecken gibt es in Deutschland sogar das Mindestar- (D)
beitsbedingungengesetz. Das ist seit zehn Jahren zunehmend nicht mehr der Fall:
23 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Niedriglohnbe-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und? Greift reich. In der Exportnation Deutschland gibt es Löhne un-
das? Hilft das?) ter 5 Euro. Das kann doch gar nicht wahr sein; das ist ein
Wir können eine Lösung für diese Branchen finden. echter Skandal.
Wenn Sie mehr wollen, (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! – Brigitte [FDP]: Dann lesen Sie Art. 9!)
Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir Herr Kolb sagte, dass es 11 000 Aufstocker gibt. Da-
wollen mehr!) mit kann er doch nur seinen Landkreis in der Nähe von
dann müssen Sie zugeben: Sie wollen einen allgemeinen Frankfurt meinen.
Mindestlohn; das sagen Sie auch offen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Vollzeitbe-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir sind ehr- schäftigte Alleinstehende bei 22 Millionen Be-
lich! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, natürlich schäftigten!)
wollen wir das!) Für Deutschland gilt das nicht. Das gilt vielleicht für Ba-
Ich sage Ihnen: Ein allgemeiner Mindestlohn, eine allge- benhausen. Mein Kollege Klaus Ernst hat die Antwort
meine politische Lohnuntergrenze, die von Aachen bis der Bundesregierung auf die Frage, wie viele vollzeitbe-
Cottbus und von Flensburg bis Konstanz gilt und für alle schäftigte Aufstocker es in Deutschland gibt: 326 000,
Branchen identisch ist, wird nicht zu höheren Löhnen, nicht 11 000.
sondern zu höherer Arbeitslosigkeit führen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Max Kolb [FDP]: Da sind Verheiratete mit Kindern
Straubinger [CDU/CSU] – Widerspruch bei dabei! Sie sollten nicht Äpfel mit Birnen ver-
der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeord- gleichen!)
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Insofern ist es gut, dass die CDU auf ihrem Parteitag das
Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die eigenen Stu- Fenster für den Mindestlohn aufmachen will. Links
dien zeigen das Gegenteil! Sind Sie denn nicht wirkt!
mehr in der Lage, zu lesen? Sie haben Toma-
ten auf den Augen!) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16507
Jutta Krellmann
(A) Aber was wollen Sie jetzt machen? Die Informatio- Meine Damen und Herren aus der CDU, Sie haben (C)
nen werden immer diffuser und – wir haben Herbst – im- mit Ihrer Diskussion Erwartungen bei den Menschen ge-
mer vernebelter. Die Informationen, die ich habe, sind weckt,
aus dem Text des Antrages für den CDU-Parteitag – ich
zitiere –: (Zuruf von der CDU/CSU: Sie nicht!)

Die CDU Deutschlands hält es für notwendig, eine nämlich die Erwartungen, dass das Zimmermädchen im
allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze in den Hotel, der Kellner im Restaurant, die Beschäftigten im
Bereichen einzuführen, in denen ein tarifvertraglich Callcenter, die Eisverkäuferin im Freizeitpark, der Toi-
festgelegter Lohn nicht existiert. lettenmann auf der Autobahnraststätte endlich einen all-
gemeinverbindlichen Mindestlohn erwarten können.
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ja, genau 85 Prozent der Menschen haben sich nach einer aktuel-
so! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann bleibt len Umfrage dafür ausgesprochen.
ihr doch bei 4 Euro! Das ist doch die Konse-
quenz!) Aber die herbstliche Vernebelung geht weiter. Aktu-
elle Stichpunkte aus der Debatte sind: Die Tarifvertrags-
Jetzt geht das Geschacher los: parteien sollen sich am besten ohne Staat und ohne Wis-
(Frank Heinrich [CDU/CSU]: Das ist nicht senschaft auf eine Lohnuntergrenze einigen – aber nur in
„Geschacher“! Das ist Diskussion!) Branchen, in denen es keine Tarifbindung gibt – und re-
gionale Unterschiede zulassen.
Frau Merkel spricht sich für eine Lohnuntergrenze aus.
Ja, toll. Das verbindet sie aber mit dem Ziel: keine An- Auf gut Deutsch heißt das: Mit der CDU wird es kei-
bindung an die Löhne in der Leiharbeit. Abweichungen nen Mindestlohn geben. Mit der CDU wird das Gerangel
nach unten sollen möglich sein. um Branchenmindestlöhne weitergehen. Im Grunde ha-
ben wir bereits Branchenmindestlöhne; das wurde schon
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Art. 9 Abs. 3 mehrfach angesprochen. Gewerkschaften werden in die
Grundgesetz, Frau Kollegin Krellmann! Sie Situation gebracht, mit Arbeitgebern über Sachen zu
müssen es ganz lesen, nicht nur Art. 1!) verhandeln, die die Arbeitgeber eigentlich gar nicht wol-
len, und zu Bedingungen, die die Arbeitgeber diktieren.
Auch ich will keine Anbindung an die Löhne in der Das, Kolleginnen und Kollegen, ist die Aufforderung
Leiharbeit – das sage ich ganz deutlich –, nicht weil mir zum kollektiven Betteln.
das zu viel ist, sondern weil mir das eindeutig zu wenig
ist. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias
(B) Zimmer [CDU/CSU]: Das ist Unfug! – Peter (D)
(Beifall bei der LINKEN)
Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Eine Un-
7,89 Euro im Westen und 7,01 Euro im Osten sind mir verschämtheit, Tarifverhandlungen so zu dis-
einfach zu wenig. Unsere Forderung ist: 10 Euro für alle. kreditieren! Ich frage Sie, wes Geistes Kind
Sie sind! Das ist unglaublich! – Dr. Matthias
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Totalitäres Politikver-
Zimmer [CDU/CSU]: Erklären Sie das den Ta- ständnis!)
rifpartnern, den Gewerkschaften!)
Branchentarifverträge funktionieren dort, wo Gewerk-
Frau Merkel macht einen Knicks vor der Arbeitgeber- schaften die Verhandlungsmacht haben dank kollektiver
lobby. Mitgliedschaft sowie der Drohung, im Zweifel das Recht
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!) der kollektiven Arbeitsniederlegung, nämlich das Streik-
recht nach Art. 9 des Grundgesetzes, wahrzunehmen.
Ich kann nicht verstehen, wieso sich die Ostfrau Merkel
nicht für gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West Das Streikrecht steht in Verbindung mit Tarifverträ-
einsetzt, obwohl sie selbst aus dem Osten kommt. gen. Das eine funktioniert ohne das andere nicht. Zu sa-
gen: „Die Gewerkschaften sollen jetzt endlich einmal
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias verhandeln“, ist doch Blödsinn.
Zimmer [CDU/CSU]: Weil es die Tarifpartner
so beschlossen haben! – Max Straubinger (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
[CDU/CSU]: Sie setzt sich mehr ein für Ost Kolb [FDP]: Die Gewerkschaften entscheiden
und West!) aber selbst, in welchem Umfang sie das einset-
zen! Da können Sie nicht kommen und sagen:
Ich als Urwessi setze mich dafür ein, weil ich die Macht mal!)
Schnauze voll davon habe, dass alle toll finden, dass die
Mauer weg ist, Sie aber nichts tun, damit sich die Le- Wenn Gewerkschaften nicht die Möglichkeit haben, zu
bensverhältnisse in irgendeiner Form angleichen – Arbeitsniederlegungen aufzurufen, wird es keine Tarif-
nichts! verträge geben, sondern dann bleibt es beim kollektiven
Betteln.
(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-
mendingen] [CDU/CSU]: Nicht der Frau (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zu-
Merkel sagen, sondern der Gewerkschaftsfüh- ruf von der CDU/CSU: Sind Sie schon aus der
rung! Die machen die Tarifverträge!) Gewerkschaft ausgetreten?)
16508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Jutta Krellmann
(A) Sie haben Erwartungen bei den Menschen geweckt. Werte Kolleginnen und Kollegen, der Titel der Aktu- (C)
Ich möchte Sie auffordern: Erfüllen Sie die Erwartun- ellen Stunde lautet: Haltung der Regierungskoalitionen
gen! zur Einführung eines Mindestlohns.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie viele haben
Zimmer [CDU/CSU]: Generalstreikgouver- Sie denn?)
nante!) – Herr Kollege Heil, von den Linken wurde also offen-
Die Menschen erwarten einen Mindestlohn, der für alle sichtlich die falsche Frage gestellt. Denn Sie haben be-
gilt und der nach unserer Position 10 Euro betragen soll. mängelt, dass die Bundesregierung nicht darauf antwor-
Tun Sie etwas, bewegen Sie sich und machen Sie das tet.
Fenster wieder zu, das Sie selbst geöffnet haben! (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gehört die
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hören Bundesregierung nicht zur Koalition?)
Sie wenigstens auf Laumann!) Wir antworten als Regierungsfraktionen.
Vielen Dank. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, die Koali-
tion!)
(Beifall bei der LINKEN)
Der Kollege Kolb hat bereits darauf hingewiesen:
Vizepräsident Eduard Oswald: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Alles Nötige ge-
Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. – Jetzt für die sagt!)
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Max Straubinger.
Wir stehen zur vollen Tarifautonomie und nicht zu einer
Bitte schön, Kollege Straubinger.
bevormundenden Tarifautonomie durch staatlich festge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- setzte Löhne.
neten der FDP) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herr Laumann
ist Sozialist, oder was?)
Max Straubinger (CDU/CSU):
Darüber hinaus steht eindeutig in unserem Koalitions-
Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Frau Kolle- vertrag, dass wir gesetzliche Mindestlöhne ablehnen.
gin Krellmann, Sie haben sich gerade darüber ausgelas- Dabei wird es auch bleiben;
sen, dass die Frau Bundeskanzlerin und die Bundesregie-
rung nichts für die Angleichung der Lebensverhältnisse (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(B) im Osten und Westen tun würden. der FDP) (D)
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Ja, da stehe denn es ist richtig, dass wir auf Branchenmindestlöhne
ich zu! – Zurufe von der LINKEN: Ja! Rich- setzen. Das hatte im Bereich Pflege großen Erfolg.
tig!) Herr Kollege Heil, im Übrigen wurde der erste Bran-
Ich möchte zunächst feststellen: Sie von der linken chenmindestlohn unter einer CDU/CSU-FDP-Bundesre-
Seite waren überhaupt einmal gegen die Wiedervereini- gierung mit tatkräftiger Unterstützung des Kollegen
gung – vor allen Dingen Ihr Fraktionsvorsitzender, der Kolb, der damals Parlamentarischer Staatssekretär war,
gerade den Saal verlässt. eingeführt.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bayern- So viel zur Geschichte.
kurier! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
CSU war doch gegen das Grundgesetz!)
der FDP)
Damit wären den Menschen gute Lebensverhältnisse Wir sind uns unserer sozialen Verantwortung den Men-
vorenthalten worden. Das ist letztlich der Punkt hier. schen gegenüber bewusst. Mittlerweile haben wir Bran-
Darüber hinaus möchte ich auch daran erinnern, dass chenmindestlöhne in den Bereichen Pflege, Gebäuderei-
mittlerweile viele Löhne in Ost und West zu 100 Prozent nigerhandwerk, Wäschereien und Wach- und Sicherheits-
angeglichen worden sind, zum Beispiel im Metallbe- dienst eingeführt.
reich. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
(Zurufe von der LINKEN) GRÜNEN]: Wie geht es jetzt weiter?)

Das ist mit entscheidend dafür, dass sich die Lebensver- Wenn das Gutachten vorliegt, das die Bundesregie-
hältnisse der Menschen im Osten so großartig entwi- rung eingeholt hat – möglicherweise haben Sie schon et-
ckeln – dies nur mit der Garantie dieser Bundesregie- was gelesen; das weiß ich nicht –,
rung. Das wäre garantiert nicht der Fall, wenn Sie (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann müssen Sie
Verantwortung tragen würden. sich an die Regierung wenden!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. wird möglicherweise deutlich, dass die Auswirkungen
Patrick Döring [FDP]) nicht feststellbar sind.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16509
Max Straubinger
(A) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann erzählen Sie Man sollte sich das Beispiel Frankreich genauer an- (C)
nicht so einen Unfug!) schauen. In Frankreich werden die Unternehmen, die
den Mindestlohn zu bezahlen haben, von der französi-
Es ist nicht klar, ob sie positiv oder negativ sind. Das ist schen Regierung tatkräftig unterstützt, indem die Sozial-
deshalb so, weil wir die Einführung des Mindestlohnes versicherungsbeiträge, die die Unternehmen zu leisten
auf einige Branchen beschränkt haben. haben, subventioniert werden. Diese Subvention betrug
Das Schlimmste, was im Bereich Arbeitsplätze pas- im Jahr 2002 19,2 Milliarden Euro. Im Jahr 2010 ist sie
sieren konnte, ist unter Rot-Grün passiert. Damals gab es mittlerweile auf 30 Milliarden Euro angestiegen. 30 Mil-
in Deutschland einen massiven Verlust an Arbeitsplät- liarden Euro für Lohnsubventionen, um den Mindest-
zen. Seitdem die Union wieder regiert – mittlerweile mit lohn zu garantieren! Ich bin überzeugt, dass es zu vielen
der FDP –, gab es einen gewaltigen Zuwachs an sozial- Fehlleitungen kommt und dass es in den Betrieben Mit-
versicherungspflichtiger Beschäftigung. nahmeeffekte gibt. Deshalb ist die Gestaltung unserer
Sozialpolitik besser: Derjenige, der von seinem erwirt-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schafteten Lohn nicht leben kann, kann aufstocken und
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Seitdem wird es ein menschenwürdiges Leben führen.
besser! Seitdem ist es richtig gut geworden! –
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das müssen Sie In diesem Sinne: Wir liegen mit unserer Einteilung
jeden Tag erzählen!) richtig. Wir brauchen dort Branchenmindestlöhne, wo
sie sinnvoll sind, wo die Tarifparteien das selbst verein-
Das ist darauf zurückzuführen, dass wir eine fundierte bart haben. Wenn es zum Leben nicht reicht, gibt es da-
Wirtschaftspolitik in Gang gesetzt haben, durch die die rüber hinaus staatliche Unterstützung.
Menschen ein gutes Einkommen erzielen können.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir reden doch Vizepräsident Eduard Oswald:
über Löhne! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist ein guter Schlusssatz, Herr Kollege.
Die Große Koalition haben Sie schon wieder
vergessen?) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist die Frage!
Wollen Sie bei 4 Euro bleiben, oder nicht?)
Nun sind wir wieder beim Thema Mindestlohn. Da-
mit wollen wir uns auch auseinandersetzen. – Diese Frage kann in der Aktuellen Stunde nicht mehr
beantwortet werden. Der Kollege hat keine Redezeit
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bravo!)
mehr.
Kollege Ernst hat zum einen das Thema Arbeitsplatzver-
(B) lust angesprochen. Zum anderen hat er darauf hingewie- Max Straubinger (CDU/CSU): (D)
sen, dass die Menschen auch von den Löhnen leben kön- Schade, dass ich die Frage nicht beantworten kann.
nen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wäre nicht
schlecht!)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Nehmen wir das Beispiel Frankreich, das von Ihnen Vielen Dank, Kollege Straubinger. – Nächste Redne-
oft als Vorzeigeland bezeichnet wird. Dort beträgt der rin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
gesetzliche Mindestlohn 9,10 Euro. Frau Kollegin Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Anette Kramme.
Nahles hat Großbritannien vorbildlich genannt. Ich Bitte schön, Frau Kollegin.
möchte feststellen: In Frankreich sind das im Monat
1 365 Euro brutto und in Großbritannien 1 086 Euro (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
brutto. Wissen Sie, wie hoch der niedrigste Tariflohn im
Hotel- und Gaststättengewerbe in Bayern – wohlge- Anette Kramme (SPD):
merkt: der niedrigste! – ist? Er liegt bei 1 361 Euro und
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
nach drei Monaten Einarbeitungszeit bei 1 464 Euro.
Kollegen! Wenn die Regierung ein Thema für wichtig
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!) hält, dann redet normalerweise die Spitze der Partei.
Dann redet die Bundeskanzlerin, alternativ der zustän-
Das sind letztlich die 8,50 Euro, die die SPD als Min- dige Fachminister oder die zuständige Fachministerin.
destlohn fordert.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist aber Le-
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Darum wollen wir gendenbildung, was Sie da betreiben! Ich
10 Euro!) würde noch einmal neu anfangen! Das wird
Dabei haben das die Tarifparteien bereits vereinbart. nichts!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hier und heute hat man den Eindruck, dass ein Sprech-
Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE verbot für die obersten Chargen dieser Regierung exis-
GRÜNEN]: Gibt es in Bayern nur Gaststätten, tiert.
oder was?)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Manfred
Deshalb bedarf es auch in dieser Hinsicht dieser Unter- Grund [CDU/CSU]: Wo ist denn Ihr Fraktions-
stützung nicht. vorsitzender?)
16510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Anette Kramme
(A) Das ist nachvollziehbar. Wir würden aber gerne wissen, [DIE LINKE]: Respekt vor den Menschen: (C)
ob Ursula von der Leyen noch an der Seite von Herrn 4 Euro!)
Laumann steht oder mittlerweile bei Frau Merkel ange-
langt ist. – Das ist nicht Respekt vor der Tarifautonomie, sondern
im Prinzip eine Missachtung der Tarifautonomie.
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Lassen
Sie uns doch erst einmal entscheiden! Dann re- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Sie kön-
den wir in zwei Wochen noch einmal darüber!) nen doch nicht urteilen über die Tarifverträge,
die die Gewerkschaften geschlossen haben!)
Herr Straubinger, Sie sagen, dass Sie sich um die
Menschen in diesem Land kümmern. Es gibt aber sehr – Herr Kolb, ich würde Ihnen das gerne erläutern. Es ist
viele Zahlen zum Niedriglohnsektor, die mehr als er- so, dass wir mehrere Hundert Tarifverträge in der Bun-
schreckend sind. desrepublik Deutschland haben, die Löhne unterhalb
von 8,50 Euro vorsehen.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben die
Gewerkschaften vereinbart!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, und?)

Angesichts der Zahlen müssten die Ministerpräsidenten Wenn Sie jetzt sagen, dass die Lohnuntergrenze nur dann
aller fünf neuen Bundesländer schreiend durch die Ge- greifen soll, wenn eine Tarifbindung nicht vorliegt,
gend laufen. Das Einkommen von mehr als 40 Prozent (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie können nicht
der Menschen in Ostdeutschland liegt unterhalb einer darüber richten!)
einheitlichen Niedriglohngrenze in Deutschland. Sie
verdienen also weniger als 1 800 Euro brutto. Wir kön- dann bedeutet das, dass Gewerkschaften, wenn sie ihren
nen auch Zahlen des IAQ nehmen: Das IAQ hat errech- Leuten etwas Gutes tun wollen, wenn sie den Arbeitneh-
net, dass 23 Prozent aller Haupt- und Nebenbeschäftig- merinnen und Arbeitnehmern in diesem Land etwas Gu-
ten von einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro tes tun wollen, künftig auf den Abschluss von Tarifver-
profitieren würden. Wie erschreckend! trägen verzichten müssen. Das ist ein Eingriff in die
Tarifautonomie und nicht das Gegenteil davon!
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie halten Sie es
mit der Tarifautonomie? Akzeptieren Sie die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
geschlossenen Tarifverträge, oder nicht?) LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das
ist ja eine seltsame Argumentation! Frau
Wir können das auch noch an anderen Zahlen festma-
Kramme, das können Sie besser!)
chen. Prognos hat eine Studie vorgelegt. Prognos hat uns
(B) auch einiges über die Wirkungen eines Mindestlohns ge- Sie sagen überdies, das Ganze solle branchenabhän- (D)
sagt. Dabei geht es um die Würde der Arbeit. Prognos gig laufen und nach Regionen differenziert. Wissen Sie,
hat aber auch belegt, wie volkswirtschaftlich sinnvoll die was das bedeutet? Das bedeutet, dass ganz viele Men-
Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro ist. Pro- schen in Deutschland mangels Informationen auf ihre
gnos hat belegt: 14 Milliarden Euro würden die Haus- Rechte verzichten werden. Da ein solches Verfahren
halte in der Bundesrepublik Deutschland zusätzlich ver- Jahre dauern wird, wird auch sichergestellt, dass Min-
dienen. Es wurde belegt, dass wir zusätzliche Einkom- destlöhne nicht kommen.
mensteuereinnahmen in Höhe von 2,7 Milliarden Euro
hätten. Es wurde belegt, dass die Sozialversicherungen Ein weiterer Punkt: Die Kanzlerin oder ihre Regie-
zusätzlich 2,7 Milliarden Euro einnehmen würden. Da- rung hat zunächst erklärt, dass man auf einen Maßstab
rüber hinaus ist herausgekommen, dass wir mit 80 000 für eine Lohnuntergrenze nicht verzichten wolle. Die
zusätzlichen Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik rech- Leiharbeit solle der Maßstab sein. Dann gab es einen To-
nen könnten. talrückzieher.

(Lachen des Abg. Patrick Döring [FDP]) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Ansatz war
von vornherein untauglich!)
Frau von der Leyen, wie das Baby heißt, ob „Lohnun-
tergrenze“ oder „Mindestlohn“, ist uns an sich egal. Das Herr Heinrich, Sie haben davon gesprochen, dass es
Paket, dass Sie an dieser Stelle schnüren wollen, ist aber künftig einen Überbietungswettbewerb in der Politik ge-
ein Nichts, ein Nullum. Das wird den Menschen in der ben würde. Was Sie mit diesem Verzicht einleiten wür-
Bundesrepublik Deutschland nicht helfen. den, ist ein Unterbietungswettbewerb.
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ein Nichts (Frank Heinrich [CDU/CSU]: Nein!)
kann nicht geschnürt werden!)
Wir haben bis heute nicht von Ihnen gehört, wie hoch
Ein Grund dafür ist, dass Sie wollen, dass die Min- der Mindestlohn in der Bundesrepublik Deutschland sein
destlöhne nur dann greifen, wenn es an der Tarifbindung soll. Sollen es 4 Euro sein, sollen es 5 Euro sein, sollen
fehlt. es 5,50 Euro sein, oder sollen es 6 Euro sein?
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Das ist der (Frank Heinrich [CDU/CSU]: Ich habe von
Respekt vor der Tarifautonomie! Das ist auch der Anlehnung gesprochen! – Dr. Heinrich L.
geboten! – Gegenruf des Abg. Hubertus Heil Kolb [FDP]: Auf der nach oben offenen
[Peine] [SPD]: Ein Placebo! – Klaus Ernst Kramme-Skala ist noch ein bisschen Platz!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16511
Anette Kramme
(A) Dies ist offensichtlich ein Zugeständnis an den Wirt- (Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär: Und (C)
schaftsflügel Ihrer Partei. Heinrich Kolb!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler ist in
LINKEN) Deutschland kein einziger Mindestlohn vereinbart wor-
den.
Zum Abschluss Folgendes: Arbeit muss Würde ha-
ben, und würdige Arbeit ist existenziell für das Leben im (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil
Alter, für eine Rente, von der man leben kann. Sie leiten [Peine] [SPD]: Schon einmal etwas von Olaf
hier momentan einen Prozess ein, der zu Altersarmut im Scholz und Franz Müntefering gehört?)
großen Maßstab führen wird. Deshalb kann man Ihnen
nur sagen: Besinnen Sie sich und kommen Sie endlich Aber heute, mit einer christdemokratischen Bundes-
zur Vernunft! kanzlerin und selbst in einer Koalition mit der FDP
– dies hätten viele nicht vermutet –, gibt es in zehn Bran-
Vielen Dank. chen in Deutschland Mindestlöhne, die die Tarifpartner
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vereinbart haben und die die Frau Bundesarbeitsministe-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE rin per Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich er-
GRÜNEN – Zuruf von der LINKEN: Dafür klärt hat, das heißt, sie gelten für alle Arbeitnehmerinnen
brauchen wir 10 Euro! – Gegenruf des Abg. und Arbeitnehmer in dieser Branche, ob sie organisiert
Manfred Grund [CDU/CSU]: 20 Euro! 30 Euro! sind oder nicht. Das ist ein großer Erfolg. Mindestlöhne
40 Euro! – Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. sind das Markenzeichen der CDU.
Kolb [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der
SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN
Vizepräsident Eduard Oswald: und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Vielen Dank, Frau Kollegin Anette Kramme. – Jetzt Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das mussten wir
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter Ihnen abtrotzen in den Verhandlungen, Herr
Weiß. Bitte schön, Kollege Peter Weiß. Weiß! Sie machen hier eine schöne Show! –
Weitere Zurufe)
(Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil
[Peine] [SPD]: Wir freuen uns schon auf den Erst gestern hat der Gemeinsame Tarifausschuss – er
Eiertanz!) besteht aus drei Vertretern der Arbeitgeber und drei Ver-
tretern der Gewerkschaften – getagt und zum Beispiel
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): den Mindestlohn für die Dachdecker verlängert.
(B) (D)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, und? – Gegenruf
Zum Schluss dieser Aktuellen Stunde bleibt mir nur von der CDU/CSU: Was heißt „und“?)
noch eine Feststellung: Bei der Opposition geht die
blanke Angst um. Morgen erscheint der Bundesanzeiger neu.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Klaus Ernst [DIE LINKE]: „Allgemeine Lohn-
der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD untergrenze“ ist das Thema! Thema verfehlt,
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Weiß!)
Es ist die blanke Angst davor, dass das Thema Mindest- Darin werden Sie schwarz auf weiß die Bekanntgabe des
lohn als Verunglimpfungsthema gegen die Regierungs- neuen Mindestlohns in der Zeitarbeit lesen können,
koalition und die sie tragenden Parteien abhandenkom-
men könnte. Das wurde hier heute vorgeführt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, haben wir
durchgesetzt! – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir reden über etwas anderes!)
neten der FDP – Lachen bei der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hubertus Heil den die Bundesministerin ebenfalls für allgemein ver-
[Peine] [SPD]: Klauen Sie es uns bitte! Pla- bindlich erklären wird. Dann bekommen Zeitarbeiter
giat! Bitte Plagiat! – Klaus Ernst [DIE nicht mehr nur 5 Euro pro Stunde, dann müssen im Wes-
LINKE]: Jetzt haben Sie mich aus der Debatte ten mindestens 7,89 Euro und im Osten 7,01 Euro ge-
befreit!) zahlt werden,
Die Behauptung, CDU, CSU und FDP seien strikt ge- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Weiter!)
gen Mindestlöhne, ist schon deswegen falsch, und zwar nicht, weil die Politik es so beschlossen hat,
(Zuruf des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜND- sondern weil Gewerkschaften und Arbeitgeber diesen
NIS 90/DIE GRÜNEN]) Mindestlohn vereinbart haben.
weil – es ist schon erwähnt worden – der erste branchen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
bezogene Mindestlohn in Deutschland unter einer Regie- neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
rung von CDU/CSU und FDP, unter Helmut Kohl und Herr Weiß, was haben Sie eigentlich gegen
Bundesarbeitsminister Norbert Blüm vereinbart worden den Laumann? – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
ist. Herr Laumann wird jetzt ausgeschlossen! –
16512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Peter Weiß (Emmendingen)


(A) Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb Mit Interesse verfolgen wir, dass auch einige Kolle- (C)
[FDP]) ginnen und Kollegen der FDP darüber nachdenken, ob
eine allgemeine Lohnuntergrenze nicht eine sinnvolle
Nun gibt es trotz dieses erfolgreichen Wegs Bran- Sache sein kann.
chen, in denen voraussichtlich keine branchenbezogenen
Mindestlöhne vereinbart werden. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha! Klaus
Ernst [DIE LINKE]: Na ja! Mal sehen, was da-
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Hört! Hört!) bei herauskommt!)
Das ist Anlass dafür, dass sieben Landesverbände, meh- Der große Unterschied ist:
rere Vereinigungen der Partei und 21 Kreisverbände für
den CDU-Bundesparteitag, der am Montag und Dienstag (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ist das noch
der kommenden Woche in Leipzig stattfinden wird, An- eine Koalition oder was?)
träge gestellt haben,
Wir sind der Auffassung: Deutschland hat seinen Erfolg
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gegen Frau der Tarifautonomie zu verdanken. Die Tatsache, dass die
Merkel! – Gegenruf des Abg. Paul Lehrieder Tarifpartner anständige Löhne ausgehandelt haben,
[CDU/CSU]: Nicht gegen! Für!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es! –
in denen sie vorschlagen, dass wir eine allgemeine un- Klaus Ernst [DIE LINKE]: „Anständig“?
tere Lohngrenze für all die Bereiche festlegen, in denen 4 Euro sind doch nicht anständig!)
branchenbezogen nichts geregelt ist, dass diese Lohn-
grenze von den Tarifparteien, den Gewerkschaften und hat zum Wohlstand der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
Arbeitgeberverbänden, ausgehandelt wird und anschlie- nehmer in Deutschland beigetragen.
ßend durch die Bundesregierung für allgemeinverbind- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
lich erklärt werden soll, sprich: für alle gelten soll, egal
ob In- oder Ausländer, ob in der einen oder der anderen Den Weg, über Tarifverträge und anschließend durch
Branche beschäftigt. All die Zeitungsmeldungen, die staatliche Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zu gu-
hier vorgetragen worden sind, geben das, was in den An- ten Löhnen in Deutschland zu kommen,
trägen steht, nicht wieder.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was für eine
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha!) Lautstärke!)
(B) (D)
Die Mühe, darauf hinzuweisen, hat sich niemand von der wollen wir weitergehen und weisen den Vorschlag, dies
Opposition gemacht. durch staatliche Gesetzgebung zu ersetzen, entschieden
zurück.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Böse Presse!
Die fiesen Journalisten in Deutschland! Die (Anette Kramme [SPD]: Kann man ihn leiser
haben Sie wohl nur nicht verstanden!) drehen?)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich können Wir wollen den Vorrang der Tarifautonomie für gute
Sie heute eine Aktuelle Stunde beantragen. Aber: Die Löhne in Deutschland.
CDU ist wie die CSU und die FDP
Vielen Dank.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wirr!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
– ich hoffe, wie auch die anderen – eine demokratische Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ganz schön laut
Partei. gebrüllt!)

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Vor allem durch-


Vizepräsident Eduard Oswald:
einander seid ihr!)
Kollege Peter Weiß war der letzte Redner in unserer
Bei uns entscheidet nicht die Parteivorsitzende, nicht ein Aktuellen Stunde, die damit beendet ist.
einzelner Landesverband,
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bei euch ent- ordnungspunkt 5 auf:
scheidet niemand!)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
auch nicht die Fraktion oder ein Abgeordneter. Bei uns richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt-
entscheidet der Bundesparteitag in der nächsten Woche, entwicklung (15. Ausschuss)
wie das Konzept der Union aussieht.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Veronika
(Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil Bellmann, Dirk Fischer (Hamburg), Arnold
[Peine] [SPD]: Herr Weiß, machen Sie dann Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
auch einen Gesetzentwurf, oder nicht?) der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16513
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Luksic, Patrick Döring, Werner Simmling, weite- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir (C)
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP begrüßen die Vorlage des Weißbuches. Das Weißbuch ist
notwendig. Europa braucht eine einheitliche und umfas-
Weißbuch Verkehr – Auf dem Weg zu einer sende Strategie zur Sicherung einer nachhaltigen Mobili-
nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität tät. Denn Mobilität stellt einerseits für uns persönlich ein
– zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Groß, großes Stück Freiheit und Lebensqualität dar. Anderer-
Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abge- seits ist die Mobilitäts- und Verkehrsbranche auch eine
ordneter und der Fraktion der SPD innovative und leistungsstarke Branche, die einen hohen
Anteil am wirtschaftlichen Wachstum und an der Schaf-
EU-Weißbuch Verkehr – Neuausrichtung der fung von Arbeitsplätzen hat.
integrierten Verkehrspolitik in Deutschland
und in der Europäischen Union nutzen Gleichzeitig werden im Verkehrssektor aber eben
25 Prozent der Treibhausgasemissionen produziert. Aus
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton diesem Grunde bestehen auch hier die Notwendigkeit
Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, und zugleich die Verantwortung, Ökologie und Ökono-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- mie mit Augenmaß zu verknüpfen. Das heißt insbeson-
NIS 90/DIE GRÜNEN dere, dass die Mobilität der Zukunft umwelt- und klima-
Weißbuch Verkehr für Trendwende der Ver- gerecht ausgestaltet sein, den Mobilitätsbedürfnissen der
kehrspolitik in Deutschland und Europa nut- Bürger entsprechen, aber bezahlbar sein muss und auch
zen den wirtschaftlichen Wachstums- und Entwicklungszie-
len Europas gerecht werden muss.
– Drucksachen 17/7464, 17/7177, 17/5906, 17/7679 –
Genau diesen Gleichklang sehe ich im vorgelegten
Berichterstattung: Weißbuch nicht an jeder Stelle. Zwar enthält das Weiß-
Abgeordnete Veronika Bellmann buch Initiativen, die durchaus positiv zu bewerten sind,
Michael Groß so zum Beispiel der einheitliche Verkehrsbinnenmarkt,
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die die transeuropäischen Verkehrsnetze, die Einführung al-
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Sie sind damit ternativer Kraftstoffe und Verkehrsmanagementsys-
einverstanden. Dann ist das so beschlossen. teme, der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur oder die
Einführung von alternativen Finanzierungsmodellen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erste Hinsichtlich der weiteren von mir bereits genannten He-
unsere Kollegin Veronika Bellmann für die Fraktion der rausforderungen gibt es aber kaum bzw. nur ziemlich
(B) CDU/CSU. Bitte schön, Frau Kollegin Veronika vage Ansagen. Oder man muss schon sehr in die Ver- (D)
Bellmann. zweigungen einsteigen, wie in die kürzlich von der EU-
Kommission vorgelegten Verordnungsentwürfe zu den
(Beifall bei der CDU/CSU) transeuropäischen Netzen und den damit in Verbindung
stehenden neuen Finanzierungsmodellen, Connecting
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Europe Facility genannt.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Seit den Römischen Verträgen 1958 Selbst wenn wir auch da grundsätzlich Zustimmung
ist die Verkehrspolitik klassisches Handlungsfeld euro- signalisieren können, so verkennen wir doch nicht, dass
päischer Politik. Seit 2001 wird die Konkretisierung der nicht nur finanztechnisch „gehebelt“ werden soll – das
europäischen Verkehrspolitik in Weißbüchern vorge- ist ja in den jüngsten Tagen ein Modewort geworden –,
nommen. 2001 gab es das erste, 2006 das zweite, und sondern auch hinsichtlich der Kompetenzen der Europäi-
nunmehr, seit dem 28. März dieses Jahres, gibt es das schen Union und der Personalausstattung. So soll zum
dritte. Es trägt den Titel „Fahrplan zu einem einheit- Beispiel mit den transeuropäischen Netzen wieder eine
lichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wett- Korridorbildung einhergehen. Für die Korridore soll es
bewerbsorientierten und ressourcenschonenden Ver- Koordinatoren geben. Früher gab es dafür Exekutiv-
kehrssystem“. agenturen, Sekretariate oder Beobachtungsstellen. Weil
das alles politisch nicht mehr ganz korrekt ist, nennen
Mit der Vorlage dieses Weißbuches formuliert die Eu- sich die Agenturen heute Komitees. Hier müssen wir
ropäische Kommission die Neuausrichtung der europa- also schon ganz genau hinschauen, ob das hinsichtlich
weiten Verkehrspolitik bis zum Jahr 2020. Darüber hi- der Subsidiarität nicht ausufert.
naus entwirft sie zugleich eine Vision bis 2050. Damit
die Ziele der Nachhaltigkeit – das dritte Weißbuch ver- Subsidiarität im Zusammenhang mit dem Weißbuch
schreibt sich vor allen Dingen dem Ziel der Nachhaltig- mahne ich auch an, bezogen auf die Infrastrukturpla-
keit –, der Sicherheit, der Weiterentwicklung des Ver- nungshoheit, die nationalen Anteile der Finanzierung
kehrsbinnenmarktes und des Abbaus der Abhängigkeit von Verkehrsinfrastrukturen, die Komodalität oder auch
vom Rohstoff Öl erreicht werden, hat die Europäische die Organisation städtischer Verkehre. So greift die Eu-
Kommission dem Papier 40 Maßnahmen in einem Paket ropäische Kommission mit ihrer Kraftstoffstrategie für
bzw. einer Anlage angehängt. Sie sind ohne Zweifel sehr Städte in die Souveränität der Kommunen ein, da ohne
ambitioniert, manchmal auch sehr visionär, aber durch- Kenntnis der lokalen Rahmenbedingungen pauschale
aus umsetzbar. Vorgaben für Bürger, kommunale Dienste, Wirtschafts-
16514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Veronika Bellmann
(A) verkehre und den ÖPNV gemacht werden. Hier muss in Dort, wo Sie konkreter werden, zum Beispiel bei der (C)
jedem Falle nachjustiert werden. Forderung, die Einnahmen aus Investitionen in Ver-
kehrsinfrastruktur europaweit an den Einsatz in Ver-
(Beifall des Abg. Oliver Luksic [FDP]) kehrsinfrastruktur zu binden, verstoßen Sie gegen das
Subsidiaritätsprinzip. Auch wir sind für diese Zweckbin-
Aus diesem Grund haben wir als Koalitionsfraktionen dung. Wir haben in diesem Jahr damit angefangen, die
unseren Antrag mit dem Titel „Weißbuch Verkehr – Auf Mauteinnahmen komplett für Maßnahmen im Zusam-
dem Weg zu einer nachhaltigen und bezahlbaren Mobili- menhang mit der Straßenverkehrsinfrastruktur einzuset-
tät“ eingebracht. Mit ihm geben wir unserer Bundesre- zen. Aber wir wollen diese Zweckbindung nicht auf eu-
gierung einige Forderungen mit auf den Weg, um auf eu- ropäischer, sondern auf nationaler Ebene.
ropäischer Ebene entsprechend zu verhandeln, damit wir
im Mobilitäts- und Verkehrssektor der Zukunft Ökologie Ich komme noch zu einem letzten Punkt, bei dem ich
und Ökonomie ordentlich miteinander verzahnen. durchaus Gemeinsamkeiten sehe. Unser Antrag enthält
den Passus, in dem wir uns unter anderem für die Be-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es liegen rücksichtigung nationaler Arbeitsschutz- und Sozialstan-
noch zwei andere Anträge bezogen auf das Weißbuch dards bei allen zur Liberalisierung anstehenden Berei-
Verkehr vor, nämlich einer der Grünen und einer der chen aussprechen. Sie als SPD formulieren das in Form
SPD. Ich habe gestern in den Ausschussberatungen ein- von „Sozialdialogen“ und fordern einen Ausgleich im
mal den Versuch gemacht, die Gemeinsamkeiten in den Zusammenhang mit ökologischen, ökonomischen und
Anträgen hervorzuheben. Ich glaube, das ist mir an vie- sozialen Standards. Schaut man sich das Weißbuch ein-
len Stellen gelungen. Man kann sie zumindest den mal genauer an, so stellt man fest, dass dort eine Überar-
schriftlichen Anträgen deutlich entnehmen. In der Dis- beitung der Bodenabfertigungsrichtlinie gefordert wird.
kussion wurde es dann aber doch – insbesondere seitens Dabei ist zu erwarten, dass mit Dumpinglöhnen gearbei-
der Grünen – etwas ideologisch, als es um die Verlage- tet wird, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das akzep-
rung des Luft- und Straßenverkehrs auf die Schiene und tieren wir nicht.
auf Wasserstraßen ging.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das wollen
Wir sind auch für Verkehrsverlagerungen, aber immer Sie doch!)
nur dort, wo es sinnvoll ist, also nicht auf Gedeih und
Verderb. Wir sehen die im Weißbuch dargelegten Ziele – Nein.
sehr kritisch: Bis 2050 sollen der Straßengüterverkehr
und auch große Teile des Personenverkehrs ab 300 Kilo- Vizepräsident Eduard Oswald:
meter Streckenlänge auf die Schiene verlagert werden. Frau Kollegin Bellmann, Sie wissen schon, was die (D)
(B)
Gleiches gilt für den Luftverkehr unter einer Strecken- Lichter vor Ihnen auf dem Pult bedeuten?
länge von 1 000 Kilometern. Das muss man sich einmal
vorstellen: Das sind alle innerdeutschen Verbindungen. (Heiterkeit)
Auch das Ziel, bis 2020 einen annähernd CO2-freien
Stadtverkehr zu erreichen, muss man sehr kritisch be- Veronika Bellmann (CDU/CSU):
trachten; denn die Reduktion der Anzahl konventioneller Jawohl, das weiß ich.
Fahrzeuge um 50 Prozent bis 2030 und um 100 Prozent
bis 2050 ist nicht nur ambitioniert, sondern dahinter Der ökologische, ökonomische und – das ist der letzte
steckt auch ein hoher Kostenfaktor. Punkt, den ich genannt habe – soziale Ausgleich ist im
Antrag der Koalitionsfraktionen enthalten. Daher ist die-
Darum sagen wir: Pauschale dirigistische Vorgaben ser Antrag der weitgehendste von allen drei vorliegen-
sind nicht zielführend, vor allen Dingen dann nicht, den Anträgen. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Unterstüt-
wenn sie in Bezug auf Mengen, Zieldaten und Entfer- zung für diesen Antrag hinsichtlich des Weißbuches
nungen gemacht werden. Solche Vorgaben müssen tech- Verkehr der Europäischen Union.
nologieneutral und verkehrsträgerneutral sein; denn an-
sonsten verhindern sie Innovationen für effizientere Herzlichen Dank.
Antriebe, neue Kraftstoffe, intelligente Verkehrsleitsys- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
teme und auch Elektromobilität. Dafür bieten Sie nichts
weiter als massive Staatseingriffe und Verteuerung für
Staat und Bürger. Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Bellmann. – Jetzt für die
Ich komme jetzt auf den Antrag der SPD zu sprechen. Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Martin
Dort finden sich einige Gemeinsamkeiten mit unseren Burkert. Bitte schön, Kollege Martin Burkert.
Positionen. Das liegt aber auch daran, dass die
(Beifall bei der SPD)
47 Punkte, die Sie in Ihrem Forderungskatalog darlegen,
überwiegend Allgemeinplätze beinhalten. Sie fordern
die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass die Wert- Martin Burkert (SPD):
schöpfung und die Arbeitsplätze auch bei einem umfas- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
senden Strukturwandel in Deutschland und Europa blei- gen! Sehr verehrte Damen und Herren auf den Tribünen!
ben sollen. Das versteht sich für meine Begriffe von Täglich sind Menschen in Deutschland unterwegs: be-
selbst. ruflich, privat, in der Stadt, auf dem Land, regional und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16515
Martin Burkert
(A) über Landesgrenzen hinaus, gemäß dem Motto: heute (Zuruf von der FDP: War das jetzt die Rede (C)
hier, morgen dort, zu Land, zu Wasser und in der Luft. vom Gewerkschaftstag?)
Eine gut ausgebaute Infrastruktur betrifft jeden Ein- Fragen Sie doch einmal die Bürgerinnen und Bürger, ob
zelnen. Sie ist aber auch wesentlicher Bestandteil unse- sie an die gute Fee aus dem Märchen glauben.
rer Wirtschaft. Doch weder der Individual- noch der
Die Struktur der Bahn sollte nicht ständig infrage ge-
Handelsverkehr enden an den nationalen Grenzen. Des-
stellt werden. Ich bin der Meinung, nein. Ich zitiere mit
halb ist es richtig, dass das Weißbuch Verkehr, über das
Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, unseren Bundesminister
wir heute sprechen, den Verkehr in Europa als Ganzes
Ramsauer, der am 6. Oktober 2011 zur Entscheidung
betrachtet, dass es uns einen Fahrplan, eine Richtschnur,
über die Neufassung des dritten Eisenbahnpaketes der
gibt, wie der europäische Verkehrsraum in rund 40 Jah-
EU verlauten ließ, es sei falsch – Zitat – „aus ideologi-
ren aussehen soll.
schen Gründen ein erfolgreiches Modell aufzugeben und
Die bis 2050 gesteckten Ziele für mehr Umwelt- und damit einem Mitgliedstaat unwägbare Risiken zuzumu-
mehr Klimaschutz im Verkehr sind dringend notwendig ten“. Dies könne auch „nicht im europäischen Interesse
und werden von uns begrüßt. Wie in allen anderen Berei- liegen“.
chen muss auch der Verkehr seinen Beitrag leisten, um (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE
energieeffizienter zu werden, damit Europa möglichst GRÜNEN]: Die Große Koalition beginnt
unabhängig vom Öl wird. Das begrüßt die SPD-Bundes- schon!)
tagsfraktion selbstredend.
Herr Minister Ramsauer, wir nehmen Sie hier beim
Wir brauchen aber kein Weißbuch, mit dem wir nur Wort. Ob das Ihre Koalitionsfraktionen machen, lassen
von einem zukunftsfähigen Verkehr im Jahr 2050 träu- wir offen.
men. Wir brauchen ein Schwarz-auf-weiß-Buch, in dem
wir festlegen, was wir ganz konkret machen, um den Die Frage ist nämlich, welche Konsequenzen sich aus
Fahrplan im Weißbuch einzuhalten. Dafür bräuchte es in einer Trennung der Struktur der Deutschen Bahn AG er-
Deutschland aber eine wirkliche Takterhöhung. Wir geben würden.
bräuchten eine grundlegende Fahrplananpassung. Hier
(Patrick Döring [FDP]: Das ist alles nicht
haben die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Ko-
Thema des Weißbuchs!)
alitionsfraktionen die Weichen in der Verkehrspolitik
falsch gestellt. Für die DB-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter würde es
jedenfalls bedeuten, dass der konzernübergreifende, in-
(Beifall bei der SPD) tegrierte Arbeitsmarkt und damit auch die dort festgeleg- (D)
(B)
Die europäische Leitlinie ist laut Weißbuch völlig ten sozialen Standards, die Mitbestimmungsrechte, die
klar: Mehr Verkehr auf die Schiene und mehr Verkehr Arbeitsbedingungen usw., passé wären.
auf die Wasserstraße! Wie soll es aber zu einem starken (Patrick Döring [FDP]: Quatsch! Das steht al-
europäischen Eisenbahnverkehrsmarkt kommen, wenn les nicht im Weißbuch! Thema verfehlt!)
die Bundesregierung nach wie vor ausschließlich auf As-
phalt setzt? Alleine bei DB Dienstleistungen arbeiten zurzeit über
26 000 Menschen. Der Bereich trägt 4 Milliarden Euro
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zum Gesamtumsatz der DB AG bei. 4 000 Kolleginnen
NEN]: A 100! – Zuruf von der FDP: Steht das und Kollegen sind aus dem Bereich JobService, dem
denn im Weißbuch drin?) bahneigenen Arbeitsamt, gekommen. Sie mussten sich
Wie soll man die Wasserstraße sinnvoll nutzen, wenn nicht bei der Agentur für Arbeit arbeitslos melden. Ihre
diese jetzt auch noch bemautet werden soll? Herr Minis- Koalition, Herr Minister, stellt das allerdings immer wie-
ter, heute wäre ein guter Zeitpunkt, um deutlich zu ma- der infrage.
chen, ob die Kanäle zukünftig bemautet oder besteuert Herr Ramsauer, die grenzüberschreitende Beschäfti-
werden sollen. gung im Verkehrssektor ist so auszugestalten, dass So-
zialdumping ausgeschlossen ist. Das ist eine der Kern-
Mehr Verkehr auf der Schiene erreicht man auch nicht
aussagen im Weißbuch. Wenn es um die Tariftreue bei
einfach durch die Trennung von Netz und Betrieb bei der
öffentlichen Ausschreibungen geht, lässt sich bei einem
Bahn, indem also die Infrastruktur, das Streckennetz, in
Blick auf unser Bundesland Bayern leider nur Negatives
Staatshand verbleibt, die Beförderungs- und Trans-
berichten: Es gibt kein Tariftreuegesetz. Ein Schienen-
portsparte aber privatisiert wird. Das kann sicherlich
branchentarifvertrag für den Schienenpersonennahver-
nicht die ultimative Lösung sein.
kehr wird nicht vorgeschrieben.
(Patrick Döring [FDP]: Das fordert niemand in Ein Lokführer verdient nach Abschluss des Tarifver-
Deutschland!) trags der sieben großen Eisenbahnen 2 200 Euro, eine
Andere Länder haben vorgemacht, wohin das führt. Reinigungskraft 1 700 Euro, bei 26 Tagen Urlaubsan-
spruch und 4 Euro Sonntagszulage. Aber nicht einmal
Aber Privatisierung und Liberalisierung sollen das diese Mindestanforderungen will man in Bayern für
Allheilmittel sein: die gute Fee, durch die jeder Wunsch Ausschreibungen im Schienenpersonennahverkehr zum
erfüllt und alles gut wird. Standard machen. Das ist ein Skandal.
16516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Martin Burkert
(A) (Beifall bei der SPD und der LINKEN – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
Patrick Döring [FDP]: Das entscheidet das der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜND-
Land ganz frei!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! Es gibt
einen Unterschied zwischen Mobilität und
– Sie haben völlig recht, Herr Döring: Das entscheidet Verkehr!)
das Land. Das ist in Nordrhein-Westfalen und in Rhein-
land-Pfalz wesentlich besser geregelt. Der Verkehrssektor darf auch nicht ausschließlich als
Kohlendioxidverursacher betrachtet werden. Wir müs-
(Patrick Döring [FDP]: Deshalb gibt es da sen uns vielmehr darum kümmern, die Herausforderun-
auch keinen Wettbewerb!) gen zu bewältigen, die die Zunahme des Verkehrsauf-
Ich bin froh, dass ab 2013 nicht nur in der Bundesregie- kommens in ganz Europa und natürlich besonders in
rung wieder ein SPD-geführter Wind weht, sondern dass Deutschland mit sich bringt. Wir glauben, wir brauchen
wir uns auch in der bayerischen Landesregierung ab hier ein Miteinander der Verkehrsträger, Ko-Modalität,
2013 darum kümmern können. statt erzwungener Verlagerung. Unsere Regierung steht
für Pragmatismus statt Ideologie. Deswegen begrüßen
Ich sage ganz eindeutig: Einen Wettbewerb auf dem wir, dass das im Weißbuch klar zum Ausdruck kommt.
Rücken der Beschäftigten darf es nicht geben. Sie dürfen
nicht die Leidtragenden einer weiteren Europäisierung Wir haben uns gewünscht, dass es einen roten Faden
sein. Nein, ihnen muss gezeigt werden, dass dieses Eu- beim Thema Ko-Modalität gibt. Stattdessen finden wir
ropa eine Chance für uns ist. Das bringt dieses Weißbuch immer wieder – Kollegin Bellmann hat es angesprochen –
zum Ausdruck. einige dirigistische Maßnahmen, die wir kritisch bewer-
ten, beispielsweise den Gedanken einer Citymaut, dem
Herr Ramsauer, ich fordere Sie im Namen der Frak- wir wirklich eine Absage erteilen wollen, wie auch der
tion auf: Führen Sie die europäischen Sozialstandards Idee, dass in einer Innenstadt kein Auto mit konventio-
nicht nur ein, sondern setzen Sie sie auch so schnell wie nellem Antrieb mehr fahren darf. Für uns ist das Subsidi-
möglich durch. Das ist eines der Kernelemente. Das ist aritätsprinzip kein Selbstzweck, sondern es garantiert die
Ihre Aufgabe. Dabei wünschen wir Ihnen sogar viel Er- besten Lösungen auf der richtigen Ebene. Wir meinen:
folg. Brüssel muss sich – vielleicht noch mehr als bisher – um
Herzlichen Dank. grenzüberschreitende Verkehre bemühen, sich aber aus
regionalen und lokalen Verkehren heraushalten. Das
(Beifall bei der SPD) geht Brüssel nichts an.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Vizepräsident Eduard Oswald: der CDU/CSU)
(B) (D)
Vielen Dank, Kollege Burkert. – Als nächster Redner
für die Fraktion der FDP unser Kollege Oliver Luksic. Wir wollen stärker als bisher einen Austausch von
Bitte schön, Kollege Luksic. Best-Practice-Lösungen der Mitgliedstaaten, wo es mög-
lich ist, statt europaweit vorgeschriebener Regeln. Wir
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten brauchen beispielsweise im Bereich der Bodenabferti-
der CDU/CSU) gungsdienste – es wurde zu Recht angesprochen – keine
weitere Regulierung durch eine Verordnung. Die beste-
Oliver Luksic (FDP): hende Richtlinie ist ausreichend. Wir sollten dort, wo
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wir ein hohes Qualitätsniveau haben, Premiumlösungen,
widmen uns heute einem der wichtigsten Bereiche Euro- beispielsweise im Bereich der Fahrzeugüberwachung,
pas: der freien und grenzüberschreitenden Mobilität. herausstellen und auch in Brüssel offensiv vertreten. Es
Durch sie werden die Vorteile eines vereinten Europas geht hier wirklich um die Zukunftsfähigkeit des Ver-
im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar. Ich halte es für kehrssektors und der Mobilität in Europa. Dafür brau-
besonders wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag chen wir neue Modelle und Ideen, beispielsweise im Be-
ausführlich mit diesem Thema befasst; denn Deutsch- reich der Infrastrukturfinanzierung.
land ist als Transitland im Herzen Europas von verkehrs-
Ohne eine verlässliche Finanzierungsgrundlage sind
politischen Entscheidungen besonders betroffen.
auch die schönsten Projekte leider nur etwas für den
Das gilt auch für das Weißbuch Verkehr der Kommis- Wunschzettel. Es kommt auf die Umsetzung in der Pra-
sion. Wir als FDP-Fraktion begrüßen ausdrücklich, dass xis an. Hier brauchen wir in Zeiten knapper Kassen
sich neue Verkehrskonzepte – das ist in diesem Weiß- Innovationen. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir
buch klar formuliert – dem Bürger nicht aufzwingen las- als Koalition trotz der schwierigen Haushaltslage auf
sen. Wir brauchen hier eine Akzeptanz der Bürger und dem Koalitionsgipfel beschlossen haben, dass wir 1 Mil-
der Wirtschaft. Wir müssen wegkommen von ideolo- liarde Euro zusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur in
gisch motivierter Umerziehungspolitik, wie sie leider Deutschland ausgeben. Das ist gut, und das ist richtig.
auch im Antrag der Grünen ein Stück weit gefordert (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
wird. Wir als FDP unterstützen ausdrücklich den zentra- Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE
len Satz im Weißbuch Verkehr, dass die Einschränkung GRÜNEN]: Einfach mal Schulden machen!)
von Mobilität keine Option ist. Das ist auch Leitlinie li-
beraler Verkehrspolitik und entspricht der Haltung dieser Wichtig ist auch, dass wir auf europäischer Ebene
Koalition. eine Anrechnung der Umweltkosten erreichen. Dazu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16517
Oliver Luksic
(A) muss die Kommission ein Gesamtkonzept für alle Ver- Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
kehrsträger vorlegen. Ein Punkt, der unserer Fraktion be- Vielen Dank, Kollege Luksic. – Nächster Redner für
sonders wichtig ist: Wir müssen Verkehrsprojekte zügi- die Fraktion Die Linke ist unser Kollege Herbert
ger und effizienter als bisher realisieren, beispielsweise Behrens. Bitte schön, Kollege Herbert Behrens.
mit öffentlich-privaten Partnerschaften oder auch mit
(Beifall bei der LINKEN)
Projektanleihen, die die Europäische Kommission zu
Recht vorgeschlagen hat, um mehr privates Kapital für
große Infrastrukturprojekte zu bewegen. Das sollte mei- Herbert Behrens (DIE LINKE):
nes Erachtens auch die SPD anerkennen, statt dies rund- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
weg abzulehnen. werden keinen Fortschritt haben, wenn die Durchschnitts-
temperatur auf der Erde weiter steigt. Mehr Wohlstand
Wichtig ist für uns: Wir erhalten auch bei der Ent- werden wir nicht erreichen, wenn der Energiebedarf im
wicklung neuer Technologien Deutschland als führenden Verkehrssektor weiterhin zu 96 Prozent durch Öl ge-
Standort, beispielsweise in der Elektromobilität, aber deckt wird. Das sind Erkenntnisse aus dem Weißbuch
auch bei anderen Zukunftstechnologien, und wir müssen Verkehr der EU. Auspuffrohre von Lastwagen und Pkw
auch unseren Spitzenplatz als Logistikweltmeister be- sollen weniger von dem Klimakiller CO2 herauspusten,
haupten. Flugverkehr und Schifffahrt sollen genauso einsparen
wie die Kraftwerke, die für E-Mobilität auf Schiene und
Im Bereich des Schienenverkehrs, der eben ausführ- Straße gebraucht werden. Insgesamt 60 Prozent weniger
lich angesprochen wurde, ist für uns klar: Alle Länder CO2 sollen im Verkehrssektor bis zum Jahr 2050 ver-
müssen Hürden abbauen. Wir wollen einen fairen Wett- braucht werden.
bewerb. Welche Probleme wir in Europa immer noch ha-
ben, zeigen die Schwierigkeiten der Deutschen Bahn, Der Klimawandel ist dramatisch. Trotz der schon
lange diskutierten Klimaschutzziele stellen wir fest: Der
wenn sie mit ihren Zügen durch den Eurotunnel fahren
CO2-Ausstoß der Industrieländer wächst stärker als de-
will. Wir brauchen also weitere Liberalisierungsschritte
ren Wirtschaftsleistung; es ist übrigens das erste Mal seit
beim Netzzugang und bei der Trennung von Netz und Be-
zehn Jahren, dass wir das feststellen müssen. Das ist ein
trieb. Da ist gerade Deutschland gefordert. Herr Burkert,
gravierender Rückschritt. Das sogenannte 2-Grad-Ziel,
Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass es ein Vertrags- wonach die globale Durchschnittstemperatur gegenüber
verletzungsverfahren gegen Deutschland gibt. Wir erwar- vorindustriellen Zeiten nicht um mehr als 2 Grad steigen
ten mit Spannung das Urteil des Europäischen Gerichts- soll, ist nicht mehr zu erreichen, so die Nachrichten der
hofs und die weiteren Vorschläge von Kommissar Kallas vergangenen Tage. Wir müssen schon heute handeln,
(B) zur Öffnung der Eisenbahnmärkte. Dank Brüssel muss und zwar entschiedener, als im Weißbuch Verkehr emp- (D)
sich bei der Bahnpolitik auch hierzulande etwas bewe- fohlen wird. Schon heute müssen wir den Güter- und
gen. Personenverkehr umbauen, wir müssen ihn vermeiden,
verlagern und verbessern, damit unsere Kinder und En-
Herr Burkert, Sie haben eben die Gewerkschafts-
kel noch die Luft zum Atmen und die Chance auf die
standpunkte vorgetragen. Man weiß manchmal nicht, für
Gestaltung ihrer eigenen Zukunft haben.
wen Sie reden, ob für die Gewerkschaften oder für die
SPD. Auf jeden Fall ist das, was Sie von der SPD hier (Beifall bei der LINKEN)
vorschlagen, nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch
Wir brauchen in Europa und global eine Wirtschafts-
europarechtlich unzulässig. Das müssen Sie einfach zur
politik, die Verkehr vermeidet.
Kenntnis nehmen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dass Sie Pro- Jeder nicht gefahrene Kilometer bedeutet weniger Ölver-
bleme mit den Arbeitnehmerinteressen haben, brauch und weniger CO2-Ausstoß, jeder nicht auf der
ist schon klar!) Straße gefahrene Kilometer entlastet unsere Städte und
Dörfer. Unser Leben wird sicherer, Lärm und Gestank
Lassen Sie mich zum Ende sagen, dass die Koalition werden dadurch vermieden. Verkehrsvermeidung ist der
für ein vernünftiges Neben- und Miteinander der Ver- effektivste, der ökonomisch und ökologisch sinnvollste
kehrsträger steht statt erzwungener Verlagerungen, wie Weg, um den Klimawandel zu stoppen.
sie die Grünen wollen. Wir wollen eine Politik, die sich (Beifall bei der LINKEN)
um konkrete Verkehrsprobleme kümmert. Wir brauchen
innovative Konzepte wie Projektanleihen. Das ist unsere Davon ist im Weißbuch Verkehr der EU nichts zu finden,
Auffassung von vernünftiger Verkehrspolitik. Ich glaube, übrigens auch nicht in den Anträgen der Koalition,
wir müssen – das ist der Auftrag an die Bundesregierung –
(Oliver Luksic [FDP]: Das können Sie von uns
in Brüssel so früh wie möglich proaktiv alles begleiten nicht erwarten!)
und gestalten. Unser Antrag bietet dazu eine sehr gute
Grundlage. Wir haben gute Arbeit geleistet. und auch nur wenig in den Anträgen der SPD und der
Grünen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Diesen schweren Mangel im Weißbuch wollen auch
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie nicht ausgleichen. Im Antrag der CDU/CSU und der
16518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Herbert Behrens
(A) FDP heißt es dagegen – es wurde eben ansatzweise er- Wir brauchen auch in der Verkehrspolitik einen sozial- (C)
wähnt –, die Bereitstellung einer bedarfsgerechten und ökologischen Umbau, und das geht nur mit uns, der
leistungsfähigen Infrastruktur müsse im Fokus stehen. Linksfraktion.
(Oliver Luksic [FDP]: Ganz genau! – Patrick Vielen Dank.
Döring [FDP]: Dagegen sind Sie auch? Gegen (Beifall bei der LINKEN)
Infrastruktur?)
Hemmnisse des Wettbewerbs im Verkehrssektor sollten Vizepräsident Eduard Oswald:
abgebaut werden. Vollständige Liberalisierung des Vielen Dank, Kollege Herbert Behrens. – Jetzt spricht
EU-Eisenbahnverkehrs wird gefordert. Ihr Antrag, für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Dr. Anton Hofreiter. Bitte schön, Kollege Dr. Anton
ist von einem bekannten Marktradikalismus durchdrun- Hofreiter.
gen,
(Zurufe von der FDP: Oh!) Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
wenn er auch in Teilen gute Ideen enthält. Aber diese Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Ideen werden durch Ihren Ansatz plattgemacht. Diesen Kollegen! Wir wissen, dass unsere Mobilität aktuell zu
Radikalismus lehnen wir ab. 96 Prozent am Rohstoff Rohöl hängt, und wir wissen,
(Beifall bei der LINKEN) dass 70 Prozent des Rohöls, das wir Tag für Tag nach
Europa importieren, nur für Mobilität verbrannt werden.
Stattdessen brauchen wir ein radikales Denken, Wenn wir auf eine Änderung dieser Abhängigkeit set-
(Oliver Luksic [FDP]: Ach ja?) zen, dann tun wir das nicht aus ideologischen Gründen,
sondern weil es schlichtweg umweltpolitisch geboten
wenn wir Verkehrspolitik nachhaltig gestalten wollen. und einfach nur klug ist, die Verkehrsinfrastruktur, die
Das ist mit dem Programm von heute nicht mehr zu ma- Mobilitätsinfrastruktur bereits jetzt auf die Herausforde-
chen. Diese Politik muss ein gutes Leben und Arbeiten rungen der Zukunft auszurichten.
als Maßstab haben und die ökologischen Herausforde-
rungen wirklich ernst nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir wissen, dass die einzelnen Verkehrsträger unter-
Die Linke will deshalb eine sozial und ökologisch
schiedlich leicht auf diese Herausforderungen auszurich-
orientierte Verkehrspolitik, die Gesamtwirtschaft, die
ten sind. Wir wissen, dass die Eisenbahn leichter auf
Bedürfnisse der Menschen und die klimapolitischen
(B) CO2-frei oder CO2-arm umzustellen ist als der Personen- (D)
Ziele zusammen denkt. Diese Debatte müssen wir nicht
oder Gütertransport auf der Straße. Das sind die Hinter-
neu erfinden.
gründe, warum wir auf eine Verlagerung von der Straße
(Oliver Luksic [FDP]: Das haben wir alles auf die Schiene setzen.
schon gehabt: in der DDR!) (Zuruf des Abg. Patrick Döring [FDP])
Sie findet schließlich schon statt. Die Menschen machen Wir alle hier im Raum wissen doch, dass es von der
sich Gedanken darüber, wie beispielsweise der Güterver- Planung bis zur Realisierung von großen und aufwendi-
kehr aus Wilhelmshaven abtransportiert werden kann. gen Verkehrsinfrastrukturprojekten zum Teil Jahrzehnte
Sie machen sich Gedanken über unsinnige, teure Groß- dauert.
projekte im Verkehrswesen. Stuttgart 21 und die Küsten-
autobahn A 22 sind nur Synonyme dafür. (Oliver Luksic [FDP]: Vor allem da, wo die Grü-
nen regieren! Da dauert es noch länger!)
Unser Verkehrskonzept stellt zuerst die Fragen: Wel-
che Transporte sind notwendig? Welche Orte wollen die Das wissen wir alle, und wir kennen auch den Hinter-
Menschen erreichen? Wie können wir die Arbeits- und grund. Der Hintergrund ist ein eklatanter Mangel an
Lebensbedingungen der Menschen verbessern? – Die Geld bzw. eine gigantische Anzahl von Projekten, die
Antworten auf diese Fragen unserem Ziel letztendlich nicht dienen. Sie alle kennen
die Zahlen: 47 Milliarden Euro macht der Vordringliche
(Oliver Luksic [FDP]: Das muss die Politik Bedarf allein im Bereich der Straße aus. Wie viel Geld
entscheiden und nicht die Bürger selber!) steht zur Verfügung? – 1,2 Milliarden, 1,5 Milliarden
geben die Richtung für eine nachhaltige Mobilitätspoli- oder vielleicht 2 Milliarden Euro. Wenn einem Vordring-
tik vor. Die vorliegenden Anträge werden diesen An- lichen Bedarf von 47 Milliarden Euro gerade einmal
sprüchen jedoch nicht gerecht. 2 Milliarden Euro gegenübergestellt werden, dann – das
wissen wir alle – wird ein Großteil der Projekte nicht
(Oliver Luksic [FDP]: Sozialismus aber auch rechtzeitig realisiert werden können. Bei der Schiene
nicht!) schaut es mindestens genauso dramatisch aus.
Marktradikalismus ist keine Antwort auf den Klimawan- (Patrick Döring [FDP]: Ihr seid doch gegen
del. alle Projekte!)
(Patrick Döring [FDP]: Planungsradikalismus Was ist deshalb nötig? Es ist nicht nötig, auf einzelne
schon gar nicht!) Projekte zu setzen, die nur wenige Effekte für die Mobi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16519
Dr. Anton Hofreiter
(A) lität mit sich bringen. Vielmehr ist es notwendig, endlich Karl Holmeier (CDU/CSU): (C)
dafür zu sorgen, dass wir die Verkehrsinfrastruktur, die Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
zum einen Engpässe tatsächlich beseitigt und uns zum und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
anderen fit für die Zukunft macht, ausbauen. Denn die Politiker neigen gewöhnlich schnell dazu, von Meilen-
Herausforderungen der Zukunft sind teureres Rohöl und steinen zu sprechen. Das Weißbuch Verkehr, das die Eu-
der Klimawandel. ropäische Kommission im Frühjahr vorgestellt hat, kann
jedoch mit Recht als Meilenstein für die europäische
Genau das ist im Moment dringend notwendig, aber
Verkehrspolitik bezeichnet werden.
die Verkehrspolitik dieser Koalition verhindert es. Denn
Sie setzen auf isolierte Großprojekte, wo es keinen einzi- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Na ja!)
gen Engpass gibt,
– Ja. Es hat eine wegweisende Bedeutung für die Ver-
(Oliver Luksic [FDP]: Das ist doch Quatsch!) kehrspolitik der kommenden Jahrzehnte und kann in sei-
ner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt wer-
und Sie setzen bei der Bahn darauf, dass Ihnen die
den. Es ist daher außerordentlich wichtig, dass sich der
EU-Kommission hilft. Denn Sie sind zu schwach, Ihren
Deutsche Bundestag heute intensiv mit diesem Thema
eigenen Koalitionsvertrag gegenüber dem Minister und
befasst.
dem Bahn-Chef durchzusetzen. Sie hoffen darauf, dass
endlich die Gewinnabführungs- und Beherrschungsver- Ich freue mich, dass das Weißbuch Verkehr von allen
träge aufgehoben werden, damit wir bei der Bahnpolitik maßgebenden Fraktionen behandelt wird. Nachdem man
zu etwas Vernünftigem kommen. die Aussagen der Vorredner gehört hat, insbesondere
was die Verkehrspolitik der Linken anbetrifft,
Angesichts all dessen ist es eigentlich nur tragisch zu
nennen, wie die Verkehrspolitik von dieser Koalition ge- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die ist gut!)
handhabt wird. Einerseits sprechen Sie davon, dass es
ideologisch sei, wenn man fordere, die Verkehrsinfrastruk- könnte man sich allerdings fragen, ob wir im 21. Jahr-
tur an die Herausforderungen der Zukunft anzupassen. An- hundert oder vielleicht noch im Mittelalter leben. Ich
dererseits passiert aber nichts. Die Gewinnabführungs- will aber auch nicht verhehlen, dass ich bei der Durch-
und Beherrschungsverträge werden nicht aufgehoben; es sicht der Anträge von SPD und Grünen an einigen Stel-
findet keine vernünftige Verkehrsinfrastrukturpolitik len wirklich den Kopf schütteln musste.
statt, indem das Geld zur Beseitigung von Engpässen ver-
So wird zum Beispiel trotz des ohnehin schon über-
wendet wird; aus der Logistikabgabe haben Sie eine reine
ambitionierten Vorschlags der EU-Kommission, die
Straßenfinanzierungsabgabe gemacht;
Treibhausgasemissionen im Verkehrsbereich bis 2050
(B) (D)
(Patrick Döring [FDP]: Dann müssen Sie das um 60 Prozent zu reduzieren, gefordert, hier noch etwas
Geld auch der Straße geben!) draufzusatteln. Das ist aus meiner Sicht nicht seriös. Wer
das tut, hat immer noch nichts aus dem Scheitern der
bei den Wasserstraßen wurden kleine Fortschritte erzielt, Lissabon-Strategie gelernt. Man darf doch die Realität
aber es wurde nicht wirklich etwas erreicht. Das heißt, in der Gegenwart nicht aus den Augen verlieren. Der von
allen drei Sektoren der Verkehrsinfrastruktur herrscht der Kommission vorgeschlagene Wert kann allenfalls als
Stillstand. Zugleich halten Sie aber große Reden und Orientierungsrahmen angesehen werden.
sprechen von dem Unterschied zwischen ideologischer
und nichtideologischer Verkehrspolitik. Hier muss es (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE
dringend zu Änderungen kommen. GRÜNEN]: Fachlich ist sogar noch mehr not-
wendig, um unsere Lebensgrundlagen zu er-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) halten! Unterhalten Sie sich einmal mit der
Wenn hier nichts passiert, haben wir keine Chance, un- Wissenschaft!)
sere Verkehrsinfrastruktur an die Herausforderungen der Das machen wir im Antrag von CDU/CSU und FDP
Zukunft anzupassen. auch ganz klar und verweisen darin auf die realistischen
Die Herausforderungen der Zukunft bestehen darin, Zielmarken in unserem Energiepaket.
Mobilität für Menschen und Güter zu gewährleisten, den In unserem Antrag sagen wir auf Basis dieser realisti-
Klimawandel zu verhindern und das Ganze ökologisch schen Zielvorgaben darüber hinaus auch ganz klar, mit
und sozial gerecht zu gestalten. welchen Maßnahmen wir diese Ziele erreichen wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die Antworten, die in den Oppositionsanträgen auf diese
Patrick Döring [FDP]: Den Klimawandel wird Frage gegeben werden, sind, vorsichtig formuliert, nur
niemand von uns verhindern!) unzureichend. Sie schlagen doch allen Ernstes vor, weni-
ger Geld in den Aus- und Neubau von Straßen zu inves-
tieren. Da kann ich zu den Wählern der Grünen nur sa-
Vizepräsident Eduard Oswald: gen: Willkommen bei der Dagegen-Partei!
Vielen Dank, Kollege Dr. Anton Hofreiter. – Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Karl Wie, bitte schön, wollen Sie angesichts verstopfter
Holmeier. Bitte schön, Kollege Holmeier. Straßen und langer Staus eigentlich den CO2-Ausstoß re-
duzieren? Wie wollen Sie die Ortschaften entlasten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wenn Sie keine Umgehungsstraßen mehr bauen wollen?
16520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Karl Holmeier
(A) (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
GRÜNEN]: Keine Straßen dort bauen, wo Bitte schön, Kollege Florian Pronold.
überhaupt keine Autos sind! Die Straßen, die
(Oliver Luksic [FDP]: Der durfte gar nicht re-
gebaut werden, werden dort gebaut, wo über-
den heute!)
haupt keine Autos sind!)
Und wie, bitte schön, wollen Sie Mobilität gewährleis- Florian Pronold (SPD):
ten, wenn Sie dem angestauten Nachholbedarf beim Herr Kollege Holmeier, Ihr gerade gelobter Minister
Ausbau unserer Straßen nicht endlich gerecht werden? spricht zu Recht an, dass, wie wir alle wissen, der Ver-
Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land warten kehrsetat unterfinanziert ist, und zwar um bis zu 4 Mil-
dringend – jawohl, Herr Hofreiter, dringend – auf den liarden Euro pro Jahr.
notwendigen Bau von Ortsumgehungen und auf den
Ausbau von Straßen. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Mit blödsinnigen Projekten ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – stopft!)
Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Da, wo die Leute wirklich Probleme Jetzt stelle ich Ihnen die Frage, wieso Sie als Koalition
haben, wird ja nicht gebaut!) angesichts dieser Erkenntnis erstens nur einmalig 1 Mil-
liarde Euro bekommen, wie Sie es zweitens geschafft
Vor allem aufgrund der zahlreichen Verpflichtungen, haben, vorher den Hoteliers große Steuergeschenke zu
die unter SPD-Führung bei der Bahn eingegangen wur- machen,
den und nun abfinanziert werden müssen, fehlt unserem
Verkehrsminister Peter Ramsauer heute Geld für solche (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
wichtigen Ausbaumaßnahmen im Straßenbereich. und wie Sie drittens am vergangenen Sonntag auch noch
(Gustav Herzog [SPD]: Das Geld habt ihr 6 Milliarden Euro an Steuergeldern verschenken konn-
doch zum Fenster herausgeworfen! Wer hat ten. Wie ist das angesichts des unterfinanzierten Ver-
denn die Mehrwertsteuer für Hotels redu- kehrsetats möglich?
ziert?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Deshalb danke ich – und das tun viele in unserem Land – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
der Spitze der christlich-liberalen Koalition für die Be-
schlüsse, die sie letztes Wochenende gefasst hat. Die zu- Karl Holmeier (CDU/CSU):
sätzliche Milliarde für Investitionen in die Infrastruktur Wir schaffen nur eine gewisse steuerliche Gerechtig-
(B) löst zwar nicht alle Probleme. Es können aber einige keit, die schon lange notwendig ist. (D)
wichtige neue Maßnahmen auf den Weg gebracht wer-
den. Für uns wäre es wichtig, diese Milliarde in den (Gustav Herzog [SPD]: Das glauben Sie doch
nächsten Jahren dauerhaft einplanen zu können. selbst nicht, was Sie da sagen!)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich habe es gesagt: Wir sind froh, dass wir diese Mil-
liarde haben, und wir arbeiten daran, sie zu verstetigen,
Ich möchte an dieser Stelle auch einmal unserem Ver- um die notwendigen Projekte auf den Weg zu bringen.
kehrsminister Peter Ramsauer ein großes Lob ausspre-
chen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Zurufe von der SPD: Oh!) Meine Damen und Herren, wir brauchen in Zukunft
nicht weniger, sondern mehr Mobilität. Wir müssen da-
Er ist um seinen Job keineswegs zu beneiden. Er muss rauf achten, dass Mobilität auch in Zukunft leistbar und
heute ausbügeln, was Rot und Grün in den vergangenen bezahlbar ist, auch für den kleinen Mann. Der Antrag der
Jahren angerichtet haben, und er macht das wirklich her- christlich-liberalen Koalition macht das ganz klar. Die
vorragend. SPD-Fraktion hat dies im Grundsatz auch erkannt. Die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Grünen haben es bis jetzt noch nicht erkannt; aber was
Martin Burkert [SPD]: Weiße Salbe!) nicht ist, kann ja vielleicht noch werden.

Peter Ramsauer war es auch, der von Anfang an klarge- Wer allerdings ernsthaft gewillt ist, Mobilität nicht
macht hat, dass es sein Ziel ist, Mobilität zu ermöglichen einzuschränken, sondern zu ermöglichen und gleichzei-
und nicht einzuschränken. tig bezahlbar zu halten, darf nicht von vornherein einen
bestimmten Verkehrsträger ausschließen. Ebenso darf er
Dieser Ansatz findet sich nun auch im Vorschlag der nicht einen bestimmten Verkehrsträger bevorzugen. Je-
Europäischen Kommission wieder. der Verkehrsträger hat seine Stärken und Vorteile. Daher
muss jeder Verkehrsträger entsprechend seinen Stärken
Vizepräsident Eduard Oswald: eingesetzt werden, um das Verkehrsaufkommen optimal
Herr Kollege Holmeier, gestatten Sie eine Zwischen- bewältigen und bestmögliche Mobilität gewährleisten zu
frage unseres Kollegen Florian Pronold? können. Eine dirigistische und pauschale Verlagerungs-
politik, wie manche sie fordern, wird dem nicht gerecht.
Karl Holmeier (CDU/CSU): Wir setzen uns in unserem Antrag klar für ein ausge-
Gerne. wogenes Verhältnis aller Verkehrsträger ein. Wir sind
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16521
Karl Holmeier
(A) auch für Verlagerung; aber die sollte es nur dort geben, tionen reisen wesentlich mehr als frühere. Der Güterver- (C)
wo es wirklich sinnvoll ist. Alles andere ist kontrapro- kehr in Europa nimmt zu. Ungeachtet dessen haben wir
duktiv, schränkt Mobilität ein und verringert die Akzep- die Aufgabe, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren.
tanz der Nutzer. Das ist der entscheidende Punkt für den Klimaschutz.
Abschließend möchte ich noch auf den Vorschlag der Die EU legt mit dem Weißbuch ein Konzept vor, um
Kommission eingehen, bis 2050 im Stadtverkehr auf sol- die bisherige Politik zu verändern, den Stillstand zu über-
che Pkw zu verzichten, die mit konventionellem Kraft- winden und eine nachhaltige Verkehrspolitik zu sichern.
stoff betrieben werden. Die Oppositionsanträge nehmen Das vorliegende Konzept zielt auf einen grundlegenden
diesen Vorschlag nur zur Kenntnis, ohne inhaltlich dazu Wandel im Verkehrssektor; dieser Wandel ist notwendig.
Stellung zu beziehen. Wir sagen ganz klar: Eine voll- Auch wenn die mittelfristigen Zielsetzungen noch kon-
ständige und undifferenzierte Verbannung von Verbren- kreter formuliert und Finanzierungsfragen grundlegend
nungsmotoren darf es nicht geben. Es kann doch nicht geklärt werden müssen, sieht die SPD-Fraktion im Weiß-
zielführend sein, bestimmte Technologien von vornhe- buch Verkehr eine große Chance. Mobilität muss auch in
rein auszuschließen, ohne zu wissen, welche technologi- Zukunft bezahlbar, sicher und umweltfreundlich sein. Sie
schen Möglichkeiten es in 40 Jahren geben wird. Die muss die Teilhabe am Leben sichern, Arbeitsplätze schaf-
Reduzierung des CO2-Ausstoßes muss durch einen tech- fen und wirtschaftliches Wachstum fördern.
nologieneutralen Ansatz verfolgt werden, also durch
Hinzu kommen Anforderungen wie: die Mobilität für
verschiedene alternative Antriebs- und Kraftstoffarten,
Menschen barrierefrei und verbraucherfreundlich zu ge-
nicht jedoch durch den Ausschluss einzelner Technolo-
stalten und die Menschen in Europa vor steigendem Ver-
gien.
kehrslärm zu schützen. Wichtig ist die Akzeptanz von
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Infrastrukturprojekten wie dem Ausbau und Neubau von
Straße, Schiene, Wasserstraße und Luftverkehr. Diese
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ausfüh-
Akzeptanz muss durch Formen der Bürgerbeteiligung
rungen zeigen, welche Dimension das Weißbuch Ver-
– nicht nur bei länderübergreifenden Projekten – frühzei-
kehr hat. Es ist tatsächlich ein echter Meilenstein. Ein
tig gefördert werden. Dadurch kann eine abgestimmte
solch wegweisendes Weißbuch erfordert aber auch eine
Verwirklichung von Projekten, die bisher noch auf Eis
sehr ernsthafte Auseinandersetzung, und diese liefert al-
liegen, sichergestellt werden. Es ist ein gezieltes und
lein der Antrag von CDU/CSU und FDP.
schnelles Handeln erforderlich, um nachhaltige Ent-
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Na ja!) wicklungen sowohl beim Umwelt- und Klimaschutz wie
auch im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu si-
Ich bitte Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen.
chern. Dieser Dreiklang ist für die SPD besonders wich-
(B) (D)
Vielen Dank. tig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich appelliere insbesondere an Sie, Herr Ramsauer,
dass Sie endlich aus Ihrem Dornröschenschlaf erwachen
Vizepräsident Eduard Oswald: und Verkehrskonzepte auf den Tisch legen;
Vielen Dank, Kollege Karl Holmeier. – Nächster Red- (Florian Pronold [SPD]: Den will niemand
ner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kol- wachküssen!)
lege Michael Groß. Bitte schön, Kollege Michael Groß.
denn der Zeithorizont wird, je später wir mit der eigentli-
(Beifall bei der SPD) chen Umsetzung beginnen, immer enger. Wir warten
schon viel zu lange auf das von Ihnen angekündigte
Michael Groß (SPD): Konzept. Für Klimaschutz und Stauprävention ist es
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nicht mehr fünf vor zwölf, sondern schon nach zwölf.
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich wundere
Sie sperren sich zum Beispiel gegen ambitionierte
mich schon darüber, dass die Koalition immer wieder da-
Zielsetzungen der EU, den Güterverkehr von der Straße
rauf abhebt, wie lange die rot-grüne Regierung im Amt
auf die Schiene und Wasserstraße zu verlagern. Progno-
war. Sie sind jetzt zwei Jahre – Herr Ramsauer, Sie haben
sen gehen aufgrund der Zuwächse im Güterverkehr da-
gestern von zwei Jahren und 13 Tagen gesprochen – im
von aus, dass in absehbarer Zeit zwei Fahrspuren auf
Amt. Da muss ich schon fragen: Wann übernehmen Sie
Hauptverkehrsachsen von Lastkraftwagen besetzt sein
endlich Verantwortung und treffen Entscheidungen über
werden. Die Folgen für Pkw-Reisende oder Pendler
Dinge, die für unser Land wichtig sind? Dazu gehört die
kann sich jeder ausmalen: Dauerstau mit hohen Umwelt-
Gestaltung der Verkehrspolitik.
schäden und hohen wirtschaftlichen Kosten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Die EU schlägt Maßnahmen vor, die geeignet sind,
DIE GRÜNEN)
ein effizientes Verkehrssystem, das uns unabhängiger
Ich bin der festen Überzeugung, dass Europa für die vom Öl macht und die Umwelt schützt, aufzubauen. Es
Bürgerinnen und Bürger in unserem Land immer wichti- sollen aber auch der europäische Wirtschaftsraum ge-
ger wird. Das wird besonders dann der Fall sein, wenn es stärkt und Arbeitsplätze gesichert und geschaffen wer-
uns gelingt, in Europa einen einheitlichen Verkehrsraum den. Kostenschätzungen für die erforderlichen Investi-
zu schaffen, von dem die Bürger profitieren. Die Heraus- tionen liegen bei 550 Milliarden Euro für den Zeitraum
forderungen liegen klar auf dem Tisch. Heutige Genera- bis 2020. Allerdings werden die Hauptlast der Finanzie-
16522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Michael Groß
(A) rung einer integrierten und zukunftsfähigen Verkehrsin- den und Mobilität für den Einzelnen bezahlbar bleiben. (C)
frastruktur die Mitgliedstaaten tragen müssen. Doch be- Verkehrspolitik erfordert langfristige Planung, klar defi-
reits jetzt ist der Verkehrssektor in Deutschland unter- nierte nachvollziehbare Kriterien und zeitnahe Umset-
finanziert. Die von der Koalition geplante weitere Mil- zung und Finanzierung. Am allerwichtigsten ist: Sie
liarde für den Verkehrshaushalt ist mehr als begrüßens- muss den Menschen dienen und die Umwelt schützen.
wert. Doch wird sie buchstäblich im Sande versickern,
Herzlichen Dank.
wenn nicht klare Prioritäten gesetzt werden und entspre-
chende Gelder in den nächsten Jahren verlässlich zur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Verfügung stehen. DIE GRÜNEN)
Dass eine zusätzliche Milliarde nicht ausreichen wird,
um Engpässe zu reduzieren, Knotenpunkte auszubauen Vizepräsident Eduard Oswald:
sowie Straßen und Brücken zu erhalten und zu sanieren, Vielen Dank, Kollege Michael Groß. – Jetzt spricht
hat Herr Ramsauer gestern auf einer Veranstaltung ange- für die Fraktion der FDP unser Kollege Patrick Döring.
deutet. Allein für die notwendigen Schleusenarbeiten im Bitte schön, Kollege Patrick Döring.
Nord-Ostsee-Kanal werden mehr als 500 Millionen Euro (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
benötigt. Die Leistungsfähigkeit des Nord-Ostsee-Kanals
muss deutlich erhöht werden, sonst droht ein Verkehrsin-
Patrick Döring (FDP):
farkt mit massiven Auswirkungen auf die Entwicklung
des Güterverkehrs. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man der Debatte aufmerksam gefolgt ist, stellt
(Oliver Luksic [FDP]: Sie haben doch jahre- man fest, dass manches zur allgemeinen nationalen Ver-
lang nichts gemacht!) kehrspolitik gesagt worden ist, aber nicht sehr viel zum
Weißbuch. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Op-
Festzuhalten ist: In Europa wird für Infrastruktur we- position, das, was hier gesagt worden ist, darf nicht un-
sentlich mehr Geld ausgegeben als bei uns. In der kommentiert bleiben.
Schweiz wird für die Schieneninfrastruktur bis zu sechs-
mal mehr pro Einwohner ausgegeben. Ganz offensichtlich ist zumindest in Ihren Arbeits-
gruppen noch nicht angekommen, dass es in Deutsch-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ land eine grundgesetzlich festgelegte Schuldenbremse
DIE GRÜNEN) gibt. Deshalb können die Fachpolitiker aus dem Bereich
In der Süddeutschen Zeitung vom 8. November 2011 ist Infrastruktur nicht aus dem Vollen schöpfen, wie Sie das
zu lesen, dass die Landkarte fürs Geldausgeben bereits selbst gerne machen würden.
(B) in der Schublade des Verkehrsministeriums liegt. Aber (D)
(Gustav Herzog [SPD]: Deswegen haben Sie auch
diesen Plan gibt es ja eigentlich nicht – zumindest wird Steueränderungen beschlossen!)
uns das ständig erzählt.
Das geht schlicht nicht. Deshalb ist die 1 Milliarde
Wegen knapper Haushaltsmittel wurden Projekte wie Euro, die diese Koalition am Sonntagabend an zusätzli-
die regionale Schnellbahn in NRW – der RRX – ersatz- chen Investitionsmitteln für das kommende Jahr geplant
los gestrichen. Ebenso sollte es der Südbahn in Baden- hat, ein großer Erfolg von Peter Ramsauer und allen Be-
Württemberg ergehen. teiligten. Das darf man nicht kleinreden.
(Patrick Döring [FDP]: Märchenstunde, oder (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
was?)
Ich will deutlich sagen, dass mich die Rede des Kolle-
Doch hier vermelden die CDU-Kollegen – man höre – in gen Burkert – der offenbar schon gehen musste – ausge-
der Presse, dass das Projekt dank ihres Einsatzes wieder sprochen fasziniert hat, denn sie hat in weiten Teilen
aufgenommen wurde. Kein Verkehrskonzept, sondern nichts mit der europapolitischen Realität zu tun – übri-
allein politische Einflussnahme spielt hier eine Rolle. gens auch nichts mit der eisenbahnpolitischen Diskus-
Die Menschen unserer Zeit wollen und müssen mobil sion, die wir in der Koalition führen.
sein. Das bedeutet nicht unbedingt Mobilität mit dem ei- Eines aber dürfte doch auch Sozialdemokraten ver-
genen Auto, wie die Entwicklungen in den Großstädten mittelbar sein: Es macht keinen Sinn, dass das von der
zeigen. Viele junge Leute haben gar kein eigenes Auto öffentlichen Hand zur Verfügung gestellte Eigenkapital
mehr. Dieser Entwicklung müssen wir gerecht werden. von Infrastrukturunternehmen, das ausschließlich des-
(Patrick Döring [FDP]: Durch Steuererhöhun- halb entsteht, weil dieses Parlament Infrastrukturpro-
gen der SPD!) jekte finanziert, mit einer angenommenen Mindestver-
zinsung von 8 Prozent bewertet wird. Das müsste sogar
Heutzutage ist es immer wichtiger, planbar und verläss- Sozialdemokraten vermittelbar sein.
lich von Haustür zu Haustür reisen zu können. Der euro-
päische Verkehrssektor ist für die Wirtschaft und für die Das ist der aktuelle Streit bei der Frage des Recast. In
Bürger von enormer Bedeutung. Dabei geht es um inner- diesem Punkt bin ich ganz an der Seite der Sozialistin,
europäische Integration und Harmonisierung. die hier Hauptberichterstatterin ist und die es jedenfalls
verstanden hat, dass es nicht vernünftig ist, das Eigenka-
Darüber hinaus müssen die Arbeitsplätze im Ver- pital von Unternehmen, die von der Finanzierung von
kehrssektor auf hohem sozialen Standard gesichert wer- Infrastrukturprojekten durch die öffentliche Hand leben,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16523
Patrick Döring
(A) mit einer Verzinsung von 8 Prozent zu bewerten. Das Alexander Ulrich (DIE LINKE): (C)
sollte die Haltung des ganzen Hauses sein. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Kritik am Weißbuch Verkehr der Europäischen Kommis-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sion ist in jüngster Zeit immer lauter geworden. Die Kri-
In dieser Frage lässt sich kein Keil zwischen die Ko- tik bezieht sich auf verschiedene Aspekte. So haben die
alitionsfraktionen treiben. Deshalb haben wir in diesem Mitglieder des Verkehrsausschusses in Brüssel zu Recht
Zusammenhang vereinbart, dass wir die Entscheidung gesagt, dass der Zeithorizont – 2030 bis 2050 – viel zu
des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungs- weit gefasst ist. Wenn wir die dringend notwendige Ver-
verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland abwar- lagerung des Güterverkehrs auf Schiene und Wasser auf
ten. Wenn diese Entscheidung vorliegt, dann ist der den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, werden wir
Bund als Eigentümer gerüstet. Dessen können Sie sicher hier nie vorankommen.
sein. Fatal ist auch, dass das Weißbuch weiterhin rück-
sichtslos auf Liberalisierung, Privatisierung und Deregu-
Ich will einen weiteren wichtigen Punkt ansprechen,
lierung setzt. Die Kommission muss endlich einsehen,
weil wir uns dazu alsbald in einem Gesetzgebungsver-
dass diese Strategie gescheitert ist. Die Liberalisierung
fahren befinden werden. Es geht um die Frage, wie wir
hat nicht zu niedrigeren Preisen geführt; die Preise sind
in Deutschland mit dem Fernbusverkehr umgehen wol-
gestiegen. Die Liberalisierung hat auch nicht die Service-
len. Ab dem 1. Januar kommenden Jahres sind Fern-
qualität verbessert; sie ist schlechter geworden.
busse innerhalb der Europäischen Union voll liberali-
siert. Das heißt, ein Bus im Fernverkehr kann in (Oliver Luksic [FDP]: Quatsch!)
Amsterdam starten und bis Warschau durch die Bundes-
republik Deutschland hindurchfahren. Währenddessen Der dritte Kritikpunkt ist, dass die Pläne der EU-Kom-
kann er Fahrgäste aufnehmen oder absetzen. mission wieder einmal auf dem Rücken der Beschäftig-
ten ausgetragen werden.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Tolle Errun-
Schauen wir uns die Bahn an. Auch hier setzt die
genschaft!)
Kommission auf eine gescheiterte Strategie. Die Grünen
Das ist Ergebnis des Handelns der Europäischen fordern auch noch die Trennung von Netz und Schiene
Union. Hiermit hat die Bundesrepublik Deutschland bei der Bahn.
zunächst nichts zu tun. Ich halte es allerdings für eine (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE
Aufgabe des nationalen Parlaments, dass wir den Busun- GRÜNEN]: Netz und Transport! Nicht „Netz
ternehmen in Deutschland zumindest die gleiche Mög- und Schiene“! Netz und Schiene sind das Glei-
(B) lichkeit bieten, im eigenen Land diese Verkehre zu reali- che!) (D)
sieren. Wir arbeiten im Rahmen der Novelle des
Personenbeförderungsgesetzes daran, hier gleiche Wett- Da kann man Ihnen nur zurufen: Wer bei der Bahn auf
bewerbsbedingungen zwischen dem niederländischen britische Verhältnisse setzt, der hat wirklich gar nichts
Busunternehmer und dem niedersächsischen Busunter- verstanden. Dieses Modell wäre verheerend, nicht nur
nehmer zu schaffen, um das einmal so klar zu sagen. für die Beschäftigten, sondern auch für die Sicherheit
der Reisenden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lassen Sie mich ein Thema anschneiden, das sehr eng
NEN]: Das stimmt nicht! Ihr bekämpft und mit der Frage der künftigen Mobilität in Europa ver-
verhindert es! Mit eurer wettbewerbsfeindli- knüpft ist. Am 30. November 2011 soll das sogenannte
chen Politik verhindert ihr das!) Flughafenpaket von der EU-Kommission vorgelegt wer-
den. Die bisher bekannt gewordenen Überlegungen wer-
Ein Letztes – es wurde vorhin in einer Randbemer- den sowohl von Flughafenbetreibern als auch von den
kung angesprochen –: Im Antrag steht das Nötige zu den Gewerkschaften scharf kritisiert. Diese Kritik ist absolut
Bodenverkehrsdiensten an Flughäfen. Solange wir Wett- gerechtfertigt: Wieder einmal will die Kommission Maß-
bewerb haben und die Eigenabfertigungsmöglichkeiten nahmen durchbringen, die gleichbedeutend sind mit we-
von den Airlines nicht genutzt werden, ist eine durch Eu- niger Sicherheit und weniger Lohn, mit mehr Lärmbeläs-
ropa verordnete Ausweitung der Regulierung nicht er- tigung für die Anwohner und weniger sozialer Sicherheit
forderlich. Das ist die Haltung der Koalition und der für die Beschäftigten.
Bundesregierung; dazu stehen wir.
Die europäische Verkehrspolitik muss grundlegend
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. verändert werden:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN)
Die Rechte von Beschäftigten dürfen ebenso wie die Si-
Vizepräsident Eduard Oswald: cherheit der Kunden nicht auf dem Altar einer neolibera-
Vielen Dank, Kollege Patrick Döring. – Jetzt spricht len, ökologisch fragwürdigen Mobilitätspolitik geopfert
für die Fraktion Die Linke unser Kollege Alexander werden. Die Linke spricht sich klar gegen weitere Libe-
Ulrich. ralisierungen in der Verkehrspolitik aus. Im Verkehrsbe-
reich zählen drei Dinge: Klimaschutz, bezahlbare Mobi-
(Beifall bei der LINKEN) lität für alle und gute Arbeitsbedingungen für die
16524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Alexander Ulrich
(A) Beschäftigten der Branche. Für eine solche ökologisch- Nun könnte man nach dem Energiekonzept der Bun- (C)
soziale Mobilität wird die Linke auch in Zukunft eintre- desregierung erwarten, dass diese sich mit Blick auf das
ten und streiten. Weißbuch Verkehr an die Spitze der Bewegung stellt und
mit gutem Beispiel vorangeht. Stattdessen formuliert sie
Hier ist auch darüber gesprochen worden, was der Vorbehalte zum Weißbuch und stellt Ziele und Maßnah-
Bundesverkehrsminister macht. Er ist im Prinzip ein An- men des Weißbuchs infrage, beispielsweise dass bis
kündigungsminister. Er hat Erfolge auf CSU-Parteita- 2050 CO2-neutral in unseren Städten gefahren werden
gen; aber wenn er hier in Berlin ankommt, wird er von soll. Das sei dirigistisch.
der Bundeskanzlerin ausgebremst. Das, was hier ange-
kündigt wurde, ist in der Realität noch nicht angekom- (Zuruf von der FDP: Ganz genau!)
men. Aus linker Sicht muss man aber auch sagen: Zum Ich frage mich, welche Umsetzungschancen dieses
Glück kommt das nicht in der Realität an. Weißbuch Verkehr haben soll, wenn das größte und wirt-
Vielen Dank. schaftlich potenteste Land in Europa, nämlich Deutsch-
land, beispielsweise über Staatssekretär Jan Mücke aus-
(Beifall bei der LINKEN) richten lässt, das Weißbuch sei nicht unmittelbarer
Handlungsleitfaden der Bundesregierung.
Vizepräsident Eduard Oswald: Wie sieht es konkret mit der nationalen Ausformung
Vielen Dank, Kollege Alexander Ulrich. – Jetzt aus? Was wurde schon zugesagt? Von Ankündigungs-
spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser minister Ramsauer hat man Anfang 2010 gehört: Wir
Kollege Stephan Kühn. Bitte schön, Kollege Stephan legen ein umfassendes Energie- und Klimaschutzkon-
Kühn. zept für den Verkehrssektor vor.
Fragt man nach, wann das vorliegen wird, heißt es
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lapidar in der Antwort, dass im Laufe des Jahres 2012,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben zwei Jahre nach der Ankündigung, etwas vorgelegt wird.
darüber gesprochen: Die EU-Kommission hat ambitio- Ich erinnere daran: 2013 sind Neuwahlen. Bis dahin
nierte Ziele für den Verkehrssektor formuliert. Wir be- wollen Sie etwas geschafft haben, Herr Minister.
grüßen diese Ziele, auch wenn es leider Langfristziele
sind. So sollen die Emissionen im Verkehrssektor bis Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen. Denn
2050 um 60 Prozent reduziert werden. Es fehlen Zwi- gerade gestern haben wir im Ausschuss eine Debatte zur
schenschritte, sodass man Gefahr läuft, diese Sachen auf Verkehrssicherheit geführt. Man kann dazu im Weißbuch
(B) die lange Bank zu schieben, weil 2050 noch weit weg Interessantes lesen. Darin heißt es, man wolle die Zahl (D)
ist. der Verkehrstoten bis 2050 „auf nahe Null“ senken.
Ein wichtiges Ziel, das formuliert wird, ist die Minde- Das ist eine Vision Zero und damit etwas völlig ande-
rung der Abhängigkeit vom Öl. Es ist angesprochen res als das, was uns gerade mit dem Entwurf eines natio-
worden: Der Bedarf an Öl macht 96 Prozent des gesam- nalen Verkehrssicherheitskonzeptes vorgelegt wurde.
ten Energiebedarfs des Verkehrssektors aus. Es ist nicht Unter diesem Minister bleibt die Bundesrepublik hinter
nur eine umweltpolitische, sondern auch eine klar wirt- den im Weißbuch Verkehr formulierten Zielen zur Ver-
schaftspolitische Herausforderung, diese Abhängigkeit kehrssicherheit zurück.
zu reduzieren. Die zwei häufigsten Unfallursachen sind das Fahren
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit nicht angepasster Geschwindigkeit und das Fahren
unter Alkoholeinfluss. Was wird dagegen unternom-
Die Bezahlbarkeit von Mobilität ist eng mit der Frage men? – Nichts. Es gibt weder ein einheitliches Tempo-
verbunden, wie wir die Abhängigkeit vom Öl reduzie- limit noch die Null-Promille-Grenze für das Fahren. Im
ren, weil wir nicht mehr die Zeit bekommen werden wie Weißbuch Verkehr ist formuliert, wohin es gehen könnte
in den 70er-Jahren, als das Barrel Öl 3 US-Dollar gekos- und müsste.
tet hat. Es ist auch eine volkswirtschaftliche Frage, weil Herr Minister, Sie sollten nicht nur etwas ankündigen,
viele Unternehmen aufgrund der steigenden Kosten sondern das Weißbuch als Handlungsleitfaden für Ihre
durch die Energieimporte ganz große Probleme haben. Politik nutzen. Schauen Sie regelmäßig hinein, und le-
Deshalb ist es nicht nur umweltpolitisch, sondern auch gen Sie entsprechende Anträge und Gesetzesvorhaben
volkswirtschaftlich richtig, diese Abhängigkeit vom Öl auf, um die Vorgaben dieses Weißbuchs umzusetzen.
zu reduzieren.
Herzlichen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutschland hat sich ähnliche Ziele wie die, die im
Weißbuch Verkehr formuliert sind, gesetzt. Der Trend Vizepräsident Eduard Oswald:
geht jedoch in eine völlig andere Richtung: Während der
Vielen Dank, Herr Kollege Kühn. – Jetzt spricht für
Energieverbrauch von Industrie und Haushalten sinkt,
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dirk Fischer.
stagniert er in diesem Bereich in Deutschland seit Jah-
Bitte schön, Kollege Dirk Fischer.
ren. 80 Prozent des Energieverbrauchs für den Verkehr
gehen auf das Konto des Straßenverkehrs. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16525

(A) Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Allerdings bringen dirigistische und pauschale Vorgaben (C)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! über Entfernungen, Mengen und Zieldaten überhaupt
Die gemeinschaftliche Verkehrspolitik der Europäischen nichts.
Union hat dazu beigetragen, dass in den letzten 20 Jah- (Zuruf von der FDP: Genau!)
ren nach Öffnung des Binnenmarktes für Warentrans-
porte und Bürger vieles einfacher geworden ist. Wir soll- Die Kommission beantwortet nämlich nicht die zentrale
ten unseren Bürgern immer, auch bei solchen Debatten, Frage, wie der notwendige Schienenausbau finanziert
den positiven Nutzen der Europäischen Union vor Au- werden soll, wenn Güterverkehr ab 300 Kilometern Ent-
gen führen. fernung auf die Schiene verlagert werden soll. Im Übri-
gen gilt doch auch hier das Wirtschaftlichkeitsgebot.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Solche Verkehre müssen wirtschaftlich sein, und der
Markt muss sie akzeptieren.
Die heutige Debatte zeigt aber auch, dass es notwen-
dig ist, bereits erreichte Ziele dieser gemeinschaftlichen (Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Verkehrspolitik weiterzuentwickeln. Das Weißbuch Ver- NEN]: Die Unternehmen wollen das doch ma-
kehr der Europäischen Kommission gibt hierfür wesent- chen!)
liche Impulse, um das künftige Verkehrswachstum zu
bewältigen, ohne dabei Klima- und Umweltschutzziele Ich will bei dieser Gelegenheit in Erinnerung rufen, dass
zu vernachlässigen. Herr Mehdorn als Bahnchef früher dazu gesagt hat: Das
rechnet sich erst ab 400 Kilometer. Der frühere SPD-
Ohne Abstriche unterstütze ich folgende Aussage der Verkehrsminister Klimmt hat noch einen draufgesetzt
Europäischen Kommission: Die Einschränkung von Mo- und gesagt: In Wahrheit rechnet es sich erst ab 500 Kilo-
bilität ist keine Option. – Das sollte immer wieder deut- meter. Also lasst bitte die Kirche im Dorf, und vergesst
lich unterstrichen werden. in diesem Zusammenhang nicht die Aspekte der Wirt-
schaftlichkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Diese Aussage muss Grundlage jeder Verkehrspolitik
sein – national wie europäisch. Alle Verkehrsträger sind gleichwertig zu behandeln.
Eine einseitige Bevorzugung oder Benachteiligung von
Für Europa, speziell für die exportorientierte deutsche Verkehrsträgern lehnen wir ab. Das heißt auch: Es darf
Volkswirtschaft, müssen technische und rechtliche Hin- keine Diskriminierung des Lkw zugunsten der Schiene
dernisse immer weiter abgebaut werden. Um dies zu ver- geben.
deutlichen, benutze ich ein ganz triviales Beispiel: Wel-
(B) Zum Thema Trennung von Netz und Betrieb im (D)
chen Ladestecker braucht man in der Zukunft, wenn man
Schienenverkehr will ich Folgendes sagen: Hätte ich ein
mit dem Elektroauto von Deutschland nach Frankreich
weißes Blatt Papier vor mir liegen, würde ich darauf die
fahren will? Entscheidend ist, dass diese Dinge harmo-
eigentumsrechtliche Trennung von staatlicher Infra-
nisch europäisch geregelt werden.
struktur und Verkehrsbetrieben im Wettbewerb schrei-
Die Wettbewerbsfähigkeit der wachsenden Mobili- ben. Das entspricht meiner ordnungspolitischen Grund-
täts- und Logistikbranche muss gestärkt werden. Das überzeugung.
sorgt für wirtschaftlichen Erfolg und zukunftssichere Ar- (Torsten Staffeldt [FDP]: Sehr gut!)
beitsplätze gleichermaßen. Wichtig ist: Bei allen Maß-
nahmen, die die europäische Politik ergreift, muss das Aber ich habe dieses weiße Blatt Papier nicht vor mir
Subsidiaritätsprinzip eingehalten werden. liegen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Oliver Luksic [FDP]: Wir hätten hier noch ei-
nes!)
Das gilt vor allem auch für den städtischen Verkehr,
Stichwort „Citymaut“. Darüber sollten getrost die Bür- Wir müssen uns daher mit den vorhandenen Strukturen
gerinnen und Bürger vor Ort und ihre Kommunalparla- auseinandersetzen.
mente entscheiden und nicht Brüssel. Derzeit kann ich mit dem Holdingmodell der DB AG
leben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind. Ers-
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Richtig!) tens. Die Bundesnetzagentur muss in ihren Rechten wei-
Da treffen wir eine ganz klare Aussage. ter gestärkt werden. Sie muss auch das Recht haben, Be-
scheide zu erlassen. Zweitens. Mit dem geplanten
Der Ausbau der transeuropäischen Netze ist für das Eisenbahnregulierungsgesetz müssen weitere Grundla-
Zusammenwachsen Europas wichtig. Allerdings dürfen gen für die Stärkung des Wettbewerbs gelegt werden.
Investitionsmittel nicht allein auf grenzüberschreitende Drittens. Wir müssen das Urteil des Europäischen Ge-
Korridore eines Kernnetzes konzentriert werden. Das richtshofes im Vertragsverletzungsverfahren gegen
Ziel der Europäischen Kommission, möglichst viel Ver- Deutschland abwarten und gegebenenfalls darauf reagie-
kehr auf Schiene oder Wasserstraßen zu verlagern, wird ren.
von uns unterstützt.
Wettbewerb muss es auch – das wurde von einigen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Rednern angesprochen – bei den Bodenabfertigungs-
der FDP) diensten auf den Flughäfen geben. Dafür hat die Richt-
16526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dirk Fischer (Hamburg)


(A) linie der EU gesorgt. Was in Brüssel jetzt geplant wird, Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- (C)
lehnen wir ab. Wir wollen keinen Wettbewerb zugunsten lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
von Dumpinglöhnen und zulasten von Sicherheit und che 17/7177 mit dem Titel „EU-Weißbuch Verkehr –
Qualität. Neuausrichtung der integrierten Verkehrspolitik in
Deutschland und in der Europäischen Union nutzen“.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind
der FDP) die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die
Manche Entwicklungen – wir alle in den Fraktionen Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die
haben mit den Betriebsräten der Flughäfen gesprochen – Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist
sind schon heute als eher unerfreulich zu bezeichnen. Wir angenommen.
wollen keine Verschlechterung und auch keine Verteue- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
rung von Leistungen für unsere Passagiere. Das Signal stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
nach Brüssel lautet: Keine Überarbeitung der Boden- Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
abfertigungsrichtlinie mit dem Ziel einer noch weiter ge- sache 17/5906 mit dem Titel „Weißbuch Verkehr für
henden Marktöffnung, schon gar nicht in Form einer Trendwende der Verkehrspolitik in Deutschland und Eu-
Verordnung. Wir fordern, die bestehenden Regelungen ropa nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
erst einmal europaweit umzusetzen, was in etlichen Mit- lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Frak-
gliedstaaten der Europäischen Union noch nicht gesche- tion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Das ist die
hen ist. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Das
ist die Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist ange-
Eine Zweckbindung verkehrsspezifischer Einnahmen nommen.
für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, wie es die
SPD in ihrem Antrag fordert, ist im Prinzip richtig, aber Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
nur auf nationaler Ebene. Eine Regelung auf EU-Ebene
würde die nationalen Befugnisse erheblich einschränken Beratung des Antrags der Abgeordneten
und den Bundestag und die anderen nationalen Parla- Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln),
mente in ihrer Budgethoheit aushebeln. Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Alles in allem weist das Weißbuch der EU-Kommis- Widerruf der gemäß § 8 des Parlamentsbetei-
sion, wie ich denke, in die richtige Richtung. Darüber ligungsgesetzes erteilten Zustimmungen zu
sind sich die Fraktionen wohl weitgehend einig. Es ist den Anträgen der Bundesregierung vom
keine Frage, dass sich auch der Verkehrssektor den ak- 28. Januar 2011 und 23. März 2011
(B) tuellen Herausforderungen der Politik stellen muss – zur (D)
Verbesserung von Qualität und Zuverlässigkeit des Ver- Bundeswehr aus Afghanistan abziehen
kehrssystems und der von diesem System angebotenen
Dienstleistungen, zum Schutz von Klima und Umwelt, – Drucksache 17/7547 –
für praxisnahe Innovationen und natürlich auch für die Überweisungsvorschlag:
Sicherheit im Verkehr. Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Einen einheitlichen europäischen Verkehrsraum zum Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Wohle unserer Bürger können und wollen wir weiterhin Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
gemeinsam mit unseren Nachbarn verwirklichen. Des- Entwicklung
wegen bitte ich um Zustimmung zum Antrag der Koali-
tionsfraktionen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer
Vizepräsident Eduard Oswald: Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege
Vielen Dank, Kollege Dirk Fischer. – Wir sind damit Wolfgang Gehrcke. – Bitte schön, Kollege Wolfgang
am Ende dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache. Gehrcke, Sie haben das Wort.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- (Beifall bei der LINKEN)
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/7679. Der Aus- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- Danke sehr, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen und Kollegen! Ich finde es sehr bedrückend, in einer
der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/7464 mit Situation über unseren Wunsch, den Krieg in Afghanis-
dem Titel „Weißbuch Verkehr – Auf dem Weg zu einer tan beenden zu wollen, diskutieren zu müssen, in der
nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität“. Wer stimmt weitere, neue Kriege drohen. Das Kriegsgetöse um den
für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Fraktio- Iran signalisiert uns, dass Krieg immer mehr wieder zum
nen CDU/CSU und FDP. Gegenprobe! – Das sind die Mittel der Politik geworden ist, was ich nicht akzeptie-
Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Somit ist ren will. Ich möchte, dass sich dieses Parlament für eine
die Beschlussempfehlung angenommen. atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten einsetzt, damit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16527
Wolfgang Gehrcke
(A) dem Kriegsgetöse entgegengetreten wird. Das halte ich (Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Der falsche Satz!) (C)
für sehr wichtig.
ist hinzuzufügen: Vieles kann besser werden, wenn die
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Rainer Stinner Gelder nicht mehr für den Krieg, sondern für den Frie-
[FDP]: Das steht aber nicht im Antrag!) den eingesetzt werden.
– Wir können das gerne hineinschreiben. Wenn Sie ein- Ich will Ihnen sagen: Dieser Krieg wird nicht um De-
verstanden sind, dann beschließen wir das zusammen. mokratie und Menschenrechte willen geführt. Unsere
Freiheit und unsere Sicherheit werden nicht am Hindu-
Wir haben den Antrag auf der Grundlage des Parla- kusch verteidigt. Auch bei diesem Krieg geht es um geo-
mentsbeteiligungsgesetzes eingebracht. Wir möchten, strategischen Einfluss und um Naturressourcen. Dieser
dass der Bundestag erstmalig von § 8 des Parlaments- Krieg ist auch im Interesse der deutschen Rüstungsin-
beteiligungsgesetzes Gebrauch macht, von dem Recht, dustrie, die neue Waffen in Afghanistan testet und ihre
entsandte Truppen zurückzuholen. Notwendigkeit unter Beweis stellen muss. Ich möchte
(Beifall bei der LINKEN) nicht, dass wir der deutschen Rüstungsindustrie weiter
den Gefallen tun, Krieg zu führen. Deswegen erwarte
Wir wollen, dass die Bundeswehr zurückgeholt wird, ich, dass der Deutsche Bundestag unserem Antrag, den
dass der Einsatz beendet wird. Ich will Ihnen die Gründe Einsatz zu beenden, zustimmt und von seinem Recht Ge-
dafür vortragen. Der Abzug der Bundeswehr aus Afgha- brauch macht, die Bundeswehr sofort zurückzuholen.
nistan wäre ein deutliches Zeichen, dass der Krieg been- Das wäre eine gute und vernünftige Entscheidung des
det werden soll. Jeder Tag, an dem der Krieg fortdauert, Bundestages.
kostet Menschen Leben und Gesundheit und mindert die
Chancen auf Frieden. Wir verlieren kostbare Zeit. Ohne Herzlichen Dank.
den Abzug der ausländischen Truppen wird es in Afgha- (Beifall bei der LINKEN)
nistan keinen Frieden geben. Bislang hat der Krieg zwi-
schen 30 000 und 100 000 Menschen das Leben gekos-
tet. Unser Antrag ist ein Antrag für das Leben. Das Vizepräsident Eduard Oswald:
Parlament sollte endlich ein Signal für das Leben in Af- Vielen Dank, Kollege Gehrcke. – Jetzt für die Frak-
ghanistan aussenden. tion der CDU/CSU unser Kollege Robert Hochbaum.
Bitte schön, Kollege Hochbaum.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Abzug der Bundeswehr soll aus meiner Sicht
(B) auch das Leben von Soldatinnen und Soldaten schützen. Robert Hochbaum (CDU/CSU):
(D)
Wir wollen nicht, dass Soldaten, die der Bundestag nach
Afghanistan geschickt hat, traumatisiert immer wieder Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
den Krieg durchleben müssen. Wir wollen nicht, dass Kollegen! Zu Beginn meiner Rede möchte ich es nicht
Soldatinnen und Soldaten durch diesen Krieg verroht versäumen, zuerst einmal all unseren Soldaten, den Poli-
werden. Ich fand es erschütternd, im Spiegel über einen zisten und natürlich auch allen zivilen Akteuren für ihren
deutschen Scharfschützen zu lesen, der unzufrieden war, Dienst in Afghanistan zu danken. Ich glaube, ich darf sa-
weil er nicht zum Schuss gekommen ist. Er wird dort mit gen: Sie können sicher sein, dass wir mit unseren Gedan-
den Worten zitiert: „Das ist, als wenn du einen Hund ken immer auch bei Ihnen sind.
scharfmachst und den nicht von der Leine lässt“. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
fand es ebenso erschütternd, in der gleichen Ausgabe des bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Spiegel zu lesen, dass ein Soldat folgende Nachricht auf GRÜNEN)
seinem Handy gespeichert hat: „Kämpfe fanatisch! Du
bist ein Menschenjäger!“ Das mögen Einzelfälle sein, Wenn ich mich hier umschaue, bin ich mir relativ si-
aber sie zeigen, wie der Krieg Menschen verroht. Dies cher, dass fast alle Anwesenden einer Meinung sind: Un-
sollten wir nicht fortsetzen. Wir sollten die Soldaten zu- sere Soldatinnen und Soldaten gehören so früh als mög-
rückholen. lich aus Afghanistan abgezogen. Doch die Geister
scheiden sich, wie der vorliegende Antrag der Linken
(Beifall bei der LINKEN) zeigt, bei der Frage, was „so früh als möglich“ bedeutet.
Der Abzug der Bundeswehr soll aus meiner Sicht und Für die Mehrheit dieses Hauses bedeutet dies: ein ver-
aus unserer Sicht dazu beitragen, dass das Geld der Steu- antwortungsvoller Abzug mit dem klaren Bewusstsein,
erzahler nicht mehr für den Krieg, sondern für Entwick- die Sicherheit unseres Landes nicht zu gefährden. Die
lung und Aufbau eingesetzt wird. Bislang haben diese anderen, nämlich Sie, meine Damen und Herren von den
zehn Jahre Krieg Deutschland 17 Milliarden Euro gekos- Linken, handeln meiner Meinung nach abermals verant-
tet. Das sind pro Kopf der afghanischen Bürgerinnen wortungslos und leichtfertig. Sie gefährden sogar die
und Bürger 3 800 Euro. Das durchschnittliche Einkom- Menschen bei uns hier in Deutschland.
men in Afghanistan beträgt 400 bis 450 Dollar pro Jahr. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Wie viel Segensreiches könnte man in Afghanistan errei- GRÜNEN]: Wie das denn? – Zuruf von der
chen, wenn man das Geld nicht für den Krieg vergeuden LINKEN: Wie das?)
würde? Dem berühmten Satz: „Nichts ist gut in Afgha-
nistan“, – Hören Sie gut zu.
16528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Robert Hochbaum
(A) Warum stehen wir für Verantwortung und verantwort- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C)
liches Handeln in Afghanistan? Die Sicherheit der Bür- GRÜNEN]: Die sind aber nicht nur da!)
ger in unserem Lande steht dabei auf jeden Fall an erster
– wir alle kennen sie –, eine direkte Gefährdung der Be-
Stelle. Das heißt, von Afghanistan darf auch in Zukunft,
völkerung in Deutschland ausgegangen. Darum wäre es
auch nach dem Abzug unserer Truppen, keine Gefähr-
sträflich, diesen Zustand, der ein Rückschritt wäre, wie-
dung für unsere Bevölkerung mehr ausgehen.
der zuzulassen, alle Anstrengungen als vergeblich einzu-
ordnen – wir hatten eine solche Situation in Afghanistan
Vizepräsident Eduard Oswald: schon einmal – und alle Opfer, die dort zu beklagen wa-
Kollege Hochbaum, gestatten Sie eine Zwischenfrage ren, für umsonst zu erklären. Nein, wir wollen kein Land
unseres Kollegen Christian Ströbele? mehr, das den Terrorismus in die Welt und auch nach
Deutschland exportiert. Wir wollen keine Gefährdung
Robert Hochbaum (CDU/CSU):
der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, Herr
Ströbele.
Darauf freue ich mich, Herr Ströbele. Sehr gerne.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Bitte schön, Kollege Ströbele. Ich sagte bereits: Manche erinnern sich noch an die
Bilder von Terrorausbildungscamps und Wüstenfestun-
gen, die nicht zum Spaß gebaut wurden, sondern dem
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Zweck dienten, den internationalen Terrorismus zu un-
NEN): terstützen. Darum stehen wir zu der Aussage: Erst wenn
Danke, Herr Kollege. – Können Sie mir erklären, wie die Sicherheitslage es zulässt und die Nachhaltigkeit des
Deutschland und deutsche Bürger in Deutschland – nicht Übergangsprozesses, Herr Ströbele, nicht gefährdet ist,
diejenigen, die in Afghanistan Krieg führen oder aus an- werden wir den vertretbaren Spielraum zur Truppenre-
derem Grunde dort sind – durch Afghanen bzw. durch duzierung nutzen.
den Krieg in Afghanistan konkret gefährdet werden, vor
allen Dingen dann, wenn deutsche Truppen nicht mehr Präsident Karzai hat für sein Land das Ziel definiert,
in Afghanistan sein sollten? Es hat nach meiner Kenntnis bis Ende 2014 die volle Souveränität zu übernehmen.
noch nie eine Drohung von Taliban oder anderen Auf- Die internationale Schutztruppe wird darum bis 2014
ständischen in Afghanistan gegenüber dem deutschen ihre Truppenstärke zurückführen. Das ist unser gemein-
Volk gegeben, sondern es wurde immer nur die Forde- sam vereinbartes Ziel, und daran werden wir uns halten.
(B) rung „Abzug aus Afghanistan!“ erhoben. Die Fraktion der Linken verweist in ihrem Antrag auf (D)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) ein Zitat des Sonderbotschafters Steiner aus dem Tages-
spiegel, „dass es in Afghanistan keine militärische Lö-
sung geben kann.“ Das ist richtig.
Robert Hochbaum (CDU/CSU):
Lieber Kollege Ströbele, wenn Sie einen Augenblick (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)
länger Geduld gehabt hätten, hätte ich es Ihnen erklärt. Dem kann man nur zustimmen.
Aber ich erkläre es Ihnen auch gerne schon jetzt.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja! Das
Erinnern Sie sich nur an die Bilder von Terrorausbil- machen wir auch!)
dungscamps in Afghanistan – Sie können sich daran
Er sagte aber ebenfalls: Ohne die militärische Kompo-
vielleicht nicht mehr erinnern, ich mich aber sehr gut –,
nente ist auch eine sichere Entwicklung zurzeit nicht
auf denen wir vor vielen Jahren gesehen haben, wie vor
möglich.
Ort in Afghanistan junge Menschen für den weltweiten
Terrorismus ausgebildet werden. (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Aha!)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Er sagte auch, dass es sträflich und unverantwortbar sei,
GRÜNEN]: Aber nicht von Taliban!) die Truppen sofort abzuziehen.
Zum Ziel des weltweiten Terrorismus gehören auch Eu- (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Hört! Hört!)
ropa und Deutschland. Es war nur eine Frage der Zeit, Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wenn
bis die Menschen, die dort mit Hasstiraden ausgebildet Sie schon jemanden für sich sprechen lassen, dann soll-
wurden, ten Sie seine gesamte Auffassung wiedergeben. Das
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE würde Ihren Antrag aber ad absurdum führen.
GRÜNEN]: Von Taliban?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
auf den Rest der Welt angesetzt wurden, auch um hier in Natürlich wissen auch wir, dass es in Afghanistan
Deutschland ihre Aktivitäten zu entfalten. Zum Glück keine rein militärische Lösung geben kann. Darum ist
konnten einige dieser Aktivitäten im Vorfeld erkannt und die militärische Komponente nur ein Teil des Konzeptes
verhindert werden. Insofern wäre nicht von den Afgha- der vernetzten Sicherheit; denn kein Akteur kann Frie-
nen direkt, sondern von anderen Leuten, die eventuell in den und Sicherheit in diesem Land allein gewährleisten.
Afghanistan tätig waren Nur durch das Zusammenspiel aller Instrumente können
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16529
Robert Hochbaum
(A) der Erfolg und damit die Stabilität des Landes erreicht Kollege Gehrcke, auch Ihre Argumente sind im (C)
werden. Grunde genommen stets dieselben,
Verantwortungsvolles Handeln zeichnet sich auch (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, weil sie
durch Verlässlichkeit und Langfristigkeit aus. Afghanis- richtig sind!)
tan wird auch über 2014 hinaus deutsche Unterstützung
brauchen und – da bin ich mir sicher – auch bekommen. nämlich, militärisch löse man keine Konflikte,
Auch wenn die Kampftruppen das Land verlassen ha- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Genau!)
ben, müssen die Ausbildung der Sicherheitskräfte und
natürlich auch – das ist ganz wichtig – der zivile Aufbau die Sicherheitslage verschlechtere sich,
weitergehen. Wir setzen in diesem Zusammenhang sehr (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE
auf die Afghanistan-Konferenz in Bonn am 5. Dezember LINKE])
2011. Dort gilt es, die Weichen für ein sicheres und sta-
biles Afghanistan zu stellen. die Bevölkerung sei für den sofortigen Abzug, kurz ge-
sagt: der Einsatz in Afghanistan sei gescheitert, ohne et-
Im Fortschrittsbericht Afghanistan vom Juli dieses was erreicht zu haben.
Jahres wird von einer Generationenaufgabe gesprochen,
die in Afghanistan zu leisten ist. Die wirtschaftliche und (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr rich-
soziale Transformation ist bei noch immer schwieriger tig erkannt!)
Sicherheitslage nur mit internationaler Unterstützung zu – Nun bestätigen Sie das ausdrücklich.
meistern.
Wenn Sie genau auf Ihre Worte achten würden, dann
Es tut mir leid, aber nun noch einmal zu Ihrem An- würden Sie wahrscheinlich zu derselben Feststellung
trag, meine Damen und Herren der Linken. Mir ganz kommen: Sie legen ein Glaubensbekenntnis ab. Damit
persönlich kommt es so vor, als wollten Sie, wenn Ihre werden Sie der aktuellen Situation in Afghanistan aber
Ziele erreicht würden, zulassen, dass dieses Land wieder nicht gerecht.
– ich habe es Herrn Ströbele erläutert – in den Terror zu-
rückfällt, als wollten Sie der afghanischen Bevölkerung (Beifall der Abg. Dr. Reinhard Brandl [CDU/
jede Zukunftsperspektive nehmen und als wollten Sie CSU] und Uta Zapf [SPD] – Karin Binder
die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger in [DIE LINKE]: Das, was Sie ablegen, sind
Deutschland in der Zukunft tatsächlich erneut gefährden. auch Glaubensbekenntnisse!)
Eine große Mehrheit der verantwortungsvollen Politi- Auf Ihrem Parteitag haben Sie, meine sehr verehrten
(B) ker dieses Hauses will das nicht. Sie stehen für Verant- Damen und Herren von den Linken, ein Parteiprogramm (D)
wortung für die afghanische Bevölkerung und für Si- beschlossen, in dem Sie die internationale Solidarität be-
cherheit für die Menschen in unserem Land. tonen. Aus Solidarität mit dem afghanischen Volk for-
dern Sie nun in Ihrem Antrag das unverzügliche Ende
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das merkt des Bundeswehreinsatzes
man ja!)
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)
Darum ist der Abzug unserer Truppen zwar bereits am
Horizont zu sehen – wir wissen: 2014 –, aber er erfolgt und unausgesprochen gleichzeitig natürlich auch den
erst dann, wenn er verantwortbar ist und wenn von Af- Abzug der NATO-Streitkräfte aus Afghanistan.
ghanistan keine Gefährdung mehr für die Menschen in
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)
unserem Land ausgeht.
– Sie bestätigen das. – Darüber hinaus haben Sie auf Ih-
Herzlichen Dank.
rem Parteitag auch noch das Ende der Unterstützung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beim Aufbau des afghanischen Militärs und der Polizei
gefordert. Die Frage lautet nun: Was würde diese Art
Vizepräsident Eduard Oswald:
von Solidarität für die Menschen in Afghanistan bedeu-
ten? Das ist die konkrete Frage. Es geht nicht um Glau-
Vielen Dank, Kollege Hochbaum. – Jetzt spricht für
bensbekenntnisse.
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Johannes Pflug. Bitte schön, Kollege Pflug. (Karin Binder [DIE LINKE]: Aufbau einer
Zivilgesellschaft!)
(Beifall bei der SPD)
Trotz der Erfolge bei der Ausbildung sind die afgha-
Johannes Pflug (SPD): nischen Sicherheitskräfte ohne Unterstützung der inter-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nationalen Truppen noch nicht in der Lage, die Sicher-
Herren! Seit Beginn des Einsatzes unserer Bundeswehr heit in Gesamtafghanistan zu gewährleisten, und ich
in Afghanistan, also seit fast genau zehn Jahren, wieder- gebe gerne zu: Wir wissen nicht, wann sie es sein wer-
holt die Fraktion der Linkspartei fast gebetsmühlenartig den. Wie immer man diese Sicherheitslage auch beur-
Jahr um Jahr eine Forderung: Sofort raus aus Afghanis- teilt: Sie würde sich auf jeden Fall noch einmal erheblich
tan, Bundeswehr raus aus Afghanistan. verschlechtern. Mehr noch: Ohne die finanzielle Unter-
stützung der internationalen Gemeinschaft würde sich
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Richtig!) die afghanische Armee entlang ihrer ethnischen Grenzen
16530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Johannes Pflug
(A) in kürzester Zeit auflösen, und der nächste Bürgerkrieg wusst oder wegen Unvermögens im Dunkeln gelassen (C)
in Afghanistan wäre unausweichlich. wurde.
Dies trat im Jahr 1992 genau so ein, als Moskau seine Herr Parlamentarischer Staatssekretär Schmidt, die
Unterstützung für die afghanischen Sicherheitskräfte SPD-Fraktion fordert Sie und das Verteidigungsministe-
einstellte. Aber diese Lektion, meine sehr verehrten Da- rium auf: Legen Sie endlich dar, wie Sie den Abzug un-
men und Herren von der Linken, weigern Sie sich zur serer Bundeswehr aus Afghanistan zeitlich und in wel-
Kenntnis zu nehmen. Wenn internationale Truppen und cher Größenordnung planen. Wenn sich die Sicherheits-
afghanische Sicherheitskräfte ausfallen: Wer soll dann lage in Afghanistan begonnen hat, zu stabilisieren, wie
Ihrer Meinung nach die Afghanen schützen? es von Ihrem Hause gesagt wird: Wieso war dann Ihrer
Meinung nach ein Truppenabzug im Jahre 2011 nicht
An die Stelle von gegenwärtig zweifellos prekärer Si- möglich? Welche Fortschritte gab es bei der Aufstellung
cherheit würde ein vollständiges Machtvakuum treten, der afghanischen Sicherheitskräfte? Planen Sie, auch
das Kriegsherren, lokale Machthaber, Drogenbarone und über 2014 hinaus mit militärischen Ausbildern und Bera-
letztendlich auch ausländische Staaten nur allzu gern fül- tern in Afghanistan präsent zu sein? Und: Finden eine
len würden. Die Taliban würden zumindest im Süden Konsultation und eine Koordination mit unseren Verbün-
und Osten des Landes wieder die Macht übernehmen deten, allen voran den USA, über unseren Abzug statt?
und Vergeltung an denjenigen üben, die sich im Ver- In ihrem Antrag verweist die Linkspartei auf einen
trauen auf die internationale Gemeinschaft für ein mo- Allgemeinplatz, der hier von jedem geteilt wird. Es ist
dernes und stabiles Afghanistan engagiert haben. Wer ist selbstverständlich richtig: Militärisch ist der Konflikt in
das? Das sind Lehrer, Frauenrechtler, Journalisten; das Afghanistan nicht zu lösen. Aber das ist auch keine Al-
sind Eltern, die ihren Töchtern eine gute Ausbildung er- ternative. Beides muss praktiziert werden. Gerade des-
möglichen wollten, um nur einige zu nennen. Mehr halb sind politische Instrumente für die Lösung des Kon-
Flucht und Gewalt sowie die Zerstörung der bescheide- flikts umso bedeutsamer. Aber auch hier ist die bisherige
nen bisherigen Fortschritte, insbesondere im Bereich des Bilanz der Regierung relativ ernüchternd.
Bildungswesens und der medizinischen Versorgung, wä-
ren das Ergebnis. Frau Staatsministerin Pieper – ich hatte sie vorhin ge-
sehen –, wie sehen die Planungen, die Forderungen und
Richtig ist, dass viele Dinge in Afghanistan nicht zum Initiativen des Auswärtigen Amtes aus, um zu verhin-
Besten stehen. Aber am schlimmsten für das Land wäre dern, dass die Konferenz in Bonn im Dezember dieses
zweifellos ein unredlicher, überstürzter Abzug, wie Sie Jahres zu einem reinen Showereignis verkommt? Wie
ihn fordern. Dies wurde heute Morgen bei einem Ge- wollen Sie sicherstellen, dass die afghanische Opposi-
spräch mit Vertretern von NGOs, die in Afghanistan tä- tion und Zivilgesellschaft ausreichend in Bonn vertreten (D)
(B)
tig sind, erneut deutlich. sein werden? Was haben Sie auf der Konferenz in Istan-
bul und im Rahmen der deutschen Mitgliedschaft im
Die Linke spricht vom hehren Ziel der internationalen UN-Sicherheitsrat bisher erreicht, um die Nachbarn Af-
Solidarität, betreibt aber eine Politik des Sich-Heraus- ghanistans konstruktiv in den Stabilisierungsprozess ein-
haltens. Auch die kritische öffentliche Meinung ist da zubinden? Auch in dieser Beziehung hatten Sie bisher
bereits weiter als Sie. Sie verweisen auf Umfragen, nach im Bundestag nichts vorzuweisen. Man hört überhaupt
denen – das stimmt – 66 Prozent der Deutschen einen nichts über die Konferenz in Istanbul.
sofortigen Abzug der Bundeswehr wünschen.
Frau Staatsministerin Pieper, erklären Sie dem Deut-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE schen Bundestag bitte, ob die Voraussetzungen für einen
GRÜNEN]: Schon lange!) Abzug unserer Bundeswehr überhaupt gegeben sind.
Verläuft die Übergabe von Provinzen und Städten an die
Stellt man allerdings den Deutschen konkret die Frage: Afghanen planmäßig? Sind diese in der Lage, diese Ge-
„Meinen Sie sofortigen Abzug oder Abzug nach ange- biete zu halten und für die Sicherheit der Menschen zu
messenem Abschluss der Mission?“, dann ist das Ergeb- sorgen? Welche Fortschritte macht der politische Ver-
nis: Es befürworten mehr als 50 Prozent der Bevölke- söhnungs- und Friedensprozess in Afghanistan? Und vor
rung den Abzug in Verantwortung, also nicht den allem: Wie hat das militärische Engagement Deutsch-
sofortigen Abzug. Ihre Politik des „Ohne uns“ repräsen- lands im letzten Jahr dazu beitragen können, diese Pro-
tiert also keinesfalls eine Mehrheit der Menschen in die- zesse zu fördern?
sem Land.
Die SPD-Fraktion hat sich bisher immer zu einem
Sie sollten nicht Jahr für Jahr dieselben Forderungen deutschen Engagement in Afghanistan bekannt. Diese
herunterbeten, die nicht weniger Gewalt, aber weniger Zustimmung kann und wird allerdings nicht ohne Klä-
Sicherheit, weniger Entwicklung und weniger Souverä- rung der genannten und anderer offener Punkte durch die
nität für Afghanistan bedeuten. Wir laden Sie ein, sich Bundesregierung erfolgen.
konstruktiv an der Debatte zu beteiligen. Es gibt mit dem
Jahr 2014 – das ist die Antwort auf Ihre Frage – nun eine Wir fordern Sie daher auf, dem Deutschen Bundestag
Perspektive für den endgültigen Abzug der deutschen endlich über Ihre Pläne für den Einsatz unserer Soldaten
Kampftruppen aus Afghanistan. Allerdings wird die in Afghanistan Rede und Antwort zu stehen.
Bundesregierung bis dahin noch viele Fragen zu beant- Danke.
worten haben, auch hier vor dem Deutschen Bundestag,
der bislang über die Pläne der Regierung entweder be- (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16531

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: mich zu Begeisterungsstürmen hin. Machen Sie weiter (C)
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege so! Es ist ein gutes Programm. Besonders gut sind die
Wolfgang Gehrcke. Vorschläge zur internationalen Politik.
(Beifall bei der LINKEN)
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Ich habe mich zu Vizepräsident Eduard Oswald:
einer Kurzintervention gemeldet, weil ich vom Kollegen Vielen Dank, Kollege Gehrcke. – Jetzt hat als Nächs-
Pflug direkt angesprochen worden bin. Ich finde, wenn ter in unserer Debatte unser Kollege Dr. Djir-Sarai das
man sich die Sache nüchtern vor Augen führt, muss die Wort. Bitte schön, Herr Kollege.
erste Feststellung sein – deswegen haben wir Sonderbot-
schafter Steiner mit seiner Aussage bemüht, dass der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Konflikt nicht militärisch zu lösen ist –: Wenn man in der CDU/CSU)
der Sackgasse ist, dann kann es kein Weiter-so oder Vor-
wärts geben; Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP):
(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Das gibt es Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
ja auch nicht!) Kollege Gehrcke, auch wenn Ihr Antrag durchaus einige
richtige Aspekte beinhaltet, dürfen wir an den Realitäten
dann muss man zurückgehen, das heißt die Truppen zu- in dieser Region und vor allem an den Realitäten in Af-
rückziehen. Das hat seine Logik. ghanistan nicht vorbeireden.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Zweitens ist festzustellen: Weil sehr viel Widerstand
in Afghanistan daher rührt, dass die Afghaninnen und Es ist völlig richtig, Herr Kollege Gehrcke: Es wird in
Afghanen ihr Land als von fremden Truppen besetzt be- Afghanistan keine militärische Lösung geben. Das ist
trachten, wird der Verbleib von fremden Truppen den sonnenklar. Darin besteht auch Einigkeit.
Widerstand verstärken, und es wird nicht zu einer friedli-
Es ist ebenfalls richtig: Der Westen hat sich speziell in
chen Lösung kommen. Die Besetzung des Landes ist ein
dieser Region in der Vergangenheit häufig Illusionen
Argument, das die Taliban ständig anführen. Ich sage
hingegeben. Ich bestreite nicht: Auch Deutschland hatte
sehr zugespitzt: Mit Ihrer Politik stärken Sie die Taliban,
sich unter zum Teil falschen Vorstellungen des Einsatzes
statt sie zu schwächen.
und seiner Ziele 2001 mit der Bundeswehr in diesen Ein-
(B) (Beifall bei der LINKEN) satz begeben. Daher mussten die Erwartungen genauso (D)
wie übrigens auch die Einsatzstrategie selbst im Laufe
Der dritte Punkt ist, dass wir endlich darüber nach- der Zeit überdacht und angepasst werden.
denken müssen, dass das Volk von Afghanistan Selbst-
bestimmung verdient hat. Das Volk von Afghanistan Ich bin allerdings davon überzeugt, dass wir heute die
muss selber entscheiden, was wirtschaftlich gemacht richtigen Ziele formuliert haben und die richtige Strate-
wird und was in seinem Land passieren soll. Sie bevor- gie verfolgen. Wir verfolgen heute realistische Ziele
munden, um es freundlich zu sagen, das Volk von Af- – das ist der wesentliche Unterschied zu früher –: hinrei-
ghanistan. Das wird nicht zur Lösung des Konfliktes chende Stabilität im Land und Gewährleistung von Men-
führen. schenrechten, begleitet von einer Strategie der Versöh-
nung und Aussöhnung im ganzen Land.
(Beifall bei der LINKEN)
Die aktuelle Strategie trägt zu einer Verbesserung der
Meine Solidarität heißt auch: Die Menschen in Afgha- Situation im Land bei, sodass eine Perspektive für den
nistan müssen endlich selber entscheiden. Es geht nicht Abzug der militärischen Hilfe in Aussicht bleibt. Unge-
an, dass mit Petersberg II in Bonn wieder über sie ent- duld zahlt sich an dieser Stelle nicht aus, Herr Kollege.
schieden wird. Darüber müssen wir uns Gedanken machen.
Das sind die Probleme, denen man sich stellen muss. Bei den Entscheidungen über die Zukunft des deut-
Das machen wir in unserem Antrag. schen militärischen Engagements in Afghanistan geht es
Zwei Punkte haben mich begeistert. Das kann ich nur nicht um Tage, sondern es geht um wichtige Weichen-
bestätigen, Kollege Pflug. Wir sagen seit zehn Jahren im stellungen für die Zukunft. Entscheidend ist die Frage,
Bundestag: Schluss mit dem Krieg! Zieht die Bundes- wie das Afghanistan von morgen aussehen kann. Was im
wehr zurück! Ich bin stolz darauf, dass wir von Anfang Kern nötig ist – da stimme ich Ihnen auch zu –, ist eine
an diese Position gehabt und sie durchgehalten haben – politische Lösung, eine Versöhnung der Gegner. Dazu
im Unterschied zu anderen. gibt es keine Alternative.

(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Es waren bestimmte Regierungen, die diesen unsinnigen
Kurs begonnen haben. Wichtig ist bei diesem Friedensprozess, dass alle rele-
vanten Gruppen einbezogen werden und dass nicht Teile
Der zweite Punkt ist: Dass alle Kolleginnen und Kol- der afghanischen Gesellschaft außen vor bleiben. Wie
legen des Bundestags unser Parteiprogramm lesen, reißt ich oft gehört habe, sagen dies sogar Afghanen selbst.
16532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Bijan Djir-Sarai


(A) Die Frage des inneren Aussöhnungsprozesses muss al- enorme Erfolge stattgefunden haben und dass diese Er- (C)
lerdings zuerst von den Afghanen selbst vorangetrieben folge mit einem Schlag vernichtet würden, wenn wir un-
werden; denn Frieden in Afghanistan kann nur zwischen sere Truppen abziehen würden; darüber müssen wir uns
den Parteien und Gruppierungen vor Ort geschlossen Gedanken machen. Das ist nur ein Beispiel von vielen.
werden. In Afghanistan entwickelt sich gerade eine kraftvolle Zi-
vilgesellschaft. Ein kopfloser Abzug unserer Soldaten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
würde diese Erfolge vernichten und wäre für viele Men-
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE schen vor Ort eine Katastrophe.
GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Diesem Ziel dient übrigens auch die Bonner Afgha-
nistan-Konferenz im Dezember. Herr Kollege Pflug, das Alle diese Verbesserungen wären auf einen Schlag
ist keine Showveranstaltung. Deutschland ist nicht nur hinfällig, wenn wir planlos und ohne Verantwortung das
Gastgeber dieser Konferenz, sondern hat auch eine Füh- Land verließen. Deshalb steht Deutschland auch in Zu-
rungsrolle in Afghanistan. Die Konferenz ist insofern kunft an der Seite der afghanischen Bevölkerung. Auch
besonders, da sie von afghanischer Seite als Konferenz nach dem Abzug der militärischen Hilfe wird sich
mit einer strategischen Bedeutung gesehen wird, eine Deutschland weiter intensiv am zivilen Wiederaufbau in
Konferenz, welche die Zukunft Afghanistans massiv be- Afghanistan beteiligen. Statt hier mit wüsten Abzugsplä-
einflussen wird. Deshalb übergeben wir nach der klaren nen um uns zu werfen, sollten wir daher lieber erklären,
roten Linie unserer Strategie – die übrigens nicht als ge- wie wir die Zivilgesellschaft von morgen in Afghanistan
scheitert zu diffamieren ist – schrittweise die Verantwor- konkret unterstützen können. Wir sollten die Botschaft
tung an die afghanischen Sicherheitskräfte – in guter, an unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten vor Ort
vertrauensvoller Arbeit mit unseren ISAF-Partnern. senden, dass wir Anerkennung zollen: Anerkennung für
diese schwere Aufgabe, Anerkennung für diesen guten
Uns allen hier im Haus ist doch klar, dass es nicht um
Job, den sie dort tagtäglich unter harten und gefährlichen
einen direkten Abzug geht. Es ist aber auch klar, dass
Bedingungen leisten.
aus Afghanistan keine Hochburg der Demokratie werden
wird. Es geht darum, diesen Übergangsprozess verant- Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
wortungsvoll und ordentlich abzuschließen. Das ist
heute die Sachlage. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Genau darum wird es auch in Bonn gehen: die Über-


Vizepräsident Eduard Oswald:
gabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen vo-
ranzubringen, den inneren Aussöhnungsprozess zu un- Vielen Dank, Dr. Djir-Sarai. – Jetzt spricht für die
(B)
terstützen und dem Land eine Perspektive für die Zeit Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Hans- (D)
nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen Christan Ströbele. Bitte schön, Kollege Ströbele.
2014 aufzuzeigen. Das sind die Hauptziele, die in Bonn
diskutiert werden. Das ist keine Showveranstaltung. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
In den kommenden Wochen wird uns ein neuer Fort-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
schrittsbericht für Afghanistan vorliegen. Kurz darauf
zehn Jahren führen wir mit unserer Parlamentsarmee in
werden wir hier im Deutschen Bundestag über eine
Afghanistan Krieg. Seit vier, fünf Jahren führen wir ihn
Mandatsverlängerung debattieren. In dieser Debatte
mit immer mehr Soldaten und immer schrecklicher. Das
wird klar zum Ausdruck kommen, dass wir eine kon-
Ergebnis dieses Krieges ist bisher desaströs: Zehntau-
krete Abzugsperspektive haben und haben müssen. Da-
sende von Menschen sind getötet worden, eine mehrfa-
bei darf es allerdings keine Gefährdung von allem bisher
che Zahl von Menschen ist in Afghanistan Opfer dieses
Erreichten geben. Dabei darf es auch keine Gefährdung
Krieges, verletzt und zu Krüppeln geworden. Trotz im-
für unsere Soldaten in Afghanistan geben.
mer neuer Truppenverstärkungen und einer Verschär-
In dem neuen Mandat wird dann auch die Richtung fung des Krieges ist die Sicherheitssituation für die Be-
für den Abzug der deutschen Soldaten erkennbar sein. völkerung in Afghanistan jedes Jahr schlechter geworden.
Denn klar und möglich ist: Wir wollen bis Ende 2014 die So schlecht wie derzeit war sie noch nie.
Verantwortung für die Sicherheit vollständig an Afgha-
Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wir können
nistan übergeben und die Kampftruppen abziehen. Das
nicht einfach sagen: „Wir machen weiter so“, sondern
ist international in Lissabon so vereinbart worden und
wir müssen neue Wege gehen. Für diese neuen Wege
auch von Präsident Karzai so bestätigt worden. Der
gibt es Möglichkeiten, und es gibt Aussicht auf Erfolg.
Fahrplan steht. Das sind realistische Ziele, für deren Er-
Es kann nicht heißen: „Wir führen den Krieg mindestens
reichung wir in den nächsten Wochen und Monaten hart
drei Jahre weiter“, sondern es muss heißen: Es muss eine
arbeiten müssen. Realistisch sind für Afghanistan: eine
Kehrtwendung von dem Einsatz in Afghanistan hin zur
ausreichend gute Regierungsführung, die Wahrung der
Beendigung des Krieges stattfinden, und zwar sofort.
fundamentalen Rechte und keine neue Gefährdung unse-
– In diesem Punkt gebe ich dem Kollegen Gehrcke aus-
rer Sicherheit hier zu Hause.
drücklich recht. Der Krieg muss beendet werden. Im
Ich traf vor einigen Tagen hier im Deutschen Bundes- letzten Jahr sind allein in drei Monaten von den USA
tag eine Gruppe von afghanischen Frauenrechtlerinnen. 1 485 sogenannte verdeckte Operationen von Spezial-
Diese haben bestätigt, dass allein auf diesem Gebiet kräften durchgeführt worden, bei denen 485 Menschen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16533
Hans-Christian Ströbele
(A) getötet worden sind und durch die unendlich viel Leid Dr. Rainer Stinner (FDP): (C)
angerichtet worden ist. Das kann nicht sein. Wenn Sie Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Ströbele, Ihre
das hochrechnen, kommen Sie auf über 5 000 solcher Rede hat mich insofern verwirrt, als ich wirklich nicht
Angriffe in einem Jahr. Wir können nicht erwarten, dass weiß, ob Sie hier die Meinung Ihrer Fraktion wiederge-
auf der anderen Seite nichts passiert. Diese Angriffe füh- ben. Denn die Tonalität, in der Sie diese Rede vorgetra-
ren vielmehr zu einer Verschärfung des Krieges. Sie füh- gen haben, und die Inhalte, die Sie zum Teil vorgetragen
ren dazu, dass die Taliban jeden Tag stärker werden, dass haben, weichen sehr deutlich von dem ab, was wir von
sich immer mehr Menschen aus Hass und deshalb, weil Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Ausschüssen
sie Vergeltung üben wollen, dem Krieg der Aufständi- über Monate und Jahre vernommen haben. Deshalb
schen gegen die NATO anschließen. Deshalb ist ein frage ich Sie ganz deutlich: Vertreten Sie, auch mit Ihrer
neuer Weg erforderlich. Wortwahl, hier die Meinung Ihrer Fraktion?
Nun stimme ich dem Antrag der Linken trotzdem Zweitens. Sie haben angesprochen, dass die Bundes-
nicht zu. Ich glaube, dass die immer gleiche Wiederho- regierung und der Außenminister angekündigt haben,
lung in dem Antrag, sofort alle Truppen aus Afghanistan dass wir die Anzahl der Soldaten graduell reduzieren
abzuziehen, falsch ist. Dass das funktioniert, lieber Kol- werden.
lege Gehrcke, glaubt ihr selber nicht. Das ist nicht mög-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
lich.
GRÜNEN]: 2011!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kollege Djir-Sarai hat darauf hingewiesen, dass wir
sowie bei Abgeordneten der SPD) einen Entwicklungspfad bis 2014 haben, und Sie, Herr
Das ist im Augenblick auch nicht die erste Priorität. Die Kollege Ströbele, haben das Jahr 2011 angesprochen. Ich
erste Priorität muss sein, den Krieg zu beenden. kann Ihnen sagen: Wir haben eine Mandatsverlängerung
im Januar 2012 – das ist nicht 2011, sondern 2012 –, und
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja, eben!) ich kann Ihnen auch sagen – gerade läuft es über den
dpa-Ticker; insofern ist es eine öffentliche Information –,
Das heißt, man muss morgen erklären, dass keine sol- dass die Bundesregierung laut dpa – ich will das jetzt
chen Offensivmaßnahmen und keine offensiven Groß- nicht im Einzelnen kommentieren, sondern gebe nur wie-
operationen mehr stattfinden; stattdessen fangen wir der, was ich gerade in öffentlichen Medien gelesen habe –
zum Zeichen der Versöhnung mit dem Abzug an. Wir beschlossen hat, die Mandatsobergrenze schon ab Januar
sollten aber nicht das machen, was Herr Westerwelle 2012 auf 4 900 Soldatinnen und Soldaten zu reduzieren.
jetzt offenbar vorhat. Noch vor einem Jahr hat er hier im Das heißt, diesem Ansinnen des graduellen Abbaus trägt
(B) Deutschen Bundestag erklärt, Ende des Jahres 2011 wür- diese Bundesregierung wieder einmal in exzellenter (D)
den die ersten deutschen Truppen aus Afghanistan abge- Weise Rechnung.
zogen. Davon ist keine Rede mehr. In diesem Jahr wer-
den keine Truppen abgezogen; man vertröstet uns Vielen Dank.
vielmehr auf das nächste Jahr. Das ist der falsche Weg. (Beifall bei der FDP)
Wir müssen Zeichen setzen, und wir müssen nach der
Erklärung eines Waffenstillstandes deutlich auf die Tali- Vizepräsident Eduard Oswald:
ban zugehen und sie in Verhandlungen einbinden. Sie Herr Kollege Ströbele, Sie haben die Möglichkeit zur
sind dazu bereit. Ich war im September in Afghanistan Antwort.
und habe das von vielen dort gehört, nicht nur von ehe-
maligen Mitgliedern der Regierung der Taliban, sondern Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
auch von vielen anderen. Es kann allerdings nicht sein, NEN):
dass die Menschen, die in Verhandlungen mit der Regie- Es ist doch schön, dass ich hier zu diesem Thema ein-
rung Karzai und den Alliierten eintreten, anschließend in mal zu Wort komme. – Herr Kollege, ich lese Ihnen ein-
ihrer Wohnung von Spezialkräften der USA aufgesucht, mal vor, was Ihr Außenminister am 15. oder 16. Dezem-
aus ihren Wohnungen herausgeholt, an die Wand gestellt ber vergangenen Jahres gesagt hat: Ende 2011 werden
und ermordet werden, wie es in Afghanistan stattgefun- wir unser Bundeswehrkontingent in Afghanistan erst-
den hat. Das führt nicht zum Frieden. Die Verhandlun- mals reduzieren können. – So, und wann wird jetzt redu-
gen müssen vielmehr von Sicherheitsgarantien für alle ziert?
diejenigen begleitet sein, die verhandlungsbereit sind
und in Verhandlungen eintreten. Das ist der Weg aus der (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Haben Sie Ihre
Misere. Dieser Weg muss beschritten werden, und zwar Fraktion vertreten?)
nicht erst in drei Jahren oder nächstes Jahr, sondern ab Ich sage Ihnen: Ich glaube Ihnen nichts mehr. Ich
diesem Jahr, jetzt sofort. glaube auch dem Außenminister nichts mehr. Denn ich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weiß, dass der Außenminister auch in der Bundesregie-
rung ganz offensichtlich andere Auffassungen vertritt als
der Verteidigungsminister. Bisher hat sich der Verteidi-
Vizepräsident Eduard Oswald: gungsminister ganz offensichtlich durchgesetzt. Er will
Zu einer Kurzintervention hat unser Kollege aber nicht, dass in diesem Jahr Truppen abgezogen wer-
Dr. Rainer Stinner das Wort. den,
16534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Hans-Christian Ströbele
(A) (Jörg van Essen [FDP]: Vertreten Sie die Mei- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
nung Ihrer Fraktion, Herr Ströbele?) Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Frak-
jedenfalls nicht mehr als 90 Leute, die sowieso nicht dort tion.
sind.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Elke Hoff [FDP]: Lesen Sie doch mal die Zei-
tung! Das ist doch Mumpitz!) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Sie führen die Öffentlichkeit in die Irre, und immer Der Antrag, den die Linken hier vorgelegen, tut schon
wieder klingt durch, dass ein Einsatz auch über 2014 hi- etwas weh. Wir wissen ja, dass Sie von der Linken
naus durchaus in Betracht kommt, sofern die Sicher- grundsätzlich gegen jeden Auslandseinsatz der Bundes-
heitssituation dies verlangt. Versuchen Sie also Glaub- wehr sind.
würdigkeit zurückzugewinnen. Dann können wir darüber
reden. (Beifall bei der LINKEN)

Nun zu der Frage, für wen ich rede. Ich rede für mich. Aber bei einem so vielschichtigen Thema wie Afghanis-
tan einen Antrag vorzulegen, in dem Sie in ein paar Zei-
(Zuruf von der FDP: Wie immer! – Zuruf von len so mir nichts, dir nichts den sofortigen Abzug der
der SPD: Für die Bürgerinnen und Bürger, Bundeswehr fordern und das auf einer Seite mit ein paar
dachte ich!) allgemeinen Textbausteinen begründen, ist aus meiner
Sicht nicht angemessen.
Ich habe hier für mich eine Rede gehalten, aber ich will
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ihr hättet gar
Sie noch einmal – das haben Sie auch im Ausschuss ge- nicht erst hingehen dürfen! – Manfred Grund
hört, und das können Sie auch von mir hier und heute [CDU/CSU]: Das sind schöne Internationalis-
noch einmal hören – auf unsere Forderung nach der Be- ten da drüben!)
endigung der Offensivmaßnahmen und insbesondere
dieser gezielten Tötungen hinweisen. Wissen Sie, nach Darüber kann sich aber jeder selbst sein Urteil bilden.
jedem Anschlag auf die Bundeswehr wird immer wieder (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Setzen Sie sich
beklagt – dies wird völlig zu Recht beklagt, sage ich –, doch mal inhaltlich mit uns auseinander!)
wie hinterlistig und bösartig diese Angriffe sind, bei de-
nen Bundeswehrsoldaten umkommen. Ich frage Sie Was mich aber betroffen macht, meine Damen und
aber: Ist es etwas anderes, wenn nachts Spezialkomman- Herren von der Linken, ist, dass Sie sich in Ihrem Antrag
(B)
dos ausrücken und Personen, die vorher aufgelistet wor- mit keinem Wort dazu äußern, was denn die Konsequen- (D)
den sind, aus ihren Wohnungen holen und kaltblütig tö- zen eines sofortigen Abzugs für Afghanistan wären: für
ten? Oder ist es etwas anderes, wenn Menschen am den bisher erreichten Fortschritt beim Wiederaufbau, für
Mittags- oder Abendtisch von einer Drohne, die man in die Übergabe der Verantwortung an das afghanische
der Luft gar nicht wahrnimmt, getötet werden? Ist das Volk, für die Sicherheit der Menschen und der zivilen
nicht auch heimtückisch? Ist das nicht auch hinterlistig? Helfer dort, für die wirtschaftliche Situation im Lande.
Mit den konkreten Folgen Ihrer Forderungen beschäfti-
(Beifall bei der LINKEN) gen Sie sich nicht. Wichtig ist Ihnen nur, dass die Über-
schriften stimmen und morgen in den Zeitungen steht:
Das heißt, es findet dort ein schrecklicher Krieg statt, Linke fordert sofortigen Abzug aus Afghanistan.
und um das zu beenden – darüber war ich froh –, hat
meine Fraktion schon vor zwei Jahren die Einstellung (Zuruf von der LINKEN)
solcher Tötungsaktionen und der Offensivmaßnahmen Meine Damen und Herren, das ist keine Basis für eine
der NATO und insbesondere der US-Amerikaner gefor- ernsthafte Debatte über die Frage, wie langfristig Frie-
dert. Es sind aber nicht nur die US-Amerikaner. Viel- den und Stabilität in Afghanistan geschaffen werden
mehr verfahren auch die Deutschen inzwischen so und können. Die Antwort auf diese Frage umfasst ein ganzes
helfen den Amerikanern bei solchen Kill-Aktionen, in- Bündel an politischen, diplomatischen, entwicklungspo-
dem sie ihnen Informationen geben und Leute auflisten. litischen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen, die
Wir sind also mit dabei, und ich glaube, die Fraktion ver- langfristig angelegt sein müssen und die auch nach dem
tritt dazu Auffassungen, die sich meinen – sage ich mal – Abzug des Militärs in 2014 weiter wirken werden.
annähern. (Zuruf der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])
Abschließend dazu, wie wir zu diesem Antrag stehen. Ich finde, Deutschland spielt beim Finden einer ent-
Ich werde dem Antrag der Linken nicht zustimmen. Ich sprechenden Lösung eine sehr positive, konstruktive
werde mich der Stimme enthalten. Wie sich die Fraktion Rolle. Am 5. Dezember werden sich Außenminister und
entscheidet, werden Sie erleben. Vertreter aus über 90 Ländern in Bonn treffen, um dort
darüber zu beraten, wie es nach dem Abzug der Kampf-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – truppen 2014 in Afghanistan weitergehen wird. Eben
Zuruf von der CDU/CSU: Die Amerikaner nicht in der Weise „Augen zu und raus und nach uns die
sind per se Mörder! Das will er uns damit sa- Sintflut“, sondern vielmehr von den Überlegungen ge-
gen!) tragen: Was muss bis dahin an zivilen Maßnahmen noch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16535
Dr. Reinhard Brandl
(A) in die Wege geleitet werden? Wie kann ein langfristiges Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
Engagement der internationalen Gemeinschaft in Afgha- Ich schließe die Aussprache.
nistan aussehen?
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist Drucksache 17/7547 an die in der Tagesordnung aufge-
das Problem!) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
Wie muss der politische Prozess der Übergabe in Verant- so beschlossen.
wortung ausgestaltet werden?
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Dass Deutschland auf afghanischen Wunsch hin Gast-
geber dieser Konferenz sein darf, ist ein Zeichen des ho- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
hen Vertrauens, das uns von diesem Land und von der in- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
ternationalen Staatengemeinschaft entgegengebracht wird. zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – – Drucksachen 17/7317, 17/7369 –
Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das glau-
ben Sie ja selber nicht!) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
Das zeigt sich auch immer wieder in Umfragen, in denen cherschutz (10. Ausschuss)
vom Ausland der deutsche Einfluss in der Welt sehr po-
sitiv bewertet wird. – Drucksache 17/7671 –
Berichterstattung:
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Oh Gott!
Abgeordnete Alois Gerig
Am deutschen Wesen …! Gruselig!)
Gustav Herzog
Das ist vielleicht der größte Trumpf, den wir in unserer Dr. Christel Happach-Kasan
Außenpolitik haben. Den dürfen wir nicht leichtfertig Alexander Süßmair
verspielen. Das Vertrauen, das uns entgegengebracht Harald Ebner
wird, gründet unter anderem darauf, dass uns kein Hege-
monialdenken unterstellt wird, Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Nein,
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
nur wirtschaftliche Interessen!)
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir offenkundig so
(B) und auch darauf, dass wir in der Welt als zuverlässige (D)
und verlässliche Partner gelten. verfahren.
Meine Damen und Herren, ich komme zurück auf Af- Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
ghanistan und die Forderung der Linken nach einem so- Kollegen Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion das
fortigen Abzug. An dem Einsatz beteiligen sich im Mo- Wort.
ment 49 Nationen aus der ganzen Welt. Diese teilen sich
die Aufgabe sowohl regional als auch funktional auf. Alois Gerig (CDU/CSU):
Dass man eine solche globale Aufgabe gemeinsam unter Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
dem Dach der Vereinten Nationen angeht, ist doch be- Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit
grüßenswert. Das geht aber nur, wenn sich die Länder dem Gesetz zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes
untereinander auf Zusagen verlassen können und Ent-
leisten wir in Deutschland unseren Beitrag dazu, die Zu-
scheidungen wie die eines Abzuges gemeinsam treffen,
lassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in
und zwar in enger Abstimmung mit dem Land, dem man
Europa zu harmonisieren. Gleichzeitig sorgen wir mit
helfen möchte. Und es sind auch die Menschen vor Ort,
die sich auf uns verlassen, die mit unseren Soldaten zu- dem Gesetz dafür, dass im Pflanzenschutzrecht die ho-
sammenarbeiten und deren Leben wir unter Umständen hen Standards im Umwelt- und Verbraucherschutz erhal-
aufs Spiel setzen würden, wenn wir uns von heute auf ten bleiben bzw. dass sich Europa an unseren hohen
morgen aus der Verantwortung verabschieden würden. Standards orientiert.
Das alles blendet die Linke aus, wenn sie heute einen so- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
fortigen Abzug fordert. Das ist verantwortungslos.
Bei vielen Verbrauchern stößt der Einsatz von Pflan-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zenschutzmitteln leider immer noch auf Skepsis. Bei der
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist heutigen abschließenden Beratung des Entwurfs des
gerade dabei – der Kollege Stinner hat es vorhin ange- neuen Gesetzes möchte ich deshalb betonen:
sprochen –, im Vorfeld der Mandatsbeschlüsse die Vo- Erstens. Die Zulassung und Anwendung von PSM
raussetzungen für eine Reduzierung zu schaffen. Ich bleiben an strenge Anforderungen gebunden. In den ver-
würde es begrüßen, wenn sich dafür eine breite Mehrheit gangenen Jahrzehnten konnten deutliche Fortschritte bei
im Parlament finden würde. der Minimierung der Risiken erzielt werden. Bei den Le-
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. bensmitteluntersuchungen hierzulande werden – und das
bei immer besseren Untersuchungsmethoden – kaum
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) noch überhöhte Rückstände festgestellt.
16536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Alois Gerig
(A) Zweitens. Die Anwendung von PSM in der konven- örtlichen Gegebenheiten und den Anwendungsbestim- (C)
tionellen Landwirtschaft, der Forstwirtschaft, dem Wein- mungen des konkreten Mittels ausgerichtet werden.
bau oder dem Obst- und Gartenbau ist und bleibt – das
können Sie gerne wörtlich nehmen – notwendig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sicher!
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das hat auch sonst immer geklappt!)
neten der FDP)
Für besondere Gebiete, wie beispielsweise das Alte
Sie trägt wesentlich zu höheren Erträgen bei guter Quali- Land, schaffen wir die Voraussetzungen dafür, unter
tät und damit zu einer sicheren Versorgung unserer Be- Wahrung des Schutzniveaus abweichende Regeln anzu-
völkerung mit bezahlbaren und gesunden Lebensmitteln wenden.
bei. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Warum ist es erforderlich, in der EU die Anwendung Die Entscheidung über die Ausweisung dieser sogenann-
und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zu harmoni- ten Sondergebiete wird unter Beteiligung des Umwelt-
sieren? Auf dem europäischen Binnenmarkt bestehen bundesamtes getroffen. Gleichzeitig stellen wir im Ge-
beachtliche Unterschiede. Es ist zum einen für die deut- setz sicher, dass im Einzelfall zügige Entscheidungen
schen Landbewirtschafter ein klarer Wettbewerbsnach- über Sondergebiete oder dann, wenn Gefahr im Verzug
teil, wenn Konkurrenten in anderen EU-Staaten Pflan- ist, möglich sind. Ähnlich pragmatisch wird, falls unab-
zenschutzmittel zur Verfügung haben, die in Deutsch- dingbar, bei der Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln
land nicht zugelassen sind, und es ist zum anderen irre- mit Luftfahrzeugen im Steillagenweinbau und im Kro-
führend und äußerst unfair für die Verbraucher, wenn nenbereich der Wälder verfahren.
Lebensmittel in unseren Supermarktregalen stehen, die
nicht nach den gleichen bzw. strengen deutschen Um- Gegen den Handel mit gefälschten oder verbotenen
weltstandards produziert wurden. PSM werden strengere Regeln geschaffen. Dies ist glei-
chermaßen im Sinne von Herstellern und Verbrauchern.
Ein wichtiger Schritt in Richtung von mehr Harmoni-
sierung ist zum Beispiel die gegenseitige Anerkennung Eines möchte ich zum Ende meiner Rede noch grund-
von Zulassungen. Die EU wurde in drei Zonen aufge- sätzlich festhalten: Um die Welt bei zunehmender Be-
teilt. Ist ein PSM in einem Mitgliedstaat zugelassen, so völkerung
soll die Zulassung dieses Mittels in Mitgliedstaaten, die
(Zurufe von der LINKEN: Oh!)
der gleichen Zone angehören, innerhalb von 120 Tagen
erfolgen. Im Ergebnis ist zu erwarten, dass durch dieses mit Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen
(B) Zusammenspiel schneller bessere und möglicherweise versorgen zu können, brauchen wir moderne und inno- (D)
auch mehr Pflanzenschutzmittel zugelassen werden. Da- vative Pflanzenschutz- bzw. im gewissen Rahmen auch
durch dürfte sich die Verfügbarkeit von PSM in Deutsch- Pflanzenstärkungsmittel.
land verbessern, was ökologisch durchaus sinnvoll ist
und auch dazu beiträgt, zunehmende Resistenzen in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Kulturen zu verhindern. Mit dem vorliegenden Gesetz wird es gelingen, den
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Pflanzenschutz auch weiterhin in den Dienst einer leis-
tungsfähigen, nachhaltigen und ökologisch ausgewoge-
Das kann allerdings nur dann gelingen, wenn die natio- nen Landbewirtschaftung zu stellen. Damit wird nach
nalen Zulassungsbehörden im Verfahren einheitliche Be- meiner festen Überzeugung ein weiterer wichtiger Bei-
wertungsmaßstäbe anlegen und praktikabel handhaben. trag zur Harmonisierung in Europa geleistet. Ich bitte
Dies fordern wir ebenso wie die Umsetzung des Natio- Sie: Stimmen Sie diesem Gesetz zu.
nalen Aktionsplanes in unserem gemeinsamen Ent-
Vielen Dank.
schließungsantrag.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Große Bedeutung für einen fairen Wettbewerb beim
Pflanzenschutz haben auch die Anwendungsbedingungen:
Integrierter Pflanzenschutz, Sachkundenachweis und ein Präsident Dr. Norbert Lammert:
TÜV für Pflanzenschutzgeräte wurden in Deutschland be- Das Wort hat nun der Kollege Gustav Herzog für die
reits vor Jahren eingeführt und werden künftig EU-weit SPD-Fraktion.
vorgeschrieben. Wir müssen allerdings schon aufpassen,
dass die Harmonisierungsziele möglichst eins zu eins um- (Beifall bei der SPD)
gesetzt und nicht durch ungeschickte Regelungen durch
die Hintertür konterkariert werden. Hier ist die Bundesre- Gustav Herzog (SPD):
gierung gemeinsam mit den Ländern gefordert. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Pflanzen-
Überhaupt ist Praktikabilität in dem neuen Gesetz ein schutzrecht ist eine sehr komplexe Materie, um die sich
wichtiges Anliegen. So haben wir, anders als vom Bun- überwiegend die Spezialisten in den Fraktionen küm-
desrat gefordert, auf die Festlegung starrer Abstandsre- mern.
gelungen für Gewässer verzichtet. Besser ist es, wenn
diese im Rahmen der guten fachlichen Praxis nach den (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Leider!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16537
Gustav Herzog
(A) Aber das damit verbundene Regelwerk betrifft uns alle. Sie waren nicht die Lokomotive des Fortschrittes; Sie (C)
Dies gilt insbesondere für die Qualität und Quantität der standen eher auf der Bremse und haben plakativ Ihren
uns zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel. Es wird Slogan „Wettbewerbsverzerrung“ hochgehalten. Das
aber auch geregelt, wie wir am Wochenende, wenn es war Ihr Schlagwort, um eigentlich jede Weiterentwick-
unsere Zeit erlaubt, den Rasen zu Hause pflegen dürfen, lung zu behindern. Wenn Sie sagen, dass es bei uns ei-
wie der Zustand unserer Gewässer ist und wie hoch das nige Regelungen schon viele Jahre gibt, dann können
Einkommen der Landwirte ausfällt, inwiefern sie ihre wir stolz darauf sein, dass wir sie eingeführt haben, und
Erträge sichern können. Ferner wird Einfluss auf die Sie können uns dafür dankbar sein.
Vielfalt von Flora und Fauna genommen. Der vorlie-
Der gesamte Prozess dauert schon lange an. Zur
gende Gesetzentwurf ist daher wichtig und hat die not-
Frage, ob das Umweltbundesamt seine Einvernehmensre-
wendige Aufmerksamkeit verdient.
gelung bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln bei-
Wir regeln die Zulassung der Mittel, während es euro- behält, habe ich im Deutschen Bundestag bereits mehr-
päische Regelungen für die Wirkstoffe gibt. Wir schaf- fach gesprochen. Wir haben uns zahlreiche Rededuelle
fen Regelungen bezüglich der Anwendung und der Ge- geliefert. Frau Kollegin Happach-Kasan, Respekt, Sie
räte. Eine wichtige Frage ist – sie wird immer mehr an sind bei Ihrer Position geblieben.
Bedeutung gewinnen –, wie wir illegale Importe und die
(Ulrich Kelber [SPD]: Bei der falschen!)
damit verbundenen kriminellen Machenschaften verhin-
dern. Wir haben gemeinsam den Fokus darauf gerichtet Ich hoffe, die Union hat inzwischen Einsichten gewon-
und die entsprechenden Sanktionen vereinbart. nen und ihre Meinung geändert. Die Regelung wird je-
denfalls so bleiben.
Wir haben diese Neuordnung erarbeitet, weil im Jahr
2009 die EU eine entsprechende Vorgabe in Form einer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Verordnung und einer Richtlinie gemacht hat. Herr Kol- DIE GRÜNEN)
lege Bleser, Sie haben sich jetzt auf die Abgeordneten-
Sie haben die Eins-zu-eins-Umsetzung angesprochen.
bank gesetzt, ich spreche Sie aber als Vertreter des
Ich bin da sehr zögerlich; denn ich halte das für ein
Ministeriums an: Sie haben sich viel Zeit gelassen, dem
Stück politische Selbstkastration.
Deutschen Bundestag diesen Gesetzentwurf vorzulegen.
Wir hätten gerne etwas mehr Zeit gehabt, mit den Fach- (Ulrich Kelber [SPD]: Wohl wahr!)
leuten über diesen Entwurf zu beraten. Ich glaube, es ist
im Sinne des ganzen Hauses, wenn Sie sich beim nächs- Hier hätte man schon etwas mehr machen können. Der
ten Mal etwas weniger Zeit lassen. Bundesrat hat 56 Änderungsanträge gestellt. Sie sind der
Bundesregierung willig gefolgt, indem Sie nur die
(B) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Punkte in Ihre Änderungsanträge übernommen haben, in (D)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) denen sich Bundesrat und Bundesregierung einig waren.
Sie haben keine einzige Anregung aus der Anhörung
Die Auswirkungen dieses Gesetzes sind für Deutsch-
übernommen, die qualitativ sehr gut besetzt war. Etwas
land nicht gravierend. Der Entwurf beinhaltet insbeson-
mehr Kreativität hätte ich von den Koalitionsfraktionen
dere für Hersteller und Anwender wesentliche neue Re-
schon erwartet. Aber nach all dem, was ansonsten an
gelungen – auch Vorteile; da stimme ich dem Kollegen
Unsinn verbreitet wird, ist eine Eins-zu-eins-Umsetzung
Gerig zu. Ich habe immer für die zonale Zulassung ge-
vielleicht doch das Beste für die deutsche Landwirt-
kämpft; denn wir brauchen eine Vielfalt an Mitteln, um
schaft.
Resistenzen vorzubeugen. Jedoch trägt nicht das UBA
die Schuld daran, dass für eine Reihe von Indikationen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
so wenige Mittel zur Verfügung standen. Vielmehr kon-
zentriert sich die Industrie darauf, für die großen Pro- Wir sagen: Fortschritt ist möglich. Das Recht soll ein-
dukte und Kulturen entsprechende Mittel zu erforschen facher, ökologischer und damit besser sein. Lassen Sie
und zuzulassen; die kleinen Kulturen jedoch – die selte- mich kurz vier Punkte ansprechen.
nen Schadorganismen – bleiben außen vor. Ich kann Erstens: Abstand zu Gewässern. In der Anhörung sind
mich noch gut an Aufrufe im Pfälzer Bauer erinnern, in unterschiedliche pauschale Abstände genannt worden.
denen geradezu um Geld zur Durchführung von entspre- Der Bundesrat wollte 1 Meter – abgelehnt durch die
chenden Untersuchungen gebettelt worden ist, um Lü- Bundesregierung. Vorgeschlagen wurden auch 3 Meter,
ckenindikationen schließen zu können. Von daher auch 5 Meter und 10 Meter Abstand. Wir hielten – ich sage
von hier ein Aufruf an die Industrie, in diesem Bereich das bewusst – 3 Meter für opportun, um eine ganze
etwas mehr zu tun. Reihe von Pflanzenschutzmitteln in dieses Regelwerk
(Beifall des Abg. Peter Bleser [CDU/CSU]) aufzunehmen. Das wäre ein Beitrag zur Entbürokratisie-
rung gewesen.
Herr Gerig, Sie haben heute – wie Sie alle bei der ers-
Dass das Thema „Eintrag in Gewässer“ nach wie vor
ten Lesung – von dem hohen Schutzniveau in Deutsch-
sehr wichtig ist, zeigt ein Beispiel: Im Oktober hat das
land gesprochen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung eine Untersu-
Ihre Seite in diesem Haus hierzu am allerwenigsten ei-
chung veröffentlicht, für die europaweit 750 000 Gewäs-
nen Beitrag geleistet hat.
seranalysen ausgewertet wurden. 73 chemo-organische
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verbindungen sind als potenziell prioritäre Schadstoffe
DIE GRÜNEN) identifiziert worden, zwei Drittel davon waren Pestizide.
16538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Gustav Herzog
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist für uns ein Wir haben aber noch ein paar parlamentarische Debat- (C)
Alarmzeichen, dass wir uns intensiv darum zu kümmern ten, in denen wir vielleicht doch noch mehr Einigkeit
haben. herstellen können.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zweitens. Die gute fachliche Praxis darf nicht nur als
Inhalt einer schönen Broschüre des Ministeriums verteilt
werden, sondern muss als verbindliches Regelwerk, als Präsident Dr. Norbert Lammert:
Verordnung festgeschrieben werden. Die Kollegin Christel Happach-Kasan ist die nächste
Rednerin für die FDP-Fraktion.
Dritter Punkt. Hier geht es um eine, wie ich finde,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sehr gute Anregung aus der Industrie. Sie müssen sich
der CDU/CSU)
vorstellen: Die Behälter, in denen sich die Pflanzen-
schutzmittel befinden – das sind hochgiftige, konzent-
rierte Substanzen –, werden nicht immer und überall dort Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
zurückgegeben, wo sie anständig entsorgt werden; sie Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
können auch einmal im Gelben Sack landen. Was heißt Kollegen! Die Rede von Gustav Herzog war nach dem
das für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Sor- Motto: Nicht kritisiert ist genug gelobt. Herzlichen Dank
tierwerken, in denen die Kunststoffe sortiert werden? dafür.
Was heißt es, wenn Reste von Pflanzenschutzmitteln an (Gustav Herzog [SPD]: Ich war freundlich
dem Kunststoff haften bleiben und aus dem recycelten heute!)
Kunststoff zum Beispiel Kinderspielzeug hergestellt
wird? Ich sage: Bei solchen wirklich gefährlichen Sub- Wir sind da in einigen Punkten auch gar nicht sehr weit
stanzen ist es sinnvoll, sie sicher zu entsorgen. Sie sind auseinander.
unserer Anregung nicht gefolgt. Schade! (Ulrich Kelber [SPD]: Schon!)
Vierter Punkt. In der Frage der Pflanzenstärkungsmit- Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln wird zwar im-
tel sind Sie uns aber gefolgt. Herr Kollege Bleser, jetzt mer wieder kritisiert. Trotzdem wissen wir alle: Die Ver-
muss ich Sie als Staatssekretär doch einmal loben. braucherinnen und Verbraucher wollen Produkte, die frei
– Jetzt, wo ich ihn lobe, hört er nicht zu. – von Blattläusen sind, und Erdbeeren, die keinen Schim-
(B) mel haben, weil sie keine Pilzvergiftung erleiden wollen. (D)
(Ulrich Kelber [SPD]: Der gehört doch eigent- Vor diesem Hintergrund ist uns klar, dass wir in der mo-
lich auf die Regierungsbank!) dernen Landwirtschaft, im Getreideanbau und im Ge-
müse- und Obstanbau genauso wie im Ökolandbau
Herr Bleser hat eine erneute juristische Prüfung im Haus
Pflanzenschutzmittel brauchen; das ist unverzichtbar.
veranlasst. Das Ministerium ist zur Einschätzung ge-
Dies möchte ich festhalten. Gleichzeitig sind wir alle in
kommen, dass es doch möglich ist, die Pflanzenstär-
diesem Hause uns einig, dass wir natürlich eine Mini-
kungsmittel weiterhin mit einer geeigneten Kennzeich-
mierung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln wol-
nung in den Vertrieb zu bringen. Dafür möchte ich mich
len, weil wir die Natur schonen und schützen wollen. Ich
bedanken. Ich glaube, das hilft einer Branche.
glaube, auch jeder Landwirt ist sich bewusst, dass es
(Beifall des Abg. Franz-Josef Holzenkamp wichtig ist, nur einen sehr maßvollen Einsatz von Pflan-
[CDU/CSU]) zenschutzmitteln zu betreiben, weil dieser nämlich ex-
trem teuer ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Nationalen
Mit dem heute eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
Aktionsprogramm zur nachhaltigen Anwendung von
zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes setzen wir
Pflanzenschutzmitteln unterscheiden wir uns wieder.
zwei Verordnungen und zwei Richtlinien der EU in na-
Früher hieß es einmal „Pflanzenschutzmittelreduktions-
tionales Recht um. Diese Verordnungen und Richtlinien
programm“. Ich glaube, dieser Titel war angemessener.
stammen aus dem Jahre 2009; das Ziel ist die Harmoni-
Da ist noch einiges zu tun. Wir werden Ihnen kritisch auf
sierung der Zulassungen in der EU.
die Finger schauen.
(Gustav Herzog [SPD]: Lang ist’s her!)
Das Gesetz ist notwendig. Die Bundesregierung hat
die Vorgaben der Europäischen Union eingehalten. Sie – Lieber Kollege Herzog, es gibt andere Richtlinien und
haben nichts kaputtgemacht. Wir können dem Gesetz Verordnungen, für deren Umsetzung Rot-Grün einen
zwar nicht zustimmen, aber wir werden uns der Stimme deutlich längeren Zeitraum gebraucht hat; ich glaube,
enthalten. Das gilt im Übrigen auch für den Entschlie- das können wir gemeinsam festhalten.
ßungsantrag der Grünen: Es gibt viel Übereinstimmung, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
aber auch ein paar Punkte, bei denen wir Ihnen nicht fol- Gustav Herzog [SPD]: Wir reden aber über
gen können. dieses Gesetz!)
(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da Ein Ziel ist, dabei Wettbewerbsverzerrungen zu ver-
interessieren uns aber die Details!) meiden. Denn uns allen ist klar: Es ist nicht sehr glaub-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16539
Dr. Christel Happach-Kasan
(A) würdig, wenn ein Landwirt in Niedersachsen ein Pflan- Alten Land los ist, um festzustellen, dass dort für die un- (C)
zenschutzmittel nicht anwenden darf, wenn nebenan, terschiedlichen Pflanzenschutzmittel unterschiedliche
hinter der Grenze zu den Niederlanden, der Einsatz Gewässerabstände definiert sind. Da heißt es, angepasst
durchaus erlaubt ist. und angemessen mit Blick auf die standortliche Situation
zu handeln. Genau das wollen wir tun.
(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Oder umgekehrt!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
– Oder umgekehrt; das ist ein Punkt, den ich sehr gerne Wir haben bei den Pflanzenstärkungsmitteln eine ge-
aufnehme. änderte Situation aufgrund des EU-Rechts. Deswegen
(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE können wir damit nicht mehr ganz so einfach wie vorher
GRÜNEN]: Wir haben auch Mittel, die in Hol- umgehen. Trotzdem haben wir eine Sonderregelung für
land nicht zugelassen sind!) Pflanzenstärkungsmittel aufgenommen, nämlich eine ein-
jährige Übergangsfrist.
Wir sind uns auch darüber einig, dass neue Pflanzen-
schutzmittel in aller Regel besser sind als alte, dass es in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der Regel einen Entwicklungsfortschritt gibt. Insofern ist Auch beim Import von Jungpflanzen werden wir an-
es gut, wenn wir die Forschung und die Entwicklung ders handeln; denn wir können die Vorschläge des Bun-
neuer Pflanzenschutzmittel unterstützen. Deswegen ha- desrates so nicht gesetzlich umsetzen. Vielmehr werden
ben wir uns entschieden, in § 20 des Gesetzentwurfs öf- wir in anderer Weise den Anliegen gerecht werden.
fentliche Labore und öffentlich zertifizierte Labore
gleichzusetzen, wenn sie eine Anzeige über den Versuch Ich bedaure sehr, dass es uns nicht gelungen ist, für
an das BVL geben und mitteilen, welchen Versuch sie Landwirte eine Eins-zu-eins-Umsetzung des EU-Rechts
unternehmen wollen. hinzubekommen.
Wir haben ein relativ kompliziertes Gesetz geschaf- Wir haben weiterhin eine verkürzte TÜV-Frist im
fen; das muss man deutlich sagen. Die Zulassung neuer Vergleich zu anderen Ländern. Wir haben gleichzeitig
Pflanzenschutzmittel erfolgt durch das Bundesamt für den Sachkundenachweis, der statt alle fünf Jahre alle
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Es hat drei Jahre erbracht werden muss. Wir werden darauf
im Benehmen mit dem RKI und dem BfR und im Ein- dringen müssen, dass die Behörden dies pragmatisch
vernehmen mit dem Umweltbundesamt zu handeln; Kol- umsetzen. Ich bedaure, dass dies nicht gelungen ist. Das
lege Herzog hat sich dazu schon geäußert. ist auf Anträge des Bundesrates hin so erfolgt.
(Gustav Herzog [SPD]: Zutreffend geäußert!) Ich bin der Überzeugung, dass wir in Deutschland ei-
(B) nen sehr verantwortlichen Umgang mit Pflanzenschutz- (D)
– Zutreffend geäußert, sehr richtig. – Im Verfahren gab mitteln haben. Man kann dies gut daran sehen, dass das
es 50 Anträge der Bundesländer. Die Hälfte haben wir Lebensmittelmonitoring in jedem Jahr einen deutlichen
übernommen. Rückgang von beanstandetem Obst und Gemüse aus
Kollege Herzog, hinsichtlich der Behälter sollte man deutschem Anbau zeigt. Inzwischen werden weniger als
Folgendes zur Kenntnis nehmen: Neben den gesetzli- 2 Prozent beanstandet. In der letzten Untersuchung lag
chen Regelungen gibt es auch eine handelnde Zivilge- der Wert bei 1,4 Prozent. Das zeigt, wie verantwortlich
sellschaft. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass einige damit umgegangen wird. Wir sehen es auch daran, dass
Pflanzenschutzunternehmen diese Behälter eingesam- sich beispielsweise die Lebensmittelwarnungen der EU
melt haben. Das scheint mir eine besonders sinnvolle nicht auf die Kontamination mit Pflanzenschutzmitteln
Regelung zu sein, damit sie nicht wieder in die Entsor- beziehen, sondern beispielsweise auf Kontaminationen
gung kommen. mit Pilzgiften oder mit Bakterien.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Gustav Herzog [SPD]: Na ja!)
Gustav Herzog [SPD]: Frau Kollegin, aber Wir erinnern uns an die Ehec-Krise, die uns deutlich vor
diese Unternehmen haben uns gebeten, das Augen geführt hat, welche Gefährdungen von gefährli-
Regelwerk zu verschärfen!) chen Bakterien ausgehen. Wir können auch feststellen,
– Das mag so sein. Trotzdem freue ich mich, wenn Un- dass die Zahl der Schadensmeldungen der Imker in den
ternehmen eigenverantwortlich handeln. letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist. Ich halte das
für gut. Wir müssen daran arbeiten, dass es gar keine
(Ulrich Kelber [SPD]: Und die dann teurer Schadensmeldungen mehr gibt.
sind als die, die unverantwortlich handeln! Das
ist Marktwirtschaft! Die schwarzen Schafe Insgesamt gesehen können wir feststellen, dass der
sind billiger!) Umgang mit Pflanzenschutzmitteln verantwortlich ist.
Wir wollen ihn weiter verbessern. Wir wollen über den
Weitere Änderungen haben wir beim Parallelhandel Nationalen Aktionsplan zu einer deutlichen Minimie-
vorgenommen, weil wir uns beim Thema „kriminelles rung kommen. Ich bin mir sicher, dass wir mit diesem
Handeln“ einig sind. Wir haben hier eine Strafbeweh- Gesetz auf einem guten Weg dahin sind.
rung geschaffen.
Danke schön.
Lassen Sie uns auch das Thema Gewässerabstand be-
handeln. Man braucht sich nur anzuschauen, was beim (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
16540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Deshalb dürfen nur Mittel mit geringem Risiko ohne (C)
Alexander Süßmair ist der nächste Redner für die Sachkundenachweis zugelassen werden. Das hätten Sie
Fraktion Die Linke. im Gesetzentwurf regeln müssen, haben Sie aber nicht.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der LINKEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir sind der Meinung: Pflanzenschutzmittel mit hohem
Alexander Süßmair (DIE LINKE):
Risiko gehören nicht in den Garten.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kei-
ner von uns will Rückstände von chemischen Pflanzen- (Beifall der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE
schutzmitteln im Salat mitessen, und keiner von uns will LINKE] und Harald Ebner [BÜNDNIS 90/
in einen Apfel beißen, aus dem er von einem Wurm an- DIE GRÜNEN])
gelächelt wird. Genau in diesem Dilemma befinden wir Wird der vorliegende Gesetzentwurf zum Pflanzen-
uns beim Thema Pflanzenschutzmittel. schutz den heutigen Anforderungen an eine nachhaltige
und umweltgerechte Agrarwirtschaft gerecht? Wir mei-
Pflanzenschutzmittel bewahren die Erträge aus Gar- nen, nein. Mit Ihrem Gesetzentwurf zum Pflanzen-
ten und Ackerbau vor Schaden. Der Einsatz von Dünge- schutzrecht wird die Chance verspielt, klare Vorgaben zu
und Pflanzenschutzmitteln trägt zur betriebswirtschaft- machen und einen Schritt zum Erhalt der biologischen
lichen Effizienz und zu höheren Erträgen der landwirt- Vielfalt zu tun. Heute wird wieder einmal deutlich, wer
schaftlichen Produktion bei. Aber betriebswirtschaftli- Ihnen die Feder für den vorliegenden Gesetzentwurf ge-
che Effizienz bedeutet auch die Spezialisierung auf nur führt hat, nämlich eine Lobby aus Landwirtschafts- und
wenige Anbaukulturen und damit die Ausbreitung von Agrarindustrie. Dafür spricht auch, dass Naturschutz-,
Monokulturen. Das hat zur Folge, dass viele Pflanzen Wasserwirtschafts- und Umweltverbände den Gesetzent-
anfälliger für Schädlinge werden. Deshalb werden mehr wurf für ein Feigenblatt zugunsten der Agroindustrie
Pestizide gespritzt, und die Umwelt wird stärker belastet. halten. Damit haben Sie von der Koalition wieder einmal
Genau das ist der Konflikt zwischen Ökonomie und die Gelegenheit verpasst, eine nachhaltige Lösung im
Ökologie, der durch den Wunsch nach ständigem Sinne des Schutzes von Umwelt, Natur und Mensch zu
Wachstum verstärkt wird. finden.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Harald
Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass es einen eindeuti-
Die Linke wird deshalb den Gesetzentwurf ablehnen.
(B) gen Zusammenhang zwischen dem Verlust an Tier- und (D)
Pflanzenarten in der Natur und der Intensivierung der Danke.
landwirtschaftlichen Erzeugung gibt.
(Beifall bei der LINKEN – Franz-Josef
Die Anhörung im Ausschuss für Ernährung, Landwirt- Holzenkamp [CDU/CSU]: Das überrascht
schaft und Verbraucherschutz hat alle Fehler des vorlie- mich!)
genden Gesetzentwurfs auf den Tisch gebracht. Mit die-
sem Gesetzentwurf wird es keine Verbesserung beim Präsident Dr. Norbert Lammert:
Gewässerschutz geben, das steht jetzt schon fest. Hätten Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Bünd-
Sie den Willen der EU umgesetzt, wären konkrete gesetz- nis 90/Die Grünen.
liche Vorgaben im Gesetz die Folge gewesen. Aber das
Gegenteil ist der Fall. In Ihrem Gesetzentwurf ist zum Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Beispiel kein Mindestabstand zu Gewässern bei der An- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
wendung von Pflanzenschutzmitteln enthalten. Wasser- Kollegen! Die Kolleginnen und Kollegen von der Koali-
und Naturschutzgebiete hätten berücksichtigt werden tion haben hier und auch gestern im Ausschuss viel von
müssen. Sie werden aber nicht berücksichtigt. Das ist für Harmonisierung, beschleunigter Zulassung und Parallel-
uns nicht akzeptabel. handel gesprochen. Das hört sich für mich fast so an, als
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ob der vorliegende Gesetzentwurf vor allem die Pro-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bleme der Industrie lösen soll. So kann man natürlich an
ein Gesetz herangehen – das erwarte ich schon fast von
Pestizide schädigen nicht nur Pflanzen und Tiere, der Koalition –, man kann aber auch die Probleme der
sondern auch uns Menschen. Menschen verbringen be- Menschen und der Umwelt lösen wollen. Da muss der
sonders viel Zeit in Gärten und sind eng mit der Natur Blick über den Ackerrand hinausgehen.
verbunden. Deshalb kann nicht jedes Mittel, das für den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Acker zugelassen ist, für den Schrebergarten genehmigt
werden. Besonders in diesem Bereich möchten wir Ar- Wir finden heute im Blut von Eisbären in der Arktis
tenvielfalt bewahren. Die Menschen sollen sich sicher Rückstände von Pflanzenschutzmitteln und deren Meta-
erholen und Kinder gefahrlos spielen können. bolite. Die WHO hat 1990 aufgehört, die Fälle der jährli-
chen akuten Pestizidvergiftungen von Menschen zu zäh-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten len. Damals war man bei 3,5 bis 5 Millionen Fällen pro
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jahr angelangt. Das heißt, die Stoffe gelangen in die hin-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16541
Harald Ebner
(A) tersten Winkel der Welt und entfalten auch dort ihre Wir- gramm Pflanzenschutz wurde ein unverbindlicher Ak- (C)
kung, wo wir es längst nicht mehr brauchen. Das ist die tionsplan. Der vorliegende Gesetzentwurf verfestigt die-
Problemlage. sen Rollback zum Dauerzustand. Damit verabschiedet
sich die Bundesregierung leider von dem Ziel der EU,
Weil es eben nicht um harmlose Substanzen geht
die Abhängigkeit vom Pestizideinsatz zu verringern.
– wir reden hier über Pestizideinsatz –, muss ein moder-
Frankreich geht einen anderen Weg. Dort sagt man: Wir
nes Pflanzenschutzgesetz zum Ziel haben, den Einsatz
wollen den Pestizideinsatz um 50 Prozent verringern. –
von Pflanzenschutzmitteln zu reduzieren und diejenigen,
Das könnte man sich zum Vorbild nehmen.
die dennoch angewandt werden, vor ihrer Zulassung zu-
verlässig und umfassend auf ihre Risiken für Mensch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und Umwelt zu prüfen. und bei der LINKEN – Gustav Herzog [SPD]:
Und Frankreich hat eine Pestizidsteuer!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie legen zum wiederholten Male einen Gesetzent-
Dass dies gegenwärtig nicht in ausreichendem Maß der wurf vor, der zwar vorgibt, dass im Sinne von Verbrau-
Fall ist, zeigen die zahlreichen Fälle der erst viel zu spät chern und Umwelt gehandelt wird, in Wahrheit folgt
erkannten Gefährlichkeit von Pestiziden: in der Vergan- man aber den Interessen einer Lobbygruppe. Die Frage
genheit bei Atrazin oder aktuell bei Glyphosat und Tal- ist doch, welche Landwirtschaft wir wollen: Eine billi-
lowaminen. Weil in Ihrem Gesetzentwurf das Ziel der ef- gere oder eine bessere?
fektiven Reduktion gar nicht zu finden ist und auch das
Ziel einer wirklichen Risikovorsorge nicht zufriedenstel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lend angegangen wird, kann die Novelle nicht mit ein und bei der LINKEN – Gustav Herzog [SPD]:
paar Änderungen geheilt werden. Ich bin für die bessere! – Norbert Schindler
[CDU/CSU]: Wir sind für die gute fachliche
Welche Kernpunkte muss ein modernes Pflanzen- Praxis!)
schutzgesetz abdecken? Diese Punkte haben wir in unse-
rem Entschließungsantrag aufgeführt: Das beginnt bei Wir wollen eine nachhaltige, zukunftsorientierte
einer gründlichen Zulassungsprüfung, die im Interesse Landwirtschaft, die Umwelt und biologische Vielfalt,
von Verbrauchern, Landwirtschaft und Umwelt auf den also unsere Lebensgrundlagen, auf Dauer schützt und er-
Ergebnissen einer unabhängigen Risikoforschung basie- hält, statt sie zu vergiften. Dafür müssen wir immer we-
ren muss. Das Gegenteil ist heute der Fall. Es darf nicht niger Pestizide einsetzen, und das immer sicherer. Diese
weiter so sein, dass sämtliche Daten für die Zulassung Zielsetzung fehlt in Ihrem Gesetzentwurf leider voll-
von Pestiziden von den Herstellern dieser Mittel selber kommen.
stammen.
(B) Danke schön. (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Gerade hier gilt: „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ und
nicht umgekehrt. In Ihrem Gesetzentwurf fehlt sogar Präsident Dr. Norbert Lammert:
eine verbindliche Definition der guten fachlichen Praxis; Lieber Kollege Ebner, das war Ihre erste Rede im
das hat Herr Herzog schon dargestellt. Es fehlen Anga- Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratu-
ben über die Abstände zu Gewässern. Wir wollen einen liere, verbunden mit allen guten Wünschen für die wei-
Mindestabstand von 5 Metern und spezifische Risiko- tere Arbeit.
minderungsmaßnahmen. Die Haus- und Kleingärten
wurden vom Kollegen Süßmair schon angesprochen; (Beifall)
hier sind wir ganz auf einer Linie. Nun hat der Kollege Max Lehmer das Wort für die
Die Ökobauern wollen ihre Pflanzen stärken, statt CDU/CSU-Fraktion.
Schädlinge und Nützlinge zu vergiften. Deshalb brau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen wir längere Übergangsfristen bei der Zulassung
von Pflanzenstärkungsmitteln. Ja, Herr Kollege Gerig,
Dr. Max Lehmer (CDU/CSU):
da haben Sie völlig recht, aber Sie haben sich im Gesetz-
Danke. – Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr
entwurf nicht zu einer richtigen Lösung durchringen
können. Aber was will man von dieser Bundesregierung verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Ich begrüße
schon erwarten, wenn Staatssekretär Bleser schon beim wie Sie alle und wie meine Vorredner die Ziele des vor-
liegenden Gesetzentwurfs, welcher der Umsetzung des
Wort „Ökolandbau“ eine „Stimmhemmung“ hat, wie
gestern nach eigenem Bekunden im Ausschuss gesche- EU-Pflanzenschutzpaktes dient. Ich unterstütze, auch als
hen. Praktiker, ausdrücklich die weitere Harmonisierung der
Pflanzenschutzmittelzulassungen und der Gewährleis-
(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE tung eines hohen Schutzniveaus in der gesamten Euro-
GRÜNEN]: Wie peinlich! – Dr. Kirsten päischen Union.
Tackmann [DIE LINKE]: So ist er!)
Bei der Umsetzung des Gesetzes in die Praxis muss
Ich komme langsam zum Schluss. Wir waren schon aber noch auf einige unbürokratische Lösungen für un-
einmal wesentlich weiter auf dem Weg zu einer umwelt- sere Landwirte geachtet werden. Herr Herzog, da haben
verträglichen und nachhaltigen Landwirtschaft. Nach wir sicher noch einige Hausaufgaben zu machen. So be-
2005 kam leider ein Rollback. Aus dem Reduktionspro- steht zum Beispiel bei der Frage der TÜV-Fristen, also
16542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Max Lehmer


(A) bei der technischen Prüfung von Spritzgeräten, noch wird, dass Pflanzenschutzmittel erst dann ausgebracht (C)
Handlungsbedarf. werden, wenn Gefahr im Verzug ist und ein entsprechen-
der Schaden prognostiziert werden kann. Diese an-
(Gustav Herzog [SPD]: Aber Sie wollen jetzt spruchsvollen Anwendungsgrundlagen dienen sowohl
nicht die Pflanzenschutzsteuer wie in Frank- dem Landwirt für einen kostengünstigen Pflanzenschutz-
reich einführen? – Gegenruf des Abg. Norbert einsatz – ein Landwirt wird nicht beliebig viel, sondern
Schindler [CDU/CSU]: Das kostet Geld!) möglichst wenig einsetzen; denn die Mittel sind sehr
– Nein. Darüber reden wir separat noch einmal. Darüber teuer; das muss klar sein –
können wir gerne diskutieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Allgemein ist zu sagen, dass die Regelungen in neten der FDP)
Deutschland ein hohes Niveau haben und die EU-Vorga- als auch der Umwelt, indem nur die unbedingt notwen-
ben übertreffen, was der Sicherheit der Verbraucher, aber dige Menge an Präparaten eingesetzt wird. Ein derart
auch der Umwelt und der Wettbewerbsfähigkeit unserer fachkundiger Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, wie er
Landwirtschaft dient. Gleiches gilt für die hohe Sach- in der Praxis gängig ist, hat auch dazu geführt, dass nur
kunde unserer Anwender. noch in Ausnahmefällen Rückstände in Ernteprodukten
Ich kann es mir nicht verkneifen, eines an die Adresse aus deutscher Produktion gefunden werden, die aber in
einiger meiner Vorredner zu richten: Sie müssen sich aller Regel keine toxikologische Relevanz erreichen.
dringend einmal mit den zehnjährigen Zulassungsprü- Pflanzenschutz – das bedauere ich sehr – wird in der
fungen für ein Präparat befassen. öffentlichen Wahrnehmung allgemein mit großer Skepsis
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) begegnet. Gespräche mit Bürgern bestätigen eine sehr kri-
tische Einstellung gegenüber dem chemischen Pflanzen-
Sie müssen einmal sehen – ich wende mich insbesondere schutz – das muss man konstatieren –, welche meiner
an meinen Vorredner –, welche Prüfungen in ökotoxiko- Auffassung nach – ich bin in der Diskussion immer an der
logischer, toxikologischer, human- und umwelttoxikolo- Front – einem verbreiteten Informationsdefizit geschul-
gischer Hinsicht und zur Wassergängigkeit durchgeführt det ist. Dies liegt meines Erachtens unter anderem auch
werden müssen. So ein Prozess dauert zehn Jahre und daran, dass viele Kritiker des Pflanzenschutzes – auch
kostet 250 Millionen Euro. Ich sage Ihnen das nur. das haben wir heute wieder gehört – Begriffe wie „Pesti-
zide“ und bösartige Worte, die negative Assoziationen
Alles, was Sie erst bei der Anwendung verlangen,
hervorrufen sollen, verwenden.
wird schon vorher in weiten Bereichen – Herr Herzog
weiß das – geprüft. Dass trotzdem – das gilt im Straßen- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
(B) verkehr genauso wie bei allen Anwendungen von Präpa- (D)
GRÜNEN]: Sind es Pestizide oder nicht? Wo-
raten und Produkten – bei Anwendungen Unregelmäßig- rüber reden wir denn?)
keiten auftreten und Fehler passieren, die nachhaltig zu
vermeiden sind, ist unstrittig. Aber Sie können uns nicht Sie nehmen woanders auch nicht englische Begriffe. Wir
vorwerfen, man sei zugunsten der Agrarlobby und der sollten über Pflanzenschutzmittel sprechen.
Industrie bei der Zulassung von Präparaten großzügig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Das ist doch Unsinn pur. neten der FDP – Friedrich Ostendorff [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist Pestizid eng-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lisch?)
neten der FDP – Friedrich Ostendorff [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das aber!) Der Begriff „Pflanzenschutzmittel“ kommt der Sache
viel näher als „Pestizid“.
Erlauben Sie mir, bei dieser Gelegenheit auf einige
grundsätzliche Aussagen zu Pflanzenschutzmitteln ein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
zugehen. In der Tat, Herr Herzog, geht Pflanzenschutz Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
uns alle an; das ist aber leider nicht allen bewusst. Da- GRÜNEN]: Falsch!)
rum möchte ich auf ein paar Punkte zu sprechen kom-
Pflanzenschutzmittel haben die Aufgabe, Pflanzen vor
men, die vor allen Dingen den Verbraucher angehen.
Schädlingen, Krankheiten und Konkurrenzpflanzen zu
Pflanzenschutz ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil
schützen; sonst wären weder Ertrag noch Menge noch
moderner Produktionstechnik; daran gibt es für mich in
Qualität erreichbar. Sie werden zum Schutz gegen
der Landwirtschaft keine Zweifel. Eines darf man uns
Krankheiten und Schädlinge eingesetzt.
nicht vorwerfen: Wir sind längst über das Prinzip „Viel
hilft viel“ hinaus. Ich bin jetzt seit 50 Jahren gelernter (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Pesti-
Landwirt. Am Anfang konnte man die Mittel vielleicht zide sind mehr als Pflanzenschutz!)
nicht so genau dosieren; dies lag auch an der Technik.
Schon seit vielen Jahren werden anspruchsvolle Pro- – Ach, Frau Kollegin, Sie sind doch auch Agrarexpertin!
gnose- und Diagnosemodelle als Entscheidungsgrund- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU –
lage für Pflanzenschutzmaßnahmen in der Praxis viel- Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Eben!)
fach genutzt.
Letztlich geht es beim Pflanzenschutz darum, Ernte-
Für nahezu alle Anwendungssegmente werden soge- erträge zu sichern und die zum Teil erheblichen Ertrags-
nannte Schadschwellen definiert, wodurch sichergestellt verluste durch Pilzerkrankungen und Schädlinge zu ver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16543
Dr. Max Lehmer
(A) meiden. Es geht nicht immer darum, Erträge zu steigern, Wir kommen zur (C)
sondern darum, Schäden und Verluste zu minimieren.
dritten Beratung

Präsident Dr. Norbert Lammert: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Herr Kollege.
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der
Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): Koalition angenommen.
Pflanzenschutzmittel leisten daher einen wichtigen
Beitrag zur Ernährungssicherung und durch die Erzeu- Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
gung gesunder und befallsfreier Ernteprodukte auch zur der Drucksache 17/7671 (neu) empfiehlt der Ausschuss,
gesunden Ernährung. eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt dieser Be-
schlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer
Wichtig ist ein Fall, den ich Ihnen schildern möchte. enthält sich der Stimme? – Damit ist die Beschlussemp-
fehlung mit erkennbarer Mehrheit angenommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
Nein, Herr Kollege, das wird jetzt nicht mehr gehen, ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
weil wir schon deutlich über die vorgesehene Zeit sind. Drucksache 17/7680. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU sich? – Damit ist dieser Entschließungsantrag mehrheit-
und der FDP) lich abgelehnt.

Dr. Max Lehmer (CDU/CSU):


Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Ich bin gleich fertig. Ein Beispiel sei mir noch er- Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
laubt, Herr Präsident. – Es geht auch um die Bekämp- Pothmer, Fritz Kuhn, Dr. Wolfgang Strengmann-
fung humantoxischer Stoffe, wie sie zum Beispiel durch Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Fusarien, also Schimmelpilze, im Getreide gebildet wer- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
den. Schließlich haben wir durch eine Mykotoxin-
Jetzt Voraussetzungen für die Einführung
Höchstmengenverordnung dazu beigetragen, die Men-
eines Mindestlohns schaffen
schen vor Schaden durch dieses natürliche Gift zu schüt-
zen. Dies zeigt, dass auch natürliche Gifte erhebliche – Drucksache 17/7483 –
(B) Probleme mit sich bringen. Ein geordneter Pflanzen- Überweisungsvorschlag: (D)
schutz, der Ökologie, Ökonomie und den Menschen Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
schützt, ist unabdingbar. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Vielen Dank.
(Unruhe)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – – Dafür werden die Pflanzenschutzexperten offenkundig
Ulrich Kelber [SPD]: Das war das nachträgli- nicht alle benötigt. Vielleicht können wir den Personal-
che Geburtstagsgeschenk! – Iris Gleicke wechsel zügig durchführen.
[SPD]: Zwei Minuten zum Geburtstag!)
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Aber es
Präsident Dr. Norbert Lammert:
schadet auch nicht, Herr Präsident!)
Ja. Das war in der Tat der Zuschlag, den ich auch an- – Nein, es schadet überhaupt nicht. Im Gegenteil: Ge-
deren Kollegen einmal im Leben aus Anlass des 65. Ge- rade der Blick aus einer anderen Perspektive tut dem
burtstages hiermit förmlich in Aussicht stelle. Finden sachgerechter Lösungen meistens gut.
(Heiterkeit und Beifall) (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da sind
wir einer Meinung, Herr Präsident!)
Ich schließe die Aussprache.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu gibt
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neu- es offenkundig keine Meinungsverschiedenheit. Dann
ordnung des Pflanzenschutzrechtes. Der Ausschuss für Er- können wir so verfahren.
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Drucksache 17/7671 (neu), den Gesetzentwurf der Bun- Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/
desregierung auf den Drucksachen 17/7317 und 17/7369 Die Grünen.
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzent- uns entschieden, diesen Antrag hier und heute ins Ple-
wurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition num einzubringen, weil wir davon überzeugt sind, dass
gegen die Stimmen der Opposition angenommen. es nicht nur in der Gesellschaft eine riesengroße Mehr-
16544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Brigitte Pothmer
(A) heit für einen Mindestlohn gibt, sondern dass es diese Alle Umfragen zeigen, dass Sie von der Union unter (C)
Mehrheit in Wahrheit auch in diesem Parlament gibt. Es einem erheblichen Beweisdruck stehen. Die Bevölke-
gibt eine Mehrheit dafür, Lohndumping zu stoppen und rung nimmt Ihnen Ihren Kursschwenk in Sachen Min-
faire Wettbewerbsbedingungen durchzusetzen. destlohn nämlich nicht ab. Sie müssen jetzt zeigen und
können jetzt unter Beweis stellen, dass es Ihnen nicht
Wir haben ganz bewusst darauf verzichtet, in diesen einfach nur darum geht, politische Geländegewinne zu
Antrag Maximalforderungen zu schreiben. Wir betonen erzielen – mit der Zustimmung zu unserem Antrag kön-
nicht das Trennende. Wir betonen die Gemeinsamkeiten, nen Sie diese Zweifel ausräumen –, sondern dass Sie
die sich herauskristallisiert haben. Wir haben deswegen auch die Menschen, die für Hungerlöhne arbeiten, im
auch darauf verzichtet, in unserem Antrag bereits die Blick haben.
Höhe des Mindestlohnes festzulegen. Wir wollen, dass die
Höhe des Mindestlohns von einer Mindestlohnkommis- Ich danke Ihnen.
sion festgesetzt wird und dass diese Mindestlohnkommis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sion bei der Festsetzung der Höhe des Mindestlohns auch sowie bei Abgeordneten der SPD)
die sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen be-
rücksichtigt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Meine Damen und Herren von der Unionsfraktion, Peter Tauber von der CDU/CSU-Fraktion ist der
wenn ich Ihre Anträge für den Bundesparteitag, Ihre nächste Redner.
Stellungnahmen der letzten Tage und Wochen und das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
berücksichtige, was hier heute gesagt worden ist, dann
komme ich zu dem Schluss, dass wir selbst Sie mit unse-
rem Antrag nicht überfordern. Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
(Lachen des Abg. Dr. Peter Tauber [CDU/ Herren! Es ist nach der Aktuellen Stunde das zweite Mal
CSU]) am heutigen Tage, dass wir über das Thema Mindestlohn
sprechen.
Wo ist eigentlich Herr Weiß? Herr Weiß hat heute hier
im Rahmen der Aktuellen Stunde nämlich gesagt, die (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das machen
CDU sei die Partei des Mindestlohnes. wir so oft, bis er kommt!)
(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Sie müssen damit leben: Wir halten uns an demokrati-
Iris Gleicke [SPD]: Der Innenminister hat ges- sche Spielregeln. Es ist normalerweise so, dass man erst
tern genau das Gegenteil gesagt!) auf einem Parteitag diskutiert und dann in ein Parlament
(B) (D)
geht, um dort Entscheidungen zu treffen. Vielleicht ist
Herr Weiß, jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen. das bei Ihnen anders, aber wir machen das so, und wir
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das waren wir freuen uns natürlich, dass die innerparteilichen Debatten
doch schon immer, Frau Pothmer! Wir haben in der Union bei Ihnen auf ein so großes Interesse sto-
immer schon für einen Branchenmindestlohn ßen.
gekämpft!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was wollen Sie
denn eigentlich?)
Sie können das unter Beweis stellen und zeigen, dass Sie
nicht nur große Reden halten können, sondern dass Sie Ich muss Sie allerdings ein bisschen aufklären. Viel-
auch in der Lage sind, diesen Reden Taten folgen zu las- leicht beschäftigen Sie sich nicht intensiv genug mit
sen und das in Ihrer Partei und Ihrer Fraktion auch dem, was die Union bei diesem Thema umtreibt. Ein
durchzusetzen. Blick in unser Grundsatzprogramm hilft. Ich möchte Ih-
nen gerne zwei Abschnitte daraus vorlesen, die ich Ihnen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN extra mitgebracht habe.
und bei der SPD – Hubertus Heil [Peine]
[SPD]: Das wollen die nicht!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr schön!)
Ich sage Ihnen: Sie müssen sich jetzt einmal entschei- Der erste Abschnitt lautet:
den, Unser Leitbild für Deutschland ist die Chancenge-
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben uns sellschaft, in der die Bürger frei und sicher leben.
ja schon entschieden!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Blabla!)
ob Sie weiterhin wollen, dass 3,4 Millionen Menschen Sie steht für Respekt vor Leistung und Erfolg. Und
nach getaner Arbeit mit weniger als 7 Euro pro Stunde wir wollen die soziale Verankerung in die gesell-
nach Hause gehen. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie schaftliche Mitte auch für jene, die bisher davon
Lohngerechtigkeit wirklich wollen, und zwar für alle, ausgeschlossen sind.
unabhängig davon, ob sie für Hungerlöhne aufgrund ei-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warme Worte!)
nes Tarifvertrages oder für Hungerlöhne außerhalb von
Tarifverträgen arbeiten. Sie müssen sich entscheiden, ob Jetzt können Sie aufschreien und sagen: Super, genau
Sie weiterhin Lohndumping zulassen oder faire Wettbe- deswegen muss die Union jetzt ja für einen gesetzlichen
werbsbedingungen durchsetzen wollen. Mindestlohn sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16545
Dr. Peter Tauber
(A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das wäre mal Kriterien verletzt. Sie haben ein Körperschaftsteuerge- (C)
konsequent!) setz geschaffen, bei dem die Konzerne Abschreibungs-
möglichkeiten für Investitionen in Brasilien oder in
So einfach ist es nicht. Sie werden es nicht erleben, dass Großkrotzenburg hatten.
die Union in einen Bieterwettstreit um den möglichst
höchsten gesetzlichen Mindestlohn eintritt, nach dem (Sebastian Blumenthal [FDP]: Eine Superbi-
Motto: Immer zweimal mehr als du. lanz ist das!)
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie haben am Ende ein Finanzmarktförderungsgesetz be-
NEN]: Das steht in unserem Antrag auch nicht schlossen, anstatt sich um das zu kümmern, was Sie jetzt
drin!) einfordern.
Das ist keine Lösung für die Probleme. Ich möchte einmal das vorlesen, was Franz
Müntefering damals gesagt hat. Er hat zum Beispiel er-
Dass wir das so sehen, liegt an einem weiteren Satz, klärt, es sei darauf zu achten, dass unnötige Belastungen
den Sie so wahrscheinlich in der Tat nur in unserem Par- für die Unternehmen der Finanzdienstleistungsindustrie
teiprogramm und nicht in Ihrem finden. Er lautet: vermieden werden. Regulierung sei kein Selbstzweck.
Die Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen be- Die Bundesregierung solle weitere Maßnahmen zur
wahrt uns vor der Gefahr, Politik zu ideologisieren, Schaffung eines leistungsfähigeren, international wettbe-
und zeigt uns die Grenzen der Politik auf. werbsfähigen Verbriefungsmarktes prüfen. Und Sie ha-
ben Derivate, Hedgefonds etc. zugelassen.
Genau das tun Sie beim Thema Mindestlohn natürlich
seit langer, langer Zeit. Sie ideologisieren (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Genau! Wir ha-
ben die Finanzkrise erfunden! Klar! Wo leben
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ideologisieren Sie denn?)
tut immer der andere! Tolle Logik!)
Dass Sie bei diesen politischen Entscheidungen keine
und verschieben die Grenzen der Politik in einen Be- Zeit hatten, einen branchenspezifischen oder gar einen
reich, in dem wir uns tunlichst zurückhalten sollten; gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, das mag Ihnen
denn auch das ist eben eine Lehre aus den ersten 60 Jah- nachgesehen werden. Sie hatten in der Tat ein volles Ar-
ren der Bundesrepublik Deutschland: Der Erfolg der so- beitsprogramm. Aber uns hier vorzuwerfen, wir seien
zialen Marktwirtschaft ist maßgeblich auf der Grundlage untätig gewesen, das schlägt dem Fass den Boden aus.
der Tarifautonomie aufgebaut worden. Da hat sich die
Politik aus dem einen oder anderen herauszuhalten. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sind Sie doch
das ganze Jahr!)
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
– Nein, das sind wir eben nicht. – Wir haben elf bran-
Ludwig Erhard hat recht. Er hat einmal den schönen chenspezifische Mindestlöhne eingeführt. Wir reden
Satz gesagt: Die Sozialdemokraten habe ich schon 1948 jetzt darüber, eine Lohnuntergrenze dort einzuführen, wo
als Nachtwächter bezeichnet. Sie sind es bis zum heuti- es keinen tariflichen Lohn gibt.
gen Tage geblieben. – Das gilt unverändert fort, denn
nachdem 1987 – hören Sie gut zu; ich glaube, das hat Ih- (Katja Mast [SPD]: Wie hoch ist denn der
nen der Kollege Weiß heute auch schon erklärt – der Lohn, der anständig ist? – Weiterer Zuruf von
erste branchenspezifische Mindestlohn eingeführt wor- der SPD: Das war schwierig, nicht wahr?)
den ist, sind seitdem zehn weitere Branchen gefolgt. Und – Für Sie reicht es intellektuell immer noch, Frau Kolle-
man höre und staune: Jedes Mal war ein Christdemokrat gin. Ganz ehrlich: Diese Bemerkung kann ich mir nach
Bundeskanzler. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. diesem Zwischenruf nicht verkneifen.
Deswegen brauchen wir da keine Nachhilfe.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU) neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
Jetzt kann man fragen: Was haben Sie eigentlich ge- Bürgerliche Manieren? Unglaublich!)
macht? Auch Sie haben einmal regiert. – Herr Heil, auch da gilt das, was ich Ihrer Kollegin ges-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sogar mit Ihnen tern gesagt habe: Wer schreit, hat unrecht.
zusammen, leider!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nehmen Sie
– Auch mit uns zusammen. – Dabei haben wir mit einer das einmal zurück! Gehen Sie noch einmal zur
christdemokratischen Kanzlerin den einen oder anderen Jungen Union!)
branchenspezifischen Mindestlohn eingeführt. Sie können sich zu einer Zwischenfrage melden. Sie
können weiter toben. Aber trotzdem werde ich mich
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gegen Ihren
nicht auf Ihr Niveau in der Debatte herablassen. Da kön-
Widerstand durchgesetzt! – Gabriele Hiller-
nen Sie ruhig weiterschreien.
Ohm [SPD]: Zum Jagen tragen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie haben in Ihrer Regierungszeit andere Dinge ge-
macht. Sie haben auch ohne Mindestlohn 5 Millionen Es bleibt dabei: Wir haben elf branchenspezifische
Arbeitslose erreicht. Sie haben Griechenland in die Mindestlöhne eingeführt. Wir streiten für eine Lohnun-
Euro-Gruppe aufgenommen. Sie haben die Maastricht- tergrenze, die genau dies leisten soll. Dass sich die Tarif-
16546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Peter Tauber


(A) partner, also starke Gewerkschaften gemeinsam mit Un- (Beifall bei der SPD) (C)
ternehmern, die sozialverantwortlich handeln, darauf
verständigen, das ist soziale Marktwirtschaft. Sie haben die Hoffnung, dass ihnen bei dem Schauspiel,
das gerade anfängt, in der nächsten Woche in Leipzig
(Zuruf von der LINKEN: Märchenstunde!) Hilfe zuteilwird. Wir können ihnen heute schon sagen:
Vorsicht an der Bahnsteigkante! Aller Wahrscheinlich-
Wir brauchen beide Seiten: starke Gewerkschaften und keit kommt nichts dabei heraus.
sozialverantwortlich handelnde Unternehmer.
Herr Tauber, hatten nicht auch Sie kürzlich Post vom
Das hat in der Vergangenheit gut funktioniert. Diese DGB? Ich habe einen Brief vom DGB bekommen mit
gesellschaftlichen Kräfte müssen wir stärken. Wir dürfen der herzlichen Bitte, ganz dringend für einen gesetzli-
nicht glauben, dass wir das in einem Bieterwettbewerb chen Mindestlohn zu sorgen. Das sieht nicht nur der
in der Politik besser machen. Dabei bleibt es. Das wer- DGB so, sondern auch die Einzelgewerkschaften sehen
den Sie am Montag und am Dienstag auf dem Bundes- es so. Sie halten das für unverzichtbar und sagen: Es hilft
parteitag der Union mitverfolgen können. unserer Tarifpolitik, wenn es den gesetzlichen Mindest-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nichts kommt lohn gibt.
dabei heraus!) Wenn Sie meinen, dass Sie an der Seite der Tarifver-
Ich lade Sie dazu herzlich ein. Der Lerneffekt kommt tragsparteien stehen, sollten Sie aufpassen, dass Sie nicht
manchmal bei der Wiederholung. in Kürze ganz allein dastehen. Das sieht nämlich gar
nicht gut aus, und es hilft auch den Menschen nicht.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Machen Sie ein
(Beifall bei der SPD)
Gesetz oder nicht?)
Insofern ist es gut, dass Sie zugehört haben. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herzlichen Dank. Frau Lösekrug-Möller, darf der Kollege Weiß Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Präsident Dr. Norbert Lammert: Immer gern.
Gabriele Lösekrug-Möller ist die nächste Rednerin
für die SPD-Fraktion. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
(B) (Beifall bei der SPD) Frau Kollegin Lösekrug-Möller, es gibt zwei Arten (D)
von Politik: Bei der einen redet man einfach viel,
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, wie bei Ih-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe nen!)
Kolleginnen und Kollegen! Viele im Bundestag kennen und bei der anderen handelt man. Können Sie mir bestä-
das Struck’sche Gesetz. Das heißt: Kein Gesetz verlässt tigen, dass wir in Deutschland auf Vorschlag der Tarif-
das Parlament so, wie es eingebracht wurde. Dieses Ge- partner mittlerweile in zehn Branchen Mindestlohnrege-
setz zeigt, wie kraftvoll ein Parlament ist. lungen haben,
Kennen Sie das Merkel’sche Gesetz? Es lautet: Je ve- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auf unseren
hementer etwas abgelehnt wird, desto sicherer kommt es Druck!)
dann. Das haben wir beim Atomausstieg gesehen. Das
haben wir bei der Abschaffung der Wehrpflicht erlebt. dass diese zehn Mindestlöhne für über 4 Millionen Be-
Auch beim Schuldenschnitt für Griechenland kam dieses schäftigte in Deutschland allesamt unter der Kanzler-
Gesetz zum Tragen. schaft von Helmut Kohl und Angela Merkel in Kraft ge-
setzt worden sind und dass unter der Kanzlerschaft von
(Beifall bei der SPD) Gerhard Schröder kein einziger Mindestlohn in Kraft ge-
Ich frage Sie: Wie lange müssen wir jetzt warten, bis das setzt worden ist und somit in der Kanzlerschaft eines so-
Merkel’sche Gesetz in Sachen Mindestlohn kommt? zialdemokratischen Kanzlers, um mit Ihren Worten zu
sprechen, eine besondere Zuneigung zu Menschen im
Ich sage Ihnen: Jeder Tag, der untätig vergeht, ist ein Niedriglohnbereich offensichtlich nicht geherrscht hat?
verlorener Tag für 1,6 Millionen Menschen, die hart ar-
beiten, vollschichtig erwerbstätig sind und trotzdem am (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ende nicht von ihrer Hände Arbeit leben können. Sie
finden nicht, dass es ein Witz ist, wenn der Kollege Weiß Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
heute sagt: „Mindestlöhne sind das Markenzeichen der Darauf antworte ich Ihnen besonders gerne, Herr Kol-
CDU.“ Herr Kollege Weiß, darüber mögen Sie lachen lege Weiß. Denn wir haben viel gemeinsame Zeit im
können und sich freuen. Die Menschen, die am Ende des Fachausschuss verbracht, und meine Antwort lautet: Es
Monats nicht genug Geld haben, empören sich darüber. gibt nur eine gute Politik, und zwar die, bei der Wort und
Denn sie fühlen sich in ihrer Lebenssituation nicht ver- Tat zusammenfallen. Das vermisse ich bei der CDU/
standen. CSU.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16547
Gabriele Lösekrug-Möller
(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Endfassung muss noch bearbeitet werden. – Wahrschein- (C)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der lich bekommen wir das Ergebnis nach dem Bundespar-
LINKEN) teitag der CDU. Wir würden uns gar nicht wundern,
wenn das Ganze auf einmal zusammenpasst.
Wir haben all diese Lösungen organisiert – hören Sie
mir schön zu! –, weil es mit Ihnen nicht möglich war, ei- In diesem Sinne wünsche ich Ihnen gute Beschlüsse
nen gesetzlichen Mindestlohn durchzubringen. in Leipzig und den Menschen in Deutschland endlich ei-
nen gesetzlichen Mindestlohn.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Zur Wahrheit gehört doch, dass Sie sich über Jahre hin-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
weg hinterher die Zähne geputzt haben, wenn Sie das
GRÜNEN)
Wort „Mindestlohn“ in den Mund nehmen mussten. Wir
sind zum Glück ein Stückchen weiter und sagen: Ja, wir
wollen jede Hilfe geben, die möglich ist. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vogel für
Mehr war nicht drin. Wir sagen: Das reicht uns nicht. die FDP-Fraktion.
Auch die Gewerkschaften sagen: Das war in Ordnung,
aber wir wollen mehr. Das wollen wir mit der Mehrheit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
in Deutschland. der CDU/CSU)
Ich bin fertig mit der Beantwortung der Frage.
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Lösekrug-Möller, Sie reden nur, aber ge- Liebe Kollegin Pothmer, auch ich danke Ihnen, dass wir
handelt haben Sie nie!) dieselbe Debatte am gleichen Tag jetzt das zweite Mal
– Falsch. Sie haben die Chance, das im Protokoll nach- führen dürfen.
zulesen. Dann werden Sie sehen, dass ich Ihnen sehr (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
korrekt geantwortet habe. Dann sagen Sie aber mal was anderes!)
Ich wünsche mir, dass auch bei Ihnen Handeln und Das ist eine ganz gute Gelegenheit, sich einmal anzu-
Reden zusammenfallen. Denn das haben die vielen Men- schauen, wie Sie sich das vorstellen. Vielleicht erkennt
schen, die immer noch auf einen ordentlichen Lohn war- man dann auch, dass die Befürchtungen, die wir haben,
ten, verdient. Es reicht nicht aus, wenn man Tarifab- gerechtfertigt sind.
(B) schlüsse mit Löhnen hat, die unter dem liegen, was zum (D)
Leben reicht. Wir haben heute Morgen lange darüber Ich will erst einmal an die Grundlage dieser Debatte
diskutiert. Auch diesen Menschen wollen wir helfen. Sie erinnern; denn sie geht bei den Diskussionen unter den
würden nämlich nicht mit der Lösung klarkommen, die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitikern immer unter. Wir re-
Sie vorschlagen. den gerne über das deutsche Jobwunder. Darüber freuen
Sie sich hoffentlich genauso wie wir: unter 3 Millionen
(Beifall bei der SPD) Arbeitslose, eine extrem niedrige Jugendarbeitslosigkeit.
Sie müssen bei der Wahrheit bleiben: Am Ende wäre Die Frage ist ja: Kommt das von allein zustande, oder
Ihr Vorschlag ein Flickenteppich. Damit könnte man hat das Gründe?
noch leben, auch wenn Herr Laumann sagt, 500 Lohnun- (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Leiharbeit,
tergrenzen seien ein bisschen viel. Ich stehe sehr an sei- Zeitarbeit, Niedriglohn!)
ner Seite. Aber das Allerschlimmste ist: Der Flickentep-
pich hätte riesengroße Löcher. Das wollen wir in der Tat – Nein. – Das hat natürlich Gründe, und zwar drei: Klar,
nicht hinnehmen. wir haben enorme, innovative, wettbewerbsfähige Un-
ternehmen in Deutschland.
Es ist erwiesen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn gut
für Deutschland insgesamt ist. Deshalb finden wir den Ja, wir haben einen flexiblen Arbeitsmarkt. Bei vielen
Antrag der Grünen, den wir jetzt diskutieren, ausge- anderen Debatten wird deutlich: Sie wollen gerne zu-
zeichnet. Das ist errechnet worden. Frau Kramme hat rückdrehen, was Sie einmal erreicht haben. Darüber
das heute Morgen im Plenum belegt. Es ist interessant, streiten wir gerne: über Befristungen, über andere Mög-
dass das Ministerium seit August auf Evaluierungser- lichkeiten der Flexibilisierung. Wenn Sie etwa die Zeit-
gebnissen zu jenen Mindestlöhnen hockt, die wir immer- arbeitsregelungen kaputtmachen wollen, dann wollen
hin zustande gebracht haben; denn das waren nicht Sie Sie das kaputtmachen, was durch mehr Flexibilität er-
allein, Herr Weiß, und auch nicht die CDU/CSU allein. reicht worden ist.
Das Ergebnis dieser Evaluierung ist: Mindestlohn ist
grundsätzlich richtig. Aber zum Erfolg auf dem deutschen Arbeitsmarkt ge-
hört eben auch die Tarifautonomie. Dazu gehört eben
Interessant ist, dass diese Ergebnisse uns als Parla- auch, dass in Deutschland Arbeitgeber und Arbeitneh-
ment bis heute nicht vorliegen. Es gab ein unglaubliches mer die Löhne vereinbaren. Und das ist gut so. Wenn
Geeiere vom Staatssekretär Brauksiepe, der gerade die- man die Tarifautonomie achtet, dann kann man, glaube
sen Saal betritt. Wir haben eine Ausschusssitzung erlebt, ich, in Anerkennung, dass es in einzelnen Branchen und
in der es wirklich bitter zuging, nach dem Motto: Die in einzelnen Unternehmen natürlich Lohnprobleme gibt,
16548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) die auch wir nicht wollen, nur zu dem Ergebnis kom- warten wir ab, bis sie vorliegen; dann können wir sie in (C)
men: Wir gehen dreistufig vor. Ruhe diskutieren.
Der Regelfall ist: Die Tarifpartner bringen die Lohn- Sie wollen aber eine allgemeine Grenze; das schrei-
festsetzung ganz gut ohne die Politik zustande. Wenn die ben Sie auch ganz offen. Weil darüber nicht der Bundes-
Tarifpartner einer Branche zu dem Ergebnis kommen, tag entscheiden soll, verkünden Sie seit, glaube ich, zwei
sie wollen einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich Jahren die Umwegkonstruktion, das Ganze werde in ei-
erklärt haben, dann ist das möglich. Der Kollege Weiß ner unabhängigen Kommission behandelt.
führt das immer wieder gerne aus – der Kollege Kolb hat
daran schon in den 90er-Jahren mitgewirkt –: Dann wer- (Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE
den Branchentarifverträge in der untersten Lohngruppe GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen-
frage)
für allgemeinverbindlich erklärt.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie viel Min- – Herr Kurth, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wol-
destlohn hat das gebracht? Null!) len: sehr gerne.

Dies haben wir in dieser Legislaturperiode schon in vie- Präsident Dr. Norbert Lammert:
len Branchen gemacht. Nächster Schritt: Selbst wenn es Gut. – Bitte schön, Herr Kurth. Sie dürfen eine Zwi-
dann noch Probleme geben sollte, gibt es die letzte Auf- schenfrage stellen.
fanglinie – das Mindestarbeitsbedingungengesetz. Das
heißt, in Summe gibt es keinen Grund, diese Betrach-
tung, die im Kern heißt: „Die Lohnfindung liegt in der Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Hand der Tarifpartner und nicht hier im Deutschen Bun- Ich habe kurz auf meine Redezeit gesehen. Es ist mir
destag“, zu verlassen. daher sogar sehr lieb, wenn Sie eine Zwischenfrage stel-
len.
(Beifall bei der FDP – Brigitte Pothmer
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit (Heiterkeit)
der Mindestlohnkommission?)
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
– Ich gehe auf Ihren Antrag gleich noch ein, Frau Kolle-
gin Pothmer. Herr Vogel, Sie sagen, Sie könnten den Sinn einer all-
gemeinen Lohnuntergrenze nicht erkennen. Stimmen Sie
Hier wird immer wieder auf die Evaluation der Bran- mir zu, dass die Einschätzung Ihres Parteikollegen
chenmindestlöhne verwiesen. Pascal Kober, der auch hier sitzt, zutrifft, der – so wird er
(B) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die es ja nicht zumindest in der Welt von heute zitiert – sagte: (D)
gibt!) Unternehmen zahlen Niedrigstlöhne und wälzen
Ich will noch einmal festhalten: Diese Evaluation muss ihre Kosten so auf Steuer- und Beitragszahler ab.
von der Bundesregierung nicht vorgelegt werden; viel- Meinen Sie nicht, dass das ein hinreichender Grund ist,
mehr haben die Koalitionsfraktionen die Regierung auf- eine allgemeine Untergrenze einzuführen?
gefordert, sie vorzulegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, wir haben bei der SPD und der LINKEN)
sie doch schon! Inoffiziell!)
Deswegen gibt es auch keine Frist, bis zu der sie er- Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
scheint. Wir werden sie in den nächsten Wochen noch Herr Kurth, sowohl der Kollege Kolb als auch ich ha-
ausführlich diskutieren. ben Ihnen heute Morgen schon gesagt: Was wir nicht
wollen, ist, dass Unternehmer niedrigere Löhne zahlen
Sie zitieren immer wieder aus den vorläufigen Ergeb-
als sie könnten. Niemand von uns wünscht sich niedrige
nissen, die in der Presse schon kursieren. Selbst bei die-
Löhne. Nur, zur Wahrheit, Herr Kurth, gehört – auch das
sen vorläufigen Ergebnissen ist eines klar – das erwarte
haben wir heute Morgen nicht zum ersten Mal hinläng-
ich auch –: Es ist überraschenderweise nicht alles
lich diskutiert –: Zu niedrige Löhne, also Löhne, von de-
schlecht, was wir gemacht haben. Noch etwas ist klar:
nen die Menschen nicht leben können, müssen ja Löhne
Die Ergebnisse werden differenziert sein. Dann müssen
sein, zu denen die Menschen ergänzende Hartz-IV-Leis-
aber auch die Lösungen differenziert sein. Warum Sie
tungen bekommen. Das betrifft in Deutschland 300 000
aus einer Evaluation von Branchenmindestlöhnen – die
Menschen, die Vollzeit arbeiten. Die weit überwiegende
Tarifpartner haben die Lohnhöhe festgelegt – ableiten,
Zahl dieser Menschen stockt doch nicht wegen der Lohn-
wir könnten jetzt eine allgemeine Lohnuntergrenze für
höhe auf, sondern weil sie eine große Familie haben. Wir
ganz Deutschland, für alle Branchen, für alle Altersgrup-
können das gerne hundertmal diskutieren. Wir glauben,
pen festlegen, das werden Sie mir noch erklären müssen.
dass es eine sozialpolitische Errungenschaft ist, dass Fa-
(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Das ist milien unterstützt werden. Sie machen daraus ein Pro-
ganz einfach! Das kann ich Ihnen ganz einfach blem der Lohnhöhe. Das ist es aber nicht.
erklären! Sie müssen nur zuhören!)
Es gibt nur wenige schwarze Schafe unter den Unter-
Den Grund kann ich nicht erkennen. Ich glaube, das wird nehmern, die zu niedrige Löhne zahlen. Dafür müssen
auch aus den Ergebnissen nicht abzuleiten sein. Aber wir eine Lösung finden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16549
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): (C)
DIE GRÜNEN: Aha!) Gerne.
Das ist genau das, was ich eben beschrieben habe. Nur,
es muss doch eine Lösung sein, mit der das Kind nicht Präsident Dr. Norbert Lammert:
mit dem Bade ausgeschüttet wird und gleich die ganzen Bitte schön.
Grundlagen der deutschen Tarifautonomie aufgegeben
werden.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Vielen Dank, Herr Kollege Vogel, dass Sie die Frage
der CDU/CSU)
zulassen. – Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
Deswegen kann es nur die dreistufige Lösung geben. dass die drei Oppositionsfraktionen den Vorschlag ge-
Wenn die Tarifpartner das selber hinbekommen, besteht macht haben, eine unabhängige Kommission für die
kein Handlungsbedarf. Wenn die Tarifpartner keine Eini- Festlegung der Steigerungsraten des Mindestlohns ein-
gung erzielen, können wir Tarifverträge für allgemein- zusetzen, dass dieses Verfahren genauso in Großbritan-
verbindlich erklären – das haben wir in großer Zahl ge- nien eingeführt worden ist, wo die Low Pay Commission
tan –, und als letzte Möglichkeit haben wir das einen Vorschlag für die Steigerungen vorlegt, und dass
Mindestarbeitsbedingungengesetz. die Einführung des Mindestlohns selbst aber politisch
festgesetzt worden ist?
Die Frage ist, warum es, wie Sie sagen, etwas darüber
hinaus geben muss. Damit sind wir bei einer allgemei-
nen Lohnuntergrenze. Ich kann aus Ihren Anträgen der Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
letzten Jahre nur schließen, dass Sie selber erkennen, Ich kenne das Modell in Großbritannien gut. Darauf
dass dann, wenn die Politik das in der Hand hätte, wir beziehen Sie sich in der Tat immer wieder. Wenn man ge-
ganz schnell einen Überbietungswettbewerb bezüglich nau hinschaut, stellt man fest, dass die Kommission in
der Lohnhöhe hätten. Dann wären wir ganz schnell in Großbritannien nicht nur die Steigerungen festlegt, son-
der Situation wie in anderen Ländern, in denen die dern auch die Einstiegshöhe. Der Mindestlohn in Großbri-
Löhne so hoch sind, dass sie die Chancen der Menschen, tannien gilt übrigens nicht für junge Menschen, ganz be-
einen Arbeitsplatz zu bekommen oder den Arbeitsplatz wusst nicht. Also, es gibt dort keine allgemeine, alles
zu behalten, zerstören. Genau das wollen wir nicht. übergreifende Lohnuntergrenze. Der Mindestlohn in
Großbritannien ist zudem in der wirtschaftlichen Boom-
Ich erkenne an, Frau Kollegin Pothmer, dass Sie sich
phase eingeführt worden und erlebt jetzt die erste Krise,
für eine unabhängige Kommission aussprechen.
(B) interessanterweise ist die Arbeitslosigkeit in Großbritan- (D)
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nien heute deutlich höher als in Deutschland; das wün-
Genau! Das wäre der erste Schritt!) schen wir uns wohl nicht. Großbritannien hat zudem keine
vergleichbare Tradition bei der Tarifautonomie. Groß-
Das habe ich gelesen. Wir sollten immer lesen, was wir britannien hat zudem viel weniger starke Tarifpartner, die
uns gegenseitig vorschlagen. Nur, seit zwei Jahren schla- Flächentarifverträge festlegen. Die Frage ist doch – das
gen alle drei Fraktionen, die für den Mindestlohn sind, habe ich bereits in der Aktuellen Stunde ausgeführt –:
die Einrichtung einer unabhängigen Kommission vor. Wollen wir diese Tradition der Tarifpartner beibehalten
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: oder nicht?
Wir schon seit fünf Jahren!) (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Es geht
– Damals war ich noch nicht dabei. Ich erkenne gerne um Mindestlöhne und nicht um Tarifautono-
an: die Grünen schon seit fünf Jahren. – Das Problem ist: mie!)
Sie wollen, dass diese von der Politik unabhängige
Kommission bei der Festlegung der Mindestlohnhöhe Wenn Sie den Tarifpartnern die Lohnfindung entziehen,
eine bestimmte Grenze nicht unterschreitet. Sie von den wenn Sie sagen, dass die Lohnfindung nicht mehr in ers-
Grünen nennen als Betrag 7,50 Euro, ter Linie die Aufgabe der Tarifpartner ist, dann werden
Sie die Tradition der deutschen Tarifautonomie schwä-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen. Davon bin ich fest überzeugt.
NEN]: Das steht ausdrücklich nicht drin, Herr
Vogel!) Frau Kollegin Pothmer, ich erkenne natürlich an, dass
Sie das alles jetzt weggelassen haben. Ich muss aller-
Sie von der SPD aktuell 8,50 Euro und Sie von den Lin- dings dazusagen, dass das nicht besonders glaubwürdig
ken 10 Euro. Eine Kommission, der von der Politik vor- ist. Sie legen uns seit zwei Jahren Anträge zur Höhe des
gegeben wird, wie hoch der Lohn zu sein hat, ist alles Mindestlohns vor und verlieren nun kein Wort darüber.
andere als unabhängig. In der Begründung verweisen Sie aber auf Ihren eigenen
Gesetzentwurf, der einen Mindestlohn in Höhe von
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
7,50 Euro vorsieht, sowie auf die Gesetzentwürfe der an-
deren Oppositionsfraktionen, die andere Lohnvorgaben
Präsident Dr. Norbert Lammert: machen. Darüber hinaus schreiben Sie, dass Sie einen
Herr Kollege, möchten Sie eine weitere Zwischen- mehrheitsfähigen Gesetzentwurf der Bundesregierung
frage beantworten, und zwar vom Kollegen Birkwald? verlangen, auch was die Lohnhöhe angeht.
16550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zen. In dieser Kommission sollen die Tarifvertragspar- (C)
NEN]: Machen Sie doch einen Änderungsvor- teien das Ganze aushandeln.
schlag!)
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das ist
Liebe Frau Pothmer, damit haben Sie sich von dem Ge- überparteilicher Konsens, Frau Pothmer!)
danken, dass die Politik bestimmen soll, welcher Lohn
akzeptabel ist und welcher nicht, noch gar nicht verab- Ich sage Ihnen ganz deutlich: So etwas kann sich nur je-
schiedet. Das zeigt, dass mit Ihnen – selbst dann, wenn mand ausdenken, der von der Tarifwirklichkeit keine
man es wollte – kein überparteilicher Konsens über eine Ahnung hat oder der die Öffentlichkeit über seine Vorha-
unabhängige Kommission zu erzielen wäre. Vielmehr ben bewusst täuschen will.
wäre die Lohnfindung wieder da, wohin sie nicht gehört, (Beifall bei der LINKEN – Johannes Vogel
nämlich hier im Deutschen Bundestag, also auch bei Ih- [Lüdenscheid] [FDP]: Frau Pothmer, sehen Sie
nen und bei den Kollegen von der Linken. Da wollen wir es endlich ein: Es gibt keine Mehrheit für eine
sie im Interesse der arbeitenden und arbeitsuchenden unabhängige Kommission! Die wird es nie ge-
Menschen in diesem Land nicht haben. ben!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Mit der Agenda 2010, die SPD und Grüne 2003 unter
Deswegen – und weil Sie die Tarifautonomie damit Applaus der rechten Seite beschlossen haben, ist der Ta-
kaputtmachen – kommt für die Koalitionsfraktionen in rifautonomie ein schwerer Schlag versetzt worden; zum
Summe eine Zustimmung zu Ihrem Antrag leider nicht Teil ist sie sogar zerstört worden. Wenn immer mehr
infrage. Menschen befristet arbeiten und um die Verlängerung
zittern, wenn immer mehr Menschen nur einen Leihar-
Vielen Dank. beitsjob haben, wenn vor allem immer mehr Frauen in
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Minijobs die Arbeitswelt nur noch in einer zerstückelten
Weise erleben, dann ist das eine Situation, in der es für
die betroffenen Menschen sehr schwierig ist, sich zu
Präsident Dr. Norbert Lammert: wehren und gewerkschaftlich zu organisieren. Das ver-
Michael Schlecht ist der nächste Redner für die Frak- deutlicht, dass die anderen vier Parteien, diese ganz
tion Die Linke. große Koalition, im letzten Jahrzehnt die gewerkschaftli-
(Beifall bei der LINKEN) che Handlungsmacht für die Durchsetzung gerechter Ar-
beitsbedingungen und gerechter Löhne durch die
Agenda 2010 massiv beschädigt und zerstört haben. Das
Michael Schlecht (DIE LINKE): ist der Sachverhalt. (D)
(B)
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Gewerkschaften und die Linke wollen den Mindestlohn (Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias
mit einem festen Betrag per Gesetz einführen. Die Ge- Zimmer [CDU/CSU]: Deswegen brauchen wir
werkschaften wollen 8,50 Euro. Meine Gewerkschaft einen großen Bruder!)
Verdi sagt mittlerweile dazu, dass in schnellen Schritten Hinzu kommt die allgegenwärtige Angst vor dem Ab-
10 Euro kommen sollen, sturz in Hartz IV, die wie eine disziplinierende Peitsche
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Was für über den Köpfen vieler kreist und die die gewerkschaftli-
ein Zufall!) chen Handlungsmöglichkeiten zusätzlich eingeschränkt
hat.
und 10 Euro sind auch der Betrag, den die Linke als ge-
setzlichen Mindestlohn möglichst unverzüglich in die- Vor diesem Hintergrund ist es wirklich schon eine In-
sem Lande politisch festsetzen will. famie, zu sagen: Jetzt sollen doch die Tarifvertragspar-
teien den Startmindestlohn festsetzen. – Den Schwarzen
(Beifall bei der LINKEN) Peter den Tarifvertragsparteien zuzuschieben, ist bildlich
Jetzt erleben wir plötzlich seit ein oder zwei Wochen, gesprochen so, als würde man jemandem die Beine bre-
dass die CDU und – seit dem Antrag, der hier zur De- chen und dann von ihm verlangen, 100 Meter in 10 Se-
batte steht – auch die Grünen in trauter Eintracht diese kunden zu laufen. Das ist natürlich vollkommen aben-
Startmarke nicht mehr selbstständig hier im Parlament teuerlich und zeigt nur Ihre Geisteshaltung: Sie wollen
politisch setzen wollen, sondern dass für die Ermittlung im Grunde genommen gar keinen Mindestlohn bzw. eine
eines Startmindestlohns eine Kommission eingesetzt Lohnuntergrenze.
werden soll. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: So einen
(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE Quatsch habe ich noch nie gehört! – Weiterer
GRÜNEN]: Das hat doch auch Ihr Kollege ge- Zuruf von der CDU/CSU: Unfug!)
rade gesagt!) – Sie kennen die Wirklichkeit nicht. Das ist das Problem.
Nach Auffassung von Gewerkschaften und uns sollte (Beifall bei der LINKEN)
eine solche Kommission nach einem politisch festge-
setzten Startmindestlohn nur Vorschläge für weitere Stei- Wenn CDU und Grüne jetzt Krokodilstränen ob des
gerungen machen. Diese Kommission wird nun in Ihrem Schicksals der Hunger- und Niedriglöhner vergießen
Konzept missbraucht, den Startmindestlohn festzuset- und die Einrichtung einer Kommission fordern,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16551
Michael Schlecht
(A) (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Nach- (C)
schwörungstheorie!) hilfe in diesem Bereich brauchen wir von Ihnen nicht.
Wir haben von Rot-Grün einen Scherbenhaufen in Form
dann ist das im Grunde genommen nichts anderes als ein
von 5 Millionen Arbeitslosen übernommen. Seitdem die
fauler Trick, mit dem man den Eindruck zu erwecken
christlich-liberale Koalition unter Angela Merkel regiert,
versucht, man wolle eine Lohnuntergrenze, man wolle
reparieren wir eine arbeitsrechtliche bzw. arbeitsmarkt-
einen Mindestlohn durchsetzen; aber in Wirklichkeit
politische Baustelle nach der anderen. Ich nenne als Bei-
wird hier nur eine riesengroße Nebelkerze geworfen.
spiel für den Themenkomplex Zeitarbeit nur den Fall
Dass in Anbetracht der Not der Menschen – diese ist ja
Schlecker mit dem Drehtüreffekt. All die Missstände,
in diesem Hause heute weidlich dargestellt worden – mit
die die Koalition zu beseitigen versprochen hat, hat diese
einer solchen Nebelkerze operiert wird, ist wirklich eine
Koalition in den letzten zwei Jahren angepackt und alles
Schweinerei. Damit werden die Menschen, die unter
solide, auf verfassungsmäßiger Grundlage zu einem gu-
Hungerlöhnen und den Verhältnissen leiden, auch noch
ten und seriösen Ende gebracht. Das bitte ich in der jetzi-
verhöhnt.
gen Diskussion um Einführung einer Lohnuntergrenze in
Danke schön. die Überlegungen einzubeziehen.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
CDU/CSU: Das war aber ganz schlecht, Herr der FDP)
Schlecht!)
Ich will nicht zum fünften Mal auf die Agenda 2010
eingehen. Ich bleibe allerdings dabei: Sie war in vielen
Präsident Dr. Norbert Lammert: Punkten nicht falsch, auch wenn Sie heute davon nichts
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lange für die mehr hören wollen. Aber den Mindestlohn, liebe Kolle-
CDU/CSU-Fraktion. ginnen und Kollegen von Rot-Grün, haben Sie damals
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht eingeführt.
Dass wir – auch darauf ist heute schon mehrfach ein-
Ulrich Lange (CDU/CSU): gegangen worden – seit Ludwig Erhard die soziale
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Marktwirtschaft stringent fortentwickelt haben, möchte
Mindestlohn, die Zweite – so könnte man das heute nen- ich am Beispiel eines Gesetzes deutlich machen. –
nen. Ich habe mich gefragt, welchen Erkenntnisgewinn Wieso leuchtet der Präsident?
wir heute Nachmittag erzielen werden. Mich erinnert das
hier so ein bisschen an eine nachmittägliche Schulstunde Präsident Dr. Norbert Lammert:
(B) zur Wiederholung. Sie, Herr Schlecht, nehme ich aller- Weil der Kollege Schlecht Ihnen gerne eine Zwi- (D)
dings aus; denn das, was Sie da gerade vorgebracht ha- schenfrage stellen möchte und ich Sie fragen muss, ob
ben, war einfach unterirdisch. Sie diese zulassen wollen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ulrich Lange (CDU/CSU):
Da muss ich sogar der Kollegin Pothmer zur Seite sprin-
gen. Ich habe den Antrag der Grünen gelesen. Man kann Das machen wir danach.
da sicherlich über vieles diskutieren. Aber dass wir jetzt
gemeinsam in einen Topf geworfen werden, finde ich Präsident Dr. Norbert Lammert:
wirklich bemerkenswert. Das schafft wirklich nur die Was heißt „danach“?
Linke.
(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Das Ulrich Lange (CDU/CSU):
hat Frau Pothmer nicht verdient!) Ich muss meine Redezeit heute nicht unnötig verlän-
gern. Wenn er danach intervenieren will, kann er das tun.
Ja, die Grünen haben sich von ihrem ursprünglichen Dann antworte ich oder auch nicht; jetzt mache ich wei-
Plan, einen staatlichen Mindestlohn festzulegen, ein we- ter.
nig wegbewegt und sich dem System einer Lohnunter-
grenze genähert. Ich nehme einmal an, dass Sie eine An- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
leihe bei § 5 Tarifvertragsgesetz gemacht haben und CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Seien Sie
diesen analog anwenden wollen, um hier irgendwo Bo- doch nicht so unfreundlich zum Präsidenten!)
den zu finden.
Ich möchte zunächst festhalten, nachdem vorhin et- Präsident Dr. Norbert Lammert:
was hart diskutiert wurde, dass es die Union war, die die Gut.
Branchenmindestlöhne äußerst erfolgreich eingeführt
hat. Wort und Tat haben bei der Union – da muss ich Ulrich Lange (CDU/CSU):
dem Kollegen Weiß recht geben – über die Jahrzehnte Wir haben heute lange genug über das Thema gespro-
sozialer Marktwirtschaft zusammengepasst. chen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten 1952 wurde unter Ludwig Erhard das Mindestarbeits-
Tackmann [DIE LINKE]: Das ist ja das Pro- bedingungengesetz eingeführt, und seitdem haben wir
blem!) die soziale Marktwirtschaft stringent weiterentwickelt.
16552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Ulrich Lange
(A) Heute diskutieren wir über Lösungen in tariffernen Be- Die Kommission setzt sich aus Vertreterinnen und (C)
reichen, weil auch wir natürlich erkennen, dass es Tarif- Vertretern der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und
flucht gibt, dass es Branchen gibt, in denen die Tarifpart- der Wissenschaft zusammen.
nerschaft nicht so funktioniert, wie wir es uns wünschen.
Da erkenne ich höchstens die Differenz, dass hier auch
Das heißt aber nicht – das möchte ich in aller Deutlich-
keit sagen –, dass wir den Grundsatz der Tarifautonomie die Wissenschaft vertreten sein soll, was bei der CDU/
CSU nicht der Fall ist. Aber das ist, glaube ich, eine zu
auch nur im Geringsten aufzuweichen oder gar aufzuge-
vernachlässigende Größe.
ben gedenken.
Im vierten Punkt wird ausgeführt, dass der von der
Die Allgemeinverbindlichkeit – das ist auch vom Kommission beschlossene Mindestlohn durch eine von
Kollegen Vogel schon angesprochen worden – war bis- der Bundesregierung zu erlassende Rechtsverordnung
her ein sehr gutes und sehr schlüssiges Mittel, Mindest- wirksam wird. Auch das ist Originalton der Sozialaus-
löhne und tarifliche Bedingungen festzuschreiben. Ich schüsse. Zudem verweigert man sich im Antrag der Grü-
erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass es überwiegend nen genau wie bei Ihnen generell, irgendeine Zahl und
christlich-liberale Regierungen waren, die Tarifverträge einen Mindestlohnbetrag als Startmarke zu nennen. Von
für allgemeinverbindlich erklärt haben. Also tun wir daher verstehe ich nicht, weshalb Sie so unverständig
bitte heute nicht so, als ob das alles neu und quasi eine sind, wenn ich sage, dass die Grünen an Ihre Seite getre-
Erfindung aus irgendeiner Richtung wäre. ten sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Union wird (Beifall bei der LINKEN)
eine ernste und an den Werten unserer sozialen Markt-
wirtschaft orientierte Debatte geführt, die berücksichtigt
Ulrich Lange (CDU/CSU):
und berücksichtigen muss, dass zum Beispiel ein flexib-
ler Arbeitsmarkt als Motor und als wesentliches Erfolgs- Herr Kollege Schlecht, diese Frage hätten Sie viel-
rezept unseres Jobwunders, unseres Wirtschaftswunders leicht besser der Kollegin Pothmer gestellt. Was wir im-
erhalten bleiben muss. Geringe Jugendarbeitslosigkeit mer gesagt haben – dazu steht diese Koalition weiter-
und weniger als 3 Millionen Arbeitslose insgesamt – das hin –, ist, dass es keine staatlich festgesetzten Mindest-
sind Erfolge, die wir nicht durch fahrlässige Diskussio- löhne in einer bestimmten Höhe geben wird. Punkt 4 des
nen in Gefahr bringen dürfen. Unnötige staatliche Ein- Antrags von Bündnis 90/Die Grünen, den Sie gerade zi-
griffe in die Lohnfindung gefährden die Tarifautonomie. tiert haben, beinhaltet im Endeffekt nichts anderes als
Politik darf Löhne nicht diktieren. Die Lohnfindung ist das, was ich angesprochen habe. Diese Formulierung
zunächst Aufgabe der Tarifpartner. Nur dort, wo eine lehnt sich an § 5 des Tarifvertragsgesetzes, also an die
Allgemeinverbindlichkeit, an. Daher, Herr Kollege
(B) Nachjustierung notwendig ist, soll und darf die Politik Schlecht, kann man sagen, dass diese Forderung zum (D)
eingreifen.
größten Teil schon heute durch das Gesetz erfüllt wird.
Ich sage ganz deutlich: Wir werden nicht mitmachen
Danke schön.
bei einer billigen Mindestlohnwahldemokratie nach dem
Motto „Wer bietet mehr?“.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
NEN]: Das tut kein Mensch!) Kollege Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion.
Wir sind für soziale Marktwirtschaft mit fairen Löhnen. (Beifall bei der SPD)
Das ist wirklich christlich-sozial.
Danke schön. Ottmar Schreiner (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) habe selten eine Debatte erlebt, in der so viel geheuchelt
worden ist wie in dieser Debatte.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD)
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schlecht Es geht los bei der FDP, die sich jetzt zum Sachwalter
das Wort. der Tarifautonomie aufspielt.
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Was denn sonst?)
Michael Schlecht (DIE LINKE):
Danke. – Sie haben sich unverständig gezeigt, warum Das ist schon eine groteske Veranstaltung.
ich die Grünen plötzlich an Ihrer Seite sehe. Haben Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
den Antrag der Grünen denn nicht gelesen? Dort heißt
es: Ich sehe, dass Ihr früherer Parteivorsitzender, Herr
Westerwelle, anwesend ist, der vor wenigen Jahren die
Die Mindestlohnhöhe wird durch eine unabhängige Gewerkschaften als die größte Plage der Bundesrepublik
Kommission festgelegt. bezeichnet hat.
Das ist im Prinzip O-Ton mindestens der Sozialaus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schüsse. DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16553
Ottmar Schreiner
(A) Jetzt erklären Sie sich zum Sachwalter der Tarifautono- Das heißt, Armuts- und Hungerlöhne sollen durch staat- (C)
mie. liche Leistungen aufgestockt werden, damit die Men-
schen in irgendeiner Weise leben können. Das war Ihre
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Soll Linie über Jahre hinweg.
ich Ihnen jedes Zitat von Herrn Schröder vor-
halten? Das wollen Sie doch auch nicht!) (Beifall bei der SPD)
Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Gewerk- Jetzt zu behaupten, Mindestlöhne seien der Markenkern
schaften unisono einen allgemeinen Mindestlohn, eine der Union, ist geradezu eine Verarsche auf gut Deutsch
Lohnuntergrenze fordern. Die Gewerkschaften weisen in gesagt. Das kann man Ihnen wirklich nicht durchgehen
diesem Zusammenhang darauf hin, dass der gegenwär- lassen, Herr Kollege Weiß. Das ist des Guten eindeutig
tige Zustand das gesamte Tarifgefüge quer durch alle zu viel.
Bereiche erschüttert. Sie wissen, dass wir etwa mit dem (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Bundesurlaubsgesetz und dem Bundesarbeitszeitgesetz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Regelungsfelder haben, in denen der Gesetzgeber Rah-
menbedingungen formuliert, die nicht unterschritten Präsident Dr. Norbert Lammert:
werden dürfen und die durch die Tarifparteien ausgefüllt Herr Kollege Schreiner.
werden sollen. Das funktioniert in Deutschland seit Jahr-
zehnten ganz hervorragend. Warum soll dies ausgerech-
Ottmar Schreiner (SPD):
net bei den Tarifen nicht funktionieren, wo es doch in
Herr Präsident, mir ist klar, dass der gerade von mir
anderen Regelungsfeldern, wie gesagt, gute Ergebnisse
benutzte Ausdruck nicht sehr parlamentarisch war. Aber
gezeitigt hat? „Wat mutt, dat mutt!“ hat ein anderer immer gesagt.
Die zweite Bemerkung geht an die Adresse des Kolle-
gen Weiß. Der Kollege Weiß hat heute eine Formulierung Präsident Dr. Norbert Lammert:
gebraucht, die mich fast umhaut. Er hat nämlich gesagt, Gut. Aber deswegen habe ich Sie gar nicht unterbro-
dass das Markenzeichen der Union der Mindestlohn ist. chen, zumal die Einsicht Sie schnell eingeholt hat.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Recht hat er!) (Heiterkeit)
Das hat er wirklich gesagt. Herr Kollege Weiß, nicht der Ich habe Sie fragen wollen, ob Sie sich vorstellen kön-
Mindestlohn ist das Markenzeichen der Union, sondern nen, eine Zwischenfrage des Kollegen Straubinger zu
platteste Geschichtsfälschung ist das Markenzeichen der beantworten.
Union.
(B) Ottmar Schreiner (SPD): (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Er ist schon in Lauerstellung. Bitte.
LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Na, na!)
Max Straubinger (CDU/CSU):
Warum, das will ich Ihnen in aller Kürze erklären. Herr Kollege Schreiner, Sie haben gerade der Äuße-
Sie haben auf die Einführung der branchenbezogenen rung des Kollegen Weiß widersprochen, dass die Union
Mindestlöhne während der Zeit der Großen Koalition die Hüterin des Branchenmindestlohns ist. Sie haben
hingewiesen. auch lobend gesagt, dass die meisten dieser Löhne von
einem SPD-Minister eingeführt worden sind. Deshalb
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: frage ich Sie: Würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass
Herr Kollege Schreiner, Sie haben doch keinen dies unter Bundeskanzlerin Angela Merkel geschehen
eingeführt!) ist, die zugleich CDU-Vorsitzende ist?
In der Großen Koalition sind alle branchenbezogenen (Zurufe von der SPD: Oh!)
Mindestlöhne – es waren deren acht – vom sozialdemo- In diesem Sinne hat der Kollege Weiß mit seiner Aus-
kratisch geführten Bundesarbeitsministerium gegen den sage durchaus recht.
teilweise erbitterten Widerstand der Union durchgesetzt
worden. Das ist die Wahrheit. (Anette Kramme [SPD]: Wer hat denn Verein-
barungen zur Leiharbeit damals nicht umge-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ setzt?)
DIE GRÜNEN)
Sie wissen gar nicht mehr, was in Ihren Wahlpro- Ottmar Schreiner (SPD):
grammen steht, Herr Kollege Weiß. In Ihrem Wahlpro- Die Frau Bundeskanzlerin musste sich wohl der Ver-
gramm 2005 ist folgende Formulierung enthalten: nunft der Zwänge beugen. Anders ist das gar nicht zu er-
klären.
Für die Arbeitnehmer sichern wir durch eine ausge-
wogene Kombination aus Arbeitslohn und ergän- (Lachen bei der CDU/CSU)
zender Sozialleistung ein angemessenes Auskom- Auch in der Großen Koalition mussten Kompromisse
men. gemacht werden. Die CDU/CSU wollte ausweislich ih-
res Wahlprogramms Kombilöhne,
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Hört! Hört!) (Anette Kramme [SPD]: So ist es!)
16554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Ottmar Schreiner
(A) das heißt die Hinnahme von Armutslöhnen, die durch Wenn jemand für seine Arbeit mit 2, 3, 4 oder 5 Euro in (C)
staatliche steuerfinanzierte Leistungen aufgestockt wer- der Stunde entlohnt wird, dann ist das ein grober Verstoß
den. Das war Ihre Ausgangsposition. gegen die menschliche Würde. Es ist ein Angriff auf das
Selbstwertgefühl der Menschen. Was ist ihre Arbeit ei-
Die Ausgangsposition der SPD im Jahr 2005 – lesen gentlich wert? Das hat nichts mit vermeintlich blanker
Sie die Wahlprogramme! – war die Forderung nach ei- Angst vor dem Verlust eines Themas zu tun. Es hat aber
nem gesetzlichen Mindestlohn. In den Bereichen, in de- sehr wohl etwas damit zu tun, dass wir dazu beitragen
nen das nicht durchsetzbar sein sollte, sollten dann bran- wollen, dass Menschen ihre Würde in der Arbeitswelt
chenbezogene Mindestlöhne eingeführt werden. Das war zurückgewinnen. Ich fordere Sie dazu auf, hierzu einen
exakt der Kompromiss zwischen dem klaren Nein der vernünftigen Beitrag zu leisten; das würde ich sehr be-
Union und dem ebenso klaren Ja der SPD zum gesetz- grüßen.
lichen Mindestlohn. Dieser Kompromiss konnte auf
Druck der sozialdemokratischen Abteilung in der Gro- Als letzte Bemerkung möchte ich Ihnen das Gleichnis
ßen Koalition herbeigeführt werden. vom verlorenen Schaf aus Lukas, Kapitel 15, mit auf den
Weg geben. Herr Kollege Weiß, dort lesen wir:
(Beifall bei der SPD)
Also wird auch Freude im Himmel sein über einen
Wenn Sie das nun bestreiten wollen, dann wird es hier
allmählich finster, was die Wahrheit anbelangt. – Bitte – reuigen –
bleiben Sie noch einen Moment stehen, Herr
Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerech-
Straubinger, dann gewinne ich noch ein paar Sekunden.
ten, die der Buße nicht bedürfen.
Auf dem Bundeskongress des Deutschen Gewerk-
Hier sitzen eine Menge Leute, die der Buße nicht be-
schaftsbundes im Mai 2010 hat Frau Merkel – bezogen
dürfen. Wenn Sie am Montag oder Dienstag auf Ihrem
auf den Mindestlohn – gesagt: Ich glaube, dass das nicht
Parteitag entsprechende Beschlüsse fassen, dann können
die richtige Antwort der Politik ist. – Das waren die
Sie, Herr Kollege Weiß, davon ausgehen, dass ich Ihnen
Worte von Frau Merkel zum Mindestlohn noch im Mai
das Gleichnis vom verlorenen Schaf eingerahmt schen-
2010.
ken werde.
Die berüchtigte Frau Kollegin Connemann, die heute
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
bedauerlicherweise nicht hier sein kann, hat im April des
Jahres 2010 gesagt: Ein Mindestlohn in Deutschland (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
hätte nur ein Ergebnis: Jobvernichtung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) Der ehemalige Ministerpräsident von Baden- (D)
Württemberg hat gesagt: Von einem flächendeckenden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Mindestlohn halte ich gar nichts. Ich schließe die Aussprache.
Der Vorsitzende der CDU in Nordrhein-Westfalen, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Herr Röttgen, hat gesagt: Ich bin gegen eine Politisie- Drucksache 17/7483 an die in der Tagesordnung aufge-
rung der Lohnfindung. Die Lohnhöhe richtet sich nach führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Angebot und Nachfrage. Der Markt definiert den Lohn. verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich könnte diese Aussagen beliebig fortführen. Sie Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
alle zeugen von einem: Wenn Sie sagen, dass es in Sa- Beratung des Antrags der Bundesregierung
chen Mindestlohn irgendeinen Markenkern der Union
gibt, dann ist das die platteste Geschichtsfälschung. Das Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
ist die Wahrheit. scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
tion „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisierung
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des Friedensprozesses in Bosnien und Herze-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gowina im Rahmen der Implementierung der
LINKEN) Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensverein-
Werfen wir einen Blick auf die Ausgangslage für Ih- barung sowie an dem NATO-Hauptquartier
ren Parteitag: Einige von Ihnen fordern jetzt flächen- Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage
deckende Mindestlöhne. Hier hat sich der Kollege der Resolution des Sicherheitsrates der Ver-
Laumann ohne jeden Zweifel Verdienste erworben. Das einten Nationen 1575 (2004) und Folgeresolu-
ist sehr zu unterstützen, und wir beobachten das mit viel tionen
Respekt. – Drucksache 17/7577 –
Herr Kollege Weiß, im Übrigen geht bei uns nicht die Überweisungsvorschlag:
blanke Angst um, dass uns etwa ein Thema abhanden- Auswärtiger Ausschuss (f)
käme. Vielmehr geht es uns darum, dass Millionen von Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Menschen ein Stück menschlicher Würde zurückgege- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ben wird. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16555
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sem Bataillon, das im Falle einer Lageverschlechterung (C)
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- kurzfristig in das Einsatzgebiet verlegt werden kann. Im
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das Kosovo hat sich bedauerlicherweise gerade gezeigt, wie
so beschlossen. wichtig eine solche Vorsorge ist; denn auch wenn wir
hier gemeinsam eine sehr erfreuliche Entwicklung fest-
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- stellen können, so wissen wir doch, dass die Unwägbar-
ner das Wort dem Bundesaußenminister Dr. Guido keiten noch lange nicht überwunden sind. Dementspre-
Westerwelle. chend ist es notwendig, dass wir diesen Weg weiter
vorsichtig und verantwortungsvoll beschreiten.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
Ebenso hält die Bundeswehr eine größere Zahl von
wärtigen:
Kräften bereit, die zur vorübergehenden logistischen und
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- technischen Unterstützung der Mission entsandt werden
ren! Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Interesse können. Beides zusammengenommen erklärt die Perso-
an der Stabilisierung von Bosnien und Herzegowina ist nalobergrenze des Mandates; beides ist Ausdruck unse-
unverändert groß. Unser Ziel bleibt ein friedliches, de- res fortgesetzten Engagements und unserer Solidarität
mokratisches, rechtsstaatliches Bosnien und Herzego- mit unseren Partnern.
wina, das aus eigener Kraft in der Lage ist, den Weg der
EU-Integration erfolgreich zu beschreiten. Für die Bundesregierung bitte ich um Zustimmung
zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der EU-ge-
Bei aller Vorsicht und aller zurückhaltenden Bewer- führten militärischen Operation ALTHEA zur weiteren
tung können wir heute sagen, dass die militärischen Si- Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und
cherungsaufgaben der Operation zum gegenwärtigen Herzegowina. Der Einsatz deutscher Streitkräfte im Rah-
Zeitpunkt erfüllt sind. Die Sicherheitslage ist stabil. Das men von ALTHEA erfolgt unverändert auf Grundlage
zeigt, wie viel wir erreicht haben. Gerade weil wir in die- der Resolution 1575 aus dem Jahre 2004 des Sicherheits-
sem Hause sehr oft kontrovers diskutieren – zum Bei- rates der Vereinten Nationen und ihrer Folgeresolutio-
spiel gerade eben mit Leidenschaft und fast mit Atemlo- nen; er ist also völkerrechtlich eindeutig abgedeckt.
sigkeit der Redner –, ist es wichtig, darauf hinzuweisen,
dass hier seit vielen, vielen Jahren eine große Überein- Ich denke, viele wissen nicht mehr, warum seinerzeit
stimmung in diesem Hause besteht. Ich denke, ich spre- dieser Einsatz begonnen worden ist, warum das Engage-
che im Namen aller Anwesenden, wenn ich hier den ment überhaupt notwendig war. Wer sich noch an die
Frauen und Männern der Bundeswehr, die vor Ort ihren 90er-Jahre erinnern kann, an das, was in unserer unmit-
(B) verantwortungsvollen Dienst tun, unseren Dank zum telbaren Nachbarschaft stattgefunden hat, der wird zu (D)
Ausdruck bringe. dem Ergebnis kommen, dass es auch sehr erfolgreiche
Friedenseinsätze der Frauen und Männer unserer Bun-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie deswehr gibt. Wenngleich alles immer kritisch beäugt
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- werden muss – das ist erste Bürgerpflicht in der Demo-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) kratie –, so kann man, denke ich, doch feststellen: Es ist
Meine Damen und Herren, das militärische Engage- schon eine sehr beeindruckende Erfolgsgeschichte. Dass
ment der Europäischen Union bleibt aber weiter nötig. wir Deutsche einen Beitrag zu Frieden und Stabilität ge-
Es muss insbesondere noch mehr getan werden, um die leistet haben, das gereicht unserem Land zur Ehre.
Kompetenz und Professionalität der bosnischen Streit- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
kräfte weiter zu stärken. Der Rat für Außenbeziehungen
der Europäischen Union hat daher am 10. Oktober Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
beschlossen, dass der Schwerpunkt der Operation Die stabile Sicherheitslage ist das eine; die innenpoliti-
ALTHEA, für die ich jetzt hier das Mandat einbringe, sche Lage birgt jedoch nach wie vor Risiken. Fast ein
künftig auf Ausbildung und Training liegen soll. Unsere Jahr nach den Wahlen konnte noch immer keine neue
Bundeswehr beteiligt sich an dieser Ausbildung und am Regierung auf Gesamtstaatsebene gebildet werden. Ich
Personal des Hauptquartiers in Sarajevo. Ansonsten sind kann dies nicht aussparen, weil auch das natürlich zu ei-
keine deutschen Soldatinnen und Soldaten mehr in Bos- ner umfassenden Lagebetrachtung gehört.
nien und Herzegowina eingesetzt. Damit konnte das um-
gesetzt werden, was ich hier vor einem Jahr, bei der letz- Diese Lähmung des Landes verhindert, dass die auf
ten Einbringung des Mandates, in Aussicht gestellt und dem Weg nach Europa dringend notwendigen Reformen
formuliert habe. angegangen werden. Diese politische Stagnation muss
unbedingt überwunden werden.
Im letzten Jahr konnten wir die Personalobergrenze
des Mandates von 2 400 auf 900 absenken. Auch jetzt Deshalb macht die Bundesregierung das in all ihren
können wir eine Senkung der Personalobergrenze vor- Gesprächen mit den Verantwortlichen immer wieder
nehmen, und zwar von 900 auf 800. Gemessen an der deutlich. Wir bieten eine europäische Perspektive. Wir
Zahl der tatsächlich vor Ort eingesetzten Soldaten, bleibt wissen um die positive Dynamik, die der Annäherungs-
eine hohe Personalobergrenze des Mandates, denn wie prozess an die Europäische Union im Land entfalten
bislang wird für die Operation ein Reservebataillon be- kann. Wir erwarten aber, dass die notwendigen Schritte
reitgehalten. Deutschland stellt den Löwenanteil an die- vor Ort gegangen werden.
16556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) Die auf die Europäische Union bezogenen Reformen Ich habe den Verdacht, dass sich ein Großteil der poli- (C)
müssen eindeutig Priorität erhalten. Ethnische Einzel- tischen Eliten in Bosnien-Herzegowina sehr gut in der
interessen müssen dahinter zurückgestellt werden. derzeitigen Situation eingerichtet hat, die der Dayton-
Rahmen gibt, sich gegenseitig zu blockieren. Das bringt
Die EU soll in Bosnien und Herzegowina zentraler das Land nicht voran, aber das scheint dem einen oder
Akteur sein. Es ist deshalb gut, dass die Trennung der anderen zu genügen, um seine Claims abzustecken.
Funktion des Hohen Repräsentanten von dem Amt des
EU-Sonderbeauftragten vollzogen ist. Der Amtsantritt Mit diesen Fehlern verspielen die dort Verantwortung
des neuen eigenständigen EU-Sonderbeauftragten ist Tragenden die Zukunft ihrer Bürgerinnen und Bürger,
Ausdruck der Neuaufstellung der internationalen Ge- die sie bei den letzten Wahlen schon deshalb gewählt ha-
meinschaft in Bosnien und Herzegowina. Auch dies ben, damit sie genau diese Zukunft positiv gestalten.
zeigt, dass wir einen entsprechenden Fortschritt ver-
Die Frage ist, welche Schlussfolgerung wir aus die-
zeichnen können.
sem unwürdigen Spiel ziehen, das wir dort sehen. Ich
Es bleibt das Ziel der Bundesregierung, ALTHEA sage Ihnen sehr deutlich: Die Schlussfolgerung kann
mittelfristig zu einer nichtexekutiven Beratungs- und nicht sein, das Mandat jetzt einfach zu beenden. Denn
Unterstützungsmission weiterzuentwickeln. Dazu ist das würde gerade für die Menschen, die dort Verände-
noch weitere Abstimmung mit unseren Partnern erfor- rungen zum Guten haben wollen, das Zeichen in sich tra-
derlich. Bis es so weit ist, bleiben wir in Loyalität und gen, dass wir uns abwenden und unserer Verantwortung
Verlässlichkeit gegenüber unseren Partnern und in unse- nicht nachkommen.
rer Verantwortung gegenüber den Menschen in Bosnien
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
und Herzegowina diesem Mandat verpflichtet.
Ich finde es auch richtig, dass sich die Bundesregie-
Deswegen bitte ich Sie im Namen der Bundesregie-
rung dafür einsetzt – der Europäische Rat hat das am
rung um Zustimmung zu diesem Mandat.
10. Oktober beschlossen –, das Mandat zu modifizieren,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) von einem exekutiven Mandat hin zu einer Beratungs-
und Unterstützungsmission für die Streitkräfte Bosnien-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herzegowinas, die eine der Klammern sind, in denen
eben nicht nach Ethnien getrennt Verantwortung über-
Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan von der
nommen werden soll.
SPD-Fraktion.
Ich finde weiter, dass wir die Bundesregierung bei ih-
(Beifall bei der SPD)
rem Ansinnen unterstützen sollen, die Zahl der statio-
(B) nierten Soldatinnen und Soldaten auf insgesamt 200 zu (D)
Dietmar Nietan (SPD): reduzieren, um deutlich zu machen, dass es nicht mehr
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am um eine exekutive Mission geht, sondern um eine Unter-
24. November des vergangenen Jahres haben wir hier stützungsmission. Aber Sie alle wissen: Das reicht nicht
über die damalige Mandatsverlängerung für ALTHEA aus. Wir müssen deutlich machen, dass wir uns sowohl
diskutiert. An dieser Stelle habe ich meiner Hoffnung in Bosnien-Herzegowina als auch in der gesamten Re-
und vielleicht auch meinem Wunsch Ausdruck verlie- gion noch stärker politisch engagieren wollen. In diesem
hen, dass sich Dinge in Bosnien-Herzegowina zum Bes- Zusammenhang danke ich der Bundesregierung aus-
seren wenden werden. drücklich dafür, dass sie sich bemüht hat, bei der Regie-
Ich hatte das damit begründet, dass die dortigen Wah- rungsbildung in Bosnien-Herzegowina eine konstruk-
len am 3. Oktober vergangenen Jahres die moderaten tive, vermittelnde Rolle zu spielen.
Kräfte ausdrücklich deshalb gestärkt haben, weil diese Für die Reformkräfte, die es gerade in der jungen Ge-
moderaten Kräfte nicht Nationalismus, sondern soziale neration in Bosnien-Herzegowina gibt, ist es deshalb
Aspekte und Themen des Landes in den Vordergrund des wichtig, dass wir die Beitrittsperspektive verlässlich er-
Wahlkampfs gestellt hatten. neuern, die wir mit dem Versprechen von Thessaloniki
Ich hatte auch die Hoffnung, dass die Regierungsbil- allen Staaten in der Region gegeben haben. Ich will auch
dung eine neue Chance eröffnet, die dringend notwendi- darauf hinweisen, dass wir überlegen müssen, welche
gen Verfassungsreformen in Gang zu setzen, die das Möglichkeiten wir haben, durch ein möglichst geschlos-
Land auf dem Weg nach Europa braucht; der Außen- senes Auftreten der Europäischen Union den Druck auf
minister hat darauf hingewiesen. die sogenannten politischen Führer bestimmter Ethnien
zu erhöhen. Sie sollen ihrer Verantwortung gerecht wer-
Ich hatte mir erhofft, dass die Visaliberalisierung auch den, nicht nur bei der Regierungsbildung, sondern auch
ein Zeichen dafür ist, dass wir Bosnien auf seinem Weg bei der notwendigen Verfassungsreform, die eine wirkli-
nach Europa unterstützen. che Demokratie bringt und nicht nur ein Vetosystem und
eine pervertierte Form der Fixierung auf die ethnische
Heute, ein Jahr später, kann ich nicht verhehlen, dass Herkunft.
ich von den politischen Eliten in Bosnien-Herzegowina
sehr enttäuscht bin, die bis jetzt das Ziel ihrer Verant- Nicht nur die EU, sondern auch die Nachbarn müssen
wortung, eine stabile Regierung zu bilden und die not- sich stärker engagieren. Unsere Freunde in Kroatien
wendigen Verfassungsreformen auf den Weg zu bringen, müssen ihre Möglichkeiten nutzen, die HDZ in Bosnien-
eindeutig verfehlt haben. Herzegowina davon zu überzeugen, dass sie bei den Ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16557
Dietmar Nietan
(A) sprächen zur Regierungsbildung ihren Alleinvertretungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
anspruch für die Kroaten in Bosnien-Herzegowina auf- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
geben muss. Serbien muss seinen Druck dahin gehend CDU/CSU und der FDP)
erhöhen, dass Herr Dodik endlich zu einer konstruktiven
Politik zurückkehrt, weg vom Nationalismus. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Thomas Kossendey.
GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deshalb ist es gut, dass Kroatien hoffentlich bald Mit-
glied der Europäischen Union ist. Es ist auch gut, dass Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär beim Bun-
wir im Fortschrittsbericht der Europäischen Union nach- desminister der Verteidigung:
lesen konnten, dass Serbien auf dem Weg nach Europa Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
große Fortschritte gemacht hat. Ich würde mir deshalb 16 Jahren, am 6. Dezember 1995, stimmte der Bundes-
wünschen, dass der Europäische Rat im Dezember ein tag in einer sehr bedeutsamen Debatte erstmals der Ent-
klares Zeichen in Richtung Serbien setzt und Serbien sendung deutscher Streitkräfte nach Bosnien und Herze-
den Kandidatenstatus, so wie von der Kommission vor- gowina zu. Die Zustimmung erfolgte damals unter dem
geschlagen, einräumen wird. Ich finde, dass Präsident Eindruck der schockierenden Ereignisse, unter anderem
Tadic, der für seine Reformpolitik nicht nur ein hohes in Srebrenica. Heute beraten wir die erneute Verlänge-
politisches, sondern auch ein hohes persönliches Risiko rung dieses Mandats. Zwar hat die Führung dieses Man-
eingeht, unser aller Unterstützung verdient hat. Ich würde dats gewechselt – die Mission steht heute unter europäi-
mich freuen, wenn die Bundesregierung schon vor dem scher Verantwortung –, die Ziele jedoch sind unverändert.
Europäischen Rat das klare öffentliche Signal geben
würde, dass die Bundesregierung den Vorschlag der Deutschland kommt seiner Verantwortung für die Sta-
Kommission, Serbien den Kandidatenstatus einzuräu- bilisierung in Bosnien und Herzegowina nunmehr seit
men, mit aller Kraft unterstützt. Bisher vermisse ich die- 1995 nach, zunächst im Rahmen der NATO-Operation
ses öffentliche Signal. IFOR – das war von 1995 bis 1996 –, dann im Rahmen
von SFOR – von 1996 bis 2004 – und seit Dezember
Wir brauchen mehr Europa und nicht weniger Eu- 2004 im Rahmen der EU-geführten Operation ALTHEA
ropa. – Das hat Polens Ministerpräsident Tusk in einer und des NATO-Hauptquartiers in Sarajevo. Das zeigt:
bemerkenswerten Rede zum Antritt der EU-Ratspräsi- Deutschland ist ein verlässlicher Partner und steht zu sei-
(B) dentschaft Polens vor dem Europäischen Parlament ge- ner Verantwortung – in Bosnien-Herzegowina wie auch (D)
sagt. Ich finde, diese Maxime darf nicht nur bei der Ret- an den anderen Einsatzorten. Das heißt: Verantwortung
tung unserer gemeinsamen Währung gelten, sondern sie für den Einsatz von Soldaten, wenn es notwendig ist,
muss auch gelten, wenn es jetzt darum geht, auf dem und Verantwortung für den zivilen Übergang, sobald das
Westbalkan, mitten in Europa – das will ich betonen –, möglich ist.
endlich die Folgen des schrecklichen Bürgerkrieges zu
ALTHEA umfasst derzeit noch insgesamt 1 300 Sol-
überwinden. Aus dieser Verantwortung können wir uns
datinnen und Soldaten in Bosnien und Herzegowina. Zu-
nicht stehlen.
sätzlich werden zwei Bataillone als operative Reserve
Als der Bürgerkrieg in den 90er-Jahren ausbrach, war für den Balkan bereitgehalten, um auf Lageverschärfun-
das Handeln der Europäer – das wissen Sie – kein Ruh- gen schnell reagieren zu können. Wie wichtig und wie
mesblatt. Wir haben dort versagt und sind unserer politi- unverzichtbar so eine Vorsorge ist, haben die jüngsten
schen Verantwortung nicht gerecht geworden. Deshalb Entwicklungen im Kosovo sehr deutlich gezeigt. Des-
will ich noch einmal betonen, was ich schon im letzten halb sind und bleiben Reservekräfte für KFOR und für
Jahr gesagt habe: Es geht nicht nur um eine Mandatsver- ALTHEA ein wichtiger Bestandteil unserer Planungen.
längerung, sondern es geht darum, dass wir deutlich ma- Insgesamt hat Deutschland seit 1995 mit mehr als
chen: Die Bundesrepublik Deutschland will sich ge- 50 000 Soldaten in Bosnien und Herzegowina gearbeitet
meinsam mit ihren Partnern in der Europäischen Union und damit wesentlich zum Erreichen des Friedens bei-
stärker engagieren. Es wird nach Kroatien kein Ende der getragen. Aktuell beteiligen wir uns im Rahmen des
Erweiterungsfähigkeit und der Offenheit für Erweite- ALTHEA-Mandats nur noch mit fünf Soldaten in den
rung geben. Die, die die Reformen erfüllen, die die Re- Stäben. Wir stellen gemeinsam mit Österreich eines der
gion in eine Region des Friedens und der Demokratie beiden genannten Reservebataillone. Aktuell ist dieses
verwandeln wollen, haben unsere Unterstützung und Bataillon im Kosovo stationiert. Dort wird es wegen der
können der Europäischen Union beitreten. In diesem nicht ganz sicheren Lage voraussichtlich bis zum Jahres-
Sinne würde ich mir wünschen, dass wir über die Dis- ende bleiben.
kussion des Mandats hinaus unsere Anstrengungen ver-
stärken, damit diese Region mitten in Europa Frieden Ich will die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle den
findet und die Menschen dort eine wirkliche Perspektive Soldatinnen und Soldaten, die nun aus der Reserve in
bekommen. Deutschland in den Einsatz auf dem Balkan gerufen
wurden, wie auch den Soldaten in den anderen Einsätzen
Herzlichen Dank. ausdrücklich zu danken. Sie leisten einen wichtigen Bei-
16558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Parl. Staatssekretär Thomas Kossendey


(A) trag zur Stabilisierung des Friedens und damit letztend- von EUFOR/ALTHEA bleibt somit ebenso wichtig wie (C)
lich für den zivilen Übergang. richtig, auch wenn er nicht im Fokus der öffentlichen
Wahrnehmung steht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Ich bitte Sie deswegen um eine breite Unterstützung
SES 90/DIE GRÜNEN) für das Mandat, für unsere Frauen und Männer von der
Bundeswehr, die dort ihren wichtigen Dienst tun.
Nachdem wir bereits 100 deutsche Soldatinnen und
Soldaten aus Bosnien und Herzegowina abziehen konn- Herzlichen Dank.
ten, geht es nun um die Fortsetzung des Einsatzes mit in- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
haltlich unverändertem Mandat, allerdings unter Absen- bei Abgeordneten der SPD)
kung der personellen Obergrenze von 900 auf 800 Sol-
daten. Diese Zahl bietet uns die Möglichkeit, flexibel zu
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
reagieren. Sie beinhaltet einen Anteil von ungefähr
500 Soldaten in dem Reservebataillon. Das gibt uns Das Wort hat jetzt die Kollegin Inge Höger von der
Spielraum, um gegebenenfalls, bei Verstärkungsnotwen- Fraktion Die Linke.
digkeiten, im logistischen Bereich nachzusteuern. (Beifall bei der LINKEN)
Wenn wir uns die Entwicklung der Gesamtzahlen bei
dieser Operation anschauen – von mehr als 50 000 Inge Höger (DIE LINKE):
NATO-Soldaten im Jahr 1996 zu 1 300 Soldaten im Rah- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Land
men von EUFOR –, dann wird deutlich, dass sich die Si- Bosnien-Herzegowina ist eine moderne Kolonie. – Die-
cherheitslage dramatisch verbessert hat. Bosnien und ser Satz stammt nicht von mir. Er stammt von Ismet
Herzegowina macht im Augenblick sogar den ersten Bajramovic, dem Vorsitzenden des Bundes unabhängi-
Schritt, um selber internationale Verantwortung zu über- ger Gewerkschaften im bosnisch-kroatischen Landesteil
nehmen. Das Land beteiligt sich im Augenblick mit Bosnien-Herzegowinas. Herr Bajramovic ist nicht der
54 Soldaten am Einsatz in Afghanistan, entlastet damit Einzige, der das vor Ort so sieht. Ich war im Juni dieses
die Verbündeten, auch uns. Jahres dort und habe mich mit den Menschen in Sarajevo
und Srebrenica unterhalten. Dabei habe ich festgestellt,
Dennoch hat Bosnien und Herzegowina ein gutes dass es eine tiefe Kluft gibt zwischen der lokalen Bevöl-
Stück des Weges noch vor sich; der Außenminister hat kerung und denen, die nicht gern Besatzer genannt wer-
darauf hingewiesen. Wir müssen auch im Interesse der den wollen, aber als solche wahrgenommen werden.
Menschen vor Ort weiter politischen Druck ausüben. Es
(B) fehlt noch immer an den notwendigen Reformen, ein- In den Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern (D)
schließlich einer Verfassungsreform. Es fehlt vor allen der NATO und der EU hatte ich den Eindruck, dieses
Dingen auch an dem Willen zur Bildung einer gesamt- Land würde längst in Schutt und Asche liegen, wenn es
staatlichen Regierung. Ich bekräftige deswegen aus- nicht selbsternannte Helferinnen und Helfer aus den rei-
drücklich den Appell des Außenministers: Ja, die Zu- chen Ländern gäbe, die hier mit Militär und Investitio-
kunft dieses Landes liegt langfristig in der NATO und in nen für Ordnung sorgen. Bei Gesprächen mit Bosnierin-
der Europäischen Union, aber dafür bedarf es der Kom- nen und Bosniern hörte sich alles ganz anders an. Die
promissbereitschaft und letztendlich auch des Dialoges EUFOR-Truppen werden mit Befremden wahrgenom-
zwischen den Volksgruppen, und es bedarf des gemein- men, nicht nur wegen der nächtlichen Truppenübungen,
samen Willens zur Gestaltung einer gemeinsamen mit denen sie in Wohngebieten in Sarajevo für Unmut
Zukunft. Deswegen sind die aktuellen Aufträge von sorgen. Schüsse und Kriegslärm kennen die Leute dort
ALTHEA neben Ausbildungs- und Trainingsaufgaben aus den schlimmen Zeiten der 90er-Jahre nur zu gut. Die
auch weiterhin exekutive Aufgaben zum Erhalt eines si- EUFOR verbessert die unerträgliche Situation im Lande
cheren Umfeldes und zur Unterstützung der bosnisch- nicht; vielmehr zementieren die Truppen diese Situation.
herzegowinischen Autoritäten. Auch deshalb fordert die Linke immer wieder den Ab-
zug der Bundeswehr aus Bosnien.
Außerdem gewährleistet ALTHEA die Unterstüt-
zung für den EU-Sonderbeauftragten und für den Inter- (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand
nationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugosla- [CDU/CSU]: Ich habe den Eindruck, Sie wa-
wien sowie – auch darauf sind wir vorbereitet – ren nicht in Sarajevo!)
gegebenenfalls die Durchführung von Evakuierungs- Banken aus dem Ausland, vorrangig aus Österreich
maßnahmen der internationalen Gemeinschaft. Auch das und Deutschland, kaufen einen Großteil des Landes auf.
ist Teil unserer Verantwortung, die nicht mit dem Abzug Fabriken werden nach den Vorgaben von EU und IWF
der Soldaten endet und letztendlich nicht an den Einsatz privatisiert. Die Arbeitslosigkeit steigt. Nicht nur die
von Streitkräften gebunden ist. 7 Millionen Euro, die dieser Einsatz im nächsten Jahr
kosten wird, sind an der falschen Stelle ausgegeben,
Dieses exekutive Mandat der Operation wird mit re-
auch ein Teil der knapp 100 Millionen Euro im zivilen
duzierter Präsenz in Bosnien und Herzegowina zunächst
Bereich richtet Schaden an; denn dieses Geld dient auch
einmal fortgesetzt werden. Ab 2012 wird sich die Opera-
als Druckmittel für neoliberale Wirtschaftsreformen.
tion vornehmlich auf die Unterstützung der Ausbildung
und die Entwicklung der Fähigkeiten der bosnisch-her- Wer Privatisierungen, Sozialabbau und die Zerschla-
zegowinischen Streitkräfte konzentrieren. Der Einsatz gung des öffentlichen Dienstes auf dem Balkan durch-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16559
Inge Höger
(A) drückt, der hat nichts, aber auch gar nichts von den Ursa- ein echtes Problem, und es ist gut, dass sich auch Minen- (C)
chen der aktuellen Wirtschaftskrise verstanden. Es ist räumerinnen und Minenräumer aus Deutschland hier en-
mehr als fragwürdig, in Bosnien die gleiche Politik gagieren. Den Einsatz deutscher Minenfachleute befür-
durchzusetzen, die Griechenland und Italien gerade in worten wir. Den Einsatz der Bundeswehr in Bosnien
den Ruin treibt. lehnt die Linke jedoch entschieden ab.
(Michael Brand [CDU/CSU]: Sind Sie sicher, (Beifall bei der LINKEN)
dass Sie in Bosnien waren?)
Ziehen Sie die Soldaten ab! Die Menschen in Bosnien-
Im Übrigen sehen die Menschen auf dem Balkan am Herzegowina werden es Ihnen danken.
Beispiel Griechenlands, was ihnen blüht, wenn die von
Minister Westerwelle propagierte euro-atlantische Inte- (Beifall bei der LINKEN – Dietmar Nietan
gration kommt. Sie sollten zumindest so mutig sein, den [SPD]: Da habe ich aber andere Erfahrungen
Leuten nicht länger Sand in die Augen zu streuen. gemacht! – Michael Brand [CDU/CSU]: Wie
viele Soldaten haben wir denn in Bosnien,
Auch gemessen an den Maßstäben der Bundesregie- Frau Höger? Sie sind irgendwo anders ausge-
rung ist dieser Einsatz völlig unnötig. 16 Jahre nach stiegen, aber nicht in Bosnien-Herzegowina!)
Kriegsende brauchen die Bosnier keine militärischen
Bewacher. Die Vorstellung, dass sich Mitglieder der ei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nen Ethnie sicherer vor den Mitgliedern der anderen Eth-
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Keul vom
nie fühlen, weil die Bundeswehr dort stationiert ist, ent-
Bündnis 90/Die Grünen.
behrt jeder realen Grundlage.
(Beifall bei der LINKEN – Dietmar Nietan Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
[SPD]: Sie müssen einmal mit den Bosniaken Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
sprechen!) Kollegen! Die Bundeswehr ist in Bosnien-Herzegowina
– Ich war vor kurzem in Bosnien; das habe ich Ihnen ge- mit gerade noch zwölf Soldaten vor Ort. Wir hoffen alle
rade gesagt. gemeinsam, dass der Militäreinsatz nach 16 Jahren ir-
gendwann sein Ende finden wird. Einige EU-Staaten ha-
(Dietmar Nietan [SPD]: Die sagen mir genau ben ihre Soldatinnen und Soldaten bereits vollständig
das Gegenteil! Ich nehme Sie einmal mit, abgezogen.
wenn ich mit denen spreche!)
Allerdings findet dieser Rückzug gleichzeitig mit ei-
Genau das haben sie gesagt: Die Militärpräsenz verstärkt ner sich ständig verschärfenden politischen Krise statt.
(B) den Eindruck, Bosnien-Herzegowina werde von der EU (D)
Der diesjährige EU-Fortschrittsbericht zeichnet ein düs-
fremdbeherrscht. Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch. teres Bild. Seit den letzten Wahlen im Oktober 2010
EUFOR bildet die bosnische Armee aus, damit sich konnten sich die Parteien nicht auf die Bildung einer ge-
diese in Afghanistan an einem neuen Krieg beteiligen samtstaatlichen Regierung einigen. Die Spaltung zwi-
und neue Probleme schaffen kann. Diese Spirale von schen den drei ethnischen Entitäten hat sich weiter ver-
Militarisierung und Krieg muss endlich durchbrochen schärft. Vermittlungsversuche, ob vonseiten der EU oder
werden. vonseiten der Bundesregierung, sind allesamt geschei-
(Beifall bei der LINKEN) tert. Nun haben auch die Kroaten innerhalb der Födera-
tion im April dieses Jahres ihre eigene Nationalver-
Auch die EU-geführte Polizeitrainingsmission dient sammlung gegründet – ein verheerendes Signal für die
letztlich dem Aufbau einer Polizei, die Proteste nieder- Einheit des Staates.
schlägt und somit den Ausverkauf des Landes unter-
stützt. Der Präsident der Republik Srpska unterstützte offen
die Absetzbewegung der kroatischen Bosnier und drohte,
(Michael Brand [CDU/CSU]: Ach du meine im serbischen Teilstaat ein Referendum abhalten zu las-
Güte! – Florian Hahn [CDU/CSU]: Kommen
sen. Dabei ging es ihm um den Ausstieg aus dem gemein-
Sie doch mal in der Realität an! – Dietmar
samen Justizsystem – eine der wenigen gesamtstaatlichen
Nietan [SPD]: Jetzt wird es wirklich billig!) Strukturen überhaupt. Catherine Ashton reiste im letzten
So wurden zum Beispiel im vergangenen Jahr Demon- Moment nach Banja Luka und musste Dodik für die Ab-
strationen gegen Kürzungen im Gesundheitswesen von sage des Referendums auch noch Zugeständnisse ma-
der Polizei brutal niedergeschlagen. Damit muss endlich chen. Nicht auszudenken, was ein solches Referendum
Schluss sein. für die Existenz des Staates Bosnien-Herzegowina hätte
bedeuten können!
(Michael Brand [CDU/CSU]: Sie waren doch
gar nicht in Bosnien! Sie sind doch ganz wo- In Anbetracht dieser Spannungen ist es nach wie vor
anders gelandet! Ich glaube, auf einem ande- angemessen, für den Krisenfall 500 Einsatzkräfte in ei-
ren Planeten!) nem Reservebataillon bereitzuhalten. Die Höchstgrenze
laut Mandat beträgt vor diesem Hintergrund immer noch
Das Geld, das für den Bosnien-Einsatz ausgegeben
800 Soldatinnen und Soldaten, und das akzeptieren wir.
wird, könnte viel nützlicher für Aufbauprogramme aus-
gegeben werden. Gut angelegt wäre das Geld unter an- Klar ist aber auch, dass die Konflikte nur auf politi-
derem bei der Minenräumung. Minen sind in Bosnien schem Wege gelöst werden können. Kanzlerin Merkel
16560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Katja Keul
(A) hat sich persönlich Anfang des Jahres engagiert, aller- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
dings ohne Erfolg. Das dürfte unter anderem daran lie- bei der CDU/CSU und der SPD sowie der
gen, dass bisher eine konsistente politische Strategie Abg. Helga Daub [FDP])
fehlt, die den ganzen Raum des westlichen Balkans um-
fasst. Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
auf, sich in der EU für ein solches Konzept starkzuma-
chen. Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Florian Hahn von der CDU/CSU-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fraktion.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ganz vorne muss dabei weiterhin die Reform der neten der FDP)
Staatsverfassung stehen. Die im Vertrag von Dayton
festgeschriebene Verfassung hat das Land nicht befrie-
det, sondern die Aufteilung in Volksgruppen befördert. Florian Hahn (CDU/CSU):
Dadurch verhindert sie eine integrierte nationale Regie- Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kolle-
rung. Leider müssen wir konstatieren, dass die EU durch gen! Auch wenn uns in bewegten Zeiten wie diesen nicht
ihre nichtkonsistente Politik ein gutes Stück Verantwor- jeden Tag Nachrichten aus Bosnien und Herzegowina er-
tung dafür trägt, dass sich die Kluft zwischen den Volks- reichen, darf nicht in Vergessenheit geraten, dass wir
gruppen immer mehr vertieft hat. dort ein wichtiges Mandat erfüllen. Gerade in diesem
Zusammenhang dürfen wir vor allem nicht den Einsatz
Wir müssen uns dieser Verantwortung stellen und den
Bosniern signalisieren, dass ihnen weiterhin eine Bei- unserer Soldatinnen und Soldaten, der zivilen Helfer und
trittsperspektive offensteht. Deshalb war es richtig und der Polizisten vergessen. Sie alle sind mit dafür verant-
wichtig, dass Ende letzten Jahres die Visumfreiheit auch wortlich, dass die Region als weitestgehend stabil einge-
für Bosnien eingeführt wurde. stuft werden kann. Sie bündeln die zivil-militärische Zu-
sammenarbeit vor Ort und leisten somit einen wichtigen
Weiterhin müssen wir die Bosnier beim Kampf gegen Beitrag zum Friedenserhalt.
das organisierte Verbrechen und die Korruption wirksam
unterstützen. Denn diese kriminellen Strukturen nutzen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
die bestehenden Konflikte aus, um aus der Instabilität des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/
Profit zu schlagen, und leider stehen sie oft in enger Ver- DIE GRÜNEN])
bindung zur Politik.
Das haben Sie, Herr Bundesminister Westerwelle, noch
An diesem Punkt ist es wichtig, dass die EU ihre Un- einmal deutlich gemacht. Dafür möchte ich Ihnen herz-
(B) terstützung fortsetzt, auch wenn EUPM, die Polizeimis- lich danken. (D)
sion, bis Mitte nächsten Jahres eingestellt wird. Wir for-
dern die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass Ein stabiles Bosnien-Herzegowina liegt in unserem
die EU neue Projekte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit wie auch im elementaren Interesse der Europäischen
und der Strafverfolgung auf den Weg bringt. Es darf in Union. Daher müssen und wollen wir das Land auch
Bosnien nicht der Eindruck entstehen, dass sich die Eu- weiterhin auf dem Weg zu einem demokratischen
ropäische Union angesichts der Krise resigniert zurück- Rechtsstaat begleiten. Unser Ziel muss dabei auch in Zu-
zieht. Dies wäre eine fatale Ermutigung für all jene kunft sein, dass dort ein Staat entsteht, in dem alle Eth-
Kräfte, die darauf hinarbeiten, dass das Land auseinan- nien – Bosniaken, Serben und Kroaten – in Frieden mit-
derbricht. einander leben können. Die Region muss hierfür durch
bi- und multilaterale Hilfe langfristig und nachhaltig sta-
Die Bundesregierung sollte im nächsten Jahr endlich bilisiert werden. Nur so können sich Zukunftsperspekti-
ein starkes politisches Signal setzen und den Westbalkan ven, Wohlstand und Demokratie entwickeln. Das ist die
in das Zentrum ihrer Außenpolitik rücken. Hier kann sie Voraussetzung dafür, dass irgendwann ethnische Aus-
mit ihrem politischen Gewicht wirklich etwas bewegen.
einandersetzungen für immer der Vergangenheit angehö-
Dabei muss sie auch wagen, Druck auf die politischen
ren können.
Kräfte auszuüben. Die EU darf sich nicht mehr von
plumpen Drohungen der Rassisten und Separatisten be- Deutschland engagiert sich seit 1995 im Friedenspro-
eindrucken lassen. zess. Wir unterstützen dabei nachhaltig die zivilen und
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ politischen Bemühungen der internationalen Gemein-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schaft. So können wir heute über eine Aufnahme in die
CDU/CSU) NATO und auch in die Europäische Union zumindest an-
satzweise nachdenken. Ich stehe auch dazu, dass es für
Das führt zu fragwürdigen Kompromissen, die nur die den gesamten westlichen Balkan eine EU-Perspektive
Instabilität verstärken. geben muss.
Seit den Balkankriegen wissen wir wieder, dass der Doch trotz aller Erfolge ist es bis dahin noch ein wei-
Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit ist. Diese ter Weg; denn Bosnien und Herzegowina ist nach wie
Erkenntnis sollte auch 16 Jahre nach Kriegsende An- vor ein großes Sorgenkind auf dem Balkan. So wurde
sporn sein, uns weiter für Frieden und Stabilität auf dem
dort am 3. Oktober 2010 gewählt, doch gibt es seit über
westlichen Balkan einzusetzen.
400 Tagen keine Regierung, und eine Einigung ist bisher
Vielen Dank. auch nicht in Sicht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16561
Florian Hahn
(A) Beim Dialog zu Fragen der Justizreform wollen füh- wünsche ich auf diesem Weg viel Erfolg und Gottes Se- (C)
rende Politiker möglichst wenig Rechtsprechung auf der gen.
Ebene Bosnien-Herzegowinas akzeptieren. Dies stellt in
meinen Augen einen deutlichen Rückschritt auf dem Danke sehr.
Weg hin zu einem demokratischen Rechtsstaat dar. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wenn Rechtsstaatlichkeit nicht im Interesse der Verant- neten der FDP)
wortlichen dort liegt,
(Michael Brand [CDU/CSU]: Nur einiger! Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Nicht von allen!) Ich schließe die Aussprache.
so liegt ein EU-Beitritt auch nicht in unserem Interesse. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Ein glaubhaftes Bemühen, Mitglied der Europäischen Drucksache 17/7577 an die in der Tagesordnung aufge-
Union zu werden, beinhaltet deshalb für mich eine solide führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Regierungsbildung, das Bearbeiten der längst überfälli- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
gen Verfassungsreform sowie die wirtschaftliche Inte- so beschlossen.
gration nach den Regeln der EU.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Bei der Verfassungsreform muss beispielsweise die
menschenrechtswidrige Praxis, dass Minderheiten nicht Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
gewählt werden können, umgehend geändert werden. richts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zu
Bei der wirtschaftlichen Integration in den EU-Binnen- dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster,
markt gilt es, das Beihilfeverbot der EU einzuhalten. Sönke Rix, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weite-
Hierzu ist eine Aufsichtsbehörde notwendig, die das rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
auch nachvollziehbar überwachen kann.
Rechtsextremistische Einstellungen im Sport
Da sich in Bosnien und Herzegowina aber noch große konsequent bekämpfen – Toleranz und Demo-
Teile der Wirtschaft in öffentlicher Hand befinden, ver- kratie nachhaltig fördern
laufen Auftragsvergaben nicht immer zweifelsfrei. Im
– Drucksachen 17/5045, 17/7597 –
Gegenzug sind öffentliche Unternehmen eine Versor-
gungseinrichtung für bestimmte Cliquen. Auch hier Berichterstattung:
braucht es mehr Transparenz, hier sind entsprechende Abgeordnete Klaus Riegert
Gesetze notwendig. Vetternwirtschaft und Korruption Martin Gerster
(B) muss Einhalt geboten werden; denn auf Korruption kann Dr. Lutz Knopek (D)
man keinen modernen Staat aufbauen. Katrin Kunert
Viola von Cramon-Taubadel
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
GRÜNEN) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.
Als weiterer Punkt ist für mich die Durchführung ei-
nes Haushaltszensus von großer Wichtigkeit. Der letzte Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
Zensus wurde 1991 durchgeführt. Die damals erhobenen tem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatsse-
Daten sind obsolet und können keine Basis für die Ge- kretär Dr. Christoph Bergner.
genwart und die Zukunft sein. Gerechtigkeit in der Ver-
teilung und beim Mitspracherecht kann so niemals her- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
gestellt werden. Technisch ist die Durchführung eines
Zensus kein Problem. Das Problem liegt allein im politi- Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim
schen Willen. Bundesminister des Innern:
Meine Damen und Herren, Bosnien und Herzegowina Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl
braucht für eine chancenreiche Zukunft dringend weitere ich aufgefordert bin, hier für die Bundesregierung Stel-
Erfolge. Mit einer Mandatsverlängerung werden wir lung zu nehmen, sei es mir gestattet, ein Beispiel aus der
auch künftig dazu beitragen, dass das Land diese Erfolge Vereinspraxis anzuführen.
realisieren kann. Wir wissen, dass Bosnien und Herzego- Mein eigener Sportverein hat auf seiner letzten Dele-
wina die internationale Präsenz selbst wünscht. Die giertenversammlung eine Satzungsänderung beschlos-
Menschen haben den Wunsch, dass im Notfall eine Re- sen. Die Satzung lautet – ich darf zitieren –: Unser Ver-
serve da ist, die für sie und ihre Sicherheit sorgt. ein
Wir haben das Ziel, die exekutive Operation ALTHEA ist offen für alle sportinteressierten Bürger, unab-
zu beenden und in eine nichtexekutive Ausbildungs- und hängig von ihrer Religion, Weltanschauung, Partei-
Unterstützungsmission umzuwandeln. Die Reduzierung zugehörigkeit und gesellschaftlichen Stellung.
der Mandatsobergrenze ist dafür ein Indikator. Ich werbe
für die Verlängerung dieses Mandats. Unseren Soldatin- So weit war das schon bisher Satzungstext. Nun kommt
nen und Soldaten, den Polizisten und zivilen Helfern hinzu:
16562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner


(A) Er wendet sich entschieden gegen jede Form von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
Rassismus, Chauvinismus, Extremismus und politi- neten der FDP)
scher Willkür.
Ich verweise mit Blick auf die neuen Bundesländer
Die Satzungsänderung, die wir in unserem Verein be- darauf, dass es dem Bundesinnenministerium ein wichti-
schlossen haben, hat einen Hintergrund. Wir haben aus ges Anliegen war, das Programm „Zusammenhalt durch
den Erfahrungen gelernt, die ein anderer Verein unseres Teilhabe“ zu einem Programm zu machen, das die Lan-
Bundeslandes machen musste, als ein Trainer und dessportbünde bei der Bekämpfung extremistischer Ein-
Übungsleiter, der Mitglied der NPD war, seine Vereins- flussnahmen und Bestrebungen im Sport unterstützt.
mitarbeit für Werbung im extremistischen Sinne – So wichtig das Anliegen ist, so sehr ist zu bemängeln,
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dass sich die Antragsteller nicht über den Stand der Ar-
Rechtsextremistisch, muss man sagen!) beit hinreichend informiert bzw. nicht daran angeknüpft
haben. Im Lichte der bereits bestehenden Kampagne ist
– im rechtsextremistischen Sinne – genutzt hatte und der manche der Forderungen, die im Antrag erhoben wer-
Verein große Schwierigkeiten hatte, sich von diesem den, als wenig zielführend zu bewerten.
Trainer und Übungsleiter auf der Basis der bestehenden
Satzung zu trennen. Das gilt zunächst einmal für die Forderung, zeitnah
einen Bericht über verfassungsfeindliche extremistische
Ich nenne dieses Beispiel, um deutlich zu machen, Bestrebungen im Sport, mit konkreten Fallzahlen nach
dass die Sportvereine und -verbände im Rahmen ihrer Bundesländern und Sportarten, vorzulegen. Die Umset-
gesamtgesellschaftlichen Verantwortung hier vor beson- zung dieser Forderung bedeutet nicht mehr und nicht
deren Herausforderungen stehen, dass also das Anliegen, weniger als die Einführung eines verbindlichen Melde-
das mit dem Antrag der SPD-Fraktion zum Ausdruck ge- systems für die Vereine, bei dem bereits unterhalb der
bracht wurde, durchaus als berechtigt gelten kann. Strafbarkeitsschwelle entsprechende Meldungen zu ma-
chen sind. Sie alle, jedenfalls die Mitglieder des Sport-
Aber allein diese Feststellung sollte uns bei der Be- ausschusses, stecken tief im Thema Vereinsverantwor-
wertung und der Behandlung dieses Antrages nicht ge- tung und Vereinsarbeit und wissen, was das für den
nügen. Denn was aus meiner Sicht im Antrag unzurei- einzelnen Verein und die ehrenamtlichen Leitungen be-
chend zum Ausdruck kommt, ist die Anknüpfung an deutet.
entsprechende Bemühungen. Ich nenne insbesondere die
Kampagne „Sport und Politik verein(t) gegen Rechts- Die zweite Forderung, die Aufnahme eines Kapitels
extremismus“, „Extremismus und Sport“ in künftigen Sportberichten,
ist mit dem 12. Sportbericht bereits erfüllt. Wir werden
(B) (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
bei der Diskussion des nächsten Sportberichts die Gele-
NEN]: Aber was ist daraus geworden?) genheit haben, festzustellen, ob die Forderungen ent-
die nicht allein, wie der Antragsteller sagt, eine Kampa- sprechend umfänglich und vollständig umgesetzt wur-
gne der Bundesregierung ist. Kampagnenträger sind ne- den.
ben dem Bundesinnenministerium und dem Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend neten der FDP)
die Bundeszentrale für politische Bildung, die Deutsche
Sportjugend im Auftrag des DOSB, der Deutsche Fuß- Ich erwähne schließlich eine ganze Reihe von Forde-
ball-Bund, die Sportministerkonferenz, die kommunalen rungen, die auf eine finanzielle Unterstützung der Ver-
Spitzenverbände und die Landessportbünde. eine abzielen. Ich muss an diesen Forderungen zum ei-
nen kritisieren, dass sie haushaltsrelevant sind. Sie
Sie alle – das wird bei der weiteren Beratung des An- sollten an anderer Stelle und weniger pauschal gestellt
trags noch bedeutsam werden – wirken bei der Umset- werden. Zum anderen muss ich aber vor allen Dingen
zung der Empfehlungen des Handlungskonzepts mit, das kritisieren, dass sie die Zuständigkeits- und Kompetenz-
der Kampagne zugrunde liegt. Dabei steht die Bekämp- fragen außer Acht lassen, die für die jeweiligen Finan-
fung von Rechtsextremismus zwar im Vordergrund, aber zierungsmodelle nicht ohne Bedeutung sind.
der Initiative geht es um viel mehr: Sie richtet sich auch
gegen jegliche Form von Diskriminierung im Umfeld Es gibt eine Anzahl von Forderungen, die ich als auf
des Sports und legt deshalb einen besonderen Schwer- dem Wege, wenn auch nicht als erfüllt betrachte. Die Ein-
punkt auf die Prävention. führung eines Gütesiegels ist Teil der Handlungsempfeh-
lungen. Die geforderten Ansprechpartner im LSB gibt es
Ich will nur kurz auf die drei wichtigsten Punkte der bereits. Fortbildungsveranstaltungen mit LSB-Vertretern
Kampagne verweisen. Es geht darum, die Vereine für sind schon im Herbst dieses Jahres durch die Deutsche
rechtsextremistische Einflussnahmen, die subtil erfolgen, Sportjugend entsprechend terminiert.
zu sensibilisieren, sie zu motivieren, konsequent gegen
Ich will noch einmal deutlich machen: Ich glaube, es
rechtsextremistische Erscheinungsformen und Diskrimi-
gibt gegen das Anliegen des Antrags keinerlei Ein-
nierung vorzugehen, sich entsprechend fortzubilden und
wände. Im Gegenteil, wir wissen, dass wir es mit einem
gegen Rechtsextremismus zu positionieren und durch
wichtigen Anliegen zu tun haben.
eine Bündelung von Informationen und Vernetzung von
externen Unterstützungsangeboten Vereinen eine ent- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sprechende Hilfestellung zu geben. NEN]: Dann können Sie ja zustimmen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16563

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wegsehen. Politik muss handeln und muss Vorschub (C)
Kommen Sie bitte zum Schluss. leisten, damit das nicht weiter um sich greifen kann.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bundesminister des Innern:
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es ge-
Das ist der letzte Satz, Herr Präsident. schafft, solche Aktivitäten zuweilen aus den großen
Sportarenen zu verbannen. Aber die Frage ist ja: Wie ist
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: es uns gelungen? Hier muss man ganz klar sagen: Das ist
Gut. Bitte. das Verdienst all derjenigen, die sich in den Fanprojek-
ten engagieren, die engagierte Arbeit an der Basis leisten
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim
und andererseits oftmals nicht die notwendige Unterstüt-
Bundesminister des Innern: zung aus der Politik erfahren, weil es noch immer viel zu
viele Kommunen gibt, die nicht erkennen, welcher Wert
Ich möchte an dieser Stelle an Sie alle appellieren, da- dahintersteckt, weil es noch immer viel zu viele Bundes-
für zu sorgen, dass wir die in der Kampagne verfolgten länder gibt, die sich letztendlich schwertun, sich hierbei
Ziele nicht durch ein vordergründiges Einfordern von zu engagieren.
Erfolgsmeldungen, nicht erfüllbaren Beitragspflichten
oder unpräzise formulierten Finanzierungsmaßnahmen Ich will nur das Beispiel Baden-Württemberg nennen:
konterkarieren, sondern dass wir die Maßnahmen dieser Die schwarz-gelbe Landesregierung hat ganz lange ge-
gemeinsamen Kampagne, die von der Bundesregierung braucht, um endlich einzusehen, wie wichtig Fanpro-
nur zu einem Teil betrieben wird, gemeinsam unterstüt- jekte an dieser Stelle sind. Die neue Landesregierung aus
zen. Grünen und SPD hat es im Koalitionsvertrag festge-
klopft: Fanprojekte sind ein ganz wichtiger Bestandteil
Herzlichen Dank. ihrer Politik. Das ist so, und das wird auch so bleiben in
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Baden-Württemberg.
neten der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Seit Jahren fordern wir, die Aufbauarbeit der Koordi-
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster von der nationsstelle Fanprojekte, KOS, in Frankfurt stärker zu
SPD-Fraktion. unterstützen.
(B) (Beifall bei der SPD) (D)
Unverständlich für uns ist, dass diese Woche in der
Presse zu lesen war, dass Bundesinnenminister Friedrich
Martin Gerster (SPD): die Finanzierung dieser Projekte infrage stellt. Wir wis-
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! sen nicht, ob zutrifft, was dort berichtet wurde. Aber ich
Gestern war der 9. November – ein ganz besonderer Tag, hätte mir schon gewünscht, Herr Staatssekretär
in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Tag in der Dr. Bergner, dass Sie die heutige Debatte genutzt hätten,
deutschen Geschichte. Mit Blick auf die Reichspogrom- um klarzustellen, dass eine Reduzierung der Mittel nicht
nacht ist dieser Tag für uns natürlich eine immerwäh- angestrebt wird. Schade! Eine verpasste Chance an die-
rende Mahnung, entschlossen gegen Antisemitismus, ge- ser Stelle.
gen Rassismus, kurz: gegen Menschenfeindlichkeit mit Wir finden, dass es irgendwie unglaubwürdig ist,
all ihren Erscheinungsformen einzutreten und klarzuma- wenn einerseits im Januar der Vorgänger des jetzigen
chen: Nein, so etwas nie wieder! Bundesinnenministers, Herr Thomas de Maizière, und
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem die Familienministerin Frau Schröder sich bei einer gro-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ßen Veranstaltung feiern lassen, wenn sie bei diesem
Event viel ankündigen, wir aber andererseits jetzt in den
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über Zeitungen lesen: Die Finanzierung wird infrage gestellt.
Sport sprechen, dann beschwören wir oft die Fähigkeit Schade! Vielleicht wird das einer der folgenden Redner
des Sports, Menschen zusammenzubringen, Vorurteile noch klarstellen. Wir haben jedenfalls nicht vergessen,
abzubauen und an ihrer Stelle Fairness und Toleranz zu dass vor zehn Monaten zwei Minister in Berlin die Ini-
fördern. Viel weniger sprechen wir über die Gefahren, tiative „Verein(t) gegen Rechtsextremismus“ mit einem
die damit verbunden sind, wenn Sport missbraucht wird: großen Bahnhof vorgestellt haben, und stellen fest, dass
Dann kann das exakte Gegenteil von dem entstehen, was bis jetzt eigentlich noch gar nichts passiert ist. Ich
wir uns vom Sport wünschen. Seit Jahren ist bekannt, glaube, hier wird etwas verwechselt. Ankündigung ist
dass Rechtsextremisten gezielt versuchen, den Sport vor noch nicht gleich Handeln.
ihren ideologischen Karren zu spannen, und die ehren-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
amtliche Tätigkeit im Sportverein nutzen, um ganz ne-
DIE GRÜNEN)
benbei ihre rechtsextreme Propaganda zu verbreiten.
Sportstätten sehen sie als Bühne, um zu provozieren, um Wenn in der Diskussion im Sportausschuss gesagt
rassistische und antisemitische Inszenierungen irgend- wird, der Antrag der SPD-Fraktion habe sich durch Han-
wie zustande zu bringen. Die Politik darf dabei nicht deln erledigt, dann muss ich sagen, dass das einfach
16564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Martin Gerster
(A) nicht zutrifft; denn schon vor über zehn Monaten wurde des Fußballs ist. Rechtsextremisten fokussieren sich auf (C)
zum Beispiel angekündigt, dass ein Gütesiegel für Ver- diesen Sport, da der Fußball in unserer Gesellschaft be-
eine eingeführt wird. Bislang ist noch nichts passiert. sonders stark wahrgenommen wird und sie ein Höchst-
Wir haben im Sportausschuss bei den Vertretern des maß an Öffentlichkeit suchen. Aber auch Kampfsport-
Ministeriums nachgefragt. Da hieß es, in den nächsten vereine und die Kraftsportszene können beispielsweise
Wochen wolle man sich so langsam zusammensetzen betroffen sein.
und überlegen, wie man das irgendwie hinbekommen
könne. Dazu muss ich sagen: Es dauert ganz schön Die Gefahr wurde von den Sportverbänden und der
Bundesregierung erkannt, und gute Maßnahmen wurden
lange, bis irgendetwas auf die Reihe gebracht wird. Die
bereits getroffen. So hat das Innenministerium Anfang
Regierung kündigt viel an, aber es passiert letztendlich
dieses Jahres mit der Auftaktveranstaltung „Foul von
viel zu wenig. Das kritisieren wir. Deswegen haben wir Rechtsaußen – Sport und Politik verein(t) für Toleranz,
den Antrag eingebracht. Wir sagen nicht, dass alles Respekt und Menschenwürde“ eine Initiative gestartet.
falsch ist, was im Januar angekündigt wurde, aber mit Gemeinsam mit dem organisierten Sport hat die Bundes-
der Umsetzung hapert es gewaltig. regierung tragfähige Handlungskonzepte vorgelegt, um
Im Übrigen muss man ganz klar sagen: Sie könnten rechtsextremistische Tendenzen im Sport abzuwehren.
eigentlich jetzt mit gutem Beispiel vorangehen, wenn es Auch hat das Innenministerium gegenüber den Lan-
darum geht, Demokratie und Wertevermittlung voranzu- dessportbünden, wie im Antrag der SPD gefordert, be-
bringen, indem Sie uns zugestehen, dass wir auch im reits die Empfehlung ausgesprochen, Ansprechpartner
Sportausschuss wieder öffentlich über ein solches und Hilfe zur Verfügung zu stellen, was diese teilweise
Thema diskutieren. auch schon umgesetzt haben. Insbesondere der Fußball
zeigt sich auf der Ebene der Landesverbände für diese
Herzlichen Dank. Problematik sensibilisiert.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auch die klassischen Fanprojekte leisten auf diesem
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Feld bereits hervorragende Arbeit. Des Weiteren gibt es
GRÜNEN) inzwischen zahlreiche Faninitiativen wie die „Bunte
Kurve“ oder „Fare Network“, die sich gezielt gegen Ras-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sismus und Diskriminierung im Allgemeinen wehren;
Das Wort hat jetzt der Kollege Lutz Knopek von der denn auch Homophobie stellt ein großes Problem im
FDP-Fraktion. Sport dar.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Europäische Kommission vergibt Zuschüsse an
(B) der CDU/CSU) zwölf transnationale Initiativen – neun davon in (D)
Deutschland – zur Bekämpfung von Gewalt und Intole-
Dr. Lutz Knopek (FDP): ranz im Sport, insbesondere auf der Basisebene. Zusätz-
lich gibt es eine europaweite Aktionswoche gegen Ras-
Könnten Sie das Pult hochdrehen?
sismus, und Vereine und Spieler positionieren sich
öffentlich gegen Rassismus und nutzen ihre Möglichkei-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ten, in ihren Stadien gegen Rassismus vorzugehen.
Das müssen Sie selber machen.
Die von der SPD im Antrag geforderten Initiativen
seitens der Regierung, Verbände, Vereine und Fanclubs
Dr. Lutz Knopek (FDP):
existieren also bereits: organisationsübergreifend und
Mein Vorredner und ich, wir unterscheiden uns in der sogar konkreter und zielgerichteter als nun gefordert und
Größe, aber nicht in unserem Engagement für den Sport. sind bis zum haushaltsrechtlich zulässigen Maß umge-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und setzt. Ich denke nicht, dass es bei einer so großen und
Kollegen! Ich begrüße es, dass die SPD mit ihrem An- breiten gesellschaftlichen Gegenbewegung Aufgabe des
trag auf die ernstzunehmende Gefahr hinweist, dass Bundes ist, hier noch weitere Modellprojekte oder Güte-
Rechtsextremisten Sportvereine gezielt zur Verbreitung siegel zu schaffen. Eher sehe ich hier die Länder und
ihres rassistischen, antidemokratischen und menschen- Kommunen in der Pflicht, die die Gegebenheiten und
verachtenden Gedankenguts nutzen, sei es als aktiver Gefahren vor Ort viel besser kennen, antiextremistische
Sportler, Trainer, Vorstandsmitglied oder Sponsor. Es Initiativen zu unterstützen, zu fördern und eng mit ihnen
freut mich daher, dass dieses wichtige Thema heute zusammenzuarbeiten. In diesem Punkt kann ich dem
Nachmittag im Plenum öffentliches Gehör finden kann. Antrag zustimmen, und ich begrüße es ausdrücklich
– anders als die Linke –, dass die SPD an dieser Stelle ei-
(Beifall im ganzen Hause) nen geweiteten Blick auf andere Formen des Extremis-
mus lenkt.
Gerade der Sport, der Menschen verschiedenster Kul-
turen miteinander verbindet, innerhalb der Gesellschaft Natürlich liegt im Bereich der Vereine der Schwer-
die Integration fördert und Werte wie Toleranz, Respekt punkt klar beim Rechtsextremismus. Allerdings darf
und Fairness vermittelt, muss unbedingt vor antidemo- man vor anderen Formen des gewaltbereiten Extremis-
kratischem und rassistischem Gedankengut geschützt mus, wie Linksextremismus und Islamismus, grundsätz-
werden. Immer wieder blicken wir hier als Erstes auf lich nicht die Augen verschließen.
den Fußball. Ich möchte aber auch darauf hinweisen,
dass Rechtsextremismus im Sport kein reines Problem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16565
Dr. Lutz Knopek
(A) Wir hoffen sehr, dass die heutige Debatte alle, also Knopek, Sie hatten es bereits erwähnt. Meine Fraktion (C)
Politik, Verbände, aber auch die Vereine selbst mit ihren begrüßt darum den Antrag der SPD als Schritt in die
Vereinsmitgliedern stärker für die Problematik des richtige Richtung. Umso bedauerlicher ist es allerdings,
Rechtsextremismus im Sport sensibilisiert und zum Han- dass Union und FDP selbst diesen kleinen Schritt mit fa-
deln motiviert. Wir brauchen noch stärker eine Kultur denscheinigen Begründungen ablehnen. Anstatt mit kon-
des Hinsehens und der Zivilcourage. Je mehr Menschen kreten Maßnahmen dem Rechtsextremismus im Sport
von den Kampagnen und Maßnahmen sowie den An- Paroli zu bieten, belässt es die Koalition leider bei Lip-
laufstellen bei Betroffenheit erfahren, umso stärker kön- penbekenntnissen.
nen wir alle gemeinsam Rechtsextremismus im Sport „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren
vorbeugen und bekämpfen. Worten“, heißt es sinngemäß bei Matthäus.
Mit Blick auf ihren Antrag muss sich die SPD aller- (Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Matthäus war
dings die Frage gefallen lassen, ob sie der Bundesregie- ein Fußballer! Lothar Matthäus!)
rung unterstellt, hier etwas versäumt zu haben. Dabei ist
das Gegenteil der Fall. Das ist unfair und unsportlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, das
Meine Fraktion wird diesen Antrag daher leider ableh- Feld überlasse ich Ihnen gerne. Auch die heutige Politik
nen. muss sich an diesem Maßstab messen lassen. Die Linke
wird darum dem Antrag der SPD zustimmen. Die Forde-
Ich bedanke mich. rung, dauerhafte Förderstrukturen für Verbände und Ver-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – eine zu schaffen, unterstützen wir. Das ist ein ganz kon-
Michael Groschek [SPD]: Der Start war so kreter Vorschlag, auch wenn der Antrag in der Wahl der
gut! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE Begriffe nicht ganz konsistent ist.
GRÜNEN]: Jetzt können wir leider nicht mehr Ich erinnere an dieser Stelle an die Erkenntnisse, die
klatschen!) der Sportausschuss bereits im Jahre 2008 gewonnen hat.
Damals erklärte der Sachverständige Martin Endemann
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: vom Bündnis Aktiver Fußballfans in der Anhörung zu
Das Wort hat der Kollege Jens Petermann von der Extremismus im Sport: Mir ist nicht bekannt, dass es in
Fraktion Die Linke. Deutschland ein großartiges Problem mit linksextremis-
tischen Fußballfans gebe. Insofern halte ich den Titel
(Beifall bei der LINKEN) dieser Veranstaltung für falsch; es sei denn, man macht
den Fehler, antirassistisches Engagement in irgendeiner
Jens Petermann (DIE LINKE): Weise mit linksextremistischer Politik verknüpfen zu
(B) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen wollen. – Übrigens hat sich der DFB-Präsident Theo (D)
und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zwanziger diese Position in der gleichen Sitzung zu ei-
Zahlen sind erschreckend: In den letzten 20 Jahren ha- gen gemacht.
ben 137 Menschen ihr Leben durch rechtsextremistische Im Bereich Fußball bestehen sicherlich die größten
Straftaten verloren. Sie wurden Opfer antisemitischer, Probleme, aber Rassismus und Diskriminierung gibt es
fremdenfeindlicher und rassistischer Gesinnungstäter. auch in anderen Sportarten, manchmal offensichtlich,
Derartige Einstellungen finden sich in vielen gesell- manchmal aber auch im Verborgenen. Bedingungsloser
schaftlichen Bereichen – leider auch im Sport. Sie stel- Einsatz gegen den Rechtsextremismus in unserer Gesell-
len eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Darum müs- schaft muss über Konzepte auf geduldigem Papier hin-
sen wir uns immer wieder damit auseinandersetzen – ausgehen. Ich empfehle darum Union und FDP, einmal
auch hier und heute im Deutschen Bundestag. beim Bürgermeister in Hildburghausen zu hospitieren.
Die Zusammenarbeit von Politik und zivilgesell- Ich setze mich gerne dafür ein, dass Sie dort kurzfristig
schaftlichen Strukturen ist hier ein erfolgreiches Agieren einen Termin bekommen, und bedanke mich für Ihre
gegen die Gefahr von rechts außen und ohne Alternative. Aufmerksamkeit.
Ein Beispiel dafür ist die thüringische Kreisstadt Hild- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
burghausen. Dort hatte ein bekennender Neonazi einen Sönke Rix [SPD])
Fußballverein gegründet, der als rechtes Sammelbecken
diente. Durch zivilgesellschaftliches Engagement ist es
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
gelungen, den Verein von der Bildfläche zu verbannen.
Die Stadt Hildburghausen – übrigens mit einem linken Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar vom Bünd-
Bürgermeister an der Spitze – hat dem Verein den Zu- nis 90/Die Grünen.
gang zu Sportanlagen untersagt. Der Kreissportbund hat
dem Zusammenschluss die Anerkennung als Verein ver- Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
wehrt, und das örtliche Bündnis gegen Rechtsextremis- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
mus, in dem unter anderem Vertreter von Kirchen, Par- wurde schon gesagt: Neonazismus und Rechtsextremis-
teien und Gewerkschafter organisiert sind, hat vorbild- mus sind ein gesamtgesellschaftliches Problem, das im-
liche zivilgesellschaftliche Aufklärungsarbeit geleistet. mer wieder auch im Sport vorkommt. Deshalb bin ich
den Kolleginnen und Kollegen der SPD dankbar, dass
Rechtsextremismus im Sport ist ein sehr ernstzuneh- sie diesen Antrag eingebracht haben.
mendes Phänomen. Das zeigt eine endlose Kette von
Vorfällen insbesondere im Umfeld des Fußballs; Kollege (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
16566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Monika Lazar
(A) Sie haben den Ball aufgenommen, den wir ihnen in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
letzten Wahlperiode mit unserem Antrag zugespielt ha- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
ben. KEN)
(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Abgeschrieben!) Das Förderprogramm „Zusammenhalt durch Teil-
habe“ ist ebenfalls schon angesprochen worden. Die da-
Unseren damaligen Antrag „Alle Formen von Diskrimi-
zugehörigen Modellprojekte unterstützen wir. Allerdings
nierungen thematisieren“ hatten Sie leider abgelehnt. Al-
ist auch bei diesem Programm zu kritisieren, dass der
lerdings sehen wir mit Freude, dass Sie in Ihrem jetzt
unklare, unwissenschaftliche Extremismusbegriff immer
vorgelegten Antrag durchaus viele unserer damaligen
wieder verwendet wird. Dieser Umstand erschwert die
Forderungen teilen.
ohnehin schwierige praktische Arbeit. Ebenso ist zu kri-
Der Sport hat einen hohen Stellenwert in unserer Ge- tisieren, dass die Dauer des Programms nur befristet ist.
sellschaft – da sind wir uns wahrscheinlich alle einig. Al- Das ist ein generelles Problem. Ich erinnere nur an das
lerdings ist der Sport nicht automatisch tolerant und inte- ausgelaufene Modellprojekt „Am Ball bleiben“. Dort
grativ. Wir müssen uns da immer wieder engagieren. Ich wurden tolle Sachen gemacht, aber das Programm läuft
persönlich habe schon häufig erlebt, wie Initiativen, die aus; alles wird abgeheftet, und es folgt leider nichts.
sich für Toleranz im Sport einsetzen, von anderen Verei-
Wir müssen nicht jedes Mal das Rad neu erfinden;
nen oder Verbänden argwöhnisch beäugt werden. Sie
aber wir sollten uns endlich alle zusammensetzen und
werden sehr schnell als Nestbeschmutzer beschimpft,
nachhaltige Konzepte entwickeln, inklusive Finanzie-
oder es wird gesagt, sie würden unnötigerweise die Poli-
rung.
tik in den Sport hineintragen. Deshalb möchte auch ich
auf das Engagement von Theo Zwanziger verweisen, der Ganz zum Schluss an all diejenigen, die den Antrag
sich diesbezüglich immer sehr explizit äußert: ob in der heute ablehnen werden: Ihnen empfehle ich die Lektüre
Anhörung des Sportausschusses oder auch sonst bei vie- des Buches „Angriff von Rechtsaußen – Wie Neonazis
len anderen Gelegenheiten. Diese Appelle müssen insbe- den Fußball missbrauchen“ von Ronny Blaschke. Dort
sondere im Breitensport gehört und umgesetzt werden. können Sie alle möglichen Beispiele noch einmal nach-
Viel zu häufig wird vor Ort gesagt, das schaffe man nicht, lesen, zum Beispiel den von Herrn Bergner erwähnten
es wird auf das Prinzip der Subsidiarität verwiesen oder Fall Battke und den Fall in Hildburghausen, den der Kol-
auf die Überlastung des Ehrenamtes hingewiesen. lege Petermann genannt hat. Es gibt auch ein großes Ka-
pitel zum Thema Leipzig, wo es in der Auseinanderset-
Politik ist bei dieser Thematik ebenso gefragt. Die
zung große Probleme gibt. Lesen bildet! Wenn Sie heute
Initiative „Verein(t) gegen Rechtsextremismus“ wurde ja
nicht zustimmen, kommen wir vielleicht zu einem ande-
schon von verschiedenen Vorrednern angesprochen.
(B) ren Zeitpunkt zu einer gemeinsamen Position. (D)
Auch ich kann allerdings nur sagen: Außer markigen
Worten ist bis jetzt leider nichts weiter erfolgt. Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Der Präsident des DOSB, Thomas Bach, schilderte, dass bei der SPD und der LINKEN)
man gegen rechtsextreme Einstellungen im Sport konse-
quent vorgehe. Der DOSB hätte – ich zitiere – „diesen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Tendenzen bereits vor Jahren den Krieg erklärt“. Das Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Frank Steffel von
waren klare Worte, doch nach fast einem Jahr müssen der CDU/CSU-Fraktion.
wir konstatieren: Es waren wohl eher, um im Jargon zu
bleiben, leere Patronenhülsen. Das Programm mag noch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
so schön zu lesen sein; wir würden im Bundestag gerne
mehr über die Umsetzung erfahren. Wenn die entspre- Dr. Frank Steffel (CDU/CSU):
chenden Ministerien der Bundesregierung mehr wissen, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
könnte man uns ja in den Ausschüssen dahin gehend in- ren! Wir begrüßen es, um das gleich vorneweg zu sagen,
formieren. dass es seit Anfang dieses Jahres das gemeinsame Pro-
gramm „Verein(t) gegen Rechtsextremismus“ gibt – ein
Wir haben in den vergangenen Jahren insbesondere Programm der Bundesregierung, mehrerer Ministerien,
auch bei den Fanprojekten sehr viel gemacht, mittler- der Sportminister der 16 Bundesländer, der Landessport-
weile in allen Bundesländern. In Sachsen hat es wie in bünde, des DOSB, des DFB, der Deutschen Sportjugend,
Baden-Württemberg – Letzteres wurde ja schon ange- der kommunalen Spitzenverbände und vieler anderer.
sprochen – lange Jahre gedauert, bis etwas unternommen Unabhängig davon, was wir im Detail kritisieren können
wurde. Es musste erst etwas Schlimmes passieren, bis – das mag ja zum Teil sogar einen –, sind wir dankbar,
sich die sächsische Landesregierung dazu durchgerun- dass sie alle sich darauf verständigt haben, diesem wich-
gen hat. Von daher sind die geplanten Kürzungen bei der tigen Thema die Bedeutung beizumessen, die wir ihm
KOS in keiner Weise nachvollziehbar. Es kann einfach heute zu Recht auch im Deutschen Bundestag zuerken-
nicht sein, dass man sagt, hier werde Geld verschwendet. nen.
Hier wird gute Arbeit geleistet. Wir brauchen eher mehr
davon als weniger. Von daher ist insbesondere die sozial- Es gibt Themen, die sich wenig für parteipolitischen
pädagogische Arbeit in diesen Bereichen auszuweiten. Dissens eignen. Deswegen haben wir Ihren Antrag, Herr
Hier darf es keine Kürzungen geben. Gerster, im Sportausschuss sehr ausführlich beraten. Wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16567
Dr. Frank Steffel
(A) sind in der Tat in einigen der acht Punkte, die Sie ergän- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
zend vorschlagen, nicht Ihrer Auffassung und werden
den Antrag heute ablehnen müssen, weil das nun einmal Ich möchte noch einen Punkt aufgreifen, bei dem ich
das parlamentarische Verfahren ist. Wir lassen uns des- manchmal das Gefühl habe, wir laufen ein wenig in die
wegen aber nicht unterstellen, wir würden das Thema falsche Richtung. Wir haben in den Vereinen Ehrenamt-
nicht ernst nehmen oder gar uns nicht ernsthaft darum liche, die sich mit vielen Dingen hoffentlich gut ausken-
bemühen, unseren Vereinen dabei zu helfen, sich vor nen: mit den Regeln, mit Trainingsmethoden und damit,
Rechtsradikalen und Rechtsextremen zu schützen. wie man die Vereinskasse ordentlich führt. Wir sollten
uns aber alle gemeinsam davor hüten, diesen Ehrenamt-
Denn, meine Damen und Herren, darum geht es im lichen, die für unsere Gesellschaft eine wichtige Arbeit
Wesentlichen. Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, leisten, durch immer neue Auflagen, durch immer neue
der deutsche Sport, gar der deutsche Vereinssport oder Prüfungen und durch immer neue Bürokratie die Erfül-
wesentliche Teile der Ehrenamtlichen, die im deutschen lung ihrer Aufgaben zu erschweren.
Vereinssport tätig sind, seien rechtsradikal oder hätten
verdeckt rechtsradikale Empfindungen. Ich empfehle, sehr genau hinzuschauen sowie für To-
leranz, Fairness und Respekt zu werben. Wir müssen die
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: integrierende Bedeutung des Sports für unsere Gesell-
Das sagt ja niemand!) schaft betonen und die Initiative, auf die der Herr Staats-
– Ich will das nur klarstellen, Frau Kollegin. Ich habe da sekretär schon hingewiesen hat, unterstützen. Wo es Pro-
überhaupt keinen Dissens gehört. Aber viele Hundert- bleme gibt, müssen wir sie gezielt in Zusammenarbeit
tausend Menschen hören heute zu oder erfahren das, was mit den Landessportbünden und den Fachverbänden an-
wir hier besprechen, auf anderem Wege. Insofern will gehen.
ich deutlich machen: In den Vereinen sind zu 99,9 Pro- Sie haben es vielleicht mitbekommen, dass während
zent Menschen tätig, die für Toleranz, für Menschen- eines Auswärtsspiels von Tennis Borussia, einem Berli-
rechte, für Respekt, für Fairness und für all das werben, ner Fußballverein mit jüdischen Wurzeln, das am vor-
was uns auch hier verbindet. letzten Wochenende stattfand, Leute auf den Platz gelau-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fen sind, rechtsradikale Parolen geschrien und Gewalt
ausgeübt haben. Diese waren übrigens nicht Mitglieder
Nun gibt es offensichtlich ein Problem. Viele junge des gastgebenden Vereins. Deswegen dürfen wir nicht
Menschen engagieren sich sehr stark in Vereinen; den Eindruck erwecken – ich nenne deshalb den Namen
50 Prozent unserer Jugendlichen sind in Sportvereinen. des betroffenen Vereins nicht –, dass der Verein, der
Diese jungen Menschen sind natürlich ein guter Nährbo- Gastgeber dieser Veranstaltung war, für irgendetwas,
(B) den für politische Strömungen, die versuchen, Menschen was auf dem Sportplatz passiert ist, verantwortlich ist. (D)
in die Irre zu führen, die mit Fremdenfeindlichkeit, mit
Ausgrenzung, mit all den Dingen, die wir in unserem de- Der Sport und die Sportvereine werden missbraucht;
mokratischen Spektrum eben nicht wollen, versuchen, ihnen wird Schaden zugefügt. Wir müssen gemeinsam
diesen Menschen einfache Antworten zu geben und da- schauen, wie wir den Vereinen helfen können. Es handelt
mit vielleicht auch von Alltagsproblemen abzulenken. sich um ein bedauerliches gesellschaftliches Phänomen.
Insofern sind wir gut beraten, den Vereinen zu helfen Wenn die Berichte des Bundesinnenministeriums zutref-
– die Bundesregierung und die Initiative tun das – und fen, können wir feststellen, dass der Rechtsradikalismus
sie übrigens auch zu ermutigen – auch diesen Aspekt in Deutschland insgesamt deutlich abgenommen hat.
möchte ich herausarbeiten –, sich dazu zu bekennen, Das ist gut so. Aber in den Vereinen müssen wir die Ju-
wenn sie ein solches Problem in ihrer ehrenamtlichen gendlichen vor diesen Gefahren schützen. Deshalb un-
Trainer- oder Betreuerschaft haben. Das ist doch ein terstützen wir die Bundesregierung und die Verbände bei
wirkliches Problem bei diesem Thema. Wenn ein Verein ihrer Arbeit.
sagt, er habe bei einem Jugendtrainer festgestellt, dass er
Wir halten es für angezeigt, dass wir über dieses
beispielsweise Mitglied der NPD ist und dass er mit jun-
Thema nicht streitig diskutieren. Wir müssen vielmehr
gen Menschen nicht so arbeitet, wie der Verein sich das
deutlich machen, dass wir gemeinsam alles dafür tun,
vorstellt, dann führt das zu einer medialen Ächtung und,
dass sich unsere Vereine gegen diese Menschen, die
möchte man fast sagen, zu einer gesellschaftspolitischen
keine Toleranz, keine Fairness und keinen Sportsgeist
Hinrichtung des Vorstandes des Vereins und der anderen
zeigen, aktiv wehren können. Ich habe den Eindruck,
ehrenamtlichen Trainer. Es entsteht außerdem der Ein-
dass wir da auf einem besseren Wege sind als in den letz-
druck, der gesamte Verein habe jahrelang bewusst weg-
ten Jahren.
geschaut, was dazu führt, dass Eltern ihre Kinder aus
dem Verein herausnehmen. So dürfen wir uns nicht wun- Herzlichen Dank.
dern, dass die Vereine sagen: Wenn das die Konsequenz
ist, dann vertuschen wir diese Vorkommnisse und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schweigen das Thema lieber tot. – Daher möchte ich
heute meine Rede dazu nutzen, nicht nur allgemeine Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
kenntnisse abzugeben, sondern an uns und an die Me- Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
dien zu appellieren, die Vereine, die den Mut haben, ein das Wort der Kollege Sönke Rix von der SPD-Fraktion.
solches Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, zu un-
terstützen. Das ist ein wichtiger Aspekt dieser Debatte. (Beifall bei der SPD)
16568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) Sönke Rix (SPD): Sie unserem Antrag zu. Machen Sie mit. Arbeiten Sie (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! diese Punkte gemeinsam mit uns ab, wenn sie doch so
Erst einmal möchte ich feststellen, dass es heute nicht schlecht gar nicht sind. Dann können wir ein gemeinsa-
darum geht, dass Fußballfans – teilweise handelt es sich mes Zeichen gegen Rechtsextremismus im Sport setzen.
um Hooligans – bei Bundesligaspielen Spieler mit Mi-
grationshintergrund beleidigen, wie wir es öfter im Fern- Herzlichen Dank.
sehen beobachten können. Es geht vielmehr darum, wie (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
gerade bei den kleinen Vereinen vor Ort mit dem Thema BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Menschenverachtung, Rassismus und Rechtsextremis-
mus umgegangen wird. Dass das im Sport genauso wie
in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen ein wichti- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ges Thema ist, muss uns allen bewusst sein. Ich schließe die Aussprache.
Herr Bergner und Herr Steffel, Sie haben auf die gu- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus-
ten Ansätze, die mit den Projekten verbunden sind, hin- schusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
gewiesen. Sie haben das Programm „Zusammenhalt Titel „Rechtsextremistische Einstellungen im Sport kon-
durch Teilhabe“ und die Fanprojekte gelobt. Sie spre- sequent bekämpfen – Toleranz und Demokratie nachhal-
chen von einer guten Arbeit vor Ort. Dem schließen wir tig fördern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
uns an und danken den Ehrenamtlichen herzlich für ihre schlussempfehlung auf Drucksache 17/7597, den Antrag
Arbeit. der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5045 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
Ich sage auch einen herzlichen Dank dafür, dass wir lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
diese Arbeit hier gemeinsam unterstützen. Wir sind uns Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – –
darin einig, dass es sich um eine Aufgabe handelt, der
(Unruhe)
wir uns ständig stellen müssen. Aber weil wir uns dieser
Aufgabe ständig stellen müssen, ist unser Antrag ein – Wollen Sie Ihr Abstimmungsvotum ändern? – Ich wie-
Beitrag dazu, neue Impulse zu setzen. Diese vermisse derhole die Abstimmung. Wer stimmt für diese Be-
ich aber auf der Seite der schwarz-gelben Koalition. Hier schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hätten Sie doch sagen können: Wunderbar, die Sozialde- hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
mokraten haben einen Antrag eingebracht. In der Bewer- Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
tung der Lage sind wir uns einig und auch darüber, dass der Oppositionsfraktionen angenommen.
(B) wir gute Projekte haben. Wie aber machen wir gemein- (D)
sam weiter? – Das fehlt auf der schwarz-gelben Seite. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-
Hierzu hätte ich heute etwas mehr von Ihnen erwartet. nung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
LINKEN) diese jetzt als Zusatzpunkt 15 aufzurufen. Sind Sie damit
Die Frage, wie wir für Menschlichkeit und Toleranz einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-
werben können, ist nicht nur im Sport wichtig, sondern schlossen.
insbesondere auch in der Jugendpolitik. Das ist ein sehr Somit rufe ich den Zusatzpunkt 15 auf:
wichtiges Thema. Ich vermisse in der Debatte über diese
Frage aber noch ein Zweites, nämlich die Gesamtstrate- Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
gie der Bundesregierung dazu. In den einzelnen Häusern schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
gibt es viele unterschiedliche und gute Ansätze, was schäftsordnung (1. Ausschuss)
meistens in den Haushaltstiteln zum Ausdruck kommt.
Wie aber die Gesamtstrategie der Bundesregierung für Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
diesen Bereich aussieht, ist auch heute wieder nicht eines Strafverfahrens
deutlich geworden. Ich bitte Sie, hier noch einmal nach- – Drucksache 17/7682 –
zuarbeiten. Dann freuen wir uns auf die weitere Diskus-
sion. Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
(Beifall bei der SPD) empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
Schließlich ist heute noch einmal deutlich geworden, sache 17/7682, die Genehmigung zur Durchführung eines
dass den Projekten die Nachhaltigkeit fehlt. Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
NEN]: Ganz genau!)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a und b auf:
Nicht umsonst wollen wir die neuen Impulse starten und
erneut über das Thema reden; denn es passiert immer a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
wieder, dass gute Projekte auslaufen und leider nicht richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus-
weitergeführt werden. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen schuss)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16569
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) – zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, Beratungen in den Fachausschüssen des Deutschen Bun- (C)
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN destages unter Federführung des Verteidigungsausschus-
ses, mit der sie aufgefordert wird, zu prüfen, ob zur
Ausgleich für Radargeschädigte der Bun- umfassenden Wahrung der Fürsorgepflicht für alle Bun-
deswehr und der ehemaligen NVA deswehrangehörigen – aber auch für die ehemaligen An-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer gehörigen der Nationalen Volksarmee der DDR – eine
Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. Stiftung oder ein Fonds eingerichtet werden kann, um in
Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der besonderen Härtefällen auch außerhalb des geltenden
Fraktion der SPD Rechts finanzielle Unterstützung leisten zu können.
Ausgleich für Radargeschädigte der Bun- Nach Auffassung der Bundesregierung sollten mit
deswehr und der ehemaligen NVA voran- dem beabsichtigten Ausgleich auch Härtefälle erfasst
bringen werden, die außerhalb der Radarproblematik in Aus-
übung des Dienstes in der Bundeswehr entstanden sind
– zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes und vermutlich bedauerlicherweise entstehen werden.
Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer Ich denke hier vor allem an Schädigungen, die im Rah-
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- men der Auslandseinsätze der Bundeswehr entstanden
NIS 90/DIE GRÜNEN sind, hier vor allem an diejenigen, die unter psychischen
Umfassende Entschädigung für Radar- Erkrankungen wie zum Beispiel einer Posttraumatischen
strahlenopfer der Bundeswehr und der Belastungsstörung leiden. Ich darf bei dieser Gelegen-
ehemaligen NVA heit stellvertretend für alle Mitglieder des Hauses der si-
cherheitspolitischen Sprecherin der FDP-Fraktion, Frau
– Drucksachen 17/7354, 17/5365, 17/5373, 17/7553 – Hoff, danken, die sich beim Thema PTBS sehr intensiv
Berichterstattung: eingebracht hat.
Abgeordnete Karin Strenz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ullrich Meßmer
Burkhardt Müller-Sönksen Um eine solche Unterstützung bei individuellen Här-
Inge Höger tefällen zu ermöglichen, ist die Errichtung einer Stiftung
Agnes Malczak geplant. Das Soldatenhilfswerk der Bundeswehr, eine
bekannte guttätige Einrichtung, hat sich in Vorgesprä-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- chen grundsätzlich bereit erklärt, bei Vorliegen der Vo-
richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- raussetzungen eine solche Stiftung unter seinem Dach
(B) schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Inge und in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesministe- (D)
Höger, Paul Schäfer (Köln), Kathrin Vogler, wei- rium der Verteidigung zu errichten. Hierfür spreche ich
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE dem Soldatenhilfswerk an dieser Stelle meinen aus-
Umfassende Entschädigung für Radarstrah- drücklichen Dank aus.
lenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
NVA und ziviler Einrichtungen SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
– Drucksachen 17/5233, 17/6556 – GRÜNEN)

Berichterstattung: Eine solche Tätigkeit ist nicht ganz einfach, weil erheb-
Abgeordnete Karin Strenz liche finanzielle Volumina bewegt und Entscheidungen
Ullrich Meßmer im Einzelfall getroffen werden müssen, die von erheb-
Burkhardt Müller-Sönksen licher Tragweite für die Betroffenen sind.
Paul Schäfer (Köln) Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages
Agnes Malczak hat in seiner Sitzung vom 27. Oktober dieses Jahres
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die empfohlen, im Haushalt des Jahres 2012, in unserem
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- Einzelplan 14, eine Summe von 7 Millionen Euro für
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- eine mögliche Stiftungslösung vorzusehen. Ich komme
schlossen. gerade von der Bereinigungssitzung des Haushaltsaus-
schusses und durfte die frohe Nachricht mitnehmen, dass
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem zwischenzeitlich die letzten Hürden genommen worden
Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Christian sind.
Schmidt das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär beim Bun- Kollegin Hoff, es ist ein Zufall, dass diese Bereinigungs-
desminister der Verteidigung: sitzung vor unserer Debatte stattgefunden hat und ich
Herr Präsident! Mein Kolleginnen und Kollegen! Die dem Hauptberichterstatter Ihrer Fraktion, Herrn
heutige Debatte des gemeinsamen Antrags der Fraktio- Koppelin, sowie den Kolleginnen und Kollegen der
nen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Fraktionen der Koalition, aber auch der Opposition für
Grünen ist eine wichtige Debatte. Die Bundesregierung die Unterstützung danken darf. Ich möchte sowieso sa-
begrüßt ausdrücklich das Ergebnis der vorangegangenen gen: Bei diesem Thema, das sich seit 12 oder 13 Jahren
16570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Parl. Staatssekretär Christian Schmidt


(A) in der politischen Diskussion befindet, stehen wir alle in Ullrich Meßmer (SPD): (C)
einer Verantwortung, sei es eine parlamentarische Ver- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
antwortung oder eine Regierungsverantwortung; wir ha- innerhalb kürzester Zeit jetzt zum zweiten Mal Gelegen-
ben mit erheblichem Engagement und Maß versucht, uns heit, eine parlamentarische Initiative auf den Weg zu
den entsprechenden Fragen zu stellen. bringen, die den Menschen nützt.
Die Diskussionen sind nun zu einem gewissen Ab- Nach dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz
schluss gekommen; das ist erfreulich. Wir werden nicht bringen wir jetzt eine Initiative auf den Weg, die weite-
nur die Empfehlungen der Radarkommission eins zu ren Menschen, die vielleicht nicht im Auslandseinsatz
eins umsetzen; es kommt ein weiteres Instrument hinzu, waren – Herr Staatssekretär, das reicht zum Teil weiter
das mit Blick auf die Fürsorge angewendet werden kann. zurück –, helfen soll, ihre Ansprüche zu befriedigen.
Die entsprechenden Gelder müssen sicherlich mit Au- Seit über elf Jahren beschäftigen sich die Fraktionen
genmaß und verantwortungsbewusst verteilt werden; sie dieses Hauses mit einem Ausgleich für radargeschädigte
müssen ihre Wirkung entfalten können. Wir werden über Soldatinnen und Soldaten der ehemaligen NVA und der
eine reine Stiftungslösung hinausgehende Vorschläge Bundeswehr. 2003 veröffentlichte die Radarkommission
zur Verbesserung der Situation von Radargeschädigten ihren Bericht, entwickelte dazu Kriterien und Vorschläge
sorgfältig prüfen. Ohne das Ergebnis vorwegnehmen zu und zeigte Wege auf.
wollen, möchte ich zu der Aufforderung, eine finanzielle
Beteiligung der Gerätehersteller an solch einer Stiftung Problematisch gestaltete sich, wie mir als Parlaments-
zu erreichen, jedoch sagen, dass dies zwar angestrebt neuling berichtet worden ist, allerdings nicht die Frage
und gefordert wird, wir uns aber, wie ich meine, nicht des Willens, sondern, wie es so oft der Fall ist, der Um-
von unserem Weg abbringen lassen dürfen, indem wir setzung. Besonders gut wissen das unsere Kolleginnen
Bedingungen aufstellen, die ein baldiges Wirken der und Kollegen aus dem Petitionsausschuss. Immer wieder
Stiftung verhindern würden. schreiben ehemalige Soldatinnen und Soldaten, wie
schwierig und vor allem wie langwierig es ist, eine
Hinsichtlich der Empfehlungen aus dem Bericht der Wehrdienstbeschädigung nachzuweisen oder anerken-
Radarkommission kann ich versichern, dass wir diese nen zu lassen.
eins zu eins umsetzen. Wir haben eine erhebliche Zahl
von Fällen, die bereits verbeschieden sind. Darüber hi- Deshalb gibt es eine Erwartungshaltung der Geschä-
naus kann ich versichern, dass wir Entscheidungsspiel- digten an uns – ich finde: zu Recht. Sie verweist auf un-
räume, beispielsweise bei Doppelkausalitäten, im Sinne sere Fürsorgepflicht. Ich zitiere aus unserem vorliegen-
der Betroffenen nutzen, ohne im Einzelfall nachzuprü- den fraktionsübergreifenden Antrag:
(B) fen, ob wirklich eine Kausalität besteht. Das ist eine Der politische Wille, den auf Grund ihrer Strahlen- (D)
Frage, die sich über das soziale Entschädigungsrecht hi- exposition Erkrankten möglichst zügig und unbüro-
naus entwickelt. Das müssen wir wissen. kratisch zu helfen, ist fraktionsübergreifend vorhan-
den.
Genauso gehört dazu, dass sich der jetzige Sachver-
ständigenbeirat „Versorgungsmedizin“ beim Bundes- Ich sage deutlich: Jeder fraktionsübergreifende An-
ministerium für Arbeit und Soziales fortentwickelt und trag, meine Damen und Herren, ist ein Kompromiss,
dort neue Prüfungen von über das evidenzbasierte Wis- aber auch ein fraktionsübergreifender Konsens. Ich
sen hinausgehenden Vorgaben erforderlich sind, um bei- glaube, dass er auch ein Stück weit in die Zukunft ge-
spielsweise bei der CLL, der chronischen lymphatischen richtet ist. Angesichts der schon angesprochenen Zeit-
Leukämie, oder bei benignen Tumoren zu möglicher- knappheit war dies ein notwendiger Weg.
weise neuen Bewertungen zu kommen. Diese werden
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dann selbstverständlich einfließen.
der CDU/CSU)
Ich hoffe, dass wir aus dem Bereich Radar nicht wei- Vor uns liegen klare Verbesserungen der jetzigen Si-
tere neue Fälle von Soldatinnen und Soldaten dazube- tuation:
kommen, die Schäden davongetragen haben. Ich meine,
dass das Instrument einer Stiftung für die Fürsorge, die Erstens. Die Möglichkeit, dass bereits abgelehnte
wir unseren Soldatinnen und Soldaten angedeihen lassen Fälle als Härtefälle positiv im Sinne der Antragsteller
müssen, eine ganz wichtige Errungenschaft ist. beschieden werden können.

Dafür möchte ich mich noch einmal bei allen Bericht- Zweitens. Eine mögliche Beteiligung der Geräteher-
erstatterinnen und Berichterstattern sowie beim Haus für steller an einem Ausgleich.
die Unterstützung und die Aufforderungen bedanken. Drittens. Eine klare Aufforderung auch an die Ver-
waltung, die Umsetzungspraxis weiter im Interesse der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Betroffenen zu verbessern.
Viertens. Die Absicht, auch weiterhin neue wissen-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
schaftliche Erkenntnisse in der Anerkennungspraxis zu
Das Wort hat der Kollege Ullrich Meßmer von der berücksichtigen.
SPD-Fraktion.
Fünftens. Die Aufforderung, ein Expertengremium
(Beifall bei der SPD) für Zweifelsfälle einzurichten, das auch vermitteln kann.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16571
Ullrich Meßmer
(A) Sechstens. Eine jährliche Berichtspflicht der Bundes- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (C)
regierung zur Kontrolle der Fortschritte. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was bedeutet das konkret? Erstens. Bereits abge- Ich weiß, dass in dem Antrag nicht alle Wünsche bis
lehnte Anträge – ich hatte bereits darauf hingewiesen – zum Letzten erfüllt worden sind, zum Beispiel in der
erhalten erneut eine Chance. Hier fordert der Antrag ein- Frage der Beweislastumkehr bzw. der Erleichterung von
deutig, dass im Zweifelsfall großzügig verfahren werden Anerkennung weiterer Krankheitsbilder oder der Aus-
soll – ich zitiere –, weitung der Gruppe der Betroffenen. Ich will hinzufü-
gen: Es ist nicht alles eins zu eins umsetzbar. Man muss
um in besonderen Härtefällen, die auf Grund der sich fragen: Entscheide ich mich für den schönsten An-
Ausübung der dienstlichen Pflichten entstanden trag im Interesse der Verbände, der aber keine Mehrheit
sein könnten, eine gewisse Unterstützung – auch im Parlament findet, oder entscheide ich mich für einen
außerhalb des geltenden Versorgungsrechts – er- Antrag im Sinne der Opfer, der die Mehrheit im Parla-
möglichen zu können. ment findet? Ich denke, wir haben uns richtig entschie-
den.
Sie haben auf die Problematik hingewiesen.
Ich weiß, dass viele Dinge problematisch sind. Man
Zweitens ermöglicht der Antrag ungeachtet rechtli-
könnte in Abwandlung des deutschen Sprichwortes von
cher Verpflichtungen eine Beteiligung der Geräteherstel-
Spatz und Taube die irische Variante nehmen, die da lau-
ler an einer solchen Stiftung oder einem Fonds, der dann
tet: Ein Vogel in der Hand ist ungefähr so viel wert wie
notwendig wäre. Ich weiß auch – ich will das so deutlich
zwei Vögel im Busch. Dieser Antrag ebnet den Weg zu
sagen –, dass das sicherlich einer der schwierigsten Teile
etwas besseren Lösungen. Die derzeitige Entschädi-
ist. Niemand wird sich jubelnd darauf stürzen. Aber ich
gungspraxis wird verbessert.
denke, es ist es durchaus wert und Aufgabe der Bundes-
regierung, ein Stück weit auf die Gerätehersteller einzu- (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Ich kenne
wirken, dass auch sie als Produzenten eine Verantwor- nur den mit dem Spatz!)
tung für die durch Strahlung geschädigten Opfer haben.
– Ja, das war nur die Abwandlung des Sprichwortes von
Drittens. Besonders wichtig ist es mir, festzuhalten, Spatz und Taube. Die Iren haben da eine etwas andere
dass der Wille, den Opfern zu helfen, im Vordergrund Formulierung, vielleicht eher landschaftlich verhaftet.
steht, und zwar möglichst unbürokratisch und möglichst
zügig. Ich gebe zu, das wir uns als SPD bei diesen For- Herr Staatssekretär, Sie kommen gerade aus der ab-
mulierungen ein bisschen mehr Biss gewünscht hätten. schließenden Konsolidierungssitzung. Ich denke, man
(B) Aber wir sind uns einig, es gilt die Feststellung: Es man- muss über die 7 Millionen Euro, je nachdem, wie die (D)
gelt in diesem Haus nicht am politischen Willen. Die Entschädigungspraxis ausfällt, nachdenken; denn gute
Umsetzung ist vielleicht – hier hilft der Antrag – noch Absichten können bei unzureichender finanzieller Unter-
verbesserungsfähig. fütterung – das ist mir sehr wichtig – sehr schnell in das
Gegenteil umschlagen, weil alle sagen: Ihr habt etwas
Viertens. Es ist wichtig, neuere wissenschaftliche Er- Schönes gemacht, aber ihr gebt kein Geld dazu, damit
kenntnisse in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. das umgesetzt werden kann. Mein Appell geht an die
Das ist im Interesse der Betroffenen; denn manche Haushälter aller Fraktionen: Es ist noch einmal zu über-
Krankheitsbilder werden möglicherweise erst in den legen, ob man nicht gerade in der Anfangsphase, in der
nächsten Jahren so weit untersucht sein, dass man ioni- der Druck sehr groß ist, doch noch Verbesserungen errei-
sierende Strahlung als Auslöser ansehen oder sicher aus- chen kann. Ich glaube, dass hier einiges möglich ist.
schließen kann. Deshalb müssen auch weitere Untersu-
chungen erfolgen. Radioaktive Leuchtfarbe wird im Wir sind uns darüber einig, dass wir zügig und unbü-
Antrag explizit genannt. Es geht um Klarheit für ehema- rokratisch helfen wollen. Die Praxis wird zeigen, ob es
lige Bordmechaniker und Wartungspersonal, die Leucht- tatsächlich gelingt, hier etwas auf den Weg zu bringen.
farben ohne Schutzvorrichtungen erneuert haben. Wenn aus der Absicht Realität wird, waren wir mit unse-
rem Antrag sehr erfolgreich. In diesem Sinne betone ich:
Fünftens. Bei strittigen Fällen sollen unabhängige Ex- In den weiteren Beratungen bis zur Abstimmung geht es
perten zurate gezogen werden. Dadurch können Verfah- darum, das Ganze umzusetzen. An die Arbeit, die Zeit
rensdauern verkürzt werden; denn die Zeit wird knapp. drängt!
All diese Vorschläge wurden fraktionsübergreifend Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
– ich will das so deutlich sagen – erarbeitet. Das war
eine positive Erfahrung für mich, deshalb möchte ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
mich bei allen Beteiligten der Fraktionen für die sehr der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-
kollegiale und zielorientierte Zusammenarbeit herzlich SES 90/DIE GRÜNEN)
bedanken. Mein Dank geht auch in Richtung der Interes-
senverbände der Opfer und des Deutschen Bundeswehr- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Verbandes. Ihrem unablässigen Wirken – das muss man Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhardt Müller-
so ehrlich sagen – ist es zu verdanken, dass das Thema Sönksen von der FDP-Fraktion.
Radarschädigung nicht vergessen, sondern auf der politi-
schen Tagesordnung gehalten wurde. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
16572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): den ersten Schritt in die richtige Richtung, in Richtung (C)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- einer umfassenden Entschädigung gehen werden.
ren! Lieber Kollege Meßmer, im Anschluss an Ihre Rede
Wir als FDP-Fraktion setzen uns seit mehr als zehn
möchte ich zwei Dinge ansprechen.
Jahren für einen fairen Ausgleich für die Radargeschä-
Erstens. Sie haben von der Beweislastumkehr gespro- digten ein. Viele Jahre lang – der Kollege sagte das eben
chen. Dieser Antrag stellt in gewisser Weise juristisch schon – scheiterte die Umsetzung, scheiterte eine Lö-
eine Beweislastumkehr dar. Ja, wir wollen den Betroffe- sung immer wieder an Teilen der jeweils wechselnden
nen helfen. Das ist richtig und gut so. Bisher mussten die Koalitionsfraktionen. Deswegen freut es mich ganz be-
Soldaten beweisen, dass sie eine Schädigung davonge- sonders, dass jetzt mit der liberalen Regierungsbeteili-
tragen haben. Das haben wir mit diesem Antrag besei- gung und zugleich auf Basis eines solch breiten Konsen-
tigt. Insofern ist das ausgeräumt. ses hier im Parlament der Ausgleich für die Radarge-
schädigten auf den Weg gebracht wird.
Ich möchte gleich mit einem zweiten Punkt aufräu-
men: Für mich sind die 7 Millionen Euro, die wir ange- Das ist ganz besonders wichtig: Es bleibt nicht bei ei-
setzt haben, das Ergebnis einer realistischen Abschät- ner folgenlosen Absichtserklärung, wie sie beispiels-
zung dessen, was wir finanziell zu wuppen haben. Das weise im Zusammenhang mit dem Radarbericht 2003
ist seriös gerechnet. Diese Summe ist im Haushaltsent- – das war gut gemeint – in diesem Parlament besprochen
wurf bereits enthalten; das ist wichtig und zu betonen. worden ist. Wir haben gemeinsam dafür gesorgt, dass die
Ich möchte aber auch klar sagen, dass eine Evaluierung notwendigen Mittel für die finanzielle Entschädigung im
stattfinden wird. Es gibt keinen Deckel. Wir müssen se- Verteidigungsetat bereitgestellt werden. Der Staat über-
riös arbeiten und schauen, ob das reicht. nimmt hier endlich konkret Verantwortung für die gesund-
heitlichen Folgeschäden der Soldaten, die für Deutsch-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
land ihren Dienst geleistet haben. Der breite Konsens,
der CDU/CSU)
von dem der Antrag getragen wird, zeigt, dass die Für-
Wir als Parlament haben Wort gehalten. Mit dem sorge für unsere Soldatinnen und Soldaten ein Anliegen
heute vorliegenden Antrag haben wir die Grundlage für aller Fraktionen des Deutschen Bundestages ist. Wie
einen fairen und unbürokratischen Ausgleich für die Ra- schon beim Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz
dargeschädigten gefunden. Darüber werden wir gleich senden wir ein gemeinsames Signal für unsere Soldaten.
abstimmen. Mich freut besonders, dass wir keinen Un-
Die Veteranen – darauf möchte ich zum Abschluss
terschied machen, ob die Soldatinnen und Soldaten bei
gern zu sprechen kommen – sind viel zu lange sowohl
der Bundeswehr oder bei der NVA gewesen sind.
von der Politik als auch von der Bundeswehr vernachläs-
(B) Der heute vorliegende Antrag geht auf die gemein- sigt worden. Für die Mehrheit der Veteranen steht nicht (D)
same Initiative einer breiten Mehrheit der Fraktionen nur die finanzielle Entschädigung im Mittelpunkt, sie
hier im Haus zurück. Daher gilt mein besonderer Dank wünschen sich vielmehr Anerkennung für ihre Leistun-
meinen Berichterstatterkolleginnen, Karin Strenz und gen und für ihren Einsatz. Sie verdienen endlich mehr
Agnes Malczak, sowie meinem Berichterstatterkollegen, öffentliche Aufmerksamkeit und eine faire und unbüro-
Herrn Meßmer. Wir haben im Interesse der Sache und im kratische Behandlung ihrer Anliegen. Überall dort, wo
Interesse der Soldatinnen und Soldaten sehr gut zusam- sich noch Lücken auftun – ich verweise gern auf die
mengearbeitet. Ausführungen des Kollegen Meßmer –, müssen wir
sorgfältig schauen, ob wir diese Lücken bereits durch
(Beifall der Abg. Michael Groschek [SPD]
unseren Antrag schließen oder noch weiter tätig werden
und Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/
müssen. Damit dienen wir nicht nur den aktiven, sondern
CSU] – Inge Höger [DIE LINKE]: Aber die
gleichermaßen auch den früheren Soldaten der Bundes-
Initiative war von den Linken!)
wehr und der NVA. Jeder Soldat, der Dienst für unser
Ich freue mich, dass es uns gemeinsam gelungen ist, ei- Land geleistet hat, muss sich der Fürsorge des Dienst-
nen solchen Konsens im Sinne der Sache zu finden. herrn sicher sein.
Mein Dank gilt auch dem Parlamentarischen Staatsse-
Auch wenn es sich bei den Radargeschädigten nur um
kretär Christian Schmidt, der das Anliegen des Parla-
eine vermeintlich kleine Gruppe handelt, müssen wir im
ments von Anfang an positiv begleitet hat.
Umgang mit ihnen beweisen, dass wir es mit der Fürsor-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der geverpflichtung ernst meinen, die wir als Parlament ge-
CDU/CSU) genüber unserer Parlamentsarmee eingegangen sind.
Mein Dank gilt aber auch den Kolleginnen und Kolle- Nun liegt es an der Bundesregierung, zeitnah einen
gen im Haushaltsausschuss. Sie haben trotz der großen passenden Vorschlag vorzulegen, wie die unbürokrati-
Herausforderung Bundeswehrreform eine Möglichkeit sche Entschädigung am besten gestaltet werden kann.
gefunden, im Verteidigungshaushalt eine angemessene Die Signale, die im Vorfeld von Staatssekretär Schmidt
Entschädigung für die Radaropfer einzustellen. Ganz be- zu vernehmen waren, waren ausgesprochen positiv.
sonders möchte ich mich bei den Opferverbänden bedan- Schon bald – darauf freue ich mich – werden wir im Ver-
ken. Sie haben uns Parlamentariern in vielen Gesprä- teidigungsausschuss und im Plenum darüber sprechen
chen, in vielen Stunden immer wieder die Lücken im können, wie das konkrete Modell einer Stiftung oder ei-
bisherigen Entschädigungsverfahren aufgezeigt. Ihr jah- nes Fonds ausgestaltet wird. Dann können in der ersten
relanges Engagement ist ein Grund dafür, dass wir heute Hälfte des kommenden Jahres die ersten Entschädigun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16573
Burkhardt Müller-Sönksen
(A) gen geleistet werden. Damit, dass wir hier heute begin- Des Weiteren sind wir sehr verwundert, dass Sie sich (C)
nen, setzen wir ein Zeichen. Ich bitte daher alle um ihre jetzt auf die Stiftungslösung versteift haben, obwohl uns
Zustimmung zu diesem interfraktionellen Antrag. Ich die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundes-
glaube, dass diese breite Mehrheit hier eine klare Aus- tages – sie sind hoch geschätzt – in der Antwort auf eine
sage in Richtung der Radargeschädigten ist: Wir haben interfraktionelle Anfrage genau davon abgeraten haben.
euch nicht vergessen, und wir setzen uns weiterhin für Das deutsche Stiftungsrecht ist sehr kompliziert, und die
euch ein. eigentlich angestrebte unbürokratische und schnelle
Hilfe kann damit kaum gewährleistet werden. Die Linke
Vielen Dank. wird daher sehr genau prüfen und beobachten, ob diese
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Stiftung wirklich Abhilfe schafft. Aber nicht nur wir sind
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- verwundert und enttäuscht. Auch die Betroffenenver-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) bände fühlen sich wieder einmal von der Politik allein
gelassen. Sie – damit meine ich alle vier Fraktionen, die
diesen Antrag eingebracht haben – hätten die Chance ge-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
habt, eine klare politische Botschaft im Sinne der Betrof-
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege fenen an die Regierung zu senden.
Harald Koch.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Stattdessen fehlt Ihnen wieder einmal der Mut, und Sie
bringen einen Antrag ein, der vom Bundesministerium
Harald Koch (DIE LINKE):
der Verteidigung geschrieben wurde. So ist Parlamenta-
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- rismus aus meiner Sicht nicht zu verstehen.
gen! Seit Jahrzehnten führen viele ehemalige Bundes-
wehr- und NVA-Angehörige einen engagierten, aber er- Noch einen Satz an die SPD und die Grünen. Warum
folglosen Kampf um Anerkennung und Entschädigung lassen Sie sich an dieser Stelle eigentlich vor den Karren
für ihre unwissentlich durch die Arbeit an ungeschützten der Regierung spannen? Vor ein paar Monaten standen
Radargeräten erworbenen Krankheiten. Um diesen Men- wir kurz davor, einen gemeinsamen und viel weiter ge-
schen endlich zu ihrem Recht zu verhelfen, gibt es seit henden Antrag einzubringen, der von Ihnen maßgeblich
mehr als einem Jahr interfraktionelle Gespräche, die mitgeschrieben wurde. Warum jetzt dieser Rückzieher?
maßgeblich von der Linken initiiert wurden. Zufrieden sein können Sie mit dem jetzigen Ergebnis je-
denfalls nicht. Dass Sie es nicht sind, zeigen Sie, indem
(Zurufe von der CDU/CSU: Was? – Burkhardt Sie neben dem Regierungsantrag eigene – zum Teil mit
(B) Müller-Sönksen [FDP]: Wegen der NVA!) uns gemeinsam erarbeitete – Anträge vorlegen. (D)
Dabei wurde von allen Fraktionen immer wieder der Die Linke jedenfalls bleibt dabei: Der vorliegende in-
Wille bekundet, den Betroffenen möglichst zeitnah und terfraktionelle Antrag besagt nicht viel mehr als „Weiter
umfassend Hilfe zuteil werden zu lassen. Dass dies of- so wie bisher“. Da machen wir nicht mit. Wir fordern ein
fenbar nur leere Floskeln waren, zeigt sich nun in dem Radarstrahlenopfergesetz, welches die Anerkennungs-
Antrag, den Sie heute zwar interfraktionell, aber ohne und Entschädigungsverfahren schnell und unbürokra-
die Linke vorlegen. tisch im Sinne der Geschädigten voranbringt,
Ich möchte hier Folgendes betonen – das erwarten Sie (Beifall bei der LINKEN)
wahrscheinlich gar nicht –: Ich bedanke mich ausdrück-
lich bei den Berichterstatterkolleginnen und -kollegen Geschädigte der ehemaligen NVA und der Bundeswehr
für die Zusammenarbeit. Es war eine sehr sachliche Zu- gleich behandelt und auch zivile Radargeschädigte be-
sammenarbeit, aber leider wurden wir als Linke dann rücksichtigt.
aus diesem Antrag ausgeschlossen. Ich bedauere das Vielen Dank.
sehr. Ich hoffe, dass das in Zukunft anders wird.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie fordern in Ihrem Antrag, die Bundesregierung
solle prüfen, ob eine gewisse Unterstützung durch eine
Stiftung oder einen Fonds denkbar ist. Das ist zu wenig; Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
das ist zu unverbindlich. Sie prüfen seit zehn Jahren. In Jetzt hat die Kollegin Agnes Malczak von Bündnis 90/
den letzten zehn Jahren ist bei dieser Prüfung nichts Die Grünen das Wort.
Sinnvolles für die Betroffenen herausgekommen. Das
sage ich aus der Sicht der Betroffenen. Wie wir das se- Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
hen, sei dahingestellt. Soll es jetzt noch weitere zehn Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut
Jahre so gehen? Dafür haben die Betroffenen keine Zeit und richtig, dass dieser interfraktionelle Antrag heute
mehr. Aufgrund ihres oft schon hohen Lebensalters ster- vorliegt. Sicherlich kann er nur ein Kompromiss sein.
ben sie, bevor die Bundesregierung zu Ende geprüft hat. Deshalb, Herr Kollege Koch, haben wir unsere ur-
Das kann ja wohl nicht Ihre Lösungsstrategie sein. Das sprünglichen Anträge für erledigt erklärt, um das an die-
Spiel auf Zeit zulasten der Betroffenen ist zynisch und ser Stelle klarzustellen.
muss endlich ein Ende haben.
Wir konnten uns in unserem interfraktionellen Antrag
(Beifall bei der LINKEN) auf wichtige gemeinsame Forderungen an die Bundesre-
16574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Agnes Malczak
(A) gierung einigen. Dazu gehört vor allem der Prüfauftrag hier von schwierigen Fragen des Entschädigungsrechts (C)
zur Einrichtung einer Stiftung zur Unterstützung der ra- sprechen, doch kann eben nicht die Rede davon sein,
dargeschädigten ehemaligen Soldaten und eines unab- dass bisher alle erdenklichen Spielräume immer schnell
hängigen Expertengremiums für Streitfälle. und entschlossen ausgeschöpft worden sind.
Einig sind wir uns aber nicht in der Bewertung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bisherigen Entschädigungspraxis. Wir haben eine beson- sowie bei Abgeordneten der SPD)
dere Verantwortung für die Parlamentsarmee. Diese be-
steht auch in der Verpflichtung zur Fürsorge für die Sol- Das Verteidigungsministerium ist jetzt in der Pflicht,
datinnen und Soldaten. Das gilt nicht nur für die den Auftrag, den das Parlament ihm heute hier erteilen
Gegenwart und die Zukunft, sondern auch für die Ver- will, zügig umzusetzen. Insbesondere in die Stiftungslö-
gangenheit. sung setzen viele Betroffene große Hoffnungen, und die
dürfen wir nicht enttäuschen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
In den Debatten und in der heute diskutierten Eini-
Die durch Radarstrahlen geschädigten Soldaten haben gung haben wir uns auf die ehemaligen Soldaten kon-
diese Fürsorge bisher nur unzureichend erfahren. Dies zentriert. Was wir nicht vergessen sollten: Auch die
gilt auch für die ehemaligen Soldaten der NVA. Hier zweite Generation, die Kinder der Soldaten, ist durch
müssen wir dringend Abhilfe schaffen. Es war schon ei- Erbgutschäden von dieser Problematik betroffen. Auch
nige Überzeugungskraft notwendig, um die Koalitions- für sie ist die Entschädigungsfrage noch nicht beantwor-
fraktionen von diesem Handlungsbedarf zu überzeugen. tet. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie bei
Das Verfahren ist an der einen oder anderen Stelle leider der Umsetzung dieses Antrages auch die Kinder der be-
unnötigerweise ins Stocken geraten. Erst nachdem die troffenen Soldaten nicht außer Acht lässt.
Oppositionsfraktionen jeweils Anträge eingereicht ha-
ben, haben sie sich bewegt. Allein in dieser Legislatur- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
periode haben wir nun zwei Jahre gebraucht, um diesen sowie bei Abgeordneten der SPD)
Kompromiss zu erzielen. Insgesamt wurde auf diese Art Die Weigerung, ein Problem im Fürsorgebereich an-
und Weise zu viel Zeit vertan, Zeit, in der sich die ehe- zuerkennen und schnell und entschlossen nach einer Lö-
maligen Soldaten der Bundeswehr und der NVA und ihre sung zu suchen, finde ich im Übrigen ausgesprochen be-
Angehörigen von Dienstherr und Politik alleine gelassen denklich. Radargeschädigte sind für diese Haltung nur
gefühlt haben. ein Beispiel. Auch die an einer posttraumatischen Belas-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tungsstörung Erkrankten mussten viel zu lange um die
Anerkennung ihrer Probleme und um Unterstützung
(B) Es ist zehn Jahre her, dass sich der Verteidigungsaus- kämpfen. Ich kann den Minister nur eindringlich dazu (D)
schuss erstmals intensiv mit dem sogenannten Radarpro- auffordern, die Neuausrichtung der Bundeswehr auch als
blem auseinandergesetzt hat. Ehemalige Soldaten der Chance zu nutzen, hier an einem Einstellungswandel zu
Bundeswehr, aber auch der NVA waren bis in die 80er- arbeiten.
Jahre hinein unzureichend geschützt an Geräten einge-
setzt, von denen eine gesundheitsschädliche Strahlung Vielen Dank.
ausging. Die tragischen Folgen für die Soldaten zeigten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sich in der Regel erst wesentlich später. Die Betroffenen sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
erkrankten schwer – nicht selten mit tödlichem Ausgang –, der SPD)
sie konnten keine Kinder zeugen, oder ihre Kinder kamen
mit massiven Erbgutschäden zur Welt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Da die Ursache ihrer Erkrankung im Dienst bei der Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
Bundeswehr lag, sollten sich die Betroffenen eigentlich hat die Kollegin Karin Strenz von der CDU/CSU-Frak-
auf die Fürsorge und Unterstützung ihres ehemaligen tion das Wort.
Dienstherrn verlassen können. Es war eine äußerst
schmerzhafte Erfahrung für die Betroffenen, dass der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dienstherr eine Verantwortung zuerst verweigerte. Doch
sie gaben nicht auf und konnten schließlich erreichen, Karin Strenz (CDU/CSU):
dass sich das Parlament mit ihrer Situation auseinander- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
setzte. Experten untersuchten damals im Auftrag des Vielen Bürgern mahlen die Mühlen unserer parlamenta-
Verteidigungsministeriums die Zusammenhänge und rischen Demokratie zu langsam. Seien wir ehrlich: Auch
empfahlen schließlich eine wohlwollende Entschädi- wir als Abgeordnete müssen bisweilen erfahren, dass sie
gungspraxis. Das ist acht Jahre her. nicht schneller mahlen, selbst dann nicht, wenn wir noch
so viel Wind drum machen. Aber unser Mühlen mahlen
Es ist traurig, dass dieser Antrag nach diesem langen
eben.
Zeitraum heute noch notwendig ist. In dieser Zeit ist es
eben nicht gelungen, die Entschädigungspraxis so zu ge- Ich freue mich, dass wir uns mit dem Antrag heute
stalten, dass allen Betroffenen geholfen werden kann. abermals um jene Männer kümmern, die einst bei NVA
Die Folge ist, dass Menschen, die um ihr Leben kämp- und Bundeswehr bis in die 80er-Jahre hinein ohne Wis-
fen, oder auch die Hinterbliebenen Kraft in einen mühsa- sen gesundheitliche Schäden durch Radarstrahlen erlit-
men Rechtsstreit stecken müssen. Es ist richtig, dass wir ten haben. Wir tun dies nicht zum ersten Mal.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16575
Karin Strenz
(A) Es war der Verteidigungsausschuss, der vor allerdings Forderungen, um das einmal vorsichtig zu sagen, bei der (C)
fast zehn Jahren eine unabhängige Radarkommission er- Politik und der Bundeswehr anfangs nicht immer offene
kämpft hatte. In ihrem Abschlussbericht kam sie 2003 Türen eingerannt. Auch das hat sich zum Glück geän-
zwar zu dem Ergebnis, dass es keinen konkreten Zusam- dert.
menhang zwischen der Arbeit am Radargerät und späte-
ren Erkrankungen gebe, gleichwohl war dies kein Vor- Die Anerkennungskriterien sind vielfach weit ausge-
wand, um finanzielle Hilfen zu verweigern; denn die dehnt worden: im Zweifel für das Opfer. So wurden etwa
Kommission schlug vereinfachte Kriterien vor, um Ver- trotz eines festgestellten Konkurrenzrisikos – starkes
sorgungsanträge anzuerkennen. Rauchen ist beispielsweise eines – Ansprüche anerkannt.
Als Gesetzgeber haben wir eine besondere Fürsorge-
Nun baut unser Rechtsstaat – übrigens aus gutem pflicht für alle Soldaten, nicht nur für die noch aktiven.
Grund – manche Hürde zwischen Helfen-Wollen und Wir haben sie auch für die ehemaligen Angehörigen der
Helfen-Dürfen. Der Rechtsstaat will nämlich genau wis- Bundeswehr und, anders als es hier steht, auch der NVA.
sen, ob jemand Ansprüche hat, ob ihm geholfen werden Auch sie haben gedient. Auch sie hätten im Ernstfall ihre
darf oder gar geholfen werden muss. Das ist für den Be- Heimat, ihr Vaterland und seine Menschen verteidigen
troffenen natürlich nicht immer leicht; denn die Hilfe, müssen. Ich meine, wir sind es ihnen schuldig, sorgfältig
die der Staat gewährt, trägt der Steuerzahler. zu prüfen, ob die bisherigen Hilfen ausreichen.
Dass sich Schwererkrankte, deren Anträge abgelehnt (Beifall des Abg. Burkhardt Müller-Sönksen
wurden, bisweilen ungerecht behandelt fühlen, ist [FDP])
menschlich absolut nachvollziehbar. Ich nehme aber
ausdrücklich auch die Beamten in Schutz, die diese Ver- Die gesundheitlichen Probleme im Alltag bleiben
fahren begleitet haben und auch weiter begleiten wer- häufig. Und mehr noch: Sie verändern sich mit den Jah-
den. ren und dem Alter, leider nicht zum Besseren. Es hat
mich sehr bedrückt, in Gesprächen zu hören, wie ent-
Ich habe in jüngster Zeit immer wieder mit einem täuscht viele Radaropfer heute sind. Ich bedaure es, dass
Vorstandsmitglied des Bundes zur Unterstützung Radar- diese Männer keine guten Erinnerungen an ihre Armee-
geschädigter persönliche Gespräche geführt und auch oder Bundeswehrzeit haben, weil das heute viel von dem
sehr lange telefoniert – so auch heute. Der Mann hat trübt, was sie damals erlebt und geleistet haben. Aber ich
Ausdauer, und er verfolgt, wie viele seine Mitstreiter, bin noch optimistisch, dass wir mit diesem interfraktio-
unsere Arbeit sehr, sehr aufmerksam. Der eine oder an- nellen Antrag wieder einen Beitrag zur Versöhnung er-
dere Kollege kann das ganz sicher bestätigen. bringen können. Daran hat das Verteidigungsministe-
rium, vor allem aber der Parlamentarische Staatssekretär
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Christian Schmidt, einen großen Anteil. Dafür herzli- (D)
Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen Dank!
NEN])
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Vielen Radargeschädigten sind wir natürlich nicht bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
schnell genug, und ich kann das gut verstehen. Es tickt NISSES 90/DIE GRÜNEN)
da – die Betroffenen nennen das selbst so – eine biologi-
sche Uhr. Wir haben es mit Männern zu tun, die in den Der Dank geht natürlich ebenso an die Berichterstatter-
60er- und 70er-Jahren gedient haben. Das ist schon eine kollegen, mit denen wir vielfach zusammengesessen ha-
Weile her. Die meisten Männer sind nur noch auf alten ben und heute hoffentlich ein tolles Abstimmungsergeb-
Fotos jung. Sie wollen und können nicht mehr warten. nis erzielen werden.
Jeder fünfte Antrag auf Entschädigung ist im Laufe Jedem Opfer werden wir es wahrscheinlich nicht
der Jahre anerkannt worden. Dies mag auf den ersten recht machen können. Wer von der Politik – das ist im-
Blick wenig erscheinen. Mehr als zwei Drittel wurden mer so – absolute Gerechtigkeit und die Zufriedenheit
nicht bewilligt. Man hat dennoch großzügig geprüft, im- aller Betroffenen verlangt, ist und bleibt blauäugig. Das
mer mit dem Wissen, wie schwierig der Nachweis sein ist schon deshalb schwer möglich, weil wir es mit unter-
kann, dass eine heutige Erkrankung mit der Arbeit an schiedlichen, sehr persönlichen Schicksalen zu tun ha-
Radargeräten vor Jahrzehnten zusammenhängt. ben und eben nicht mit einer Art Standarderkrankung.
Aber wenn wir hier und dort Leid lindern, ist das ein gu-
Vergessen wir nicht: Dass heute manches so kompli- tes Ergebnis. Dann hätte sich alles gelohnt: das Ringen
ziert ist, liegt auch daran, dass von damals so wenig do- um einen gemeinsamen Antrag, die Suche nach einem
kumentiert ist. Es fehlte letztlich das Bewusstsein im Kompromiss, kurz: unsere gesamte Arbeit.
Umgang mit Strahlen, zumal sich die Folgen nicht sofort
zeigten, sondern oft erst Jahre oder Jahrzehnte später. Geholfen hat uns auch in schwierigen Augenblicken,
wenn die Verhandlungen einmal ins Stocken gerieten,
Das Soldatenbild hat sich seit der Gründung der Bun- ein gemeinsamer Wille: Helfen – schnell und unbürokra-
deswehr gewandelt – zum Glück. Ich kann mir vorstel- tisch; denn das Ticken der biologischen Uhr kann ver-
len, dass Schmerzen früher nicht ins Bild passten. Man dammt laut sein.
hat sich weniger Gedanken um das Wohlergehen der
Soldaten und auch um ihre Gesundheit gemacht. Wie In Härtefällen soll der Dienstherr auch seiner Fürsor-
schwer der Kampf für die Rechte ist, auch davon können gepflicht nachkommen dürfen, wo das Versorgungsrecht
die Radargeschädigten erzählen. Sie haben mit ihren eben nicht weiterhilft. Das ist ein wichtiges Ergebnis.
16576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Karin Strenz
(A) Wir wollen erreichen, dass noch nicht abgeschlossene 17/6556, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck- (C)
Fälle sorgfältig behandelt werden. Die Bundesregierung sache 17/5233 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
widmet sich also nicht nur der Ausfinanzierung, sie schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
schaut auch, ob die Gerätehersteller beteiligt werden hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
können. Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind mit diesem Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
Antrag auf einem guten Weg. Das behaupte nicht nur nen angenommen.
ich. Das hat mir auch der Vorstandsmann vom Bund zur
Unterstützung der Radargeschädigten bestätigt. Unser Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
letztes Telefongespräch wird es mit Sicherheit trotzdem
Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
nicht gewesen sein. Die Mühlen mahlen weiter.
Graf (Rosenheim), Bärbel Bas, Elke Ferner, wei-
Danke. terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Glücksspielsucht bekämpfen
bei Abgeordneten der SPD)
– Drucksache 17/6338 –
Überweisungsvorschlag:
Vizepräsidentin Petra Pau: Ausschuss für Gesundheit (f)
Ich schließe die Aussprache. Innenausschuss
Sportausschuss
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksa- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
che 17/7553. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7354 mit dem Ti- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
tel „Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr
und der ehemaligen NVA“. Wer stimmt für diese Be- Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen im Saal
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- so vorzunehmen, dass wir die Aussprache eröffnen kön-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- nen.
men der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen gin Angelika Graf für die SPD-Fraktion.
(B) die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. (D)
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD):
GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den An- Laut dem Endbericht des sogenannten PAGE-Projektes
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5365 mit gibt es in Deutschland hochgerechnet circa 500 000 pa-
dem Titel „Ausgleich für Radargeschädigte der Bundes- thologische Glücksspieler und rund 800 000 problemati-
wehr und der ehemaligen NVA voranbringen“ für erle- sche Spieler. Rund 3 Millionen Menschen haben ein
digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- oder zwei Kriterien für risikoreiches Glücksspiel erfüllt.
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Glücksspiel wird vor allem von der Hoffnung auf einen
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions- großen Gewinn gespeist oder der Hoffnung, durch das
fraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Spielen aus einer schwierigen finanziellen Situation he-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der rauszukommen. Bei Süchtigen kommt die Hoffnung
Fraktion Die Linke angenommen. dazu, verlorenes Geld durch nochmaliges Spielen wieder
zurückzugewinnen. Diese Hoffnung wird jedoch in der
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
Regel nicht erfüllt. Im Gegenteil: Glücksspielsucht hat
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion
für Betroffene und deren Familien dramatische psychi-
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5373 mit
sche und materielle Folgen wie Verschuldung, Krimina-
dem Titel „Umfassende Entschädigung für Radarstrah-
lität oder im schlimmsten Fall auch Selbstmord.
lenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen NVA“ für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- In unserem Antrag schlagen wir ein Gesamtkonzept
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – zur Prävention und Bekämpfung von Glücksspielsucht
Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Stimm- vor. Das ist nur in Zusammenarbeit von Bund und Län-
verhältnissen wie die vorherige angenommen. dern möglich. Wir sehen es daher sehr kritisch, dass die
Bundesregierung noch immer keine abgestimmten Vor-
Tagesordnungspunkt 32 b: Beschlussempfehlung des
schläge für die dringend notwendige Novelle der Spiel-
Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion
verordnung vorgelegt hat.
Die Linke mit dem Titel „Umfassende Entschädigung
für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
NVA und ziviler Einrichtungen“. Der Ausschuss emp- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16577
Angelika Graf (Rosenheim)
(A) Der Europäische Gerichtshof hat ein kohärentes Sys- harmlosen. Ich denke, die Fortbildung der Mitarbeiter in (C)
tem der Prävention und Bekämpfung der Glücksspiel- Spielhallen ist eine Selbstverständlichkeit und sollte
sucht zur Voraussetzung für das Glücksspielmonopol der nicht als ein großer Erfolg gefeiert werden. Minimale
Länder gemacht. Dieses kohärente System liegt in Veränderungen der Spielverordnung reichen auch nicht
Deutschland nicht vor, wenn der Bund bei den Geld- aus. Das wissen Sie auch ganz genau.
spielautomaten, von denen eine besonders hohe Sucht-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gefahr ausgeht, beide Augen zudrückt. Erschreckende
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
52 Prozent der Spieler in Spielhallen sagen laut dem Ab-
GRÜNEN)
schlussbericht des Instituts für Therapieforschung, wel-
ches eine allgemeine, öffentlich anerkannte Untersu- Wir brauchen ein Gesamtkonzept zur Prävention und
chung durchgeführt hat, dass sie die Kontrolle über das Bekämpfung von Glücksspielsucht, und wir brauchen
Spiel an den Automaten verloren haben. das staatliche Monopol als Voraussetzung für den best-
möglichen Spielerschutz. Die von den Ländern auf
Die Suchtgefahr ist seit der Lockerung der Spielver-
Druck der FDP vorgesehene Aufgabe des Monopols aus-
ordnung im Jahre 2005 unter dem damaligen Wirt-
gerechnet bei den suchtgefährlichen Sportwetten bedau-
schaftsminister Michael Glos – diese Lockerung war
ere ich daher ausdrücklich.
ohne Zweifel ein Fehler; das sage ich ganz selbstkritisch,
weil auch wir damals mit an der Regierung waren – ge- (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ich
stiegen. Zu diesem Ergebnis kommt die Ende 2010 vor- nicht!)
gelegte Evaluation des IFT, auf die ich schon hingewie-
Die Länder laufen damit nämlich Gefahr, dass das Mo-
sen habe und auf die wir mit unserem Antrag reagieren.
nopol insgesamt verzockt wird.
Gleichzeitig gibt es in manchen Gegenden eine regel-
rechte Flut von neuen Spielhallen. (Beifall bei der SPD – Christine Aschenberg-
Dugnus [FDP]: Schleswig-Holstein ist da sehr
Diesen Trend, meine ich, müssen wir dringend stop-
weit voran!)
pen, indem wir die Geldspielautomaten wieder stärker
zum Unterhaltungsspiel zurückführen und die Präven- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schutzauftrag
tion stärken. des Staates muss höher bewertet werden als das Interesse
der Profitmaximierung. Deswegen werbe ich für unseren
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Antrag.
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Es geht uns dabei um die Entschärfung und Entschleuni-
DIE GRÜNEN)
gung der Geldspielautomaten, die Reduzierung der An-
(B) (D)
zahl der Automaten sowohl in Spielhallen als auch in
Imbissbuden, mehr Transparenz für die Spieler hinsicht- Vizepräsidentin Petra Pau:
lich der realen Gewinnchancen sowie den Abbau von Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die
suchtfördernden Funktionen der Automaten. Unionsfraktion.
Auch den Einfluss der Kommunen auf die Standorte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
von Spielhallen wollen wir ausbauen. Wir schlagen zu- neten der FDP)
dem ein Identifikationssystem für die Spieler als Voraus-
setzung für einen besseren Jugendschutz und die Mög- Karin Maag (CDU/CSU):
lichkeit der Sperrung Süchtiger vor. Die von der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bundesregierung diskutierte elektronische Spielerkarte Liebe Frau Graf, Ihnen geht es darum, die Glücksspiel-
mit Geldkartenfunktion und der Möglichkeit zur Spiel- sucht zu bekämpfen; so lautet zumindest Ihr Antrag. Ich
manipulation ist dagegen aus unserer Sicht gefährlich glaube, bevor wir hier wieder sehr breit streuen, lohnt es
und dient gerade nicht der Suchtprävention. sich jetzt einfach einmal, das Ganze systematisch aufzu-
arbeiten.
(Beifall bei der SPD)
Sie haben recht: Das Glücksspiel ist weit verbreitet.
Als Gegengewicht zu der zweifellos mächtigen
Glücksspiellobby – man muss da immer nur die Zeitun- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
gen lesen – brauchen wir ein Korrektiv auf Bundes- GRÜNEN]: Der Name „Glücksspiel“ ist
ebene. Wir denken, dass bei der Drogenbeauftragten falsch!)
– oder dem Drogenbeauftragen – der Bundesregierung
ein unabhängiger Beirat einzusetzen ist, der analog zum 14 Prozent der Deutschen haben bereits einmal eine
bestehenden Fachbeirat Glücksspielsucht der Länder Spielbank aufgesucht und dort an den Spieltischen und
eine kohärente Suchtpolitik durch die Zusammenarbeit Spielautomaten gespielt. 25 Prozent der Bevölkerung
mit den Ländern stärken soll. haben bereits an Geldspielautomaten in Spielhallen und
Gaststätten gespielt. Nicht zuletzt spielen rund 70 Pro-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank zent der Deutschen Lotto. Wie überall kommt es auch
Tempel [DIE LINKE]) beim Spielen und bei der Spielsucht auf das richtige Maß
und vor allen Dingen auf die richtigen Ansätze an.
Wir fordern Sie dazu auf, der Lobby nicht auf den
Leim zu gehen und das Problem der Glücksspielsucht In der Tat ist es besorgniserregend – da haben Sie
nicht mit ein paar Placebos zu ignorieren und zu ver- recht –, dass mittlerweile rund 1,1 Prozent der bundes-
16578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Karin Maag
(A) deutschen Bevölkerung zwischen 16 und 65 ein proble- im Rahmen einer freiwilligen Selbstverpflichtung bereits (C)
matisches Spielverhalten aufweisen. einiges erreicht hat und dass sie vor allem selbst das In-
teresse hat, die schwarzen Schafe, die es ohne Zweifel
Absolut sind es rund 600 000 Menschen. Der Anteil gibt – das gestehe ich Ihnen ohne Weiteres zu –, zu be-
der pathologischen Spieler beträgt je nach Ergebnis der nennen und auszuschalten. Unsere Politik unterscheidet
repräsentativen Umfragen zwischen 0,2 und 0,6 Prozent. sich grundsätzlich in dieser Hinsicht. Wir sagen: Eine
Insofern ist die Grundüberlegung Ihres Antrags richtig. Politik gegen diejenigen, die betroffen sind, hat noch nie
gefruchtet. Wir müssen auch die mitnehmen.
Pathologisches Glücksspiel ist als eigenständige psychi-
sche Erkrankung anerkannt. Man darf sich nicht wundern, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dass es die Spieler an den Geldautomaten sind, die die Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Gehen Sie ein-
größte Gruppe innerhalb der pathologischen Spieler dar- fach mal mit offenen Augen durch die Stadt!)
stellen. Automatenspiele – übrigens unabhängig vom
Standort, ob in Spielbanken oder in Gaststätten und – Ich bin durch die Stadt gelaufen, Herr Kollege.
Hallen – haben nach allen Untersuchungen das höchste (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dann müssen Sie
Suchtpotenzial. Das ist einleuchtend; denn zum einen er- auch Konsequenzen daraus ziehen!)
lebt der Spieler, der die schnelle Spielfrequenz mag, mit
der bislang erlaubten Mehrfachbespielung und der Nicht, dass wir uns missverstehen: Ich will ausdrücklich
Schnelle den Verlust deutlich weniger. Er hat gar keine zugestehen, dass wir die schwarzen Schafe bekämpfen
Zeit, zu realisieren, dass er in dem Augenblick, in dem er werden. Aber ich bin von einer Tatsache extrem über-
die Taste neu drückt, schon Geld verloren hat. Zum ande- zeugt: Wir werden weiterhin diese Form der schnellen
ren wird der Anreiz, mehr Geld einzusetzen, um damit ei- Spiele haben. Mir ist es sehr viel lieber, dass diese in den
nen höheren Verlust auszugleichen, größer. Natürlich sind kontrollierten Spielhallen stattfinden und dass die Men-
diese Automatenspiele auch außerhalb der Kasinos in den schen in diesen Spielhallen bleiben,
Hallen und Gaststätten verfügbar.
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wer kontrol-
Aber – jetzt kommt das große Aber, Frau Graf – ers- liert denn die Spielhallen? Da ist überhaupt
tens ist der Antrag, wenn Sie ihn an die Bundesregierung keine Kontrolle! Sie lehnen das doch ab!)
richten, überwiegend an die falsche Adresse gerichtet.
Das merkt man übrigens auch an Ihren Formulierungen. in denen zum Beispiel Alkohol verboten ist und in denen
So solle die Bundesregierung auf die Länder einwirken Broschüren über Sucht ausliegen müssen, als dass sich
und an die Länder appellieren. Mit der Föderalismusre- diese Szene in das Internet verlagert, wo man keinerlei
Zugangsmöglichkeit zu ihnen hat, um das Suchtthema
(B) form 2006 ist die Kompetenz für die Hallen auf die Län- anzugehen. (D)
der übergegangen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Appel-
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
lieren kann man trotzdem!)
GRÜNEN]: Spielhallen sind ein Sünden-
Die Ministerpräsidenten werden den Staatsvertrag ir- pfuhl!)
gendwann im Dezember unterzeichnen. Also: falscher Ich habe mit den Vertretern der Branche gesprochen
Adressat. und mir Spielhallen angeschaut. Ich konnte mich selbst
(Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Deshalb davon überzeugen, dass die sogenannten Guten durchaus
kann man trotzdem miteinander reden!) bereit sind, mitzuwirken.

Zweitens. Sie verlangen eine strengere Regulierung (Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Und was
der Automaten in Spielhallen, ohne den technisch weit- machen Sie gegen die Schlechten?)
gehend nicht regulierten Markt in den Spielbanken über- – Liebe Frau Bätzing, ich habe noch etwas und kann
haupt zu hinterfragen. Geldspielgeräte in den Spielban- noch nachlegen und sagen, was wir machen wollen. Jetzt
ken erfahren keinerlei technische Vorgaben in der warten Sie einfach einmal ab.
Gerätekonstruktion. Da gibt es kein Verlustlimit und
keine Laufzeitbeschränkung. Es wird einzig über den (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Da sind wir
Zutritt in die Kasinos gesteuert. Diese einseitige Sicht ist gespannt!)
schon deshalb ein Versäumnis, weil der EuGH anmahnt,
dass das staatliche Glücksspielmonopol nur vor dem Für mich ist es sehr wichtig, dass das Element der frei-
Hintergrund haltbar ist, dass die Spielsucht in allen willigen Selbstkontrolle, das ich für ein gutes Element
Glücksspielbereichen konsequent verfolgt werden muss. halte,
(Mechthild Rawert [SPD]: Aber wirkungslos!)
Drittens. Sie holen zum Rundumschlag gegen alle
Automaten aus. Sie ignorieren – das finde ich eigentlich bleibt und dass wir erst dann, wenn dieses nicht funktio-
schade –, dass die Automatenwirtschaft, die Sie so sehr niert, mit der staatlichen Keule kommen. Aus all diesen
als Lobby hingestellt haben, Gründen lehnen wir Ihren Antrag ab.
(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das ist (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie lange
so! Lesen Sie nicht Zeitung?) wollen Sie denn warten?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16579
Karin Maag
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt regen Sie sich (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Land (C)
ein bisschen weniger auf. Ich bin ja noch nicht am Ende. Berlin!)
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wann ist denn Gehen Sie einmal in eine hinein. Dann sehen Sie, wel-
die Wiedervorlage?) ches Milieu dort verkehrt. Es ist die Frage, ob Sie wei-
terhin sagen werden: Wie gut, dass alles kontrolliert ist.
Das heißt nicht, dass wir Prävention vernachlässigen
und dass wir uns außerhalb der technischen Regulierung Vor allen Dingen – deshalb habe ich mich gemeldet –
nicht auch um die Suchthilfe kümmern. Ich möchte nur möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zum zuständigen
darauf hinweisen, dass es seit 2007 Modellprojekte des Bezirksamt zu gehen und denen zu sagen, wie die loka-
BMG gibt. Zum Beispiel wird das Projekt „Frühe Inter- len Behörden dagegen vorgehen können?
vention bei pathologischem Glücksspiel“ mit 1,1 Millio- (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wer ist
nen Euro gefördert. Es steht bereits jetzt fest, dass die denn hier an der Regierung? Wer kontrolliert
Qualifizierung in der Suchthilfe für Glücksspielsucht mit hier denn nichts?)
diesem Modellprojekt gelungen ist. Des Weiteren ist die
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – das
wissen Sie – umfassend tätig. Karin Maag (CDU/CSU):
Aber gerne, Herr Ströbele.
(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Aber besser
ist, wenn Süchtige gar nicht entstehen!) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
Wenn Sie Ihren Fokus heute ausschließlich auf die GRÜNEN):
Geldspielgeräte richten wollen, so kann ich Ihnen sagen, Würden Sie denen einmal sagen, wie das möglich
dass dieser Bereich in Spiel- und Gaststätten bereits wäre? Die bemühen sich nämlich seit vielen Jahren,
heute streng reguliert ist. nicht nur auf der Stromstraße, sondern auch auf der
Turmstraße – die befinden sich hier in Moabit – dagegen
Darüber hinaus mahnten Sie den Einsatz auf europäi- vorzugehen, aber leider fehlt ihnen die notwendige
scher Ebene an. Ich kann Sie beruhigen: Auch dort ist Handhabe.
Deutschland sehr präsent. Es geht dabei insbesondere
um den Minderjährigenschutz, die Bekämpfung der Karin Maag (CDU/CSU):
Spielsucht und den Schutz vor Folge- und Begleitkrimi- Lieber Herr Ströbele, ich bin gerne bereit, mit Ihnen
nalität. gemeinsam einmal da hinzugehen.
Sie rufen stets nach Änderungen der Baunutzungsver- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
(B) ordnung. Auch hier empfehle ich – wie sonst auch – ein (D)
GRÜNEN]: Wir gehen einmal zusammen da
differenziertes Vorgehen. Die Städte und Gemeinden ha- hin!)
ben heute schon die Instrumente, um den Spielhallenauf-
wuchs zu steuern. Das setzt vor allem die Verabschie- Ich kann Ihnen sagen, dass es in den Gemeinden Lud-
dung der entsprechenden Bebauungspläne voraus. Ich wigsburg und Esslingen keine Spielhallen mehr gibt,
nenne aus meiner Region Ludwigsburg und Esslingen. weil diese die entsprechenden Bebauungspläne erstellt
haben. Ich bin gerne bereit, dem Land Berlin die Adres-
Daneben gehen die Städte jetzt dazu über, illegale und sen zu nennen, bei denen man erfahren kann, wie so et-
nicht angemeldete Geräte in den Gaststätten zu bekämp- was geht.
fen. Das finde ich vorzüglich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau: Bei aller Kritik am Antrag: Natürlich verlangt die
Kollegin Maag, gestatten Sie eine Frage oder Erklä- Evaluation der Spielverordnung – das haben wir auch im
rung des Kollegen Ströbele? Ausschuss gesehen – ein Nachsteuern. Die früheren Un-
terhaltungsspiele, bei denen man das Geld einsetzte, um
(Zuruf von der CDU/CSU: Doch nicht jetzt!) die Unterhaltungsautomaten – beispielsweise Flipper-
Automaten – in Gang zu setzen, gibt es nicht mehr. Der
Karin Maag (CDU/CSU): Unterhaltungsaspekt ist im Laufe der Zeit zugunsten des
Gewinnaspektes in den Hintergrund getreten, und gerade
Bitte, Herr Ströbele.
durch die letzte Novellierung der Spielverordnung
wurde die Ereignisfrequenz, diese Illusion der Beein-
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE flussbarkeit von Einsatz und Gewinn, erhöht.
GRÜNEN):
Die Evaluation hat auch ergeben, dass der damals,
Danke, Frau Kollegin. – Ich frage mich die ganze
2006, mit den Änderungen beabsichtigte Schutz zum
Zeit, während ich hier sitze, wie häufig Sie schon in
Beispiel mit dem Verbot der Fungames erreicht wurde.
Spielhallen gewesen sind. Wir könnten einmal hier um
die Ecke gehen; das ist gar nicht weit weg. Ich bin vor Illegale Praktiken, Frau Graf, gibt es; das gestehe ich
wenigen Tagen über die Stromstraße geradelt und habe Ihnen ohne Weiteres zu. Das ist zum Beispiel das Vor-
die Spielhallen gezählt. Dort befindet sich eine Spiel- münzen. Diese illegalen Praktiken konnte man nicht aus-
halle neben der anderen. Insgesamt sind es 17 Spielhal- reichend verhindern, und daher müssen wir jetzt nach-
len, und alle haben verdunkelte Fenster. steuern.
16580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Karin Maag
(A) Für mich ist allerdings zentral wichtig, dass Spieler- Jetzt kommen wir zu dem technischen Bereich, der (C)
schutz auch heißt, dass wir vor allem die Spieler und Ihnen ja so wichtig ist. Selbstverständlich müssen wir
nicht die Geräte in den Blick nehmen müssen. Die Ge- die Begrenzungen für Gewinne und Verluste pro Stunde
räte sind zweitrangig. Um diese kümmern wir uns auch. überdenken – da sind wir bei Ihnen –, gegebenenfalls er-
Aber wichtiger ist, dass wir den Spieler schützen. Die gänzt durch die Einführung einer weiteren Grenze für
Suchtpolitik der christlich-liberalen Koalition nimmt absolute Tagesgewinne oder -verluste.
stets Bezug auf den einzelnen Menschen und seinen Le-
Man kann mit mir auch über die Verlängerung der
benshintergrund.
Laufzeit pro Spieleinheit sprechen. Sie sagen ja in Ihrem
(Lachen der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Antrag, dass die derzeit geltenden 5 Sekunden zu kurz
seien. Das ist aber nur dann sinnvoll, wenn man gleich-
Insofern will ich da auch einen Schwerpunkt setzen. zeitig auch die Laufzeit der Geräte in den Spielkasinos
verlängert. Das Suchtpotenzial ist nämlich in beiden Fäl-
(Lachen bei Abgeordneten der SPD)
len absolut dasselbe.
– Ich glaube nicht, dass das zum Lachen ist. Schließlich müssen wir auch über Repression reden.
(Mechthild Rawert [SPD]: Hoffentlich wissen Zurzeit wird die Nichteinhaltung einiger suchtpolitisch
die Spieler das auch!) relevanter Vorgaben wie beispielsweise das Auslegen
von Informationsbroschüren über die Risiken übermäßi-
– Ich glaube, Frau Kollegin, dass wir, wenn wir uns da- gen Spielens nicht einmal als Ordnungswidrigkeit ge-
rüber unterhalten, wer von uns wie viele Spielhallen be- ahndet. Darüber kann man reden. Hier müsste man neue
sucht hat, wer mit wie vielen betroffenen Menschen ge- Tatbestände schaffen. Auch über die Höhe der Bußgel-
redet hat, der kann man mit mir reden. Ich gehe davon aus, das
BMWi wird genügend Kreativität entwickeln, um die
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE schwarzen Schafe auszumerzen. Wir werden selbstver-
GRÜNEN]: Aha! Esslingen!) ständlich auch unseren Teil dazu beitragen, dass es einen
feststellen werden, dass ich Ihnen zumindest da in nichts „kohärenten“, wie Sie so schön formuliert haben, Spie-
nachstehe. lerschutz gibt, und zwar, ohne unsere Pflichten aus
Art. 12 Grundgesetz zu vernachlässigen. Diesen Ein-
Das Emnid-Institut hat in seiner neuesten Studie schub erlaube ich mir im Hinblick auf die derzeitige Fas-
hierzu ausdrücklich festgestellt, nicht das Spielangebot sung des Entwurfs des Staatsvertrags der Länder.
sei ursächlich, sondern krankhafte Strukturen in der
Zusammenfassend sage ich: Wir lehnen Ihren Antrag
Spielerpersönlichkeit. Das heißt, wenn eine bestimmte
(B) Spielform erschwert oder verboten wird, hört der Spieler ab. (D)
logischerweise nicht auf, zu spielen, sondern wendet Vielen Dank.
sich anderen Formen zu. Es macht deshalb auch wenig
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Sinn, einzelne Formen zu verbieten oder einfach nicht
Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Sehr
mehr zuzulassen. Wir vertreiben die Menschen damit
schade!)
nur aus den Hallen und treiben sie ins Internet.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsidentin Petra Pau:
neten der FDP) Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Frak-
tion Die Linke.
Ich setze mich deshalb für Maßnahmen ein, wie sie in
der Evaluation vorgesehen sind: (Beifall bei der LINKEN)
Hier wird einmal die Einführung einer sogenannten
Spielerkarte vorgeschlagen, um illegale Spielpraktiken Frank Tempel (DIE LINKE):
zu verhindern. Diese Karte soll nur für einen Tag und für Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
eine Spielstätte gelten. Sie kann nur an einem Gerät ein- und Herren! Wir haben eben von Frau Graf gehört und
gesetzt werden. Damit verhindert man Mehrfachbespie- können es auch dem SPD-Antrag entnehmen, dass wir in
lungen. Die Karte soll auch eine maximale Obergrenze Deutschland rund 500 000 pathologische Glücksspieler
für mögliche Einzahlungen beinhalten. Gewinne werden und rund 800 000 problematische Spieler haben. Denken
nicht auf der Karte gespeichert, sondern müssen ebenso Sie, wenn wir über das Thema reden, ganz kurz daran,
wie möglicherweise verbleibende Restbeträge am Ende was das für den Einzelnen, aber auch dessen Familie be-
des Tages ausbezahlt werden. deutet. Wir müssen also schon über die Glücksspielsucht
insgesamt reden und dürfen nicht nur auf die Kompeten-
Dann ist es mir tatsächlich auch wichtig, Frau Graf, zen von Bund und Ländern abstellen. Die Bundesregie-
dass die Kenntnisse der Spielhallenbetreiber über den rung kann nämlich durchaus auch Einfluss auf die Län-
Spieler- und Jugendschutz verbessert werden, dass eine der nehmen.
Sachkundeprüfung zur Voraussetzung für die Erteilung
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
einer Spielhallenerlaubnis gemacht wird und der Betrei-
neten der SPD)
ber und die Mitarbeiter diese Prüfung in regelmäßigen
Abständen wiederholen müssen. Das ist ein zentrales Der Europäische Gerichtshof fordert ja die Reformie-
Anliegen. rung des Glücksspielvertrages der Bundesländer, wenn
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16581
Frank Tempel
(A) das staatliche Glücksspielmonopol aufrechterhalten wer- präventive Lösungsansätze. Die Linke findet, dass die (C)
den soll; denn staatliche Werbung für Lotterien auf der SPD mit ihrem Antrag in eine gute Richtung geht, und
einen Seite und der Auftrag der Suchtprävention auf der deshalb wollen wir ihn mittragen.
anderen Seite ist mit dem staatlichen Monopol auf das
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Glücksspiel unvereinbar. Wer also ehrlich mit dem
Thema Glücksspiel umgehen will, muss zuerst eine Aber darüber hinaus ist es wichtig, weitere Fragen zu
Frage beantworten: Wollen wir eine funktionierende stellen. Daran können wir, wie Sie sicher zugestehen
Suchtprävention, die die Gefahren des Glücksspiels ein- werden, arbeiten. Zu fragen ist, ob es sinnvoll ist, das
schränkt, oder sollen mit dem Glücksspiel Mehreinnah- Automatenspiel überhaupt außerhalb von Spielkasinos
men erzielt werden, die den Betreibern und auch dem zu ermöglichen. Zudem ist zu fragen, wie Sanktions-
Staat zufallen? maßnahmen gegen Betreiber bei Verstößen kontrolliert
werden sollen. Sollen das die Polizei oder die Ordnungs-
Ein Beispiel: Schwarz-Gelb in Schleswig-Holstein ämter nun auch noch bewältigen? Wie und von welchem
scheint sich für die Einnahmeseite entschieden zu haben. Geld sollen diese Kontrollen bezahlt werden? Das sind
Dort lässt man jetzt Poker-Portale und Wettangebote jeg- Probleme, die gelöst werden müssen. Zudem stellt sich
licher Art ohne Begrenzung der Zahl der kommerziellen die Frage: Wie können wir den Jugendschutz weiter ver-
Anbieter zu. Schleswig-Holstein ist so auf dem besten bessern?
Weg zu einem Las Vegas an der Waterkant.
Sie sehen, dass die Diskussion noch lange nicht am
Tobias Koch von der CDU Schleswig-Holstein hat Ende ist. Aber 500 000 Glücksspielsüchtige und 800 000
schon Euro-Zeichen in den Augen. Er rechnet mit 40 bis problematische Spieler sollten uns allen zu denken ge-
60 Millionen Euro Mehreinnahmen für die Landeskasse. ben. Wenn wir es mit der Bekämpfung der Spielsucht
Im Klartext heißt das aber: Mehr Markt gleich mehr ernst meinen, müssen wir neue Wege der Prävention und
Spiel gleich mehr Spielsucht. nicht neue Wege der Marktöffnung gehen.
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: So ein (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Quatsch!) neten der SPD und des Abg. Dr. Harald Terpe
Das ist verantwortungslos, und das wird mit der Linken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
nicht gehen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der LINKEN)
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Christine
Die anderen Bundesländer gehen mit der Einnahme- Aschenberg-Dugnus das Wort.
(B) orientierung nicht ganz so weit. Hier soll auf der einen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D)
Seite das staatliche Lottomonopol erhalten bleiben, auf
der anderen Seite aber auch der Markt für Sportwetten
geöffnet werden. Es soll 20 statt der geplanten 7 kom- Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
merziellen Sportwettenanbieter geben, und die Steuerbe- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
lastung für Spieleinsätze soll von 16,6 Prozent auf 5 Pro- Glücksspielsucht ist ein ernstzunehmendes Thema. Wer
zent gesenkt werden. Die Ministerpräsidenten haben auf Dauer länger spielt oder mehr Geld einsetzt, als er
also keine neue Regelung im Bereich der Suchtpräven- sich leisten kann oder will, für den kann das Spielen zu
tion gesucht, sondern es vorgezogen, der Glücksspiel- einer schweren Belastung werden. Doch so ernst dieses
lobby durch Öffnung des Marktes entgegenzukommen. Thema auch ist, es gibt auch Anlass für positive Bot-
schaften.
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist es!)
Ich bin froh, Ihnen mitteilen zu können, dass 99 Pro-
Es sagt doch alles, wenn der Chef des Anbieters Bet zent der Bevölkerung im Alter von 16 bis 65 Jahren ins-
and Win die neue Regelung als wichtigen Schritt auf gesamt kein pathologisches Glücksspielverhalten auf-
dem Weg zu einer zeitgemäßen Glücksspielregelung be- weisen. Das ist auch eine Botschaft unserer heutigen De-
zeichnet und damit sozusagen lobt. Gleichzeitig findet er batte. Im Umkehrschluss heißt das, dass insgesamt nur
die Regelung in Schleswig-Holstein zukunftsweisend. 1 Prozent der Bevölkerung problematisches Glücksspiel-
Hier spricht einer, der noch mehr Einnahmen auf sich verhalten aufweist.
zukommen sieht und am liebsten noch mehr Spielraum
hätte. Auch dazu sagt die Linke: So geht es nicht. (Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Denken
Sie mal an die Familien, an die Angehörigen,
(Beifall bei der LINKEN – Christine an die Kinder, die zu leiden haben!)
Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sie sagen gar
nichts zur Sucht!) Das sind nach Angaben der Bundeszentrale für gesund-
heitliche Aufklärung bundesweit 540 000 Betroffene –
Dass es für diese Problematik eine hohe Sensibilität zu viele; da gebe ich Ihnen recht. Im Jahr 2009 waren es
gibt, zeigt die SPD mit ihrem hier vorliegenden Antrag. übrigens noch 590 000 Betroffene. Wir haben also schon
In ihm wird vor allem die Suchtgefahr beim Automaten- einen Rückgang um 50 000 zu verzeichnen.
glücksspiel thematisiert. Konkret wird unter anderem
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Alles ist gut!)
gefordert: Entschleunigung der Geldspielautomaten, Sen-
kung des maximalen Verlustes pro Stunde, ein verpflich- Wir sprechen hier also von 1 Prozent mit missbräuchli-
tendes Identifikationssystem. Das alles sind geeignete chem Verhalten.
16582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Christine Aschenberg-Dugnus
(A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Glücksspielmonopols. Warum soll nun ausgerechnet ein (C)
GRÜNEN]: Sie müssen die Familien dazu- staatliches Monopol den besten Schutz vor Sucht bewir-
rechnen!) ken? Erklären können Sie das nicht.
Bei allem Respekt vor diesen Menschen, denen wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ganz sicher helfen müssen und auch helfen wollen: Es ist
schlicht nur 1 Prozent. Für die überwältigende Mehrheit Allein Ihr unerschütterlicher Glaube an den Staatsdiri-
ist Glücksspiel ein emotionaler Freizeitspaß. Die martia- gismus wird deutlich. Bei Sportwetten und beim Lotto
lische Dramatik, die Sie in Ihrem Antrag an den Tag le- ist das ganz besonders offensichtlich. Dass ein vom Staat
gen, ist daher vollkommen unangebracht. Sie tun gerade organisiertes und beworbenes Glücksspiel weniger ab-
so – das haben wir heute schon mehrfach festgestellt –, hängig macht als eines von privaten Anbietern, war
als ob ein ganzes Volk durch Glücksspiel von massiver schon immer ein Irrglaube. Das können Sie auch nie-
Verschuldung oder Kriminalität bedroht wäre. Sie tun so, mandem erklären. Das ist nicht unser Weg.
als wenn wir hier in einem völlig unkontrollierten Las
Vegas wären, in dem vernünftige Menschen dazu ani- (Jens Ackermann [FDP]: So ist es!)
miert werden, ihre Existenz zu verspielen und Frau und Unser Weg setzt beim aufgeklärten, mündigen Bürger
Kind im Elend zurückzulassen. an. Genau deswegen setzen wir auf Prävention.
(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das ist
(Mechthild Rawert [SPD]: Davon ist aber
so! Haben Sie sich mal mit denen unterhal-
nichts zu sehen!)
ten?)
Meine Damen und Herren, das ist nicht der Fall. In diesem Punkt kann ich Ihrem Antrag auch folgen.
Eine Intensivierung von Aufklärungskampagnen ist ab-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) solut begrüßenswert und wird von uns unterstützt. Die
Denn es gibt bereits klare gesetzliche Vorgaben und sehr Fortführung bewährter und die Entwicklung neuer, und
begrüßenswerte freiwillige Maßnahmen, auch und ge- zwar zielgruppenspezifischer, Präventionsmaßnahmen
rade – auch wenn Sie das kritisieren – von der Automa- stehen ganz oben auf unserer Agenda. Die BZgA macht
tenindustrie, und zwar ohne staatlichen Dirigismus. So hier eine ganz hervorragende Arbeit. Wir debattieren
setzen die Konzepte der Automatenindustrie einen auch – da bin ich mit Karin Maag einig – über die Ein-
Schwerpunkt auf Information und Prävention. Die An- führung einer Spielerkarte, um die Suchtspirale der Au-
sätze hierbei sind: erstens Mitarbeiterschulung zur Früh- tomatenmehrfachbespielung zu durchbrechen. Ganz be-
erkennung und Prävention, sonders im Hinblick auf den Jugendschutz muss
(B) natürlich auch das Personal in seiner Kompetenz ge- (D)
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Oh!) stärkt werden; denn es muss ohne Wenn und Aber dafür
zweitens Informationsflyer über kostenfreie und ano- Sorge tragen, dass Minderjährige nicht an Automaten
nyme Beratungsmöglichkeiten sowie drittens Hinweise spielen. Ansonsten muss der Verstoß gegen gesetzliche
auf die Beratungshotline der BZgA. Außerdem besteht Vorgaben natürlich strikt sanktioniert werden.
– die Kollegin Maag hat es schon angesprochen – seit Herr Ströbele, es gibt übrigens auch einige grüne Be-
1985 in vielen Spielotheken ein absolutes Alkoholverbot zirksstadträte, die lieber die Einhaltung des Heizpilzver-
– das finde ich sehr richtig –, um einen klaren Kopf bei bots kontrollieren als die Einhaltung des Jugendschut-
den Spielgästen zu garantieren. zes. An diesem Punkt könnten wir auch einmal ansetzen.
(Hilde Mattheis [SPD]: Na super!) Wir haben nämlich ein Vollzugsdefizit und kein Geset-
zesdefizit. Das sage ich, um das Ganze richtig einzuord-
Dennoch ist jeder Fall von Glücksspielsucht einer zu nen.
viel. Deshalb helfen wir diesen Menschen. Doch jede
noch so gut gemeinte Hilfestellung muss dem Grundsatz Die Sachkenntnis von Automatenaufstellern hinsicht-
der Verhältnismäßigkeit standhalten. lich des pathologischen Glücksspielverhaltens kann und
muss noch verbessert werden. Doch bevor wir es Gastro-
(Jens Ackermann [FDP]: Sehr richtig!)
nomen verbieten, in ihrer Kneipe einen Automaten auf-
Ich lehne es grundsätzlich ab, die große Mehrheit derer, zustellen, sollten wir lieber die Einhaltung der Gesetze
die mit einer Sache verantwortungsvoll umgehen, voll- kontrollieren und Verstöße hart bestrafen. In der Summe
kommen überzogen zu bestrafen, und das nur, weil eine müssen wir die Beteiligten stärken, statt sie zu bevor-
Minderheit nicht damit umgehen kann. Beim Glücks- munden: Wir müssen erstens die Spieler in ihrer aufge-
spiel sprechen wir von solch einer Sachlage. Es gilt, mit klärten Eigenverantwortung und zweitens die Betreiber
Augenmaß und Gespür für die Menschen an die Proble- in ihrer Verantwortung, Missbrauch zu erkennen, zu ver-
matik heranzugehen, und genau das tun wir. meiden und zu unterbinden, stärken. Das kann und sollte
auch durch technische Maßnahmen flankiert werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wir sollten beispielsweise über eine Verringerung der
der CDU/CSU)
Ereignisfrequenz und eine Verringerung des maximalen
Liebe Sozialdemokraten, in Ihrem Antrag formulieren Verlustes bzw. Gewinns ergebnisoffen diskutieren. Dazu
Sie einige wichtige Forderungen, die ich hier gar nicht gehört ebenso die Einführung einer Spielerkarte. Einen
ablehnen will. Aber Sie bleiben auch wichtige Antwor- mit erhobenem Zeigefinger versehenen Rundumschlag
ten schuldig. Ein Beispiel ist Ihr Mantra des staatlichen lehne ich jedoch ab; denn die meisten Menschen haben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16583
Christine Aschenberg-Dugnus
(A) keine Probleme mit dem Glücksspiel. Diejenigen, die sie gen die Ausschussergebnisse nachzulesen; daraus kann (C)
haben, werden wir davor schützen. man einiges lernen. Es gilt festzuhalten, dass Prävention
nicht nur Suchtschicksale verhindert, sondern auch not-
Vielen Dank.
wendige Voraussetzung ist, um den Bestand von Mono-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – polstaatsverträgen gerichtsfest zu sichern – wenn man es
Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Wer hat denn will. Wir wollen das.
Ihnen denn diese Rede aufgeschrieben? Die
(Beifall der Abg. Angelika Graf [Rosenheim]
Automatenindustrie?)
[SPD])
Vizepräsidentin Petra Pau: Viele Forderungen im Antrag der SPD werden von
Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe für die uns unterstützt, insbesondere die strengen Rahmenvor-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. gaben für Geldspielgeräte. Das setzt allerdings voraus
– da schließe ich mich dem Kollegen Tempel an –, dass
man die Kommunen finanziell und personell in die Lage
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
versetzt, die Einhaltung der Vorgaben auch zu kontrollie-
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Kollegin ren. Die Ergebnisse der Modellversuche und der Studien
Aschenberg-Dugnus – an dieser Stelle könnte ich auch zur Evaluation der Spielerverordnung sind ernüchternd.
Frau Maag erwähnen – an Verharmlosung geboten hat, Man kann mitnichten sagen, da sei alles in Butter. Viel-
ist kaum erträglich. mehr berichten die Kolleginnen und Kollegen vor Ort
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, von einer derart mangelnden Kooperation der Betreiber,
bei der SPD und der LINKEN) dass einem die Haare zu Berge stehen. Das muss hier
einmal festgehalten werden.
Dass wir dann auch noch hören mussten, dass der Auto-
matenindustrie in diesem Lande der Charakter von Sa- Wir begrüßen den Ansatz der SPD, über die Baunut-
maritern zugeschrieben wird, zungsverordnung der Spielhallenflut in den Kommunen
Herr zu werden, und freuen uns darüber, dass Sie inzwi-
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das hat schen selbst einen entsprechenden Antrag umsetzen wol-
niemand behauptet!) len, nachdem Sie zuvor unserem Antrag nicht zustim-
ist wirklich so daneben, wie man sich das nur vorstellen men konnten.
kann. Die übliche Floskel: „Das liegt in der Suchtstruk- Es gibt aber auch Forderungen, die man kritisch hin-
tur der Spieler begründet“, bedeutet eine klare Ableh- terfragen muss. Beispielsweise bin ich skeptisch, was die
nung von Verhältnisprävention. Auch das ist überhaupt Einführung einer Spielerkarte in Spielhallen angeht. Er-
(B) nicht zu verstehen. (D)
fahrungen aus Australien haben gezeigt, dass solche
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Karten wirkungslos sind und zu nichts führen. Dass eine
bei der SPD und der LINKEN) solche Einführung ausgerechnet von der Automatenin-
dustrie befürwortet wird, nährt doch den Verdacht, damit
Das Thema Glücksspiel ist ein anschauliches Beispiel quasi als Alibi wirksame Einschränkungen zu verhin-
dafür, welche Folgen eine falsche Suchtpolitik haben dern oder Kundenprofiling zu betreiben, möglicherweise
kann. sogar beides. Wir sind der Überzeugung, dass solche
(Dagmar Freitag [SPD]: Die ist verantwor- Automaten in Kneipen und Imbissbuden nichts zu su-
tungslos!) chen haben. Viele Studien haben gezeigt, dass junge
Menschen dort angefixt werden, zumal dort wirksame
Bei der Behandlung illegaler Drogen haben die Ideolo- Kontrollen des Jugendschutzes nicht möglich sind.
gen das Sagen, die die Abhängigen kriminalisieren.
Beim Thema Glücksspielsucht bestimmt maßgeblich die Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns ge-
Industrie den Kurs der Bundesregierung. meinsam Fehlentwicklungen und Probleme, die nach der
letzten Novelle zur Spielerverordnung aus dem Jahr
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ 2006 aufgetreten sind, beseitigen.
DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)
Meine letzte Anregung ist, uns auch auf Länderebene
Den Preis dafür zahlt immer die gesamte Gesellschaft. für die Stärkung der Monopolstaatsverträge einzusetzen
Bezüglich des Automatenspiels heißt das: Privatisierung und dafür zu sorgen, dass es nicht zu einer Aushöhlung
der Gewinne – 7 Milliarden Euro für die Automatenin- kommt. Die Länder muss man zumindest dafür loben,
dustrie – und Sozialisierung der Suchtfolgen. Das kann dass sie mehr Bereitschaft zeigen als der Bund, Spielau-
das Parlament doch nicht tolerieren. tomaten strenger zu reglementieren, weil ihnen die Pro-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bleme vor Ort offenbar stärker auf den Nägeln brennen.
bei der SPD und der LINKEN)
Insofern ist jede Initiative zu begrüßen, die hier Ab- Vizepräsidentin Petra Pau:
hilfe schaffen will. So zumindest verstehe ich den An- Kollege Terpe, achten Sie bitte auf das Signal.
trag der SPD. Auch meine Fraktion hatte in der Vergan-
genheit diesbezüglich mehrfach Vorstöße unternommen, Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zuletzt mit einer Anhörung im Gesundheitsausschuss. Ein solches Engagement würde ich mir natürlich auch
Ich schlage Ihnen vor, einmal in den Zusammenfassun- vom Bund wünschen. Das ist aber von einem FDP-ge-
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Dr. Harald Terpe


(A) führten Bundeswirtschaftsministerium weniger zu er- (Zuruf von der FDP: Was denn nun?) (C)
warten, obwohl der Minister eigentlich etwas von Sucht-
Selbst der Deutsche Olympische Sportbund, seit langem
gefährdung verstehen müsste.
ein Verfechter der Marktöffnung im Sportwettenbereich,
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. hat die Erwartungen hinsichtlich eines potenziellen
Geldsegens mittlerweile zurückgeschraubt, wie wir in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der gestrigen Sportausschusssitzung erfahren haben. Von
bei der SPD und der LINKEN) den oft vom DOSB veranschlagten 80 Millionen Euro
für den Sport ist nur noch eine vage Option auf ein Drit-
Vizepräsidentin Petra Pau: tel der Abgaben für den Sport übrig geblieben, was im
Die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat für die Staatsvertrag allerdings nirgendwo festgehalten ist.
SPD-Fraktion das Wort. (Karin Maag [CDU/CSU]: Offensichtlich hei-
(Beifall bei der SPD) ligt der Zweck die Mittel!)
Es bleibt offen, was das in Euro und Cent für den Brei-
Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD): tensport bedeutet.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Das bedeutet: Nur wenn einerseits das Volumen des
Kollegen! Oscar Wilde hat gesagt, allem könne er wider-
Glücksspielmarktes an sich steigt und andererseits mehr
stehen, nur der Versuchung nicht. Was uns vielleicht
Menschen als bisher spielen und mehr Geld als bisher
zum Schmunzeln bringt, ist für viele Menschen leider
verspielen, wird der Breitensport annähernd die gleiche
schmerzhafte Realität: Sie können einer Versuchung
Förderung wie bisher erhalten. Das aber, liebe Kollegin-
nicht widerstehen; sie sind süchtig. Liebe Kolleginnen
nen und Kollegen, würde zu einer erhöhten Zahl der
und Kollegen, Eigenverantwortung allein hilft an dieser
Spielsüchtigen führen.
Stelle nicht weiter.
(Jan Mücke [FDP]: Das ist doch nicht logisch!
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) Das ist unlogisch!)
Mit unserem Antrag wollen wir nicht das Glücksspiel Das ist kein Schreckgespenst; das sind Fakten: In Groß-
verbieten. Mit unserem Antrag wollen wir nicht das pro- britannien ist die Zahl der Spielsüchtigen in den ersten
saische letzte bisschen Freiheit, das so oft beschworen drei Jahren der Kommerzialisierung des Glücksspiel-
wird, eingrenzen. Nein, es geht uns ausschließlich da- marktes um 50 Prozent gestiegen. Es kann von uns nicht
rum, süchtigen Menschen zu helfen; denn Sucht ist nicht gewollt sein, eine dahin gehende Liberalisierung durch-
Freiheit; Sucht ist das Gegenteil. zuführen.
(B) (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Ausrede, dieser Staatsvertrag sei Angelegenheit
DIE GRÜNEN) der Länder, lassen wir einfach nicht gelten. An anderer
Ich möchte auf einen anderen Aspekt hinweisen. Mit Stelle sind Sie auch nicht so zurückhaltend und versu-
dem Entwurf eines neuen Glücksspielstaatsvertrags sind chen vielmehr, auf die Länder einzuwirken.
vor einigen Wochen negative Fakten geschaffen worden, (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
etwa durch die Aufgabe des Sportwettenmonopols. Wa- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
rum negativ? Mit dem Glücksspielmonopol wurde bis- GRÜNEN)
her nicht nur die Prävention sichergestellt; das Glücks-
spielmonopol hat auch – das gehört dazu – massiv zur Insofern möchte ich Sie noch einmal bitten, auf der ei-
Förderung und Finanzierung des Breitensports beigetra- nen Seite die Spielsüchtigen und ihre Angehörigen und
gen, weil die staatliche Lotterie eine Konzessionsabgabe Familien nicht alleinzulassen und in die Prävention zu
von 16 2/3 Prozent des Einsatzes gezahlt hat, die dem investieren und auf der anderen Seite sicherzustellen,
Breitensport insgesamt zugeflossen ist. So kamen durch dass dem Breitensport wenigstens durch die staatliche
Lotto und Oddset jedes Jahr 500 Millionen Euro für den Abgabe eine angemessene Finanzierung zur Verfügung
Breitensport zusammen. gestellt wird.
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das ist (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
also gutes Geld!) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Mit diesem Geld wurde mehr gemacht, als Torpfosten
einzugraben und Tischtennisplatten aufzustellen. Mit
Vizepräsidentin Petra Pau:
diesem Geld wurden Jugendarbeit und ehrenamtliches
Es tut mir leid, Kollege Kauder, aber Sie waren mit
Engagement gefördert.
Ihrer Initiative, mit der Kollegin Bätzing ins Gespräch
In diesem Bereich wird es durch die Aufgabe des zu kommen, zu spät. Sie hatte ihre Redezeit schon über-
Monopols extreme Einschnitte geben. Denn es gibt er- schritten.
hebliche Zweifel, ob eine 5-prozentige Abgabe auf Wett-
Ich schließe die Aussprache.
einsätze, die von 20 bisher rein potenziellen Konzes-
sionsnehmern gezahlt werden soll, den Wegfall der Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
bisherigen Einnahmen aus der Zweckabgabe im Rahmen Drucksache 17/6338 an die in der Tagesordnung aufge-
des Wettmonopols ausgleichen wird. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16585
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Wir haben unsere sogenannte Nachhaltigkeitsprü- (C)
so beschlossen. fung an den Anfang gestellt. Ihr müssen sich alle Gesetz-
entwürfe und Verordnungen der Bundesregierung unter-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a und b auf: werfen. Das heißt: In allen Gesetzentwürfen und
a) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen- Verordnungen, die von der Regierung kommen, müssen
tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung Aussagen sowohl zu den in unserer Nachhaltigkeitsstra-
tegie niedergelegten Managementregeln enthalten sein
Bericht des Parlamentarischen Beirats über
die Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfol- (Ulrich Kelber [SPD]: Müssten!)
genabschätzung und die Optimierung des Ver-
fahrens als auch zu den Zielvorgaben der 21 Indikatoren.
– Drucksache 17/6680 – Es geht nicht zwingend darum, immer exakt beziffer-
bare Aussagen zu machen. Dazu ist auch niemand bei je-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dem Gesetzentwurf und jeder Verordnung in der Lage.
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Es geht schlicht und ergreifend immer darum, möglichst
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un-
sorgfältig und möglichst intensiv zu den Auswirkungen
terrichtung durch den Parlamentarischen Beirat
auf die Vorgaben dieser Managementregeln und der In-
für nachhaltige Entwicklung
dikatoren Stellung zu nehmen. Das heißt: Es müssen so-
Europäische Nachhaltigkeitsstrategie wohl positive als auch negative Auswirkungen darge-
stellt werden. Eine gute Nachhaltigkeitsprüfung kommt
– Drucksachen 17/5295, 17/7678 – fast nicht ohne diese beiden Aspekte aus; denn es kann
Berichterstattung: durchaus einmal eine negative Auswirkung bei einem
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart Indikator geben, die sich aber letztlich positiv auf das
Dr. Matthias Miersch Gesamtbild des Gesetzentwurfs auswirkt. Diese Gegen-
Michael Kauch überstellung von positiven und negativen Aspekten hilft
Ralph Lenkert uns, in unseren Ausschussberatungen vielleicht eine
Dorothea Steiner noch breitere Entscheidungsgrundlage zu finden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ich gebe gern zu: Als wir mit unserer Bewertungsar-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre beit, lieber Andreas Jung, im Beirat angefangen haben,
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. mussten wir bei manchen Nachhaltigkeitsprüfungen, so-
(B) fern sie überhaupt vorhanden waren, manchmal ziemlich (D)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
großzügig sein, um festzustellen: Es hat zumindest eine
gin Daniela Ludwig für die Unionsfraktion.
Prüfung stattgefunden. Ob das richtig intensiv war oder
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nur aus einem hinzugefügten Textbaustein bestand, sei
einmal dahingestellt. Liebe Kollegin Arndt-Brauer, wir
Daniela Ludwig (CDU/CSU): haben viele Sachen herausgezogen, mussten aber auch
feststellen: Wir haben im Prinzip mit dieser Nachhaltig-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
keitsprüfung eine Operation am offenen Herzen begon-
Wir debattieren heute zwei Themen, die nur bedingt et-
nen; denn vor uns hat das niemand so wirklich prakti-
was miteinander zu tun haben: die Nachhaltigkeitsprü-
ziert. Die Bundesregierung wurde ins kalte Wasser
fung in der Gesetzesfolgenabschätzung und die Fort-
geworfen, wir als Beirat letztlich auch. Wir haben uns
schreibung der EU-Nachhaltigkeitsstrategie. Auf den
die ambitionierte Aufgabe gestellt, wirklich von Anfang
ersten Blick sind dies scheinbar zwei unterschiedliche
Aspekte, die aber deutlich mehr miteinander zu tun ha- an strikt durchzuprüfen: Wird zur Generationengerech-
ben. Es geht nämlich immer um die Frage: Wie wird tigkeit Stellung genommen? Wird zum Umweltschutz,
Politik nachhaltiger? zur nachhaltigen Landwirtschaft usw. Stellung genom-
men? Ich glaube, dass wir uns im Beirat seit Beginn der
Wenn es um die Sicherung von Nachhaltigkeitszielen Legislaturperiode ordentlich gesteigert haben, sowohl
in der Gesetzgebung geht, stehen wir in der Politik ei- was die Intensität unserer Arbeit als auch was die Arbeit
gentlich immer vor einem Dilemma. Die Gesetzgebung der Bundesregierung im Hinblick auf die Nachhaltig-
orientiert sich zumeist an einer Legislaturperiode. Sie keitsprüfung betrifft. Die Nachhaltigkeitsprüfung ist
möchte innerhalb dieser Zeit Ergebnisse vorweisen. nichts anderes als lebenslanges Lernen. Wir lernen bei
Auch die Bürgerinnen und Bürger erwarten zumeist rela- jedem Gesetzentwurf und bei jeder Verordnung dazu.
tiv schnell und kurzfristig Ergebnisse. Sie sind oftmals
nicht bereit, mit uns den Weg einer langfristigen Per- Dass Fehler passiert sind und immer noch passieren,
spektive zu gehen. Es soll immer recht schnell etwas he- ist bedauerlich. Sie werden aber verzeihbar, wenn wir
rauskommen. Unsere honorige Aufgabe als Beirat ist es bei unserem nächsten Anlauf merken, dass Korrekturen
nun – das ist auch Aufgabe der Nachhaltigkeitsprüfung –, stattfinden und dass man uns ein klein wenig verinner-
genau dem entgegenzuwirken und die Aufmerksamkeit licht hat. Ich hoffe, für den einen oder anderen von uns
im politischen Betrieb darauf zu lenken, wie Politik, Ge- zu sprechen, wenn ich sage: Es ist besser geworden,
setzentwürfe und Verordnungen nachhaltiger werden liebe Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungs-
können. bank, aber das ist noch deutlich steigerungsfähig.
16586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Daniela Ludwig
(A) Das ist das eine Thema, mit dem wir uns heute be- Nachhaltigkeit geachtet hat. Wir prüfen das sehr formal. (C)
schäftigen und für das ich sehr werbe, auch unter den Wir haben Managementregeln, wir haben ein Konzept,
Kollegen, die nicht im Beirat sitzen. Ich empfehle, sich das dahintersteht, und wir haben 21 Indikatoren, mit de-
dieses Themas fraktionsübergreifend sensibler anzuneh- ren Hilfe wir überprüfen, ob irgendetwas davon berück-
men. Ich glaube, jeder findet in seiner Fraktion den einen sichtigt worden ist, als ein Gesetz auf den Weg geschickt
oder anderen Ansprechpartner, der einen mit großen Au- worden ist.
gen anschaut, wenn man die Themen Gesetzesfolgenab-
schätzung und Nachhaltigkeitsprüfung in einem Satz er- Hier beginnt unser Problem. Wir prüfen sehr formal.
wähnt. Wir alle haben noch Lieferbedarf, Hol- und Für die Oppositionsfraktionen darf ich sagen: Wir wür-
Bringschuld gleichermaßen. Wir haben uns in der Ar- den gerne auch inhaltlich prüfen. Wir würden gerne prü-
beitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion vorgenommen, die- fen, ob ein Gesetz, das auf den Weg gebracht worden ist
ses Thema massiv anzugehen. – von welchem Minister auch immer –, inhaltlich wirk-
lich auf Generationengerechtigkeit ausgerichtet worden
Gestatten Sie mir zum Abschluss noch wenige Worte ist; denn wir haben da manchmal unsere Zweifel. Wir
zum Thema Europäische Nachhaltigkeitsstrategie, das versuchen immer, wie meine Vorrednerin schon ange-
wir an diese Debatte angedockt haben. Es ist aus Sicht deutet hat, am Ende einen Konsens hinzubekommen.
des Beirats – Sie merken, wir versuchen immer sehr Deswegen steht das Thema inhaltliche Prüfung im Mo-
konsensual zu arbeiten; das gelingt uns nicht immer, ment noch ein bisschen hintan. Ich würde mir wünschen,
aber sehr häufig – absolut inakzeptabel, wenn die Euro- dass wir das im Konsens ein bisschen verändern.
päische Kommission den Standpunkt vertritt, eine Fort-
schreibung der Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie Wir prüfen in vier Nachhaltigkeitsbereichen: Genera-
sei nicht erforderlich, weil die Nachhaltigkeitsstrategie tionengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammen-
in die Strategie Europa 2020 aufgehe. So wird kein halt und internationale Verantwortung. Es hat sich he-
Schuh draus. Die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie rausgestellt – das ist Folge des Umstands, dass wir es
muss immer der große Rahmen für alle anderen Strate- hier mit einem völlig neuen Thema zu tun haben –, dass
gien auf europäischer Ebene sein, zum Beispiel die Lis- das Ganze verbesserungswürdig ist. Unsere Prüfungen
sabon-Strategie. Ich bin sehr froh, dass wir einen ge- sind immer noch sehr aufwendig. Ich möchte das Ver-
meinsamen Entschließungsantrag zustande gebracht fahren einmal denen erklären, die nicht dabei sind: Es
haben, in dem die Bundesregierung einvernehmlich auf- prüfen jeweils ein Koalitionspolitiker und ein Opposi-
gefordert wird, auf europäischer Ebene genau in diese tionspolitiker, ähnlich wie im Petitionsausschuss. Die
Richtung hinzuwirken und dieses Thema in Brüssel in- Prüfungen verlaufen manchmal einvernehmlich, manch-
tensiv anzubringen. mal strittig. Wenn strittig geprüft worden ist, wird an-
(B) Im Großen und Ganzen sind wir national wie euro- schließend im Beirat abgestimmt. Zu diesem Zeitpunkt (D)
päisch auf einem ausgesprochen guten Weg. Lassen Sie sind dann alle Politiker der Koalition anwesend. Ansons-
uns diesen Weg weitergehen. Lassen Sie uns immer bes- ten haben wir das Gefühl, dass die Koalition nicht so
ser werden. sehr an diesem Thema hängt wie die Opposition. Dieser
Eindruck drängt sich manchmal auf, wenn nur ein Ver-
Vielen herzlichen Dank. treter der CDU dasitzt, obwohl neun dort sitzen könnten.
Auch da sind Verbesserungen möglich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Qualität,
Vizepräsidentin Petra Pau: nicht Quantität!)
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die
SPD-Fraktion. – Quantität gegen Qualität. Gut. Bei uns geht es mit
Qualität und Quantität. Das sollten Sie eigentlich auch
(Beifall bei der SPD) anstreben.

Ingrid Arndt-Brauer (SPD): (Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Das ist der logische Umkehrschluss!)
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Parla-
Schwierig ist die Vernetzung mit der europäischen
mentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ist am
Nachhaltigkeitsstrategie; das wurde schon angedeutet.
17. Dezember 2009 zum dritten Mal eingesetzt worden.
Die praktische Umsetzung ist sehr problematisch, weil
Es ist unser Problem, dass wir in jeder Legislaturperiode
Eurostat zwar viele Daten erhebt, die Europäische Nach-
neu eingesetzt werden müssen. Wir gehören noch nicht
haltigkeitsstrategie für die Bundesregierung in Bezug
ganz normal dazu. Wir haben auch keinen Minister, der
auf ihr Verhalten aber eigentlich keine Rolle spielt. Wir
für uns zuständig ist. Wir müssen immer über den Um-
würden uns schon etwas anderes wünschen. Wir wün-
weltausschuss hier im Plenum reden. Wir sind bisher
schen uns entweder eine stärkere inhaltliche Verzahnung
also etwas stiefmütterlich behandelt worden.
oder dass man das eine zur Grundlage des anderen
Aber wir haben Aufgaben. Diese Aufgaben beinhal- macht. Ich finde, es ist sehr wichtig, dass wir, wenn es
ten seit dieser Legislaturperiode unter anderem die Ge- um Generationengerechtigkeit geht, wenn es wirklich
setzesfolgenabschätzung. Das heißt, wir haben die Auf- um die Verantwortung für nachfolgende Generationen
gabe, zu überprüfen, ob die Bundesregierung, wenn sie geht, auf europäischer und nationaler Ebene in eine
einen Gesetzentwurf eingebracht hat, auf das Thema Richtung laufen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16587
Ingrid Arndt-Brauer
(A) Auf europäischer Ebene werden ganz andere Dinge Das Endziel sollte sein: mehr nachhaltige Gesetzgebung. (C)
geprüft und ganz andere Daten erhoben. Man hat das Ich hoffe, da kommen wir irgendwann hin.
Gefühl, dass zwei Stränge vollkommen parallel neben-
Danke schön.
einander verlaufen. Das ist unbedingt zu verändern. Ich
denke, wir müssen die Bundesregierung immer wieder (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
auffordern, ihren Einfluss in Europa geltend zu machen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielleicht müssen wir so weit gehen, dass wir sagen:
Okay, wir passen unsere nationale Nachhaltigkeitsstrate- Vizepräsidentin Petra Pau:
gie an die europäische an. Im Moment haben wir aber Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Michael
den Eindruck, dass das Thema Nachhaltigkeit in Europa Kauch das Wort.
nur eine untergeordnete Rolle spielt. Es werden zwar
viele Daten erhoben und Leitlinien entwickelt, man hat (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
aber das Gefühl, dass Überlegungen zur Nachhaltigkeit der CDU/CSU)
auf die Europäische Politik in Wirklichkeit kaum Ein-
fluss haben. Wir haben versucht, mit Parlamentariern in Michael Kauch (FDP):
Kontakt zu kommen. Das ist bisher aber nicht besonders Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
werthaltig gewesen. befinden uns in einer Finanz- und Schuldenkrise. Wir
haben sowohl im Bereich des Klimaschutzes als auch im
Ich möchte die Kollegen auffordern, in ihrem tägli- Bereich der Biodiversität massive ökologische Pro-
chen Leben und in ihrer Politik Nachhaltigkeitsüberle- bleme. Wir stehen vor einer großen UN-Konferenz.
gungen stärker zu verankern. Ich möchte aber ausdrück- 20 Jahre nach der UN-Konferenz von Rio soll die Welt
lich auch die Regierung, die heute nur sehr marginal erneut das Thema Nachhaltigkeit diskutieren. Was macht
vertreten ist – da gilt vermutlich auch: Qualität vor die Europäische Kommission? Die Europäische Kom-
Quantität –, mission sagt angesichts all dieser Nachhaltigkeitspro-
(Ulrich Kelber [SPD]: Das Kanzleramt, das bleme, vor denen wir stehen: Wir brauchen keine Nach-
zuständig ist, fehlt ganz!) haltigkeitsstrategie. – Das ist eine abwegige Haltung der
Europäischen Kommission, die der Deutsche Bundestag
auffordern, das Thema Nachhaltigkeit stärker in den Fo- so nicht teilt.
kus zu rücken und dafür zu sorgen, dass wir das Thema
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
Generationengerechtigkeit nicht immer nur in Reden
SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
hochhalten, sondern Generationengerechtigkeit als Ziel
SES 90/DIE GRÜNEN)
der Politik ausdrücklich anstreben. (D)
(B)
Deshalb begrüßen wir ausdrücklich, dass das Auswär-
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. tige Amt und das Bundeskanzleramt in den Gesprächen
Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit dem Parlamentarischen Beirat deutlich gemacht ha-
NEN]) ben, dass die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie für
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir uns im Beirat die Bundesrepublik Deutschland weiterhin eine wesent-
sehr bemühen, die Dinge im Konsens zu verabschieden. liche Strategie ist und dass sie eben nicht durch die Stra-
Auf dem Weg dorthin wird manchmal recht strittig dis- tegie „Europa 2020“ abgelöst wird. Nachhaltigkeitsstra-
kutiert. Das wird im Rahmen der Obleuteberatungen tegien brauchen einen längeren Atem als nur für die
aber meistens abgeräumt. Ich fände es gut, wenn wir ein- nächsten neun Jahre. Sie brauchen auch ein weiteres
mal gemeinsam einen Antrag auf den Weg bringen Spektrum als das, was in der Strategie „Europa 2020“
könnten, bei dem alle Fraktionen im Titel erscheinen. genannt ist. Die Strategie „Europa 2020“ ist wichtig,
Vielleicht können einige einmal über ihren Schatten aber sie deckt nicht alle Bereiche ab, die für eine nach-
springen. haltige Entwicklung, für Generationengerechtigkeit auf
unserem Kontinent erforderlich sind.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Ich habe etwas zur Europäischen Kommission gesagt.
Im Europäischen Parlament läuft dies nicht besser. Wir
Ich würde es begrüßen, wenn wir das erreichen könnten vom Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwick-
und auf lange Sicht Anträge im Parlament einvernehm- lung haben die zuständigen Kollegen im Europäischen
lich verabschieden könnten. Vielleicht ist das auch zu ei- Parlament besucht. Wir haben leise angeregt, dass ein
ner anderen Tageszeit möglich, sodass uns auf den Rän- solches Gremium wie das im Deutschen Bundestag, das
gen und im Fernsehen mehr zuhören und zuschauen fraktionsübergreifend arbeitet und sich mit den langen
können. Linien von Politik abseits der Tagesdebatten beschäftigt,
eine gute Idee auch für das Europäische Parlament wäre.
Das Thema Nachhaltigkeit sollte nicht nur in Regie-
Die fraktionsübergreifende Antwort war: Alles, was das
rungserklärungen erwähnt werden, sondern auch im täg-
Europäische Parlament macht, ist so nachhaltig, dass wir
lichen Leben eine Rolle spielen. Dazu möchte ich alle
ein solches Gremium nicht brauchen.
auffordern. Ansonsten wünsche ich uns weiterhin eine
erfolgreiche Arbeit beim Thema Nachhaltigkeit. Die Ge- (Heiterkeit der Abg. Dr. Valerie Wilms
setzesfolgenabschätzung sollte nicht das Endziel sein. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
16588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Michael Kauch
(A) Ich glaube, dass manche Kolleginnen und Kollegen des Klimas, der hemmungslosen Rohstoffausbeutung (C)
auch im Europäischen Parlament vielleicht ein bisschen und der rücksichtslosen Ausbeutung der arbeitenden Be-
von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union lernen völkerung. Dies alles macht die Reichen reicher und die
könnten, zum Beispiel von Deutschland, Skandinavien, Armen ärmer.
Großbritannien und auch einigen der südeuropäischen
(Beifall bei der LINKEN)
Länder, die inzwischen eine umfassende Nachhaltig-
keitsstrategie haben. Bei uns besteht eine Nachhaltig- Das Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und
keitsstrategie nicht nur aus Blabla, wir stellen nicht nur Reich fördert nachhaltig die Zerstörung der Demokratie,
ein paar Ziele auf und machen dann eine statistische und die wachstumsgetriebene Wirtschaft vernichtet die
Auswertung. Das deutsche System und das von Großbri- Natur dauerhaft. Das alles nimmt das Kanzleramt in
tannien und anderen Ländern hat vielmehr eine klare Kauf. Sie folgen nur den Interessen der Konzerne und
Managementorientierung und beinhaltet Strategien, deren Profitstreben. Sinkenden Reallöhnen und Alters-
Ziele, Indikatoren und dann auch eine Überprüfung und bezügen, der Rente mit 67, Hartz IV, aber auch dem Flä-
Rückkopplung, in deren Folge neue Ziele aufgestellt chenverbrauch, der Verlagerung schmutziger Industrien
werden. Das ist aus meiner Sicht für die Europäische in Entwicklungsländer und dem weltweit ausufernden
Union längst überfällig. Lohndumping verpasst die Regierung ein Prädikat
„nachhaltig“. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- In Wahrheit ist es so, dass die Bundesregierung die
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Nachhaltigkeitsidee als Deckmantel ihrer Lobbypolitik
missbraucht. Dadurch wird echte Nachhaltigkeit diskre-
Vizepräsidentin Petra Pau: ditiert. In der Praxis sieht es so aus: Der Beirat bewertet,
ob Gesetze auf Nachhaltigkeit geprüft wurden. Ob der
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Frak-
Inhalt nachhaltig wirkt, spielt keine Rolle. Vorschläge im
tion Die Linke.
Parlamentarischen Beirat, die Wirkung von Gesetzen auf
(Beifall bei der LINKEN) echte Nachhaltigkeit zu untersuchen, verhindern Sie.
Deshalb kann die Regierung sogar Gesetzen, die Panzer-
Ralph Lenkert (DIE LINKE): verkäufe nach Saudi-Arabien erlauben, schlechte Rege-
lungen für die kommunale Abfallentsorgung enthalten
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Riester-Rente und Vorratsdatenspeicherung ermög-
und Kollegen! Nachhaltigkeit ist in und ein Lieblings-
lichen, einen Nachhaltigkeitsstempel verpassen. Diese
(B) wort der Bundesregierung. Als Mitglieder des Parlamen- (D)
Gesetze sind unmöglich nachhaltig.
tarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung über-
prüfen wir, ob es die Bundesregierung mit der Um ein aktuelles Beispiel, was als nachhaltig durch-
Nachhaltigkeit wirklich ernst meint. Nachhaltigkeit be- geht, zu nennen, zitiere ich Punkt 6, Nachhaltigkeitsprü-
schreibt eine Gesellschaft, die Wasser und andere Res- fung, des Gesetzentwurfes zum Euro-Rettungsschirm:
sourcen nur in der Menge verbraucht, wie sie im Kreis-
lauf erneut verfügbar sind, und welche die Natur erhält, Die Wirkungen des Gesetzes entsprechen den Vor-
eine freie und gerechte Gesellschaft, die Wohlstand für gaben zur Nachhaltigkeit. Die Notmaßnahmen der
alle erreicht. Das unterstützt die Linke. Aber müssen wir EFSF erhöhen zwar zunächst anteilig den Schul-
der Nachhaltigkeitsstrategie der Regierung deshalb zu- denstand Deutschlands. In dem Maße, in dem es zu
stimmen? Rückzahlungen kommt, vermindert sich der natio-
nale Schuldenstand allerdings wieder. Da Not-
Bevor ich fortfahre, sei eine kurze wichtige Frage er- maßnahmen der EFSF unter strengen Auflagen …
laubt: Woher kommt eigentlich das viel bemühte Wort erfolgen, … ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht
„Nachhaltigkeit“? Warum haben Bürgerinnen und Bür- mit einer Inanspruchnahme der Bundesrepublik
ger, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Regierung Deutschland aus den ausgegebenen Garantien zu
und Opposition, oder auch Manager deutscher DAX-Un- rechnen.
ternehmen das Wort dauernd im Mund? Das Wort ent-
Wollen Sie uns veralbern? Sagen wir unseren Kindern
hält den Wunsch, Entscheidungen und Produkte seien
doch offen: Diese Finanzpolitik verursacht nachhaltige
haltbar wie ägyptische Pyramiden nach ihrem Bau, also
Schuldenberge, und die müsst ihr Kinder abtragen.
nachhaltig. Deshalb vermittelt die Verwendung des At-
Wenn Ostern, Weihnachten und der Kanzlerin Geburts-
tributes „nachhaltig“ zusammen mit Vorhaben und Ge-
tag auf einen Tag fallen, dann wird Ihre Politik nachhal-
setzen das gute Gefühl von Ewigkeit. Herrlich!
tig.
Aber das Streben nach ständigem Wachstum, so wie
(Andreas Jung [Konstanz] [CDU/CSU]: Was
es der aktuellen Wirtschaftspolitik entspricht, ist nicht
schlägst du denn vor? – Florian Bernschneider
nachhaltig. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler,
[FDP]: Überprüfen Sie doch mal Ihr Parteipro-
Unternehmerinnen und Unternehmer, Gewerkschafterin-
gramm auf Nachhaltigkeit!)
nen und Gewerkschafter und Künstlerinnen und Künst-
ler aus aller Welt haben vor den katastrophalen Folgen Die Arbeit des Parlamentarischen Beirates ist derzeit
unserer Art des Wirtschaftens gewarnt: vor der Über- eher ein Alibi. Meistens gleicht sie dem Schicksal eines
fischung und Verschmutzung der Meere, der Verpestung einsamen Rufers in der Wüste: Keiner nimmt sie wahr.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16589
Ralph Lenkert
(A) Die Linke will erreichen, dass der Beirat die Interessen treiben lassen, sondern wir müssen hier etwas Länger- (C)
der Menschen und der Natur gegen Finanzhaie und Pro- fristiges entwickeln –, weiterkommen.
fithamster durchsetzt, und zwar durch Überprüfung der
Gesetze. Das wäre nachhaltig. Jetzt komme ich zur europäischen Nachhaltigkeits-
strategie. Sie könnte ein solches Konzept sein. Aber was
Vielen Dank. ist in der Praxis? Sie existiert seit nunmehr zehn Jahren.
Für 2011 hat der Europäische Rat eine Überprüfung und
(Beifall bei der LINKEN)
Überarbeitung angesetzt. Es ist also an der Zeit, sich mit
der Strategie zu beschäftigen – das haben wir im Beirat
Vizepräsidentin Petra Pau: getan – und Bilanz zu ziehen, und zwar mithilfe des Mo-
Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat für die Fraktion nitoring-Berichtes 2009 des Europäischen Statistikam-
Bündnis 90/Die Grünen das Wort. tes. Wir haben uns hier durch 100 Indikatoren gewühlt.
Das war eine interessante Arbeit. Es hat schon etwas ge-
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dauert, sich hier einen Überblick zu verschaffen, aber
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte wir sind fündig geworden. Es hat sich wirklich für uns
Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser sehr emotiona- gelohnt. Kollege Kauch hat das schon angesprochen.
len Rede des Kollegen Lenkert möchte ich den Blick Im Ergebnis kann man sagen, dass wir in Deutschland
wieder auf das Thema europäische Nachhaltigkeitsstra- mit unserer damals von Rot-Grün eingeleiteten Nachhal-
tegie lenken; tigkeitsstrategie, die von allen nachfolgenden Regierun-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gen fortgeschrieben wurde, sehr weit gekommen sind. In
bei der CDU/CSU und der FDP) Europa ist dies noch lange nicht der Fall. Dort läuft das
alles auseinander. Der vorliegende Bericht zeigt: Es
schauen wir einmal, wie wir da weiterkommen. Die bleibt den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen, wie
Nachhaltigkeitsprüfung möchte ich nur ganz kurz an- stark sie sich für die nachhaltige Entwicklung engagie-
sprechen; denn meine Redezeit als Vertreterin der kleins- ren. Das spricht nicht wirklich für das Vorhandensein ei-
ten Fraktion ist sehr kurz bemessen. ner Strategie.
Darüber, wie die Nachhaltigkeitsprüfung abläuft, ha- Es kommt aber noch viel schlimmer. Wir waren in
ben meine Vorrednerinnen, Frau Arndt-Brauer und Frau Brüssel zu einem Gespräch mit den Verantwortlichen.
Ludwig, schon eine ganze Menge berichtet. Das Verfah- Dort hat sich gezeigt, dass die Kommission die Strategie
ren ist jetzt etabliert. Nach einer zähen Anfangsphase einfach nicht für erforderlich hält. Sie redet nur von ihrer
verlässt kaum noch ein Gesetzentwurf ohne diese Prü- Strategie „Europa 2020“, durch die die Welt glücklich
(B) fung das Kabinett; so weit sind wir immerhin schon. wird. Die langen Linien hat sie partout nicht im Auge. (D)
Auch wenn da nur platt steht: „Der Gesetzentwurf ist
nachhaltig“, haben wir schon gewisse Verbesserungen (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das stimmt!
erzielt. Es könnte allerdings noch ein bisschen mehr Sehr zutreffend!)
sein.
Die Krönung waren die Abgeordneten. Unsere lieben
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kolleginnen und Kollegen in Brüssel hatten diesen Be-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und griff teilweise überhaupt noch nicht gehört.
der SPD)
Es lohnt sich, das Thema Nachhaltigkeit ernsthaft zu
Sicherlich werden wir Probleme bekommen, wenn es verfolgen. Wir als rohstoffarmes Land haben hier einen
darum geht, in eine umfassende inhaltliche Prüfung ein- entsprechenden Bedarf, und wir müssen unsere Intelli-
zusteigen; schauen wir einmal. Aber auch hier werden genz für die Sicherstellung der Nachhaltigkeit einsetzen.
sich vielleicht noch Türen öffnen. Hier sind wir in Deutschland relativ gut dabei, aber es
Wir sollten insgesamt ehrlich sein: Ist unsere Repu- wäre auch sinnvoll, wenn aus Europa ein solcher Wink
blik nachhaltiger geworden, seitdem diese Prüfung kommen würde, gerade im Hinblick auf die Vorberei-
durchgeführt wird? Der Beschluss zur Energiewende tung des neuen Erdgipfels nach 20 Jahren Rio.
war sicherlich kein Ergebnis einer Initiative im Rahmen Was brauchen wir? Durch die europäische Nachhal-
der Nachhaltigkeitsprüfung; er war essenziell notwen- tigkeitsstrategie könnte deutlich mehr geboten werden.
dig. Hier hat die Nachhaltigkeitsprüfung also nichts ge- Bei der anstehenden Überprüfung und Überarbeitung
bracht. müssen wir aber mehr Verbindlichkeit einfordern.
Mit dem Euro-Rettungsschirm laufen wir der Nach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
haltigkeit stets nur hinterher. Mit einer nachhaltigen, also und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der
einer vorsorgenden und vorausschauenden Haushalts- CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)
politik und Finanzmarktregulierung wäre er wahrschein-
lich nicht erforderlich geworden. Für eine nachhaltige Damit es dazu kommt, müssen wir das nicht nur in der
Politik brauchen wir nicht nur eine Nachhaltigkeitsprü- Europäischen Kommission behandeln, sondern wir müs-
fung, sondern auch stringente und konsequente Kon- sen auch die Parlamente beteiligen: das Europäische Par-
zepte, mit denen wir auf diesem langen Weg, den Kol- lament und auch die nationalen Parlamente. Die ganzen
lege Kauch angesprochen hat und der absolut richtig ist Indikatoren und Ziele müssen auch parlamentarisch ab-
– wir dürfen uns nicht immer nur im Vierjahresrhythmus gesichert sein.
16590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Valerie Wilms


(A) In diesem Sinne sollten wir weitermachen. Vielleicht sagen dann: Fraktionsübergreifend nehmen wir uns die- (C)
gelingt es uns ja auch, das dicke Brett Europa irgend- ses Themas an, fraktionsübergreifend werden wir aktiv. –
wann einmal zu durchbohren. Das ist ein Beispiel für lebendigen und hart an der Sache
orientierten Parlamentarismus. Ich finde, auf diesem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wege sollten wir weitergehen.
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Vizepräsidentin Petra Pau: bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
Der Kollege Andreas Jung hat für die Unionsfraktion NISSES 90/DIE GRÜNEN)
das Wort. Wir stellen fest, dass das, was im Deutschen Bundes-
tag gemacht wird, durchaus beispielgebend ist, auch
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
über Deutschland hinaus. In unseren Länderparlamen-
neten der FDP)
ten, aber auch in anderen europäischen Staaten gibt es
ein solches Verfahren oder ein solches Gremium nicht.
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): Das Europäische Parlament ist angesprochen worden.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will all das unterstreichen, was die Kollegen gesagt
Mit dem vorliegenden Bericht zeigt sich, dass wir bei haben. Es ist nicht in Ordnung, wie auf europäischer
der Implementierung des Nachhaltigkeitsgedankens in Ebene mit den Nachhaltigkeitsstrategien, den Nachhal-
den politischen Prozess in den letzten Jahren entschei- tigkeitsindikatoren und den Nachhaltigkeitsinstrumenten
dende Schritte vorangekommen sind. umgegangen wird. Da braucht es deutliche Impulse. Ich
Ich will mit der Neuerung auf Initiative des Parlamen- bin froh, dass wir diese fraktionsübergreifend geben
tarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung in der können. Wir wünschen uns, dass in Europa Nachhaltig-
letzten Legislaturperiode beginnen. Schon damals ist es keit eine größere Rolle spielt und eine wichtigere Bedeu-
gelungen, dass die Bundesregierung in die Gemeinsame tung erhält.
Geschäftsordnung der Bundesministerien neu aufge- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
nommen hat, dass bei jedem einzelnen Gesetzentwurf BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
eine Nachhaltigkeitsprüfung vorzunehmen ist, dass also geordneten der FDP und der LINKEN)
nicht nur gesagt werden muss, welche Kosten entstehen
und welcher Aufwand an Bürokratie entsteht, sondern Wenn ich vorher gesagt habe, dass man einerseits die
dass in jedem einzelnen Gesetzentwurf auch gesagt wer- Fortschritte sieht, die gemacht werden, dann müssen wir
den muss, welches die Auswirkungen auf nachhaltige andererseits zur Kenntnis nehmen, dass das wie bei allen
Innovationen ist: Es geht nicht von einem Tag auf den
(B) Entwicklung sind. Das war ein wichtiger Punkt. (D)
anderen. Deshalb gab es Anlaufschwierigkeiten und gibt
(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es auch jetzt noch Verbesserungsbedarf. Die Anlauf-
NEN]: Ja, das muss man sagen!) schwierigkeiten sind genannt worden.
Ein weiterer wichtiger Punkt war, dass der Parlamen- Wir haben zu Anfang unserer Prüfungen festgestellt,
tarische Beirat wiederum auch in dieser Legislaturpe- dass in vielen Gesetzentwürfen der Bundesregierung
riode und somit zum dritten Mal vom Deutschen Bun- dem selbst auferlegten Erfordernis nicht in ausreichen-
destag eingesetzt wurde und damit zu einem nicht mehr dem Maße Rechnung getragen wurde. Wir haben Stel-
wegzudenkenden Gremium im Deutschen Bundestag ge- lungnahmen abgegeben und haben dann auch das Ge-
worden ist. Auch ist der Parlamentarische Beirat nun be- spräch mit den Vertretern von Bundeskanzleramt und
auftragt worden, die Nachhaltigkeitsprüfung der Bun- den Ministerien gesucht. Wir haben mittlerweile festge-
desregierung zu bewerten. stellt, dass sich das eingespielt hat und dass in den aller-
meisten Gesetzentwürfen entsprechende Ausführungen
Das war ein wichtiger Schritt. Davor war der Beirat
enthalten sind. Wahr ist – das ist auch schon gesagt wor-
ein Gremium, das sich allgemein mit Nachhaltigkeitsfra-
den –, dass hinsichtlich der Qualität der Ausführungen
gen auseinandergesetzt hat, das Stellungnahmen abgege-
teilweise immer noch Spielraum nach oben besteht.
ben hat, das aber vom parlamentarischen Alltag losge-
Aber wir stellen fest, dass sich hier eine ganz deutliche
löst war. Jetzt haben wir harte Rechte. Wir haben
Verbesserung eingestellt hat.
Möglichkeiten, die sogar über die der Fachausschüsse
hinausgehen, weil wir uns mit jedem einzelnen Gesetz- Ein anderer Punkt, über den wir hier im Plenum dis-
entwurf befassen können und bei jedem einzelnen Ge- kutieren sollten, wo viele Kolleginnen und Kollegen da-
setzentwurf sagen können: Hier stellen wir auf Rot, hier bei sind, die nicht dem Parlamentarischen Beirat ange-
sehen wir Probleme, hier führen wir Kritikpunkte an. hören, betrifft uns selber. Es geht um die Frage: Wie
gehen wir selbst, wie gehen die jeweils federführenden
Das war ein wichtiger Schritt. Es ist schon gesagt Fachausschüsse, denen wir unsere Stellungnahmen über-
worden: Damit leisten wir Pionierarbeit. Ich finde es be- weisen, mit diesen Stellungnahmen um? Hier erkennen
merkenswert, dass es in den allermeisten Fällen gelingt, wir ganz deutliche Defizite. Das geht auch aus dem Be-
nicht nur fraktionsübergreifend zu diskutieren, sondern richt hervor.
am Ende auch fraktionsübergreifend Stellungnahmen
abzugeben. Es ist zum Beispiel von Frau Arndt-Brauer Wir haben in insgesamt 16 Fällen, in denen eklatant
angeführt worden, dass das oftmals ein Ringen ist und gegen das Erfordernis einer guten Nachhaltigkeitsprüfung
dass das auch nicht in jedem Einzelfall gelingt. Aber wir verstoßen wurde, dem federführenden Fachausschuss
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16591
Andreas Jung (Konstanz)
(A) eine Stellungnahme zukommen lassen und darum gebe- So wichtig und sinnvoll solche Verfahrensverbesse- (C)
ten, in den jeweiligen Beratungen darauf einzugehen. rungen sind, vergrößern sie ein Spannungsverhältnis, das
Das entspricht auch dem Erfordernis, das der Deutsche wir als Parlamentarischer Beirat durchaus ernst nehmen
Bundestag in seinem Einsetzungsbeschluss postuliert müssen. Natürlich ist es richtig, dass wir versuchen, un-
hat, nämlich dass der federführende Ausschuss über die sere Verfahren effizienter zu machen, sie zu professiona-
Stellungnahmen zu diskutieren und diese zu bewerten lisieren und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Es
hat. Wir haben festgestellt, dass das nur in fünf Fällen ist im Übrigen auch gut, dass der Parlamentarische Bei-
tatsächlich passiert ist, in neun aber nicht. rat mittlerweile eine eigene Sprache gefunden hat, wie er
Dinge ausdrückt und sich über Nachhaltigkeit verstän-
Deshalb möchte ich an dieser Stelle aus Anlass dieser
digt.
Debatte noch einmal an alle Ausschüsse und Ausschuss-
vorsitzende appellieren: Hier müssen wir gemeinsam Das alles darf aber nicht dazu führen, dass wir uns
besser werden. Wir wünschen uns, dass dem, was nicht beim Thema Nachhaltigkeit in einer Art Elfenbeinturm
nur wir uns vorstellen, sondern was der Deutsche Bun- einbauen. Nachhaltigkeit muss Grundsatz jeder politi-
destag gemeinsam beschlossen hat, Rechnung getragen schen Entscheidung sein. Nachhaltigkeit muss im Quer-
wird. Darauf wollen wir in Gesprächen hinweisen. schnitt aller Themen verlaufen und darf nie zu einer De-
Wir sind aber auch der Meinung, es braucht noch ei- likatesse für den Parlamentarischen Beirat werden.
nen weiteren Schritt. Dieses Verfahren muss mit der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
konkreten Vorgehensweise, mit konkreten Anforderun- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
gen in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundesta- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
ges verankert werden.
Deswegen reicht es nicht, wenn wir als Parlamentari-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- scher Beirat nur bessere und professionellere Verfahren
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE finden. Wir müssen auch unsere Kolleginnen und Kolle-
GRÜNEN) gen mit auf den Weg nehmen. Ich behaupte, uns ist das
Das ist die logische Konsequenz aus unserer gemeinsa- bisher nicht ganz so gut gelungen. Sie können heute
men Auffassung, dass Nachhaltigkeit eine besondere Be- Abend in der Parlamentarischen Gesellschaft ausprobie-
deutung über alle Bereiche hinweg hat und kein Mode- ren, wie gut wir unsere Kollegen beim Thema Nachhal-
thema, sondern eine Daueraufgabe ist. Deshalb gehört es tigkeitsprüfung schon mit auf den Weg genommen ha-
auch formalisiert in unsere Geschäftsordnung. ben, und sie fragen, was sie zur Diskussion um den
Indikator 15 sagen, ob sie das auch aufregt, dass man da-
Herzlichen Dank. mit nichts Vernünftiges abbilden kann, oder ob sie bei
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP der aktuellen verkehrspolitischen Ausrichtung das Ge- (D)
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fühl haben, dass wir die Indikatoren 4 und 11 c vernünf-
tig abbilden.
Vizepräsidentin Petra Pau: Ich glaube, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege werden unsere Kolleginnen und Kollegen uns nicht ver-
Florian Bernschneider für die FDP-Fraktion. stehen. Das muss man als Parlamentarischer Beirat ernst
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nehmen.
der CDU/CSU) Ich wage noch eine These. Ich glaube, viele Kollegin-
nen und Kollegen konzentrieren das Thema Nachhaltig-
Florian Bernschneider (FDP): keit nach wie vor auf die Umweltpolitik und vernachläs-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sigen damit die wichtigen anderen Dimensionen von
Der Kollege Jung hat es gerade zu Recht gesagt: Die Im- Nachhaltigkeit.
plementierung der Nachhaltigkeitsprüfung in der Ge-
meinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien war (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sicherlich ein Meilenstein für den Parlamentarischen Deswegen freue ich mich über den klaren Handlungs-
Beirat. Damit es nicht bei einem Lippenbekenntnis der auftrag, den wir in der Einleitung zum Bericht gegeben
Ministerien bleibt, haben wir als Parlamentarischer Bei- haben. Darin heißt es:
rat ein Verfahren entwickelt, mit dem wir den Ministe-
rien auf die Finger schauen, wenn es darum geht, wie die Es gilt daher, alle Mitglieder des Bundestages für
Nachhaltigkeitsprüfung umgesetzt wird. die Nachhaltigkeitsprüfung und deren Bewertung
zu sensibilisieren.
Mit dem vorliegenden Bericht versuchen wir nun, die
Verfahren, die wir entwickelt haben, praxistauglicher zu Es ist richtig und wichtig, dass wir uns weiter auf den
machen und ein Stück weit zu verbessern. Obgleich ich Weg machen, unsere Verfahren zu verbessern. Aber auch
allen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar dafür bin, diesen Handlungsauftrag müssen wir ernst nehmen. Wir
wie konstruktiv die Beratungen zu diesen Verbesserun- müssen die Kollegen für ein sehr scharfes Schwert in der
gen waren, will ich nicht konkret auf die Verbesserungen Diskussion begeistern, nämlich die Nachhaltigkeit. Das
eingehen, sondern noch einmal etwas Grundsätzliches gilt für die Opposition wie für die Regierungsfraktionen.
sagen, was mir auch in den Beratungen mit den Bericht- Ich glaube, wenn uns das gelungen ist, dann erleben wir
erstattern wichtig war. nicht nur im Parlamentarischen Beirat spannende Debat-
16592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Florian Bernschneider
(A) ten über Nachhaltigkeit, sondern in allen unseren Fach- Berichterstattung: (C)
ausschüssen. Abgeordnete Cajus Caesar
Holger Ortel
Vielen Dank. Dr. Christel Happach-Kasan
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Vizepräsidentin Petra Pau: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Ich schließe die Aussprache. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6680 an die in der Tagesordnung aufge- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Cajus Caesar für die Unionsfraktion.
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (Beifall des Abg. Bernhard Kaster [CDU/
so beschlossen. CSU])
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Cajus Caesar (CDU/CSU):
zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Bei- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
rat für nachhaltige Entwicklung mit dem Titel „Europäi- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kormoran-
sche Nachhaltigkeitsstrategie“. Der Ausschuss empfiehlt management ist für uns ein ausgewogener Artenschutz.
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7678, Wir setzen nicht auf eine Art, sondern wir setzen auf das
in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 17/5295 Gleichgewicht in der Natur, und wir setzen auf die Ar-
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese tenvielfalt. Das ist uns wichtig. Es geht darum, langfris-
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer tig die Artenvielfalt zu sichern und zu entwickeln.
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der FDP)
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Es ist ganz wichtig, dass wir – ob wir über Ökologie
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a und b auf: oder über den Umwelt- und Klimaschutz reden – diesen
Gleichklang, dieses Voranbringen in der Gesamtheit se-
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- hen und uns hier nicht in Details verlieren. Die Union je-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- denfalls will sich dieser Herausforderung stellen. Wir (D)
(B)
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu setzen auf Kooperation und nicht auf Konfrontation. Das
dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, ist uns in diesem Zusammenhang besonders wichtig.
Dr. Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten –
Kormoranmanagement einführen Ich glaube, es ist wichtig, dass man nicht die Augen ver-
schließt, sondern dass man schaut, was da passiert, und
– Drucksachen 17/5378, 17/5955 – diese Problematik zur Kenntnis nimmt.
Berichterstattung: Richtig ist, dass der Kormoran ein prominenter Vogel
Abgeordnete Carola Stauche ist. In der Tat, der Naturschutzbund hat ihn zum Vogel
Holger Ortel des Jahres ausgerufen, und der Kormoran hat es auch
Dr. Christel Happach-Kasan verdient. Jahrzehntelang hatten wir nur wenige Brut-
Dr. Kirsten Tackmann paare, und es lag uns am Herzen, die Population zu ent-
Undine Kurth (Quedlinburg) wickeln. Aber wenn diese Population aus dem Ruder
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- läuft, muss man auch den Mut aufbringen, Maßnahmen
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- zu ergreifen und sich diesen Herausforderungen zu stel-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu len. Deshalb sagt die Union all denjenigen Nein, die sa-
dem Antrag der Abgeordneten Franz-Josef gen: Lass es so laufen; lass es so weitergehen! Das ist
Holzenkamp, Peter Altmaier, Cajus Caesar, wei- nicht unsere Vorgehensweise. Wir wollen eine erfolgrei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ che Erhaltung von Biodiversität.
CSU Zwei Jahrzehnte, besonders intensiv in den letzten
sowie der Abgeordneten Dr. Christel Happach- Jahren, haben sich Wissenschaftler mit der Bestandsent-
Kasan, Rainer Erdel, Angelika Brunkhorst, wei- wicklung der Kormorane beschäftigt, und sie sind jetzt
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu dem Ergebnis gekommen: Die Population ist über-
Fischartenschutz voranbringen – Vordringli- höht, und sie ist insgesamt, wenn man die Artenvielfalt
che Maßnahmen für ein Kormoranmanage- sieht, so nicht hinnehmbar und so nicht gesund. Diese
ment Wissenschaftler kommen sogar zu dem Ergebnis: Wenn
wir mehr FFH-Gebiete ausweisen und den Naturschutz
– Drucksachen 17/7352, 17/7673 – voranbringen wollen, dann geht das nicht mit der Popu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16593
Cajus Caesar
(A) lation, die wir jetzt haben, und deshalb müssen wir han- Was will ich damit sagen? Er verzehrt, um dieses Ge- (C)
deln. wicht zu halten, 400 bis 500 Gramm am Tag. Das ergibt
pro Vogel und Jahr rund 160 Kilogramm. Wenn man alle
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Kormorane berücksichtigt, dann kommt man auf rund
SPD, der FDP und der LINKEN) 20 000 Tonnen täglich in Deutschland. Somit kommt
einiges zusammen. Man darf sich nicht vorstellen, dass
Wir als Union jedenfalls wollen diesen wissenschaft-
der Kormoran nur ganz große Fische frisst, also bei-
lichen Erkenntnissen Rechnung tragen. Deshalb ist es
spielsweise Forellen, die wir Menschen verzehren; er
uns wichtig, hier ein Kormoranmanagement auf den
fängt insbesondere Jungfische und greift somit sehr stark
Weg zu bringen, das die Dinge insgesamt betrachtet und
in den Besatz ein. Das ist für die Artenvielfalt, aber auch
das erfolgreich handelt. Der Kormoran selbst ist ein
für diejenigen, die von der gewerblichen Fischzucht le-
Fischfresser, er ist schnell, er ist hartnäckig, und er kann
ben, problematisch.
bis zu 40 Meter tief tauchen. In größeren Gewässern
treibt er sogar die Fischbestände zusammen – das be- Wir jedenfalls wollen effektive und langfristige Lö-
herrscht er hervorragend – und jagt sie so lange, bis nicht sungen. Deshalb ist es uns wichtig, das Ganze im Dialog
mehr viel übrig bleibt. zu betreiben.
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
NEN]: Er ist noch schlimmer als der böse neten der FDP und der LINKEN – Oliver
Wolf!) Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit
dem Kormoran diskutieren, wenn Sie ihn ab-
– Das sagen Sie zu Recht. Deshalb hoffe ich, dass Sie schießen!)
unserem Antrag zustimmen. – Es gibt da eine große Pro-
blematik, die wir als Union aufgreifen wollen. Wir sehen Wir wollen nicht bestimmte Gruppen an die Seite drän-
die Problematik im Zusammenhang mit denjenigen, die gen. Uns liegen Gewässerqualität und Artenschutz in ih-
Familienbetriebe haben, von denen sie leben müssen, rer Gesamtheit am Herzen. Es ist wichtig, dass wir den
und denjenigen, die Lebensqualität im ländlichen Raum Bestand der einheimischen Fischarten, der als gefährdet
bewahren wollen. Auf der einen Seite geht es also da- gilt, wie Lachs, Äsche, Zander, Hecht, Karpfen, Meeres-
rum, die wirtschaftliche Entwicklung zu sichern. Auf der forelle, aber auch den Aal, erhalten.
anderen Seite wollen wir den Fischbesatz und die Arten-
vielfalt dort, wo wir eine intakte Natur und gesunde (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Bachläufe haben, erhalten und entwickeln. neten der FDP und der LINKEN)

(B) Sie alle wissen, dass das Bundesamt für Naturschutz (D)
Schauen Sie sich die Entwicklung an. 1980 gab es in
– wenn jemand für den Naturschutz eintritt, dann ist es
Deutschland 800 Brutpaare, heute haben wir es mit
dieses Bundesamt – festgestellt hat, dass 74 Prozent der
130 000 Vögeln zu tun. Daran sieht man, welche Ent-
heimischen Rundmäuler und Fischarten als gefährdet
wicklung die Kormoranpopulation genommen hat. An
oder sogar ausgestorben gelten. Daraus können wir
1 000 Brutpaaren allein in Nordrhein-Westfalen sieht
schließen, dass es Handlungsbedarf gibt und wir eingrei-
man, wie rasant diese Entwicklung gewesen ist. Sie ist
fen müssen. Das geht ganz eindeutig daraus hervor.
aber nicht positiv rasant gewesen, sondern negativ rasant.
Deshalb kommen zu Recht Beschwerden wie die fol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gende aus der Bevölkerung: Lieber Unionsabgeordneter neten der FDP)
meines Wahlkreises, du musst dich kümmern. – Franz-
Josef Holzenkamp hat mir vor wenigen Tagen gesagt: Wir als Union wollen, dass ein Räuber nicht mehr Spiel-
Cajus, wir müssen etwas tun. Setz dich ein. Wir gemein- raum bekommt,
sam schaffen das. – Ich denke, die Bundesregierung und (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
insbesondere unser Staatssekretär Peter Bleser sowie wir NEN]: Räuber und Gendarm!)
Unionsabgeordnete werden das schaffen. Ich bin davon
überzeugt, dass unsere Bemühungen erfolgreich sein sondern wir wollen in der Tat vernünftigen Ressourcen-
werden. schutz betreiben und uns für Nachhaltigkeit einsetzen.
Wenn wir das tun, sind wir auf dem richtigen Weg.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Es ist festzustellen, dass die Fischpopulation, ob es
sich um die in freien Gewässern oder um die in heimi-
Wir müssen feststellen, dass gerade im süddeutschen schen Bachläufen handelt, durch den Kormoran großen
Raum die Bestände der Zugvögel stark zunehmen und es Schaden nimmt. Deshalb müssen wir das Gleichgewicht
deshalb auch dort Handlungsbedarf gibt. Wir wollen Na- herstellen. Ich glaube, dass es wichtig ist, die Dinge kon-
tionalparks und gesunde Gewässer erhalten und müssen sequent anzugehen
deshalb tätig werden.
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ein Kormoran ist etwa 80 bis 100 Zentimeter groß. Er NEN]: Was heißt denn „konsequent“?)
wiegt 2 bis 3 Kilogramm.
– wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie es – und den
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- massiven Bestandszuwachs zurückzudrängen. Wir
NEN]: Größer als der böse Wolf!) orientieren uns an dem, was Wissenschaftler und Exper-
16594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Cajus Caesar
(A) ten festgestellt haben. Wir nehmen die Populationszu- wirtschaft nicht im Stich lassen. Wir wollen nicht nur (C)
nahme sehr wohl zur Kenntnis, im Gegensatz zu Ihnen. über Regelungen reden, sondern auch handeln. Ich bin
froh, dass wir als Union im Dialog sowohl mit den Fi-
(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schereiverbänden als auch mit den Fischereivereinen
NEN]: Das ist doch nicht wissenschaftlich, und den vielen Ehrenamtlichen stehen und im Austausch
den Kormoran als Räuber zu bezeichnen! – mit den Naturschutzverbänden alles zusammenführen
Gegenruf des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]: können.
Doch, das ist so!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Jedenfalls ziehen wir daraus entsprechende Schlüsse,
und das ist wichtig. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir, die Koalition und
die Bundesregierung, auf einem erfolgversprechenden
Ich denke, jeder kennt in seinem Wahlkreis Gegenden Weg sind.
mit idyllischen Bachläufen und gesunder Gewässerqua-
lität, und dort können wir uns über den Fischreichtum Herzlichen Dank.
und insbesondere über seltene Fische freuen. Wir als (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Union wollen den Artenschutz erhalten und entwickeln.
(Beifall bei der CDU/CSU und der LINKEN – Vizepräsidentin Petra Pau:
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Ute Vogt
NEN]: Artenschutz durch Ausrottung!) das Wort.
Es ist in der Tat wichtig, dass man nicht nur die Aspekte (Beifall bei der SPD)
von Umwelt- und Naturschutz, sondern auch die Interes-
sen derjenigen berücksichtigt, die ihre wirtschaftliche
Ute Vogt (SPD):
Existenz sichern müssen. Wir wollen die Familienbe-
triebe nicht im Stich lassen. Wir denken auch an die vor Lieber Herr Kollege Caesar, was Sie geschafft haben
Ort arbeitenden und lebenden Menschen und wollen sie mit Ihrem Antrag, ist in der Tat eine bemerkenswerte Al-
einbeziehen. lianz aus Regierungskoalition und Linksfraktion. Es ist
eine Allianz, die mit vereinten Kräften den Anglern und
Bisher sind Schutzmaßnahmen wie das Abspannen Fischern Sand in die Augen streut und auf ziemlich
und Überspannen von Wasserflächen relativ erfolglos plumpe Weise den Schutz von Fischarten gegen den
geblieben, und deshalb muss man über andere Maßnah- Vogelschutz ausspielt.
men nachdenken. Die Union hat sich auch in den Län-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) dern schon sehr früh damit beschäftigt. Sie hat in Schles- DIE GRÜNEN) (D)
wig-Holstein eine Kormoranverordnung erlassen. Wir
können dank unserer Bundesministerin für Ernährung, Sie verfallen mit Ihren Anträgen zurück in ein ziemlich
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner, auch schlichtes Denken von vorgestern. Sie teilen Arten
auf europäischer Ebene einige Aktivitäten vorweisen. Es einerseits in nützlich, also schützenswert, und anderer-
ist zudem wichtig, dass die im Rahmen der Agrarminis- seits in Nahrungskonkurrenten, also nicht schützenswert,
terkonferenz eingerichtete Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein. Diese Einteilung ist in der Tat schon lange überholt.
„Kormoran“ vorankommt. Sie widerspricht nicht nur einem modernen Natur- und
Artenschutzdenken, sondern auch der europäischen und
Wir haben bereits Maßnahmen zur Abwehr fischerei-
unserer eigenen nationalen Gesetzgebung.
wirtschaftlicher Schäden ergriffen. Allerdings müssen
diese durch entsprechende politische Maßnahmen flan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
kiert werden, die über die Bundesländer hinaus abge- sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr.
stimmt werden müssen. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das trifft
nicht zu!)
(Ulrich Kelber [SPD]: Wie ist denn die Aus-
sage zur Europarechtswidrigkeit in Ihrem An- Alle Arten, ob Vögel oder Fische, sind erst einmal
trag zu verstehen?) grundsätzlich in ihrem Bestand zu erhalten, und ihre Le-
bensräume sind entsprechend zu schützen. Weder das
Ich glaube, es macht wenig Sinn, wenn auf der einen
Bundesnaturschutzgesetz noch die FFH-Richtlinie noch
Seite eines Bachlaufs, die zu Niedersachsen gehört, et-
die Vogelschutzrichtlinie räumen einer wirtschaftlich be-
was anderes passiert als auf der anderen Seite, die zu
deutenderen Art gegenüber einer anderen Art eine ge-
Nordrhein-Westfalen gehört. Es macht daher mehr Sinn,
wisse Vorzugsbehandlung ein. Diese Idee, die in Ihren
wenn die Bundesregierung flankierende Maßnahmen auf
Anträgen zum Ausdruck kommt, stammt allein von Ih-
den Weg bringt. Dazu gehören auch konkrete und um-
nen.
setzbare Maßnahmen für ein effektives Kormoran-
management. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Franz-
Wir jedenfalls wollen klare Lösungen, ein zügiges
Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Falsch! – Jan
Verfahren und eine effektive Umsetzung. Wir wollen
Korte [DIE LINKE]: Einfach falsch!)
einen erfolgreichen Vogelschutz ebenso wie einen effek-
tiven und erfolgreichen Fischschutz. Wir wollen eine Die Wirtschaftlichkeit ist im Zusammenhang mit dem
ausgewogene Artenvielfalt. Wir wollen die Fischerei- Artenschutz schlicht kein Kriterium. Schon gar nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16595
Ute Vogt
(A) wird die europaweite Reduktion des Kormoranbestandes Kolleginnen und Kollegen, die SPD ist gerne bei Ih- (C)
um 25 Prozent, also um ein ganzes Viertel, in irgendei- nen, wenn es darum geht, Fischarten zu schützen.
ner Form auf europäischer Ebene gefordert oder unter-
stützt, auch nicht, wenn Sie diese Idee euphemistisch (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Wie
verbrämen und als Kormoranmanagement tarnen. Es denn? Antworten!)
geht ja tatsächlich darum, eine Art zu reduzieren. Da sind wir gerne an Ihrer Seite. Der Weg dahin – ich
sage es Ihnen gerne noch einmal – darf aber nicht in der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Weise beschritten werden, dass man eine andere Vogel-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jan Korte
art an die Seite drängt, sondern der Weg des Fischschut-
[DIE LINKE]: Dann muss man sich damit
zes führt über die Verbesserung der Gewässerqualität
vielleicht mal sachlich beschäftigen!)
und über die Verbesserung der Durchgängigkeit von
Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, fressen Fließgewässern.
Kormorane Fische.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es ist auch nachzuvollziehen, dass sich Angler und Wenn Sie es wirklich ernst meinten mit dem Fisch-
Fischer darüber ärgern und dadurch gestört fühlen. Aus schutz, dann müssten Sie doch Ihre Energie darauf kon-
individueller Sicht kann man all das verstehen. Aber es zentrieren, auf europäischer Ebene auf die Umsetzung
gibt bereits entsprechende Möglichkeiten. Es gibt so- der Wasserrahmenrichtlinie hinzuarbeiten,
wohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Ausnahmeregelungen, DIE GRÜNEN)
(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Ach? statt im nationalen Alleingang etwas gegen die Kormo-
Doch?) rane zu unternehmen.
nach denen Kormorane an Fischteichen vergrämt oder Ich jedenfalls kann für die SPD-Fraktion sagen: Wir
gegebenenfalls sogar abgeschossen werden dürfen. halten es für unfair,
Diese Ausnahmeregelungen gibt es heute schon.
(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Mit
(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Tat- alle Mann? Geschlossen?)
sächlich? – Jan Korte [DIE LINKE]: Sind Sie
dagegen?) wenn von Menschen gemachte Probleme beim Fischbe-
(B) stand und bei der Artenvielfalt von Fischen nun einzig (D)
Die Bundesländer, zumindest die meisten, machen auch und allein den Kormoranen angelastet werden. Deshalb
Gebrauch von solchen Ausnahmeregelungen. Es besteht wird die SPD-Fraktion die vorliegenden Anträge mit
also keinerlei Bedarf, auf Bundesebene eine weiter ge- großer Mehrheit ablehnen.
hende Regelung einzuführen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Ich will Ihnen noch einmal die Zahlen vor Augen füh- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe
ren. Nach der Analyse des von Ihnen geführten Land- von der CDU/CSU: Aha!)
wirtschaftsministeriums wurden im letzten Jahr in zwölf
Bundesländern knapp 27 000 Kormorane abgeschossen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das ist ja eine beträchtliche Anzahl. In Deutschland be-
finden sich etwa 21 000 Brutpaare. Der Bestand der Kor- Die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan hat für die
morane, die sich im Winter in Deutschland befinden, FDP-Fraktion das Wort.
nämlich 51 000, wurde durch diese 27 000 Abschüsse in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
etwa halbiert. Ich finde, aufgrund dieser hohen Ab-
schusszahlen und auch aufgrund der Entschädigungszah-
lungen, die sehr viele Bundesländer leisten, wenn es zu Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Schäden durch Kormorane kommt, besteht kein weiterer Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Regelungsbedarf. Vor allen Dingen gibt es auch keine Kollegen! Ich freue mich außerordentlich, heute Abend
weitere Regelungsmöglichkeit. Die von Ihnen hier vor- hier zum Thema Kormoran sprechen zu dürfen; denn es
gelegten Anträge sind Schaufensteranträge; denn es gibt ist mir ein Anliegen, dass wir gerade bei diesem Thema,
in der Europäischen Union keine Mehrheit für Ihr soge- dem Kormoran, zu einem sachverständigen Naturschutz
nanntes Kormoranmanagement. kommen. Ich freue mich auch sehr darüber, dass ich in
der gestrigen Ausschussberatung von einer Seite Zustim-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mung bekommen habe, von der ich sie gar nicht erwartet
sowie bei Abgeordneten der SPD – Jan Korte hätte,
[DIE LINKE]: Im Parlament schon!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Eine entsprechende Vorlage wurde nämlich schon mehr-
fach abgelehnt. nämlich nicht nur von der CDU/CSU, sondern auch von
der Linken sowie vom Fischereiexperten der SPD-Bun-
(Cajus Caesar [CDU/CSU]: Wir geben jeden- destagsfraktion sowie des Deutschen Bundestages,
falls nicht auf!) Herrn Holger Ortel,
16596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (Holger Ortel [SPD]: Womit habe ich das ver- es nicht möglich, die Fischbestände durch Überspannen (C)
dient?) zu schützen.
und von Dr. Wilhelm Priesmeier. Ich bedanke mich ganz Wer einmal mit Sabine Schwarten, der einzigen deut-
herzlich für die Zustimmung zu dem Antrag. schen Fischereimeisterin, gesprochen hat, der weiß, wie
sehr die Fischerei unter dem Kormoran leidet. Sie hat
(Beifall bei der FDP)
Vögel geschossen und hinterher 40 cm lange Zander aus
Der Kormoran ist das Beispiel in Deutschland für er- dem Bauch herauspräpariert. Das ist ein sehr deutliches
folgreichen Naturschutz. Frau Kollegin Vogt, eine Vo- Beispiel dafür, wie sehr der Fischbestand durch den Kor-
gelart mit fast 2 Millionen Exemplaren durch ein Ma- moran gefährdet ist.
nagement zu reduzieren, ist völlig unmöglich.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
(Ulrich Kelber [SPD]: Wie viele Exemplare in LINKEN)
Deutschland?)
Wir wollen – das will ich ganz deutlich sagen – mit un-
Sie haben eine absolut eingeschränkte Sicht. Vor 20 Jah- serem Antrag auch Anerkennung gegenüber den Angle-
ren war der Kormoran stark gefährdet. Heute ist er eine rinnen und Anglern zum Ausdruck bringen, die in ihrem
Allerweltsvogelart. Die EU-Vogelschutzrichtlinie führt anerkannten Naturschutzverband herausragende Arbeit
ihn in ihren Anhängen gar nicht mehr auf. Wir haben zum Schutz der Gewässer und in der Umweltbildung leis-
neun Forderungen für eine nachhaltige Bestandsregulie- ten.
rung
Schauen wir doch einmal in die Presse. In der Main-
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Post lesen wir unter der Überschrift „Kormoran frisst
NEN]: Was ist das denn für ein Wortunge- den Main leer“, was Willi Wingenfeld, Fischereiver-
tüm?) bandsbeauftragter, dazu sagt:
aufgestellt, die offensichtlich mehrheitlich Zustimmung Die reinen, selbst ernannten Vogelschützer haben
findet. kein Verständnis. Für die sind Fische Vogelfutter.
Es ist bemerkenswert, liebe Kolleginnen und Kolle- – Genauso wie für Sie, Frau Vogt. –
gen, dass es trotz eines sehr eindeutigen Votums in der
Bevölkerung Naturschützer gibt, die sich mit diesem Er- (Ute Vogt [SPD]: Haben Sie mich jetzt mit
folg des Naturschutzes nicht zufriedengeben, sondern Fischfutter verglichen?)
den Vogel weiterhin auch dort schützen wollen, wo da-
Nach dem Motto: Solange es Fischstäbchen gibt,
(B) durch andere Arten, beispielweise Fischarten, gefährdet brauchen wir keine Fische draußen. (D)
werden.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Das ist bemerkenswert. – In Franken sagt ein Mitarbeiter
der unteren Naturschutzbehörde, ein Biologe, er stelle
LINKEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/
sich hinter die Teichwirte in seinem Land. Im Zusam-
DIE GRÜNEN]: Alle Vögel sind geschützt!)
menhang mit der Karpfenernte in der Lewitz berichtet
Wir leben in einer Kulturlandschaft. Es ist völlig unstrit- der NDR, dass der Fischer Hermann Stahl die Verluste
tig, dass zum Schutz der Wälder Rehwild geschossen auf 30 Prozent senken konnte, seit er intensiver gegen
wird, dass wir ein Management für Rotwild haben. Es ist den größten Fischräuber, den Kormoran, vorgehen kann.
völlig unstrittig, dass wir in unserer Kulturlandschaft Früher betrugen die Verluste bis zu 75 Prozent.
Wildschweine bejagen. Allein bei mir im Wahlkreis hat
es eine Verzehnfachung des Wildschweinbestandes in- Das Bundesamt für Naturschutz führt in der Roten
nerhalb der letzten 30 Jahre gegeben, und natürlich wer- Liste der Süßwasserfische und Neunaugen aus: Eine be-
den sie bejagt. Genauso unstrittig sollte es sein, dass der friedigende Lösung des Kormoranproblems ist bisher
Kormoran dort, wo er zu Schäden an autochthonen nicht in Sicht, und zu der Frage, wie der Äsche geholfen
Fischbeständen führt, ebenfalls reguliert wird. werden kann, gibt es erheblichen Forschungsbedarf.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bei Abgeordneten der LINKEN – Ulrich NEN]: Das ist nicht richtig! Der Kormoran ist
Kelber [SPD]: Es gibt weniger Kormorane als es nämlich nicht bei der Äsche!)
FDP-Mitglieder in Deutschland, das ist nicht Die fachliche Meinung des Bundesnaturschutzamtes
viel!) sollte ernst genommen werden. Es reicht nicht, zu sagen,
Der Schutz autochthoner Bestände ist unser Anliegen, dass es Umweltverbände gibt, die nicht wollen, dass et-
genauso wie der Artenschutz unter der Wasseroberflä- was unternommen wird.
che. Wir wollen den Erhalt von Teichwirtschaften, ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
rade in FFH-Gebieten. Jeder, der ein bisschen Ahnung
von unserer Kulturlandschaft hat, weiß, dass wir die Wenn wir uns eine entsprechende Veröffentlichung
Fischbestände dort nicht durch Überspannung der Teiche des Bundesumweltministeriums aus dem Oktober 2011
schützen können; das geht überhaupt nicht. Sie sind zu anschauen, sehen wir, dass auch darin der Kormoran als
groß. Ich will als Schleswig-Holsteinerin natürlich die Fraßräuber benannt wurde. Ich glaube, es ist an der Zeit,
Fischerei am Großen Plöner See erhalten. Auch dort ist dass wir beim Kormoran zu einem Umdenken kommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16597
Dr. Christel Happach-Kasan
(A) (Ulrich Kelber [SPD]: Das BfN ist gegen das Weil Sie es fertigbringen, mit keinem Wort den An- (C)
Kormoranmanagement! Sie haben falsches trag der Linken zu erwähnen, der nun wirklich sehr dif-
Zeugnis abgelegt!) ferenziert und sachlich ist, will ich diese Anmerkung
machen:
Liebe Kollegin Kurth, ich fand es schon bemerkens-
wert, dass Sie gestern im Ausschuss erstmalig davon ge- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Herr
sprochen haben, dass wir einen Interessenkonflikt beim Korte, ich stimme Ihnen zu, dass es ein guter
Thema Kormoran haben. Frau Kollegin Behm hat in der Antrag ist!)
ersten Rede zum Kormoranantrag ausgeführt, dass es
durchaus Gewässerabschnitte geben kann, in denen tat- Zumindest bei dieser K-Frage hätten Sie einmal aus-
sächlich Bedarf an einem Management für bestimmte nahmsweise sachlich und nicht ideologisch mit uns dis-
Arten besteht. kutieren und dem Antrag einfach zustimmen können.
Dann wären wir schon ein gutes Stück weiter.
(Ulrich Kelber [SPD]: Der Hecht frisst auch
andere Fische!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Patrick Döring [FDP]: Kor-
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Kormoran moran for Kanzler!)
in den küstenfernen Regionen Deutschlands, also in
Süddeutschland, eine invasive Art ist. Nun aber zu den Fakten. Bis auf die Grünen und bis
auf Ute Vogt wissen alle, die sich mit diesem Thema be-
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schäftigen, dass der Kormoran ein großes Problem dar-
NEN]: Was ist denn eine invasive Art?) stellt. 1990 gab es 5 000 Brutpaare. 2010 gab es schon
Er hat Brutbestände dort aufgebaut, wo er früher einmal 24 000 Brutpaare. Das ist in der Tat – darüber können
allenfalls als Irrgast vorgekommen ist. Es ist auch klar, wir uns alle freuen – ein Erfolg für den Artenschutz. Das
dass wir bestimmte Fischarten haben, die sich der neuen ist auch erst einmal in Ordnung. Aber – darüber diskutie-
Situation nicht angepasst haben. Insbesondere gilt dies ren wir hier zu Recht – der Artenschutz endet eben nicht
für die Äsche, aber auch für andere Fischarten. an der Wasseroberfläche, liebe Kollegen von den Grü-
nen. Um dieses Problem geht es heute.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind aufgefor-
dert, die Akzeptanz für den Naturschutz zu erhalten. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Dazu gehört auch, dass wir ein Management organisie- neten der SPD und der FDP)
ren, wenn sich eine Art, wie es beim Kormoran der Fall
ist, so stark vermehrt, dass andere Arten in ihrem Be- Ich habe mir die Reden, die damals zu Protokoll gege-
stand gefährdet sind. Es ist richtig, was der Fischereiver- ben wurden, angeschaut. Den Grünen und in diesem
Falle auch Ute Vogt sei gesagt: Was Sie in dieser Debatte
(B) band von Brandenburg sagt: Auch Fische brauchen (D)
Schutz. – In diesem Sinne bitte ich Sie herzlich, meinem nicht begriffen haben, ist, dass Artenschutz eben nicht
Antrag zuzustimmen. nur für kleine, niedliche Tierchen mit Knopfaugen gilt
– das ist Ihre Position –, sondern beispielsweise auch für
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. den Aal und für die Äsche.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber
bei Abgeordneten der LINKEN) [SPD]: Haben Sie schon einmal etwas vom
Opferausgleich gehört?)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Nun weiter zu den Fakten. Erstens. In einer Studie des
Der nächste Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thüringer Umweltministeriums zur Kormoranüberwin-
Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
terung an Fließgewässern in Thüringen heißt es abschlie-
(Beifall bei der LINKEN) ßend – das ist das Fazit der Wissenschaftler –: Der da-
raus resultierende Fraßdruck auf die Äschenpopulation
Jan Korte (DIE LINKE): kann nicht mehr kompensiert werden.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweitens. Der Kormoran frisst pro Tag – das besagen
In der Tat ergibt sich bei dieser Debatte eine etwas unge- alle wissenschaftlichen Untersuchungen – zwischen 300
wöhnliche Konstellation. Das hat mit der Tatsache zu und 500 Gramm Fisch. Das macht pro Jahr insgesamt
tun, dass sich offenbar in mehreren Fraktionen Sachken- zwischen 15 000 und 25 000 Tonnen. Das ist übrigens
ner mit dieser Materie auseinandergesetzt haben und mehr, als die gesamte deutsche Binnenfischerei produ-
dementsprechend sinnvolle Anträge eingebracht haben. ziert.
(Beifall bei der LINKEN) Drittens. Laut Antwort der Bundesregierung auf eine
Die Linke hat bereits im April zum Kormoranma- Anfrage der Linken frisst der Kormoran pro Jahr rund
nagement einen Antrag eingebracht. Die Koalitionsfrak- 340 Tonnen des europäischen Aals, einer Art, die mitt-
tionen haben dann im Oktober nachgelegt und die we- lerweile fast vollkommen ausgestorben ist.
sentlichen Punkten unseres Antrages erfreulicherweise Viertens ein Beispiel aus Brandenburg, das schon zu
bei uns abgeschrieben und übernommen. Das ist in Ord- Recht angesprochen wurde: Die dort existierenden klei-
nung; denn der Antrag, den wir eingebracht haben, ist
nen Teichwirtschaften in Form von Familienbetrieben
ein sehr kluger Antrag.
– das müsste die Kollegin Behm doch wissen – hatten im
(Beifall bei der LINKEN) letzten Jahr einen Verlust von 1 Million Euro bei einem
16598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Jan Korte
(A) Gesamtumsatz von 3,6 Millionen Euro. Da kann man Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
doch nicht einfach sagen: „Das ist uns egal“, insbeson- Letzte Rednerin in dieser grundsätzlichen und leiden-
dere wenn man sich die regionale Wirtschaft auf die schaftlichen Debatte ist die Kollegin Undine Kurth für
Fahnen schreibt. In dieser Frage sind Sie schlicht un- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
glaubwürdig.
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
Das ist Ihnen doch sonst auch egal!) GRÜNEN):
Deswegen – in dem Punkt ist unser Antrag wirklich Frau Präsidentin, ich danke Ihnen für das Wort. –
besser – fordern wir, wie es bereits in Dänemark erfolg- Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste auf der
reich praktiziert wurde, dass man Naturschützer, Fischer Tribüne! Das Ganze klingt ziemlich heiter; dabei ist es
und Angler in diesen Prozess einbezieht. Wir fordern die eigentlich ein relativ ernstes Thema.
Bundesregierung auf, nachhaltig dafür zu sorgen, diese (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Gruppen einzubinden. SES 90/DIE GRÜNEN – Franz-Josef
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Holzenkamp [CDU/CSU]: Oh ja!)
NEN]: Sozialismus gegen Kormorane!) Ich frage mich, wie oft wir hier noch über dieses
Die Kollegin Tackmann hat hierzu heute eine sehr fach- Thema reden müssen, ehe Sie endlich einmal bereit sind,
kundige Erklärung zur Abstimmung vorgelegt. die Rechtslage zu akzeptieren

Ich will Ihnen eines sagen – auch das ist bereits ange- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sprochen worden –: Der Dank sollte heute in der Tat al- und bei der SPD)
len Naturschützern und Artenschützern gelten, aber eben und sich damit auseinanderzusetzen, dass wir uns über
auch den Anglern, ohne deren Besatzmaßnahmen es bei- deutsches und europäisches Naturschutzrecht unterhal-
spielsweise den europäischen Aal in unseren Gewässern ten. Sie hingegen tragen emotional zum Fischartenschutz
gar nicht mehr geben würde. Insofern gilt ihnen der aus- vor, meinen aber eigentlich wirtschaftliche Interessen.
drückliche Dank des Bundestages.
(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
stimmt nicht!)
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Es ist schon bemerkenswert, dass all diese Fakten Sie – Doch.
nicht überzeugen können. Zum Schluss möchte ich aber (Patrick Döring [FDP]: Ihre Unterstellung ist
(B) doch noch eine Anmerkung zu CDU/CSU und FDP ma- (D)
unangemessen!)
chen. Im Gegensatz zu Ihnen entscheidet die Linke
grundsätzlich nach Sacherwägungen. Natürlich stört der Artenschutz, wenn es eigentlich um
wirtschaftliche Interessen geht. Der steht im Wege; den
(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der kann man nicht brauchen. Wir sollten uns endlich einmal
CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem klarmachen, dass man nicht jeden Konflikt zwischen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wirtschaftlichen Interessen und dem Arten- und Natur-
Wir lesen, was in dem Antrag steht. Sie aber schauen nur schutz mit dem Gewehr lösen kann. Das führt zu keinem
darauf, wer den Antrag eingebracht hat. Das heißt, Sie Ergebnis.
sind ideologisch, und wir sind unideologisch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der und bei der SPD – Jan Korte [DIE LINKE]:
CDU/CSU und der SPD – Patrick Döring Wer will das denn? Was für ein Quatsch!)
[FDP]: „Alle sind Ideologen, außer wir!“ – Um es gleich vorwegzunehmen: Wir werden keinem
Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der der beiden Anträge – weder dem der Linken noch dem
SPD) der Koalition – zustimmen.
Das ist die Wahrheit, und weil wir das nicht nur pos-
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Gott sei
tulieren, sondern auch machen, werden wir heute Ihrem
Dank!)
Antrag selbstverständlich zustimmen, genauso wie wir
hoffen, dass Sie – ebenfalls unideologisch und an der Sa- – Gott sei Dank? Sie scheinen ja selber nicht viel von Ih-
che orientiert – unserem Antrag zustimmen werden. rem Antrag zu halten, wenn Sie sagen, wir sollten ihm
(Beifall bei der LINKEN) nicht zustimmen.

Dafür möchte ich gerne werben. Das wäre dann in der (Patrick Döring [FDP]: An Sachlichkeit nicht
Tat ein gutes Zeichen für einen ganzheitlichen Arten- zu überbieten, der Beitrag!)
schutz, der in diesem Bereich dringend erforderlich ist. Weil ich nur relativ wenig Zeit habe, werde ich mich
(Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber nur auf wenige Punkte konzentrieren.
[SPD]: Artenschutz für das Kormoranmanage- (Patrick Döring [FDP]: Noch zu viel!)
ment vorschieben, wo man nur den Fischern
mit dienen möchte!) – Das glaube ich nicht; Sie sollten besser zuhören.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16599
Undine Kurth (Quedlinburg)
(A) Erstens. Sie tragen immer wieder die allseits beliebte Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (C)
Forderung vor, man müsse den Fischartenschutz mit Frau Kollegin, vielen Dank für die Möglichkeit zu ei-
dem Vogelschutz gleichstellen. ner Zwischenfrage. – Sicherlich haben Sie festgestellt,
dass die Grünen in Rheinland-Pfalz inzwischen die Um-
(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Ge-
weltministerin stellen und damit an einer entscheidenden
nau! Bravo!)
Stelle mitwirken. Sicherlich haben Sie auch festgestellt,
Ute Vogt ist darauf schon eingegangen. Sie sollten zur dass diese Umweltministerin erst kürzlich darauf hinge-
Kenntnis nehmen: Es gibt im Artenschutz gar keine Vor- wiesen hat, dass die Fischbestände an den Nebenflüssen
rangregelung. von Rhein und Mosel erstmalig existenziell gefährdet
seien. Außerdem hat sie festgestellt, dass die Zahl der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Brutplätze für den Kormoran um ein Drittel zugenom-
Das deutsche und das europäische Naturschutzrecht be- men hat. Dies hat sie als bedenklich bewertet.
stimmen nach Daten und Fakten Schutzkategorien. An
(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Eine
die haben sich alle verbindlich zu halten. Ihnen geht es
gute Ministerin!)
aber gar nicht – das behaupte ich – um mehr Fischarten-
schutz, sondern um die Ertragslage der Fischer. Sie hat außerdem die gestiegenen Bruterfolge als alar-
(Cajus Caesar [CDU/CSU]: Wir wollen schüt- mierende Hinweise bezeichnet. Ist Ihnen dieses be-
zen, nicht ausrotten!) kannt? Wie beurteilen Sie die Bemerkungen von Frau
Ministerin Höfken?
Das ist völlig in Ordnung. Darum muss man sich auch
kümmern. Man muss dann aber die Instrumente einset- (Zuruf von der SPD: Das spricht für Sach-
zen, die wirklich eine Verbesserung bringen. kunde!)

(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Zum – Sie war bei uns im Ausschuss!


Beispiel? Welche? – Jan Korte [DIE LINKE]:
Zum Beispiel?) Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
– Sie kennen das. Sie wissen, dass wir für die Gewässer
Die Frau Ministerin wird sicherlich im nächsten
wesentlich mehr tun müssen. Dort, wo Fischer wirklich
unter extremem Druck leiden, können wir mit Aus- Schritt überlegen, welche der möglichen Ausnahmerege-
lungen, die das Naturschutz- und Artenschutzrecht vor-
gleichsmaßnahmen ansetzen oder Sonderregelungen
sehen, zur Anwendung kommen sollen, wenn sich jetzt
zum Tragen bringen.
ein kausaler Zusammenhang offenbaren würde. Ganz
(B) (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Wel- einfache Antwort! (D)
che denn?)
Ich komme zu meinem zweiten Punkt. Das, was Sie
– Zu denen komme ich gleich noch. von der Koalition und von der Linken in Ihren Anträgen
vortragen, ist zum Teil wirklich abenteuerlich und for-
Ihnen ist berichtet worden, dass es Eingriffsmöglich-
dert zum Rechtsbruch auf.
keiten gibt. Es liegt nämlich nicht – das ist das einzig
Entscheidende – im Belieben irgendeines Mitgliedstaa- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wie
tes, festzulegen, an welche Artenschutzregelungen er bitte? Abenteuerlich sind Sie!)
sich gerade halten will und welche ihm gerade nicht pas-
sen. Das Recht ist verbindlich. Wenn Sie der Meinung Machen Sie sich bitte bewusst: Der Kormoran ist nach
sind, dass der Kormoran inzwischen eine Allerwelts- Art. 2, 5, 6 und 4 Abs. 2 der europäischen Vogelschutz-
vogelart ist, richtlinie geschützt.

(Patrick Döring [FDP]: Ist er!) (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ja, ja!
Weil es nämlich angeblich so wenige davon
wobei ich ja eher den Eindruck hatte, es sei der böse gibt!)
Wolf, dann stellen Sie doch bitte den entsprechenden
Antrag und bringen empirische Belege, die einem sol- Daraus ergeben sich erhebliche Zugriffsverbote und ein
chen Antrag, nämlich den Kormoran artenschutzrecht- prinzipielles und generelles Jagdverbot.
lich neu einzugruppieren, als Grundlage dienen können.
Das wäre doch eine Variante. Vizepräsident Eduard Oswald:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
Vizepräsident Eduard Oswald: frage?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
GRÜNEN): Wir können das heute Abend gerne so weiterführen.
Ja, bitte, Frau Happach-Kasan. Von wem diesmal, bitte?

Vizepräsident Eduard Oswald: Vizepräsident Eduard Oswald:


Frau Kollegin Christel Happach-Kasan, bitte schön. Vom Kollegen Jan Korte.
16600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE Wenn Sie meinen, ein scharfer Schuss zur rechten Zeit (C)
GRÜNEN): sei das Richtige, dann ist damit auch geklärt, was das be-
Ja. deutet, was in Ihrem Antrag steht.
(Zuruf von der CDU/CSU: Einer von links, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
eine von rechts!) NEN]: Das ist das Niveau der FDP!)
– Na ja, diese Allianz gibt’s doch gerade! Ich darf Sie darauf hinweisen, dass der Verwaltungs-
gerichtshof Baden-Württemberg im März dieses Jahres
Vizepräsident Eduard Oswald: eine solche Vergrämungsaktion, wie sie in der Gegend
von Radolfzell durchgeführt worden ist, für unrechtmä-
Bitte schön. ßig erklärt hat. Es wird zukünftig nicht mehr zu solchen
Aktionen kommen. Es wäre gut, wenn Sie endlich ein-
Jan Korte (DIE LINKE): mal die Rechtslage und die Rechtsprechung zur Kennt-
Liebe Kollegin Kurth, Sie haben gerade die EU-Vo- nis nähmen.
gelschutzrichtlinie angesprochen. Lassen Sie mich kurz
daraus zitieren. Dort heißt es in Art. 2: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maß- Wie gesagt: Es ist kein Geheimnis, dass der Kormo-
nahmen, um die Bestände aller unter Artikel 1 fal- ran gerne und gut Fisch isst. Das weiß jeder; das haben
lenden Vogelarten auf einem Stand zu halten oder wir, Frau Happach-Kasan, übrigens noch nie geleugnet.
auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den Wir verkennen auch nicht das Problem, das es mit Popu-
ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen lationen gibt, wenn sich große Kolonien bilden. Aber
Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaft- dort müssen spezifische Lösungen gefunden werden;
lichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rech- man kann sie auch finden, denn das Artenschutzrecht
nung getragen wird. gibt bereits jetzt Ausnahmemöglichkeiten her, aber eben
keine generellen, sondern nur im in der Sache geprüften
Wie konstruieren Sie damit bitte einen Gegensatz Einzelfall.
zwischen den vorliegenden Anträgen und der geltenden
EU-Vogelschutzrichtlinie? Das verstehe ich nicht. Es ist doch geradezu aberwitzig, wenn wir uns hier
hinstellen und sagen: Wir haben zwar europäisches Na-
(Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU und turschutz- und Artenschutzrecht, aber wir müssen uns
der FDP) gerade einmal nicht daran halten. Wieso glauben Sie ei-
(B) gentlich, dass dieser Rechtsbereich der individuellen (D)
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE Entscheidung unterliegt, während man sich an andere
GRÜNEN): Rechtsvorschriften zu halten hat? Das ist doch nicht be-
liebig.
Jetzt hat der Angler gesprochen. – Ich wollte des Wei-
teren sagen: Alle Maßnahmen, die zu einer Eingrenzung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
oder Beeinflussung der Population führen sollten, sind sowie der Abg. Ute Vogt [SPD])
nach § 38 Bundesnaturschutzgesetz als Eingriff zu be-
werten. – Darauf haben Sie gerade auch abgehoben. Ein Wir haben geltendes Recht, und das ist verbindlich für
Eingriff, wenn es darum geht, Veränderungen vorzuneh- alle.
men, kann einer Verträglichkeitsprüfung unterzogen
werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch die geplante Maß- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Und der An-
nahme eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebens- trag widerspricht nicht geltendem Recht!)
räume des Kormorans zu erwarten ist oder der günstige – Doch, er widerspricht geltendem Recht, denn Manage-
Erhaltungszustand der Bestände gefährdet wird. mentpläne sind gar nicht möglich.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Da verstehe ich
nicht den Bezug zu unseren Anträgen! – Vizepräsident Eduard Oswald:
Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Das Wir machen dann Schluss.
habe ich nicht verstanden! – Stefan Müller
[Erlangen] [CDU/CSU]: Was ist mit dem Er- (Heiterkeit und Beifall)
haltungszustand der Bestände? – Patrick
Döring [FDP]: Ein scharfer Schuss zur rechten Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
Zeit schafft Ruhe und Gemütlichkeit! – Heiter- GRÜNEN):
keit bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist wahrscheinlich auch besser, denn wir müssen
– Herr Döring, mit dieser Haltung werden Sie im Natur- noch oft üben, ehe Sie offensichtlich bereit sind, zu be-
schutz und im Artenschutz natürlich besonders weit greifen, was Naturschutzrecht bedeutet.
kommen. Sie stellen sehr deutlich klar, in welche Rich-
tung Ihr Denken geht, in welche Richtung Ihr Verhältnis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zum Natur- und Artenschutz geht. sowie der Abg. Ute Vogt [SPD] – Dr. Christel
Happach-Kasan [FDP]: Sie haben es nicht be-
(Beifall der Abg. Ute Vogt [SPD]) griffen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16601

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie Ihre Auf- (C)
Vielen Dank, Frau Kollegin Undine Kurth. merksamkeit der ersten Rednerin zum neuen Thema
schenken würden, wäre das schön; denn es ist für die
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Elisabeth
empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Winkelmeier-Becker. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie ha-
schaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Frak- ben das Wort.
tion Die Linke mit dem Titel „Ökosysteme schützen,
Artenvielfalt erhalten – Kormoranmanagement einfüh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/5955, den Antrag der Frak- Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
tion Die Linke auf Drucksache 17/5378 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Koalitionsfraktionen, die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Vielen Dank für das Wort. – Nach dieser sicherlich sehr
nen und der größte Teil der Sozialdemokraten. Gegen- wichtigen Debatte um das Kormoranmanagement wen-
probe! – Linksfraktion und einige Stimmen aus der so- den wir uns nun einem vielleicht auch nicht ganz un-
zialdemokratischen Fraktion. Enthaltungen? – Keine. wichtigen, einem sicherlich wichtigen gesellschaftlichen
Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Thema zu, nämlich der Gewalt gegen Frauen, und der
Frage, was wir dagegen tun können.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An- Das Hilfetelefon, um das es heute geht, ist ein zentra-
trag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Fischarten- les Vorhaben der Gleichstellungspolitik in dieser Legis-
schutz voranbringen – Vordringliche Maßnahmen für ein laturperiode. Ich bin sehr froh, dass wir mit diesem Ge-
Kormoranmanagement“. Der Ausschuss empfiehlt in setzentwurf, den die Frauenministerin vorgelegt hat, nun
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7673, einen entscheidenden Schritt weitergehen, auch wenn
den Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 17/7352 wir noch nicht ganz auf der Ziellinie sind. Noch einiges
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- ist in der Umsetzung und Planung zu machen.
lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen, die Links- Mit dem Hilfetelefon erfüllen wir eine internationale
fraktion und einige Stimmen aus der sozialdemokrati- Verpflichtung. Das Übereinkommen des Europarats zur
schen Fraktion. Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
(Ute Vogt [SPD]: Zwei! – Ulrich Kelber und häuslicher Gewalt hat Deutschland im Frühjahr als
[SPD]: Zwei, nicht „einige“!) eines der ersten Länder unterschrieben. Wir nehmen ei-
nen wesentlichen Punkt heraus und setzen die Konven-
(B) – Ich korrigiere mich: zwei Stimmen. – Gegenprobe! – tion um. (D)
Das sind der größte Teil der Fraktion der Sozialdemokra-
ten sowie die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthal- Zugleich erfüllen wir hiermit ein Versprechen aus
tungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist ange- dem Koalitionsvertrag. Wir haben uns vorgenommen,
nommen. mit der Einrichtung der bundesweiten Notrufnummer ein
Hilfesystem im Bereich Gewalt gegen Frauen zu etablie-
Ich darf noch darauf hinweisen, dass Frau Kollegin ren. Außerdem erstellen wir einen Bericht zur Lage der
Dr. Kirsten Tackmann eine Erklärung zur Abstimmung Frauenhäuser, an dem das Frauenministerium ebenfalls
abgegeben hat.1) arbeitet.
(Patrick Döring [FDP]: Aha!) (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es
wird Zeit, dass der fertig wird!)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
– Soviel ich weiß, wird er bald vorgelegt. Es wäre nicht
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- schlecht gewesen, ihn vorher zu haben, aber er wird
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein- nachgeliefert. – Das Wichtigste ist aber nicht, dass wir
richtung und zum Betrieb eines bundesweiten irgendwelche Versprechen erfüllen und abstrakte Rege-
Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ (Hilfete- lungen beschließen, sondern dass wir ein konkretes Hil-
lefongesetz – HilfetelefonG) feprojekt etablieren, das Frauen in besonders gewaltbe-
– Drucksache 17/7238 – hafteten Lebenssituationen konkret hilft.
Überweisungsvorschlag: Das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen in Deutsch-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) land wird zumeist unterschätzt. Wenn es nicht die Studie
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss des Frauenministeriums gäbe, würde man nicht für mög-
lich halten, dass bereits 40 Prozent aller Frauen einmal
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die in ihrem Leben mit Gewalt konfrontiert gewesen sind,
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre und zwar in unterschiedlichen Formen: angefangen bei
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. der häuslichen Gewalt bis hin zur sexuellen Belästigung
am Arbeitsplatz. Stalking, Genitalverstümmelung und
(Unruhe) Zwangsverheiratung sind weitere Arten der Gewalt.
25 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen haben in
1) Anlage 2 einer früheren oder in ihrer aktuellen Partnerschaft Ge-
16602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) walt erfahren. Es ist also ein wirklich wichtiges Thema, setz wird der Appell verbunden, das Hilfetelefon zu nut- (C)
um das wir uns heute kümmern. zen, nicht wegzuschauen, sondern zu helfen.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Ganz wichtig ist aber auch, dass das Angebot aus-
reicht, dass ein gesichertes Angebot vorhanden ist. Wir
Diesem Problem steht eine breite Hilfestruktur gegen- müssen damit rechnen, dass der Bedarf steigt, sobald Be-
über. Es gibt 360 Frauenhäuser und Zufluchtswohnun- darf und Angebot besser zusammengebracht werden.
gen, an die 500 Beratungsstellen und Notrufe sowie be- Das müssen wir im Auge behalten. Vielleicht kann das
sondere Beratungsstellen für besondere Problemlagen, Hilfetelefon dazu beitragen, den Bedarf transparenter zu
für Opfer von häuslicher Gewalt oder Opfer von Frauen- machen. Wenn die Beraterinnen keine Angebote mehr
handel. Viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen, aber auch aufzuweisen haben, an die sie die Frauen vermitteln kön-
viele Profis arbeiten in diesem Bereich. Sie engagieren nen, dann wird die politische Diskussion darüber, ob das
sich besonders und tun nicht nur das, was sie vom Ar- Angebot ausgeweitet werden muss oder ob es ausreicht,
beitsvertrag her zu leisten hätten, also zum Beispiel auf Basis dieser Fakten geführt werden können.
38,5 Stunden arbeiten, sondern sie setzen sich in der Re-
gel auch darüber hinaus ein. Ich finde es in diesem Zu- (Beifall bei der CDU/CSU)
sammenhang wichtig, den Mitarbeiterinnen in den Bera-
Die Helpline ist ein wichtiges Signal. Sie wird helfen,
tungsstellen und Frauenhäusern unseren Dank auszu-
in den Fällen den Weg aus der Gewalt zu finden, in de-
sprechen.
nen er bisher nicht gesehen wird. Es ist Zeit, dass wir das
(Beifall im ganzen Hause) schaffen. Die Ministerin hat dabei unsere volle Unter-
stützung.
Die schon angesprochene Studie zeigt – und das ist
erschreckend –, dass in einer konkreten Notsituation nur Herzlichen Dank.
20 Prozent der Frauen das Hilfeangebot überhaupt wahr- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
nehmen können. 80 Prozent, also die weitaus größte und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zahl der betroffenen Frauen, findet das nötige Angebot
in einer solchen Situation nicht. Das ist auch kein Wun-
der; denn Frauenhäuser sind in der Öffentlichkeit be- Vizepräsident Eduard Oswald:
wusst nicht präsent. Wenn man sich in einer Gewalt- Vielen Dank, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker. –
situation befindet, hat man nicht die Zeit, das Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kol-
Telefonbuch zu wälzen oder sich zu erkundigen. Es geht legin Marlene Rupprecht. Bitte schön, Frau Kollegin
deswegen darum, die Nummer zu kennen und zu wissen, Rupprecht.
an wen man sich wenden kann. Ziel des neuen Angebots (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Michaela
(B) (D)
ist es, Bedarf und Angebot auf einfache Weise besser zu- Noll [CDU/CSU])
sammenzubringen, damit ein Weg offensteht, wenn es
nötig ist. Daraus ergeben sich bestimmte Merkmale und
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
Anforderungen, die wir an diese Helpline stellen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Es geht um eine Lotsenfunktion. Es geht nicht darum, Wir haben einen Gesetzentwurf zur Einrichtung eines
in Konkurrenz zu treten oder selbst ein Angebot zu un- Hilfetelefons vorliegen. Dieser Gesetzentwurf ist not-
terbreiten, sondern es geht darum, zu vermitteln. Wir set- wendig, wichtig und richtig.
zen dazu qualifizierte Kräfte ein, die aufgrund ihrer Aus-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bildung in der Lage sind, mit den Frauen in der kon-
bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Katja
kreten Situation zu kommunizieren, auf sie einzugehen
Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
und ihnen zu erklären, was für sie in der jeweiligen Si-
tuation am besten ist. Wir müssen für ein mehrsprachi- Wir setzen damit internationale Vorgaben um. Wir haben
ges Angebot sorgen, um Frauen unterschiedlicher Her- uns verpflichtet, diese Vorgaben umzusetzen. Europa
kunft beraten zu können. Es muss anonym, vertraulich, fordert uns auf – die Kollegin Winkelmeier-Becker hat
kostenlos und – ganz wichtig – 24 Stunden an sieben Ta- das schon gesagt –, ein Hilfetelefon einzurichten und da-
gen in der Woche zur Verfügung stehen, also rund um für zu sorgen, dass die Nummer europaweit bekannt
die Uhr. wird. Mit den Telefonnummern 110 und 112 verbinden
wir etwas. Bei dieser neuen Telefonnummer sollte das
Wir lassen uns das einiges kosten. Die Prognose, auch
ebenfalls so sein.
aufgrund der Erfahrung anderer Länder, ist: Wir brau-
chen dafür ungefähr 80 bis 90 Kräfte. Wenn das Ganze Wir in Europa sollten klar sagen: Wir schützen Frauen
läuft, wird das jedes Jahr etwa 6 Millionen Euro kosten. vor Gewalt, vor allem vor häuslicher Gewalt. Gewalt im
familiären Umfeld akzeptieren die Gesellschaften Euro-
Das Angebot steht allen betroffenen Frauen zur Ver-
pas nicht.
fügung, aber auch dem Umfeld, zum Beispiel der Nach-
barin, die Geräusche hört, der Freundin, die blaue Fle- Der Europarat – ich bin Mitglied der Parlamentari-
cken sieht, oder dem Mitarbeiter im Jugendzentrum, der schen Versammlung – hat in langen, manchmal schwie-
Anhaltspunkte dafür hat, dass ein junges Mädchen in rigen Verhandlungen ein Übereinkommen dazu erarbei-
den Ferien im Heimatland seiner Eltern zwangsverheira- tet, das in Istanbul gezeichnet wurde, auch von
tet wird. Auch diesen Menschen hilft die Helpline, auch Deutschland. Ich hoffe, es gelingt uns möglichst bald, es
sie sollen sich an die Helpline wenden. Mit diesem Ge- zu ratifizieren. Das Übereinkommen enthält viele Maß-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16603
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)
(A) nahmen, die wir umzusetzen haben. An manchen Stellen ten. Ich habe das Geld immer zusammenbekommen. (C)
brauchen wir gar nichts zu machen, weil wir schon seit Aber so kann es doch nicht laufen.
vielen Jahren Aktionspläne haben und bereits Gesetze
Es gehört zum Regelangebot der sozialen Daseinsvor-
verabschiedet haben. Das heißt: Wir haben schon sehr
sorge der Kommunen, der Länder und des Bundes. Diese
viel.
gemeinsame Verantwortung müssen wir wahrnehmen.
An dieser Stelle möchte ich, was man als Oppositi- Wir können nicht immer fragen, was grundgesetzlich ist.
onspolitikerin selten oder eigentlich gar nicht tut, den Ich finde, unser Grundgesetz besagt eindeutig, dass wir
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken, die in diesem das vorhalten müssen, dass wir unsere Verantwortung
Bereich im Ministerium seit vielen Jahren gut und or- für die öffentliche Fürsorge wahrnehmen und Hilfsmaß-
dentlich arbeiten. Sie sind auch im Ausland als Sachver- nahmen anbieten müssen. Deshalb lautet mein dringen-
ständige für diesen Bereich anerkannt. der Appell: Kommen Sie damit in die Gänge! Es täte mir
leid, wenn dies noch einmal um eine Legislaturperiode
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP verzögert würde.
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Im Vorfeld dieses Gesetzentwurfs bin ich etliche Male BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
angesprochen worden mit dem Tenor: Nehmt doch das
Geld und gebt es den regionalen Netzwerken! Gebt es Ich habe eine weitere Bitte, diesmal an dieses Parla-
denen, die schon etwas tun! Dazu sage ich: Wenn man ment. Der Europarat hat eine Kampagne zum Schutz der
sich das nur kurz anschaut, kann man auf die Idee kom- Frauen vor häuslicher Gewalt gestartet. Als Mitglied der
men, dass das eine Möglichkeit wäre. Dieses Hilfetele- Parlamentarischen Versammlung des Europarats bin ich
fon ist aber keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung Koordinatorin bei dieser Kampagne. Es wäre schön,
des bereits bestehenden Hilfeangebots. Das halte ich für wenn dieses Parlament sagte: Ja, wir machen mit, und
richtig. wir sind auch bereit, hier eine Veranstaltung durchzufüh-
ren für den Europarat, für die Länder, die erst jetzt be-
Was uns fehlt, ist natürlich nach wie vor eine struktu- greifen, dass es notwendig ist, so etwas in ihrem Land
rierte Finanzierung all der Angebote vor Ort. Wir sollten vorzuhalten. Wir haben etwas vorzuweisen. Wir haben
nicht auf Spenden angewiesen sein und nicht jedes Jahr uns schon vor langem auf den Weg gemacht. Vielleicht
betteln müssen. Angesichts der Haushaltslage der Kom- gelingt es uns, nächstes Jahr hier in Berlin so eine ge-
munen werden die Mittel für die Frauenhäuser und die meinsame Veranstaltung durchzuführen.
Notrufe gekürzt. Das Leistungs- und Hilfeangebot wird
Ich kann Ihnen eines sagen: Es ist den Parlamentari-
reduziert. Einen Ausgleich dafür kann dieses Hilfetele-
(B) fon nicht darstellen. Deshalb appelliere ich hier noch ern aus anderen Staaten ziemlich egal, wer einen Gesetz- (D)
entwurf geschrieben oder einen Aktionsplan aufgelegt
einmal an die Regierung, an den Staatssekretär, der die
hat. Sie wollen sehen, was dieses Land auf den Weg ge-
Regierung hier vertritt: Wir müssen möglichst schnell
bracht hat. Ich bin stolz, dass wir etwas geschafft haben,
gemeinsam eine Länderfinanzierung hinbekommen.
auch wenn es mühsam war. Der gravierendste Kritik-
Hierbei muss der Bund den Hut aufhaben.
punkt, den der Europarat uns gegenüber geäußert hat,
Heute Mittag habe ich mir als Nichtjuristin extra noch war, dass unsere Frauenhausplätze nicht sicher und nicht
einmal einen Kommentar zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Grund- in genügender Zahl vorhanden sind. Dies müsste sich
gesetz – öffentliche Fürsorge – angesehen. Da heißt es: beheben lassen. In allen anderen Punkten wurden wir ge-
Hilfsmaßnahmen sind anzubieten, nicht nur bei wirt- lobt. Deshalb freue ich mich, dass auch das Hilfetelefon
schaftlichen Notlagen, sondern auch bei Notlagen in nun eingeführt wird. Es ist schön, dass dessen Nutzung
neuen Lebenssachverhalten. Ich denke, da müssen wir in ausgewertet werden soll und dass eine Datenbank erstellt
die Gänge kommen, egal wo, ob auf Bundesebene, auf werden soll. Ich hoffe, dass alle kooperieren.
Landesebene oder sonst wo. Nach weit über 30 Jahren In diesem Sinne sage ich Dankeschön und wünsche
Frauenhäusern kann es nicht sein, dass diese als freiwil- Ihnen einen schönen Abend.
lige Leistung angesehen werden. Ich finde, das ist ein-
fach unerträglich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
der FDP und der LINKEN)
Deshalb brauchen wir die Finanzierung dieser örtli- Vizepräsident Eduard Oswald:
chen Netzwerke und Angebote. Ich habe 20 Jahre lang Vielen Dank, Frau Kollegin Marlene Rupprecht. –
ein Frauenhaus geleitet. Ich kann Ihnen sagen: Ich habe Jetzt für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Sibylle
manchmal nicht gewusst, wie wir es das nächste Jahr fi- Laurischk. Bitte schön, Frau Kollegin.
nanzieren, obwohl ich da sehr fantasievoll bin. Diese
Gelder zu besorgen, mit wem man sich auseinanderset- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zen muss, damit man Geld bekommt, das kann man der CDU/CSU)
schon fast mit Prostitution vergleichen; so habe ich das
manchmal empfunden. Für mich selbst als Person würde Sibylle Laurischk (FDP):
ich dies nie tun, aber für das Frauenhaus bin ich zu ver- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ver-
schiedenen Firmen gegangen und habe um Geld gebe- einten Nationen haben im CEDAW-Übereinkommen die
16604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Sibylle Laurischk
(A) Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung der (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und (C)
Frau verlangt. Dem widmen wir uns. Das sehen wir als dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
eine Aufgabe, die wir auch auf europäischer Ebene for-
muliert haben. So hat beispielsweise der Rat der Euro- Vizepräsident Eduard Oswald:
päischen Union in seinen Schlussfolgerungen „Beseiti- Vielen Dank, Frau Kollegin Laurischk. – Jetzt für die
gung der Gewalt gegen Frauen in der Europäischen Fraktion Die Linke unsere Kollegin Cornelia Möhring.
Union“ vom 8. März 2010 die Einrichtung einer kosten- Bitte schön, Frau Kollegin Möhring.
losen und einheitlichen Telefonnummer für von Gewalt
betroffene Frauen gefordert. Es ist also durchaus eine in- (Beifall bei der LINKEN)
ternationale Aufgabenstellung.
Cornelia Möhring (DIE LINKE):
Insofern war es für uns nur folgerichtig, diese Aufga-
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
benstellung in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Da
und Kollegen! Auch die Fraktion Die Linke begrüßt die
es im Koalitionsvertrag steht, wird es vor allem von den
Einrichtung eines zentralen Hilfetelefons. Eine einheitli-
Frauen in der Koalitionsfraktionen gefordert. Ich erin-
che Nummer – darüber sind wir uns alle im Klaren –, die
nere mich gut an die Beratung, in der wir das vereinbart
kostenfrei zur Verfügung gestellt wird und unter der 24
haben; Herr Kues, auch Sie erinnern sich sicherlich da-
Stunden am Tag jemand erreichbar ist, übernimmt eine
ran, auch wenn Sie gerade nicht zuhören. Wir haben ge-
sehr wichtige Lotsenfunktion. Nach Aussage der Bun-
sagt: Wir wollen ein Hilfetelefon. – Ich bin froh, dass es
desregierung können bisher immerhin 80 Prozent der
tatsächlich auf den Weg gebracht wird und dass uns
von Gewalt betroffenen Frauen nicht in unser bestehen-
heute der Gesetzentwurf vorliegt; denn das ist ein wich-
des Hilfesystem vermittelt werden. Ich finde, das ist eine
tiges Signal.
unglaublich hohe Zahl von Frauen, die, obwohl sie drin-
Wir wollen etwas gegen die häusliche bzw. familiäre gend Hilfe brauchen, keine Hilfe erhalten.
Gewalt, besonders gegen die Gewalt, die Frauen immer Ich möchte daran erinnern – Frau Laurischk und die
wieder erleben, unternehmen. Dabei geht es um eine Si- anderen Vorrednerinnen haben das eindrücklich geschil-
tuation, die wir uns, glaube ich, kaum vorstellen können. dert –: Von Gewalt betroffen sind Frauen aller gesell-
Frauen, die geschlagen, misshandelt oder vergewaltigt schaftlichen Schichten: die Professorin genauso wie die
werden, die sich in großer Not nicht zu helfen wissen Verkäuferin im Supermarkt, die Hamburgerin genauso
und sich voller Scham kaum jemandem öffnen, sollten wie die Migrantin. Das geht quer durch alle gesellschaft-
ein Gesprächsangebot bekommen: einfach, nieder- lichen Schichten und Berufe. Wir haben die Zahl schon
schwellig, anonym, aber mit der klaren Aussage, wo sie gehört: 40 Prozent der Frauen und Mädchen machen im
(B) Hilfe finden können, wenn sie sie in Anspruch nehmen Laufe ihres Lebens Gewalterfahrungen. Das ist eine gi- (D)
wollen. Das brauchen wir. gantische Größenordnung und macht den Handlungsbe-
Ich erinnere mich gut an die Zeit, als ich im Rahmen darf im Hinblick auf einen umfangreichen Schutz der
einer Frauenhausinitiative den Wochenenddienst über- von Gewalt betroffenen Mädchen und Frauen deutlich.
nommen habe. Gerade am Wochenende, wenn die Fami- Die Bundesregierung rechnet im Zusammenhang mit
lie beisammen ist, ist die familiäre Gewalt besonders der Einführung des bundesweiten Hilfetelefons mit 700
heftig. Die Kinder erleben sie mit, die Frauen wissen Anrufen täglich. Das sind – ich habe es ausgerechnet;
sich nicht zu helfen. Wenn sie dann eine Ansprachemög- ich könnte das jetzt nicht so schnell im Kopf – 255 500
lichkeit haben, ist das ein erster Schritt, der aus der Ge- Anrufe jährlich. Wir sollten uns immer wieder deutlich
waltspirale hinausführt. machen, was für ein wichtiger Schritt es ist, wenn eine
Wir brauchen ein vielsprachiges Angebot; denn Mi- Betroffene tatsächlich zum Telefon greift und sagt: Ich
grantinnen, die isoliert sind und oftmals zu geringe brauche Hilfe. – Wir müssen uns darüber im Klaren sein:
Sprachkenntnisse haben, wissen sich sonst nicht zu hel- Sie muss dann auch schnell Hilfe vor Ort bekommen.
fen. Es ist sehr wichtig, dass sie in ihrer Muttersprache Der bundesweite Notruf kann dafür natürlich nur der
nach Hilfe fragen können. Das ist ein notwendiges An- erste Anstoß sein.
gebot, gerade vor dem Hintergrund, dass wir die Das Ausmaß der erwarteten Anrufe macht schon
Zwangsverheiratung unter Strafe gestellt haben. Wir deutlich, dass die personelle und finanzielle Ausstattung
müssen die flankierenden Maßnahmen ernsthaft anbie- der bestehenden Schutzeinrichtungen und die Zahl der
ten. Dies ist ein erster Schritt. Plätze bei weitem noch nicht ausreichen. In Schleswig-
Dass wir an dieser Stelle nicht stehen bleiben können, Holstein werden zurzeit aufgrund von Kürzungen und
ist völlig klar. Wie Sie wissen, setze ich mich sehr dafür Kahlschlägen Frauenhäuser und Beratungseinrichtungen
ein, dass die Finanzierung von Frauenhäusern stabilisiert plattgemacht. Ich möchte auch hier deutlich sagen: Ich
und bundesweit einheitlich geregelt wird. Da sind wir finde es zwar gut, dass die Bundesregierung die Vor-
noch nicht so weit wie beim Hilfetelefon. Wir müssen gabe, die wir von der EU bekommen haben, jetzt um-
Schritt für Schritt vorgehen. Die flankierenden Maßnah- setzt, aber in Schleswig-Holstein und in anderen Bun-
men sind dabei notwendig. Ich bin froh, dass wir uns desländern müssen Frauenhäuser und Beratungsstellen
hier verständigen und einen breiten Konsens finden schließen. Das Frauenhaus in Wedel zum Beispiel, ob-
konnten. wohl immer voll ausgelastet, steht vor dem Aus. Auch
der Mädchentreff in Husum, an den sich betroffene Mäd-
Vielen Dank. chen wenden konnten und wo sie bisher immer Hilfe be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16605
Cornelia Möhring
(A) kommen haben, steht vor dem Aus und kann sich nur Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
noch über Spenden aufrechterhalten. In anderen Ländern Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
sieht es ähnlich aus. Ich finde, das darf nicht sein. und Kollegen! Gewalt ist für viele Frauen immer noch
eine bittere Realität, und zwar, wie einige Vorrednerin-
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem nen schon gesagt haben, quer durch die gesamte Gesell-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schaft.
Noch einmal zurück zum Hilfetelefon. Ich möchte Konfliktsituationen wie Trennung und Scheidung er-
noch ein wichtiges Anliegen der örtlichen Beratungsstel- höhen die Gefahr für Frauen, Opfer von Stalking, von
len und Nottelefone anbringen, das bei der Umsetzung körperlicher oder sexueller Gewalt zu werden. Frauen
des Gesetzes unbedingt beachtet werden muss. Sie pla- mit Behinderung sind übrigens besonders gefährdet, be-
nen zwar einen jährlichen Sachstandsbericht, aber die sonders dann, wenn sie durch Pflege oder Assistenz in
erste umfassende Evaluation soll erst nach fünf Jahren Abhängigkeitsstrukturen leben. Gewalt ist ein patriar-
erfolgen. Ich finde, das ist viel zu spät. chalisch geprägtes Phänomen, für das wir als Sozialstaat
eine Lösung anbieten müssen.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Mit dem Hilfetelefongesetz setzt Deutschland die in-
ten der SPD) ternationalen und europäischen Verpflichtungen zum
Schutz von von Gewalt betroffenen Frauen um. Wir be-
Bei Fragen an das Ministerium – nicht wahr, Herr grüßen es, dass die Regierung jetzt so weit ist und das
Dr. Kues – hören wir immer wieder: Das haben wir noch Hilfetelefongesetz auf den Weg bringt.
nicht geprüft, da haben wir noch keine Ergebnisse, dazu
können wir noch nichts sagen. – Ich finde, wir sollten in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dieser Sache weder Herrn Dr. Kues noch uns solche Allerdings bleiben noch immer Fragen offen. Im Ge-
Bandschleifen weiter zumuten. Die Evaluation muss von setzentwurf steht – Zitat –:
Anfang an erfolgen.
Die Einrichtung und der Betrieb des Hilfetelefons
Der noch nicht erstellte Bericht zur Lage der Frauen- verursachen Ausgaben zu Lasten des Bundeshaus-
und Kinderschutzhäuser ist schon genannt worden. Ich halts. … Für die Länder und Kommunen entstehen
finde, zwei Jahre nachdem die Vorlage dieses Berichts unmittelbar keine Kosten.
im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, wird es tatsäch-
Ich finde es richtig, dass der Bund hier in Vorleistung
lich einmal Zeit dafür.
geht, allerdings muss natürlich auch geschaut werden,
(B) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- welche Folgeleistungen hier von den Kommunen und (D)
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE den Ländern zu übernehmen sind.
GRÜNEN) Die Koalition will dieses Angebot schaffen, da die
Untersuchungen gezeigt haben, dass circa 80 Prozent der
Eine Evaluierung erst nach fünf Jahren ist aber auch
von Gewalt betroffenen Frauen noch nicht erreicht wer-
fachlich völlig unlogisch. Projekte dieser Art, die ja völ-
den. Ein Grund dafür ist unter anderem die unzurei-
lig sinnig und richtig sind, müssen im Verlauf, im ständi-
chende Ausstattung des bestehenden Hilfesystems. Da-
gen Prozess evaluiert werden, und zwar gemeinsam mit
ran wird auch das Hilfetelefon erst einmal nichts ändern.
den Akteurinnen vor Ort. Damit wird, wie Sie gesagt ha-
Was machen nämlich diese 80 Prozent der Frauen, die
ben, Frau Winkelmeier-Becker, Transparenz hinsichtlich
sich dann nicht nur an das Hilfetelefon wenden, sondern
der Frage hergestellt, wo weiterer Bedarf besteht. Denn
auch an die örtlichen Hilfsstellen überwiesen werden
durch die vorliegenden Zahlen wird deutlich: Es wird
sollen, wenn diese gar nicht existieren bzw. nicht ausge-
weiteren Bedarf geben.
baut werden? Deshalb ist es wichtig, dass lokale Struktu-
Ich fordere Sie also ausdrücklich auf: Machen Sie aus ren erhalten bleiben und nicht Kürzungszwängen zum
dieser guten Idee eines zentralen Hilfetelefons auch tat- Opfer fallen.
sächlich eine richtig gute Sache. Sorgen Sie dafür, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
es für die vielen Schutzbedürftigen dann auch wirklich sowie bei Abgeordneten der SPD)
Schutz und Unterstützung geben wird. Wir sind dabei an
Ihrer Seite. Deswegen sind insbesondere auch die Länder und Kom-
munen angehalten, ebenfalls Finanzmittel zur Verfügung
Vielen Dank. zu stellen.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Neben der Finanzierung ist auch das Problem der
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Frauenhäuser schon angesprochen worden. Ich hoffe,
geordneten der CDU/CSU und der FDP) dass wir Anfang nächsten Jahres den Bericht dazu end-
lich diskutieren können und dass wir noch in dieser
Wahlperiode zügig eine gemeinsame Lösung finden;
Vizepräsident Eduard Oswald: denn in den Beratungen sowohl im Plenum als auch im
Vielen Dank, Frau Kollegin Möhring. – Jetzt für die Ausschuss gab es einen ziemlich großen Konsens. Wir
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin alle würden uns freuen, wenn wir mit guten Schritten vo-
Monika Lazar. Bitte schön, Frau Kollegin. rankämen; denn wir als Bund müssen die Linie vorgeben
16606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Monika Lazar
(A) und selbstverständlich auch die Kommunen und Länder Norbert Geis (CDU/CSU): (C)
mit ins Boot holen. Aber für uns – das hat auch Kollegin Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Rupprecht gesagt – ist das einfach eine grundgesetzliche Herren! Der Widerstand gegen Gewalt ist eine gesamt-
Verpflichtung. gesellschaftliche Aufgabe. Deswegen ist es vielleicht
nicht verkehrt, dass hier auch einmal ein Mann das Wort
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ergreift.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Das Hilfetelefon soll eine Erstberatung anbieten.
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
Dann soll an die örtlichen Strukturen vermittelt werden.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Diese Lotsenfunktion setzt allerdings eine Datenbank
voraus, die es bis jetzt noch nicht gibt. Bei deren Erstel- Ich freue mich, dass ich zu einem Thema reden darf, das
lung müssen Qualitätsstandards eingehalten werden. Es auf Konsens trifft, und dass es nicht immer zu einer
ist insbesondere wichtig, dass die vorhandene Expertise streitigen Auseinandersetzung kommen muss.
von den Frauen und den Beratungsstellen in den Ländern
genutzt wird. Deshalb unser Aufruf: Richten Sie jetzt ei- Wenn man der Statistik glauben kann, dann leben wir
nen Beirat ein, mit dem Sie gemeinsam dieses Problem in einem ganz sicheren Land, jedenfalls in einem relativ
beheben. sicheren Land mit Blick auf andere Länder. Aber die Sa-
che hat auch eine andere Seite. Es ist richtig, dass bei-
Laut Gesetzentwurf ist für das Hilfetelefon ein Ar- spielsweise die Jugendgewalt in unserem Land zurück-
beitskräftebedarf von 80 bis 90 Personen vorgesehen. geht. Aber wir erleben seit 10 bis 15 Jahren, dass die
Qualifizierte weibliche Fachkräfte werden gesucht. Gewalttäter brutaler werden. Die Gewalttaten nehmen
Wichtig ist allerdings auch, dass diese Fachkräfte weiter- an Brutalität zu. Das ist eine gefährliche Tendenz. Gegen
hin geschult werden. Bei einem Anfall von täglich circa diese Tendenz muss es einen gesellschaftlichen Wider-
700 Anrufen ist es wichtig, dass auch Supervision ange- stand geben. Deswegen ist auch diese Diskussion von
boten wird; die Mittel dafür müssen spätestens in den großer Bedeutung.
Haushaltsplan 2013 eingestellt werden. Ansonsten sind
die Fachkräfte sehr schnell ausgebrannt und fallen ent- Natürlich ist dieser gesellschaftliche Konsens insbe-
sprechend aus. sondere bei Gewalt gegen Frauen angebracht. Wir haben
es vorhin schon gehört: 40 Prozent – man soll es nicht
Die mit dem Hilfetelefon angesprochene Zielgruppe glauben – der in Deutschland lebenden Frauen sind be-
ist sehr weitreichend, da die Erscheinungsformen von reits Opfer einer körperlichen oder sexuellen Gewalt ge-
Gewalt sehr breit gefächert sind. Es geht um sexuali- worden. Das ist eine unvorstellbar hohe Zahl. Sie ist
(B) sierte und häusliche Gewalt, Stalking, Genitalverstüm- auch im europäischen Vergleich außerordentlich hoch. (D)
melung und um Gewalt im Rahmen von Prostitution und Das können wir so nicht mehr länger hinnehmen.
Zwangsverheiratung. Zum letzten Thema wurde gerade
erst eine Studie erstellt, aus der hervorgeht, wie schwie- Es gibt natürlich Gruppen von Frauen, die der Gewalt
rig dieser Bereich ist. besonders ausgesetzt sind. Der Weiße Ring hat festgestellt,
dass es sich dabei um Migrantinnen handelt – das ist hier
Die Einrichtung eines Hilfetelefons ist wichtig, aber schon zur Sprache gekommen –, um Frauen, die in Asyl-
bitte in Zusammenarbeit mit den Fachfrauen. Es muss bewerberwohnheimen leben, und um Prostituierte.
für dieses Telefon, wenn es dann so weit ist, mit einer
Kampagne geworben werden, damit die Frauen wissen, Auch gibt es in Deutschland Gewalt gegen Frauen,
dass es dieses niedrigschwellige Angebot gibt und wohin die voll und ganz in die Gesellschaft integriert sind. Das
sie sich wenden müssen. ist meistens Gewalt in der Privatheit der Wohnung. Es ist
Gewalt, die in der Regel vom Partner ausgeht und im
Insgesamt: Wir sollten uns in den nächsten Monaten Grunde genommen aus einer intimen Beziehung heraus
alle gemeinsam zusammensetzen und insbesondere für entstanden ist. Sie trifft die Frauen in einer ganz beson-
die betroffenen Frauen eine Lösung finden; denn wir deren Weise.
machen diese Sache nicht für uns, sondern für die
Frauen, die uns dankbar sind, wenn sie nicht nur das Hil- Diese Frauen wenden sich aber nicht an die zuständi-
fetelefon in Anspruch nehmen können, sondern auch die gen Stellen. Sie suchen keine Hilfe, obgleich zwei Drit-
örtlichen Strukturen. tel dieser Vorfälle, vor allen Dingen häusliche Gewalt, so
viele und so schwere Verletzungen verursachen, dass
Danke. manchmal sogar lebensbedrohliche Verletzungen festge-
stellt werden. Das ist ein gefährlicher Umstand. Davor
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
kann man nicht die Augen verschließen.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und der LINKEN) Deswegen müssen wir einen Weg finden, wie wir die-
sen Frauen klarmachen, dass sie Hilfe in Anspruch neh-
Vizepräsident Eduard Oswald: men sollten. Aber da es sich um einen sehr intimen Be-
Wir haben zu danken. – Nächster Redner für die Frak- reich, nämlich die eigene Wohnung, handelt und die
tion der CDU/CSU ist unser Kollege Norbert Geis. Bitte Gewalt von Personen ausgeübt wird, mit denen man zu-
schön, Kollege Norbert Geis. nächst einmal in einer intimen Beziehung gelebt hat, ha-
ben diese Frauen oft Scham. Sie wagen sich nicht an die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Öffentlichkeit oder wollen nicht, dass ihr Fall irgendwo
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16607
Norbert Geis
(A) bekannt wird. Deswegen sind sie auch nicht bereit, eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (C)
entsprechende Stelle aufzusuchen. bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Oft sind auch keine Nachbarn da, die das mitbekom- Der Gewalttäter muss merken, dass er auf geschlossenen
men würden. Die eigenen Kinder bekommen es viel- Widerstand stößt. Dieser Widerstand muss auch einmal,
leicht nicht mit. So leben diese Frauen in einem Teufels- wenn es notwendig ist, handfest werden. Darauf muss
kreis aus Privatheit, Abhängigkeit und Gewalt, aus dem sich der Gewalttäter ebenfalls einrichten. Ich will nun
sie nicht mehr allein herausfinden. Da ist Hilfe von au- nicht die Gewalt auf der anderen Seite predigen – das
ßen notwendig, zumindest die Möglichkeit, Hilfe zu be- will ich tatsächlich nicht –; aber der Gewalttäter muss
kommen. wissen: Ich stoße auf Widerstand. Das muss gesell-
schaftsweit in das Bewusstsein der Bevölkerung einge-
Ich meine, das bundesweite Hilfetelefon ist eine gute pflanzt werden. Ich meine, dass wir vielleicht tatsächlich
und vernünftige Einrichtung. Es wurde schon angespro- zu einer größeren Freiheit von Gewalt innerhalb der ge-
chen, dass es in den europäischen Ländern längst ver- samten Gesellschaft kommen.
breitet ist und dass wir noch ein wenig nachhinken. Es
ist höchste Zeit, dass eine solche Einrichtung bei uns ge- Danke schön.
schaffen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald:
Dieses Hilfetelefon muss natürlich, wie schon gesagt Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. Auch der Präsi-
wurde, barrierefrei sein. Es muss schnell erreichbar sein. dent hätte geklatscht, wenn ihm dies möglich gewesen
Wenn eine Frau anruft und wieder auflegt, weil niemand wäre.
am Ende der Leitung ist, dann hat sie nicht den Mut, Nächste Rednerin in unserer Debatte ist die Frau Kol-
gleich wieder anzurufen. Sie hat schon gar nicht den legin Nicole Bracht-Bendt für die Fraktion der FDP.
Mut, am nächsten Morgen anzurufen. Deshalb muss am Bitte schön.
anderen Ende der Leitung eine wache, gut ausgebildete,
kompetente Person sein. Es muss in der Regel eine Frau (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sein, weil sich Frauen in einer solchen Situation nicht der CDU/CSU)
gerne Männern anvertrauen.
Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Es muss darauf geachtet werden, dass wir kompetente
(B) Personen einsetzen, die auch andere Sprachen sprechen. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten (D)
Auch eine türkische Frau muss beim Hilfetelefon anru- Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
fen können und eine Antwort auf Türkisch bekommen, Erst einmal freut es mich, dass wir heute Abend hier für-
wenn sie die deutsche Sprache nicht versteht. Die techni- einander klatschen und so stimmig miteinander sind. Ich
sche Ausstattung muss hervorragend sein, und am Tele- wünsche mir, dass das hier häufiger vorkommt.
fon müssen hervorragend ausgebildete Personen sein. Etwa jede vierte Frau in Deutschland ist mindestens
Das muss man mit berücksichtigen. einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- derzeitige oder frühere Partner geworden. Gewalt gegen
neten der SPD und der LINKEN) Frauen findet alltäglich und mitten unter uns statt, und
zwar nicht nur im sozial kritischen Milieu, sondern über-
Ich will einen weiteren Gedanken ansprechen, der all. Opfer von Gewalt gegen Frauen sind häufig auch de-
noch nicht richtig zur Geltung gekommen ist. Nicht nur ren Kinder. Für alle Betroffenen bedeutet Gewalt meis-
die Betroffenen, sondern auch andere Personen können tens erhebliche psychische und gesundheitliche Folgen.
dieses Hilfetelefon in Anspruch nehmen. Das können Die Bekämpfung von Gewalt ist ein vordringliches Ziel
Kinder oder Nachbarn sein. Jeder, der entdeckt, dass ge- der Koalition. Wir sind uns alle einig, dass hier hoher
gen eine Frau Gewalt ausgeübt wird, soll und kann die- Handlungsbedarf besteht. Deshalb handeln wir.
ses Telefon in Anspruch nehmen. Dafür muss natürlich
Nachdem der Bundesrat im September dem Gesetz-
die Nummer bekannt sein. Es muss also eine entspre-
entwurf der Bundesregierung zur Einrichtung und zum
chende Öffentlichkeitsarbeit geben, damit die bundes-
Betrieb eines bundesweiten Hilfetelefons „Gewalt gegen
weite Telefonnummer weithin bekannt wird und genutzt
Frauen“ zugestimmt hat, ist der Weg frei für eine kosten-
werden kann.
lose bundesweite Hotline – eine Nummer, die Frauen
Ich meine, dass der Gesetzentwurf eine sehr gute Ini- rund um die Uhr wählen können, wenn sie in Not sind.
tiative der Bundesregierung bzw. der Bundesministerin Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich maßgeblich für
ist. Ich kann sie nur unterstützen. diese Hotline starkgemacht. In Deutschland existiert be-
reits ein Netz von Anlaufstellen für betroffene Frauen.
Ich möchte zum Schluss noch einen Gedanken an- Untersuchungen haben aber gezeigt, dass circa 80 Pro-
sprechen. Es ist richtig, dass wir solche Möglichkeiten zent der Opfer von den bestehenden Hilfsstrukturen
haben. Aber wir müssen in einem stärkeren Maße in un- nicht oder nicht früh genug erreicht werden. Eine Frau,
serer Gesellschaft eine Ächtung jeglicher Gewalt herbei- die Opfer einer Gewalttat wird, braucht sofort und nicht
führen. zu bestimmten Öffnungszeiten unbürokratische Hilfe.
16608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Nicole Bracht-Bendt
(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (C)
der CDU/CSU) Dorothée Menzner, Johanna Voß, Eva Bulling-
Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Die Wirksamkeit der Hotline unter Federführung des DIE LINKE
Familienministeriums hängt allerdings davon ab, ob sie
auch bekannt ist. Das A und O ist deshalb eine nachhal- CASTOR-Transport 2011 nach Gorleben stop-
tige Öffentlichkeitsarbeit. Opfer von Gewalt müssen pen
wissen, wo sie rund um die Uhr Hilfe von Experten be-
kommen können. Es handelt sich um ein bewusst – Drucksache 17/7634 –
niedrigschwelliges, barrierefreies Hilfsangebot, das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Frauen jederzeit und auch anonym in Anspruch nehmen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
können. Die Experten am Telefon sind eng vernetzt und keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
nennen Adressen, an die sich Frauen wenden können.
Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin in un-
Damit fällt die Hemmschwelle für viele Frauen weg. serer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere
Das ist ein wichtiger Punkt. Gerade in kleineren Städten Kollegin Frau Dr. Maria Flachsbarth. Bitte schön, Frau
scheuen sich Frauen häufig, Hilfe in Anspruch zu neh- Kollegin Maria Flachsbarth.
men, weil sie sich schämen. Sie wollen nicht, dass in ih-
rem Umfeld bekannt wird, was sich hinter ihrer Woh- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nungstür abspielt, und versuchen lange, damit allein neten der FDP)
fertigzuwerden. Deshalb ist es ganz wichtig, dass die
bundesweit einheitliche Nummer einen höheren Be- Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU):
kanntheitsgrad erreicht als bisherige Einzelmaßnahmen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
Mit dem Hilfetelefongesetz setzt die Bundesregierung debattieren heute Abend über zwei Anträge, einen der
ein weiteres Ziel des Koalitionsvertrages um. Grünen und einen der Linken, bezüglich der Ende des
Ganz herzlichen Dank. Monats geplanten Castortransporte von La Hague nach
Gorleben, die die Forderung enthalten, diese Transporte
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie zu stoppen. Anlass dazu sind Strahlenmessungen des
der Abg. Ute Vogt [SPD]) Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft,
Küsten- und Naturschutz, der am 15. August und am
Vizepräsident Eduard Oswald: 21. August dem niedersächsischen Umweltministerium
mitgeteilt hat, dass der Grenzwert am Zaun des Trans-
Vielen Dank, Frau Kollegin Bracht-Bendt. – Wir ha-
(B) ben keine weiteren Wortmeldungen mehr. So schließe portbehälterlagers in Gorleben in diesem Jahr mögli- (D)
cherweise überschritten werden könnte. Das niedersäch-
ich die Aussprache.
sische Ministerium hat daraufhin den Niedersächsischen
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Landtag unterrichtet und ein fachaufsichtliches Ge-
wurfs auf Drucksache 17/7238 an die in der Tagesord- spräch mit der Gesellschaft für Nuklear-Service als Be-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es treiberin der Anlage geführt. Die GNS wurde aufgefor-
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann dert, vorsorglich Maßnahmen vorzuschlagen, die eine
ist die Überweisung so beschlossen. Einhaltung des genehmigten Wertes gewährleisten. Es
wurden Prüfungen der Messungen durch den TÜV Nord
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- initiiert und weitere Messungen durch die Physikalisch-
ordnungspunkt 16 a und b auf: Technische Bundesanstalt durchgeführt. All diese Über-
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- prüfungen ergaben, dass die zunächst befürchtete Über-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz schreitung des Genehmigungswertes, auch bei Einlage-
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem rung der Castoren aus La Hague, wohl nicht zu erwarten
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, ist.
Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, weiterer Ab- Das wurde vom niedersächsischen Ministerium dem
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Umweltausschuss des Niedersächsischen Landtags und
GRÜNEN im Rahmen eines bundesaufsichtlichen Gesprächs dem
Kein CASTOR-Transport nach Gorleben zu Bundesumweltministerium mitgeteilt. Anschließend
Lasten des Strahlenschutzes – Zwischenlage- sind wir im Umweltausschuss des Deutschen Bundesta-
rung hochradioaktiver Wiederaufarbeitungs- ges am 28. September und am 9. November durch Ver-
abfälle verursachergerecht neu gestalten treter des niedersächsischen Ministeriums und des Bun-
desumweltministeriums über diesen Sachverhalt
– Drucksachen 17/7465, 17/7677 – umfassend informiert worden. Darüber hinaus kann man
das Ganze in den Antworten der Bundesregierung auf
Berichterstattung: zwei Kleine Anfragen zu dieser Thematik nachlesen.
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Ute Vogt Nun heute Abend den Eindruck zu erwecken, wie es
Angelika Brunkhorst bei den Anträgen der Grünen und der Linken der Fall ist,
Dorothée Menzner dass bei diesem Castortransport nach Gorleben Sicher-
Sylvia Kotting-Uhl heitsbestimmungen außer Acht gelassen oder Grenz-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16609
Dr. Maria Flachsbarth
(A) werte gröblich verletzt würden, ist einfach grob unred- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE (C)
lich. GRÜNEN]: Einen Zeitplan soll er vorlegen! –
Ulrich Kelber [SPD]: Einen Entwurf soll er
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – vorlegen und nicht zur Abstimmung spre-
Ulrich Kelber [SPD]: In Niedersachsen die chen!)
Nachdenkliche spielen und hier atomfreund-
lich!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ziemlich
leicht, einen solch schwierigen Dialogprozess zu torpe-
Im Gegenteil: Aufgrund der geltenden Gesetzeslage,
dieren, und es braucht ziemlich viel Mut, sich in ihn hi-
also wegen der nach dem Atomgesetz vorgenommenen
neinzubegeben und die Schützengräben der Vergangen-
Berechnungen und Messungen sowie aufgrund des völ-
heit zu verlassen.
kerrechtlichen Vertrags zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Frankreich über die (Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Rücknahme der wiederaufgearbeiteten Abfälle bis zum NEN]: Wir sollten aber nicht vergessen, dass
31. Dezember 2011, ist gar keine andere Entscheidung ein grüner Ministerpräsident das angestoßen
möglich als die, die der niedersächsische Umweltminis- hat! – Ulrich Kelber [SPD]: Die Gesetze der
ter letztendlich getroffen hat, nämlich die Genehmigung Vergangenheit!)
für die Einlagerung zu erteilen. Allerdings – auch das
will ich sagen – sollte man bezüglich der Rücknahme Der Bundesumweltminister und die beiden Ministerprä-
von Abfällen aus Sellafield ab 2014 – denn aus La sidenten aus Niedersachsen und aus Baden-Württemberg
Hague kommen jetzt keine Abfälle mehr – neu nachden- haben diesen Mut, und ich bitte Sie, dass auch der Deut-
ken, insbesondere was die Frage des Standorts betrifft. sche Bundestag, also wir Abgeordnete und die Fraktio-
nen dieses Hauses, den Mut haben, die politischen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Niedersachsen Schaukämpfe beiseite zu lassen und wirklich gemeinsam
nimmt seine Verantwortung bezüglich der Zwischen- diese dringliche nationale Frage
und Endlagerung radioaktiver Abfälle wahr, nicht zuletzt
aufgrund der Geologie seines Untergrunds. Aber wir rei- (Ulrich Kelber [SPD]: 20 Jahre haben Sie sich
ßen uns nicht darum, dass radioaktive Abfälle nach Nie- einem Dialog verweigert! Und jetzt die ande-
dersachsen kommen. ren angreifen! Das ist eine Frechheit!)
(Ulrich Kelber [SPD]: Nicht mehr zumindest!) der Endlagerung anzugehen.
Ich bin davon überzeugt, dass die Zwischenlagerung der Herzlichen Dank.
Castoren in einem anderen Bundesland den Dialogpro-
(B) zess, den die Bundesregierung bezüglich der Weiterfüh- (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
rung der ergebnisoffenen Erkundung in Gorleben ini- Ulrich Kelber [SPD]: Ihr dreht euch nicht um
tiiert hat, intensivieren könnte. Ich will es ganz deutlich 360 Grad, sondern um 380 Grad!)
hier sagen: Gerade nach dem Ausstieg Deutschlands aus
der Kernenergie ist die Suche nach einem sicheren End-
lager dringlicher denn je. Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth. – Jetzt
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere
der CDU/CSU) Kollegin Kirsten Lühmann. Bitte schön, Frau Kollegin
Sie ist eine nationale und gesamtgesellschaftliche Auf- Lühmann.
gabe, der sich der Bund und alle Bundesländer – nicht
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
nur ein Bundesland – stellen müssen. Sie stehen gemein-
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sam in der Verantwortung.
NEN]: Aber zum Thema, Kirsten! Gerade ha-
Deshalb begrüße ich die Initiative des Bundesum- ben wir ja nichts zum Thema gehört!)
weltministers, in Vorbereitung auf das im Rahmen des
Atomausstiegs angekündigte Entsorgungsgesetz Gesprä- Kirsten Lühmann (SPD):
che mit allen Ländern zu führen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin-
Schade finde ich es, dass nur zwei von 16 Minister- nen! Liebe Zuhörenden! Ganz besonders begrüße ich die
präsidenten teilnehmen, und schade finde ich es, dass Besuchergruppe aus meinem Wahlkreis Uelzen,
aus den Reihen der Opposition versucht wird, schon im
Vorfeld das Gespräch zu diskreditieren. (Patrick Döring [FDP]: So ein Zufall! – Ge-
genruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]: Wir mö-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen die Leute aus Uelzen im Gegensatz zu Ih-
nen!)
Der Minister sei mit der Vorlage des Gesetzes ins
Hintertreffen geraten, wird gesagt. Ich will Ihnen eines die bis zur Behandlung dieses wichtigen Themas, das sie
sagen: Wenn der Minister ein Gesetz vorgelegt hätte, natürlich auch betrifft, ausgeharrt hat.
dann würde genau aus dieser Richtung des Hauses der
Vorwurf ertönen, dass der Minister Fakten schaffen will, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bevor solche Gespräche stattgefunden haben. DIE GRÜNEN)
16610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Kirsten Lühmann
(A) Zitat: Als eine Gruppe Bundestagsabgeordneter nach telefo- (C)
nischer Anmeldung und der Zusage, dass sie in das Zwi-
Eine Absage des geplanten Castor-Transports nach schenlager hineingehen könne, vor Ort war, wurde ihr
Gorleben würde das Land Niedersachsen Millionen mitgeteilt, man könne sie leider nicht hineinlassen, weil
kosten. „Wir mussten die Transportbehälter bereits die Zeit für die Sicherheitsüberprüfung ihrer Personen
anmieten und müssten sie auch bei einer Absage nicht ausgereicht habe.
bezahlen“, sagte Niedersachsens Innenminister
Uwe Schünemann (CDU). (Ulrich Kelber [SPD]: Unglaublich! Keine
Unterstützung von euch! – Gegenruf des Abg.
Das war die Antwort auf die Forderung der Deut- Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Hör auf zu
schen Polizeigewerkschaft, den Castortransport in die- schreien!)
sem Jahr aus sachlichen Gründen abzusagen. Wenn das
die Antwort des Innenministers ist, hat man natürlich Ich möchte nur kurz erwähnen, dass der Deutsche
den Verdacht, dass bei der Genehmigung dieses Trans- Bundestag 48 Stunden braucht, um die Sicherheitsprü-
ports nicht wissenschaftlich begründete Sicherheitskrite- fung durchzuführen. Ich habe es jedoch auch schon er-
rien ausschlaggebend waren, sondern wirtschaftliche lebt, dass er es in sechs Stunden geschafft hat. Wenn man
Kostenkriterien den maßgeblichen Anlass dazu gaben, so etwas weiß, dann weiß man auch, dass die Begrün-
die Genehmigung zu erteilen, und das, liebe Herren und dung der Betreibergesellschaft an den Haaren herbeige-
Damen, ist einfach inakzeptabel. zogen ist, meine Herren und Damen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der LINKEN) GRÜNEN und der LINKEN – Zuruf des Abg.
Ulrich Kelber [SPD])
Worum geht es? – Wir haben ein Zwischenlager, das
Es ist unter diesen Voraussetzungen natürlich schwierig
eine Genehmigung für eine maximale Strahlendosis hat,
für uns, zu glauben, dass nichts zu verbergen ist und dass
die am ungünstigsten Messpunkt 0,3 Millisievert im Jahr
Transparenz hergestellt werden soll.
nicht überschreiten darf. Wir haben Messungen, die Fol-
gendes aussagen: Wenn wir zusätzliche Castoren einla- Für den Fall, dass die heute vorliegenden Anträge hier
gern, dann droht diese Zahl überschritten zu werden. eventuell nicht die nötige Mehrheit bekommen und es ei-
nen Castortransport geben wird, lade ich Sie, insbeson-
Frau Flachsbarth, es ist eben nicht unbestritten, dass dere die Kolleginnen und Kollegen von den Koalitions-
diese Messungen stimmen. Sie haben von neuen Mes- fraktionen, herzlich ein. Die SPD wird wieder ein
sungen geredet. Castorcamp machen, in dem sich Polizistinnen und Poli-
(B) (Zuruf der Abg. Dr. Maria Flachsbarth [CDU/ zisten mit heißem Kaffee aufwärmen können, in dem (D)
CSU]) sich die Bevölkerung an einer Suppe laben kann. Da
können Sie einmal schauen, woher denn dieses Miss-
Ich würde viel lieber über neue Berechnungsmodelle re- trauen kommt und was Ihre Politik vor Ort bewirkt,
den, aufgrund derer andere Zahlen herauskommen. meine Herren und Damen.
Die Frage, die sich stellt, ist: Was tut die Regierung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
angesichts dieser Zahlen? DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das habe ich
vorgetragen, was die Regierung tut!) Was mich auch verwundert, ist die Tatsache, dass die
Betriebserlaubnis für das Zwischenlager für 40 Jahre
Als Erstes beruhigt sie die Bevölkerung. Ich zitiere und für 420 Castorbehälter erteilt wurde. Wir haben bis-
wieder: her noch nicht einmal die Hälfte der genehmigten Be-
triebszeit erreicht, und es ist nur ein Viertel der vorgese-
Die von Greenpeace dargestellten Zusammen-
hänge entbehren jeder technischen und naturwis- henen Transportbehälter eingelagert. Aber schon haben
senschaftlichen Grundlage, sind somit unhaltbar … wir Probleme mit dem festgelegten Grenzwert. Ange-
sichts der Tatsache, dass dieser Grenzwert für die vierfa-
Als Nächstes haben Sie Transparenz angekündigt. Ich che Menge an Müll ausgelegt war, frage ich mich doch:
zitiere: Ist 1995 falsch gerechnet worden, oder sind die Werte
schöngerechnet worden? Beides ist auf alle Fälle inak-
Man sei froh, dass Greenpeace die Einwände jetzt zeptabel.
formuliert hätte, „da die Entscheidung über den
Castor-Transport noch nicht gefallen ist“, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der LINKEN – Dr. Georg
sagte eine Sprecherin der niedersächsischen Umweltmi- Nüßlein [CDU/CSU]: Oder die Werte saldie-
nisteriums der Berliner Zeitung. Sie würden nun geprüft. ren sich nicht einfach!)
Aber was ist dann passiert? – Bei einer öffentlichen Ich hatte in meiner Heimatgemeinde eine Diskothek
Veranstaltung im Wendland hat sich die niedersächsi- gehabt. In der Genehmigung war ein Lärmrichtwert ent-
sche Regierung geweigert, eingeladene Experten dort halten. Wir alle wissen, auch Lärm macht ab einer gewis-
hinzuschicken. Die hätten Transparenz herstellen kön- sen Stärke krank. Als Messungen ergaben, nachdem sich
nen. die Bevölkerung beschwert hatte, dass dieser Lärmgrenz-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16611
Kirsten Lühmann
(A) wert überschritten war, musste die Diskothek schließen. licht. Ich finde, es würde Frau Merkel gut anstehen, (C)
Es wurden Auflagen erlassen; es mussten bauliche Ver- wenn sie bei der Frage möglicher zusätzlicher Belastun-
änderungen vorgenommen werden. Nachdem sicherge- gen für die Gesundheit der Bevölkerung und der Polizei
stellt worden war, dass der Lärm das zulässige Maß nicht sich genauso fürsorglich verhalten würde wie ihr franzö-
überschreitet, durfte die Diskothek wieder öffnen. Ich sischer Kollege und den Castortransport 2011 verschie-
frage Sie jetzt: Wieso ist das, was bei einer Diskothek in ben würde.
Bezug auf das Problem Lärm selbstverständlich ist, bei
einem Zwischenlager in Bezug auf das Problem Strah- (Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]:
lung ganz anders? Das kann ich nicht verstehen. Wohin damit? – Dr. Georg Nüßlein [CDU/
CSU]: Die Demonstranten sollten fürsorglich
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sein!)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) Ich befürchte allerdings, dass ich dieses Zeichen von
Kraft und Entscheidungsfähigkeit in dieser Regierung
Darum wird die SPD dem Antrag der Grünen, die unter nicht nur bei der Kanzlerin vergeblich suche.
anderem fordern, den Castortransport für dieses Jahr
auszusetzen, zustimmen. Danke schön.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, wie die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Planungen für diesen Castortransport in diesem Jahr ge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
laufen sind. Der ursprüngliche Termin Anfang Novem- LINKEN)
ber konnte nicht eingehalten werden, weil die französi-
sche Polizei angab, sie könne den Transport auf Vizepräsident Eduard Oswald:
französischer Seite nicht schützen, weil sie aufgrund der
Vielen Dank, Frau Kollegin Lühmann. – Jetzt für die
Belastungen durch den G-20-Gipfel erst ausreichende
Fraktion der FDP unsere Kollegin Angelika Brunkhorst.
Ruhezeiten brauche, bevor sie in den neuen Großeinsatz Bitte schön, Frau Kollegin Brunkhorst.
gehen könne. Dann gab es diverse Diskussionen. Jetzt ist
der erste Advent als Transporttermin vorgesehen. Jede (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Person in diesem Land weiß: Erster Advent heißt Weih- der CDU/CSU)
nachtsmärkte. Einige wissen: Erster Advent ist das Wo-
chenende mit mehreren problematischen Fußballspielen
Angelika Brunkhorst (FDP):
der Ersten bis Dritten Liga. Viele in diesem Land wissen
inzwischen: Es gibt Probleme mit Grenzwerten. Daher Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
(B) haben beide Polizeigewerkschaften, die DPolG und die Wie in jedem Jahr geht es darum, radioaktive Abfälle zu- (D)
GdP, die berechtigte Forderung gestellt, den Castortrans- rückzunehmen, die die Franzosen in La Hague aus abge-
port zu diesem Zeitpunkt auszusetzen. brannten Kernbrennstäben aus deutschen Kernkraftwer-
ken aufbereitet haben. Das Entsorgungskonzept voran-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gegangener Bundesregierungen sah vor, den noch nutz-
GRÜNEN und der LINKEN – Patrick Döring baren Kernbrennstoff aus den abgebrannten Brennele-
[FDP]: Das sind doch Beamte!) menten wiederaufzuarbeiten und nur das zurückblei-
Wenn Sie sagen, diese Bedenken seien nicht gerecht- bende Abfallgebinde in den Castoren zentral in einem
fertigt, möchte ich Ihnen kurz die Situation bei einem Zwischenlager, dem sogenannten Transportbehälterlager
normalen Castortransport schildern. Einige Polizeibe- in Gorleben, zu lagern.
amte und Polizeibeamtinnen tragen persönliche Strah- Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde die
lenmessgeräte. Aufgrund verschiedener technischer Pro- Wiederaufarbeitung verboten und die dezentrale Zwi-
bleme zeigen die aber erst Werte an, die deutlich über schenlagerung der abgebrannten Brennstäbe an den
den Grenzwerten liegen. Darum gibt es auch eine An- Kernkraftwerksstandorten vorgeschrieben. Anstelle von
weisung über maximale Aufenthaltszeiten im Nahbe- zwei bzw. drei zentralen Lagern haben wir nunmehr 15
reich des Castors oder des Zwischenlagers. Wir haben es dezentrale Zwischenlager. Aber einzig und allein das
aber oft erlebt, dass die Einsatzlage es nicht zulässt, Transportbehälterlager in Gorleben hat eine Genehmi-
diese Zeiten einzuhalten. Ich persönlich habe erlebt, dass gung, die Abfälle aus der Wiederaufbereitungsanlage in
Kollegen die dreifache Zeit in unmittelbarer Nähe des La Hague überhaupt aufzunehmen.
Castortransportes verbringen mussten, weil eine Ablö-
sung nicht möglich war. Jetzt haben wir Hinweise auf Der Castortransport Ende November nach Gorleben
mögliche zusätzliche Belastung. Ich verstehe die Forde- ist erforderlich; denn wir sind zur Rücknahme des deut-
rungen der Gewerkschaften. Eigentlich sollte es unser schen Atommülls rechtlich, aber vor allen Dingen auch
aller Anliegen sein, dass wir den transportbegleitenden moralisch verpflichtet.
Polizeibeamten nur die unvermeidbare Belastung zumu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ten und nicht noch zusätzliche.
Ich kann das Gejammer, insbesondere der Grünen-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Fraktion, hier nicht so ganz nachvollziehen; denn diese
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
besondere Genehmigungssituation ist Ihnen längst be-
Präsident Sarkozy hat sich schützend vor seine Poli- kannt. Sie haben sie auch nicht geändert. Auch Herr
zei gestellt und ihr ausreichend Erholungszeiten ermög- Trittin hat sie nicht geändert. Also, sorry.
16612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Angelika Brunkhorst
(A) Nach dem Willen der Grünen und der Linken soll der nach dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik (C)
anstehende Castortransport nach Gorleben dennoch ab- gewährleisten können. Das wird unser Maßstab für die
geblasen werden, weil der sogenannte Eingreifwert von Zukunft sein.
0,27 Millisievert pro Jahr möglicherweise überschritten
wird. Sie werfen den zuständigen Ministerien und Be- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
hörden einen laxen Umgang mit den Strahlenwerten am (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Zwischenlager vor.
Meine Kollegin Frau Flachsbarth hat schon ausrei- Vizepräsident Eduard Oswald:
chend erläutert, dass hier einiges getan wurde, um mit Vielen Dank, Frau Kollegin Brunkhorst. – Jetzt
zusätzlichen Messungen sicherzustellen, dass dieser Ein- spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
greifwert gar nicht erst erreicht wird. Dorothée Menzner. Bitte schön, Frau Kollegin Menzner.
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN)
NEN]: Man hat so lange herumgerechnet, bis
es stimmte!) Dorothée Menzner (DIE LINKE):
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen doch Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
selbst – spätestens seit den Beratungen im Umweltaus- sind jetzt 102 von 420 genehmigten Castoren im Zwi-
schuss –, dass der Betreiber bei Erreichen des sogenann- schenlager in Gorleben. Bereits jetzt wird hin- und her-
ten Eingreifwerts die Einlagerungsmaßnahmen unterbre- geschoben, weil die Strahlendosiswerte im Grenzbereich
chen muss oder auf jeden Fall Maßnahmen ergreifen des Zulässigen liegen. Wenn eine Badewanne überläuft,
muss, um die Einhaltung des geltenden Grenzwerts von muss man das Wasser abstellen und nicht die Hähne neu
0,3 Millisievert im Jahr zu gewährleisten. anordnen.
Ich möchte hier, weil auch Frau Lühmann sehr viel (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
über Grenzwerte erzählt hat, eine Klarstellung zu den neten der SPD)
Grenzwerten vornehmen. Der Grenzwert für das zentrale
Die gesetzlich festgelegten Grenzwerte sind nicht
Zwischenlager in Gorleben beträgt 0,3 Millisievert pro
dazu da, sie zu ignorieren. Sie sollen die Werte der
Jahr. Umweltminister Trittin hat ja, wie schon gesagt, die
künstlichen Strahlendosen aus Atomanlagen auf einem
dezentralen Zwischenlager eingerichtet. Für Zwischen-
akzeptablen Niveau halten. Das ist eigentlich gar nicht
lager, die sich dezentral an den Kernkraftwerken befin-
möglich. Denn es gibt kein akzeptables Niveau für
den, gilt demgegenüber ein Grenzwert von 1 Millisievert
künstliche Strahlendosen. Die Grenzwerte sind höchs-
(B) pro Jahr. Das ist also das Dreifache. tens eine Obergrenze einer wachsenden Unverantwort- (D)
(Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Hört! Hört!) lichkeit. Auf welcher Höhe diese festzulegen sind, ist
eine ethische Frage.
– Hört, hört; so ist das. 1 Millisievert gilt demnach auch
für das Zwischenlager im Kernkraftwerk Philippsburg. Wir alle wissen und haben es erlebt, dass im Falle ei-
Es wurde von Greenpeace durchaus als Option vorge- nes Falles Grenzwerte auch veränderbar sind. In Fuku-
schlagen, die Castoren dorthin zu verbringen. Ich frage shima wurden sie sukzessive hochgesetzt, und zwar aus
mich wirklich, wo die vielen Greenpeace-Atomexperten zwei Gründen: Erstens klingt es immer harmloser, wenn
waren, als Herr Trittin die Regelung getroffen hat, die ei- man formuliert, dass sich die Werte innerhalb der gesetz-
nen Grenzwert von 1 Millisievert vorsieht. lichen Bestimmungen bewegen. Zweitens übertrifft der
radioaktive Ausstoß immer wieder alle Erwartungen der
Damit Sie einmal ein Gefühl für die Werte entwickeln Atombefürworter, mit denen man die Gesellschaft seit
können: Die natürliche Strahlendosis, der wir ausgesetzt Beginn der Nutzung der Atomkraft versucht hat zu beru-
sind, beträgt im Jahr durchschnittlich 2,1 Millisievert. higen.
Das ist also das Siebenfache. Da kann man doch sagen,
dass der Grenzwert von 0,3 Millisievert ein sehr ambi- Das alles ist schon seit Jahrzehnten bekannt. Aber mit
tionierter Wert ist. Ich denke, das Eingreifen des libera- der permanenten Unbelehrbarkeit und mit dem kapital-
len Umweltministers in Niedersachsen war genau rich- trächtigen Lobbyismus, den wir Tag für Tag und Jahr für
tig. Ich habe auch großes Vertrauen zu den Beamten, Jahr erleben, wird ein unausräumbarer Widerspruch ge-
schaffen, der täglich größer wird.
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Haben Sie auch Vertrauen zu Herrn (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist aus-
Sander?) gesprochener Unfug!)
die dargelegt haben, was sie alles getan haben, um zu ge- Sie vergrößern diesen Widerspruch, indem Sie nicht so-
währleisten, dass dieser Wert auch eingehalten wird. fort aus der Atomkraft aussteigen, indem Sie die Castor-
transporte nach Gorleben nicht stoppen und indem Sie
Zum Schluss möchte ich noch sagen: Die Behaup- nicht bereit sind, sich auf einen gesellschaftlichen Dia-
tung, dass jeder zusätzliche eingelagerte Castor im log wirklich einzulassen, bei dem die Bevölkerung mit-
Atomzwischenlager in Gorleben eine Manifestierung ist, reden darf, wie es mit der Atommüllverwahrung weiter-
kann ich nicht untermauern. Ich bin der Meinung: Nicht gehen soll.
die Zahl der dort befindlichen Castoren ist ausschlagge-
bend, sondern die Frage, ob wir eine Schadensvorsorge (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16613
Dorothée Menzner
(A) Ich will Ihnen auch sagen, warum Sie nicht bereit (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ute (C)
sind, diese gesellschaftlich dringend notwendige Debatte Vogt [SPD])
zu führen. Sie haben Angst, und Sie wissen, dass es ei-
gentlich keine Lösung gibt. Dieser Widerspruch ist nicht Vizepräsident Eduard Oswald:
auflösbar. Das Vertrauen der Menschen ist grundlegend
verspielt. Vielen Dank, Frau Kollegin Menzner. – Jetzt spricht
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
Nein, mit den Akteuren in der Atomindustrie, aber Sylvia Kotting-Uhl. Bitte schön, Frau Kollegin Kotting-
auch in den Parlamenten, die seit Jahrzehnten dieses De- Uhl.
saster angerichtet haben, wird es nicht möglich sein, mit
dieser Problematik verantwortungsvoll umzugehen. Sie Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sind an sinnvollen Lösungen offensichtlich nicht interes-
siert, sondern hören nach wie vor auf das Deutsche Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Atomforum, auf den BDI und auf die anderen Verbände. Wie mehrere der Rednerinnen und Redner bei dieser De-
batte bin ich erst vorhin aus dem Untersuchungsaus-
Wir haben derzeit kein Zwischenlager für die Castor- schuss Gorleben gekommen. Wenn man sich mit der Ge-
behälter aus der Wiederaufarbeitung. Das ist Ihr Ver- schichte von Gorleben befasst, dann trifft man auf das
schulden. Deutschland ist momentan nicht in der Lage, Prinzip: Was nicht passt, wird passend gemacht.
diesen strahlenden Müll aus Frankreich aufzunehmen.
Das Zwischenlager Gorleben ist das einzige Lager, das (Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Waren Sie in
über eine entsprechende Genehmigung verfügt. Dort derselben Veranstaltung? Ich habe das nicht
sind die Grenzwerte aber erreicht. Das Lager ist damit gehört!)
voll. Das bezieht sich auf das Endlagerbergwerk, an dem dort
Es wurde versäumt, sich rechtzeitig nach Alternativen gearbeitet wird. Man kann heute hinzufügen: Oder es
umzuschauen. Die Konsequenz für das französische wird so lange gemessen, bis es passt. Das bezieht sich
Volk ist unzumutbar: Die Genehmigung für den Castor- auf das Zwischenlager.
transport ist zu widerrufen. Das Zeug muss offensicht- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Quatsch!)
lich noch Jahre in La Hague bleiben, was für die Franzo-
sen, wie gesagt, unzumutbar ist. Wir wissen aber alle, Was passt nicht? Es passt nicht, dass der zuständige
dass es Jahre dauern wird, bis die Genehmigung für ein Landesbetrieb NLWKN eine Neutronenstrahlung von
weiteres Zwischenlager erteilt wird. Welchem Land- bereits 0,41 Millisievert gemessen und hochgerechnet
strich wollen wir dieses Lager bitte schön aufbürden? hat, dass nach Einlagerung weiterer elf Castoren, die im
(B) Ich sehe nicht, dass es eine Lösung wäre, einen der November erwartet werden, der Eingreifwert voraus- (D)
Standorte der Atomkraftwerke als Atommülllager auszu- sichtlich überschritten wird.
weisen.
Was ist seitdem passiert? Es wurden Behälter umge-
(Patrick Döring [FDP]: Was ist denn Ihr Vor- stellt, die PTB hat gemessen, der TÜV hat gerechnet. Ei-
schlag?) nige Abgeordnete – ich selbst war eine dieser Abge-
ordneten – haben versucht, ihre Kontrollfunktion
Ich komme zu den Konsequenzen. Erstens. Den wahrzunehmen und in dem Transportbehälterlager ein-
Castortransport untersagen. mal zu prüfen, was dort an sogenannten Optimierungs-
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein maßnahmen vorgenommen wurde. Das wurde uns je-
[CDU/CSU]: Und dann?) doch verwehrt.

Zweitens. Die Atomkraftwerke abschalten. Drittens. In (Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Hätte man
der Vergangenheit gemachte Fehler eingestehen. Vier- sich angemeldet, wäre man reingekommen! –
tens. Gorleben und Schacht Konrad als Endlager aufge- Gegenruf der Abg. Kirsten Lühmann [SPD]:
ben. Fünftens. Einen gesellschaftlichen Dialog begin- Wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie, dass
nen. Dieser Dialog muss Menschen einbeziehen und sie angemeldet war!)
Vertrauen schaffen. Dann kann in der Gesellschaft da- Trotz des Wustes von Hintergrundwerten, Messun-
rüber diskutiert werden, wie wir dieses in 50 Jahren ent- sicherheiten, Tageswerten und jeder Menge offene Fra-
standene Problem lösen können. Wie können wir diese gen ist für das NMU eines klar: Es gibt keine Bedenken
Probleme gemeinsam lösen? Das funktioniert nur mit ei- gegen die Einlagerung der Castoren. Der Transport kann
nem Dialog auf Augenhöhe, und nicht mit Durchknüp- rollen. Umweltminister Sander ist hier genauso wider-
peln, mit Erlassen oder der Einschränkung von Demo- sprüchlich wie die Messungen; denn er spricht sich ge-
kratierechten. gen weitere Castortransporte aus. Er ist aber derjenige,
(Beifall bei der LINKEN) der diesmal den Schlüssel in der Hand hat, den Castor-
transport zu verhindern. Er hat die Entscheidung in der
Von daher wird die Linke am ersten Adventswochen- Hand, und er kneift vor dieser Entscheidung,
ende wieder mit vielen Menschen bunt und vielfältig im
Wendland unterwegs sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Ich danke Ihnen. LINKEN)
16614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Sylvia Kotting-Uhl
(A) und zwar möglicherweise aus Gründen, die Sie, Frau schlagen, die Anlage in Philippsburg als Zwischenlager (C)
Lühmann, uns dargelegt haben. – so wie Sie es sagen – zu nutzen. Die EnBW gehört
etwa zur Hälfte dem Land Baden-Württemberg. Ich
Dahinter steckt ein Problem, das – wie so oft bei der
frage mich, warum Sie die Schleife über den Bund dre-
Atomkraft – unschön und schwer lösbar ist. In Deutsch-
hen, wenn Ihr Landesumweltminister eigentlich das ei-
land gibt es keinen anderen genehmigten Ort für die
gene Unternehmen dazu auffordern könnte. Das wäre
Rücknahme des atomaren Wiederaufarbeitungsmülls als
doch der erste Schritt, bevor man die große Schleife über
dieses Zwischenlager in Gorleben. Abhilfe schafft aber
die Bundesregierung dreht.
nicht eine Spielwiese, auf der man einfach einmal mit
den bestehenden Grenzwerten, den Eingreifwerten und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
dem Strahlenminimierungsgebot herumjongliert. Ab- Ulrich Kelber [SPD]: Das sagt die Atom-
hilfe schafft man nur, wenn man die AKW-Betreiber ge- werbe-Skudelny! Bis zuletzt waren Sie noch
mäß dem Verursacherprinzip dazu auffordert, Genehmi- für die Laufzeitverlängerung! Sie waren die
gungsanträge für die Aufbewahrung des Mülls in den Unverbesserlichste von allen! – Gegenruf der
standortnahen Zwischenlagern zu stellen. Abg. Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Was hat
Zu den Grenzwerten will ich Ihnen einmal etwas sa- das jetzt mit der Frage zu tun?)
gen, Frau Brunkhorst: Grenzwerte sind gesetzliche Re-
gelungen, die zumeist ihren Grund haben. Grenzwerte Vizepräsident Eduard Oswald:
sind immer Ergebnis eines Kompromisses zwischen dem Zur Antwort, Frau Kollegin Kotting-Uhl.
gesundheitlich Notwendigen und dem, was wirtschaft-
lich als notwendig erachtet wird. Deswegen haben
Grenzwerte für unterschiedliche Müllsorten an unter- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
schiedlichen Standorten auch unterschiedliche Höhen. Ich werde jetzt ganz sachlich auf das antworten, was
Sie hier vorgetragen haben,
(Angelika Brunkhorst [FDP]: Herr Trittin war
ja sehr großzügig!) (Patrick Döring [FDP]: Das wäre das erste
Das müssten Sie in der – immer noch – vermeintlichen Mal, dass Ihnen das gelingt!)
Wirtschaftsfraktion eigentlich wissen. obwohl es da noch viele andere Dinge zu sagen gäbe. –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Greenpeace hat gefordert, diese Castorbehälter aus-
und bei der SPD) schließlich zum standortnahen Zwischenlager in Phi-
lippsburg zu bringen. Hätten Sie mir zugehört, den An-
Wir haben jetzt die Möglichkeit, gemeinsam eine ent- trag gelesen oder dem Umweltminister von Baden- (D)
(B)
sprechende Forderung an die Atomkraftwerksbetreiber Württemberg zugehört, dann wüssten Sie, dass sowohl
zu stellen. Dazu fordere ich Sie auf. Das muss umgehend der Umweltminister von Baden-Württemberg wie auch
geschehen, damit die Zeit des Verbleibs der Castoren in ich dafür sind, diesen Transport abzusagen und diese
La Hague so kurz wie möglich ist; denn für die Franzo- Castoren zu den verschiedenen standortnahen Zwischen-
sen ist es unzumutbar, sie noch länger in ihrer Obhut zu lagern in Deutschland zu bringen, nicht nur zu dem
haben. Diese Aufforderung können wir gemeinsam stel- standortnahen Zwischenlager in Philippsburg. Ich will
len, wenn Sie unserem Antrag zustimmen. Ihnen auch sagen, warum: Nachdem Baden-Württem-
Die Widersprüche von Herrn Sander zeigen, dass er berg jetzt, und zwar wohlweislich nach dem Regierungs-
offensichtlich bundesaufsichtliche Hilfe braucht. Deshalb wechsel, das erste Land war, das gesagt hat: „Wir wer-
würde ich an dieser Stelle gern Herrn Röttgen – wenn er den unserer Verantwortung für die Lagerung des
denn da wäre, aber vielleicht liest er ja meinen Antrag – Atommülls gerecht und öffnen uns für eine Endlager-
auffordern, damit aufzuhören, den Kopf in den Sand zu suche“, kann es nicht sein, dass man zum Dank dafür ei-
stecken, sich wegzuducken und die Dinge laufen zu las- nem einzigen Zwischenlager in diesem Land just den
sen. Es ist Zeit für eine bundesaufsichtliche Weisung. ganzen anstehenden Müll vor die Füße wirft.
Herr Röttgen sollte seiner Aufgabe jetzt gerecht werden. (Lachen des Abg. Patrick Döring [FDP] –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Patrick Döring [FDP]: Lächerlich!)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN) Baden-Württemberg ist für 20 Prozent des Mülls zu-
ständig, der jetzt zurückkommt. Für diese 20 Prozent soll
Baden-Württemberg nach der Vorstellung des baden-
Vizepräsident Eduard Oswald: württembergischen Umweltministers und meiner Frak-
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Zu einer Kurzinterven- tion die Verantwortung übernehmen. Die Aufgabe liegt
tion hat unsere Kollegin Frau Skudelny das Wort. Bitte im Moment darin, dass die AKW-Betreiber die Geneh-
schön, Frau Kollegin Skudelny. migungsanträge stellen. Es ist deren Sache, wie sie sich
auf eine Verteilung der Transporte einigen und wie sie
Judith Skudelny (FDP): das ausrechnen. Es sind noch einige Transporte zu er-
Ich weiß, es ist nicht die Uhrzeit dafür, aber ich ma- warten: Es ist nicht der letzte Transport aus La Hague; es
che es ganz kurz. – In Baden-Württemberg stellen die wird noch schwach- und mittelradioaktiver Müll aus La
Grünen nicht nur den Ministerpräsidenten, sondern auch Hague kommen. Es kommen auch noch 22 Castoren aus
den Umweltminister. Von Greenpeace wurde vorge- Sellafield.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16615
Sylvia Kotting-Uhl
(A) Wir in Baden-Württemberg sind im Gegensatz zu vie- Sobald es auf dieser Basis einen Handlungs- und Ein- (C)
len anderen Ländern bereit, Verantwortung zu überneh- griffsbedarf gibt, hat dieser Eingriff unmittelbar und so-
men, übrigens auch im Gegensatz zur früheren schwarz- fort zu erfolgen, und zwar ohne Wenn und Aber; das
gelben Regierung in Baden-Württemberg; Gott sei Dank sage ich klipp und klar.
ist diese Zeit vorbei. Die schwarz-gelbe Regierung hat
immer nur gesagt: Nicht bei uns! Not in my backyard! – (Ulrich Kelber [SPD]: Die Basis wird verän-
Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei; Baden- dert!)
Württemberg übernimmt seine Verantwortung. Ich sage dann aber auch klar: Ich bin zunächst einmal
absolut darüber erleichtert, dass uns in der Umweltaus-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schusssitzung vom 9. November vom Bundesumweltmi-
und bei der SPD)
nisterium noch einmal ausführlich erläutert wurde, dass
der genehmigte Jahreswert nicht überschritten wird –
Vizepräsident Eduard Oswald: ganz klipp und klar.
Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU (Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege NEN]: Das war nur eine Prognose, keine
Dr. Georg Nüßlein. Rechnung, Herr Nüßlein!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ich bin – vermutlich wie auch Sie – unglücklich über
Ulrich Kelber [SPD]: Der Mann, der immer die Kommunikation in der letzten Woche. Aber in der
die komischen Sachen erklären muss! Das ist gestrigen Umweltausschusssitzung wurde das Thema
ein fieser Job!) noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei wurde
ausführlichst erläutert, wie die unterschiedlichen Mess-
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): werte des Niedersächsischen Landesbetriebes für Was-
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Nach serwirtschaft, Küsten- und Naturschutz, der Physika-
der Rücknahme der Laufzeitverlängerungen und einer lisch-Technischen Bundesanstalt sowie des TÜV Nord
Präzisierung, insbesondere einer zeitlichen Klarstellung, zustande kamen. Das haben die meisten der hier anwe-
zum Ausstieg aus der Kernenergie bleibt bei mir immer senden Ausschussmitglieder mitbekommen.
noch die Hoffnung, dass es diesem Haus gelingen mag, Im Übrigen gibt es dazu eine schriftliche Abhand-
solche Themen wie das heutige mit großer Sachlichkeit lung, nämlich die Antwort der Parlamentarischen Staats-
und Verantwortung für das, was noch vor uns liegt, anzu- sekretärin Heinen-Esser, nachzulesen in der Drucksache
gehen. Andererseits ärgert es mich natürlich, wenn von 17/7239.
(B) einer Seite immer wieder Panikmache und Betroffen- (D)
heitsrhetorik kommen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Liebe Frau Kollegin Menzner, es ist nun einmal hane- Herr Kollege Nüßlein, geben Sie der Frau Kollegin
büchen, uns den Vorschlag, die Untersuchungen in Gor- Kotting-Uhl die Chance für eine Zwischenfrage?
leben und gleich auch noch den Schacht Konrad aufzu-
geben, als Lösung der Endlagerfrage zu präsentieren; (Zurufe von der CDU/CSU: Nein! – Gegenruf
das muss man einmal ganz deutlich sagen. vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Warum
denn nicht? – Sylvia Kotting-Uhl [BÜND-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt lassen Sie sich
neten der FDP) nichts vorschreiben, Herr Nüßlein!)
Ich will klipp und klar festhalten, dass für uns beim
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Thema Kerntechnologie und Strahlenschutz Sicherheit
das oberste Gebot ist; ich gestehe es allen anderen Frak- Die Kolleginnen und Kollegen sind nicht begeistert;
tionen zu, dass sie es genauso sehen. Vor diesem Hinter- ich bin es um 22.31 Uhr auch nicht übermäßig. Aber
grund möchte ich eindeutig klarstellen, dass die Messun- wenn Sie meinen, Sie müssten noch einmal zwischenfra-
gen, über die wir hier diskutieren, in § 6 Atomgesetz, der gen, tun Sie es doch.
Strahlenschutzverordnung, der Aufbewahrungsgenehmi- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
gung des Bundesamtes für Strahlenschutz, der Richtlinie GRÜNEN]: Machen wir es kurz! – Gegenrufe
zur Emissions- und Immissionsüberwachung kerntechni- von der CDU/CSU: Bitte!)
scher Anlagen sowie den Messanleitungen für die Über-
wachung radioaktiver Stoffe in der Umwelt und externer
Vizepräsident Eduard Oswald:
Strahlung so festgehalten sind.
Sie haben versprochen, sich kurzzufassen.
(Kirsten Lühmann [SPD]: Aber nicht die Be-
rechnungsmodelle!) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das ist richtig und wichtig. Die Messungen sind auf die- Ich will mich nur auf das „klipp und klar“ beziehen.
ser Grundlage erfolgt. Der TÜV hat klipp und klar ausgerechnet, dass man bei
0,254 mSv landen wird. Dabei ist eine Prognose von
(Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen wurde die plus/minus 10 Prozent. Wenn Sie die 10 Prozent addie-
Grundlage ja auch verändert!) ren, sind Sie bei über 0,27 mSv. Das ist genau der Ein-
16616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Sylvia Kotting-Uhl
(A) greifwert. Das heißt, nach dem Strahlenminimierungsge- nächsten Wochen vorhaben und wie Sie demonstrieren (C)
bot muss man eingreifen. wollen.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): NEN]: Nein! Gar nicht!)
Man liegt unter dem Eingriffswert.
Meine Damen und Herren, nichts gegen das Demons-
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE trationsrecht.
GRÜNEN]: Nein!)
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
– Es heißt: „plus/minus 10 Prozent“. Sie haben Werte Das wäre ja noch schöner!)
zwischen 0,238 mSv und 0,254 mSv plus/minus 10 Pro-
zent. Das ist ein hohes Rechtsgut. Aber was Sie persönlich be-
treiben und vormachen, geht weiter über das Demons-
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE trieren hinaus. Das ist ein Eingriff ins Eigentum und
GRÜNEN]: Rechnen Sie die 10 Prozent da-
rauf!) (Zuruf von der LINKEN)
Also liegt man aus meiner Sicht, jedenfalls wenn man gefährdet Sicherheit. Das muss man in dieser Klarheit
diese Werte begutachtet, unter dem Eingriffswert. Damit sagen. Ich hoffe, dass Sie damit anders umgehen.
ist man ganz eindeutig in einer Situation, in der das in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dieser Art und Weise jedenfalls nicht geboten ist.
Ich sage das auch an Herrn Trittin und an Herrn Gysi
Die Frage ist, was Sie damit erreichen wollen. Sie gerichtet, die jetzt wieder zu Demonstrationen aufrufen.
müssen natürlich dann auch erklären, liebe Frau Kolle-
gin, wie Sie mit dieser Thematik umgehen wollen, wie (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: So sind sie!)
Sie den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die wir erfül-
len müssen, nachkommen wollen, wie Sie den Franzosen Während seiner Amtszeit hat Herr Trittin Castortrans-
erklären wollen, weshalb Sie die Castoren, die von dort porte genehmigt. Ich erinnere mich noch gut an die Aus-
zu Recht wieder zurück nach Deutschland gebracht wer- sagen von Herrn Trittin.
den müssen, jetzt nicht in diesem Land annehmen kön- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nen. Diese Fragen müssen sie aus meiner Sicht beant- NEN]: Waren Sie schon einmal bei einer De-
worten. monstration, Herr Nüßlein?)
Fest steht, dass in Gorleben derzeit 102 Castorbehäl- Er hat sich hingestellt und gesagt: Gegen die Castor-
(B) ter liegen. Die Lagergenehmigung ist auf über 400 dieser transporte – die guten, von den Grünen genehmigten – (D)
Behälter ausgerichtet.
(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)
Eigentlich wollte ich nicht konfrontativ vorgehen.
Aber weil Sie mich gefragt haben, möchte ich Folgendes dürften die Grünen weder singend, tanzend noch sonst
zur Sicherheit und den Castortransporten sagen: Dazu irgendwie demonstrieren. Aber gegen die, die von uns
können Sie einen entscheidenden Beitrag leisten. Ich er- genehmigt werden müssen, muss man natürlich demons-
innere mich gut an die Aktion im Herbst letzten Jahres. trieren.
Damals sind elf Castorbehälter von Nordfrankreich nach (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
Gorleben transportiert worden. GRÜNEN]: Wir haben schon immer demons-
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- triert!)
NEN]: Gleich nach der Laufzeitverlängerung!
Genau!) Vizepräsident Eduard Oswald:
Dabei wurde ein neuer Begriff geprägt, nämlich der Be- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
griff des Schotterns. Das wurde von verschiedenen Sei-
ten – ich schaue bewusst niemanden an – ganz massiv Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
protegiert. Nein. – Es wäre gut gewesen, wenn Sie diese Doppel-
züngigkeit eingestellt hätten. Es hätte mich gefreut,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wenn Sie bei Ihren Redebeiträgen außer der angekündig-
Das wurde auch von Ihnen in dem Wissen, dass mit ten Folklore etwas dazu gesagt hätten, dass es verant-
solch einem Eingriff in den Schienenverkehr am Ende wortlich wäre, zu Zurückhaltung aufzurufen.
auch Risiken für Menschen verbunden sind, unterstützt.
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) NEN]: Kommen Sie doch mit! Dann lernen
Sie noch etwas!)
Das ist nicht nur ein unzulässiges Eingreifen in Eigen-
tumsrechte. Das muss ich deutlich sagen. Das hätte ich von Ihnen erwartet, aber anscheinend kann
man so viel von Ihnen nicht erwarten.
(Zuruf von der LINKEN)
In diesem Sinne: Vielen Dank.
Von Ihrer Seite ist schon die übliche Folklore angekün-
digt worden. Sie haben schon gesagt, was Sie in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16617

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: und die Linksfraktion. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die (C)
Ich schließe die Aussprache. Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dritte Beratung
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Kein CASTOR-Transport nach Gorleben zu und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Lasten des Strahlenschutzes – Zwischenlagerung hoch- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
radioaktiver Wiederaufarbeitungsabfälle verursacherge- Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? –
recht neu gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? –
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7677, den An- Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist ange-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. nommen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die
Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD sowie Teile Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
der Linksfraktion. Enthaltungen? – Das ist die übrige gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenom- führung der Verordnung (EU) Nr. 211/2011
men. des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitia-
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke tive
auf Drucksache 17/7634 mit dem Titel „CASTOR-
Transport 2011 nach Gorleben stoppen“. Wer stimmt für – Drucksache 17/7575 –
diesen Antrag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Wer Überweisungsvorschlag:
stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Innenausschuss (f)
Petitionsausschuss
Enthaltungen? – Das sind die Sozialdemokraten und Rechtsausschuss
Bündnis 90/Die Grünen. Der Antrag ist abgelehnt. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
über die Besetzung der Großen Straf- und Ju-
gendkammern in der Hauptverhandlung
Ingo Wellenreuther (CDU/CSU):
(B) – Drucksachen 17/6905, 17/7276 – Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung (D)
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- dient dazu, für das Institut der Europäischen Bürgerini-
schusses (6. Ausschuss) tiative, das mit Art. 11 Abs. 4 des Vertrags über die
Europäische Union neu geschaffen wurde, nationale Zu-
– Drucksache 17/7669 – ständigkeiten zuzuweisen und Verfahren festzulegen.
Berichterstattung: Da es sich bei der Europäischen Bürgerinitiative um
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg ein neuartiges Instrument direkter Demokratie handelt,
Christoph Strässer das den Unionsbürgern ab 1. April 2012 zur Verfügung
Mechthild Dyckmans steht und ihnen erstmals die Möglichkeit verschafft, di-
Jens Petermann rekt und nicht vermittelt über Wahlen oder eine Petition
Jerzy Montag an der europäischen Gesetzgebung mitzuwirken, möchte
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu ich zunächst einige wichtige Voraussetzungen und Ver-
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sie fahrensschritte dafür kurz darstellen.
sind alle damit einverstanden? – Die Namen der Kolle- Inhalt einer solchen Bürgerinitiative muss die Auffor-
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Ich ver- derung an die Europäische Kommission sein, im Rah-
zichte auf die Verlesung.1) men ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht der Bürgerin-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Be- nen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um
setzung der Großen Straf- und Jugendkammern in der die europäischen Verträge umzusetzen. Da die Kommis-
Hauptverhandlung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in sion in fast allen Politikbereichen, die in den Kompe-
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7669, tenzbereich der Union fallen, das Initiativrecht hat, sind
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck- die Initiatoren einer Bürgerinitiative thematisch kaum
sachen 17/6905 und 17/7276 in der Ausschussfassung eingeschränkt. Der vorgeschlagene Rechtsakt darf aber
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- höherrangigem europäischem Recht nicht widerspre-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um chen und die Grundrechte der Union nicht verletzen.
das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Eine Änderung des Primärrechts, also der grundlegen-
Wer stimmt dagegen? – Das sind die Sozialdemokraten den Verträge der EU, ist ebenfalls ausgeschlossen.
Nachdem die Europäische Kommission die Bürger-
1) Anlage 3 initiative auf einer Website registriert hat, können die
16618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Ingo Wellenreuther
(A) Organisatoren der Initiative innerhalb eines Jahres Un- und die dazu erforderlichen nationalen Umsetzungs- (C)
terstützungsbekundungen sammeln. Neben der Papier- regelungen, die mit dem vorliegenden Gesetz erfolgen
form können auch online Unterstützungsbekundungen sollen. Das Instrument kann ein Schritt sein, dieses De-
gesammelt werden, wofür die Europäische Kommission fizit abzubauen.
eine kostenfreie Open-Source-Software bereitstellt.
Allerdings dürfen die positiven Wirkungen der Euro-
Für eine gültige Bürgerinitiative bedarf es der Unter- päischen Bürgerinitiative auch nicht überschätzt wer-
zeichnung durch 1 Million Unionsbürger, die nach dem den. Denn die gestalterischen Möglichkeiten, die den
jeweiligen nationalen Recht bei den Wahlen zum Euro- Unionsbürgern mit diesem Instrument gesetzt wurden,
päischen Parlament wahlberechtigt sind. Die Zahl der sind eingeschränkt: Die Europäische Kommission kann
Unterzeichner entspricht 0,2 Prozent der Unionsbürger das Begehren der Bürgerinitiative mit Gründen zurück-
und ist damit sehr niedrig angesetzt. weisen und von konkreten Umsetzungsmaßnahmen ab-
sehen. Im Falle der Ablehnung der Bürgerinitiative ist
Um sicherzustellen, dass die Angelegenheit von euro-
auch keine Volksabstimmung vorgesehen.
paweitem Interesse ist, müssen die Unterstützer aus min-
destens einem Viertel der Mitgliedstaaten, derzeit also Dennoch sehen wir die Europäische Bürgerinitiative
aus sieben Mitgliedstaaten, kommen. Erforderlich ist positiv, verbindet sich damit doch die Hoffnung, dass
auch eine jeweilige Mindestzahl aus diesen Staaten. Aus sich mit der unmittelbaren Mitwirkungsmöglichkeit die
Deutschland müssen es mindestens 74 250 Unterzeich- Kenntnis und das Verständnis über die europäische Poli-
ner sein. tik und das dortige Gesetzgebungsverfahren erhöhen.
Das Interesse an Europa soll gesteigert werden und für
Liegen alle Voraussetzungen vor und ist eine Bürger-
Europa-Kritiker soll es schwieriger werden, zu argu-
initiative danach zulässig, prüft die Europäische Kom-
mentieren, dass ausschließlich ferne EU-Bürokraten
mission diese und legt innerhalb von drei Monaten ihr
über machtlose Unionsbürger entscheiden. Aufgrund
beabsichtigtes Vorgehen und die Gründe dafür dar. Falls
der Tatsache, dass die Unterstützer aus mindestens sie-
sie nicht beabsichtigt, Maßnahmen zu ergreifen, erläu-
ben Mitgliedstaaten kommen müssen, ist eine Vernet-
tert sie die Gründe dafür ebenfalls. Den Organisatoren
zung von nationalen Bewegungen und Organisationen
wird zuvor die Möglichkeit gegeben, ihre Bürgerinitia-
erforderlich, wodurch ein transnationales, europäisches
tive innerhalb einer öffentlichen Anhörung im Europäi-
Bewusstsein vertieft werden soll.
schen Parlament vorzustellen.
Die EU-Verordnung über die Bürgerinitiative ver- Gerold Reichenbach (SPD):
langt nationale Zuständigkeitszuweisungen und Verfah- Ein Fokus liegt auf Europa, und das leider nicht nur
rensfestlegungen, die mit dem vorliegenden Gesetz er- positiv. Die Zeitungen sind voll von Europa. Es geht um (D)
(B)
folgen sollen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um die Finanzkrise, es geht um Milliardenrettungspakete, es
folgende Regelungen: geht um drohenden Staatsbankrott und tiefe Einschnitte
Das Bundesversicherungsamt wird als zuständige Be- in die Lebensumstände der Bürger. Im Kern aber geht es
hörde für die Überprüfung der Unterstützungsbekun- um den Zusammenhalt Europas und seine Legitimation
dungen sowie das Ausstellen von Bescheinigungen über gegenüber seinen Bürgern, die zunehmend den Eindruck
die Zahl der gültigen Bekundungen in Deutschland be- haben, dass anonyme Zirkel und Mächte über ihre Köpfe
nannt. hinweg über ihre Zukunft und die ihrer Kinder entschei-
den.
Um den Verwaltungsaufwand gering zu halten, wird
von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Zulässig- Die Einführung einer Europäischen Bürgerinitiative
keit der gesammelten Unterstützungsbekundungen stich- stellt vor diesem Hintergrund eine enorme Chance dar.
probenartig zu überprüfen. Zudem soll die Überprüfung Sie kann den Menschen die Möglichkeit und das Gefühl
von Unterstützungsbekundungen durch einen automati- geben, Europapolitik nicht ausgeliefert zu sein, sondern
sierten Datenaustausch zwischen Bundesversicherungs- diese aktiv mitgestalten zu können.
amt und Meldebehörden erleichtert werden. Zu diesem
Bürgerwille und Protest sind bereits jetzt ein wichti-
Zweck wird die Bundesmeldedatenübermittlungsverord-
ges Korrektiv zu politischen Entscheidungen. So ist es
nung ergänzt.
dem stetigen Beharren vieler engagierter Menschen zu
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informations- verdanken, dass die Bundesregierung in ihrer Energie-
technik wird als die zuständige Behörde benannt, die be- politik nach Fukushima eine Kehrtwende vollzogen und
scheinigt, ob ein Onlinesammelsystem mit den techni- die erst 2010 beschlossenen Laufzeitverlängerungen
schen und sicherheitsrelevanten Anforderungen der EU- von Atomkraftwerken zurückgenommen hat.
Verordnung über die Bürgerinitiative vereinbar ist.
Die neuen Medien und sozialen Netzwerke eröffnen
Außerdem werden Bußgeldvorschriften erlassen, die uns zugleich die Möglichkeit, jenseits traditioneller Me-
Verstöße der Organisatoren einer Bürgerinitiative gegen dienhoheit Themen über nationale Grenzen hinweg zu
die EU-Verordnung sanktionieren. kommunizieren und sich politisch zu organisieren. Ein
gutes Beispiel ist die „occupy-Bewegung“, egal wie man
Da ein Demokratiedefizit auf der europäischen Ebene inhaltlich dazu stehen mag.
offensichtlich ist und dies auch von einer großen Zahl
der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland beklagt Wer den Bürger in Europa aber lediglich auf die
wird, begrüßen wir die Europäische Bürgerinitiative Straße als Artikulationsmöglichkeit verweist, wird ihn

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16619
Gerold Reichenbach
(A) auf Dauer gegen die europäische Idee mobilisieren und Mit der Europäischen Bürgerinitiative erhalten Men- (C)
nicht für sie gewinnen. Will Europa von den Bürgern als schen in Europa endlich ein direktdemokratisches In-
ihres begriffen werden, so muss es ihnen jenseits der strument, mit dem die Europäische Kommission gezwun-
sehr indirekten Strukturen von Rats-, Kommissions- und gen werden kann, in einem bestimmten Bereich initiativ
Parlamentsentscheidungen direktere demokratische Mit- zu werden. Zurzeit wird die europäische Politik von den
wirkungsmöglichkeiten eröffnen. Bürgerinnen und Bürgern der EU oft als bürgerfern und
technokratisch empfunden. Dem muss entgegengewirkt
Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich von Anfang an werden. Die Europäische Bürgerinitiative ist ein erster
für die Europäische Bürgerinitiative ausgesprochen und Schritt für mehr direkte Teilnahme an europäischen poli-
den Prozess begleitet. Da gibt es deutliche Erfolge zu
tischen Prozessen für mehr Akzeptanz für die Idee vom
verzeichnen! Die notwendige Unterstützeranzahl einer
vereinten Europa. Sie trägt zu mehr europäischer Soli-
solchen Initiative wurde von 160 000 Bürgerinnen und
darität bei, weil sie den Bürgerinnen und Bürgern der
Bürger auf 72 000 reduziert.
Mitgliedstaaten die Kraft gibt, etwas bewirken zu kön-
Die Mindestanzahl der Mitgliedstaaten, aus denen nen. Gerade in Zeiten starker finanzieller Turbulenzen
die Unterstützer kommen müssen, wurde von neun auf und von Zweifeln an dem europäischen Zusammenhalt
sieben gesenkt. Das ist erfreulich, denn Bürgerinnen und ist Solidarität unabdingbar.
Bürger aus einem Viertel der Mitgliedstaaten können be-
reits sicherstellen, dass es um Fragen von europaweitem Die Europäische Bürgerinitiative bietet neue, nie da
und nicht nur nationalem Interesse geht. gewesene grenzüberschreitende Partizipationsmöglich-
keiten. Sie ist dazu da, um europaübergreifend über poli-
Bedauerlich ist, dass der Zeitraum für die Sammlung tische Fragen zu diskutieren. Sie bietet die Chance,
von Unterstützungsbekundungen nicht von zwölf Mona- neue, aktuelle Themen unmittelbar in die europäische
ten auf achtzehn Monate erhöht wurde. Wir haben da- Politik einzubringen. Sie ermöglicht Initiativen und die
mals schon gesagt, dass es einen enorm hohen Aufwand Übermittlung politischer Vorschläge direkt an die Euro-
bedeutet, Menschen aus so vielen EU-Mitgliedstaaten päische Kommission.
miteinander zu vernetzen und dass das angemessen bei
der Zeitraumbestimmung berücksichtigt werden sollte. Ich bin davon überzeugt, dass die Europäische Bür-
gerinitiative zum Element eines politischen Frühwarn-
Trotz allem ist es jetzt dringend geboten, die Möglich- systems wird, das Defizite auf der EU-Ebene verdeut-
keiten der Bürgerbeteiligung in Europa zügig Realität licht. Sie kann aufzeigen, in welche Richtung sich die
werden zu lassen. politischen Wünsche und Hoffnungen der Bürgerinnen
Die EU-Verordnung zur Europäischen Bürgerinitia- und Bürger der EU entwickeln, so wie das zurzeit in
(B)
tive soll im April 2012 in Kraft treten. Bis dahin müssen Deutschland über Petitionen, insbesondere die öffentli- (D)
die nationalen Regelungen angepasst sein. Es mag der chen Petitionen, passiert. Petitionen sind das einzige
Tatsache geschuldet sein, dass es hier um die Anpassung Element der direkten Demokratie auf Bundesebene.
deutschen Rechts an eine ohnehin unmittelbar geltende Eine klug genutzte und unbürokratisch umgesetzte
EU-Verordnung ging, was insoweit kaum eigenständi- Bürgerinitiative kann ein Schrittmacher für mehr Bür-
gen Regelungsgehalt aufweist. Die SPD-Bundestags- gernähe und Demokratie sein. Sie kann auch eine Waffe
fraktion hat dennoch erfreut zur Kenntnis genommen, gegen die Politikverdrossenheit sein. Ich hoffe sehr, dass
dass die Bundesregierung die notwendigen Maßnahmen,
die Bürgerinnen und Bürger Europas die Chancen für
einen Gesetzentwurf zur Durchführung der EU-Verord-
mehr Beteiligung über die Bürgerinitiative nutzen.
nung vorzulegen, ausnahmsweise frühzeitig ergriffen
hat. Die Politik ist gut beraten, wenn sie die Europäische
Wenn die Regierungen Europas es nicht schaffen, Bürgerinitiative nicht nur schnellstens und unbürokra-
eine Finanztransaktionsteuer in Europa durchzusetzen, tisch umsetzt, sondern die Bürgerinitiative und ihre
dann werden mit der Europäischen Bürgerinitiative künf- Breitenwirkung auch aufmerksam verfolgt, nutzt und ge-
tig die Bürgerinnen und Bürger Europas dazu die Gele- bührend berücksichtigt. Beschämend ist allerdings, dass
genheit haben. es demnächst direktdemokratische Elemente in den
Kommunen, Ländern und der EU gibt, und auf der Bun-
desebene direkte Beteiligung nur über das Petitionsrecht
Klaus Hagemann (SPD): möglich ist.
Die Menschen in Europa haben bis heute wenige
reale Möglichkeiten, aktiv am europäischen Willensbil-
dungsprozess teilzunehmen. Europa muss dringend nach Jimmy Schulz (FDP):
grenzübergreifenden Beteiligungsformen über die Wahl Meine letzte Rede zur Europäischen Bürgerinitiative,
des Europäischen Parlaments hinaus suchen. Gerade EBI, vom 10. Juni 2010 ist schon einige Zeit her. In der
jetzt, in Zeiten der europäischen Krise und der „Wutbür- Zwischenzeit ist viel passiert. Die EU-Verordnung
ger“, die sich nicht so einfach mit politischen Entschei- Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Ra-
dungen abfinden wollen, sollten die Menschen stets in tes vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative
Politikprozesse einbezogen werden. Sie müssen die wurde verabschiedet. Die Bundesregierung hat ihren
Chance erhalten, ihre Anliegen zu artikulieren, Argu- Gesetzentwurf zur Umsetzung dieser Verordnung nun
mente auszutauschen und angehört zu werden. vorgelegt.

Zu Protokoll gegebene Reden


16620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Jimmy Schulz
(A) Ich freue mich sehr, dass die EBI durch diesen Ge- Das BVA beschränkt den Datenabgleich auf das zu (C)
setzentwurf immer greifbarer wird. Aus der Idee, eine diesem Zweck Erforderliche, beispielsweise indem
europäische Möglichkeit, sich zu beteiligen, zu etablie- es die Überprüfung zunächst nur anhand von Fami-
ren, ist ein konkreter Gesetzentwurf geworden, der das lienname, Vorname, Geburtstag und Anschrift
Verfahren zur Umsetzung einer EBI regelt. Die Idee wird durchführt und nur, wenn anhand dieser Daten
also zunehmend lebendiger. keine eindeutige Identifizierung möglich ist, den
Datensatz um die frühere Anschrift oder weitere
Wichtig ist es, Bürgerinnen und Bürger zu einer Bür- Daten erweitert.
gerinitiative zu ermutigen und zu motivieren – sie mitzu-
nehmen. Gerade deshalb ist es entscheidend, die Verfah- Diese Abschichtung ist im Gesetzentwurf leider nicht
ren so benutzerfreundlich und einfach wie nur möglich angelegt. Hier würde ich mir eine konkretere Festlegung
zu gestalten. Das Verfahren entscheidet schließlich auch der Vorgehensweise wünschen.
über die Häufigkeit der Anwendung einer EBI. Gleich- Insgesamt sollten wir uns jedoch freuen, dass wir ei-
zeitig muss natürlich auch der Datenschutz gewahrt nen Schritt weiterkommen bei der Umsetzung von mehr
bleiben. Mitspracherechten für alle Europäerinnen und Euro-
päer. Gerade jetzt brauchen wir das umso mehr. Wir dis-
In meiner ersten Rede zu diesem Thema habe ich ge- kutieren über die Situation Griechenlands und die beste
fordert, dass der Schutz der Unterstützerdaten durch die Lösung für ein zusammenwachsendes Europa. Aller-
Organisatoren und die zuständigen Behörden sicherge- dings bietet die Debatte auch Raum für Euro-Skeptiker
stellt werden muss. Damals wie heute erachte ich es als und Euro-Kritiker.
besonders wichtig, dass die Möglichkeit der Sammlung
von Unterschriften über das Internet möglich ist. Dies Ich bin davon überzeugt, dass wir durch mehr Parti-
wird in Art. 6 der EU-Verordnung extra geregelt. Als zipationsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger
erster Schritt zur Umsetzung einer EBI soll in Deutsch- das Gemeinschaftsgefühl für unser Europa weiter stär-
land durch das Bundesamt für Sicherheit in der Informa- ken können. Die EBI ist eine Methode, die Europäische
tionstechnik, BSI, eine Bescheinigung ausgestellt wer- Union bürgernäher zu gestalten. Hier müssen wir alle
den, die den Organisatoren einer EBI die Erfüllung der über weitere Möglichkeiten nachdenken, die europäi-
Anforderungen zum Onlinesammelsystem gemäß dieses sche Politik für die Bürgerinnen und Bürger transparen-
Art. 6 Abs. 4 bestätigt. Das BSI überprüft also erst ein- ter und verständlicher zu machen.
mal das Sammelsystem der Organisatoren auf die fest- Ich habe mir jetzt erst einmal den 1. April 2012 als
gelegten Datenschutz- und Sicherheitsbestimmungen. Geburtstag der EBI im Kalender markiert, den ich gerne
Gibt das BSI das Okay, können die Organisatoren sam- mit allen Europäerinnen und Europäern gemeinsam fei- (D)
(B) meln.
ern möchte. Ich hoffe, dass besonders aus Deutschland
viele interessante Initiativen kommen werden.
In der EU-Verordnung heißt es nämlich, die Online-
sammelsysteme müssen über angemessene Sicherheits-
merkmale und technische Merkmale verfügen. Dies ist Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
zunächst natürlich sehr zu begrüßen. Der Datenschutz Wir beraten heute ein Gesetz zur Durchführung einer
ist ein wichtiger Aspekt, der garantiert werden muss. Bis europäischen Verordnung, die keinen großen Wurf dar-
zum 1. Januar 2012 will die Kommission nun noch tech- stellt, sondern nur ein kleiner Schritt in Richtung Beteili-
nische Spezifikationen für die Umsetzung verabschie- gungsdemokratie ist. Die EU-Verordnung 211/2011 er-
den. Diese werde ich dann genau betrachten und analy- möglicht ab April 2012, dass mindestens 1 Million
sieren. Staatsangehörige aus mindestens sieben EU-Mitglied-
staaten die Europäische Kommission auffordern, eine
Neben der Sammlung der Daten müssen diese dann Gesetzesinitiative zu ergreifen. Wir sollen nun die ent-
auch in einem professionellen Verfahren überprüft wer- sprechenden gesetzlichen Bedingungen dafür schaffen,
den. Das fällt in die Zuständigkeit des Bundesverwal- dass diese Verordnung umgesetzt werden kann.
tungsamtes. Die Organisatoren übermitteln also die Da- Die Europäische Bürgerinitiative ist nicht mehr als
ten an das Amt. Dieses wird stichprobenartig die ein Massenpetitionsrecht, und es fehlt ihr an Verbind-
Gültigkeit der Daten überprüfen und arbeitet dafür mit lichkeit. Mit dieser Unverbindlichkeit wird ein grund-
den Meldebehörden zusammen. Um Missbrauch zu ver- legendes Defizit fortgeschrieben, das der Vertrag von
meiden ist dies ein wichtiger und richtiger Ansatz. Vo- Lissabon postulierte und das die Linke kritisiert. Er ver-
raussetzung für eine EBI muss natürlich ihre Legitimität weigert seinen Bürgerinnen und Bürgern direktdemo-
sein, die so bestätigt wird. kratische Partizipation. Auch mit der Europäischen Bür-
Allerdings möchte ich die Vorgehensweise hier nicht gerinitiative bekommen sie nichts an die Hand, das es
ihnen ermöglicht, direkten Einfluss auf die Politik der
ganz unkritisch stehen lassen. In § 3 Abs. 3 ist festge-
Europäischen Union zu nehmen.
schrieben, welche Daten mit den Melderegistern abge-
glichen werden können. Darunter fallen auch frühere Meine Fraktion hat im Juni vergangenen Jahres den
Anschriften und frühere Namen. In der Begründung Antrag „Europäische Bürgerinitiative bürgerfreundlich
steht, dass zunächst nur die erforderlichen Daten für gestalten“ ins Parlament eingebracht, mit dem der Ver-
den Abgleich genutzt würden, und später erst weitere such unternommen wurde, aus dem halbherzigen Ange-
wie frühere Adressen zum Tragen kämen: bot zumindest noch das Bestmögliche im Sinne der Bür-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16621
Halina Wawzyniak
(A) gerinnen und Bürger zu machen. Wir haben goutiert, Initiative ist die EU-Kommission. Sie soll geeignete (C)
dass die Europäische Bürgerinitiative ein Instrument Handlungsvorschläge zu Themen unterbreiten, die der
sein kann, grenzüberschreitende Debatten anzustoßen Umsetzung der europäischen Verträge dienen.
und zum Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit bei-
zutragen. Wir haben aber auch gesagt, einen Schritt zur In Zeiten, in denen sich Europa in einer tiefen Krise
unmittelbaren Volksgesetzgebung stelle sie indes nicht befindet wie seit Jahrzehnten nicht mehr, ist die Euro-
dar. Aber, wie wir – im Zusammenhang mit der Frage päische Bürgerinitiative Balsam für die Seele eines je-
nach Volksabstimmungen zu europäischen Fragen – erst den überzeugten Europäers. Die europäische Integra-
wieder in den vergangenen Tagen seitens der CDU hö- tion kommt damit unmittelbar bei den Bürgerinnen und
ren konnten: Es ist auch gar nicht gewünscht, dass die Bürgern an. Jetzt können die Bürgerinnen und Bürger
Menschen in diesem und allen anderen Mitgliedslän- der Europäischen Union direkt die Politik der Europäi-
dern der Europäischen Union mehr Beteiligungsmög- schen Union mitgestalten, zusätzlich zu den alle fünf
lichkeiten haben und größeren Einfluss auf politische Jahre stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parla-
Entscheidungen nehmen können. Bundestagspräsident ment. Die Europäische Union etabliert mit der Europäi-
Norbert Lammert hat es deutlich gemacht, indem er schen Bürgerinitiative das erste staatenübergreifende
sagte: „Das Hauptproblem der Leute scheint mir nicht Bürgerbeteiligungsinstrument weltweit. Die damit ein-
zu sein, dass sie sich von Entscheidungen ausgeschlos- hergehende Ausstrahlungskraft dürfte auch über die
sen fühlen, die sie selbst fällen möchten. Im Gegenteil: Grenzen Europas hinaus wahrgenommen werden.
Die meisten fühlen sich von diesen Fragen zwar betrof- Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Verord-
fen, aber auch überfordert. Sie wollen doch nicht ernst- nung über die Bürgerinitiative gibt dieser Bundesregie-
haft die Entscheidung anstelle der gewählten Gremien rung gleichwohl keinen Grund, sich auf die Schulter zu
treffen.“ Diese Art des Paternalismus ist es, die den klopfen. Die Europäische Bürgerinitiative ist nicht auf
Geist des Vertrages von Lissabon ausmacht und die ver- engagiertes Betreiben der Bundesregierung oder der
hindert, dass wir in Deutschland und in der EU auch nur Regierungsfraktionen entstanden. Das deckt sich im Üb-
ein Stück vorankommen in Richtung direkter Bürgerin- rigen auch mit Ihrem mäßigen Engagement für direkte
nen- und Bürgerbeteiligung. Eine ehrliche Antwort aller Demokratie und Bürgerbeteiligung auf Bundesebene. An
Bundestagsabgeordneten auf die Frage, ob sie vollstän- der Wiege der Europäischen Bürgerinitiative standen
dig verstehen, worüber sie beim dauerhaften Euro-Ret- die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union
tungsschirm ESM abstimmen, oder sich überfordert füh- und ihre Initiativen. Wir Grünen haben diesen Prozess
len, überraschte uns sicher. von Anfang an intensiv begleitet und uns bereits im Eu-
Gut ist, dass die Bundesregierung mit dem vorliegen- ropäischen Konvent, später im Europäischen Parlament
(B) den Entwurf zur Europäischen Bürgerinitiative zumin- und auch hier im Bundestag für eine bürgerfreundliche (D)
dest von ihrem ursprünglichen Plan, die Kosten, die bei Ausgestaltung der Europäischen Bürgerinitiative einge-
Onlinebürgerinitiativen entstehen, teilweise an die Or- setzt.
ganisatoren durchzureichen, absieht. Es wäre auch ei- Die Bundesregierung unterdessen versuchte in ihrem
ner Verhöhnung der Menschen gleichgekommen, die in- ersten Entwurf zur Umsetzung der EU-Verordnung, die
itiativ werden und sich im Sinne der Fortentwicklung Bürgerinitiative gen null zu führen. Wie sonst lässt sich
unserer Demokratie engagieren. erklären, dass engagierte Bürgerinnen und Bürger für
Die EBI ist keine bedeutende Neuerung in Richtung die Wahrnehmung ihres demokratischen Rechts zur
„Europa für Bürgerinnen und Bürger“. Sie bietet zwar Kasse gebeten werden sollten? Die Bundesregierung
vernetzten Organisationen die Möglichkeit, initiativ zu hatte allen Ernstes vor, die Kostenlast zur Zertifizierung
werden; für alle anderen aber ist sie zu elitär. Die EBI von Onlinesammelsystemen auf die Organisatorinnen
hat kein wirkliches Initiativrecht und bietet keine Mög- und Organisatoren der Bürgerinitiativen abzuwälzen.
lichkeit, die Politik tatsächlich zu beeinflussen. So ent- Unser Protest vom 18. Juli dieses Jahres hat dazu beige-
steht kein europäisches Bewusstsein, das sich daraus tragen, diese von der Bundesregierung beabsichtigte
nährt, auf politische Prozesse einwirken, sie mitgestal- Hürde gegen mehr direkte Demokratie zu verhindern.
ten zu können. Sie ist nur ein bisschen mehr als Kosmetik Damit sind die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die
und hat mit wirklicher europäischer Bürgerbeteiligung sich aus dem Vertrag von Lissabon ergeben, nun ausrei-
wenig zu tun. Sie wird das strukturelle Demokratiedefizit chend gewahrt. Gemeinsam können wir daher feststel-
der Europäischen Union nicht aufheben, auch weil es len, dass die kostenfreie Nutzung der Europäischen Bür-
die Mitgliedstaaten der Union sind, die ein europäisches gerinitiative ein Erfolg ist.
Bewusstsein zu verhindern suchen. Wir fordern die Bun-
Es ist auch ein Erfolg, dass die Hürden, die die Euro-
desregierung auf, auf europäischer Ebene die Initiative
päische Kommission zunächst in die Ausgestaltung der
für mehr direkte demokratische Bürgerinnen- und Bür-
Bürgerinitiative eingebaut hatte, nun abgebaut sind. Wir
gerbeteiligung zu ergreifen.
Grünen haben daran intensiv mitgearbeitet. Im Einzel-
nen: Die Anzahl der Mitgliedstaaten, in denen Unter-
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schriften für die Initiative gesammelt werden müssen, ist
Das Jahr 2012 wird für Europa und die europäische auf ein Viertel, also auf jetzt sieben Mitgliedstaaten, ab-
Idee ein gutes Jahr. Ab dem 1. April 2012 wird es für gesenkt worden. Die Zulässigkeitsprüfung findet gleich
jede Europäerin und jeden Europäer möglich sein, eine am Anfang – und nicht erst nach dem Sammeln von über
Europäische Bürgerinitiative einzuleiten. Adressat der 300 000 Unterschriften – statt. Die Initiatoren zulässi-

Zu Protokoll gegebene Reden


16622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Ingrid Hönlinger
(A) ger Bürgerinitiativen haben ein Recht auf Anhörung bei Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: (C)
der EU. Die Kommission und das Europäische Parla-
ment stellen sicher, dass diese Anhörung im Europäi- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
schen Parlament stattfindet, dass gegebenenfalls andere gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Organe und Einrichtungen der Union an der Anhörung zur Änderung von Vorschriften über Verkün-
teilnehmen und dass die Kommission auf geeigneter dung und Bekanntmachungen
Ebene vertreten ist. Bürgerinnen und Bürger können da- – Drucksache 17/6610 –
mit nicht mehr nur mit einem Brief der EU-Kommission
abgespeist werden. Es wird eine Open-source-Software Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
für die Onlineunterschriftensammlung geben. Die Euro- schusses (6. Ausschuss)
päische Kommission wird eine Kontaktstelle für Bera-
tungen und Nachfragen einrichten. – Drucksache 17/7560 –

Die Europäische Bürgerinitiative ist ein Schritt in die Berichterstattung:


richtige Richtung. Aber sie ist nur ein erster Schritt. Wir Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Grüne wollen mehr. Wir wollen, dass sich die EU-Kom- Dr. Edgar Franke
mission nicht nur mit dem Anliegen der Initiative befas- Mechthild Dyckmans
sen muss, um dann eventuell nach Belieben einen ent- Jens Petermann
sprechenden Gesetzesvorschlag zu erarbeiten. Wir wollen Ingrid Hönlinger
mehr direkte Entscheidungsmöglichkeiten, die über die Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
bloße Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
politischen Agenda hinausgehen. Europa sollte seinen ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Bürgerinnen und Bürgern mehr zutrauen. Wir tun es und
fordern auch die Bundesregierung und die Regierungs-
koalition dazu auf. Vertrauen Sie den Menschen, und öff- Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
nen Sie die Türen für mehr Demokratie in der Europäi- Art. 82 GG verlangt, dass die nach den Vorschriften
schen Union! dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze im
Bundesgesetzblatt verkündet werden. Das vorliegende
Gesetz zur Änderung von Vorschriften über Verkündung
Vizepräsident Eduard Oswald:
und Bekanntmachungen setzt an dieser grundgesetzli-
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- chen Regelung an und geht einen fortschrittlichen Weg,
wurfs auf Drucksache 17/7575 an die in der Tagesord- indem es die nicht mehr zeitgemäße Form der Veröffent-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es lichung im Bundesgesetzblatt durch eine elektronische (D)
(B) anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
Form der Veröffentlichung im Bundesanzeiger ersetzt.
ist die Überweisung so beschlossen.
Der Bundesanzeiger wird nun ausschließlich in elek-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
tronischer Form erscheinen, da das Nebeneinander von
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Bundesanzeiger und elektronischem Bundesanzeiger
nicht mehr erforderlich und zudem unwirtschaftlich ist.
Nachhaltige Entwicklung in Subsahara-Afrika
durch die Stärkung der Menschenrechte för- Wie die bisherige gedruckte Fassung des Bundesan-
dern zeigers enthält auch die elektronische Form zwei Teile;
einen amtlichen Teil und einen Teil für beispielsweise
– Drucksache 17/7370 – gerichtliche Bekanntmachungen, Bekanntmachungen
Überweisungsvorschlag: der Kommunen und gesellschaftsrechtliche Bekanntma-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) chungen.
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss Die beschriebenen Bekanntmachungen und Verkün-
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dungen erhalten ihre rechtsverbindliche Fassung mit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Einstellung in das Internet. Personen ohne Internet-
Entwicklung zugang erhalten Ausdrucke des Bundesanzeigers oder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union bestimmter Teile des Bundesanzeigers gegen ein Entgelt.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Drei Aspekte sprechen für die ausschließliche Veröf-
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. – fentlichung in elektronischer Form:
Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.1) Zuerst ist hier zu nennen, dass der Zugang der Bevöl-
kerung zu den Gesetzestexten deutlich vereinfacht wird.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Gleichzeitig erhält der Informationssuchende die Mög-
Drucksache 17/7370 an die in der Tagesordnung aufge- lichkeit, die Suchfunktionen der elektronischen Fassung
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein- zu nutzen und einen umfassenden Einblick in die jeweili-
verstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die gen Ausgaben des Bundesanzeigers zu erhalten. Somit
Überweisung so beschlossen. gewinnt der Informationssuchende Zeit bei der Recher-
che, und die Zurverfügungstellung der zu verkündenden
1) Anlage 4 Texte erfolgt ebenfalls ohne Zeitverzug.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16623
Dr. Patrick Sensburg
(A) Weiter wird der Zugang aus dem Ausland erst durch in zweiter und dritter Lesung beraten und angenommen. (C)
die elektronische Veröffentlichung ermöglicht. Durch Damit nun der deutsche Standard der Veröffentlichung
die elektronische Veröffentlichung erhält somit nicht nur des Bundesanzeigers nicht hinter dem europäischen
jeder in Deutschland wohnende Interessierte Zugang, Standard zurückbleibt, ist die Einführung des elektroni-
sondern auch jede Person, die im Ausland wohnt und In- schen Bundesanzeigers unabdingbar.
teresse an den in Deutschland verkündeten Texten hat.
Der Einwand, dass nicht jedem der Zugang zum Bun-
Im europäischen Kontext wird so ein Zusammenwachsen
desanzeiger möglich sei, da Ausdrucke nur gegen Ent-
gefördert.
gelt erhalten werden können, schlägt fehl. § 6 Abs. 2 des
Letztlich können durch die Umstellung auf die elek- Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über Verkün-
tronische Verkündung bei Druck und Vertrieb Kosten- dungen und Bekanntmachungen schreibt fest, dass Ver-
einsparungen realisiert werden. Diese Einsparungen öffentlichungen im amtlichen Teil des Bundesanzeigers
kommen der Wirtschaft zugute. Dies ist dem Umstand von jedermann unentgeltlich ausgedruckt und gespei-
geschuldet, dass nach dem Vertrag mit der Bundesanzei- chert werden können. Lediglich der Bezug einzelner Ver-
ger Verlagsgesellschaft Kostensenkungen weiterzuge- öffentlichungen ist entgeltpflichtig. Jeder hat mithin die
ben sind. Möglichkeit, den amtlichen Teil des Bundesanzeigers
entgeltfrei einzusehen.
Mit dem heute zu beschließenden Gesetz zur Ände-
rung von Verkündung und Bekanntmachungen wird aber Da das vorliegende Gesetz mithin bei Schaffung vie-
gleichzeitig eine Korrektur des Gesetzes zur Reform der ler Vorteile für den interessierten Bürger und sogar fi-
Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung vom nanzieller Einsparmöglichkeiten keinerlei Nachteile
29. Juli 2009, Bundesgesetzblatt I, Seite 2258, beschlos- birgt, darf ich um die Zustimmung zu diesem Gesetz wer-
sen. Die entsprechenden Korrekturen und Änderungen ben.
sind im Wesentlichen die grundlegende Neukonzeption Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass die christlich-
der Vermögensverzeichnisse und der Schuldner-ver- liberale Koalition selbst bei so praktischen Vorhaben
zeichnisse. Die Vermögensverzeichnisse und die Schuld- wie der elektronischen Veröffentlichung des Bundesan-
nerverzeichnisse werden derzeit in Papierform geführt zeigers gleichzeitig fortschrittliche und an den Interes-
und lokal bei den einzelnen Vollstreckungsgerichten ver- sen der Bürger orientierte politische Entscheidungen
waltet. Dies beeinträchtigt die Effektivität von Vollstre- fällt.
ckungsmaßnahmen des Gläubigers erheblich.
Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der Dr. Edgar Franke (SPD):
Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung am 1. Ja- Der Bundesanzeiger soll künftig ausschließlich elek-
(B) nuar 2013 werden die Vermögensverzeichnisse künftig in (D)
tronisch geführt werden. Mit dem vorliegenden Gesetz-
jedem Land zentral an einem Vollstreckungsgericht ver- entwurf soll das Verkündungs- und Bekanntmachungs-
waltet. Die Schuldnerverzeichnisse werden zentral an wesen des Bundes für den Bereich der Verkündungen
diesem Vollstreckungsgericht geführt. Beides erfolgt und Bekanntmachungen im Bundesanzeiger nur noch
künftig in elektronischer Form. elektronisch erfolgen.
Im Zuge der Ausarbeitung der Verordnung über das Die Rechtsnormen sind der Öffentlichkeit in einer
Vermögensverzeichnis hat sich Anpassungsbedarf bei Weise förmlich zugänglich zu machen, dass die Betroffe-
den gesetzlichen Grundlagen für den Erlass der Verord- nen sich verlässlich Kenntnis von ihrem Inhalt verschaf-
nungen ergeben. Die Änderungen sind für den Erlass ei- fen können. Nach Art. 82 Abs. 1 Satz 1 des Grundgeset-
ner widerspruchsfreien Verordnung, die auf die prakti- zes werden die nach den Vorschriften des Grundgesetzes
schen Bedürfnisse der Länder abgestimmt ist, zwingend zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten
notwendig. nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesge-
setzblatt verkündet. Rechtsverordnungen des Bundes
Das Gesetz über Änderungen von Vorschriften über
werden nach Art. 82 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes
Verkündungen und Bekanntmachungen, das einerseits
von der Stelle, die sie erlässt, ausgefertigt und grund-
eine elektronische Form des Bundesanzeigers festlegt
sätzlich ebenfalls im Bundesgesetzblatt verkündet.
und gleichzeitig einige notwendige Korrekturen an dem
Rechtsverordnungen können alternativ gemäß Art. 82
Gesetz zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangs-
Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit den Regelungen des
vollstreckung vornimmt, stellt für den interessierten
Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen,
Bürger eine Erleichterung in zeitlicher Hinsicht dar und
RVVerkG, auch im Bundesanzeiger verkündet werden.
schafft eine zeitnähere Informationsmöglichkeit des
Bürgers. Gleichzeitig führt die Einführung des elektroni- In elektronischer Form sollen Verkündungen und Be-
schen Bundesanzeigers zur Einsparung von Druck- und kanntmachungen im Bundesanzeiger künftig unproblema-
Vertriebskosten, ohne solche Kosten ungerechtfertigter tisch bereitgestellt werden. Die Bezeichnung „Bundesanzei-
Weise umzuverteilen. ger“ wird weitergeführt. Das nutzt dem Bekanntheitsgrad
des Organs und unterstreicht die grundgesetzlich geforderte
Auch im Hinblick auf die Entwicklungen in der Euro- Verlässlichkeit.
päischen Union ist die Einführung des elektronischen
Bundesanzeigers notwendig. Das Amtsblatt der Euro- Ein wichtiges Argument für die ausschließliche Ein-
päischen Union wird nun elektronisch veröffentlicht. führung des elektronischen Bundesanzeigers ist die er-
Das entsprechende Gesetz wurde am 27. Oktober 2011 hebliche Kosteneinsparung. Druck und Vertrieb des

Zu Protokoll gegebene Reden


16624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Edgar Franke


(A) Bundesanzeigers verursachen hohe Kosten. Der Auf- ständig und dauerhaft verfügbares Format, das den ISO- (C)
wand für die Herstellung einer Papierausgabe für Infor- Standards entspricht.
mationen, wie etwa Tarife oder technische Regeln, die
nur von einem vergleichsweise kleinen Kreis von Spezi- Der Änderungsantrag der Regierungsfraktionen be-
alisten nachgefragt werden, ist unverhältnismäßig. Der trifft fast ausschließlich unwesentliche redaktionelle Än-
Gesetzentwurf führt zu Recht aus, dass mit dem elektro- derungen. Außerdem soll durch Änderung des § 802 k
nischen Bundesanzeiger inzwischen eine funktionsfä- Abs. 1 ZPO (S. 37, 45 ÄA) künftig ermöglicht werden,
hige elektronische Veröffentlichungsmöglichkeit besteht, dass die Länder eine zentrale und länderübergreifende
die dem bisherigen gedruckten Bundesanzeiger überle- Datensammlung einrichten und per Internet verfügbar
gen ist. halten können, unter der eine Einsichtnahme in die Ver-
mögensverzeichnisse möglich ist. Diese soll allerdings
Durch die Veröffentlichung im elektronischen Bun- erst im Jahr 2013 in Kraft treten.
desanzeiger werden die Rechtsnormen der Öffentlichkeit Vermögensverzeichnisse müssen angelegt werden im
zugänglich gemacht. Der gedruckte Bundesanzeiger Rahmen der Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung
wurde nur noch von etwa 1 700 Abonnenten bezogen. nach der Abgabenordung wegen Steuerschulden und im
Die elektronische Fassung bietet über das Internet eine Rahmen einer Vermögensauskunft, die vom Gerichts-
sehr gute Verbreitungsmöglichkeit. Zu Recht wird im vollzieher bei der Vollstreckung von Geldforderungen
Gesetzentwurf festgestellt, dass ein Nebeneinander von abverlangt werden kann.
Bundesanzeiger und elektronischem Bundesanzeiger da-
mit nicht mehr erforderlich und unwirtschaftlich ist. Die Einsichtnahme ist möglich für Gerichtsvollzieher,
Vollstreckungsgerichte, Insolvenzgerichte, Registerge-
Durch eine Zusammenführung der verschiedenen richte und Strafverfolgungsbehörden. Bisher gibt es eine
Verkündungen im elektronischen Medium können die solche bundesweite Datensammlung nach § 882 b ZPO
Anforderungen an eine ordentliche Verkündung auf Voll- nur für das Schuldnerverzeichnis, in das Name, Adresse,
ständigkeit einerseits und einfache Handhabbarkeit so- Geburtsdatum und Aktenzeichen von Schuldnern einge-
wie zügige Veröffentlichung andererseits ideal erfüllt tragen werden, wenn die Eintragung im Rahmen der
werden. Zwangsvollstreckung, der Eintreibung einer Steuer-
schuld oder im Rahmen eines Insolvenzverfahrens ange-
Bei der Bekanntmachung muss aber auch die Identi- ordnet wird.
tät des Textes selbst sichergestellt werden. Dies betrifft
zum einen die „Authentizität“, die inhaltliche Überein- Die zentrale bundesweite Sammlung von Vermögens-
stimmung mit der Originalvorlage. Das hat auch mit verzeichnissen ist ein großer Datensammelschritt, aber
(B) „Amtlichkeit“ zu tun. Die Bürgerinnen und Bürger ver- richtig. Ohne diese Sammlung müssten die Behörden (D)
trauten darauf, dass fehlerhafte oder gar falsche Texte und Gerichte erst das bundesweite Schuldnerverzeichnis
schnell erkannt und publik gemacht werden. Dieses Ver- einsehen und dann in den Ländern nachforschen, ob es
trauen, das vor allem auch mit der greifbaren Verfüg- dort Vermögensverzeichnisse gibt.
barkeit der Hefte verbunden ist, fehlt dem elektronischen
Dokument. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Er- Mechthild Dyckmans (FDP):
scheinungsbild eines Gesetzblattes imitiert wird und ge-
Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften über Ver-
zielt Fälschungen in Umlauf gebracht werden. In den
kündung und Bekanntmachungen hat zum einen das
Begründungen zu den einzelnen Paragrafen des Gesetz-
Ziel, den Bundesanzeiger künftig ausschließlich elektro-
entwurfs ist zur Umsetzung des § 7 die Verwendung und
nisch über das Internet herauszugeben.
Beifügung einer qualifizierten elektronischen Signatur
entsprechend dem Signaturgesetz vorgesehen. Darüber hinaus werden weitere Änderungen der ZPO
und der Abgabenordnung vorgenommen, die im Wesent-
Die Überprüfung sollte aber für den Anwender direkt lichen Korrekturen hinsichtlich der Vorschriften über
möglich sein, das heißt, die Überprüfung muss direkt auf die Vermögensverzeichnisse enthalten.
der Webseite des Bundesanzeigers angeboten werden.
Es darf nicht sein, dass die Anwender eine Software von Diese unterschiedlichen Regelungsmaterien bedin-
Drittanbietern erst auswählen, dann downloaden und gen auch eine Anpassung des Titels des Gesetzes.
installieren müssen.
Der Bundesanzeiger wird künftig ausschließlich elek-
Zum anderen betrifft dies die Formatierung der In- tronisch über das Internet herausgegeben werden. Da-
halte. Die Sicherungsanforderungen des § 7 Abs. 2 se- mit wird das Nebeneinander von Bundesanzeiger und
hen vor, dass ein Dokument in einem ständig und dauer- elektronischem Bundesanzeiger, das seit Inbetrieb-
haft verfügbaren und lesbaren Format bereitgestellt nahme der elektronischen Veröffentlichung im Jahr
wird. Durch technische Vorkehrungen muss sicherge- 2002 besteht, aufgegeben. Der gedruckte Bundesanzei-
stellt sein, dass nachträgliche inhaltliche Veränderun- ger, dessen Druck und Vertrieb hohe Kosten verursa-
gen eines Dokuments zuverlässig erkennbar sind. chen, wurde zuletzt nur noch von etwa 1 200 entgelt-
pflichtigen Abonnenten in einer Stückzahl von 1 700
Dies kann nach unserer Auffassung und bestätigt Exemplaren bezogen, während die Verbreitungsmög-
durch die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für lichkeit über das Internet wesentlich mehr Interessenten
Recht und Informatik e. V., die DGRI, das PDF-Format erreicht. Jeder Bürger hat die Möglichkeit, über den ei-
gewährleisten. Das Portable Document Format ist ein genen Internetanschluss, ein Internetcafe oder eine öf-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16625
Mechthild Dyckmans
(A) fentliche Bibliothek Einsicht in den elektronischen Bun- weile für gesellschaftliche und amtliche Bekanntma- (C)
desanzeiger zu nehmen. Daneben erhalten Personen, die chungen sowie für die Verkündung von Rechtsverord-
mit dem Internet nicht umgehen wollen oder können, die nungen genutzt.
Möglichkeit, Ausdrucke des Bundesanzeigers oder be-
stimmter Teile davon gegen Entgelt zu beziehen. Die Im Zuge der Entwicklung hin zu einer papierlosen
elektronische Veröffentlichung wird inzwischen auf- bzw. papierarmen Verwaltung begrüßt die Linke die aus-
grund spezieller Ermächtigungen in verschiedenen Ge- schließlich elektronische Herausgabe des Bundesanzei-
setzen sicher und erfolgreich auch für die Verkündung gers über das Internet. Zudem ist nach Ausführungen
von Rechtsverordnungen genutzt. Damit liegen ausrei- des Statistischen Bundesamtes die Bedeutung der kos-
chende Erfahrungen mit diesem Medium vor, und ein tenintensiven Papierform stark zurückgegangen. Alles
Nebeneinander von gedruckter Fassung und elektroni- in allem ein Schritt in die richtige Richtung.
schem Bundesanzeiger ist nicht mehr erforderlich und
darüber hinaus auch unwirtschaftlich. Doch nun kommt das obligatorische Aber der Linken:
Der umfangreiche Änderungsantrag der Koalition zu ih-
Durch die neue Form der Veröffentlichung wird der rem eigenen Gesetzentwurf beseitigt fast ausschließlich
Zugang der Bevölkerung zu den Gesetzestexten wesent- Fehler, die redaktioneller Natur sind. Aber: Ganz am
lich verbessert. Die Gesetze werden schneller und leich- Ende taucht auf einmal ein neuer Artikel zur Zivilpro-
ter auffindbar und auch die jederzeitige Einsicht vom zessordnung auf. Und was regelt dieser? Absolut gar
Ausland her wird erst durch die elektronische Verkün- nichts, was mit dem elektronischen Bundesanzeiger zu
dung möglich. tun hat. Nein, laut Begründung werden vermeintliche
Fehler, die mit dem Gesetz zur Reform der Sachaufklä-
Wichtig ist, dass die Funktion des Bundesanzeigers
rung in der Zwangsvollstreckung gemacht wurden, aus-
als Bekanntmachungs- und Verkündungsorgan erhalten
gebügelt. Das heißt, in einem laufenden Gesetzgebungs-
bleibt, und ebenso wichtig ist, dass ein sicheres Verfah-
verfahren zu einer speziellen Sachmaterie wird eine
ren entwickelt wurde, das Authentizität und Dauerhaf-
vollkommen neue Sachmaterie ohne Bezug zum ur-
tigkeit der veröffentlichten Texte gewährleistet.
sprünglichen Gesetz behandelt. Und um dem ganzen
Mit der Umstellung auf die alleinige elektronische Vorgang noch eine Krone aufzusetzen, hat die Koalition
Verkündung und Bekanntmachung des Bundesanzeigers versucht, das gesamte Verfahren ohne Debatte in einer
können auch praktische Erfahrungen gesammelt werden ersten, zweiten und dritten Lesung durch den Bundestag
auf dem Weg zu einem einheitlichen elektronischen zu schleusen. Aber nicht mit uns! Die Vorgehensweise,
Rechtsinformationssystem. einfach einem Gesetzentwurf durch einen Änderungsan-
trag eine völlig fremde Materie ohne Sachzusammen-
(B) Der zweite Hauptgegenstand des Gesetzentwurfs be- hang anzuhängen, in der Hoffnung, dass es niemand be- (D)
trifft im Wesentlichen Korrekturänderungen des Geset- merken wird, ist unseres Erachtens eine unzulässige
zes zur Reform der Sachaufklärung, das zum 1. Januar Umgehung der formellen Vorschriften zum Gesetzge-
2013 in Kraft tritt und eine Vielzahl von Verbesserungen bungsverfahren. Auf diese Weise wird die erste Lesung
bei der Informationsgewinnung bei der Durchführung der neuen Sachmaterie übergangen, sodass sich der
der Zwangsvollstreckung mit sich bringt. Schuldner- Bundestag nicht in verfassungskonformer Weise mit der
und Vermögensverzeichnis werden künftig zentral ver- Materie beschäftigen konnte. Meine Damen und Herren
waltet und in elektronischer Form geführt, wobei die der Koalition, es hat schon seinen Sinn, jede Gesetzes-
Einzelheiten betreffend Verwaltung und Löschung der änderung in drei Lesungen im Bundestag zu verhandeln.
Verzeichnisse durch Rechtsverordnung geregelt werden. Finden Sie nicht?
Im Rahmen der Ausarbeitung der Verordnungen hat sich
ein Korrekturbedarf bei den gesetzlichen Grundlagen Da die Koalition diese Verfahrensweise häufiger
für ihren Erlass ergeben, der zeitnah vorgenommen wer- wählt, habe ich beim Wissenschaftlichen Dienst des
den muss, damit die Länder ausreichend Gelegenheit Deutschen Bundestages ein Gutachten in Auftrag gege-
haben, die elektronische Führung der Verzeichnisse ein- ben. Dieses hatte die Frage zu klären, ob dieses Omni-
zuführen. Dabei befürworten die Länder ausdrücklich busverfahren mit Art. 76 Abs. 1 Grundgesetz vereinbar
einen einheitlichen bundesweiten Abruf der Vermögens- ist.
verzeichnisse über eine Adresse im Internet. Dies soll
durch § 802 k Abs. 1 ZPO ermöglicht werden. Darin heißt es: Eine Veränderung eines Gesetzent-
wurfs durch Änderungsbeschlüsse des federführenden
Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes zeigt Ausschusses würde verfassungsrechtlich dann proble-
der Gesetzgeber, dass er die moderne Informations- und matisch, wenn sie auf ein dem Ausschuss nicht zustehen-
Kommunikationstechnologie auch in Gesetzgebung und des Gesetzesinitiativrecht hinauslaufen würde. Die Ge-
öffentlicher Verwaltung verantwortungsbewusst ein-
schäftsordnung des Deutschen Bundestages regelt, dass
setzt.
die Ausschüsse dem Bundestag bestimmte Beschlüsse
nur empfehlen dürfen, wenn sie sich auf die in ihren Vor-
Jens Petermann (DIE LINKE): lagen oder mit diesen in unmittelbaren Sachzusammen-
Der Bundesanzeiger wird seit Jahrzehnten in Papier- hang stehenden Fragen beziehen. Ein eigenes Initiativ-
form durch das Bundesministerium für Justiz veröffent- recht gegenüber dem Plenum steht den Ausschüssen
licht. Daneben wurde am 30. August 2002 der elektroni- nicht zu – § 62 Abs. 1 Geschäftsordnung des Deutschen
sche Bundesanzeiger eingerichtet. Beide werden mittler- Bundestages.

Zu Protokoll gegebene Reden


16626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Jens Petermann
(A) Der Geschäftsordnungsausschuss hat in seiner Ausle- Bundesanzeiger, sondern vereinfacht auch die Recher- (C)
gungsentscheidung vom 15. November 1984 Folgendes che. Jede und jeder Internetnutzer kann jederzeit gezielt
festgelegt: Ausschussmitglieder dürfen bei der Beratung Informationen zu bestimmten Rubriken oder mittels Voll-
eines Gesetzentwurfs Anträge zu seiner Änderung oder textsuche erlangen. Wird die Druckversion des Bundes-
Ergänzung einbringen, die in unmittelbarem Sachzu- anzeigers abgeschafft, wie mit dem Entwurf, den wir
sammenhang zu der Vorlage stehen. Ein unmittelbarer heute diskutieren, geplant, verringern sich Verwaltungs-
Sachzusammenhang ist anzuerkennen, wenn die Ergän- aufwand und Bürokratiekosten. Die Verkündung wird
zungen am Gesetzgebungsgrund oder an den Gesetzge- beschleunigt. Deutschland kann so auch im internatio-
bungszielen der ursprünglichen Vorlage anknüpfen. nalen Trend hin zur verstärkten Elektronisierung mithal-
ten. Die Europäische Union plant übrigens gerade, die
Da im vorliegenden Fall durch den Änderungsantrag elektronische Fassung des Amtsblatts der Europäischen
Vorschriften zur Zwangsvollstreckung aufgenommen Union als rechtsverbindliche Version einzuführen.
wurden, die mitnichten mit dem Gesetzgebungsgrund
oder auch den Gesetzgebungszielen, den elektronischen Bei allen Vorteilen dürfen wir aber nicht außer Acht
Bundesanzeiger festzuschreiben, verknüpfbar sind, ist lassen, dass nicht alle Bürger am technischen Fort-
der erforderliche Sachzusammenhang nicht gegeben. schritt gleichermaßen teilhaben. Deshalb müssen wir
Durch Annahme dieses Änderungsantrages und Vorlage gewährleisten, dass auch Nichtinternetnutzern der Zu-
zum Plenum verstößt der Rechtsausschuss gegen seine griff auf den Bundesanzeiger möglich bleibt. Niemand
Pflicht aus § 62 Geschäftsordnung des Bundestages und darf aufgrund technischer Barrieren vom Informations-
maßt sich das Gesetzgebungsinitiativrecht des Art. 76 zugang ausgeschlossen werden oder Nachteile erleiden.
Abs. 1 Grundgesetz an. Das ist nicht hinnehmbar.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht hierzu
Die Linke kann nicht sehenden Auges einem nicht vor, dass Ausdrucke einzelner Veröffentlichungen des
verfassungsgemäß entstandenen Gesetzentwurf die Zu- Bundesanzeigers gegen ein angemessenes Entgelt beim
stimmung erteilen und muss demnach unabhängig von Betreiber des Bundesanzeigers bezogen werden können.
den inhaltlichen Erwägungen leider mit Ablehnung vo- Der Zugang zur elektronischen Version ist demgegen-
tieren. über kostenfrei. Menschen ohne Internetzugang sind in
der Regel ältere Personen oder Personen, die in sehr
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ländlichen Gegenden leben. Für diese ist häufig auch
Das Internet und andere elektronische Medien gewin- der Zugang zu einer Bibliothek nicht ohne Weiteres mög-
nen in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung. lich. Wir müssen darauf achten, dass das verlangte Ent-
Über das Internet können wir auf eine unendliche Fülle gelt für einen Ausdruck des Bundesanzeigers tatsächlich
(B) von Dokumenten zugreifen. Die Informationsbeschaf- „angemessen“ ist. Kosten, die über Bearbeitungsgebüh- (D)
fung ist auf diese Weise leichter und vor allem schneller ren und Porto hinaus gehen, sind nach meiner Ansicht
geworden. Im Laufe der Zeit haben wir uns immer wie- eine unzulässige Diskriminierung der Menschen, die
der neuen technischen Herausforderungen gestellt und keinen Internetzugang haben. Dem müssen wir vorbeu-
haben unser Leben daran angepasst. E-Mails haben bin- gen.
nen kürzester Zeit dem Briefverkehr den Rang abgelau-
fen. Eine komplett neue Infrastruktur der Kommunika- Mit dem Gesetzentwurf haben wir die Möglichkeit,
tion hat sich eröffnet. Wer kann sich heute noch eine Erfahrungen mit Onlineveröffentlichungen zu sammeln.
Welt ohne elektronische Medien vorstellen? Diese Erfahrungen können wir auch dazu nutzen,
Onlineveröffentlichungen weiterer amtlicher Blätter,
Auch die deutsche Verwaltung und Justiz haben sich wie zum Beispiel des Bundesgesetzblattes, anzustoßen.
den Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation Die Elektronisierung von Dokumenten ist zwar keine
gegenüber aufgeschlossen gezeigt. Eine klare Tendenz neue Idee, jedoch kann sie für die elektronische Veröf-
zur verstärkten Nutzung elektronischer Kommunika- fentlichung von Bundesblättern ein Pilotprojekt bilden.
tionsformen ist erkennbar. Nicht umsonst entstehen neu-
deutsche Begriffe wie „E-Justice“, die elektronische Wir sollten zukunftsgerichtet denken und uns neuen
Justiz. Als erfolgreiches Beispiel der elektronischen Jus- Möglichkeiten nicht verschließen. Gleichzeitig sollten
tiz möchte ich hier das EGVP nennen – das Elektroni- wir uns vom technischen Fortschritt nicht unter Druck
sche Gerichts- und Verwaltungspostfach. Das EGVP ist setzen lassen. Ein Vorgehen Schritt für Schritt halte ich
eine Software, die es Verfahrensbeteiligten ermöglicht, an dieser Stelle für den richtigen Weg.
mit Gerichten, Behörden und untereinander elektroni-
sche Nachrichten schnell und sicher auszutauschen. Vizepräsident Eduard Oswald:
Zum einen macht dies eine effizientere Bearbeitung bei
den Gerichten und Behörden möglich. Zum anderen er- Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
leichtert es den Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
Gericht und Behörden. Mitte dieses Jahres waren bereits sache 17/7560, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
45 000 Nutzer des EGVP registriert, wie dem Internet zu auf Drucksache 17/6610 in der Ausschussfassung anzu-
entnehmen ist. nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
Die elektronische Fassung des Bundesanzeigers ist zeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen, Bünd-
bereits heute jedem Internetnutzer frei zugänglich. Die nis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer
Onlineversion erleichtert nicht nur den Zugriff auf den stimmt dagegen? – Das ist die Linksfraktion. Vorsichts-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16627
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) halber frage ich: Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzent- desregierung die Konvention von Oslo sehr schnell ge- (C)
wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. zeichnet hat und wir sie im Jahr 2009 ratifiziert haben.
Wir sind alle sehr froh darüber, dass wir vorfristig mit
Dritte Beratung der Vernichtung dieser grausamen Munition fertig sein
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem können.
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – In dem Protokoll, über das ich hier rede, geht es auch
Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grü- um Streubomben. Man muss sagen: „immer noch“; denn
nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – bereits 2008 wurde deutlich, dass ein Verbot von Streu-
Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Der munition nicht in die UN-Waffenkonvention aufgenom-
Gesetzentwurf ist angenommen. men würde. Daraufhin hat die norwegische Regierung
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 a und b auf: den sogenannten Oslo-Prozess initiiert. Es entstand ein
Übereinkommen zum Verbot von Streumunition außer-
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta halb der Genfer Abrüstungskonferenz. Ich zitiere den
Zapf, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger, Außenminister. Minister Westerwelle nannte diese Kon-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD vention einen „Meilenstein hin zu einer weltweiten Äch-
sowie der Abgeordneten Agnes Malczak, Volker tung dieser unmenschlichen Waffen“. Jetzt will ebendie-
Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer ser Außenminister der Konvention jegliche Wirkung
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ rauben, indem er bei der anstehenden vierten Revisions-
DIE GRÜNEN konferenz vom 14. bis 25. November dieses Jahres in
Gegen eine Aufweichung des Verbots von Genf einem zahnlosen Protokoll zustimmen will. Mir
Streumunition will die Logik eines solchen Verhaltens einfach nicht in
den Kopf.
– Drucksache 17/7637 –
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Höger, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Das von uns ratifizierte Abkommen von Oslo be-
inhaltet ein umfassendes Verbot dieser grausamen
Streumunition nicht wieder zulassen – Gegen Waffe, die Zivilisten, Kinder, Alte und Junge ohne Un-
ein Protokoll über Streumunition zum CCW terschied tötet, und dies noch Jahre nach Abwurf. Im-
merhin 111 Staaten haben die Konvention unterzeichnet;
– Drucksache 17/7635 –
viele EU- und NATO-Staaten sind dabei. Nur die ganz
(B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die großen Staaten und Besitzer dieser Waffen, vor allen (D)
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Sie sind da- Dingen die USA, Russland und China, aber auch Indien,
mit einverstanden. Damit ist das so beschlossen. Pakistan und einige andere – sie produzieren und ver-
kaufen diese Munition und wenden diese an –, sind nicht
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für dabei. Sie sind es, die auf eine Miniversion des Verbots
die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau im UN-Kontext drängen. Durch dieses Protokoll würde
Uta Zapf. – Bitte schön, Frau Kollegin Uta Zapf. ihre Weigerung, auf diese inhumane Waffe zu verzich-
ten, legitimiert. Ich glaube, das können wir nicht wollen.
Uta Zapf (SPD):
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
haben uns in diesem Jahr schon mehrfach mit dem Thema
LINKEN)
Streumunition beschäftigt. Im Mai und im September
haben wir ein Round-Table-Gespräch mit Vertretern von Die Oslo-Konvention hat in hohem Maße zur Delegi-
Nichtregierungsorganisationen zum Thema Investi- timierung und Stigmatisierung von Streumunition beige-
tionsverbot in Firmen, die Streumunition herstellen, tragen. China und Russland nehmen zum Beispiel als
durchgeführt. Am 20. Oktober dieses Jahres haben wir Beobachter an den Konventionskonferenzen teil. Beide
die Reden zu diesem Antrag zu Protokoll gegeben. Heute sind nicht Vertragsstaaten und haben hohe Bestände an
reden wir zwar zu später Stunde darüber, aber ich glaube, Streumunition. Die USA verzichten seit geraumer Zeit
es ist gut, dass wir die Reden heute nicht zu Protokoll ge- auf den Einsatz dieser Waffen.
ben; denn dieses Thema ist von großer Wichtigkeit.
In dieser Situation soll im November im Rahmen der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Convention on Certain Conventional Weapons, CCW,
DIE GRÜNEN sowie der Abg. Inge Höger über Streumunition verhandelt werden. Das erst 2011,
[DIE LINKE]) also kürzlich erneuerte Mandat soll sich – ich zitiere –
„mit der humanitären Problematik durch Streumunition
Ein Aspekt im Zusammenhang mit Streumunition ist … befassen und dabei eine Balance zwischen militäri-
in der heutigen Debatte von ganz besonderer Brisanz: schen und menschenrechtlichen Gesichtspunkten …
Der Inhalt und der Geist des von uns allen hochgelobten wahren“. Schon dieser Satz ist eine Ungeheuerlichkeit.
Oslo-Abkommens zum Verbot von Streumunition steht
auf dem Spiel. Die Convention on Cluster Munition, Das, was vorgeschlagen wird, ist noch ungeheuerli-
CCM, wurde von uns, vom Deutschen Bundestag, ein- cher. Künftig wäre wieder erlaubt, was von der Oslo-
dringlich gefordert. Wir waren alle froh, dass die Bun- Konferenz verboten wurde. Nur wenige Einschränkun-
16628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Uta Zapf
(A) gen werden auferlegt. Produktion und Transfer bleiben Schnurr [FDP]: Das wird so oder so passie- (C)
erlaubt. Nur Streumunition, die vor 1980 hergestellt wor- ren!)
den ist, wird verboten; alles andere bleibt erlaubt. Die
Munition, die vor 1980 hergestellt wurde, hat eine Über- Vizepräsident Eduard Oswald:
gangsfrist von zwölf Jahren. Dies ist ein Nullverbot, weil Vielen Dank, Frau Kollegin Zapf. – Nächster Redner
derart überalterte Munition heute ohnehin nicht mehr ein- ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Erich
gesetzt wird. Der Text des Entwurfes erlaubt darüber hi- Fritz. Bitte schön, Kollege Erich Fritz.
naus die Nutzung für weitere zwölf Jahre. Sollte dies be-
schlossen werden, werden alle der Oslo-Konvention (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nicht beigetretenen Länder leichten Gewissens wieder neten der FDP)
Streumunition verwenden.
Streumunition mit einer Fehlerquote von bis zu 1 Pro- Erich G. Fritz (CDU/CSU):
zent mit integriertem Sicherheitsmechanismus wäre er- Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
laubt. Aber Fehlerquoten sind im Test realistisch nicht und Herren! Abrüstungsschritte und die Ächtung von be-
feststellbar. Im Libanon wurde 2006 die M 85 eingesetzt, stimmten Waffen auf unterschiedlichen Feldern waren in
die eine Fehlerquote von unter 1 Prozent haben sollte; den letzten Jahren weltweite Erfolge; da sind wir uns ei-
tatsächlich kam es bei ihrem Einsatz zu 15 Prozent nig. Wir sind uns auch darin einig, dass es keinen Ein-
Blindgängern. satz von Streumunition mehr geben soll und dass wir mit
aller Entschiedenheit für die Beseitigung dieser Waffen
Ein solches Protokoll ist in der Tat eine Nulllösung. kämpfen wollen. Das sind Waffen, die von der Welt ver-
Die humanitäre Frage wird nicht gelöst. Im Gegenteil: schwinden müssen.
Es gibt keine konkrete Verpflichtung zur Opferunterstüt-
zung, zur Munitionsbeseitigung, zur Lagerbestands- Diese eindeutige Position Deutschlands wird nicht al-
auflösung usw. Mit diesem Protokoll wird also alles, was lein daran deutlich, dass hierzulande keine Produktion
in Oslo beschlossen wurde, wieder rückgängig gemacht. solch inhumaner Waffen stattfindet. Tatsache ist auch,
Es ist richtig – dieses Argument wird jetzt natürlich ge- dass Deutschland einen erheblichen Beitrag dazu geleis-
nannt werden –: Deutschland bleibt selbstverständlich an tet hat, dass wir mit dem CCM-Protokoll bzw. der Oslo-
die hohen Standards von Oslo gebunden. Deutschland Konvention vorankommen. Dieser völkerrechtliche Ver-
gäbe aber den USA, China, Russland, Pakistan, Israel trag beinhaltet das Verbot des Einsatzes, der Herstellung
und noch einigen anderen, die ein Zusatzprotokoll über und der Weitergabe bestimmter Typen von konventionel-
Streumunition abgelehnt haben, einen Freibrief, ohne ler Streumunition und ist am 1. August 2010, wie Frau
Kollegin Zapf schon gesagt hat, in Kraft getreten – ein
(B) schlechtes Gewissen in die Steinzeit der Streumunition wichtiger Schritt, den man nicht hoch genug einschätzen (D)
zurückzufallen.
kann.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Wünschenswert wäre nun, dass die weltweite Staaten-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gemeinschaft den CCM-Vertrag ratifiziert. Das ist nach
Die Argumentation, man hole diese Staaten näher an unserer Auffassung das Ideal. Auch mit noch so viel Ide-
die Oslo-Standards heran, kann ich angesichts dieses alismus ist an dieser Stelle aber leider eine eindeutige
mickrigen Entwurfs nun wirklich nicht teilen. Ich zitiere Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen: Gegenwärtig er-
aus dem Abrüstungsbericht: Die Bundesregierung glaubt, fasst das Übereinkommen nur 10 bis 20 Prozent der
„substanzielle Verpflichtungen der großen Herstellerlän- weltweiten Streumunitionsbestände. Deshalb frage ich:
der und einen deutlichen humanitären Mehrwert“ zu er- Was muss man angesichts der Gewissheit, dass einige
zielen, der „die weltweite Streumunitionssituation ent- Staaten das CCM-Übereinkommen nicht, zumindest
scheidend verbessern“ wird. Das glaube ich nicht. Das ist nicht kurz- oder mittelfristig, ratifizieren werden, tun?
auch nicht zu erwarten. Der Vertreter eines Landes, das Was der Vertreter eines dieser Länder in aller Offenheit
über große Bestände verfügt, nämlich der russische UN- gesagt hat, haben wir gerade gehört.
Botschafter Antonov, hat zu diesem Entwurf – er nennt Hier wird im Prinzip die Schwäche plurilateraler Ab-
ihn „Verbotsvertrag“ – gesagt, dieser Verbotsvertrag kommen sichtbar. Häufig sind die Gutwilligen die Ver-
dürfe Russlands Verteidigungsfähigkeit in Bezug auf den tragspartner, aber die, auf die es besonders ankäme, ste-
Einsatz von Streumunition nicht beeinträchtigen und hen, weil sie scheinbar bedeutende Interessen wahren
keine finanziellen Konsequenzen für sein Land haben, wollen, abseits.
und alle technischen Vorschriften des Verbotsvertrages
müssten unverbindlich formuliert sein. (Uta Zapf [SPD]: Immerhin die Hälfte der
NATO-Staaten!)
Ich fordere die Bundesregierung auf, über einen sol-
chen Entwurf nicht zu verhandeln, sich dem zu verwei- Wie soll man das überbrücken? Das ist die Kunst.
gern und damit die Oslo-Kriterien, die wir erkämpft und Das Protokoll VI zum Übereinkommen der Vereinten
unterschrieben haben, zu schützen und beizubehalten. Nationen über bestimmte konventionelle Waffen, CCW,
Ich danke Ihnen. bleibt hinter den restriktiven Festlegungen des Vertrags
von Oslo zurück. Hier gibt es keine Fehldeutung; das ist
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem eine Tatsache. Dennoch ist die Umsetzung dieses Proto-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christoph kolls nach unserer Auffassung wünschenswert, da es den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16629
Erich G. Fritz
(A) einzigen zurzeit möglichen Einstieg in ein weltweites Verbots von Streumunition, indem sie das VN-Protokoll VI (C)
und mit der Autorität eines UN-Abkommens ausgestat- blockieren. Dabei führt dieses Protokoll dazu, dass Staa-
tetes Streumunitionsregime darstellt. Ein solches mit ten, die das CCM-Übereinkommen noch nicht unter-
dieser Bedeutung gibt es bisher nicht. Es wäre nicht all- zeichnet haben, zumindest gewisse Limitierungen und
umfassend – klar – und erreichte nicht das Niveau des Reglements beachten.
Oslo-Abkommens, aber erstmals wäre die Teilnahme
und Zustimmung von Russland und den Vereinigten (Beifall des Abg. Christoph Schnurr [FDP])
Staaten möglich.
Mir wäre es auch lieber, die anderen Staaten hätten
(Christoph Schnurr [FDP]: Völlig richtig!) das Oslo-Übereinkommen ratifiziert. Ich glaube, nie-
mand hier hat eine andere Vorstellung. Genau deshalb
Ein multilateraler Ansatz unter Einbindung der Groß- hat die Bundesregierung seit 2008 viele diplomatische
mächte – das wäre ein solcher – brächte uns also einen Versuche unternommen, mehr Staaten von der Ratifizie-
Schritt in die richtige Richtung. Multilaterale Regeln rung des CCM zu überzeugen. Aber Sie wissen, wer mit
würden die Politik gegen Streumunition auf eine neue, welchen Interessen und aus welchen mehr oder weniger
qualitativ höhere Stufe stellen. nachvollziehbaren Gründen das nicht getan hat.
Erstens wird ein sofortiges Verbot von Streumunition, Wenn wir jetzt auf die Rolle Deutschlands innerhalb
die vor 1980 hergestellt wurde, erreicht. Sie ist zu zerstö- der Vereinten Nationen eingehen, dann ist es vielleicht
ren. Das kann man bagatellisieren, und darüber kann wichtig, zu erwähnen, dass angesichts unserer derzeiti-
man auch gut diskutieren, aber das ist ein Zugeständnis, gen Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat und des deut-
das nicht zu erwarten war und mit dem wir uns zunächst schen Bestrebens, in den VN mehr Verantwortung zu
einmal doch zufrieden zeigen können. übernehmen, auch ein besonderes deutsches Interesse an
der Stärkung der Vereinten Nationen und seiner Institu-
Zweitens gibt es ein Verbot jeder nach 1980 herge-
tionen besteht.
stellten Streumunition ohne Sicherheitsmechanismus.
Da wir eine bestimmte Einschätzung dieser Waffen ha- (Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ben, tröstet uns das nicht sehr. Staaten, die diese Bedin- NEN]: Das ist eine Schwächung, wenn das so
gungen nicht sofort erfüllen können, werden für nach durchkommt!)
1980 produzierte Streumunition Übergangsfristen er-
möglicht. Sie haben gleich die höchstmögliche ange- Ein Scheitern der Verhandlungen im November, das
führt. Eigentlich sollen es für Gebrauch, Lagerung und durch die Anträge in Kauf genommen oder sogar geför-
Rückbehalt acht Jahre sein – einmalig um vier Jahre ver- dert wird, würde nicht nur eine Abwertung der Vereinten
(B) längerbar. Für eine Weitergabe von Streumunition, also Nationen im Allgemeinen, sondern auch des CCW, also (D)
den Transfer, den Sie angesprochen haben, Frau Zapf, des UN-Protokolls, als wichtigem Forum der Vereinten
sowie für deren Beschaffung und Produktion sind Über- Nationen im Besonderen nach sich ziehen. Das gilt es
gangsfristen dagegen nicht vorgesehen. Hier müssen Sie auf jeden Fall abzuwenden. Im Gegenteil müssen wir
noch einmal hinschauen. versuchen, dieses Protokoll mit einer höchstmöglichen
Autorität auszustatten. Durch das VN-Protokoll werden
Nicht zu verachten ist, dass die quantitative Wirkung erstmals auch Verbotsstandards für die großen Hersteller
des Protokolls von Anfang an deutlich höher wäre als die geschaffen.
des gesamten Oslo-Übereinkommens. Eben dies ist der
entscheidende Punkt. Wichtig ist im Ergebnis doch nicht Jetzt wird es vielleicht ein bisschen technisch: Eine
die Anzahl der Staaten, die mitmachen, sondern die klar definierte Bemühensklausel würde diese großen
Menge an Munition, die keine Gefährdung mehr darstel- Hersteller dazu verpflichten, sich in Zukunft auf stärkere
len kann. Verbote einzulassen. Sie wissen doch selbst, auf welche
Prozesse man sich einlassen muss und dass man gedul-
(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das ist dig sein muss, um solche Ziele zu erreichen. Alleine die
die Richtung, in die es jetzt geht! – Agnes Forderung, man müsse sich auf das einlassen, was wir
Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es für richtig halten, ist ja leider kein besonders guter Bei-
geht ja um die Wirkung!) trag zur Lösung dieser Probleme. Ich plädiere deshalb
– Auch das, ja, klar. dafür, dass Deutschland in den Verhandlungen den Fo-
kus auf eine Verschärfung der aktuellen Bemühensklau-
Der potenzielle Einsatz der ältesten und unzuverläs- sel legt. Es war Deutschland, das diese für meine Be-
sigsten Streumunitionstypen sowie deren Weiterverbrei- griffe schon starke Brücke zwischen CCM und CCW in
tung würde zumindest stark begrenzt. Das kann einem die Verhandlungen eingebracht hat.
zu wenig sein und ist uns allen zu wenig. Wenn diese
Möglichkeit aber besteht, dann ist es doch allein aus hu- Man bedenke, dass alleine die USA 300 Millionen
manitären Aspekten geboten, sie auch zu nutzen. Stück Submunition zerstören müssten. Das ist mehr als
doppelt so viel Streumunition, wie alle Oslo-Vertrags-
(Christoph Schnurr [FDP]: Ja!) staaten zusammen zerstören müssen.
Die hier eingebrachten Anträge sind hingegen Status- (Christoph Schnurr [FDP]: So ist es, ja!)
quo-orientiert und somit leider wenig konstruktiv. Ich
meine sogar, sie mindern die Durchsetzungsfähigkeit des Das ist doch eine Hausnummer.
16630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Erich G. Fritz
(A) (Christoph Schnurr [FDP]: Das ist ein Meer an Das Oslo-Übereinkommen hat für die Vertragsstaaten (C)
Vernichtung! – Uta Zapf [SPD]: Und was dür- also weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit. Ein künfti-
fen sie behalten?) ges Protokoll VI würde diesen früheren Normenstandard
des CCM nicht unterminieren. Ich wünsche mir, dass zu-
– Sie gehen ja davon aus, dass mit einem solchen Proto- mindest dies als gemeinsame Einschätzung festgehalten
koll der ganze moralische Druck sozusagen weggenom- werden kann.
men wird. Das bestreite ich.
Ferner heißt es in dieser Einschätzung: Die spätere
(Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Annahme eines schwächeren Vertrages kann die pro-
NEN]: Das ist naiv!) gressive Weiterentwicklung rechtlicher Standards durch-
aus bedingen. Der VN-Protokollentwurf ist hierfür ein
Wir dürfen über dem Wünschenswerten nicht das gutes Beispiel; denn nur mit den darin enthaltenen Zuge-
Mögliche aus den Augen verlieren. Insofern liegt es in ständnissen wird es gelingen, Staaten, die zu den wich-
unserem Interesse, wenigstens einen Großteil der Streu- tigsten Herstellern, Exporteuren und Besitzern von
munitionsbestände so schnell wie möglich zu vernichten Streumunition gehören, zur Ratifizierung des Protokolls
und die bestehende Lücke jenseits der Oslo-Zeichner zu zu bewegen. – Anders als bei der Mehrzahl der Oslo-
schließen. Die legitime Forderung nach universeller Staaten hätten wir es hier mit genau den Staaten zu tun,
Übernahme der CCM-Standards ist weiterhin unser Be- die über erhebliche Mengen an Streumunition verfügen.
streben. Daran halten wir fest. Meines Erachtens steht Das VN-Protokoll setzt zwar schwächere, aber neue An-
das aber nicht im Widerspruch zu den Verhandlungen reize für die Staaten, die große Bestände an Streumuni-
über ein VN-Protokoll. tion haben.
Es gibt auch keine Hinweise dafür, dass mit der An- Ich glaube, dass der eigentliche Wert des CCM-Ab-
nahme des VN-Protokolls eine verminderte Stigmatisie- kommens ein hoher moralischer Anspruch an diejenigen
rungswirkung einhergehen würde. ist, die nicht beteiligt sind, und ein Appell, sich zu bewe-
gen. Dies wird durch eine Weiterbehandlung in diesem
(Uta Zapf [SPD]: Natürlich! Was denn sonst?)
UN-Protokoll eher verstärkt als verringert. Unser ge-
Ganz im Gegenteil belegt das Nebeneinander von AP II meinsames Ziel bleibt, dass ein vollständiges Verbot von
und Ottawa-Konvention in der ähnlich gelagerten Frage Streumunition am Ende des Prozesses steht. Für uns ist
des Verbots von Antipersonenminen, dass auf einer das UN-Protokoll dazu ein wichtiger Schritt, den wir un-
solch zweigleisigen Strecke Fortschritte möglich sind. terstützen.

Rechtlich – so entnehme ich einer juristischen Exper- Danke schön.


(B) teneinschätzung – schließen sich das VN-Protokoll und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
die CCM-Standards nicht aus. Ich war nicht bei der An-
hörung, sondern habe das nur nachgelesen. Dabei hat Vizepräsident Eduard Oswald:
mich die Darstellung von Frau Dr. Jana Hertwig vom
Vielen Dank, Kollege Erich Fritz. – Jetzt für die Frak-
Bochumer Institut für Friedenssicherungsrecht und Hu-
tion Die Linke unsere Kollegin Frau Inge Höger. Bitte
manitäres Völkerrecht überzeugt. Sie erklärte: Das Wie-
schön, Frau Kollegin Inge Höger.
ner Übereinkommen über das Recht der Verträge aus
dem Jahre 1969 hält für den Fall, dass Staaten Vertrags- (Beifall bei der LINKEN)
parteien aufeinander folgender Verträge über denselben
Gegenstand sind, eine entsprechende Regelung in Inge Höger (DIE LINKE):
Art. 30 Abs. 2 bereit. Dort heißt es: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Streumu-
Bestimmt ein Vertrag, dass er einem früher … ge- nition macht ganze Regionen unbewohnbar. Dies gilt im
schlossenen Vertrag untergeordnet ist …, so hat der Krieg und lange danach. Nicht explodierte Reste von
andere Vertrag Vorrang. Streumunition zerfetzen Bauern bei der Feldarbeit und
verstümmeln Kinder beim Spielen.
Der VN-Protokollentwurf enthält ausdrücklich eine In diesem Sommer habe ich Minenräumer in Sarajevo
solche Bestimmung, in welchem Verhältnis das Proto- besucht. Ich konnte mich mit eigenen Augen davon
koll zum Oslo-Übereinkommen stehen soll. In Art. 1 überzeugen, wie kompliziert, wie opferreich und wie
Ziff. 3 heißt es, dass das Protokoll die Rechte und Pflich- teuer die Beseitigung von Geschossresten ist. Deutsch-
ten der Vertragsstaaten des Oslo-Übereinkommens nicht land hat angekündigt, auch in Libyen Minen räumen zu
beeinträchtigt. Oslo geht vor! wollen. Das ist gut. Aber viel besser ist es, dafür zu sor-
(Uta Zapf [SPD]: Das habe ich doch gesagt! gen, dass solche Waffen gar nicht erst zum Einsatz kom-
Aber was hilft das?) men.
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist wichtig. Deshalb ist es keine Relativierung, son-
dern der Versuch der Einbeziehung derer, die bis jetzt Streumunition tötet unterschiedslos Soldaten und An-
abseits gestanden haben und die wir durch kein Mittel gehörige der Zivilbevölkerung. Die meisten Opfer sind
der Welt außer über den Schritt eines gemeinsamen Pro- Zivilisten, häufig Kinder. Solche Waffen und solche For-
tokolls mit der Autorität der UNO in dieses System men der Kriegsführung verbietet das humanitäre Völker-
hineinbekommen. recht eindeutig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16631
Inge Höger
(A) Deswegen war es überfällig, dass im April 2009 auch Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: Stim- (C)
der Bundestag einstimmig beschloss, die Ächtung von men Sie nächste Woche gegen das CCW-Zusatzproto-
Streumunition durch die Ratifizierung der Oslo-Konven- koll!
tion umzusetzen. Für die Linke habe ich damals erklärt,
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
dass wir diesen Schritt ausdrücklich unterstützen. Wir
Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])
haben aber auch darauf hingewiesen, dass es für die Zu-
kunft gilt, noch einige Lücken, die in der Konvention
enthalten sind, zu schließen und Ausnahmeregelungen Vizepräsident Eduard Oswald:
ebenfalls zu verbieten. Vielen Dank, Frau Kollegin Höger. – Jetzt für die
Fraktion der FDP unser Kollege Christoph Schnurr. Bitte
Doch nun wird auf UN-Ebene mit Unterstützung schön, Kollege Christoph Schnurr.
Deutschlands über Regelungen verhandelt, die komplett
in die falsche Richtung gehen. Ich spreche vom Proto- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
koll VI zum Übereinkommen über bestimmte konventio- der CDU/CSU)
nelle Waffen. Um es klar zu sagen: Was nächste Woche
beschlossen werden soll, würde Streumunition wieder Christoph Schnurr (FDP):
legalisieren. Das steht im Widerspruch zum Völkerrecht. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
Das sogenannte CCW-Protokoll würde lediglich ver- möchte mit einem Rückblick in eine Zeit beginnen, in
altete Typen von Streumunition verbieten, und selbst der ein Krieg herrscht. In diesem Krieg kommt eine
diese würden wegen langer Übergangsfristen nicht so- Waffe zum Einsatz, deren Folgen dramatisch sind. In ih-
fort aus den Arsenalen der Militärs verschwinden. Profi- rer Wirkung unterscheidet die Waffe nicht zwischen Zi-
tieren würde von dieser Regelung die Rüstungsindustrie. vilisten und Soldaten. Sie tötet unterschiedslos. Auch
Sie könnte sich über Aufträge für neue Generationen von Jahre nach ihrem Einsatz bleiben die betroffenen Ge-
Streumunition freuen. Das ist doch perfide. biete weitgehend unbewohnbar.

Bis jetzt war die Oslo-Konvention zum Verbot von Die Folgen sind so erschütternd, dass sich die Weltge-
Streumunition ein großer Erfolg. 111 Staaten sind ihr be- meinschaft zum Handeln gezwungen sieht. Die große
reits beigetreten. Andere Staaten wie USA, China, Russ- Mehrheit der Staaten verpflichtet sich dazu, solche Waf-
land, Israel und Indien haben dies zwar noch nicht getan, fen niemals mehr zu entwickeln, zu erwerben und schon
doch der internationale Druck auf diese Staaten und der gar nicht einzusetzen.
Druck von Aktivistinnen und Aktivisten innerhalb dieser Ein paar wenige Staaten sind aber nicht bereit, auf
Staaten ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. diese Waffenkategorie zu verzichten. Auch sie möchten
(B) Dieser Druck, internationales Recht und humanitäre die Waffen nicht unbedingt einsetzen. Die Option für (D)
Standards einzuhalten, ist ein wichtiges Instrument zur den Ernstfall wollen sie sich trotzdem offenhalten. Ei-
Erreichung politischer Fortschritte. Das CCW-Protokoll nige Jahre später einigen sich die größten Besitzerstaaten
würde diesen politischen Druck verringern. Es relativiert auf einen Kompromiss. Zwar wollen sie die Waffen
völkerrechtliche Standards und suggeriert, der Einsatz nicht sofort aufgeben, sie verpflichten sich aber, ihre Be-
bestimmter Arten von Streumunition wäre völkerrechts- stände deutlich zu reduzieren. Politik, Wissenschaft,
konform. Das ist er nicht. Der Einsatz von Streumunition Nichtregierungsorganisationen und die Medien sind sich
ist und bleibt ein Verbrechen. weitestgehend darüber einig: Das ist – bei aller verblei-
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. benden und berechtigten Kritik – ein Fortschritt.
Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]) Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben es si-
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf: Bitte cherlich bemerkt: Ich spreche nicht von Streumunition,
unterlassen Sie alles, was ein Ende der Ächtung von sondern ich spreche über Kernwaffen. Was aber hätte ich
Streumunition bedeuten könnte! ändern müssen, wenn ich über Streumunition gespro-
chen hätte? Nicht besonders viel! Es gibt noch keinen
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch etwas zum Kompromiss der größten Streumunitionsbesitzer, wie
Agieren der anderen Fraktionen im Bundestag anmer- der Kollege Fritz es völlig zu Recht erwähnt hatte. Vor
ken. Die Regierungsfraktionen haben offenbar verges- allem aber: Allein die Möglichkeit eines solchen Kom-
sen, dass Deutschland sich mit der Ratifizierung der promisses ruft bereits heute Abend hier bei der Opposi-
Oslo-Konvention verpflichtet hat, andere Staaten nicht tion und einigen anderen Empörung hervor. Diese Hal-
dabei zu unterstützen, etwas zu unternehmen, was durch tung haben Sie in diese beiden Anträge gegossen, die wir
die Oslo-Konvention verboten ist. heute diskutieren. Sie fordern darin zum Beispiel, die
Bundesregierung solle sich – so wörtlich – entschieden
(Dorothée Menzner [DIE LINKE]: Richtig!)
jedem Abkommen zu Streumunition entgegenstellen,
Durch die Zustimmung zum CCW-Zusatzprotokoll welches einen Rückschritt gegenüber der CCM darstellt.
machen Sie aber genau dies. Die FDP hätte sich an ihrer (Inge Höger [DIE LINKE]: Genau!)
Schwesterpartei in der Schweiz orientieren können, de-
ren Antrag wir hier fast wortgleich einbringen. Die Ein Rückschritt wäre es aus Ihrer Sicht wahrschein-
Linke ist daran interessiert, den großen Konsens zur lich auch, wenn das Protokoll nicht identisch mit der
Ächtung von Streumunition aus dem Jahr 2009 auch CCM wäre. Dass es zu einem mit der CCM identischen
weiter aufrechtzuerhalten. Protokoll kommt, ist aber von der Realität weit entfernt
16632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Christoph Schnurr
(A) und nahezu absurd. Da frage ich mich: Warum wurden tiert. Aber wir müssen auch die Realität anerkennen. Wir (C)
die Verhandlungen in der CCW dann überhaupt aufge- müssen fähig zu Kompromissen sein und sollten uns
nommen? Sie, insbesondere die Kolleginnen und Kolle- nicht schon im Vorfeld den Weg zu einem solchen Kom-
gen der Sozialdemokratie, hätten das 2007 und 2008 ver- promiss verbauen.
hindern können, als es noch einen sozialdemokratischen
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Außenminister gab. Ich mache Ihnen das nicht zum Vor-
wurf, keinesfalls. Aber damals wie auch heute ist die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
CCW nicht nur ein Forum und ein Instrument, um das
Thema Streumunition auf der internationalen Agenda zu Vizepräsident Eduard Oswald:
halten, sondern eben auch ein Instrument, um Druck auf
Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt spricht für die
die Streumunitionsbesitzer auszuüben. Die Verhandlun-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau
gen über ein Protokoll sollen auch ganz konkret auf die
Agnes Malczak. Bitte schön, Frau Kollegin Malczak.
weltweite, rechtlich verbindliche Ächtung von Streumu-
nition hinwirken. In den Vorbereitungssitzungen zur
CCW-Überprüfungskonferenz wurde ein Protokollent- Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
wurf diskutiert, demzufolge Streumunition, die vor 1980 Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Früh-
produziert wurde, verboten werden soll. Aus meiner jahr 2009 hat sich der Deutsche Bundestag einstimmig
Sicht ist das allein nicht ausreichend. zu einem umfassenden Verbot von Streumunition be-
kannt, und das aus gutem Grund. Die Oslo-Konvention
Trotzdem muss man sich auch die Dimension dieses ist ein Meilenstein hin zu einer weltweiten Ächtung die-
Vorschlages einmal vergegenwärtigen. Allein die Verei- ser unmenschlichen Waffe, die fast ausschließlich zivile
nigten Staaten müssten circa 40 Prozent oder, in absolu- Opfer fordert, darunter vor allem Kinder. Die Oslo-Kon-
ten Zahlen, 300 Millionen Stück ihrer Submunition ver- vention hat bereits jetzt maßgeblich zu einer internatio-
nichten. Das wäre fast die doppelte Menge dessen, was nalen Stigmatisierung von Streumunition beigetragen,
von den Oslo-Staaten zerstört werden muss. Dazu kom- und zwar weit über den Kreis der Vertragsstaaten hinaus.
men andere Verpflichtungen wie die zur Opferfürsorge
und zur Räumung von Kampfmittelrückständen. Wenn (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
der Protokolltext noch verbessert werden wird, kann es DIE GRÜNEN)
also durchaus einen humanitären Mehrwert geben. Auch große Anwenderländer, die der Konvention nicht
Ich will Ihnen noch ein Beispiel nennen, warum ein beigetreten sind, wie die USA, China oder Russland,
Streumunitionsprotokoll nicht die Katastrophe wäre, als verzichten mittlerweile auf den Einsatz. Das ist ein Be-
die Sie es gerne darstellen: die Abkommen zu Antiperso- leg dafür, dass das Oslo-Übereinkommen wirkt.
(B) (D)
nenminen. Auf der einen Seite haben wir die Ottawa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konvention, auf der anderen Seite das Protokoll II zur und bei der SPD)
CCW. Obwohl hier zwei unterschiedlich starke Regelun-
gen nebeneinanderstehen, wirkt die Stigmatisierung Was wirkt, bewirkt jedoch oft Widerstand bei jenen,
durch das stärkere Abkommen, nämlich die Ottawa- die sich an der Wirkung stoßen. Gerade weil das Oslo-
Konvention, fort. So könnte es auch im Fall der Streu- Übereinkommen wirksam ist, ist es bedroht. Wenn wir
munition funktionieren. wollen, dass die völkerrechtlichen Standards, für die wir
lange gekämpft haben, erhalten bleiben, müssen wir sie
Ich kenne natürlich Ihre Einwände: Im Gegensatz zur immer wieder gegen Widerstände verteidigen.
Regelung bei Antipersonenminen würde bei der Streu-
munition das schwächere dem stärkeren Abkommen fol- (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Für wen galten sie
gen. Sie folgern daraus, dass die Stigmatisierung von denn bisher?)
Oslo verloren ginge. Zu dieser Einschätzung kann man
Die großen Hersteller- und Besitzerstaaten sind nun da-
kommen, ja; belegen lässt sie sich allerdings nicht.
rum bemüht, die Wirkung Oslos auf sie selbst auszuhe-
Ich komme deshalb zu einer anderen Bewertung – die beln. Wie man das am besten macht, lässt sich zurzeit in
Gründe dafür habe ich gerade dargelegt –: Ein Streumu- Genf bei den Verhandlungen zum VN-Waffenüberein-
nitionsprotokoll in Genf kann – ich sage ausdrücklich: kommen beobachten. Dort setzen sich einige Nichtver-
kann – ein Zwischenschritt hin zu einem universellen tragsstaaten für neue Standards ein, die das umfassende
Verbot dieser Waffenkategorie sein. Der Protokollent- Verbot von Streumunition untergraben würden. Um sich
wurf für das letzte Vorbereitungstreffen im August – das dem Wirkungsradius von Oslo zu entziehen, soll ein
sage ich ebenfalls ganz deutlich an dieser Stelle – gibt zweiter, laxer völkerrechtlicher Referenzrahmen ge-
das noch nicht her. Hier muss es noch substanzielle Ver- schaffen werden, in den Nichtvertragsstaaten dann ent-
besserungen geben, vor allem bei der Definition, welche weichen können. Herr Kollege Fritz, Herr Kollege
Munition verboten wird. Schnurr, es ist eben nicht so, dass eine weitere völker-
rechtliche Norm zu Streumunition schon deshalb wün-
Meine Damen und Herren, unser Ziel ist am Ende
schenswert sein soll, weil sich ihr mehr Staaten anschlie-
doch das gleiche: Wir wollen, dass Streumunition welt-
ßen; denn entscheidend sind doch die Qualität und die
weit geächtet wird. Auch die Bundesregierung hat sich
Wirkung der Norm.
immer wieder zu diesem Ziel bekannt. Der Bundes-
außenminister wurde zu Recht mit seinen sehr intelligen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
ten und klugen Äußerungen in dieser Hinsicht schon zi- bei der SPD und der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16633
Agnes Malczak
(A) Hier würde eine von mehr Staaten durchgesetzte chen Druck von anderen Staaten, dieser Konvention bei- (C)
schlechtere Regelung eine von weniger Staaten getra- zutreten.
gene bessere Regelung verdrängen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist eine fal- bei der SPD und der LINKEN – Christoph
sche Interpretation, die Sie da haben!) Schnurr [FDP]: Die Verhandlungen beginnen
doch erst!)
Insbesondere die USA – auch darüber kann man ein-
mal nachdenken – Es ist daher nun am Deutschen Bundestag, sich gegen
eine Aufweichung des Verbots von Streumunition auszu-
(Patrick Döring [FDP]: Denken hilft, das sprechen. Die grüne Bundestagsfraktion hat hierfür ei-
stimmt!) nen Antrag erarbeitet, den wir gemeinsam mit der SPD
zur Abstimmung stellen. Wir bitten um Ihre Stimme für
bemühen sich in Genf um ein Protokoll VI zu Streumu- diesen Antrag und damit um Ihre Stimme gegen eine Zu-
nition, das nur ein Teilverbot von Munition vorsieht, die stimmung Deutschlands zu einem verheerenden Proto-
vor 1980 produziert wurde. Ein umfassendes Produk- koll zu Streumunition.
tionsverbot, Zerstörungsfristen für vorhandene Be-
stände oder Verpflichtungen zur Opferhilfe und Minen- Vielen Dank.
räumung sucht man vergeblich. Sollte dieses Protokoll
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
so verabschiedet werden – es ist naiv, zu glauben, dass
bei der SPD und der LINKEN)
sich da noch viel verändern wird, Herr Schnurr –,
(Christoph Schnurr [FDP]: Aber sonst würden Vizepräsident Eduard Oswald:
die sich doch nicht zusammensetzen!) Vielen Dank, Frau Kollegin Malczak.
hätten wir neue, schwächere Standards und eine Relegi- Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
timierung neuerer Typen von Streumunition. De facto der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
würde ein großer Teil dieser Waffen somit wieder für le- nen auf Drucksache 17/7637 mit dem Titel „Gegen eine
gal erklärt. Aufweichung des Verbots von Streumunition“. Wer für
diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. –
(Patrick Döring [FDP]: Was Sie alles wissen!) Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, SPD-
Zwar wären Deutschland und andere Vertragsstaaten Fraktion und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Das
weiter an Oslo gebunden – Sie haben recht, Herr Kollege sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine.
(B) Fritz; das hat auch niemand bestritten –, anderen Staaten Der Antrag ist abgelehnt. (D)
aber, die außerhalb des Vertragsregimes stehen wie die Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
USA, Russland, China, Israel oder Indien, wären die auf Drucksache 17/7635 mit dem Titel „Streumunition
Produktion und der Einsatz von Streumunition auf ein- nicht wieder zulassen – Gegen ein Protokoll über Streu-
mal völkerrechtlich erlaubt. Das würde nicht nur der US- munition zum CCW“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Regierung ermöglichen, ihr Streumunitionsarsenal auch Das sind die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
noch mit Hinweis auf das Völkerrecht zu modernisieren. Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die Koalitionsfraktio-
Wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz völlig nen. Enthaltungen? – Die Fraktion der Sozialdemokra-
zu Recht feststellt, würde damit ein Präzedenzfall im hu- ten. Der Antrag ist abgelehnt.
manitären Völkerrecht geschaffen. Dann würde eine
schwächere Norm zu einem Waffentyp vereinbart, für Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 24:
den es bereits höhere Standards gibt. Bisher gab es einen
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
solchen Rückschritt nicht, und ich glaube, den kann man
richts des Ausschusses für Kultur und Medien
sich auch nicht wünschen.
(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE
bei der SPD und der LINKEN) GRÜNEN

Ich kann nur hoffen, dass der dringende Appell aus Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthana-
der Zivilgesellschaft von der Bundesregierung erhört sie“-Morde
wird, einem solchen Protokoll nicht zuzustimmen. Bis- – Drucksachen 17/5493, 17/7596 –
her hat sich die Bundesregierung in dieser Frage nämlich
leider nicht als eiserne Verfechterin der Oslo-Konven- Berichterstattung:
tion hervorgetan. Im Gegenteil: Sie setzt sich weiter für Abgeordnete Marco Wanderwitz
ein Protokoll zu Streumunition ein. Damit nimmt sie Dr. h. c. Wolfgang Thierse
eine Aufweichung des Verbots von Streumunition billi- Lars Lindemann
gend in Kauf Dr. Lukrezia Jochimsen
Claudia Roth (Augsburg)
(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist falsch!)
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
und verspielt leichtfertig die abrüstungspolitische Glaub- Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
würdigkeit der Bundesrepublik. Damit nehmen Sie jegli- ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
16634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) Marco Wanderwitz (CDU/CSU): innerung hinaus sollen Information und Aufarbeitung (C)
Unter der NS-Schreckensdiktatur wurden auch Hun- gestärkt werden.
derttausende Menschen mit Behinderungen und psychi-
schen Erkrankungen in ganz Europa systematisch Wir wollen dafür einen angemessenen Rahmen schaf-
erfasst, für medizinische Experimente missbraucht, fen und dafür Sorge tragen, dass das Verbrechen und
zwangssterilisiert und zu Zehntausenden ermordet. Ei- seine Dimension stärker dokumentiert wird, dass die
nes von leider vielen dunklen Kapiteln unserer jüngeren Opfer, aber auch die Täter und ihre „Motive“ darge-
Geschichte, das uns Nachgeborene erschauern lässt, stellt werden. Dies soll ein wichtiger Bestandteil der Er-
fassungslos macht ob der Abgründe des Menschlichen. gänzung des vorhandenen Mahnmals in Zusammenar-
beit mit der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden
Die Verpflichtung, die Aufarbeitung des NS-Terrors Europas“ unter Einbeziehung der Stiftung „Topogra-
und der späteren SED-Diktatur in der ehemaligen DDR phie des Terrors“ werden. Wir begeben uns also in un-
im Gedenkstättenkonzept des Bundes nicht nur fortzuset- mittelbarer Nähe der Tiergartenstraße in die Tiefe.
zen, sondern zu verstärken, war integraler Bestandteil
der Koalitionsverhandlungen der christlich-liberalen
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Koalition zu Beginn dieser Wahlperiode.
„Ewig einstehen gegen das Vergessen!“ Dies forderte
Die Morde an behinderten Menschen, insbesondere Bundespräsident Christian Wulff im Januar dieses Jah-
Patienten, die besonderen Schutzes bedurft hätten, dür- res bei seinem Besuch im früheren Konzentrationslager
fen nicht in Vergessenheit geraten. Der Opfer zu geden- Auschwitz. Dieser Forderung kommen wir heute nach.
ken, ist Aufgabe von nationaler Bedeutung und gesamt-
staatlicher Verantwortung. Während der NS-Herrschaft wurden in Deutschland
und den von Deutschland während des Zweiten Weltkrie-
Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt die ges besetzten Gebieten Schätzungen zufolge bis zu
Euthanasieopfer daher ausdrücklich in unser nationales 300 000 Menschen mit Behinderungen und psychisch
Gedenken ein. Bestandteil der Beschlussfassung 1999 Kranke getötet. Auch Kinder, die in dieser Zeit mit
über die Errichtung des Denkmals für die ermordeten Behinderungen geboren wurden, wurden systematisch
Juden Europas war daher auch die Verpflichtung, der ermordet. Für die Nationalsozialisten waren diese Men-
anderen Opfer des Nationalsozialismus würdig zu ge- schen „lebensunwert“. Die menschenverachtende natio-
denken. nalsozialistische Rassenideologie forderte die Erfas-
Unser Antrag steht entsprechend auf breiten, über- sung, Verfolgung und Ermordung dieser Menschen zur
greifenden Füßen der demokratischen Fraktionen des angeblichen „Reinigung“ der Nation. Auch in meiner
Hauses. Das beweist, dass sich das Parlament in diesem Heimatregion, in der Gemeinde Kropp bei Schleswig, hat
(B)
wichtigen Punkt seiner gesamtgesellschaftlichen Verant- das menschenverachtende System der Nationalsozialis- (D)
wortung bewusst ist und dafür Sorge tragen will, die Er- ten in einer großen christlichen Behinderteneinrichtung
innerung im kollektiven Gedächtnis zu behalten. tiefe Spuren hinterlassen.

Der Antrag ist nicht nur als ein wichtiges Signal ge- Die NS-„Euthanasie“ gehört zu den dunkelsten Kapi-
gen das Vergessen an die Hinterbliebenen und Angehö- teln unserer Geschichte. Auch und gerade an diese Teile
rigen zu verstehen. Er ist auch bedeutender Beitrag für der Vergangenheit unseres Landes müssen wir uns erin-
die Erinnerung und Aufklärung der Nachgeborenen. nern – zum Gedenken an die Opfer und ihr unermess-
liches Leid sowie zur Vergegenwärtigung der Tatsache,
Wir wollen die Aufwertung des gegenwärtigen Ge- dass Menschen zu solchen Taten fähig sein können und
denkortes in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Wenn- dass deshalb alles unternommen werden muss, um sol-
gleich das Gebäude am historischen Standort der Pla- che Verbrechen in Zukunft unmöglich zu machen.
nung und Organisation dem Ort der Täter, an dem am
Schreibtisch über Leben und Tod von Menschen ent- „Die nationalsozialistischen Morde an behinderten
schieden wurde, nicht mehr steht, so ist doch das Kürzel Menschen bzw. Patienten gehören in das kollektive Ge-
T4 zum Begriff für diese Mordaktion geworden. Histori- dächtnis unserer Nation“, heißt es in unserem Antrag.
scher Anknüpfungspunkt für das Erinnerungszeichen ist Ich bin froh, dass es darüber fraktionsübergreifend eine
daher der Platz um die Berliner Philharmonie. Übereinstimmung im Deutschen Bundestag gibt und ein
gemeinsamer Antrag der Koalition mit SPD und den
Wir setzen auf die Ergebnisse des durch das Land Grünen zustande gekommen ist. Auch besteht Einigkeit
Berlin auszuschreibenden Ideenwettbewerbs zur künst- in der Frage der Bundeszuständigkeit. Die Erinnerung
lerischen Umgestaltung des Geländekomplexes am Kul- an die NS-„Euthanasie“-Morde ist auch eine Aufgabe
turforum. Unsere Hauptstadt würdigt damit ihren beson- von gesamtstaatlicher Verantwortung. Die Gedenkstät-
deren Stellenwert in der Erinnerungskultur und kommt tenkonzeption des Bundes schließt diese Opfergruppe
mit der anteiligen Übernahme der erforderlichen Mittel auch ausdrücklich in das nationale Gedenken ein. Des-
ihrer Verantwortung in kulturpolitischer Hinsicht ebenso halb haben wir uns auf Bundesebene einvernehmlich
wie der Bund nach. Angesichts der bestehenden Nut- dazu entschieden, einen zentralen Gedenkort zu schaf-
zung des Areals an der Berliner Philharmonie und der fen.
nicht mehr vorhandenen Baulichkeiten sind einer Auf-
wertung jedoch natürliche Grenzen gesetzt. Neben ei- Zur Thematik der NS-„Euthanasie“ fördert die Bun-
nem Erinnerungszeichen am historischen Ort wollen wir desrepublik Deutschland die Gedenkstätte Pirna-Son-
gleichwohl die Thematik weiter bearbeiten. Über die Er- nenstein in Sachsen. Außerdem wurden Projekte der Ge-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16635
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
(A) denkstätten Grafeneck in Baden-Württemberg und vergiftet oder durch Vernachlässigung und Verhungern (C)
Hadamar in Hessen unterstützt. In einer weiteren ehe- dem Tod preisgegeben.
maligen Tötungsanstalt in Brandenburg an der Havel
wird auch mit Mitteln aus der Gedenkstättenkonzeption Das Gebäude Tiergartenstraße 4 steht nicht mehr.
des Bundes eine weitere Gedenkstätte aufgebaut. Doch Heute erinnern ein kaum beachtetes Kunstwerk, eine In-
auch Berlin muss Standort eines Gedenkortes sein. Als formations- und eine Gedenktafel neben der Berliner
Hauptstadt der Bundesrepublik sowie als kultureller An- Philharmonie an das Geschehen. Die Dimension des
ziehungspunkt für Menschen aus Deutschland und der Verbrechens, sein ideologischer Kontext, das konkrete
ganzen Welt nimmt Berlin einen zentralen Platz in der Handeln der Täter, die Lebensgeschichten der Opfer –
Erinnerungsarbeit des Bundes ein. Hier in Berlin – in all dies wird derzeit vor Ort nicht ausreichend vermit-
der Tiergartenstraße 4 – wurde die sogenannte Aktion T4 telt.
systematisch und zentral geplant. Hier war der Sitz der Mit dem vorliegenden gemeinsamen Antrag wollen
koordinierenden Dienststelle. Deshalb sollte auch hier wir das ändern. Wir sind der Auffassung, dass eine Auf-
– am historischen Ort der Planung der Verbrechen – ein wertung des Gedenkortes erfolgen muss. Das grausame
sichtbares Zeichen gesetzt werden und sollten hier die Kapitel der „Euthanasie“-Morde bedarf stärkerer Be-
Opfer gewürdigt werden. An einem düsteren Herbsttag achtung.
in diesem Jahr war ich zuletzt an der besagten Stelle und
war zutiefst betroffen bei dem Gedanken daran, was hier Im Rahmen eines Ideenwettbewerbs setzt sich das
vor über 70 Jahren beschlossen worden war. Dabei Land Berlin für das Vorhaben ein. Der Bund wird die
wurde mir von Neuem deutlich, dass die derzeitige in Umsetzung unterstützen. Für das Haushaltsjahr 2012
den Boden eingelassene und leider kaum beachtete Ge- hat der Beauftragte für Kultur und Medien 500 000 Euro
denktafel sowie die umgewidmete Plastik von Richard eingestellt, eine Summe, bei der sich – ich formuliere
Serra nicht ausreichend sind, um an das Grauen, das das vorsichtig – noch herausstellen muss, ob sie ausrei-
von diesem Ort ausgegangen war, zu erinnern. chen wird, um eine angemessene und würdige Gestal-
tung zu realisieren.
Auch das für die Umsetzung zuständige Land Berlin
steht in der Pflicht, alles zu tun, um den Verbrechen, die Dass der Antrag zustande kam, haben wir eindrucks-
in dieser Stadt stattfanden, in angemessener Form Rech- vollem bürgerschaftlichen Engagement zu verdanken.
nung zu tragen. Wir erwarten, dass Bund und Berlin ge- Wissenschaftler, Vereine und Verbände setzen sich seit
meinsam das bereits bestehende Denkmal aufwerten und vielen Jahren für die Neugestaltung des historischen Or-
gemeinsam die Opfer am historischen Ort würdigen. tes T4 ein.
(B) Zum Schluss ist es mir ein Anliegen, den verschiede- Umso ärgerlicher ist, dass sich die Koalitionsfraktio- (D)
nen bürgerschaftlichen Initiativen ausdrücklich für ih- nen einer Expertenanhörung im Ausschuss verweigert
ren langjährigen geduldigen, aber auch hartnäckigen haben! Die SPD-Fraktion hat sich wiederholt für ein
Einsatz zu danken. Stellvertretend für viele weitere seien Fachgespräch eingesetzt. Nun soll nach Verabschiedung
hier der Runde Tisch zu T4, die Deutsche Gesellschaft des Antrages ein Fachgespräch erfolgen: Ein ärgerli-
für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde ches Verfahren. Als wäre die Zustimmung von Schwarz-
sowie der Arbeitskreis zur Erforschung der national- Gelb zum Antrag lediglich ein ängstliches Zugeständnis.
sozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation Sie geben ein äußerst zwiespältiges Bild ab.
genannt. Vor allem ihnen ist es zu verdanken, dass die
Die SPD steht zu diesem Antrag! Ich will es noch ein-
Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde nicht in Vergessen-
mal ausdrücklich betonen: Einsatz und Beharrlichkeit
heit geraten sind, bleibende Mahnmale und Dokumenta-
der Initiativen sind kaum hoch genug zu schätzen! Sie
tionen daran erinnern, dass wir alle aufgerufen sind, un-
hätten es verdient, im Deutschen Bundestag gehört zu
sere Demokratie zu stärken, Extremisten abzuwehren,
werden!
damit es nie wieder zu diktatorisch-autoritären Regie-
rungen in unserem Land kommt, die Bürger- und Men- Dass sich vor knapp einem Jahr die Deutsche Gesell-
schenrechte mit Füßen treten. schaft der Psychiater, Psychotherapeuten und Nerven-
heilkundler zu der Schuld ihrer Berufskollegen in der
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Zeit des Nationalsozialismus bekannt hat, begrüße ich –
auch wenn die öffentliche Stellungnahme sehr spät er-
Daran, wie ein Gemeinwesen mit seinen Kranken um- folgte. Dass die Gesellschaft das Handeln der an den
geht, lässt sich erkennen, wie human es ist. Im national- „Euthanasie“-Morden und weiteren Medizinverbrechen
sozialistischen Deutschland wurden Kranke ermordet. beteiligten Fachärzte untersuchen lässt, ist ein richtiger
Die euphemistische Umschreibung für den systemati- Schritt. Die Ergebnisse sollen in einer Ausstellung prä-
schen, bürokratisch exakt organisierten Massenmord an sentiert werden. Ich kann mir gut vorstellen und würde
körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen lau- es unterstützen, diese Ausstellung hier im Bundestag zu
tete Euthanasie – das griechische Wort für den „leich- zeigen.
ten“, den „schönen Tod“. Der Tod, der im Gebäude der
Berliner Tiergartenstraße 4 koordiniert wurde, war alles Der Antragstext ist – das kann bei einem interfraktio-
andere als leicht und schön. Ab 1939 und während des nellen Antrag kaum verwundern – an verschiedenen
gesamten Zweiten Weltkrieges wurden Hunderttausende Stellen unscharf formuliert. Lassen Sie mich deshalb
Menschen in Hospitälern und Heilanstalten vergast, zwei Punkte präzisieren.

Zu Protokoll gegebene Reden


16636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Klarheit ist erstens darüber zu schaffen, wie weit die lich den Opfern der Aktion T4 gewidmete Plastik von (C)
geplante Aufwertung des Gedenkortes gehen soll. Die Richard Serra und eine Informationstafel zur Aktion T4
Linke hätte am liebsten ein neues Dokumentations- an die dort geplanten Morde.
zentrum und trägt unseren Antrag deshalb nicht mit. Die
Koalitionsfraktionen unterstützen die Neugestaltung Alle Fraktionen sind sich einig: Die derzeitige Form
zwar, tendieren aber zum anderen Extrem und wünschen der Erinnerung und Information an diesem Ort reichen
sich nur minimale Veränderungen. Dies ist zu wenig. nicht aus, um einem Vergessen angemessen entgegen-
wirken zu können. Aus diesem Grund haben die Fraktio-
Damit zukünftige Besucher die Qualität des histori- nen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen
schen Ortes erfassen können, bedarf es grundlegender einvernehmlich beschlossen, die Bundesregierung auf-
Informationen. Drei Aspekte halte ich dabei für beson- zufordern, sich in Zusammenarbeit mit dem Land Berlin
ders wichtig: Die Opfer sind zu würdigen. Die Täter sind dafür einzusetzen, dass das bereits bestehende Denkmal
zu benennen. Der Ort sollte für Besucher kenntlich wer- eine angemessene Würdigung am historischen Ort der
den, beispielsweise durch Kennzeichnen der Umrisse Planung Aktion T4 erhält und dass an einem solchen Ort
des einstigen T4-Gebäudes. Auch Hinweise auf die be- die Information über die „Euthanasie“-Morde und die
stehenden Gedenk- und Informationsstätten in Deutsch- damit zusammenhängenden NS-Verbrechen nicht fehlen
land und Europa sind erforderlich. Die dezentrale Um- dürfen.
setzung und die schiere Dimension der „Euthanasie“-
Verbrechen müssen deutlich werden. Ich bedauere es sehr, dass die Fraktion Die Linke sich
dieser Initiative durch Zustimmung bisher nicht an-
Zweitens ist zu klären, welche Einrichtung geeignet schließen konnte. Die Fraktion Die Linke hat im Aus-
wäre, sich der Thematik der „Euthanasie“-Morde dau- schuss für Kultur und Medien einen Änderungsantrag
erhaft anzunehmen. Dabei muss der weitere Kontext na- eingereicht, in dem ein Dokumentations- und Informa-
tionalsozialistischer Erbgesundheitspolitik, Eugenik tionszentrum gefordert wird. Dieser Antrag wurde von
und der sogenannten Rassenhygiene beleuchtet werden. der Mehrheit des Ausschusses abgelehnt.
Die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Es ist unrichtig, in der Öffentlichkeit zu behaupten,
Europas“ wird hier eine wichtige Rolle spielen. Dem dass durch die Bundesregierung eine Informationsstätte
Charakter des Ortes entsprechend halte ich aber die zur Aktion T4 nicht gewollt sei. Ganz im Gegenteil: Es
Stiftung „Topographie des Terrors“ für besonders ge- gibt bereits vier Gedenkstätten, die der Bund in erhebli-
eignet, die Aufgaben der Dokumentation und der päda- chem Maße mit unterstützt. So fördert der Bund zusam-
gogischen Arbeit zum Thema zu übernehmen. Ich plä- men mit dem Freistaat Sachsen die Gedenkstätte Pirna-
diere dafür, dass die Stiftung „Topographie des Terrors“ Sonnenstein, wo sich eine der Tötungsanstalten befand.
(B) dem Thema einen dauerhaften Platz in ihrer Ausstellung Aus Mitteln der Gedenkstättenkonzeption des Bundes (D)
einräumt. wurden der Aufbau der Gedenkstätten Grafeneck, Ba-
Über diese Präzisierungen wird noch zu sprechen den-Württemberg, und Hadamar, Hessen, ermöglicht.
sein. Verehrte Kollegen der Koalitionsfraktionen: Schie- Ein weiteres Projekt des Bundes betrifft den Aufbau ei-
ben Sie das Fachgespräch nicht auf die lange Bank! ner Gedenkstätte in Brandenburg an der Havel.
Mit unserem Antrag entsteht nun ein Ort in der Mitte
Lars Lindemann (FDP): Berlins, an dem eine angemessene Würdigung am histo-
Es steht außer Frage: Wir tragen als Deutsche be- rischen Standort der Planung und Organisation der
sondere Verantwortung, um der Opfer der NS-Terror- Aktion T4 möglich sein wird. Der Bund wird dazu im
herrschaft zu gedenken, um die heutige und zukünftige Rahmen des Haushaltes des Beauftragten der Bundesre-
Generation zu mahnen und zu informieren. Teil des na- gierung für Kultur und Medien gemeinsam mit dem
tionalsozialistischen Rassenwahns war die Erfassung, Land Berlin Gelder zur Verfügung stellen. Information
Verfolgung und Ermordung „lebensunwerten Lebens“, und Dokumentation zur Aktion T4 sind jedoch nicht aus-
die Verfolgung und Ermordung von Menschen mit Be- geschlossen, sondern in der Nachbarschaft – in der Stif-
hinderungen und psychisch Kranken. tung Topographie des Terrors – möglich.
Von September 1939 bis April 1940 fielen mehr als Unter den zahlreichen Erinnerungsorten, Denkmalen
10 000 psychiatrische Patienten aus Pommern, West- und Museen, mit denen heute in Berlin an die Zeit des
preußen und dem Wartheland den Krankenmorden auf Nationalsozialismus erinnert wird, nimmt die Stiftung
dem damaligen besetzten Gebiet Polens zum Opfer. Von Topographie des Terrors als „Ort der Täter“ eine be-
Januar 1940 bis August 1941 wurde die sogenannte Ak- sondere Stellung ein. Die Aktion T4 findet dort mit ihren
tion T4 durchgeführt, bei der in eigens eingerichteten 600 000 Besuchern pro Jahr sehr viel mehr Aufmerk-
Gasmordanstalten mehr als 70 000 Psychiatriepatienten samkeit als durch ein neues Informationszentrum in der
und -patientinnen systematisch und zentral geplant er- Tiergartenstraße 4.
mordet wurden. Die Aktion T4 wurde benannt nach dem
Der durch das Land Berlin angekündigte Ideenwett-
Sitz der koordinierenden Dienststelle in der Tiergarten-
bewerb zur künstlerischen Umgestaltung des Geländes
straße 4.
steht aus. Dieser Ideenwettbewerb ist Voraussetzung für
Wir sind uns fraktionsübergreifend einig: Dieser Ort die Einbringung der Bundesregierung und Umsetzung
benötigt ein würdiges Gedenken. Heute erinnert nur unseres Antrages. Das Land Berlin ist aufgefordert,
eine im Boden eingelassene Gedenktafel, eine nachträg- schnellstmöglich den angedachten Ideenwettbewerb

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16637
Lars Lindemann
(A) auszuloben. Wir sind gespannt auf diesen Wettbewerb tungen zum Thema gelang es nicht, die von ihnen vorge- (C)
zur Umgestaltung des Areals Tiergartenstraße 4, in den brachten Vorschläge und Einwände in dem vorliegenden
Betroffene und Verbände in adäquater Weise eingebun- Antrag angemessen zu berücksichtigen. Da die Planung
den werden. und Umsetzung des geplanten Gedenkortes im Antrag
aber explizit unter dem Dach der vom Bund getragenen
Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
und unter Einbeziehung der Stiftung „Topographie des
Rückdatiert auf den Überfall Deutschlands auf Polen, Terrors“ stattfinden soll, sollte unserer Meinung nach
den Kriegsbeginn am 1. September 1939, befahl Adolf den vorgebrachten Bedenken Rechnung getragen wer-
Hitler die sogenannte „Euthanasie“-Aktion. Zum medi- den. Vor allem die Gewichtung von Gedenkort und In-
zinischen Leiter dieser – später T4 genannten – Aktion formations- und Erinnerungsort bedarf dringend einer
wurde der Psychiater und Neurologe Professor Werner Überarbeitung.
Heyde bestimmt. Der Aktion T4 und den nach ihrer offi-
ziellen Beendigung sich anschließenden weiteren Pha- Bei der Neugestaltung des bereits bestehenden Denk-
sen der Krankentötungen sollten bis zum Kriegsende mals für die Opfer der „Euthanasie“-Morde am histori-
– und noch einige Wochen darüber hinaus – mindestens schen Ort in der Tiergartenstraße 4 geht es darum, kei-
250 000 bis 300 000 psychisch, geistig und körperlich nen reinen Gedenkort zu etablieren, sondern das
kranke Menschen zum Opfer fallen. Erinnern mit einer grundlegenden Information zu ver-
binden. Dies ist deswegen so wichtig, weil dieser Ort
Am Ort der ehemaligen Zentraldienststelle in der ausschließlich ein Täterort war, den nie ein Opfer betre-
Tiergartenstraße 4 befinden sich heute nur eine un- ten hat. Die Angehörigen der Opfer bzw. jene vor allem
scheinbare, in den Boden eingelassene Gedenktafel für zwangssterilisierten Menschen, die die Verfolgung über-
die „Euthanasie“-Opfer und eine erst nachträglich den lebt haben, finden hier keine direkt mit dem persönli-
Opfern gewidmete Plastik. Einen zentralen, nationalen chen Leiden ihrer Nächsten bzw. mit den eigenen Erfah-
Gedenkort für die Opfer der sogenannten „Euthanasie“ rungen verbundene Relikte, auch nicht in symbolischer
gibt es bisher nicht. Dies soll nun geändert werden. Mit Hinsicht. Eine örtliche Auslagerung der Information in
ihrem Antrag „Gedenkort für die Opfer der NS-Eutha- die Nachbarschaft der „Topographie des Terrors“, wie
nasie-Morde“, 17/5493, wollen CDU/CSU, SPD und sie die antragsstellenden Fraktionen vorschlagen, ent-
Bündnis 90/Die Grünen sich für eine Aufwertung des be- spricht diesem Zweck in keiner Weise.
stehenden Denkmals und eine angemessene Würdigung
der Opfer am historischen Ort der Planung und Orga- Ich schließe mich an dieser Stelle der Verwunderung
nisation der Aktion T4 in der Tiergartenstraße 4 einset- von Dr. Hans-Jochen Vogel, Bundesminister a. D., an,
zen. dass weder dem Wunsch der an den Beratungen beteilig-
(B) (D)
ten Initiativen und Institutionen nach einem im Bundes-
Die Linke hat dieses Ansinnen von Beginn an auf tag stattfindenden Fachgespräch entsprochen wurde
Bundes- und Landesebene unterstützt. Die nationalso- noch die äußerst konstruktiven Vorschläge, wie ein neu
zialistischen Morde an behinderten Menschen bzw. Pa- entstehender Gedenk- und Informationsort in der Tier-
tienten gehören in das kollektive Gedächtnis unserer gartenstraße 4 aussehen könnte, in den vorliegenden
Nation. Die Erinnerung daran ist eine Aufgabe von na- Antrag aufgenommen wurden.
tionaler Bedeutung und gesamtstaatlicher Verantwor-
tung. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt Nicht nur hat die Stiftung „Denkmal für die ermorde-
diese Opfergruppe ausdrücklich in das nationale Ge- ten Juden Europas“ schon seit längerem ein Grundkon-
denken ein. Es steht für uns außer Frage, dass der Bund zept für eine historische Dokumentation erstellt, welche
zu seiner Verantwortung stehen sollte und in diesem Fall detailliert und wissenschaftlich fundiert die Aktion T4
gibt es auch einen parteiübergreifenden Willen, dies zu darstellt und einen besonderen Schwerpunkt auf exemp-
tun. larische Opferbiografien legt, die die Bandbreite des
Mordens und der Opfergruppen zwischen 1939 und
Leider wurden wir erneut von der Erarbeitung eines 1945 widerspiegeln, auch die Deutsche Gesellschaft für
interfraktionellen Antrages ausgegrenzt und konnten so Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde hat
Einwände und Änderungsvorschläge am vorliegenden ganz konkrete Vorschläge für eine Neugestaltung des
Antrag nicht geltend machen. Um diesen unserer Auffas- bisherigen Denkmals vorgelegt, welche explizit die
sung nach wichtigen Ergänzungen Gehör zu verschaf- Wichtigkeit eines Dokumentationszentrums hervorhe-
fen, haben wir einen entsprechenden Änderungsantrag ben. Hier soll im Rahmen einer wissenschaftlich fun-
eingebracht, in dem wir nicht allein einen Gedenk-, son- dierten Ausstellung über die Entstehungsgeschichte der
dern auch einen entsprechenden Informationsort sowie nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, ihre Ein-
darüber hinaus die finanziellen Mittel für eine wissen- bettung in eine rassenhygienisch aufgeladene Gesund-
schaftliche Aufarbeitung des Themas fordern. Wir heits- und Bildungspolitik und auch die unzureichende
reagieren damit auch auf Anregungen der in dieser The- juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der Ver-
matik engagierten Initiativen und Institutionen, stellver- brechen aufgeklärt werden. Die Opfer sollen gewürdigt
tretend für eine größere Gruppe ist hier die Deutsche werden, und nicht zuletzt sollte auch an die weitgehend
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Ner- fehlende bzw. unangemessen geringe Entschädigung der
venheilkunde, DGPPN, die Stiftung „Denkmal für die Opfer und ihrer Angehörigen erinnert werden. Ich erin-
ermordeten Juden Europas“ und die Stiftung „Topogra- nere daran, dass der Bundestag erst im Januar dieses
phie des Terrors“ zu nennen. Trotz zweijähriger Bera- Jahres einen Beschluss über eine Angleichung der mo-

Zu Protokoll gegebene Reden


16638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) natlichen Entschädigungen an die für andere aus rassis- bensgeschichten von Opfern, um Forschungen zur Be- (C)
tischen Gründen verfolgten Opfer gefasst hat – im Jahre teiligung von Ärzten und Pflegepersonal und politisch
2011! und administrativ Verantwortlichen.
Warum die an dem Antrag beteiligten Fraktionen Die Bedeutung der Information heben auch Wissen-
nicht auf die Angebote gerade der DGPPN eingegangen schaftler und Initiativen aus der Zivilgesellschaft hervor,
sind, welche von der Erstellung einer Ausstellung über die sich sehr konstruktiv in die Debatte eingebracht ha-
einen finanziellen Zuschuss zu einem Dokumentations- ben. So trifft sich in den Räumen der „Topographie des
zentrum bis hin zur Finanzierung einer wissenschaftli- Terrors“ seit geraumer Zeit ein Runder Tisch „T4“, der
chen Mitarbeiterstelle für die Dauer von zehn Jahren am Thema arbeitet und auch die weitere Arbeit hier in
gehen, bleibt unverständlich. Berlin begleiten wird. Im Internet ist eine Seite „Gedenk-
ort T4“ eingerichtet worden, die jetzt schon wichtige In-
Vielleicht lassen sich in einem „verspätet“ stattfin- formationsarbeit leistet. Und auch die DGPPN, die
denden Fachgespräch diese Defizite beseitigen. Uns Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie
wäre sehr daran gelegen, soll es doch hier nicht um par- und Nervenheilkunde, wird die Aufarbeitung des The-
teipolitische Interessen, sondern nach mehr als 60 Jah- mas unterstützen und auch für zehn Jahre eine wissen-
ren um eine angemessene Würdigung der Opfer und ih- schaftliche Mitarbeiterstelle zur Forschung und Infor-
rer Angehörigen gehen. mation über die T4-Verbrechen finanzieren.
Das Land Berlin hat angekündigt, einen Ideenwettbe-
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werb für die künstlerische Um- und Weitergestaltung
NEN): dieses T4-Geländes auszuloben – zusätzlich zu der in
Wir freuen uns, dass der Bundestag den interfraktio- den Boden eingelassenen Platte und der Skulptur von
nellen Antrag zum Gedenken an die Opfer der NS-„Eu- Richard Senna, die sich bereits dort befinden. Diesen
thanasie“-Morde breit unterstützen will. Wir bedanken Wettbewerb möchten wir aufmerksam verfolgen und be-
uns ausdrücklich für die Zusammenarbeit bei der Ausar- gleiten. Wir rechnen fest mit der Kreativität von Künst-
beitung und Diskussion des Antrags und auch dafür, lern und der Fachkompetenz von Wissenschaftlern, da-
dass hier mit großer Offenheit eine Initiative unserer mit das Projekt in einer guten und angemessenen Form
Fraktion aufgegriffen und nun gemeinsam umgesetzt zur Ausführung kommt.
wird.
Es ist gut, dass sich nun auch der Bund bei T4 ver-
Die Erinnerung an die NS-„Euthanasie“-Opfer, an pflichtet. Das ist ein wichtiger Baustein für unsere Erin-
Zwangssterilisationen und weitere grausame Verbre- nerungskultur – auch angesichts von demokratiefeindli-
(B)
chen an dieser Opfergruppe ist ein wichtiger Teil in der chen rechtsextremen Tendenzen, die besorgniserregend (D)
Gedenkpolitik und Erinnerungskultur. Für die gesell- sind.
schaftliche Wahrnehmung der Täter und ihrer schreckli- Vielen Dank noch einmal an die Kolleginnen und Kol-
chen Taten und für das Gedenken an die Opfer ist eine legen für die gute Zusammenarbeit!
Dokumentation an dem Ort, von dem die Verbrechen
ausgingen, der Berliner Tiergartenstraße 4, wichtig und
von nationaler Bedeutung. Vizepräsident Eduard Oswald:
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bei den Gesprächen zur Ausarbeitung des Antrags Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussemp-
haben wir an einem Punkt etwas länger debattiert, und fehlung auf Drucksache 17/7596, den Antrag der Frak-
zwar bei der Frage, wie sich der Informationsaspekt und tionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grü-
der Gedenkaspekt in diesem Projekt zueinander verhal- nen auf Drucksache 17/5493 anzunehmen. Wer stimmt
ten sollten. Wir Grüne haben uns sehr dafür eingesetzt, für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die antrag-
dass der Informationsaspekt zusammen mit dem Gedenk- stellenden Fraktionen. Gegenprobe! – Niemand. Enthal-
aspekt deutlich herauskommt. tungen? – Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Es gab einige Bedenken, ob eine Herausstellung des
Informationsaspekts etwa bedeuten würde, am Ort von Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 23:
T4 ein Museum neu zu bauen – mit allen auch finanziel-
len Konsequenzen. Eine zweite Frage war, ob es nicht zu Beratung des Antrags der Abgeordneten
einer Inflationierung von entsprechenden Informations- Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, Diana
orten in Berlin käme, die sich möglicherweise gegensei- Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
tig entwerten würden. DIE LINKE
Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von
Wir glauben, dass man hier keine künstlichen Gegen-
DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2016 verlän-
sätze zwischen Gedenken und Informieren aufmachen
gern
sollte. Wir brauchen beides, und es ist gut, dass wir im
Antrag gemeinsam die Aufgabe der Information auch – Drucksache 17/7486 –
am Ort T4 deutlich gemacht haben. Denn es geht ja ganz Überweisungsvorschlag:
wesentlich auch um Information – zum Ablauf der Ver- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
brechen, um die Aufarbeitung auch individueller Le- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16639
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die teressenten gebracht wurde, und das nicht nur übers In- (C)
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- ternet. An der Aufklärung mangelt es also nicht. Eine
ginnen und Kollegen liegen hier dem Präsidium vor. weitere Verlängerung der Frist würde nicht nur hohe
Kosten verursachen, sondern kann auch den Eindruck
erwecken, dass es unendlich so weitergeht. Das trägt
Frank Heinrich (CDU/CSU):
nicht unbedingt zur Förderung der eigenen Selbstver-
Die Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen aus antwortung von Versicherten bei.
DDR-Zeiten läuft zum Jahresende 2011 ab. In dem An-
trag der Fraktion Die Linke, über den wir heute beraten,
wird die Bundesregierung dazu aufgefordert, die Aufbe- Max Straubinger (CDU/CSU):
wahrungsfrist von Unterlagen über Löhne und Arbeits- Für Lohnunterlagen, die am 31. Dezember 1991 im
zeiten in DDR-Betrieben über den 31. Dezember 2011 Beitrittsgebiet vorhanden waren, ist im SGB IV eine be-
hinaus bis zum 31. Dezember 2016 zu verlängern. Diese sondere Aufbewahrungsfrist geregelt. Mit dem Auslau-
Unterlagen sind vor allem für die korrekte Rentenbe- fen dieser Frist zum 31. Dezember 2011 entfällt eine zu-
rechnung wichtig, da sie zur Klärung des Versicherungs- sätzliche Belastung für ostdeutsche Unternehmen.
kontos notwendig sind. Im Rahmen der sogenannten
Die Dokumente mussten aufbewahrt werden. Mit den
Kontoklärung wird das Versicherungskonto mit allen
Lohnunterlagen werden Beschäftigungszeiten und Ver-
versicherungsrechtlich relevanten und rentenrelevanten
dienste nachgewiesen. Aber auch Zeiten von Krankheit
Daten vervollständigt.
und sonstigen Ausfällen sind darin enthalten. Allerdings
Zur Sicherstellung der vollständigen Kontenklärung sollte die Aufbewahrungsfrist ursprünglich schon vor
und Vormerkung aller rentenanwartschaftsbegründen- Jahren auslaufen. Wir haben den Termin zuletzt im Jahr
den Beschäftigungszeiten und Arbeitsentgelte der be- 2006 um weitere fünf Jahre verlängert, obwohl wir da-
troffenen Versicherten beschloss der Bundestag im Ok- mals schon der Ansicht waren, dass eine Übergangsfrist
tober 2006, die zum Jahresende 2006 auslaufende von 15 Jahren zur Klärung der Konten ausreichen
Aufbewahrungspflicht um fünf Jahre zu verlängern. Das müsste. Damit wurde der Zugriff auf die Lohndaten für
heißt also, dass die Betriebe rund 20 Jahre lang im Inte- weitere fünf Jahre gesichert. Das gab den Menschen
resse der Versicherten und der Deutschen Rentenversi- ausreichend Möglichkeit zur Klärung ihrer persönlichen
cherung die Lohnunterlagen aufbewahrt haben. Und Rentenkonten.
das zusätzlich zu den jeweils aktuell zu speichernden
Bei den 2,3 Millionen bei der Deutschen Rentenversi-
Daten. Eine solche Aufbewahrung ist vor allem mit ho-
cherung Bund geführten Rentenversicherungskonten
hen Lager- und Verwaltungskosten sowie mit großem
sind bezogen auf Personen mit Wohnsitz in den neuen
(B) Aufwand für die Betriebe verbunden. Es ist auch zu be- Bundesländern derzeit noch rund 286 000 Konten nicht (D)
merken, dass viele dieser DDR-Betriebe mittlerweile
vollständig geklärt. Dies entspricht 12 Prozent. Zahlen
nicht mehr existieren. Das bedeutet, dass ihre Rechts-
für die gesamte Rentenversicherung liegen nicht vor.
nachfolger oder auch private Firmen, wie zum Beispiel
die Rhenus Office Systems GmbH in Großbeeren, sich Dabei ist ein geklärtes Versicherungskonto nicht nur
um die Aufbewahrung der alten Lohnunterlagen küm- wichtig für die spätere Rentenberechnung, sondern ist
mern. bei politisch Verfolgten ein Indiz für eine berufliche Ver-
folgung – insbesondere, wenn der Antragsteller keine
Die Kollegen aus der Partei Die Linke haben zutref- Unterlagen mehr über seine Beschäftigung hat. Ände-
fend bemerkt, dass es noch nicht gelungen sei, alle Kon- rungen in den Einkommensverhältnissen wie abrupte
ten aufzuklären. Ich glaube jedoch, dass 20 Jahre lang Minderverdienste können auf eine politische Verfolgung
genug sind, um Kontoklärungen veranlassen zu können. im Beruf hindeuten. Die Zahl potenzieller Betroffener
Es steht auch nicht fest, ob zur Klärung der übrigen dürfte aber geringer sein als häufig angenommen. In
Konten tatsächlich im Einzelfall auf Lohnunterlagen der den letzten Jahren wurden pro Jahr circa 1 800 Neuan-
DDR-Betriebe zugegriffen werden muss. Die Belastung träge auf berufliche Rehabilitierung gestellt. Die An-
der Arbeitgeber ist meiner Meinung nach in diesem Fall tragsfrist läuft am 31. Dezember 2019 aus.
unverhältnismäßig, vor allem, wenn man bedenkt, dass
die Versäumnisse bei der Kontoklärung hauptsächlich Eine Verlängerung der Frist zur Aufbewahrung der
darauf zurückzuführen sind, dass die Versicherten ihrer Unterlagen von ehemals in der DDR Beschäftigten ist
Mitwirkungspflicht nicht nachgehen. Ohne aktives Mit- nach unserer Auffassung nicht nötig. In den 21 Jahren
wirken der Versicherten selbst ist die Beschaffung von seit der Wiedervereinigung wurden die Betroffenen
fehlenden Unterlagen durch den Rentenversicherungs- mehrfach aufgefordert, ihre Rentenkonten zu klären. Die
träger kaum möglich. Es geht hier also um eigene Ver- ungeklärten Konten sind auf die fehlende Mitwirkung
antwortung und Selbstständigkeit der Versicherten. der Betroffenen zurückzuführen. Es ist nicht absehbar,
dass sich daran künftig etwas ändern wird. Die Versi-
Die Medien haben insbesondere in den letzten Mona- cherten erhalten jährlich Renteninformationen. Außer-
ten viel darüber berichtet, dass die Aufbewahrungsfrist dem bekamen sie Briefe, in denen sie über die Notwen-
zum Jahresende 2011 abläuft. Auch die Rentenversiche- digkeit der Kontenklärung und über den Fristablauf
rungsträger haben mehrmals zur Kontenklärung aufge- aufgeklärt wurden.
rufen. Am Beispiel von meiner Stadt Chemnitz kann ich
bestätigen, dass die Information für Bürger zugänglich Wenn 21 Jahre zur Klärung der Rentenkonten nicht
gemacht wurde und auf verständlicherweise zu allen In- ausgereicht haben, berechtig das zu der Annahme, dass

Zu Protokoll gegebene Reden


16640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Max Straubinger
(A) auch in den nächsten fünf Jahren keine wesentliche Ver- hende Verlängerung hatten wir am 20. Oktober 2006 mit (C)
änderung des Sachverhalts zu erwarten sein wird. den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linkspartei be-
schließen können. Dies haben wir zum damaligen Zeit-
Vor diesem Hintergrund halten wir es für richtig, dass punkt für dringend nötig erachtet, weil die Lohnunterla-
die Unternehmen und der Bund als Rechtsnachfolger gen für die Klärung von gesetzlichen Rentenansprüchen
ehemaliger DDR-Betriebe die Kosten für die Aufbewah- zwingend erforderlich sind. Damals waren noch immer
rung der Unterlagen nicht noch für weitere fünf Jahre mehr als 1,3 Millionen Versicherungskonten von Versi-
übernehmen sollen, nur weil etliche Bürgerinnen und cherten in der ehemaligen DDR ungeklärt. Den Betrof-
Bürger sich nicht um die Klärung ihres Rentenkontos fenen hätten Rentenkürzungen gedroht, wenn sie keinen
kümmern. Nachweis über ihre Beschäftigungszeiten in DDR-Be-
Diesen Bürgerinnen und Bürgern kann man nur ra- trieben hätten vorlegen können. Eine umfassende und
ten, sich um die Klärung ihres Rentenkontos zu bemü- alle Versicherungszeiten berücksichtigende Rentenbe-
hen. Wenn Versicherte aus der ehemaligen DDR ihre rechnung durch die Rentenversicherungsträger ist näm-
Beschäftigungszeiten möglichst genau im Kontenklä- lich nur dann möglich, wenn das Versicherungskonto
rungsantrag angeben, kann darauf gestützt die Deutsche vollständig ist.
Rentenversicherung den ehemaligen Arbeitgeber bzw.
dessen Rechtsnachfolger ermitteln und eine Bestätigung Auch nach nunmehr 20 Jahren ist noch immer eine
der Daten erhalten. Alternativ können sich Antragsteller große Anzahl der Versichertenkonten hinsichtlich der
bis Ende dieses Jahres auch an die privaten Archivie- Beschäftigungszeiten in der ehemaligen DDR nicht ge-
rungsgesellschaften wenden, die alte Lohnunterlagen li- klärt. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung
quidierter DDR-Betriebe aufbewahren. Zudem können Bund sind Versicherte der Geburtsjahrgänge 1946 bis
fehlende Versicherungszeiten durch eigene Dokumente 1974, die Beitragszeiten in der DDR zurückgelegt haben
sowie auch mittels Zeugenerklärungen belegt werden. können, betroffen. Allein bei den 2,3 Millionen bei der
Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Versi-
Betroffene sollten sich spätestens jetzt Kopien aller cherungskonten sind noch circa 286 000 Konten nicht
persönlichen DDR-Lohnunterlagen besorgen. Wenn der vollständig geklärt. Dies entspricht einem Anteil von
damalige Betrieb oder dessen Rechtsnachfolger nicht rund 12 Prozent.
mehr existieren, kann der Rentenversicherungsträger
helfen. Deshalb muss die Aufbewahrungsfrist um weitere
fünf Jahre, also bis zum 31. Dezember 2016, verlängert
Wenn die Aufbewahrungsfrist dann zum Jahresende werden. Durch diese verlängerte Aufbewahrungsfrist
abgelaufen sein wird, bedeutet das aber nicht, dass die soll gewährleistet werden, dass die für die Rentenversi-
(B) Unterlagen weggeworfen werden. Die noch bei Behör- cherung erforderlichen Daten der Beschäftigten vor (D)
den, Arbeitgebern und Rechtsnachfolgern von DDR-Be- dem Beitritt gesichert werden.
trieben liegenden Dokumente werden Landes- und
Staatsarchiven bzw. dem Bundesarchiv angeboten. Die In dem vorliegenden Antrag der Linksfraktion wird
Betroffenen können sich also ab kommendem Jahr an die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf
diese Stellen wenden. vorzulegen, der sicherstellt, dass die Frist über den
31. Dezember 2011 hinaus bis zum 31. Dezember 2016
Auch potenziellen Antragstellern auf berufliche Re- verlängert wird. Der Antrag ist in der Sache zwar rich-
habilitierung wird mit dem Auslaufen der Aufbewah- tig, aber die Aufforderung zur Vorlage eines Gesetzent-
rungsfrist für die Lohnunterlagen keinesfalls die Mög- wurfs ist zu weit gegriffen. Es gibt folgende Möglichkeit:
lichkeit der Antragstellung nach dem Beruflichen
Rehabilitierungsgesetz abgeschnitten. Es gibt auch Be- Mit dem Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes
weiserleichterungen: Es reicht aus, wenn der Betroffene zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und
seine Angaben zur Verfolgteneigenschaft und zur Verfol- anderer Gesetze, Drucksache 17/6764, welches zurzeit
gungszeit glaubhaft machen kann. im Deutschen Bundestag beraten wird, soll eine Vielzahl
von sozialrechtlichen Einzelregelungen geändert wer-
Deshalb gibt es keinen Grund, die Aufbewahrungszeit
den. Die Aufbewahrungsfrist von Lohnunterlagen in
von Unterlagen erneut zu verlängern.
DDR-Betrieben ist Regelungsbestandteil des SGB IV.
Das ist aktuell der richtige Anknüpfungspunkt. Daher
Ottmar Schreiner (SPD): hat meine Fraktion im Rahmen der Beratungen zum
Lohnunterlagen müssen vom Arbeitgeber generell für Vierten SGB-IV-Änderungsgesetz einen Änderungs-
eine Frist von sechs Jahren aufbewahrt werden. Hiervon antrag mit dem Ziel, die genannte Aufbewahrungsfrist
abweichend, sind nach geltendem Recht gemäß § 28 f durch die Änderung des § 28 f Abs. 5 Satz 1 um fünf
Abs. 5 Satz 1 SGB IV die am 31. Dezember 1991 im Bei- Jahre zu verlängern, eingebracht.
trittsgebiet vorhandenen Lohnunterlagen mindestens bis
zum 31. Dezember 2011 vom Arbeitgeber aufzubewah- Die SPD-Bundestagsfraktion will die Verlängerung
ren. der Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen in Ost-
deutschland und fordert die Bundesregierung auf, unse-
Diese Pflicht zur Aufbewahrung der Lohnunterlagen ren diesbezüglichen Änderungsantrag im Rahmen des
von DDR-Betrieben läuft wegen Untätigkeit der Regie- Gesetzgebungsverfahrens zum Vierten SGB-IV-Ände-
rungskoalition zum Ende des Jahres aus. Eine vorherge- rungsgesetz mit zu berücksichtigen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16641

(A) Sebastian Blumenthal (FDP): Deutsche Rentenversicherung Bund noch einmal auf den (C)
In dem vorliegenden Antrag fordert die Linke, einen Fristablauf öffentlich hingewiesen.
Gesetzentwurf zur Aufbewahrungsfrist der Lohnunterla- Der aktuelle Stand sieht folgendermaßen aus: Zum
gen von DDR-Betrieben vorzulegen, der sicherstellt, Ablauf der Aufbewahrungsfristen am 31. Dezember
dass die Frist über den 31. Dezember 2011 hinaus bis 2011 werden die Bestände den regional zuständigen
zum 31. Dezember 2016 verlängert wird. Landes- und Staatsarchiven zur Übernahme angeboten.
Bei zentralen staatlichen Behörden und Einrichtungen
Worum geht es hier im Detail? Zum Ende dieses Jah-
werden die Unterlagen dem Bundesarchiv angeboten.
res – also am 31. Dezember 2011 – läuft die Frist zur
Aufbewahrung von Lohnunterlagen nach § 28 f Abs. 5 Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung
Satz 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch aus. Es han- sind bei den 2,3 Millionen bei der Deutschen Rentenver-
delt sich um eine Sonderregelung für die Aufbewahrung sicherung Bund geführten Versicherungskonten in den
von Lohnunterlagen für abhängig Beschäftigte aus der neuen Bundesländern noch circa 286 000 Konten nicht
ehemaligen DDR. Diese Regelung umfasst Lohnunterla- vollständig geklärt. Dies entspricht einem Anteil von
gen, die am 31. Dezember 1991 in den neuen Bundeslän- rund 12 Prozent. Die Aktenlagerung hat vom 1. Juli
dern vorhanden gewesen sind. Grundsätzlich müssen 2007 bis zum 31. Oktober 2011 bereits 12,5 Millionen
Lohnunterlagen nach § 28 f Abs. 1 SGB IV in Verbin- Euro gekostet, bis zum Ablauf der Frist am 31. Dezem-
dung mit § 28 p SGB IV für fünf Jahre aufbewahrt wer- ber 2012 rechnet man mit weiteren 1,4 Millionen Euro.
den, um den Rentenversicherungsträgern zu ermögli- Eine wie von der Linken geforderte Fristverlängerung
chen, die Arbeitgeber im Hinblick auf ihre Meldepflicht würde entsprechende Kosten nach sich ziehen. Die Ak-
und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV zu über- ten werden bei der Rhenus Office GmbH gelagert – die
prüfen. Kosten tragen Bund und Länder. Die Administration er-
folgt durch die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte
Für abhängig Beschäftigte in der ehemaligen DDR Sonderaufgaben.
dienen diese Lohnunterlagen zur Klärung ihres Renten-
versicherungskontos. Erschwerend ist bei diesem Perso- Insofern wäre an dieser Stelle interessant zu erfahren,
nenkreis hinzugekommen, dass sie oftmals keine ausrei- welche konkreten Zahlen die Linke zur Begründung ih-
chenden eigenen Nachweise über ihre Beschäftigung res Antrags vorweisen kann. Oder noch besser: Die
erbringen konnten. Die Klärung des Versicherungskon- Linke möge einen eigenen Gesetzentwurf zur Verlänge-
tos erfolgt auf Antrag des Betroffenen bei der Deutschen rung der Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von
Rentenversicherung. Die Betroffenen wurden in den ver- DDR-Betrieben einreichen und darstellen, in welchem
gangenen 20 Jahren mehrfach persönlich angeschrie- Umfang Kosten für die Fristverlängerung zu erwarten
(B) ben und über Pressemitteilungen in den gängigen Me- sind – außerdem, inwiefern zu erwarten ist, dass diejeni- (D)
dien von den Rentenversicherungsträgern für die gen Betroffenen, die noch keine Kontenklärung bean-
Problematik sensibilisiert, die nötigen Anträge vor tragt haben, dies in Zukunft tun werden und wie die zu
Fristablauf einzureichen. Eine vollständige Renten- erwartenden Kosten zu rechtfertigen sind. Solange die
berechnung setzt ein vollständiges Versicherungskonto Linke dies unterlässt, werden wir als FDP-Fraktion die-
voraus. Die ursprüngliche Aufbewahrungsfrist ist im sen Antrag ablehnen.
Jahr 2006 ausgelaufen. Mit Rücksicht auf die hohe An-
zahl Beschäftigter, die noch keinen Antrag auf Konten- Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
klärung eingereicht hatten, wurde die Frist bis zum Zeitungen schreiben darüber, im Radio und im Fernse-
31. Dezember 2011 verlängert. hen gibt es Hinweise, Kommunen machen darauf aufmerk-
sam, Gewerkschaften und Sozialverbände informieren.
Bezogen auf den Antrag der Linken bedeutet das für
Auch Sozialministerien und die Deutsche Rentenversiche-
uns als FDP-Fraktion, dass wir keinen Grund für eine
rung äußern sich inzwischen zum bevorstehenden Ablauf
erneute Fristverlängerung sehen. Schon die Verlänge-
der Aufbewahrungsfrist von Lohnunterlagen aus DDR-
rung der Frist im Jahre 2006 war für uns in vielerlei
Zeiten.
Hinsicht strittig. So müssen zum Beispiel Arbeitgeber
bzw. der Bund als Rechtsnachfolger der abgewickelten Dabei hatte die Bundesregierung mir im April auf
DDR-Staatsunternehmen die Lohnunterlagen mit erheb- eine diesbezügliche Frage noch wie folgt geantwortet:
lichen Kosten aufbewahren – nach den aktuellen Vorga- „Handlungsbedarf für eine gesonderte Information der
ben 15 Jahre über die „reguläre“ Zeit von fünf Jahren Öffentlichkeit über den endgültigen Ablauf der Aufbe-
hinaus. Sämtliche Jahrgänge mit Wohnsitz oder Zeiten wahrungsfrist wird zum jetzigen Zeitpunkt nicht gese-
im Beitrittsgebiet sind in den Jahren 2005 bis 2007 auf- hen, da der Fristablauf lange genug bekannt ist.“ Zum
gerufen worden, einen Antrag auf Kontenklärung zu Glück haben sich damals dennoch einige Zeitungen die-
stellen. Im Jahr 2006 wurden alle Betroffenen auf die ses Themas angenommen, das inzwischen solche Auf-
Notwendigkeit einer Kontenklärung bezüglich der Zei- merksamkeit findet – und das zu Recht, denn die Lohn-
ten in der früheren DDR hingewiesen. Auch im Zuge der unterlagen, die unter anderem Auskunft über die Höhe
jährlich wiederkehrenden Versendung der Renteninfor- der Einkommen und über Beschäftigungszeiten geben,
mation sind alle Versicherten erneut persönlich auf das sind unverzichtbar für die Sicherung von Rentenansprü-
Erfordernis einer Kontenklärung hingewiesen worden. chen. Fehlende Lohnunterlagen können dazu führen,
Ein Großteil der Betroffenen ist dem bislang auch nach- dass Rentenansprüche gemindert werden oder im
gekommen. Darüber hinaus hat auch in diesem Jahr die schlimmsten Falle ganz verloren gehen.

Zu Protokoll gegebene Reden


16642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Dr. Martina Bunge


(A) Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung, Rentenniveaus die Altersbezüge für künftige Rentnerin- (C)
DRV, Bund sowie der DRV Berlin-Brandenburg, der nen und Rentner massiv zu sinken. Weil jeder Euro zählt,
DRV Mitteldeutschland und der DRV Nord gibt es rund ist es wichtig, dass wir die Aufbewahrungsfrist der
648 000 ungeklärte Rentenkonten von Versicherten in Lohnunterlagen von DDR-Betrieben über den 31. De-
den ostdeutschen Bundesländern. Nicht erfasst sind in zember dieses Jahres hinaus um mindestens fünf weitere
diesen Zahlen diejenigen, die nach Herstellung der Ein- Jahre verlängern.
heit von Ost nach West gingen. Laut Statistischem Bun-
Die verlängerte Aufbewahrungsfrist soll gewährleis-
desamt waren das allein bis 2008 mehr als 2,7 Millionen
Menschen. Es ist leider nicht davon auszugehen, dass ten, dass die für die Rentenversicherung erforderlichen
alle ihre Rentenangelegenheiten geklärt haben. Daten der Beschäftigten vor dem Beitritt gesichert wer-
den, da gegenwärtig allein bei den 2,3 Millionen bei der
Natürlich resultieren nicht alle Lücken in Rentenkon- Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Versi-
ten aus Zeiten der Berufstätigkeit in der DDR. Aber die cherungskonten noch circa 286 000 Konten nicht voll-
Deutsche Rentenversicherung Nord zum Beispiel schätzt ständig geklärt sind. Dabei kann noch ein Monat offen
für Mecklenburg-Vorpommern, dass von den 57 900 of- sein, aber es können auch mehrere Jahre ungeklärt sein.
fenen Konten etwa 45 000 wegen fehlender Unterlagen 286 000 Rentenversicherte, das entspricht einem Anteil
aus DDR-Zeiten noch nicht abschließend geklärt wer- von circa 12 Prozent. Eine stattliche Zahl. Wenn wir
den konnten. Das sind mehr als drei Viertel. nicht handeln, läuft den Versicherten der Geburtsjahr-
Noch einige Worte zu zwei speziellen Gründen, die gänge 1946 bis 1974, also allen, die noch Berufsjahre in
Lohnunterlagen zugänglich zu halten. Erstens geht es der DDR zurückgelegt haben, langsam die Zeit davon.
um diejenigen, die sich in Klageverfahren befinden. Sie In sechs Wochen schon, nach dem 31. Dezember, können
müssen erfahrungsgemäß häufig weitere Belege beibrin- alle Arbeitgeber und Rechtsnachfolger von DDR-Betrie-
gen. Zweitens gibt es den Personenkreis, der nach even- ben, die zuvor gesetzlich verpflichtet waren, die alten
tuellen gesetzlichen Korrekturen mit hoher Wahrschein- Lohnunterlagen aus DDR-Zeiten aufzuheben, diese nun
lichkeit weitere Originaldokumente vorlegen muss. vernichten. Im Ergebnis wären Verdienstnachweise aus
Beide Gruppen brauchen zur Wahrnehmung ihrer den Jahren vor 1992 dann nicht mehr zu beschaffen und
Rechte den weiteren Zugang zu den Lohnunterlagen. könnten bei der Rentenberechnung nicht mehr berück-
sichtigt werden. Wenn das Konto Lücken in der Versi-
Die Bundesregierung hat mich auf die Glaubhaftma- cherungsbiografie aufweist oder Nachweise unvollstän-
chung nach SGB VI verwiesen. „Hierdurch werden dig sind oder ganz fehlen, kann das bei der späteren
Nachteile in der Rentenhöhe abgemildert, wenn der Rente zu finanziellen Einbußen führen.
Nachweis von Versicherungszeiten nicht gelingt“, hieß
es in einer Antwort. Konkret ist eine Glaubhaftmachung Wir alle wissen doch: Jede Lücke im Versicherungs-
(B) mit einem Verlust von einem Sechstel des eigentlichen konto ist bares Geld. Da ist es nicht nur nicht zielführend, (D)
Anspruchs verbunden. Das wäre eine Belastung vor al- ständig darauf hinzuweisen, die Betroffenen seien in den
lem für diejenigen, die längere Zeiten von Arbeitslosig- vergangenen 16 Jahren mehrfach aufgefordert worden,
keit hinnehmen mussten und deren Renten ohnehin ihre Rentenkonten zu klären, und wer nichts tue, sei sel-
schmal ausfallen dürften. ber Schuld. Das ist hochgradig zynisch. Noch mal: Jede
Lücke im Versicherungskonto ist bares Geld wert, und
Im Übrigen gibt es Menschen, für die selbst eine
Glaubhaftmachung schwer, wenn nicht gar unmöglich zwar für den Einzelnen, der oder die bei der Rente Ein-
ist, zum Beispiel Menschen, die in die Bundesrepublik bußen wegen Versicherungslücken hinzunehmen hat,
geflüchtet waren – nachvollziehbarerweise ohne alle aber auch für die Gemeinschaft, der allen Zahlen zu-
Unterlagen – und die heute nur noch vage Erinnerung folge auch ohne diese einheitsbedingten Lücken in den
an genaue Beschäftigungszeiten und an das Einkommen Erwerbsbiografien ein immenser Anstieg an Grundsi-
haben. cherungsbezugsbeziehenden ins Haus steht. Wir können
uns das schlicht nicht erlauben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak-
tionen, entschließen Sie sich wie schon im Jahr 2006 zu Natürlich reicht eine Verlängerung der Aufbewah-
einer Gesetzesänderung, um die Frist nochmals zu ver- rungszeiten für die Lohnunterlagen als Maßnahme
längern! Ändern Sie wie damals den § 28 f Abs. 5 des gegen Altersarmut nicht aus, sondern wir brauchen ins-
SGB IV! Ersetzen Sie das darin enthaltene Datum besondere für den Osten eine Garantierente, die über
„31. Dezember 2011“ durch den „31. Dezember 2016“. dem durchschnittlichen Grundsicherungsniveau liegt.
So einfach wäre die Gesetzesänderung! Sie wäre nicht Die Garantierente kann und soll aber eigene Ansprüche
nur für zahlreiche Versicherte, sondern auch für die nicht ersetzen. Deswegen gilt es jetzt sicherzustellen,
Deutsche Rentenversicherung gut, denn deren Aufwand dass die am 31. Dezember 1991 im Beitrittsgebiet vor-
zur Feststellung von Rentenansprüchen würde sich ohne handenen Entgeltunterlagen mindestens bis zum 31. De-
den weiteren Zugang zu den Lohnunterlagen massiv er- zember 2016 vom Arbeitgeber aufbewahrt werden.
höhen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
DIE GRÜNEN): Drucksache 17/7486 an die in der Tagesordnung aufge-
Altersarmut droht besonders in Ostdeutschland. Dort führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind alle damit
drohen nach Berechnungen des DIW aufgrund der an- einverstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
haltend hohen Arbeitslosigkeit und der Absenkung des das so beschlossen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16643
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 25 sowie den Luftverkehrs und der Ausschluss gesundheitlicher Ge- (C)
Zusatzpunkt 6: fährdungen vor allen anderen Belangen die mit Abstand
höchste Priorität.
25 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Tressel, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Nicht nur vor diesem Hintergrund betrachte ich es als
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ überaus bedauerlich, dass die heute im Plenum zur De-
DIE GRÜNEN batte stehende Thematik der Geruchsbelästigung und
Kontaminierte Kabinenluft in Flugzeugen un- Kontamination von Kabinenluft in Flugzeugen durch
terbinden Ölrückstände in den vergangenen Wochen überaus ein-
seitig und unverhältnismäßig diskutiert wurde. Höhe-
– Drucksache 17/7480 – punkt dieser überspitzten Darstellung des Sachverhaltes
Überweisungsvorschlag: sind die nun vorliegenden Anträge, in welchen von einer
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Verdichtung von Fällen kontaminierter Kabinenluft in
Ausschuss für Tourismus (f) der jüngsten Vergangenheit die Rede ist und der Bundes-
Innenausschuss
Rechtsausschuss regierung und den nachgeordneten Behörden in diesem
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Zusammenhang Untätigkeit vorgeworfen wird.
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz Zunächst gilt deutlich herauszustellen, dass die
Ausschuss für Arbeit und Soziales Gründe für Geruchsbelästigungen in einer Flugzeugka-
Ausschuss für Gesundheit bine unterschiedlich und vielfältig sind und nicht
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
zwangsläufig auf die in den Anträgen thematisierten
Technikfolgenabschätzung „fume-events“, eine Verunreinigung der Kabinenluft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union durch Öldämpfe, zurückzuführen sind. Häufige Ursa-
Haushaltsausschuss chen sind vielmehr Gerüche durch Papier oder Catering-
Federführung strittig aufkleber im Ofen, defekte Kaffeemaschinen, andere Kü-
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- chendämpfe, Rauchentwicklung im Abfalleimer der
Joachim Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz Toilette oder verschmorte Verkabelungen und Kunst-
Paula, weiterer Abgeordneter und der Fraktion stoffverkleidung. Auch die Verschmutzung der Klimaan-
der SPD lage oder durch Störungen der Hilfsgasturbine verur-
sachter Geruch werden immer wieder als Auslöser einer
Flugzeugbesatzungen und Reisende vor konta- Geruchsbelästigung identifiziert. Die zuständige Euro-
minierter Kabinenluft schützen päische Agentur für Flugsicherheit, EASA, spricht in
(B) – Drucksache 17/7611 – diesem Zusammenhang von sehr seltenen und kurz an- (D)
Überweisungsvorschlag: dauernden Fällen von Öldämpfen in Flugzeugkabinen,
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) die den Charakter eines meldepflichtigen Ereignisses
Ausschuss für Tourismus (f) hätten. Dennoch entsteht fälschlicherweise sowohl in
Innenausschuss den vorliegenden Anträgen als auch in der Debatte in
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
den Medien der Eindruck, als wären ungewöhnliche Ge-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und rüche in Flugzeugkabinen fast zwangsläufig auf Öl-
Verbraucherschutz dämpfe zurückzuführen.
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit Im Monat Oktober hat es drei Ausweichlandungen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit von Maschinen der Deutschen Lufthansa aufgrund von
Ausschuss für Bildung, Forschung und Geruchsentwicklung gegeben, welche diese bedauerli-
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union che Eigendynamik der gegenwärtigen Debatte verdeutli-
Haushaltsausschuss chen. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch im politi-
Federführung strittig schen Feld wurden die Ereignisse als vermeintliche
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Vorfälle dargestellt, bei denen es sich um einen „fume-
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- event“ gehandelt habe und verbrannte Ölrückstände in
ginnen und Kollegen liegen hier dem Präsidium vor. die Kabine gelangt seien. Nach Rücksprache mit der
Lufthansa sind alle drei Vorkommnisse nach umgehen-
der Untersuchung als Aneinanderreihung von Zufällen
Peter Wichtel (CDU/CSU): zu werten, die eindeutig in keinem Zusammenhang mit
Lassen Sie mich zunächst die vorliegenden Anträge solch einer Belastung der Kabinenluft stehen. Auch das
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPD- Luftfahrt-Bundesamt und die Bundesstelle für Flugun-
Fraktion und die diesbezügliche Debatte nutzen, um klar falluntersuchung haben keine Veranlassung gesehen,
zu verdeutlichen, dass die Bundesregierung ihrer Ver- weitere Untersuchungen in dieser Hinsicht vorzuneh-
antwortung im Bereich des Luftverkehrs nachkommt. men. Wie man vor diesem Hintergrund, wie in den vor-
Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, seien liegenden Anträgen geschehen, von Diskrepanzen und
sie Beschäftigte bei Fluggesellschaften oder Passagiere Aufklärungsbedarf sprechen kann, ist mir schleierhaft.
an Bord von Luftfahrzeugen, werden mit einer verant-
wortungsbewussten und nachhaltigen Luftverkehrspoli- Auch die zuständigen Behörden sehen weder auf
tik begleitet. Als Grundlage aller gesetzlichen Rahmen- nationaler noch auf internationaler Ebene einen Hand-
bedingungen genießen dabei die Sicherheit des lungsbedarf. Die weltweit für die Sicherheit im Luft-
16644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Peter Wichtel
(A) verkehr zuständige Internationale Zivilluftfahrtorgani- renquelle für die Sicherheit und Gesundheit der Flug- (C)
sation, ICAO, die sich bereits Anfang Oktober 2010 mit gäste wie auch der Besatzungen sehr ernst nehmen. Dies
der Thematik beschäftigt hat, erkennt keinen Grund für zeigt aber auch, dass das Problem an verantwortlicher
Veränderungen. Selbiges gilt für die EASA, die diesbe- Stelle auf der Agenda ist, sowohl bei der Bundesregie-
züglich bereits 2009 einen umfassenden Konsultations- rung als auch bei den zuständigen Bundesbehörden,
prozess begonnen hat, dessen Ergebnisse öffentlich und dem Luftfahrt-Bundesamt und der Bundesstelle für
auf der Internetseite der Behörde einsehbar sind. Auch Flugunfalluntersuchungen.
gegenwärtig liegen beiden Organisationen keine kon-
Hinsichtlich des prinzipiellen Handlungsbedarfs be-
kreten Hinweise auf eine Gesundheitsgefährdung von
steht daher auch weitgehend Konsens. Diese Ereignisse
Passagieren oder Besatzungsmitgliedern durch konta-
sind sehr ernst zu nehmen, und sie sind in ihrer Relevanz
minierte Kabinenluft vor.
für die Gesundheit der an Bord befindlichen Personen
Selbst die zuständige Berufsgenossenschaft für und für die Sicherheit des Flugverkehrs einer eingehen-
Transport und Verkehrswirtschaft befasst sich seit dem den Bewertung zu unterziehen. Dabei kann sich dies auf-
Jahr 2008 eingehend mit der Frage möglicher Gefähr- grund der verfahrensrechtlichen Vorgaben und Zustän-
dungen des Personals durch belastete Luft in Flugzeug- digkeiten nicht allein in Maßnahmen auf nationaler
kabinen, auch in enger Zusammenarbeit mit dem Institut Ebene erschöpfen, sondern muss in erster Linie zwin-
für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallver- gend bei der auf europäischer Ebene zuständigen Agen-
sicherung, IFA. Um einen möglichen Zusammenhang tur für Flugsicherheit, EASA, erfolgen.
von Gesundheitsbeeinträchtigungen und der beruflichen
Mit diesen prinzipiellen Punkten endet dann aber
Tätigkeit zu untersuchen, wurde unter anderem das welt-
auch schon die Übereinstimmung, die ich mit den vorlie-
weit größte TKP-Biomonitoring-Projekt initiiert, das
genden Anträgen teile. Der Antrag von Bündnis 90/Die
nun kurz vor dem Abschluss steht. Bis heute konnten
Grünen speist sich zu sehr aus Mutmaßungen, Einschät-
nach Auswertung eines Großteiles der Proben in keinem
zungen und Konstrukten und räumt damit den bislang
einzigen Fall Konzentrationen des in den Anträgen the-
wissenschaftlich erarbeiteten Untersuchungsergebnis-
matisierten Öladditivs Trikresylphosphat TKP festge-
sen so gut wie keinen Raum oder Berücksichtigung ein.
stellt werden, die Gesundheitsbeschwerden begründen
Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der statisti-
könnten.
schen Datenbasis nicht zielführend, da hiermit die soge-
Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen, dass nannten fume-events über ihre tatsächliche statistische
die Thematik der kontaminierten Kabinenluft durchaus Relevanz und Ereigniswahrscheinlichkeit aufgebauscht
aktuell ist, die vorliegenden Anträge und die darin ent- und skandiert werden. Die Art und Weise, wie dieses
Thema aufgegriffen wird, ist damit nicht nur unsachlich,
(B) haltenen Forderungen ebenso wie die mediale Bericht- (D)
erstattung aber mit der gegenwärtigen Sachlage nicht sondern dient auch nicht den berechtigten Anliegen der
vereinbar sind. Entgegen den Ansichten der Opposi- Fluggäste und des Flugpersonals.
tionsfraktionen sieht die CDU/CSU-Fraktion keinen Schon in der vergangenen Legislaturperiode hat die
Handlungsbedarf und teilt die Auffassung der Bundesre- Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine An-
gierung, dass die bereits bestehenden Untersuchungen, frage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mitgeteilt,
Meldepflichten und Verfahren zur Störungsbehebung dass in einem Fünfjahreszeitraum, von 2004 bis 2009,
ausreichen, um – im Falle von Missständen und Fehlver- vom Luftfahrt-Bundesamt lediglich 156 solcher „fume-
halten – weitere Schritte einleiten zu können. Nicht zu- events“ erfasst worden sind. Nach aktuellen Beobach-
letzt die umfangreiche Auseinandersetzung mit der The- tungen entfällt auf circa 100 000 Flüge ein gemeldeter
matik seitens zuständiger Behörden wie der EASA oder Fall.
auch der zuständigen Berufsgenossenschaft belegt, dass
eine mögliche Gefahr durch verunreinigte Kabinenluft Die EASA, die seit einigen Jahren mit diesem Pro-
seit Jahren immer wieder verantwortungsbewusst und blem befasst ist, hat im Mai dieses Jahres deutlich ge-
ergebnisoffen untersucht wird. Eine Veranlassung, über macht, dass bislang keiner dieser Fälle von so gravie-
die bereits bestehenden und angemessenen Zuständig- render Relevanz gewesen ist, dass damit eine generelle
keiten und Aktivitäten hinaus Maßnahmen vorzuschrei- oder gar sofortige Vorschriftenänderung gerechtfertigt
ben, ist daher nicht gegeben. Die vorliegenden Anträge werden könnte. Damit greifen auch die Forderungen des
lehnen wir dementsprechend ab. Antrags ins Leere, so zum Beispiel, die Wartungsinter-
valle und -verfahren zu optimieren. Bei einer solchen
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Ereigniswahrscheinlichkeit ist zwischenzeitlich jedes
Teil der Maschine durch mehrere Wartungszyklen gelau-
Am 21. September hat der Tourismusausschuss sich fen, sodass ein weiterer keinen Zusatznutzen bescheren
in einem Expertengespräch ausführlich dem komplexen könnte.
Thema der „fume-events“ in Passagierflugzeugen und
der damit in Zusammenhang gebrachten Kontaminie- Auch die Aufforderung des Antrags an die Flugzeug-
rung der Kabinenluft gewidmet. Im vergangenen Jahr besatzungen, bei entsprechenden Ereignisfällen im
hat die Bundesregierung in diesem Kontext auch den Cockpit die Sauerstoffmasken zu verwenden, scheint
Tourismusausschuss zu den gesundheitlichen Gefahren mehr von der Außenwirkung getragen zu sein als von
des aerotoxischen Syndroms unterrichtet. Dies zeigt, sachlicher, unaufgeregter Herangehensweise. Schließ-
dass wir uns alle der Problematik verunreinigter Kabi- lich ist dies den Piloten in entsprechenden Gefahrensi-
nenluft bewusst sind und es auch als potenzielle Gefah- tuationen ohnehin aufgegeben.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16645
Anita Schäfer (Saalstadt)
(A) In diesem Zusammenhang stellt auch die Begriffsver- auch ich bin dezidiert wie meine Fraktion der Auffas- (C)
wendung von „neurotoxologisch bedenklichen Ölen“ sung, dass hier weiterhin grundsätzlicher Klärungsbe-
eine tendenzielle und pauschalisierte Bewertung der darf zur Gewährleistung der Gesundheit und Sicherheit
bislang verwendeten Öle dar. Damit soll ein kausaler von Flugpersonal und Passagieren besteht.
Zusammenhang zwischen den verwendeten Ölen und ge-
sundheitlichen Beeinträchtigungen von Fluggästen oder Mir ist es aber wichtig, für alle regulatorischen Maß-
dem Flugpersonal impliziert werden. Das ist aber derzeit nahmen, Verordnungen und Gesetze eine ausreichende,
nicht nur wissenschaftlich nicht nachweisbar, sondern stichhaltige und gerichtsfest verantwortbare Datenbasis
auch durch die bislang vorhandenen Untersuchungs- zu besitzen. Diese ist derzeit nicht gegeben und muss
ergebnisse in keiner Weise untermauert. Vielmehr spre- dringend eine Erweiterung erfahren. Der wichtigste An-
chen eben diese Ergebnisse dezidiert gegen einen kausa- satz hierzu ist es hierbei, die Meldeketten im Ereignisfall
len Zusammenhang zwischen den sogenannten fume- effektiver zu gestalten. Hier muss die Aufsicht über die
events und den in Urinproben festgestellten untergrenz- Luftfahrtunternehmen durch das Luftfahrt-Bundesamt
wertigen TCP-Belastungen. dafür Sorge tragen, dass alle Vorfälle vollständig und
unverzüglich gemeldet werden und damit einen hilfrei-
Gleichwohl wird in dem Antrag gefordert, diese be- chen und zielführenden Beitrag für die notwendige Ver-
denklichen Öle durch andere, als weniger bedenklich breitung der Datenbasis leisten. Nur so ist es möglich,
bezeichnete auszutauschen. Offen bleibt dabei, welche zeitnah zu den Vorfällen wissenschaftlich zweifelsfrei
das sein sollen. Denn auch hier ist es ein feststehendes verwendbare Erhebungen zu erhalten.
Faktum, dass die bislang verwendeten Öle und Betriebs-
mittel ausführlich erprobt und auch hinreichend be- Gegenüber den umfänglichen Forderungen, die in
währt sind. Mir scheint es dagegen viel mehr ein Risiko den Anträgen aufgestellt werden, ist dies zudem eine
darzustellen, diese durch vermeintlich unbedenklichere Vorgabe, die nicht ins Blaue hinein umfängliche und
zu ersetzen, die nicht annähernd so gut untersucht und kostenträchtige technische Maßnahmen für die Unter-
im Einsatz bewährt sind. Der Nutzen einer Maßnahme, nehmen und mittelbar für die Fluggäste sowie insgesamt
die etwas Bewährtes durch etwas noch nicht Bewährtes einen spürbaren wirtschaftlichen Wettbewerbsnachteil
ersetzt, erschließt sich mir nicht. für den Standort Deutschland nach sich zieht.

Ebenso sind die Forderungen zu den Bauvorschriften Hans-Joachim Hacker (SPD):


nicht hinlänglich stringent, weder im Fall der geforder- Seit Jahren gibt es eine sich wiederholende Diskus-
ten Detektoren noch der entsprechenden Filter. Einer- sion zum Thema „kontaminierte Kabinenluft“. Manche
seits erscheint mir die Forderung, Bau- und Konstruk- bezeichnen das als Phantomdiskussion. Die SPD-Bun-
tionsvorschriften zu erlassen, ohne eine schlüssig und destagsfraktion sagt klar: Wir haben es hier mit einem (D)
(B)
empirisch nachgewiesene Ursache-Wirkung-Kette zu Problem für Flugsicherheit und Gesundheit des Flug-
haben, ein Stück weit unredlich. Andererseits sind die in- personals und der Passagiere zu tun. Deswegen haben
frage kommenden zu detektierenden oder zu filternden wir das Problem aufgegriffen. In unserer Bewertung
Stoffe so vielfältig, dass dies in technischer Hinsicht eine fühlen wir uns unterstützt durch zahlreiche Medienbe-
außerordentlich breite anspruchsvolle Anforderung dar- richte wie im „Spiegel“ und der Magazinsendung „Mo-
stellt. Derzeitig verfügbare Detektoren können bei ent- nitor“, aber mehr noch durch Berichte von Flugzeugbe-
sprechender Kalibrierung rund zehn unterschiedliche satzungen.
Stoffe aufspüren. Wie in der Expertenanhörung deutlich
wurde, umfasst allein die Gruppe der unter dem Sam- Im Tourismusausschuss hat es am 21. September 2011
melbegriff Trikresylphosphat zusammengefassten Stoffe hierzu ein Expertengespräch gegeben. Im Vorfeld dieses
zehn unterschiedliche Isomere. Dabei kann deren Kon- Expertengespräches erreichten den Tourismusausschuss
zentration in der Kabine hinsichtlich ihrer Kausalität beunruhigende Berichte von Flugzeugbesatzungen, die
für Beschwerden derzeit nicht wissenschaftlich fundiert über chemische Gerüche in Flugzeugkabinen klagten
unterstellt werden. Demzufolge ist das Spektrum infrage und über gesundheitliche Beeinträchtigungen berichte-
kommender Stoffe eventuell noch breiter. Zum anderen ten. Es geht hier nicht nur um gesundheitliche Gefähr-
sind aber auch die Expositionsquellen der unter dem dungen für die Flugzeugbesatzung und Passagiere, son-
Grenzwert liegenden TCP-Konzentrationen, wie zum dern es geht um ein Risiko für die Flugsicherheit. So
Beispiel in den Kabinen verwendete Kunststoffe, vielfäl- wurde zum Beispiel berichtet, dass Piloten am 18. Ja-
tiger, als der Antrag glauben macht, und vielfältiger, als nuar 2002 auf einem Flug von Katowice nach Frankfurt,
dass man dem Ganzen mit Zapfluftfiltern begegnen nachdem sie den ganzen Flug über schon Gerüche in der
könnte. Der Antrag der SPD-Fraktion bemüht sich mit Kabine festgestellt hatten, nur durch das Aufsetzen der
weniger Pauschalisierungen um einen sachlicheren Sauerstoffmasken das Flugzeug sicher auf den Boden
Umgang mit dieser sensiblen Materie. Gleichwohl be- bringen konnten. Berichte über ähnliche Vorkommnisse
trachtet er das Problem ebenfalls allein aus einer Blick- gibt es auch aus jüngerer Zeit. Ich verweise auf die Dar-
richtung und räumt den bislang vorhandenen wissen- legungen im Expertengespräch.
schaftlichen Erkenntnissen ebenfalls keinen Raum ein.
Um welches technische Problem geht es eigentlich?
Wenngleich ich in meinen Ausführungen die vielfälti- Diese als „smoke/fume-events“ bezeichneten Vorkomm-
gen Forderungen der Anträge ablehne und an deren nisse entstehen zum Beispiel, wenn infolge fehlerhafter
Sachdarstellung Kritik übe, dann jedoch nicht, weil ich Dichtungen durch das Zapfluftsystem der Verkehrsflug-
auch die grundsätzliche Zielsetzung ablehne. Nein, denn zeuge Rückstände von verdampftem Triebwerksöl ange-

Zu Protokoll gegebene Reden


16646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Hans-Joachim Hacker
(A) saugt werden und danach in die Kabinenluft gelangen. veranlasst werden, und im Rahmen einer unabhängigen (C)
Im Triebwerksöl enthalten sind verschiedene Additive, wissenschaftlichen Studie der kausalen Zusammenhang
unter anderem das hoch giftige Trikresylphosphat, TKP, zwischen kontaminierter Kabinenluft und den gesund-
englisch TCP. Gelangen diese Rückstände in die Kabi- heitlichen Auswirkungen weiter erforscht wird. Die Ent-
nenluft, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie wicklung von geeigneten Bluttests zum Nachweis von Or-
ernste gesundheitliche Beeinträchtigungen wie ste- ganophosphaten im menschlichen Organismus muss
chende Schmerzen in Armen, Händen, Füßen, Schwin- vorangetrieben werden, um schädigende Auswirkungen
del, Taubheitsgefühle, Muskelschwäche, chronische auf die Flugzeugbesatzungen und die Passagiere feststel-
Müdigkeit, Asthma, Schädigungen des Nervensystems, len zu können, wenn es zu einem Vorfall mit kontaminier-
Krebs etc. hervorrufen können. Einwirkungen auf das ter Kabinenluft gekommen ist. Für die vom „Aerotoxi-
Servicepersonal für die Reinigung der Flugzeuge am schen Syndrom“ betroffenen Flugzeugbesatzungen ist es
Boden sind nicht ausgeschlossen. von besonderer Wichtigkeit, dass die Voraussetzungen
für eine mögliche Anerkennung als Berufskrankheit ge-
Bislang ist es für das betroffene Flugpersonal schwer, prüft werden. Wir dürfen die Piloten und Flugbegleite-
zu beweisen, dass langfristige gesundheitliche Schäden rinnen hier nicht im „Dunst“ stehen lassen.
durch das Einatmen bzw. anderweitige Aufnahme von
Giftstoffen während der Tätigkeit an Bord verursacht Um das gesamte Problemfeld zu untersuchen und Lö-
wurden, denn bislang fehlt der wissenschaftliche Beweis sungen zu finden, müssen die zuständigen Bundesbehör-
einer Kausalkette für die Auswirkungen von kontami- den, die Luftfahrtunternehmen und Flugzeug- sowie
nierter Kabinenluft auf die menschliche Gesundheit. Triebwerkshersteller Hand in Hand arbeiten. Die Ent-
Eine Erkrankung mit den beschriebenen Symptomen, wicklung geeigneter Mess-, Kontroll- und Warnsysteme
das „Aerotoxische Syndrom“, wurde bislang von den für gesundheitsgefährdende Stoffe im Zapf-/Luftsystem
Berufsgenossenschaften nicht als Berufskrankheit des aus den Triebwerken muss vorangetrieben werden. Ein
fliegenden Personals klassifiziert. Hier besteht dringen- Lösungsweg könnte im Einbau entsprechender Technik,
der Klärungsbedarf, in diesem Sinne ist unser Antrag zu wie zum Beispiel Sensoren in Verkehrsflugzeugen mit
verstehen. Zapf-/Luftsystem, bestehen. Für die künftige Generation
von Verkehrsflugzeugen ist die Entwicklung von Alterna-
Vorfälle infolge kontaminierter Kabinenluft treten un- tiven zur gegenwärtigen Zapfsystemtechnik zu prüfen.
vorhergesehen auf. Häufig besteht keine Klarheit da-
rüber, wann es sich um eine Störung bzw. schwere Stö- Im Zusammenhang mit der Erstellung dieses Antrags
rung nach § 5 der Luftverkehrs-Ordnung, LuftVO, hatte ich interessante Gespräche mit Unternehmen, Ge-
handelt. Stellungnahmen des Flugpersonals und aktuelle werkschaften und der Luftverkehrswirtschaft. Dabei
Medienberichte lassen darauf schließen, dass das Perso- wurde meine Aufmerksamkeit auf eine Firma gelenkt,
(B) (D)
nal im Hinblick auf diese Vorfälle bislang nur ungenü- die bereits ein Messgerät entwickelt hat – den „Aero-
gend aufgeklärt und geschult wurde. Gemäß § 5 der Luft- tracer“ –, das bereits im praktischen Einsatz ist, um Öl-
verkehrs-Ordnung, LuftVO, sind „smoke/fume-events“ dämpfe aus Flugzeugturbinen zu lokalisieren. Dies ist
dem Luftfahrtbundesamt, LBA, bzw. der Bundesstelle für nach meiner Auffassung ein Ansatzpunkt für weitere
Fluguntersuchungen, BFU, anzuzeigen. In 2010 wurden technische Untersuchungen.
bei der BFU zwar von einer deutschen Airline 60 Öl-
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht im Übrigen ein
dampf-Störfälle gemeldet, vergleiche „Spiegel“-Aus-
Potenzial für die Beseitigung des „Problems“ auch in
gabe 9/2011. Dennoch besteht offensichtlich eine Dis-
der Entwicklung von nicht toxischen Schmierölen für
krepanz zwischen den in den Medien berichteten
Triebwerke. Diese Entwicklungen müssen vorangetrie-
Vorfällen, bei denen kontaminierte Kabinenluft vermutet
ben werden. Es liegt nahe, dass nicht nur die Flugzeug-
wurde, und den tatsächlich bei der BFU angezeigten
besatzungen und Passagiere, sondern auch das Reini-
Störfällen. Auch hier besteht dringender Aufklärungsbe-
gungspersonal dem gesundheitsgefährdenden TCP
darf. Das Expertengespräch hat ergeben, dass die Sach-
ausgesetzt sein können. Deshalb fordern wir mit unse-
verständigen die Existenz eines „Problems“ bestätigt
rem Antrag von der Bundesregierung Untersuchungen
haben. In der Frage der Folgen von kontaminierter Ka-
zu veranlassen, die Aufschluss über mögliche gesund-
binenluft auf Flugsicherheit und Gesundheit gab es un-
heitliche Belastungen des Reinigungspersonals durch
terschiedlich Bewertungen. Die SPD-Bundestagsfrak-
Kontakt mit entsprechenden Schadstoffen auf Sitzen und
tion geht davon aus, dass die Flugzeugindustrie und die
Innenverkleidung geben.
Fluggesellschaften, aber auch die Flugsicherheitsbe-
hörden ein großes Interesse an der weiteren Ursachen- Das Thema „kontaminierte Kabinenluft“ ist von al-
forschung und an technischen Lösungen haben. len Experten als ein Problem anerkannt worden. Des-
halb fordern wir, dass über ein kontinuierliches Forum
Der SPD-Bundestagsfraktion fehlen Handlungsan- der fachliche Informationsaustausch über Kabinenluft-
weisungen zur technischen Aufklärung der Ursachen belastungen geführt wird. Darin müssen die zuständigen
dieser Erscheinung auf der Basis gesicherter Erkennt- Ministerien und Behörden, aber auch Gewerkschaften,
nisse und wissenschaftlich-technischer Forschungser-
Verbände, Berufsgenossenschaften, die Luftfahrtindus-
gebnisse. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesre-
trie und die Luftfahrtunternehmen einbezogen werden.
gierung daher auf, entsprechend tätig zu werden. Wir
erwarten von der Bundesregierung, dass nun endlich um- Wir dürfen die Betrachtung des Problems nicht auf
fassende Langzeitmessungen zur Belastung der Kabinen- Deutschland beschränken. Es reicht nicht aus, in
luft mit Organophosphaten und anderen Schadstoffen Deutschland die Untersuchungen zur kontaminierten

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16647
Hans-Joachim Hacker
(A) Kabinenluft voranzutreiben. Dies ist ein globales jetzt sehr geringe Gefahr weiter reduzieren. Störungen (C)
Thema. Deshalb ist es notwendig, dass sich die Bundes- und Ereignisse, die die Sicherheit beeinträchtigen kön-
regierung auch auf EU-Ebene und international dafür nen, eben zum Beispiel kontaminierte Kabinenluft, müs-
einsetzt, dass Untersuchungen zu diesem Thema durch- sen dem Luftfahrt-Bundesamt gemeldet werden. Hier ist
geführt und daraus abgeleitete einheitliche Standards es auch unverhältnismäßig, zu fordern, dass selbst jede
für die Qualitätssicherung der Kabinenluft sowie ent- kleine Störung weitergemeldet wird. Damit schaffen Sie
sprechende Prüfverfahren vereinbart werden. Wir kön- einen erheblichen bürokratischen Aufwand, der in kei-
nen uns in Kenntnis der Vorkommnisse mit den derzeiti- nem Verhältnis zum Nutzen steht. Eine Meldepflicht für
gen fachlichen Bewertungen durch die EASA nicht jede noch so kleine Störung ist abseits der Lebenswirk-
zufrieden geben. lichkeit.
Ich bitte Sie im Interesse der Flugzeugbesatzungen Es gibt bereits eine Reihe von Maßnahmen, die auf
und der Passagiere unseren Antrag zu unterstützen. den Weg gebracht wurden. Es gibt bereits Studien, und
weitere sind im Auftrag, also muss man die Kirche auch
Torsten Staffeldt (FDP): mal im Dorf lassen. Die von der Opposition geforderten
Gremien und neuen Studien bedeuten eine unverhältnis-
Die von Bündnis 90/Die Grünen und SPD vorgeleg- mäßige Bürokratie. Neue Erkenntnisse hingegen sind
ten Anträge sind ein hervorragendes Beispiel dafür, wie nicht zu erwarten. Es bleibt schleierhaft, wieso die bis-
Hysterie verbreitet wird. Wer die Antragstexte liest, be- herigen Instanzen nicht ausreichend für die Problematik
kommt den Eindruck, als ob Fluggäste und Flugperso- qualifiziert sein sollen.
nal geradezu reihenweise vergiftet werden. Es heißt
sogar, dass ein „enormes Risiko für die Flugsicherheit Es ist auch bezeichnend, wie hier, um dem eigenen
bestünde“. Antrag mehr Dramatik zu verleihen, Worte verdreht wer-
den. Die sogenannten „fume-events“ werden gleich
In Deutschland starten und landen jedes Jahr fast
samt und sonders zu einer Verunreinigung durch Öl-
drei Millionen Flugzeuge. Zahlen, die auch nur ansatz-
dämpfe erklärt, obwohl sie auch andere Ursachen haben
weise eine Gefahr für die Flugsicherheit durch kontami-
können.
nierte Kabinenluft hergeben, lassen sich nicht finden.
Die Europäische Agentur für Flugsicherheit EASA hat Hinzu kommt, dass nicht jeder, der mit Kopfschmer-
im Mai 2011 festgehalten, dass es zum Thema Kabinen- zen oder Übelkeit aus dem Flugzeug steigt, gleich ver-
luft bezogen auf die Sicherheit keinen Vorfall gebe, der giftet worden ist. Wer diesen Eindruck erweckt, handelt
eine sofortige oder generelle Vorschriftenänderung fahrlässig und schürt unverantwortliche Panik unter all
(B) rechtfertigt. Ebenso wenig gibt es Erkenntnisse über den Millionen Urlauberinnen und Urlaubern, unter den (D)
großflächige Vergiftungen. Insofern stellt sich die Frage, Berufspendlern und unter dem Flugpersonal. Oft genug
ob hier nicht Panik geschürt wird, die der Sache unan- vertragen Menschen den niedrigen Luftdruck in der
gemessen ist. Höhe nicht, leiden unter einer Allergie oder haben
Stattdessen wird von den Grünen auch noch der Ver- schlicht zu wenig getrunken. Wer dann mit solchen An-
dacht geschürt, die Luftverkehrsbranche würde Rechts- trägen kommt und den Menschen den Eindruck vermit-
bruch begehen. Es heißt da im Antrag, die Bundesregie- telt, sie seien vergiftet worden, handelt schon fast fahr-
rung solle „die Einhaltung aller Rechtsvorschriften lässig.
fordern“. Oder wollen Sie behaupten, dass die Bundes-
Das Fliegen gehört zu den sichersten Fortbewe-
regierung kein Auge darauf hat, dass geltendes Recht
gungsmöglichkeiten überhaupt. Daran ändern auch
eingehalten wird?
einzelne Vorfälle nichts. Wie oft hat es bei den fast drei
Natürlich, die Möglichkeit, dass Kabinenluft in Flug- Millionen Flugbewegungen in Deutschland solche Pro-
zeugen kontaminiert wird, darf nicht einfach beiseite ge- bleme gegeben? Und wie oft haben die Flugpassagiere
wischt werden. Es besteht aber nicht, wie von Ihnen, dann noch so viel von eventuellen Schadstoffen eingeat-
liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, darge- met, dass es überhaupt zu einer Vergiftung kommt? Ver-
stellt, akuter Handlungsbedarf. Die Ergebnisse der gessen Sie auch nicht, dass die Kabinenluft eines Flug-
EASA, die sich mit dem Thema beschäftigt, sind öffent- zeugs innerhalb weniger Minuten komplett ausgetauscht
lich. Die EASA will weitere Studien auf den Weg brin- wird. Dies alles ist bei der Bewertung dieser Frage
gen. Es ist nicht nötig, wie von Ihnen gefordert, weitere ebenfalls zu berücksichtigen. Eine hundertprozentige Si-
umfangreiche Testreihen auf den Weg zu bringen. Diese cherheit wird man nie schaffen können.
Forderung ist schlicht unangemessen und unverhältnis-
mäßig. Letzten Endes bleibt der Eindruck, dass die Anträge
vor allem durch eine generelle Skepsis gegenüber dem
Ich weise Sie auch darauf hin, dass die Industrie die- Flugverkehr motiviert sind. Es gibt bereits diverse Un-
ses Thema schon lange auf dem Schirm hat. Sowohl die tersuchungen zu diesem Thema, und die verantwortli-
Fluggesellschaften als auch die Flugzeughersteller be- chen Stellen, also vor allem das Luftfahrt-Bundesamt
schäftigen sich intensiv mit der Problematik. Dabei sind und die Europäische Agentur für Flugsicherheit, han-
Studien sowohl der Fluggesellschaften selbst als auch deln verantwortungsbewusst und angemessen. Es be-
der Berufsgenossenschaft ohne Befund geblieben. Die steht kein Grund, eine überbordende Bürokratie aufzu-
Hersteller arbeiten bereits an Lösungen, die die schon bauen und Doppelstrukturen zu schaffen.

Zu Protokoll gegebene Reden


16648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) Thomas Lutze (DIE LINKE): lation von geeigneten Messsystemen; eine medizinische (C)
Immer wieder berichten Fluggäste und die Besatzun- Studie zu den Auswirkungen einer Langzeitkontamina-
gen von Flugzeugen von störenden, chemischen Gerü- tion mit Kresylphosphat bei gleichzeitiger Herstellung
chen und Rauch- oder Gaserscheinungen in der Kabine. von Rechtssicherheit für die Beschäftigten im Hinblick
Diese sogenannten Fume Events oder Smoke Events auf ihren Arbeitsplatz und mittelfristig eine Änderung
werden ausgelöst durch das Ansaugen von verdampften der Bestimmungen zum Flugzeugbau, sodass eine Kon-
Ölrückstanden durch die Frischluftzufuhr des Flugzeu- tamination von Kabinenluft mit Triebwerksrückständen
ges. Dieses Triebwerksöl enthält unter anderem das zukünftig auf technischem Wege ausgeschlossen werden
hochgiftige Kresylphosphat, weshalb die Kontamination kann.
der Kabinenluft durch Ölrückstände im dringenden Ver-
dacht steht, für eine Reihe akuter Beschwerden und Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
chronischer Erkrankungen von Kabinenpersonalperso- Seit fast zwei Jahren beschäftige ich mich nun mit
nal verantwortlich zu sein. dem Thema Kabinenluft in Verkehrsflugzeugen. Heute
Unser im Tourismusausschuss durchgeführtes Exper- haben Sie einen Antrag von uns vorliegen. Warum haben
tengespräch hat uns zum Thema aufschlussreiche wie wir so lange an diesem Antrag gearbeitet? Ich sage es
erschreckende Erkenntnisse gebracht. Hierbei bewegen Ihnen: Es ist ein sehr komplexes Thema, das keine
mich besonders zwei Aspekte: Die Belange der Betroffe- Schnellschüsse erlaubt.
nen, die als fliegendes Personal dem Schadstoff Kresyl- Dabei lässt es sich ganz kurz vorstellen: Es geht um
phosphat möglicherweise über Jahre in gesundheits- Nervengift in der Flugzeugkabine. Ich hielt das zunächst
schädlichen Konzentrationen ausgesetzt waren. Zum für ausgeschlossen. Deshalb habe ich entsprechende
Zweiten, wie eine Kontamination zukünftig wirksam Vorrecherchen betrieben, führe seit nunmehr anderthalb
ausgeschlossen werden kann. Jahren intensive Gespräche. Nur nicht mit den Flug-
Ich komme zunächst zum fliegenden Personal. Wie im gesellschaften. Die verwehren sich größtenteils diesem
Expertengespräch deutlich wurde, haben Angestellte Dialog, leider. Dabei wird es nur mit ihnen gelingen.
der Luftfahrtbranche große Schwierigkeiten bei der Be- Erst im Vorfeld der heutigen Debatte erhielt ich erste
weisführung, dass infrage kommende Erkrankungen Rückmeldungen. Dieser Antrag ist deshalb – wohl ge-
durch eine Kontamination der Kabinenluft durch Kresyl- merkt – nur ein Zwischenergebnis.
phosphat ausgelöst wurden. Dies liegt zum einen daran, Es geht nicht nur um Gift in der Kabine und damit um
dass ein Nachweis über die Aufnahme von Kresylphos- die Flugsicherheit und die Gesundheit von Passagieren
phat in den Körper und ein Zusammenhang mit chroni- und Flugpersonal. Es geht hier um unternehmerische
(B) schen Erkrankungen aus medizinischer Sicht schwer zu Verantwortung und eine Bundesregierung, die nicht (D)
führen ist. Auf der anderen Seite – und dies wiegt schwe- handelt. Aber es geht auch um die Zukunft der Luftver-
rer – zögern viele Kabinenbeschäftigte aufgrund von kehrswirtschaft. Dieses Thema erstreckt sich weit in die
Klauseln in ihrem Arbeitsvertrag damit, ihre Beschwer- Industriepolitik. Deshalb ist hier erstens ein Dialog der
den untersuchen zu lassen; denn sollte ein Arzt die Flug- Akteure gefragt und zweitens auch eine Politik, die sich
unfähigkeit eines Beschäftigten feststellen, ist dieser sei- der Konsequenzen durchaus bewusst ist.
nen Job los. Ohne beweisen zu können, dass seine
Flugunfähigkeit durch die berufliche Tätigkeit verur- Mich erinnert die Debatte manchmal ein wenig an die
sacht wurde, bedeutet dies den wirtschaftlichen Ruin. Diskussion über andere Schadstoffe wie etwa Asbest.
Hier muss die rechtliche Situation dringend zugunsten Auch hier hat man lange ein Problem negiert. Heute
der Beschäftigten angepasst werden. weiß man jede Menge darüber, und niemand würde mehr
die Gefährlichkeit dieses Stoffes bestreiten.
Wie kann es aus technischer Sicht überhaupt zu einer
solchen Kontamination der Kabinenluft durch Rück- Im Flugzeug haben wir es mit mehreren verschiede-
stände von Triebwerksöl kommen? Die Antwort ist in nen Gefährdungsquellen zu tun. Das haben wir in unse-
der Tat bemerkenswert: Die Luft für die Triebwerke des rem Antrag dargelegt. Leider leidet der heute zuständige
Flugzeuges und die Luft zur Belüftung der Kabine wird Staatssekretär Mücke offensichtlich an Regierungsam-
dem Flugzeug durch ein und dasselbe Ansaugsystem zu- nesie. Jedenfalls scheint er sich nicht mehr daran zu er-
geführt, wodurch im Störungsfalle Substanzen aus dem innern, dass er in der letzten Legislaturperiode selber
Treibwerk in die Luftzufuhr gelangen können. Die Zu- Informationen einforderte und explizit auf Pestizide in
sammenführung der Luftversorgung von Triebwerk und Flugzeugen hinwies. Herr Mücke, Sie ließen zuletzt über
Kabine ist allerdings keine technische Notwendigkeit, das Kabinettsreferat mitteilen, dass meine diesbezügli-
sondern lediglich Kostengrünen geschuldet. Eine Tren- chen Schreiben an zuständige Behörden nicht mehr be-
nung in zwei voneinander getrennte Systeme ist tech- antwortet würden. Ich finde, das ist ein ganz schön di-
nisch ohne Weiteres möglich und würde die sogenannten cker Hund!
Fume/Smoke-Events wirksam ausschließen.
Um eines deutlich zu sagen: Uns geht es hier nicht
Aus Sicht der Linken sind folgende Maßnahmen im darum, Verunsicherung zu schüren oder Airlines zu be-
Umgang mit kontaminierter Kabinenluft erforderlich: schädigen, wie uns zuweilen unsachlich vorgeworfen
langfristig angelegte unabhängige Untersuchungen zur wird. Uns geht es darum, eine nachhaltige Lösung für
Häufigkeit der sogenannten Fume/Smoke-Events; Maß- ein schwerwiegendes Problem zu finden, das es objektiv
nahmen zur Luftgütesicherung in Kabinen durch Instal- betrachtet gibt. Es hilft weder den Passagieren und den

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16649
Markus Tressel
(A) Besatzungen noch den Airlines selbst, wenn man sich ei- Suchergebnisse eventuell falsch sein könnten – es ist (C)
nem derartigen Problem nicht stellt und stattdessen eine doch umso verwunderlicher, dass eine Vielzahl von un-
Wagenburg baut und versucht, das Thema auszusitzen. abhängigen Studien und Forschungen mittlerweile
Nachweise erbracht haben. Sind denn etwa nur deutsche
Es bringt aber auch nichts, ausschließlich zurückzu-
und betriebsinterne Studien anerkannt? Das wäre ein
schauen. Ich appelliere an die Airlines, aber auch an die
ganz schön großer Affront gegen die Wissenschaft!
Flugzeughersteller, den Dialog unaufgeregt und sach-
lich zu führen und mit der Politik gemeinsam eine Lö- Die Liste der Studien wird immer länger, die auf kon-
sung zu finden. Wir haben mit unserem Antrag Lösungs- taminierte Kabinenluft – mittlerweile, wie vorhin gesagt,
vorschläge gemacht, die auch die Industrie nicht sogar im Normalbetrieb – hinweisen. Das Fresenius
überfordern, aber für mehr Sicherheit und Gesundheits- Institut hatte im Jahr 2009 über sogenannte Wischpro-
prävention im Flugverkehr sorgen. Und das ist nicht nur ben eine Verunreinigung der Lufteinlässe durch TKP
im Interesse zufriedener Fluggäste und Besatzungsmit- festgestellt. Gestützt wird diese These mittlerweile durch
glieder, sondern auch im ökonomischen Interesse der andere Untersuchungen wie beispielsweise durch das
Fluggesellschaften. norwegische Staatsinstitut für Arbeitsumwelt oder Stu-
Ich möchte mich hier noch einmal kurz auf die Öl- dien aus den USA, bei denen 50 Prozent der getesteten
dämpfe konzentrieren. Wie kommen die eigentlich in die Personen Abbauprodukte im Blut hatten, obwohl sie
Kabine? Vereinfacht dargestellt: Fast alle Flugzeuge noch nicht einmal ein „fume-event“ bewusst erlebt ha-
zapfen die Luft an den Triebwerken ab. Darin werden ben.
Öle benutzt. Und in den Ölen befinden sich Additive, die
toxisch wirken. Wenn diese Öle erhitzt werden und Neben den Amerikanern, den Norwegern, Briten,
Dampf bilden, kann dieser in die Kabinenluft gelangen. Australiern und Kanadiern kommt dieses Thema nun
Lediglich eine Dichtung trennt mit Öl geschmierte Teile Deutschland immer näher. So zeigen sich auch in den
des Triebwerkes von der Kabinenluft. Solche Dichtun- Niederlanden entsprechende Forschungsansätze. Und
gen lassen konstruktionsbedingt bei Lastwechseln quasi was passiert hier? Ein Großteil der Arbeitsmediziner ist
immer zumindest geringe Mengen an Öldampf durch, überfordert, weil es keine Forschung hierzulande gibt.
der dann in die Kabinenluft gelangt. So wurde auch eine Folglich wird auch eine mögliche Erkrankung nicht auf
Belastung von neurotoxischen Stoffen im Normalbetrieb einen Flug zurückgeführt. Unbekannte Anamnese, heißt
durch das norwegische Staatsinstitut für Arbeitsumwelt es dann. Wir haben zahlreiche Stellungnahmen von Be-
festgestellt. Dieser Mechanismus ist meines Erachtens troffenen im Vorfeld des Expertenhearings bekommen.
schon rein aus der Logik heraus extrem fragwürdig. Wa- Warum lassen diese Menschen zahlreiche Untersuchun-
rum zapft man „Frischluft“ in Triebwerken ab, die nun gen über sich ergehen, zuweilen in den USA für viele
(B)
mal auf Öle etc. angewiesen sind? Nun gut: Dieses Pro- Tausend Euro, frage ich mich. Das sind doch nicht alles (D)
blem wird man nicht von heute auf morgen lösen können. Simulanten, die sich ein Krankheitsbild überlegt haben,
Lösungsansätze haben wir Ihnen präsentiert. Und nicht um ihren Arbeitgeber zu schädigen!
zuletzt der Dreamliner zeigt mit seiner Abkehr vom
Zapfluftmechanismus, wohin die Reise technisch geht! Das Statement des Bundesverbandes der Deutschen
Luftverkehrswirtschaft, BDL, möchte ich zum Abschluss
Qualitätsstandards der Kabinenluft sind bezogen auf zitieren. „Für die Luftverkehrswirtschaft haben die Si-
die drei Gefahrenquellen TCP, Ozon und Pestizide nicht cherheit und damit das Ziel, dass Passagiere und Mit-
vorhanden. Stattdessen ist es laut den Bestimmungen so- arbeiter ihr Ziel gesund und sicher erreichen, höchste
gar zulässig, Passagiere bei 60 Grad Celsius zu beför- Priorität.“ Wenn dem so ist, wovon ich ausgehe, muss
dern. Das macht doch deutlich, dass wir hier Hand- man auch entsprechend handeln. Selbst wenn nur der
lungsbedarf haben. Das LBA erweist sich bislang nicht geringste Verdacht bestünde, dass es ein ernsthaftes
als verantwortungsbewusst. Bis zuletzt begnügte sich die Problem gibt, wäre ein stringenteres Handeln notwen-
Aufsichtsbehörde mit erst auf Nachfrage gemeldeten dig. Wir sind bereit, zusammen mit der Wirtschaft nach
Fällen von meldepflichtigen Ereignissen. Das kann nicht Lösungen zu suchen, und bieten noch einmal den Dialog
geduldet werden. Das widerspricht auch nicht zuletzt und die Bereitschaft an, im Interesse der Fluggäste, der
dem europäischen Recht! Besatzungen und der Airlines zu deutlichen Verbesse-
Kurzum: Öldampf hat nichts in der Kabine zu suchen. rungen zu kommen. Wir haben Lösungswege in unserem
Ozon hat nichts in der Kabine zu suchen. Und Pestizide Antrag aufgezeigt, für deren Umsetzung wir werben.
haben auch nichts in der Kabine zu suchen, wenn Passa-
giere darin sitzen. Vizepräsident Eduard Oswald:
Fälle, bei denen Personal ausfällt und Störungen, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
welcher Art auch immer, festgestellt werden, sind Drucksachen 17/7480 und 17/7611 an die in der Tages-
schwere Störungen! Daran gibt es nichts zu deuteln. ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Aber durch zögerliches Meldeverhalten werden hier un- Federführung ist jedoch bei beiden Vorlagen strittig. Die
abhängige Untersuchungen verhindert. Weitere Unter- Fraktionen CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Fe-
suchungen seien auch gar nicht nötig, so die Wirtschaft derführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadt-
bislang; denn eigene Tests würden beweisen, dass noch entwicklung. Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen
nie etwas gefunden worden wäre. Ist ja erstaunlich, und SPD wünschen jeweils Federführung beim Aus-
fragt man sich da. Nicht nur, dass Testverfahren und schuss für Tourismus.
16650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) Ich lasse zunächst abstimmen über die Überweisungs- selben Forderungen vorgebracht werden, die wir nicht (C)
vorschläge der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen nur bereits aus der gemeinsam vereinbarten Debatte am
und der Sozialdemokraten, also über die Federführung 26. Oktober 2011 im Plenum kennen, sondern auch aus
beim Tourismusausschuss. Wer stimmt für diese Über- einigen gleichgerichteten Anfragen der letzten Jahre.
weisungsvorschläge? – Das sind die SPD-Fraktion,
Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Wer stimmt Gefordert wird – in der eigenen Begrifflichkeit der
dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthal- Linksfraktion – die Änderung der „restriktiven Einwan-
tungen? – Keine. Die Überweisungsvorschläge sind ab- derungspolitik“: erleichterte Einbürgerungen, Wahl-
gelehnt. recht für Ausländer auf kommunaler, Landes- und Bun-
desebene und die Rücknahme der so bezeichneten
Ich lasse nunmehr abstimmen über die Überwei- „Gesetzesverschärfungen“. Mit Letzterem bezieht sich
sungsvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, die Linksfraktion insbesondere auf das von Regierung
also über die Federführung beim Ausschuss für Verkehr, und Koalition im März dieses Jahres beschlossene „Ge-
Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für diese Über- setz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besse-
weisungsvorschläge? – Das sind die Koalitionsfraktio- ren Schutz der Opfer von Zwangsheirat“, zum Beispiel
nen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die drei anderen auf die Verlängerung der Mindestehebestandszeit, auf-
Fraktionen in der Opposition. Enthaltungen? – Keine. grund derer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des
Überweisungsvorschläge sind angenommen. Ehepartners nunmehr erst nach drei und nicht mehr wie
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 26 sowie den bisher nach zwei Jahren begründet werden kann. All
Zusatzpunkt 7: diesen angeblichen „Verschärfungen“ läge derselbe
Fehler zugrunde: Die Verletzung der sogenannten Still-
26 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim halteklausel des Assoziationsrechts zwischen der EU
Dağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, wei- und der Türkei.
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ich möchte mich hier nicht detailliert mit unseren Ge-
50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkom- setzesvorhaben der letzten Jahre auseinandersetzen und
men – Assoziationsrecht wirksam umsetzen die Angemessenheit dieser Regelungen begründen, da
– Drucksache 17/7373 – an dieser Stelle zum einen dafür schlichtweg die Zeit
fehlt, vor allem aber, weil diese schon ausgiebigst in den
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f) einzelnen Stufen des Gesetzesverfahrens erörtert wur-
Auswärtiger Ausschuss den. Ich möchte vielmehr auf den von der Linksfraktion
Rechtsausschuss zu Unrecht erkannten „Grundfehler“ und die „stand-
Ausschuss für Arbeit und Soziales still“-Klausel eingehen:
(B) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(D)
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Unter Berufung auf eine Ausarbeitung des Wissen-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
schaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages be-
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- hauptet die Linksfraktion, die Bundesregierung habe
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu gegen das Verschlechterungsverbot im Assoziationsab-
dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, kommen zwischen der EWG und der Türkei aus dem
Josef Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen), Jahre 1963 verstoßen. Die Bundesregierung hat aber in
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- diesem Zusammenhang bereits mehrfach ausgeführt,
NIS 90/DIE GRÜNEN dass sich die hier von der Fraktion Die Linke erhobenen
Forderungen keineswegs zwingend aus dem Assozia-
Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehö-
tionsrecht ergeben. Wir halten weiter an unserer be-
riger für Kurzaufenthalte ermöglichen
kannten Rechtsauffassung zu der Reichweite der asso-
– Drucksachen 17/3686, 17/5989 – ziationsrechtlichen Stillhalteverpflichtungen fest. Insoweit
sei insbesondere auf die Vorbemerkung der Bundes-
Berichterstattung: regierung in der Drucksache 17/5884 vom 23. Mai 2011
Abgeordnete Reinhard Grindel verwiesen.
Daniela Kolbe (Leipzig)
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Selbst wenn sich aus dem Assoziationsrecht Folge-
Ulla Jelpke rungen ergäben, bestünde aber immer noch kein Rechts-
Memet Kilic änderungsbedarf. Zur Begründung sei erneut auf die
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Drucksache 17/5884 verwiesen.
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- Mir geht langsam das Verständnis dafür verloren,
ginnen und Kollegen liegen hier vor. dass die Fraktion Die Linke nun zum wiederholten Male
die immer gleichen Argumente vorträgt. Auch durch Re-
Michael Frieser (CDU/CSU): petition werden diese nicht richtiger. Noch weniger Ver-
Bereits in der vergangenen Plenarwoche haben wir ständnis habe ich allerdings für die Tatsache, dass hier
im Plenum ausführlich über den 50. Jahrestag des unter dem Titel „50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbe-
deutsch-türkischen Anwerbeabkommens debattiert. Un- abkommen“ versucht wird, bei den ehemaligen Gastar-
verständlich ist es deshalb, dass nun mit einiger Verspä- beitern eine Missstimmung über eine ihnen vermeintlich
tung im Antrag der Linksfraktion dazu noch einmal die- angetane Ungerechtigkeit zu erzeugen, indem man näm-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16651
Michael Frieser
(A) lich behauptet, die Bundesregierung würde ihnen Rechte Es ist aber auch ein Datum, das uns Anlass geben (C)
vorenthalten. sollte, zurückzuschauen und uns bei den mutigen Frauen
und Männern, die vor 50 Jahren ihr Zuhause und ihre
Das ist nun aber keineswegs der Fall. Wenn wir zum Familien verlassen haben, zu danken. Sie sind als Gast-
Beispiel über das Wahlrecht sprechen, dann ist festzu- arbeiter nach Deutschland gekommen, sie sind ein Wag-
halten, dass alle diejenigen, die die deutsche Staatsan- nis in einem ihnen unbekannten Land eingegangen. Was
gehörigkeit erworben haben – was auf die meisten der anfangs als temporärer Aufenthalt gedacht war, ist heute
ehemaligen Gastarbeiter zutrifft –, das Recht und die als eine erfreuliche Erfolgsgeschichte zu betrachten.
tatsächliche Möglichkeit haben, in Deutschland auf al- Heute leben mehr als 2,5 Millionen Menschen mit türki-
len Ebenen zu wählen. Auch haben sich für diejenigen, schen Wurzeln in unserem Land. Ich hoffe, dass
die sich offen für Deutschland entschieden haben, seit Deutschland für sie zur Heimat geworden ist. „Türkiyeli
dem „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und kökenli vatandaslarima merhaba. Iyiki buradasiniz.“
zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat“ keine „Meine türkischsprachigen Mitbürger, herzlich will-
Verschlechterungen ergeben: kommen! Gut, dass ihr da seid.“ Aber es ist nicht nur so,
dass viele türkische Einwanderer bei uns heimisch ge-
Für Deutschland wie für die Türkei war das Anwer- worden sind und hier in zweiter oder dritter Generation
beabkommen ohne jeden Zweifel ein Gewinn. Die Zu- leben. Sie haben auch unsere Kultur und Sichtweise be-
wanderer haben großen Anteil am Erfolg der deutschen reichert, und sie haben beide Gesellschaften mit moder-
Wirtschaft. Der Umgang mit Gastarbeitern, die im nisiert. Es ist an der Zeit, das einmal zu würdigen.
Grunde, was damals noch keiner wusste, Einwanderer
waren, war der Bundesrepublik damals noch fremd. Auch wenn die letzten Tage, um den 50. Jahrestag des
Deshalb haben alle damaligen Parteien, auch wir, in der Anwerbeabkommens herum glückerweise eine andere
Integrationspolitik – aus heutiger Sicht – zweifellos Sprache sprechen, so haben wir doch im politischen All-
auch Fehler gemacht. Aber gerade in den letzten Jahren tag der ersten Gastarbeitergeneration zu wenig Auf-
hat sich die Bundesregierung mit aller Kraft für eine merksamkeit geschenkt und ihr als Politik und Gesell-
bessere Integration eingesetzt. Wir wollen den Migran- schaft zu wenig Anerkennung, Respekt und Dank für ihre
ten eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen und so Lebensleistung gezollt. Denn die Angehörigen dieser
den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland Generation haben einen großen Beitrag zum deutschen
stärken. Deshalb haben wir in der Integrationspolitik Wirtschaftswunder geleistet und damit dazu beigetra-
bewusst umgesteuert. Wir fördern die Integration der gen, dass unser aller Lebensstandard kontinuierlich
Migrationsbevölkerung mit allen Mitteln, fordern zu- steigen konnte, sie haben – und so ehrlich müssen wir
gleich aber auch deren aktive Mitarbeit an der Integra- sein – auch Aufgaben und Arbeiten übernommen, die
(B) tion ein. Das beste Beispiel hierfür sind die verpflichten- kein anderer von uns machen wollte. Sie haben damit (D)
den Integrationskurse, die sich zum weit überwiegenden unser Land mit zu dem gemacht, was es ist: ein leis-
Teil auf die Vermittlung der deutschen Sprache konzen- tungsfähiges Wirtschaftsland und eine erfolgreiche Ein-
trieren, die – unstreitig – das Fundament des Miteinan- wanderungsgesellschaft.
ders in Deutschland ist. Nur wer die deutsche Sprache
Hinter 50 Jahren Gastarbeiterabkommen verbergen
spricht, kann sich in unsere Gesellschaft einfinden und sich Geschichten des Ankommens, des Hierbleibens, des
mit den Mitmenschen kommunizieren, und ist damit Abschiednehmens und neue sogenannte hybride Identitä-
fähig zu Teilnahme und Teilhabe. Darüber hinaus erfor- ten. Dazu gehört leider aber auch die Geschichte von
dern der Zusammenhalt und die Weiterentwicklung un- politischen Versäumnissen und einer verspäteten Inte-
serer Gesellschaft eine sinnvolle Steuerung der Migra- grationspolitik in Deutschland. Schon 1979, also
tion, was auch integrationspolitische Maßnahmen sowie 18 Jahre nach Unterzeichnung des Anwerbeabkommens,
die Neuzuwanderung begrenzende Maßnahmen mit ein- hat der erste Ausländerbeauftragte Heinz Kühn, SPD, in
schließt. seinem berühmten Memorandum festgehalten: Deutsch-
Ich stimme meinem Kollegen Stephan Mayer zu, der land ist ein Einwanderungsland und muss den Gastarbei-
am 26. Oktober erklärte, dass mit dem sehr würdigen tern eine dauerhafte Integration ermöglichen.
Begehen dieses Jahrestages deutlich wird, das es tradi- Knackpunkt, wenn wir über Integration sprechen, ist
tionell eine enge Freundschaft zwischen der Türkei und für mich aber insbesondere die Frage der Zugehörigkeit
Deutschland gibt. Zum 50. Jahrestag sollten wir uns und der Identität. Beides, ein Gefühl von Zugehörigkeit
deshalb vor allem vornehmen, noch stärker darauf hin- und gemeinsamer Identität, kann jedoch nur entstehen,
zuwirken, Missverständnisse und Vorurteile abzubauen. wenn auch die Aufnahmegesellschaft den „Neuen“ – in
Die Fraktion Die Linke strebt mit ihrem Antrag jedoch unserem Fall überhaupt nicht mehr Neuen – offen, auf-
genau das Gegenteil an, und das konnte und kann unsere geschlossen und respektvoll gegenübersteht. Das ver-
Zustimmung gestern, heute und morgen nicht finden. misse ich selbst 50 Jahre nachdem sie hierher nach
Deutschland gekommen sind. Das sind doch die Aspekte
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): einer Willkommenskultur, die Integration erst möglich
machen, einer Kultur, die in Deutschland leider immer
50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Wer noch nicht gut ausgeprägt ist.
hätte vor 50 Jahren gedacht, dass dies einmal ein Datum
sein wird, das wir bewusst in Deutschland begehen und Interessanterweise ist das, worüber wir hier in der
feiern werden? Politik und in den Medien oft abstrakt und problemati-

Zu Protokoll gegebene Reden


16652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Daniela Kolbe (Leipzig)


(A) sierend reden und debattieren, für die jungen Menschen gab es seit 1980 auch so etwas wie Inflation. Diesem An- (C)
der 3. und 4. Generation kein Thema mehr. Integration – trag werden wir daher jedenfalls so nicht zustimmen.
für sie ist sie selbstverständlich.
Lassen Sie uns über den Antrag und das gesamte
Warum ist das so? Ganz einfach: Sie sind hier gebo- Thema aber gern weiter im Innenausschuss reden und
ren, aufgewachsen, sie gehen hier zur Schule, machen danach auch wieder hier im Plenum; denn auch 50 Jahre
ihre Ausbildung und sie arbeiten. Kurzum: Für sie ist nach dem Anwerbeabkommen haben wir genug mitei-
Deutschland ebenso ihr Zuhause, wie vielleicht die Tür- nander zu besprechen, um ein respektvolles Miteinander,
kei, das Herkunftsland ihrer Eltern. Sie sind beides. Sie eine echte Willkommenskultur in diesem Land und eine
sind deutsch und türkisch. In eine Schublade lassen sie gelungene Integration zu organisieren. Da wurde in den
sich nicht drängen. Darum ist es für sie auch unver- letzten Jahren schon sehr viel erreicht. Es liegt aber noch
ständlich, dass sie sich entscheiden sollen, wie sie sich ein gewaltiger Weg vor uns.
fühlen. Was macht es für einen Sinn, diese jungen Leute
zu zwingen, sich zu entscheiden und eine der beiden Serkan Tören (FDP):
Schubladen abzuschließen? Das macht keinen Sinn. Das Die Deutsche Bundesregierung hat zu Recht in der
Festhalten an der Optionspflicht, bei der junge Men- vergangenen parlamentarischen Sitzungswoche das 50-
schen zu einer Entscheidung gezwungen werden, die sie jährige deutsch-türkische Anwerbeabkommen unter an-
gar nicht treffen sollten, zeigt, wie weit wir von einer an- derem mit einer Plenardebatte in diesem Hohen Hause
erkennenden respektvollen Willkommenskultur entfernt gewürdigt.
sind.
Die türkischen Migranten der ersten Stunde haben
Wir diskutieren heute zum zweiten Mal über 50 Jahre unser Land mit aufgebaut und unseren Wohlstand mit
Gastarbeiterabkommen mit der Türkei. Nach einer ver- begründet. Diese Menschen haben Offenheit bewiesen;
einbarten Debatte in der letzten Sitzungswoche sind sie hatten Durchhaltevermögen, sie hatten Leidenschaft,
heute Anträge der Grünen und der Linken der Anlass. und sie hatten Mut.
Vielen Dank, dass sie uns einen zweiten Anlass zur De-
batte geben, denn auch 50 Jahre nach der Unterzeich- Wir sind dankbar, dass Sie gekommen sind, sich mit
nung des Abkommens gibt es noch genug offene Themen, Ihrem Fleiß und Ihrer Kraft für unser Land eingesetzt
über die es zu diskutieren lohnt. Die Grünen thematisie- haben und Deutschland nicht nur wirtschaftlich, son-
ren in ihrem Antrag die Visapraxis gegenüber türkischen dern auch kulturell bereichert haben.
Staatsangehörigen. Und in der Tat, laut Assoziationsab- Die Linke nimmt dieses besondere Jubiläum nun zum
kommen zwischen der Türkei und der EU müssten zahl- Anlass, einen Antrag einzubringen, der abenteuerliche
(B) reiche türkische Reisende ohne Visum, zum Beispiel für Darstellungen der zuwanderungspolitischen Realitäten (D)
Kurzaufenthalte, nach Deutschland einreisen können. und absurde Forderungen enthält. So steigt die Linke
Die aktuelle Praxis sieht jedoch wie so oft ganz anders gleich zu Beginn mit linker Kampfrhetorik ein und unter-
aus. stellt der Bundesregierung eine Zuwanderungspolitik
An die Adresse der schwarz-gelben Bundesregierung nach „Nützlichkeitskriterien“. Einwanderer seien dem-
sage ich: Wir brauchen hier endlich eine Debatte und nach nur Instrumente zur „Profitmaximierung“. Die
eine Anpassung des deutschen Rechts an die Lebens- Linke hingegen würde gerne jeden zu jeder Zeit in unser
wirklichkeit und vor allem an EU-Vorgaben. Deshalb Land lassen, und zwar bitte ohne lästige Voraussetzun-
stimmen wir als SPD dem Grünen-Antrag auch zu. gen. Ich sage Ihnen: Das ist eine zutiefst unsoziale Hal-
tung!
Anders verhält es sich jedoch bei dem Antrag der Lin-
Zunächst einmal ist doch völlig klar: Der Staat hat
ken. Zwar spricht auch dieser in der Tat viele Punkte an,
das Recht, Zuwanderung mit den ihm hierfür zur Verfü-
über die es sich lohnt zu diskutieren: den Spracherwerb
gung stehenden Mitteln zu regulieren und zu kontrollie-
vor Ehegattennachzug etwa oder die absurde Verlänge-
ren. Und der Staat muss dieses Recht auch wahrnehmen.
rung der Ehebestandszeit durch Schwarz-Gelb. An an-
Denn ansonsten würde unser Sozialstaatsprinzip nicht
deren Stellen geht uns ihr Antrag jedoch zu weit, liebe
mehr funktionieren. Unser Solidaritätsprinzip ist darauf
Kolleginnen und Kollegen von den Linken. Sie fordern
angewiesen, dass Rechte und Pflichten die Grundlage
ein Wahlrecht auf allen Ebenen. Ich gehe einmal davon
des gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellen.
aus, Sie meinen Bund, Land und Kommune. Das schießt
Dazu gehören auch Steuer- und Sozialabgaben. Offene
für uns als SPD-Fraktion übers Ziel hinaus. Wir fordern
Grenzen und der völlige Verzicht auf Voraussetzungen
schon seit langem endlich ein Wahlrecht für Drittstaats-
für eine Einreise oder einen dauerhaften Aufenthalt wür-
angehörige auf kommunaler Ebene. Dafür sollten wir
den unserem Solidaritätsprinzip zuwiderlaufen.
gemeinsam streiten; aber wir sollten den ersten Schritt
vor dem zweiten machen und nicht umgekehrt. Ich sage an dieser Stelle übrigens auch ganz deutlich:
Hier geht es nicht um den Aspekt der humanitären Zu-
Zudem, liebe Linke, wollen sie die Gebühren für die wanderungspolitik.
Erteilung von Aufenthaltstiteln auf den Stand von 1980
senken. Bei allem Respekt: Als SPD sind wir zwar eben- Die eingeschränkte Sicht der Linken zeigt sich auch
falls der Ansicht, dass die Gebühren sozial gestaltet und an der Kritik an dem Sprachnachweis beim Ehegatten-
bezahlbar sein müssen. Diese Ihre Forderung schießt nachzug. Auch diese Anforderung wird gleich als Nütz-
aber auch hier weit übers Ziel hinaus. Denn immerhin lichkeitskriterium abgetan. Ich sage: Das ist sogar rich-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16653
Serkan Tören
(A) tig. Ich halte diese Anforderung tatsächlich für nützlich, zahlenmäßig bedeutende junge und wachsende Bevölke- (C)
und zwar für die betroffene Person selbst. Denn die Fä- rung verfügt.
higkeit, sich zumindest einfach verständigen zu können,
ist eine große Hilfe in einem fremden Land. Es macht Das Bildungsniveau steigt stetig an. Viele gutausge-
selbstbewusster und erleichtert die Integration. An die- bildete junge Menschen haben Beziehungen zu Deutsch-
ser Stelle möchte ich noch mal betonen: Bei dem land, sind vielleicht sogar mit der Sprache vertraut.
Sprachnachweis handelt es sich um die allererste Stufe,
Diese Feststellungen haben rein gar nichts mit den
nämlich A1. Es geht hier um sehr einfache Verständi-
gung. Das ist keine unüberwindbare Hürde, wenn man propagierten Nützlichkeitskriterien der Linken zu tun.
sich entscheidet, in einem anderen Land dauerhaft leben Es geht hier nicht um ein Nullsummenspiel. Es geht um
zu wollen. einen gleichberechtigten Austausch mit der Türkei. Das
halte ich politisch, wirtschaftlich und kulturell für groß-
Gleichwohl sieht auch die FDP-Bundestagsfraktion artig und gewinnbringend für alle Beteiligten.
hier Handlungsbedarf. Dabei denke ich insbesondere an
die Infrastrukturen im Herkunftsland. Wenn wir einen Die Linke offenbart in ihrem Antrag nicht nur ein re-
solchen Nachweis verlangen, muss auch sichergestellt alitätsfernes Bild der aktuellen Integrations- und Zu-
sein, dass die Betroffenen vor Ort diesen auch ohne un- wanderungspolitik. Sie offenbart auch ihr Verständnis
überwindbare Hürden erlangen können. In vielen Län- von Einwanderern im Jahr 2011. Sie traut Menschen,
dern der Welt gibt es derzeit nur vereinzelt oder in eini- die Mut und Engagement aufbringen, ihr Herkunftsland
gen sogar gar keine Goethe-Institute. Der Erwerb des zu verlassen und in einem neuen Land Fuß zu fassen,
Zertifikats ist entsprechend mit einem erheblichen Zeit- nichts zu. Dass diese Menschen nicht nach Deutschland
und Geldaufwand verbunden. Die praktische Umsetzung kamen und kommen, um Almosen zu erhalten, sondern
und Handhabung des Gesetzes stellt daher oftmals eine um Geld zu verdienen, ihr Glück in die eigenen Hände
hohe Hürde dar. Das darf nicht sein. zu nehmen, Familien zu gründen, Sprache und Kultur
kennenzulernen oder sich ehrenamtlich zu engagieren,
Ich will mich an dieser Stelle aber nicht der aktuellen kommt der Linken nicht in den Sinn. Rudimentäre
Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Sprachnach- Sprachkenntnisse zu fordern, ist für die Linke Schikane.
weiserfordernisses beim Ehegattennachzug mit Blick auf Ob jemand seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten
das Assoziierungsabkommen zwischen Deutschland und kann oder von Transferleistungen lebt, ist ihr egal. Wie
der Türkei entziehen. Hier gibt es starke rechtliche Be- viele Menschen nach Deutschland kommen und ob sie
denken, die es ganz klar weiter zu prüfen gilt. am Gemeinwesen teilhaben wollen und so das Sozial-
staatsprinzip stützen, interessiert die Linke nicht. Das ist
(B) Ich halte den Sprachnachweis für nachziehende Ehe- die wahre menschenverachtende und unsoziale Haltung, (D)
gatten insgesamt für eine integrationspolitisch sehr die nichts mit moderner Zuwanderungs- oder Integra-
sinnvolle Maßnahme. Nachvollziehbar ist in diesem tionspolitik zu tun hat.
Kontext allerdings nicht, weshalb Staatsangehörige an-
derer Länder wie Kanada, Japan oder der Republik Ko- Deshalb fällt es mir nicht schwer, diesen Antrag ab-
rea grundsätzlich von diesen Anforderungen ausgenom- zulehnen.
men sind. Das ist eine Ungleichbehandlung, die es aus
liberaler Sicht dringend zu diskutieren gilt.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
Die Linken sprechen in ihrem Antrag auch die Vi- Es ist gerade einmal eine Woche her, dass des 50-jäh-
sumspolitik an. Dabei ignorieren sie die bereits beste- rigen Bestehens des deutsch-türkischen Anwerbeabkom-
henden Bemühungen, insbesondere auf EU-Ebene. Im mens gedacht wurde. Auch Bundeskanzlerin Merkel und
Februar wurde erfreulicherweise das Rücknahmeab- der türkische Ministerpräsident Erdogan nahmen an der
kommen zwischen der EU und der Türkei unterzeichnet. offiziellen Festveranstaltung teil.
Das war ein wichtiger Schritt. Die Türkei ist nun aufge-
fordert, das Abkommen auch umzusetzen. Gleichzeitig Zu Recht wurden dabei die Leistungen der aus der
muss dies die unverzügliche Aufnahme eines ernsthaften Türkei nach Deutschland gekommenen Migrantinnen
Visumsdialogs mit der Türkei bedeuten. und Migranten hervorgehoben und den Betroffenen da-
für gedankt – und das tut auch der Ihnen vorliegende
Die Türkei ist schon längst nicht mehr nur ein Touris- Antrag der Fraktion Die Linke. Um allerdings eines vor-
tenziel oder ein Absatzmarkt. Diese Entwicklung hat die weg klarzumachen: Es geht uns dabei überhaupt nicht
Linke offensichtlich nicht mitbekommen. Die Türkei ist exklusiv oder besonders um die Lebensleistungen der
zu einem wichtigen Partner der EU und Deutschlands Menschen speziell aus der Türkei. Nein, unser Dank und
geworden. Das gilt geostrategisch, aber vor allem kultu- unsere Anerkennung gelten selbstverständlich gleicher-
rell und wirtschaftlich. Das sage ich, 50 Jahre nach Un- maßen allen nach Deutschland eingewanderten Men-
terzeichnung des Anwerbeabkommens, auch mit Blick schen aus allen Ländern dieser Welt!
auf künftige Fachkräftezuwanderung. Denn Deutsch-
land braucht qualifizierte Zuwanderer. Das ist keine Die Linke hält aber nichts davon, sich alle 50 Jahre
Frage von Hautfarbe oder Religion. Gerade in der Tür- anlässlich eines Festaktes bei den Menschen zu bedan-
kei gibt es ein zunehmendes Fachkräftepotenzial. Unter ken, aber sonst eine migrantenfeindliche Politik zu ma-
den Ländern, die derzeit eine Mitgliedschaft in der EU chen, wie es die jetzige, aber auch die vorigen Bundes-
anstreben, ist die Türkei das einzige Land, das über eine regierungen fast immer getan haben.

Zu Protokoll gegebene Reden


16654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Nun gibt es mindestens drei Gründe, auf die Lage der eine Frage der Zeit ist, bis der EuGH zahlreiche europa- (C)
türkischen Migrantinnen und Migranten näher einzuge- rechtswidrige Bestimmungen des deutschen Aufenthalts-
hen als mit einem losen Danke, das nichts kostet: Zum rechts kassieren wird. Die Bundesregierung spielt schä-
einen die schiere Zahl: Es handelt sich bei ihnen um die bigerweise jedoch auf Zeit und besteht darauf, dass der
größte Einzelgruppe der hier lebenden Menschen nicht- EuGH zu jeder einzelnen Frage stets erneut eine Ent-
deutscher Staatsangehörigkeit. scheidung treffen soll, auch wenn deren Ergebnis ange-
sichts der vorliegenden Rechtsprechung längst klar ist.
Zum Zweiten verdienen sie besondere Aufmerksam-
keit, weil sie besonderen Anfeindungen ausgesetzt ist: Um nur kurz anzudeuten, worum es inhaltlich und
Nicht erst seit Sarrazin werden insbesondere türkische konkret geht: Der EuGH wird bald entscheiden, dass
– aber zum Beispiel auch arabische – Migrantinnen und türkischen Staatsangehörigen auch im Rahmen der so-
Migranten als Chiffre für vermeintlich integrationsun- genannten passiven Dienstleistungsfreiheit eine visum-
willige, den Staatshaushalt belastende oder gar bedroh- freie Einreise nach Deutschland erlaubt werden muss.
liche Menschen angesehen. Die ausgeprägte und zuneh- Aus offiziellen Informationen der Bundesregierung an
mende Feindlichkeit gegenüber Muslimen in diesem den Bundestag geht hervor, dass auch der Juristische
Land spielt dabei eine unheilvolle Rolle, aber auch de- Dienst der Europäischen Union davon ausgeht, dass
ren sozial besonders ausgegrenzte Lage, die ihnen als eine solche Entscheidung des EuGH zu 95 Prozent zu er-
persönliches Versagen oder gar Unwilligkeit zur Last warten ist. Auf Anfragen meiner Fraktion jedoch tut die
gelegt wird. Bundesregierung so, als sei es geradezu absurd, so et-
Der dritte Grund, warum auf den staatlichen Um- was auch nur zu denken.
gang mit türkischen Staatsangehörigen gesondert einge- In nicht allzu ferner Zeit wird auch die Regelung der
gangen werden sollte und der auch Gegenstand des vor- Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug auf türki-
liegenden Antrags ist, ist deren Sonderstellung im sche Staatsangehörige nicht mehr anwendbar sein. In
Aufenthaltsrecht. Viele Menschen, auch viele Betroffene, den Niederlanden wurde erst vor kurzem letztinstanzlich
wissen es nicht, aber das seit 1963 geltende Assoziie- entschieden, dass neue Sprach- und Integrationsanfor-
rungs-Abkommen der EU, damals noch EWG genannt, derungen gegen das Verschlechterungsverbot des Asso-
mit der Türkei und nachfolgende Protokolle und Be- ziationsrechts verstoßen. Infolgedessen wird von türki-
schlüsse verschaffen türkischen Staatsangehörigen be- schen Staatsangehörigen zum Beispiel kein Sprachtest
sondere Rechte. Diese einmal von der EU eingegange-
vor der Einreise beim Familiennachzug mehr verlangt.
nen Verpflichtungen können auch nicht mehr im
Die vom niederländischen Rechtspopulisten Geert
Nachhinein von den Nationalstaaten wieder zurückge-
Wilders abhängige niederländische Regierung setzt
(B) nommen werden. Dies hat der Europäische Gerichtshof diese Rechtsprechung konsequent um – die Bundesregie- (D)
durch zahlreiche Urteile geklärt, aber immer wieder
rung hingegen ist nicht einmal dazu imstande, ihre An-
muss er unwillige Staaten der EU an ihre vertraglichen
wendungshinweise zum Assoziationsrecht aus dem Jahr
Verpflichtungen erinnern. Dieser zunehmende Rechtsni-
2002 zu aktualisieren, obwohl diese angesichts der sich
hilismus ist skandalös.
fortentwickelnden Rechtsprechung des EuGH nicht nur
Das sogenannte Verschlechterungsverbot im Assozia- veraltet sind, sondern geradezu als Anleitung zum
tionsrecht sieht verbindlich vor, dass es keine Ver- Rechtsbruch bezeichnet werden müssen.
schlechterungen im Aufenthalts- und Beschäftigungs-
recht, bei der Niederlassungs- und Dienstleistungs- Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundes-
freiheit gegenüber türkischen Staatsangehörigen geben tages hat in einer Ihnen sicherlich bekannten Ausarbei-
darf. Das gilt auch für zwischenzeitliche Erleichterun- tung eine gute Zusammenfassung und Rechtsübersicht
gen, das gilt in Bezug auf Regelungen des Familien- dazu erstellt, welche Regelungen im deutschen Aufent-
nachzugs und selbst in Bezug auf Regelungen zur erst- haltsrecht mit den Verschlechterungsverboten des Asso-
maligen Einreise. All dies hat die Bundesregierung ziationsrechts unvereinbar sind. Die konkreten Forde-
infolge zahlreicher parlamentarischer Anfragen der rungen in unserem Antrag beziehen sich zunächst nur
Linken zu diesem Thema im Grundsatz bereits einräu- auf solche Regelungen, die auch nach Ansicht des Wis-
men müssen – nur um stets erneut rechtliche Ausflüchte senschaftlichen Dienstes als Verstoß gegen EU-Recht
aus dem paragrafenschweren Zylinderhut des Bundes- angesehen werden müssen. Es ist aber klar, dass ein sys-
innenministeriums zu zaubern, um diese Vorgaben des tematischer Günstigkeitsvergleich der Rechtsentwick-
Europäischen Gerichtshofs nicht umzusetzen. lung seit den 70er-Jahren weiteren Änderungsbedarf
hervorbringen wird – deshalb weigert sich die Bundes-
Auf diesen Skandal möchte die Linke mit dem vorlie- regierung ja auch so hartnäckig, diesen Vergleich vorzu-
genden Antrag aufmerksam machen: Die Bundesregie- nehmen.
rung weigert sich unseres Erachtens bewusst, verbindli-
ches Assoziationsrecht und Entscheidungen des EuGH Wir werben deshalb bei den anderen Fraktionen des
wirksam umzusetzen und verwehrt somit türkischen Bundestages dafür, einer Sachverständigenanhörung
Staatsangehörigen gezielt ihre Rechte. Sie können die zur zweiten Forderung unseres Antrags zuzustimmen.
hilflosen und wenig überzeugenden Antworten der Bun- Gerade weil es sich beim Assoziationsrecht um eine
desregierung auf die Anfragen der Linken zu diesem komplexe und weitgehend unbekannte Rechtsmaterie
Thema nachlesen: Wer einigermaßen mit der Rechtspre- handelt, sollten wir uns durch unabhängige Sachver-
chung und Fachliteratur befasst ist, weiß, dass es nur ständige und nicht durch weisungsgebundene Vertreter

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16655
Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) der Exekutive beraten lassen, welche Rechtsänderungen Europäischen Gerichtshofes zu den Rechten von türki- (C)
im Detail erforderlich sind. schen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen
aus dem Assoziierungsabkommen.
Nach Ansicht der Linken – und hier komme ich zum
Anfang zurück – sollten sich die notwendigen umfang- Wir fordern in einem ersten Schritt die visumfreie
reichen Erleichterungen im Aufenthaltsrecht auch nicht Einreise türkischer Staatsangehöriger nach Deutsch-
auf türkische Staatsangehörige beschränken, sondern land.
alle Drittstaatsangehörigen einbeziehen. Es wäre ab-
Wir wollen nicht, dass Großeltern die Hochzeit ihrer
surd, die Zersplitterung des Aufenthaltsrechts weiter vo-
Enkel in Deutschland verpassen, weil sie kein Visum er-
ranzutreiben: Für Unionsangehörige gilt das deutsche
halten, oder dass eine Mutter nicht ihr krankes Kind hier
Aufenthaltsgesetz ohnehin nicht, für bestimmte privile-
besuchen darf. Wir wollen vermeiden, dass die wirt-
gierte Staaten gelten Sonderregelungen, und was für tür-
schaftlichen Beziehungen zwischen türkischen und deut-
kische Staatsangehörige gilt, steht schon längst nicht
schen Unternehmen darunter leiden, dass Geschäfts-
mehr im Gesetz.
leute zu bürokratische und langwierige Verfahren
Gerade weil es sich bei den türkischen Staatsangehö- durchlaufen müssen, um endlich ein Visum zu erhalten.
rigen um die größte Gruppe handelt, und gerade weil Wir wollen auch nicht, dass türkische Jugendliche von
zahlreiche Verschärfungen insbesondere mit Blick auf Studienreisen abgehalten werden, weil ihnen kein Visum
sie erlassen wurden, plädieren wir dafür, diese Ver- erteilt wird.
schärfungen insgesamt zurückzunehmen. Das aufge- So sieht die Realität heute aber aus. Es kommt nicht
baute Droh- und Zwangsinstrumentarium im Umgang selten vor, dass sich die Antragstellenden nach langwie-
mit Migrantinnen und Migranten ist ohnehin falsch und rigen erfolglosen Verfahren vor der Deutschen Botschaft
von fataler Wirkung, wie die zunehmende Fremden- und ihr Einreiserecht schließlich einklagen müssen.
Islamfeindlichkeit, Vorurteile und Zerrbilder belegen.
Wir appellieren an die Bundesregierung, aber auch an Nach geltender Praxis können nur bestimmte türki-
das Parlament, diese Änderungen, die in Bezug auf tür- sche Personengruppen und auch nur zur Erbringung be-
kische Staatsangehörige rechtlich ohnehin zwingend stimmter Dienstleistungen visumfrei nach Deutschland
sind, nicht erst auf Druck des EuGH, sondern bewusst einreisen. Menschen mit geringem Einkommen und sol-
und mit Überzeugung vorzunehmen. Sie sollten inner- che ohne Familie in der Türkei haben so gut wie keine
halb der deutschen Bevölkerung um Verständnis für eine Chance, nach Deutschland zu reisen. Dieser sinnlosen
solche, auf Zwang und Drohungen weitgehend verzich- und ausgrenzenden Praxis müssen wir ein Ende setzen.
tende Migrationspolitik werben, statt gefährliche, nicht Wie der EuGH in seiner Soysal-Entscheidung im Fe-
(B) nur türken- , sondern auch EU-feindliche Ressentiments bruar 2009 festgestellt hat, verstößt diese Praxis gegen (D)
zu fördern, wenn solche Änderungen zwangsweise in- das Gemeinschaftsrecht. Mit unserem Antrag fordern
folge von Entscheidungen eines vermeintlich fernen EU- wir die Bundesregierung auf, die Vorgaben des EuGH
Gerichts erfolgen. Mit unserem Antrag haben Sie die richtig umzusetzen und sich dafür einzusetzen, dass auf
Chance dazu, dieses Thema nicht Rechtspopulisten zu EU-Ebene die Visumpflicht für türkische Staatsangehö-
überlassen. rige bei einem Kurzaufenthalt aufgehoben wird.
Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit das unnötige
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Leid, das die restriktive und Visavergabepraxis verur-
Es reicht nicht, sich, wie die Bundesregierung es tut, sacht, endlich ein Ende hat!
in der Jubiläumswoche des deutsch-türkischen Anwer-
Es gibt aber auch noch viele andere Bereiche, in de-
beabkommens bei den Einwanderinnen und Einwande-
nen das deutsche Aufenthaltsrecht gegen die Maßgaben
rern für ihre Leistungen zu bedanken, wenn man nicht
des Europäischen Gerichtshofs verstößt. Insbesondere
gleichzeitig etwas unternimmt, damit sie endlich gleich-
die Entscheidung zur dynamischen Wirkung des Ver-
berechtigt in Deutschland teilhaben können. Danke sa-
schlechterungsverbots in der Sache Toprak macht eine
gen ist einfach; aber daraus Konsequenzen zu ziehen
kritische Prüfung der aufenthaltsrechtlichen Regelun-
und türkeistämmigen Einwanderern ihre Rechte aus dem
gen seit dem Inkrafttreten des Verschlechterungsverbots
Assoziationsabkommen einzuräumen, fällt der Bundes-
notwendig.
regierung offensichtlich schwer. Bewusst behandelt sie
Eingewanderte als Menschen zweiter Klasse und ver- Die Bundesregierung muss die europarechtswidrige
sagt ihnen trotz langjährigen Aufenthalts die gleichen Anwendung des Assoziationsabkommens zwischen der
Rechte, wie sie deutsche Staatsangehörige haben. Ur- EU und der Türkei beenden und die vielen Urteile des
teile des Europäischen Gerichtshofes zugunsten der Ein- Europäischen Gerichtshofs umsetzen. Hierzu gehört
wanderinnen und Einwanderer ignoriert sie so lange, auch, die insbesondere gegen türkische Staatsangehö-
bis die Kommission mit Vertragsverletzungsverfahren rige erlassenen Gesetzesverschärfungen der letzten
droht. Jahre zurückzunehmen.
Nach 50 Jahren Einwanderung aus der Türkei ist es Wir begrüßen, dass die Fraktion Die Linke den Um-
Zeit, unser Aufenthaltsgesetz auf die Vereinbarkeit mit setzungsbedarf erkennt und die Bundesregierung mit ih-
dem Assoziierungsrecht zu überprüfen und notwendige rem Antrag auffordert, das deutsche Recht mit dem Ge-
Änderungen vorzunehmen. Das gilt erst recht nach den meinschaftsrecht in Einklang zu bringen. Allerdings hat
kürzlich ergangenen wegweisenden Entscheidungen des die Fraktion Die Linke es sich leicht gemacht: Sie zählt

Zu Protokoll gegebene Reden


16656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Memet Kilic
(A) weder konkret den Änderungsbedarf auf, noch schlägt wie steht es mit dem Redebeitrag des Kollegen von Notz (C)
sie Lösungen vor. Das wollen wir besser machen und be- in der ersten Beratung des Antrags? Auch hier Fehlan-
reiten daher gerade eine umfassendere Initiative zur zeige. Nicht einmal die Worte „Terrorismus“, „Krimina-
Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Ge- lität“ oder auch nur „Straftat“ werden erwähnt. Man
richtshofs zum Assoziationsrecht vor. kann den Eindruck gewinnen, die Grünen versuchten
krampfhaft, diesem Thema aus dem Weg zu gehen. Ich
Vizepräsident Eduard Oswald: frage mich aber: Wie sollen wir ernsthaft und angemes-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf sen über PNR-Abkommen und auch über die im vorlie-
Drucksache 17/7373 an die in der Tagesordnung aufge- genden Antrag kritisierten, angeblich fehlenden Nach-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein- weise der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit
verstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist sprechen, wenn hier nicht einmal über den Zweck des
die Überweisung so beschlossen. Fluggastdatenaustausches gesprochen wird?

Der Innenausschuss – das ist jetzt der Zusatzpunkt 7 – Hier müssen wir Folgendes zur Kenntnis nehmen:
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Erstens. Fluggastdaten geben Auskunft über Reise-
che 17/5989, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die routen von Tatverdächtigen und Terrorverdächtigen.
Grünen auf Drucksache 17/3686 abzulehnen. Wer Das sind Erkenntnisse, die von enormer Bedeutung sind
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die und die in dieser Form nicht anders in Erfahrung ge-
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Bündnis 90/Die bracht werden können. Die Erkenntnisse aus diesen Da-
Grünen, SPD und Linksfraktion. Enthaltungen folglich ten tragen auch entscheidend dazu bei, Kriminelle oder
keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Terroristen zu identifizieren, die bisher noch nicht ent-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: deckt wurden.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Zweitens. Immer mehr Staaten – darunter auch viele
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu unserer Partner – nutzen Fluggastdaten zur Verfolgung
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin und Abwehr von Terrorismus und schweren Straftaten
von Notz, Wolfgang Wieland, Volker Beck wie etwa Menschenhandel oder Drogenschmuggel.
(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Auch europäische Länder profitieren von entsprechen-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Rückmeldungen für die Arbeit ihrer Sicherheitsbe-
hörden.
Gutachten über die geplanten EU-Fluggastda-
tenabkommen mit den USA und Australien Drittens. EU-Staaten und unsere Partnerländer kön-
(B) beim Gerichtshof der Europäischen Union ein- nen auf Erfolge bei der Aufdeckung und Bekämpfung (D)
holen terroristischer und krimineller Netzwerke verweisen, für
– Drucksachen 17/6331, 17/7676 – die die Fluggastdaten von großer Bedeutung waren.
Deshalb ist die Verwendung von Fluggastdaten unver-
Berichterstattung: zichtbar, und deshalb sprechen wir im Bundestag über
Abgeordnete Clemens Binninger PNR-Abkommen und über die geplante PNR-Richtlinie
Wolfgang Gunkel der EU.
Gisela Piltz
Jan Korte Die ausgehandelten Abkommen mit den USA und
Dr. Konstantin von Notz Australien sind auch nichts Neues. Es gab sie schon in
der Vergangenheit. Zu einem angemessenen und ernst-
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die haften Umgang mit dem Thema PNR-Abkommen gehört
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- deshalb auch, dass die Grünen, die sich hier wieder als
ginnen und Kollegen sind dem Präsidium bekannt. Hüter der Grundrechte und des Datenschutzes gerieren,
einen Blick in die Zeit werfen, in der sie Regierungsver-
Clemens Binninger (CDU/CSU): antwortung hatten. Im Jahr 2004 wurde zwischen der
Wir diskutieren hier zum wiederholten Male über EU und den USA ein PNR-Abkommen geschlossen, das
Grundrechts- und Datenschutzfragen bei den EU-Flug- mit Blick auf den Grundrechts- und Datenschutz bei wei-
gastdatenabkommen mit den USA und Australien. Das tem nicht die Standards festgeschrieben hatte, die wir in
ist zweifelsohne wichtig. Wichtiger wäre aber vielleicht, den vorliegenden Abkommen finden. Und es ist nicht
dass die Grünen dazu einmal einen Antrag vorlegen, der schwer zu erraten, welche Bundesregierung dieses Ab-
dieser schwierigen Thematik angemessen ist. kommen mitgetragen hat und welche Fraktion damals
keinen Antrag auf Überprüfung dieses Abkommens ge-
Es sei den Grünen unbenommen, sich für eine Über- stellt hat. Die Grünen waren seinerzeit mit dabei. Jetzt
prüfung der Abkommen durch den Europäischen Ge- kritisieren dieselben Grünen die Fluggastdatenabkom-
richtshof einzusetzen. Es wäre aber auch schön gewe- men mit den USA und Australien, die auch auf Initiative
sen, wenn die Grünen wenigstens mit einem Halbsatz des Bundesinnenministeriums deutliche Verbesserungen
erwähnt hätten, warum die Europäische Union PNR-Ab- erfahren haben. So sieht grüne Glaubwürdigkeit aus.
kommen schließt, nämlich weil der Datenaustausch we-
sentliche Erkenntnisse zur Bekämpfung des internatio- Es war wichtig, das PNR-Abkommen 2004 mit den
nalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität Vereinigten Staaten zu schließen, weil wir damit eine ge-
liefert. Aber im Antrag der Grünen Fehlanzeige. Und meinsame europäisch-amerikanische Vereinbarung über
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16657
Clemens Binninger
(A) den Umgang und die Nutzung von Fluggastdaten festge- Erstens. In beiden Abkommen werden wir klarer und (C)
schrieben haben. Nach den Terroranschlägen von 9/11 enger gefasste Definitionen des Anwendungsbereichs
stellte sich die Situation anders dar als heute. Die USA als bisher haben. Daran gebunden sind die Speicherfris-
hatte alle Fluggesellschaften, die Flüge in die oder aus ten. Das Abkommen mit Australien sieht fünfeinhalb
den USA oder über das Gebiet der USA durchführen, Jahre vor. Die jüngsten Verhandlungen mit den USA se-
verpflichtet, den amerikanischen Zollbehörden elektro- hen jetzt eine Staffelung der Speicherfristen vor. Bei ter-
nischen Zugriff auf die Daten ihrer Reservierungs- und roristischen Straftaten dürfen die Daten für fünfzehn
Abfertigungssysteme, die sogenannten Passenger Name Jahre und bei schweren Straftaten für zehn Jahre gespei-
Records, einzuräumen. Nachdem die EU um einen Auf- chert werden. Ich hätte mir gerade mit Blick auf die USA
schub gebeten hatte, traten die Vorschriften schließlich auch kürzere Speicherfristen vorstellen können.
2003 in Kraft. Danach räumten europäische Fluggesell- Ehrlicherweise ist aber festzuhalten, dass die Daten
schaften den amerikanischen Zollbehörden Zugang zu nicht gespeichert werden, weil der Staat es will. Diese
ihren Fluggastdatensätzen nach einseitig festgesetzten Daten sind alle schon heute bei den Fluggesellschaften
Regeln ein. vorhanden und werden dort auch heute schon mehrere
Jahre gespeichert. Es geht also in erster Linie um die
Das zeigt: Wenn wir ein besseres Abkommen mit bes- Frage, unter welchen Voraussetzungen den Sicherheits-
serem Datenschutz wollen, dann erreichen wir dies nur behörden diese Daten zur Verfügung stehen, um An-
zusammen mit unseren Partnern. Wenn wir angemessen schläge zu verhindern, schwere Straftaten aufzuklären
über PNR-Abkommen diskutieren wollen, gehört also oder Verdächtige zu identifizieren. Wem die Sicherheit
dazu, dass es sich um Verträge handelt, an denen immer der Bürger etwas wert ist, der kann eine Speicherung
mindestens zwei Seiten beteiligt sind. Hier kann nicht nicht grundsätzlich ablehnen.
eine Seite der anderen den Inhalt vorschreiben. Das gilt
im Übrigen auch für die einzelnen EU-Länder, die unter- Zweitens. Beide Abkommen sehen eine Depersona-
schiedliche Maßstäbe an die Nutzung von Fluggastdaten lisierung der gespeicherten Daten vor. Das heißt, nach
stellen. Auch hier muss eine interne Linie gefunden wer- einem bestimmten Zeitraum – für die USA ist dies nach
den, die sich nicht nur nach den deutschen Vorstellungen sechs Monaten vorgesehen – werden aus den Datensät-
richtet. zen der Fluggäste Daten gesperrt, die eine Identi-
fizierung der Person zulassen. Es handelt sich dabei um
Deshalb hat die Europäische Kommission sowohl mit Daten wie Namen und Adressen. Das ist ein ganz ähnli-
den USA als auch mit Australien im Rahmen der Ver- ches Verfahren, wie wir es in Deutschland mit der Ano-
handlungsmandate, die das Europäische Parlament vor- nymisierung kennen. Die vollen Datensätze werden
(B) gegeben hat, aber auch mit Blick auf die Bedenken des dann nur noch unter strengen Auflagen einem sehr klei- (D)
Parlaments über die Nutzung der Fluggastdaten verhan- nen Personenkreis in den zuständigen Behörden zugäng-
delt. Die jetzt vorliegenden Einigungen mit beiden Län- lich sein.
dern spiegeln eine kontinuierliche Verbesserung auch
der Datenschutzbestimmungen wider. Es geht darum, Drittens. Neben unterschiedlichen Datenschutzregeln
zusammen mit unseren Partnern eine Balance zu finden, möchte ich vor allem darauf hinweisen, dass beide Ab-
die dazu beiträgt, Terrorismus und Kriminalität besser kommen die Datenübermittlung in einem Push-Ver-
bekämpfen zu können und gleichzeitig die Rechte des fahren vorsehen. Die Behörden in den USA wie in Aus-
Einzelnen zu sichern, auch wenn es hier aus deutscher tralien werden also im Regelfall keinen direkten Zugriff
Sicht sicher noch einige offene Wünsche gibt. auf die Fluggastdaten haben, sondern die Airlines wer-
den diese Daten auf Anforderung weitergeben. Während
Das Abkommen mit Australien ist praktisch unter unter rot-grüner Verantwortung die Daten auf dem
Dach und Fach. Es wurde im Oktober vom JI-Rat be- Wühltisch zur Selbstbedienung bereitlagen, gibt es jetzt
schlossen. Auch das Europäische Parlament hat Ende nur noch Daten auf Anforderung und Beleg.
Oktober in einer legislativen Entschließung dem PNR-
Abkommen mit Australien bereits zugestimmt. Im De- Wenn man sich mit dem Thema PNR-Abkommen also
zember wird der Rat abschließend seine Zustimmung ge- ernsthaft und angemessen auseinandersetzen möchte,
ben. Insofern hat sich der Antrag der Grünen auf Über- muss man den Blick etwas weiter fassen, als dies der An-
prüfung erledigt. Das Abkommen mit Australien ist aus trag der Grünen tut. Nur dann kommt man zu einer fun-
unserer Sicht gut ausgestaltet, auch in Datenschutzfra- dierten Einschätzung und Bewertung der Lage. Insge-
gen. Dies hat auch der Bundesdatenschutzbeauftragte samt gilt festzuhalten, dass auf ein Instrument wie die
anerkannt. Mit den USA wurden seit dem Sommer im Nutzung von PNR-Daten nicht verzichtet werden kann,
Vergleich zum Verhandlungsstand, der dem Antrag der wenn wir Sicherheit im Luftverkehr wollen, wenn wir
Grünen zugrunde liegt, weitere Fortschritte erzielt, die verhindern wollen, dass Passagiermaschinen zu Waffen
noch in Schriftform gegossen werden. Erst dann wird und zu Zielen von Anschlägen werden, und wenn wir
man den neuen Entwurf für das PNR-Abkommen genau wollen, dass die Sicherheitsbehörden in der Lage sind,
bewerten können. schwere Verbrechen aufzuklären und kriminelle Struktu-
ren zu erkennen. Wer fordert, dass eine Warnlampe an-
Die beiden Abkommen unterscheiden sich in vielen geht, wenn ein Terrorverdächtiger ein Flugzeug bestei-
Punkten. Ich möchte dennoch drei zentrale Aspekte her- gen will, braucht eine Speicherung und Auswertung von
vorheben: Passagierdatensätzen.

Zu Protokoll gegebene Reden


16658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) Wolfgang Gunkel (SPD): auch das PNR-Abkommen mit Australien. Da somit auch (C)
Die Abkommen über die Fluggastdaten sind nicht Straftaten erfasst sind, die nicht als schwerwiegend an-
zum ersten Mal Thema im Deutschen Bundestag. Nach- gesehen werden können, stellt sich auch in diesem Zu-
dem die Verhandlungen zwischen der Europäischen sammenhang die Frage nach der Verhältnismäßigkeit
Union und den USA beziehungsweise Australien nun des Abkommens.
vorläufig abgeschlossen sind, bestehen noch immer er-
hebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der Abkommen Weitere Kritikpunkte beziehen sich auf die Möglich-
mit dem EU-Primärrecht, insbesondere mit dem Schutz keit grundrechtswidriger Profilerstellungen sowie auf
personenbezogener Daten gemäß Art. 8 der EU-Grund- eine mangelnde Kontrolle durch unabhängige Daten-
rechtecharta. schutzbeauftragte. Die Notwendigkeit, Fluggastdaten
nur nach europäischen Grundrechts- und Datenschutz-
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die maßstäben zu übermitteln, haben wir ja auch in einem
Grünen greift diese Bedenken auf und fordert die Bun- eigenen Antrag – Bundestagsdrucksache 17/6293 – zum
desregierung auf, ein Gutachten beim Gerichtshof der Ausdruck gebracht.
Europäischen Union einzuholen, welcher die Vereinbar-
keit der geplanten Abkommen mit EU-Primärrecht prü- Die geplanten PNR-Abkommen haben auch Auswir-
fen soll. Da auch die SPD-Bundestagsfraktion diese Be- kungen auf den Grundrechtsschutz nach den Maßstäben
denken teilt und ein Gutachten des Europäischen des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundes-
Gerichtshofs mehr Rechtssicherheit für die Bürgerinnen verfassungsgerichts, da die betreffenden Fluggastdaten
und Bürger mit sich bringen würde, stimmen wir dem auf der Grundlage dieser Abkommen von deutschen Stel-
Antrag zu. len an die USA oder Australien weitergeleitet würden.
Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang das
Bereits im Juni 2011 habe ich darauf hingewiesen, Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdaten-
dass mit der Weitergabe von Fluggastdaten zwar ein le- speicherung vom 2. März 2010, 1 BvR 256/08. Hier hat
gitimes Ziel verfolgt wird, dabei aber grund- und men- das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aus-
schenrechtliche Garantien beachtet werden müssen. drücklich aufgetragen, sich auf internationaler und
Dies sehe ich in den geplanten EU-Fluggastdatenab- europäischer Ebene für die Wahrung der Datenschutzstan-
kommen mit den USA und Australien noch nicht ausrei- dards des Grundgesetzes einzusetzen, BVerfG, a. a. O.,
chend gewährleistet. So hat auch der Juristische Dienst Randnummer 218. Genau diesem Auftrag kann und
der Kommission in seiner Stellungnahme vom 18. Mai muss die Bundesregierung nun entsprechen und das ge-
2011 erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Ab- forderte Gutachten des Gerichtshofs der Europäischen
kommens zwischen der EU und den USA mit dem Union einholen. Ein solches Gutachten könnte – sollte
(B) Grundrecht auf Datenschutz geäußert. Ich möchte hier der EuGH darin die Unvereinbarkeit der Abkommen mit (D)
noch einmal betonen, dass es sich dabei um einen inter- dem Grundrecht auf Datenschutz und somit EU-Primär-
nen Dienst der Kommission handelt, also des EU-Or- recht feststellen – auch die Position der Europäischen
gans, das für die Aushandlung der Fluggastdatenab- Union bei weiteren Verhandlungen über das PNR-Ab-
kommen zuständig ist. Demnach gibt es auch innerhalb kommen mit den USA stärken.
der Kommission Bedenken hinsichtlich der Grund-
rechtskonformität dieses Abkommens. Die erheblichen datenschutzrechtlichen Bedenken ge-
Die Kritik bezieht sich insbesondere auf die Verhält- genüber dem Abkommen, die offensichtlich auch inner-
nismäßigkeit des Abkommens. So sieht das geplante halb der Kommission selbst bestehen, können nicht ein-
PNR-Abkommen mit den USA eine Dauer der Daten- fach unter den Teppich gekehrt werden. Ein Gutachten
speicherung von 15 Jahren vor. Der Juristische Dienst des Gerichtshofs der Europäischen Union kann Klarheit
des Rates hat in seinem Gutachten zum Vorschlag einer über die Vereinbarkeit der Abkommen mit den EU-
EU-Richtlinie über die Verwendung von Fluggastdaten Grundrechten schaffen und ist aus Gründen der Rechts-
vom 12. April 2011 bereits die Notwendigkeit einer Spei- sicherheit unerlässlich.
cherfrist von mehr als 2 Jahren infrage gestellt. Für die
Erforderlichkeit einer 15-jährigen Speicherfrist fehlt zu- Gisela Piltz (FDP):
dem jeglicher Nachweis, und somit bestehen erhebliche
Auch auf die Gefahr hin, mich zu diesem Thema zu
Zweifel, dass der mit der Speicherung der Daten verbun-
wiederholen: Wer hat’s erfunden? Richtig, die Grünen.
dene Grundrechtseingriff dem Grundsatz der Verhältnis-
Der grüne Außenminister Joschka Fischer hat zu Zeiten
mäßigkeit entspricht.
der rot-grünen Bundesregierung im Rat dem Abkommen
Des Weiteren soll die Verwendung von Fluggastdaten zwischen EU und USA zur Übermittlung von Fluggast-
nach dem geplanten Abkommen unter anderem zu Zwe- daten zugestimmt, einem Abkommen, in dem damals das
cken der Verhütung und Bekämpfung von „schweren Wort Datenschutz ein absolutes Fremdwort war. Die
Straftaten“ zulässig sein. Über einen Verweisungs- Notbremse zog dann das Europäische Parlament, wäh-
dschungel gelangt man allerdings zu dem Ergebnis, dass rend hier im Bundestag SPD und Grüne das, was sie
es sich dabei bereits um Straftaten handelt, die mit einer heute kritisieren, unterstützten – mit dem Unterschied,
Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind. dass die heutige schwarz-gelbe Koalition sich um den
Damit umfasst diese Definition eine weitaus größere Datenschutz kümmert und dafür kämpft, das, was uns
Zahl von Straftaten als beispielsweise der EU-Richt- Rot-Grün hinterlassen hat, wenigstens rechtsstaatlich
linienvorschlag zur Weitergabe von Fluggastdaten oder auszugestalten.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16659
Gisela Piltz
(A) Das Verhalten der Grünen jedenfalls nennt man ge- von den Freien Liberalen, zwingen uns dazu, heute er- (C)
meinhin widersprüchlich. Heute so zu tun, als hätten Sie neut über den Stopp des europäischen Fluggastdatenab-
mit dem Thema nichts zu tun und könnten sich hier als kommens mit den USA und Australien zu debattieren.
vermeintliche Retter des Rechtsstaats aufzuspielen, ist
schon ziemlich dreist. Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist für ihren
neuerlichen Vorstoß, die Grundrechtskonformität des
Die FDP-Fraktion bleibt ihrer Linie bei Fluggastda- benannten Datenaustauschabkommens der Europäi-
ten treu. Wir haben die Nutzung von Fluggastdaten von schen Union mit den USA und Australien zu überprüfen,
Anfang an kritisch begleitet. Wir müssen zur Kenntnis zu danken. Seit nunmehr sieben Jahren bemüht sich
nehmen, dass weder im Rat noch im Europäischen Par- auch die Linksfraktion darum, der transatlantischen Da-
lament eine Mehrheit gegen Fluggastdatensammlungen tensammelwut Einhalt zu gebieten. Bisher stießen nicht
vorhanden ist. Aber wir nehmen auch zur Kenntnis, dass nur wir, sondern auch Bürgerrechtsorganisationen und
die Sensibilität immerhin gestiegen ist für den Daten- Datenschützer vor allem bei der deutschen Bundesregie-
schutz und den Schutz der Persönlichkeitsrechte. Sogar rung damit aber auf taube Ohren.
der Juristische Dienst der Kommission hat inzwischen
ein kritisches Gutachten zu dem geplanten Abkommen Selbst das Europäische Parlament und das Bundes-
zur Übermittlung von Fluggastdaten in die USA erstellt; verfassungsgericht haben seit einiger Zeit erhebliche
ebenso hat der Juristische Dienst des Rates sich kritisch Zweifel an dem Austausch von Informationen über Flug-
mit dem geplanten EU-Fluggastdatensystem befasst. passagiere mit den benannten Staaten. Das Europäische
Diese Kritik muss ernst genommen und bei den Beratun- Parlament forderte vor anderthalb Jahren die Kommis-
gen natürlich berücksichtigt werden. Anders als zu frü- sion auf, ein neues Abkommen über die Weitergabe von
heren rot-grünen Zeiten muss man das aber heute der Passagierdaten auszuhandeln. Diese Verhandlungen
Bundesregierung nicht extra sagen – die Bundesjustiz- sind nun abgeschlossen; ein vorläufiges Ergebnis liegt
ministerin hat diese Fragen selbst im Blick und setzt sich vor. Dieses kann uns nicht befriedigen. Denn – und dies
national wie auch in der EU und international für mehr beschreibt der Antrag der Grünen vortrefflich – die der-
Datenschutz ein. zeit vorliegende Fassung des Abkommens ist mit dem
Schutz der EU-Grundrechte und damit mit dem Primär-
Dass das nicht immer einfach ist, zeigt sich aktuell recht der Europäischen Union nicht vereinbar.
bei den Verhandlungen über ein neues Abkommen zwi-
schen EU und USA. Wir wissen, dass bei aller guten Augenscheinlich zeigen sowohl Bundesregierung als
transatlantischen Zusammenarbeit und Partnerschaft auch Europäische Kommission aber wenig Interesse an
gerade im Hinblick auf den Datenschutz doch erhebli- den vorgebrachten Bedenken von Datenschützern und
che Unterschiede bestehen. Davor kann man kapitulie- Bürgerrechtsparteien wie der Partei Die Linke. Dies
(B)
ren und wie damals Joschka Fischer einfach ohne verwundert nicht; schließlich schwebt hinter dem trans- (D)
weitere rechtsstaatliche Sicherungen den Zugriff auf atlantischen Abkommen die Einrichtung eines inner-
Fluggastdaten und Bankdaten europäischer Bürgerin- europäischen Fluggastdatenmanagements. Übersetzt:
nen und Bürger gestatten. Oder man kann dafür kämp- Mit dem Abschluss der Verhandlungen über einen Aus-
fen, dass es besser wird. Wir machen lieber Letzteres. tausch von personenbezogenen Daten von Flugpassa-
Gemeinsam mit den Liberalen im Europaparlament und gieren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen
der Bundesjustizministerin setzt sich die FDP-Fraktion Union, den USA und Australien soll der Weg bereitet
dafür ein, dass bei dem künftigen Abkommen mit den werden, um zukünftig jedwede Bewegung von Personen
USA ein hohes Datenschutzniveau erreicht wird. Bei innerhalb der EU zu registrieren, die auf das Transport-
dem Abkommen zwischen EU und Australien ist das be- mittel Flugzeug zurückgreifen.
reits gelungen. Dieses Abkommen ist – vor allem im Ver-
gleich zu denjenigen, die wir bisher kannten, und natür- Wenn Sie, meine Damen und Herren im Bundesjustiz-
lich immer unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es und Bundesinnenministerium, schon nicht auf die Ein-
sich um eine grundsätzlich nicht unbedenkliche anlass- wände der Oppositionsfraktionen im Bundestag, die
lose Speicherung von persönlichen Daten handelt – Entschließungen des Europäischen Parlamentes oder
mustergültig. Das anerkennt auch der Bundesdaten- die europäischen Datenschützer hören wollen, viel-
schutzbeauftragte. leicht, ja vielleicht schenken Sie den Argumenten Ihrer
eigenen Institutionen und Behörden mehr Vertrauen.
Und ganz ehrlich: Dafür brauchen wir keinen Rat- Selbst der Juristische Dienst des Rates, also jener Insti-
schlag von den Grünen, ganz besonders nicht von den tution, in der auf europäischer Ebene die Staats- und
Grünen, die bei diesem Thema eigentlich in Sack und Regierungschefs und Ministerinnen und Minister mit-
Asche gehen müssten. einander arbeiten, hegt erhebliche Zweifel an der
Grundrechtskonformität des derzeitigen Verhandlungs-
Ihren Antrag lehnen wir daher ab und handeln lieber standes in Bezug auf den Austausch von Flugpassagier-
im Sinne von mehr Datenschutz und mehr Schutz der daten. Vor allem der Eingriff des ausgehandelten Ab-
Persönlichkeitsrechte von Flugreisenden. kommens in Art. 8 der EU-Grundrechtecharta, also das
Grundrecht auf Datenschutz, wiegt schwer. Der Juristi-
Jan Korte (DIE LINKE): sche Dienst der Europäischen Kommission kritisiert in
Das Versagen der schwarz-gelben Koalition, insbeson- seiner jüngsten Stellungnahme, so wie die Linksfraktion
dere aber die fehlende Durchsetzungsfähigkeit der Bun- vor Monaten bereits auch, den fehlenden Nachweis der
desjustizministerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit, die man-

Zu Protokoll gegebene Reden


16660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

Jan Korte
(A) gelnde Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der Grund- Australien einzelne Verbesserungen erreicht wurden, (C)
rechtseingriffe, die überlange Speicherdauer und die eine ganze Reihe von Experten und Institutionen haben
mangelnde Kontrolle durch unabhängige Datenschutz- massive Zweifel an der Vereinbarkeit der geplanten
beauftragte. PNR-Abkommen mit den EU-Grundrechten, der Euro-
päischen Menschenrechtskonvention und dem deutschen
Auch das Bundesverfassungsgericht hat uns mit sei- Grundgesetz. Ich brauche das hier nicht zu wiederholen,
nem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vom März 2010 die Einzelheiten wurden vielfach vorgebracht und wir
klipp und klar aufgetragen, uns für die Wahrung der ver- haben über sie hier auch diskutiert. Die berechtigten
fassungsrechtlichen Datenschutzstandards des deut- Datenschutzbedenken gegen die geplanten PNR-Abkom-
schen Grundgesetzes auch in internationalen Zusam- men lassen sich aber einfach nicht wegdiskutieren, wie
menhängen einzusetzen. man ja unschwer auch am Abstimmungsverhalten der
Insofern stimmen wir dem Antrag der Grünen zu und Bundesregierung erkennen kann.
fordern die Bundesregierung auf, gemäß Art. 218 Frau Piltz, Zweckbindung, Ausschluss grundrechts-
Abs. 11 AEUV ein Gutachten der Europäischen Union widrigen Profilings und die Weiterleitung von Daten in
über die Vereinbarkeit der geplanten Abkommen mit den Unrechtsstaaten, unabhängige Datenschutzkontrolle –
USA und Australien über die Weitergabe von Passagier- das sind Ihre Themen, und das sind die zentralen Kritik-
daten mit dem europäischen Primärrecht einzuholen. punkte an den PNR-Abkommen mit den USA und Austra-
lien, geäußert nicht nur vom Juristischen Dienst der
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Europäischen Kommission, sondern auch vom Europäi-
NEN): schen Datenschutzbeauftragten und führenden Exper-
„Wir dürfen hier nicht sehenden Auges eine Situation ten. Im Juni dieses Jahres haben Sie an dieser Stelle ge-
entstehen lassen, in dem die EU grundrechtswidrige Ab- sagt, was die Fluggastdaten angeht, müsse im Sinne des
kommen abschließt.“ Mit diesem Satz habe ich Sie in der Rechtsstaates gerettet werden, was noch zu retten ist.
ersten Lesung im Juni 2011 bereits um Zustimmung zu Ihre Parteikollegin Frau Leutheusser-Schnarrenberger
unserem Antrag gebeten. Mit diesem Satz bitte ich Sie wird in der Regierung hart gekämpft haben um die Ent-
noch einmal um Unterstützung unseres Antrags, mit dem haltung beim PNR-Abkommen mit Australien. Jetzt sind
die Bundesregierung aufgefordert wird, die geplanten wirklich einmal Sie dran mit dem Retten – und ich meine
Abkommen über die Weitergabe von Passagierdaten, damit nicht das Retten der Koalition –: Setzen Sie sich
PNR, an die USA und Australien dem EuGH zur Prüfung innerhalb der Koalition durch, und nutzen Sie damit die
vorzulegen. Möglichkeit, die der Vertrag über die Arbeitsweise der
Europäischen Union uns gibt; die Möglichkeit, diese
(B) Meine Damen und Herren von der Koalition, liebe eklatant grundrechtswidrigen Abkommen dem EuGH (D)
Frau Piltz, lieber Herr Binninger, was haben Sie denn für zur Prüfung vorzulegen, bevor sie in Kraft treten.
ein Selbstverständnis als Parlamentarier in der Regie-
rungskoalition? Die Bundesregierung enthält sich – als Zu Ihnen, Herr Binninger: Sie haben im Innenaus-
einzige EU-Regierung – bei der Abstimmung über das schuss gesagt, dass Parlamentarier nach Mehrheiten
PNR-Abkommen mit Australien im Rat der Stimme, und entscheiden und nicht nach Gerichtsentscheidungen und
zwar aufgrund erheblicher Datenschutzbedenken. Und dass Sie deswegen einer Grundrechtskontrolle durch
was machen Sie? Sie lehnen eine Vorlage dieses Abkom- den EuGH nicht zustimmen können. Da bleibt mir ja fast
mens und des PNR-Abkommens mit den USA zum EuGH die Spucke weg, wenn das Ihr Verständnis von Gewal-
mit der schlichten Begründung ab, Terrorbekämpfung tenteilung sein sollte: Was grundrechtswidrig ist, be-
sei nötig und es hätte schon einmal schlechtere Abkom- stimmt allein das Parlament, und wenn es dann doch
men gegeben. schiefgeht und die Sache irgendwie vor dem Bundesver-
fassungsgericht landet, dann bringen wir die deutschen
Was, meine Damen und Herren von der Koalition, ha- Grundrechtshüter vom Verfassungsgericht halt in die
ben Sie für ein Verständnis von Demokratie und Gewal- europapolitische Bredouille, indem wir sie vor die Ent-
tenteilung? Die Bundesregierung hat im Rat erhebliche scheidung stellen, sich entweder für Europa oder für die
Bedenken gegen die PNR-Abkommen wegen Zweifeln an Grundrechte zu entscheiden?
der Rechtsgrundlage geäußert. Das heißt übersetzt: Die
Bundesregierung ist der Ansicht, dass die PNR-Abkom- Umgekehrt wird ein Schuh draus. In seinem Urteil
men mit den USA und Australien von den nationalen zur Vorratsspeicherung von Telekommunikationsverbin-
Parlamenten, also auch vom Deutschen Bundestag, rati- dungsdaten hat das Bundesverfassungsgericht den Ge-
fiziert werden müssten. Die Bundesregierung konnte setzgeber unmissverständlich dazu aufgefordert, sich für
sich mit dieser Auffassung im Rat aber nicht durchset- die Wahrung verfassungsrechtlicher Datenschutzstan-
zen. Was machen Sie? Sie akzeptieren brav wie die dards auf europäischer und internationaler Ebene ein-
Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank, dass dem Bun- zusetzen. Wenn also allenthalben und sogar innerhalb
destag hier möglicherweise Rechte vorenthalten werden, Ihrer Regierungskoalition Zweifel an der Grundrechts-
statt sich dafür einzusetzen, dass auch diese Frage vom konformität bestehen, ist es Ihre Pflicht, dem nachzuge-
EuGH in einem Gutachten geklärt wird. hen und alle verfügbaren Mittel zu ergreifen, um das
Inkrafttreten grundrechtswidriger Abkommen zu ver-
Jetzt aber noch einmal zu den Inhalten, dem Kern der meiden. Noch ist es nicht zu spät: Stimmen Sie unserem
Besorgnis der Grünen als Bürgerrechtspartei: Auch Antrag zu, fordern Sie die Bundesregierung auf, die ge-
wenn im Laufe der Verhandlungen mit den USA und planten PNR-Abkommen mit Australien und den USA

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16661
Dr. Konstantin von Notz
(A) dem EuGH vorzulegen. Nach der Enthaltung der Bun- Sie werden es nicht für möglich halten, meine lieben (C)
desregierung beim Abkommen mit Australien wäre die- Kolleginnen und Kollegen, aber es ist so: Wir sind am
ser Schritt nur konsequent. Ende unserer heutigen Tagesordnung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Vizepräsident Eduard Oswald:
der FDP – Zurufe von der CDU/CSU: Jetzt
schon?)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Wir wollen dennoch weiterarbeiten, aber nicht mehr
che 17/7676, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die heute, sondern morgen.
Grünen auf Drucksache 17/6331 abzulehnen. Wer Ich berufe somit die nächste Sitzung des Deutschen
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. November
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Frak- 2011 – ein besonderer Tag –, 9 Uhr, ein.
tionen der Sozialdemokraten und des Bündnisses 90/Die
Die Sitzung ist geschlossen.
Grünen sowie die Linksfraktion. Enthaltungen? – Nie-
mand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. (Schluss: 23.26 Uhr)

(B) (D)
Anlagen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16663

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 bundesweites Kormoranmanagement. Dies kann ein


wichtiger erster Schritt zu einem europaweiten Manage-
Liste der entschuldigten Abgeordneten ment sein. Daher stimme ich auch dem Antrag auf
Drucksache 17/7352 zu.
entschuldigt bis Gleichzeitig möchte ich auf drei kritische Aspekte des
Abgeordnete(r) einschließlich Antrages verweisen, die über die grundsätzliche Zustim-
mung hinaus festzustellen sind:
Ahrendt, Christian FDP 10.11.2011 Erstens. Die Antragsformulierungen zum Thema Ein-
griffe in Schutzgebieten sind missverständlich. Weitge-
Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 10.11.2011
hende Ausnahmeregelungen, „auch in Schutzgebieten
Marieluise DIE GRÜNEN
Eingriffe in bereits bestehende Kolonien zu ermögli-
Goldmann, Hans- FDP 10.11.2011 chen“, müssen selbstverständlich im Rahmen natur-
Michael schutzgesetzlicher Regelungen und damit auf die dort er-
möglichten Ausnahmesituationen beschränkt bleiben.
Hintze, Peter CDU/CSU 10.11.2011 Viele betroffene Teichwirtschaften liegen in der Nähe
oder in Schutzgebieten. Wenn notwendig, sollten hier
Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 10.11.2011 einzelfallbezogene Maßnahmen geprüft werden. Recht-
liche Bedenken sind zuvor ernsthaft zu prüfen. Handeln
Leidig, Sabine DIE LINKE 10.11.2011 in solch begründeten Ausnahmefällen ist bereits jetzt
möglich.
Meierhofer, Horst FDP 10.11.2011
Zweitens. Im Antrag fehlen wichtige Partnerinnen
Philipp, Beatrix CDU/CSU 10.11.2011 und Partner zur Umsetzung eines bundesweiten Manage-
ments. Gerade bei so emotional geführten Debatten soll-
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 10.11.2011 ten alle beteiligten Stakeholder einbezogen werden. Die
Koalition nennt jedoch nur die Bundesländer. Im Antrag
Seiler, Till BÜNDNIS 90/ 10.11.2011 der Bundestagsfraktion Die Linke wird auch die Beteili-
DIE GRÜNEN gung von Fischerinnen und Fischern, Naturschützerin-
(B) nen und Naturschützern und Anglerinnen und Anglern (D)
Spatz, Joachim FDP 10.11.2011 gefordert. Es macht Sinn, diese Gruppen an einen Tisch
zu holen und gemeinsam nach der besten Lösung zu su-
Dr. Wadephul, Johann CDU/CSU 10.11.2011 chen.
David
Drittens. Im Antrag der Koalition fehlen differen-
Widmann-Mauz, CDU/CSU 10.11.2011 zierte Blickwinkel. Die Probleme im Fischartenschutz
Annette sind nicht nur durch den Kormoran verursacht und hät-
ten daher wie im Antrag auf Drucksache 17/5378 gleich-
Wolff (Wolmirstedt), SPD 10.11.2011 berechtigt dargestellt werden sollen. Beispielsweise
Waltraud muss auf den schlechten ökologischen Zustand vieler
Fließgewässer infolge von Uferverbauung, Staustufen
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 10.11.2011 und Stickstoffeinträgen aus der Landwirtschaft hinge-
wiesen werden. Neben einem Kormoranmanagement
müssen deshalb die Verbesserung der Gewässerqualität,
die Reduzierung von Verbauungen und der Einflüsse der
Anlage 2 Wasserkraft sowie die Renaturierung der Gewässer wei-
Erklärung nach § 31 GO ter vorangetrieben werden.

der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann (DIE


LINKE) zur Abstimmung über die Beschluss- Anlage 3
empfehlung zu dem Antrag: Fischartenschutz
voranbringen – Vordringliche Maßnahmen für Zu Protokoll gegebene Reden
ein Kormoranmanagement (Tagesordnungs- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
punkt 14 b) die Besetzung der Großen Straf- und Jugend-
Der von den Koalitionsfraktionen eingebrachte Antrag kammern in der Hauptverhandlung (Tagesord-
greift wesentliche Forderungen des Antrages 17/5378 nungspunkt 18)
„Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten – Kormo-
ranmanagement einführen“ der Bundestagsfraktion Die Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): In den 90er-Jah-
Linke auf. Letzterer wurde im Frühjahr 2011 gestellt. ren waren aufgrund der Wiedervereinigung die Personal-
Die grundsätzliche Forderung beider Anträge ist ein mittel in der Justiz sehr knapp. Um trotz dieses Umstan-
16664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) des eine funktionierende Rechtspflege gewährleisten zu Eine Reduktion kann dann nicht erfolgen, wenn die (C)
können, wurde mit dem Gesetz zur Entlastung der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwah-
Rechtspflege in § 76 Abs. 2 GVG für die Großen Straf- rung, deren Vorbehalt oder die Unterbringung in einem
kammern die Möglichkeit geschaffen, in der Hauptver- psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist. Bei sol-
handlung in der Besetzung mit zwei Berufsrichtern und chen Entscheidungen der Großen Strafkammern, die als
zwei Schöffen zu verhandeln. Das Gesetz zur Entlastung einzige Tatsacheninstanz mit umfassender Strafgewalt
der Rechtspflege trat am 1. März 1993 in Kraft. In der etwa über die Unterbringung in der Sicherungsverwah-
letzten Änderung dieses Gesetzes durch das RPflEntlG rung zu entscheiden haben, muss das Wissen und die Er-
in der Fassung vom 8. Dezember 2010 wurde in Art. 15 fahrung eines voll besetzten Richterkollegiums genutzt
Abs. 2 bestimmt, dass diese in § 76 Abs. 2 GVG nor- werden.
mierte Regelung am 31. Dezember 2011 außer Kraft
Weiter ist dann in der Dreierbesetzung zu verhandeln,
tritt. Bis dahin wurde die Regelung im Zweijahresrhyth-
wenn Umfang und Schwierigkeit der Strafsache dies for-
mus verlängert. Mit dem heute zu verabschiedenden Ge-
dern oder das Gericht als Schwurgericht verhandelt. Bei
setz zur Besetzung der Großen Straf- und Jugendkam-
Zweifel bzw. Unklarheit ist immer die Dreierbesetzung
mern wird nun eine dauerhaft gültige Regelung
der Zweierbesetzung vorzuziehen.
geschaffen. Hiermit setzt die christlich-liberale Koalition
den richtigen Akzent! Schließlich werden in § 76 Abs. 3 GVG noch zwei
Regelbeispiele aufgestellt, die eine Verhandlung vor drei
Grundsätzlich hat sich gezeigt, dass sich die bisherige Richtern erfordern.
Regelung bewährt hat; deshalb wurde sie auch bisher im
Zweijahresrhythmus verlängert. So waren im Jahre 2009 Das eine Regelbeispiel ist gemäß § 76 Abs. 3 GVG
fast 80 Prozent – in einigen Bundesländern fast 90 Pro- dann erfüllt, wenn die Große Strafkammer als Wirt-
zent – der Hauptverhandlungen vor den Großen Straf- schaftskammer zuständig ist. In diesem Fall ist in der
und Jugendkammern mit zwei Berufsrichtern und zwei Regel die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig.
Schöffen besetzt. Dennoch wurde eine funktionierende Besonders ist hierbei darauf hinzuweisen, dass in den
und vor allem rechtsstaatliche Rechtspflege gewährleis- Fällen, in denen die Wirtschaftskammern als Große
tet, da diese Fälle auch in der Zweierbesetzung adäquat Strafkammer verhandeln, eine Dreierbesetzung in der
entschieden werden können. Regel angemessen ist. Dass die Besetzung der Wirt-
So loben auch die Landesjustizverwaltungen, dass schaftskammern mit drei Richtern als Regelbeispiel gilt,
„die Besetzungsreduktion den Strafkammern eine fle- fußt auf folgenden Erkenntnissen: Einerseits hat sich erge-
xible Reaktionsmöglichkeit auf unterschiedliche Verfah- ben, dass eine nicht unerhebliche Zahl der Verfahren von
zwei Berufsrichtern und zwei Schöffenrichtern bewältigt
(B) renskonstellationen“ ermöglicht. Dies stellte die Große (D)
Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes in werden kann. Andererseits zeigt sich, dass Wirtschafts-
ihrem Gutachten zur Besetzungsreduktion, das aus den strafverfahren vom durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad
Ergebnissen der Sitzung vom 3. bis 8. August 2009 in eines allgemeinen landgerichtlichen Verfahrens abwei-
Gotha resultiert, fest. chen. Vor allem die Komplexität der vor der Wirtschafts-
kammer zu verhandelnden Sachverhalte gebietet eine
In dem Zielkonflikt zwischen Sicherung der Qualität Besetzung mit drei Berufsrichtern, um eine adäquate
der Rechtsprechung und Prozessökonomie wird nun eine Rechtsfindung zu ermöglichen.
dauerhafte Regelung geschaffen, die den Anforderungen Gleichzeitig ist es in den Beratungen zu dem vorlie-
an eine funktionierende Rechtspflege Rechnung trägt. genden Gesetzentwurf aber gelungen, in den Fällen, in
Mit dem Gesetz über die Besetzung der Großen Straf- den die Wirtschaftskammer als Große Strafkammer han-
und Jugendkammern werden gleichzeitig noch einige delt und eine Besetzung mit drei Richtern das Regelbei-
Änderungen bei dem Gesetz über den Rechtsschutz bei spiel erfüllt, einer klare Beschlussempfehlung zu formu-
überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Er- lieren, die es den Gerichten ermöglicht, eine Redu-
mittlungsverfahren und eine Änderung der Disziplinar- zierung auf zwei Richter revisionsfest vorzunehmen,
ordnung abgeschlossen. Im Einzelnen geht es hierbei vor wenn sie zu der Überzeugung gelangen, dass das Regel-
allem um die drei folgenden Punkte: Erstens werden Re- beispiel gerade nicht erfüllt ist. So ist eine Reduzierung
gelungen zur Dekonzentration von Zuständigkeiten ge- auf zwei Richter dann möglich, wenn nur wenige Ver-
schaffen. Zweitens wird der Ausschluss der Präsidenten handlungstage erforderlich sind oder aber ein weniger
und Vizepräsidenten von der Mitwirkung an Entschädi- komplexes Verfahren vorliegt, wenn deren Umfang nur
gungsprozessen für kleinere Gerichte festgeschrieben. dadurch bedingt ist, dass viele ähnlich gelagerte, kleine
Drittens wird eine Regelung geschaffen, die dafür sorgt, Fälle zusammentreffen.
dass Privatkläger in Strafverfahren nicht in den Kreis der Mit dieser Regelung wird die für die Arbeit der Wirt-
Entschädigungsberechtigten mit einbezogen werden. schaftskammern erforderliche Flexibilität bei der Beset-
zung in der Hauptverhandlung gewährleistet.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ausdrücklich zu
begrüßen. Durch die Schaffung und gesetzliche Normie- Das zweite in § 76 Abs. 3 GVG genannte Regelbei-
rung von Ausnahmen, in denen eine Besetzungsreduk- spiel ist dann erfüllt, wenn die Hauptverhandlung vo-
tion unmöglich ist, wird eine stabile Rechtslage geschaf- raussichtlich länger als zehn Tage dauern wird. In diesen
fen, die gleichzeitig den Anforderungen an ein faires Fällen ist die Mitwirkung eines dritten Richters in der
Verfahren Rechnung trägt. Regel notwendig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16665

(A) Hinsichtlich dieses Regelbeispiels ist noch auf Fol- lungstagen zurückbleibt. Mit der vorliegenden Regelung (C)
gendes hinzuweisen: wird der entscheidende Richter klar bestimmt und das
Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101
Es gab zunächst unterschiedliche Ansätze, die Anzahl
Abs. 1 Satz 2 GG gewahrt.
der Verhandlungstage zu bestimmen, die eine zwingende
Dreierbesetzung nach sich ziehen. Hierbei kann zum ei- Zusammenfassend kann man Folgendes festhalten.
nen auf § 275 Abs. 1 StPO verwiesen werden. Diskutiert Die neue Regelung des § 76 Abs. 2 bis 5 GVG verbes-
wurde hierbei vor allem zum einen eine Anzahl von drei, sert den Verfahrensablauf, da er eine unbefristet gültige
zum anderen eine Anzahl von zehn Hauptverhandlungs- Regelung statuiert. Dies führt zu einer Erhöhung der
tagen. Diese beiden Zahlen standen deshalb im Raum, Rechtssicherheit und gerade nicht zu einem Entzug des
weil beide Zahlen in § 275 Abs. 1 StPO genannt werden. gesetzlichen Richters, da der Angeklagte jederzeit mit
§ 275 Abs. 1 StPO bestimmt unterschiedliche Fristen, in Rechtssicherheit seinen gesetzlichen Richter bestimmt
denen ein Urteil zu den Akten zu bringen ist. Diese Fris- weiß.
ten verlängern sich entsprechend der Dauer der Haupt-
verhandlung. Eine verlängerte Frist gilt zum einen bei Die Vorteile der unbefristeten Regelung der Beset-
einer Hauptverhandlungsdauer. Diese Zeiträume – drei zung der Großen Straf- und Jugendkammern liegen auf
bzw. zehn Tage – können somit als Anhaltspunkte auch der Hand. Auch an diesem Gesetzgebungsvorhaben
in der Regelung des § 76 Abs. 3 GVG gelten. zeigt sich die stringente Rechtspolitik der christlich-libe-
ralen Koalition im Hinblick auf die Gewährleistung von
Wie die Sachverständigen bei dem erweiterten Be- Rechtssicherheit und Effektivität der Justiz.
richterstattergespräch ausführten, dauert die Mehrzahl
der Hauptverhandlungen etwa drei bis fünf Tage. Um
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Ich
eine klare Abgrenzung zu dieser Vielzahl von Fällen zu
möchte die Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgeset-
schaffen, muss die Zahl der Hauptverhandlungstage, die
zes in den Fokus meines Beitrags stellen, die der Rechts-
eine zwingende Dreierbesetzung nach sich ziehen, mit-
ausschuss in das Verfahren eingebracht hat und die das
hin höher angesetzt werden. Auch eine voraussichtliche
heute zu verabschiedende Gesetz als „Omnibus“ nutzen,
Verhandlungsdauer von fünf Tagen kann hier noch keine
um bereits Änderungen des vor kurzem verabschiedeten
klare Abgrenzung schaffen.
Gesetzes über den Rechtschutz bei überlangen Gerichts-
Für die Einführung der Zehn-Tage-Grenze spricht verfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vor-
auch ein weiteres systematisches Argument. Auch in zunehmen.
§ 229 Abs. 2 StPO wird die Verhandlungsdauer von zehn
Neben vielen richtigen Regelungen in dem Gesetz,
Tagen als Anlass genommen, eine längere Unterbre-
mit dem wir ein Rechtsmittel bei unverhältnismäßig lang
(B) chung zu gewähren. (D)
andauernden Verfahren geschaffen haben, konnte in ei-
Sowohl § 275 Abs. 1 StPO als auch § 229 Abs. 2 StPO nem wesentlichen Punkt leider nicht die aus Sicht mei-
wurden für umfangreiche Verfahren geschaffen. Diese ner Fraktion optimale Lösung erzielt werden. Von An-
mithin vom Gesetzgeber selbst geschaffene Grenze für fang an hatten wir Bedenken gegen die örtliche aus-
umfangreiche Verfahren kann auch bei § 76 Abs. 2 GVG schließliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts am
herangezogen werden. So führt auch der BGH in seinem Sitz der Landesregierung auch für Verfahren im Bereich
Beschluss vom 7. Juli 2010 aus (Az: 5 StR 555/09, anderer Oberlandesgerichte des jeweiligen Bundeslan-
Nr. 19): des.
Der Senat hielte es demgegenüber grundsätzlich für Die Reaktionen aus den Ländern mit zwei oder mehr
angezeigt, den der Beurteilung des Tatrichters un- Oberlandesgerichten – ich hatte es in meiner Rede am
terstehenden Rechtsbegriff des Umfangs der Sache 29. September 2011 angesprochen – waren ausnahmslos
auch dahingehend weiter zu konturieren, dass je- ablehnend. Auch war es aus meiner Sicht nicht nachvoll-
denfalls bei einer im Zeitpunkt der Eröffnung des ziehbar, warum bei der Beurteilung der Überlänge eines
Hauptverfahrens absehbaren Verhandlungsdauer Verfahrens der ersten oder zweiten Instanz die Grenzen
von wenigstens zehn Hauptverhandlungstagen von des OLG-Bezirks verlassen werden sollten. Schließlich
der Mitwirkung eines dritten Berufsrichters grund- entscheiden auch sonst die Oberlandesgerichte als Beru-
sätzlich nicht abgesehen werden darf. fungs- oder Revisionsinstanz über Entscheidungen der
jeweiligen Gerichte ihrer Bezirke. Den entsprechenden
Bei den so zu bestimmenden umfangreichen Verfah-
„Gleichlauf der Verfahren“, den der Bundesrat hier an-
ren, die durch eine Verhandlungsdauer von zehn oder
mahnt, halte ich für ein überzeugendes Argument. Die
mehr Tagen gekennzeichnet sind, kann dann in der Drei-
vom Entwurfsverfasser ursprünglich angestrebte Ein-
erbesetzung das Verfahren seinem Umfang entsprechend
heitlichkeit der Rechtsprechung wird meines Erachtens
angemessen erledigt werden.
hinreichend durch die auf Ebene des BGH angesiedelten
Endlich kann noch festgehalten werden, dass gerade Fachgerichte gewährleistet. Das dadurch bei den Gerich-
kein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Rich- ten entstandene Unbehagen und Unverständnis ist mehr-
ter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vorliegt. Die Ent- fach – zumeist am Beispiel der Badener und der
scheidung, mit drei Richtern zu verhandeln, kann näm- Württemberger Justiz – sowohl im Ausschuss, aber auch
lich auch dann nicht mehr abgeändert werden, wenn sich in sonstigen kollegialen Gesprächen und Schreiben, mal
während der Hauptverhandlung ergibt, dass die Verhand- mit rein sachlichen Argumenten, mal auch mit einem er-
lungsdauer hinter den zehn prognostizierten Verhand- kennbaren Schmunzeln erörtert worden. Leider war es
16666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) trotzdem im parlamentarischen Verfahren und unter dem Landgerichten bei der Hauptverhandlung grundsätzlich (C)
bestehenden Zeitdruck angesichts der Fristsetzung des mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt. Seit
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zunächst fast 20 Jahren wird ihnen durch das Gesetz zur Entlas-
nicht konsensfähig, zu der nun getroffenen guten Lösung tung der Rechtspflege die Möglichkeit gegeben, in „we-
zu kommen, obwohl noch in der letzten Sitzung des niger umfangreichen und einfacheren Fällen“ mit zwei
Rechtsausschusses vor der Verabschiedung um eine gute statt mit drei Berufsrichtern plus jeweils zwei Schöffen
Lösung gerungen worden war. zu entscheiden. Diese Entscheidung ist bei der Eröff-
nung des Hauptverfahrens zu treffen.
Die entsprechende Bundesratsstellungnahme hat die
Bundesregierung nun zum Anlass genommen, nachträg- Die Geltungsdauer dieser Regelungen zur sogenann-
lich einige wenige Verbesserungen einzubringen. Da der ten Besetzungsreduktion, also die bestehende Möglich-
entsprechende Kompromiss mit den Ländern erst nach keit der Zweierbesetzung, wurde den Gerichten 1993
Verabschiedung des oben genannten Gesetzes gefunden erstmals befristet eröffnet, um personelle Engpässe nach
wurde und sich die Einführung eines Rechtsmittels gegen der Wende vor allem an Gerichten in den neuen Bundes-
überlange Gerichtsverfahren nicht verzögern sollte, bin ländern abzufedern. Eine Evaluation auf Wunsch der
ich dankbar, dass wir mit dem ebenfalls eingebrachten SPD vor einigen Jahren hat gezeigt, dass die Beset-
Entwurf eines Gesetzes zur Besetzungsreduktion der zungsreduktion insgesamt eine feste Größe im Justizall-
Großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhand- tag geworden ist. Bei der Anwendung der Regelung sind
lung in ein parlamentarisches Verfahren gefunden haben, erhebliche regionale Unterschiede feststellbar. Je höher
das es uns erlaubt, im Regelungszusammenhang des Ge- die Komplexität eines Falles, desto häufiger wurde aber
richtsverfassungsgesetzes die Änderung nachträglich auch weiterhin in Dreierbesetzung verhandelt. Die Zwei-
vorzunehmen. „Geht doch, warum nicht gleich so“, erbesetzung ist in einfach gelagerten Fällen vertretbar,
möchte man sagen, denn neben den besseren Argumen- wird aber von den Gerichten insgesamt zu großzügig ge-
ten war bereits damals die Einstellung der Länder zu die- handhabt. Mehr noch: Es gibt Einschätzungen, wonach
sem Punkt bekannt, der Änderungsbedarf daher abseh- diese Möglichkeit ausufernd in Anspruch genommen
bar; eine Entscheidung des Parlaments aus einem Guss und quasi zum Regelfall gemacht wurde.
im Zuge der Verabschiedung des Gesetzes wäre sicher
überzeugender gewesen, als die erste Nachbesserung des Einigkeit besteht darin, dass es keine weitere Verlän-
Gesetzes noch vor der Verkündung im Bundesanzeiger. gerung der derzeit geltenden Regelung geben soll. Es
wird keine unbefristete Fortdauer der jetzigen Regelung
Zwei weitere Änderungen werden auf Betreiben des und es wird keine komplette Rückkehr zur alten Rechts-
Bundesrates eingefügt: Das Mitwirkungsverbot der Ge- lage geben, wobei wir davon ausgehen, dass eine Dreier-
(B) richtspräsidenten und ihrer ständigen Vertreter wird ge- besetzung nicht in allen Fällen rechtsstaatlich geboten (D)
strichen. Die seitens der Länder geäußerte nachvollzieh- ist. Insbesondere dann, wenn ein Fall weder in rechtli-
bare Sorge, dass mit solch einer Ausschlussregelung cher noch in tatsächlicher Hinsicht Schwierigkeiten auf-
Misstrauen innerhalb der Gerichte Vorschub geleistet weist, kann der Verfahrensstoff auch in reduzierter Be-
werde, ist damit aus der Welt. Die in Zukunft erforder- setzung ohne Qualitätseinbußen bewältigt werden, aller-
lich werdende Trennung zwischen Dienstaufsicht und dings legen wir Wert darauf, dass dies auch weiterhin die
Entschädigungsangelegenheiten kann der Organisations- Ausnahme bleiben soll.
autonomie der Gerichte und damit den Geschäftsvertei-
lungsplänen überlassen werden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hingegen
sieht vor, dass die Möglichkeit, mit zwei statt drei Be-
Dritter Bestandteil des mit den Ländern gefundenen rufsrichtern zu verhandeln, grundsätzlich beibehalten
Kompromisses ist die gesetzliche Einschränkung, dass wird. Durch den Entwurf sollen die Begriffe „Umfang“
ein Privatkläger im Strafverfahren keinen Entschädi- und „Schwierigkeit der Sache“ weiter ausgestaltet wer-
gungsanspruch für Überlängen im Verfahren hat. In der den. Darüber hinaus wird für die Fälle, in denen die An-
Tat ging diese Regelung über die Vorgaben des EGMR ordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwah-
hinaus; die Streichung liegt damit in der Tendenz, das rung, deren Vorbehalt oder die Anordnung der Unter-
neue Rechtsmittel nicht zu einer ausufernden neuen bringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu er-
– und damit letztlich gerade kontraproduktiven – Belas- warten sind, stets eine Besetzung von drei Berufsrichtern
tung der Gerichte werden zu lassen. Ob dies in der Pra- vorgesehen. Bei den Regelungen zur Besetzung der Gro-
xis zu deutlich anderen Fallzahlen führen wird, als es die ßen Jugendkammer wird zusätzlich jugendstrafrechtli-
ursprüngliche Regelung getan hätte, kann hier dahinge- chen Besonderheiten Rechnung getragen.
stellt bleiben.
Bundesregierung und Koalition halten es für ausrei-
Wichtig ist, dass mit diesem Kompromiss der Rechts- chend, den Rechtsbegriff des Umfangs der Sache dahin
schutz bei überlangen Gerichtsverfahren nun ohne wei- gehend zu konkretisieren, dass zumindest bei einer im
tere Verzögerung in Kraft treten kann; erfreulich ist, dass Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptverfahrens absehba-
wir dies mit einer entscheidenden Verbesserung bei der ren Verhandlungsdauer von wenigstens zehn Hauptver-
örtlichen Zuständigkeit der Oberlandesgerichte verbin- handlungstagen von der Mitwirkung eines dritten Be-
den konnten. rufsrichters grundsätzlich nicht abgesehen werden darf.
Der Koalitionsentwurf sieht im Grunde genommen vor,
Christoph Strässer (SPD): Nach § 76 Abs. 1 GVG dass die bisherige Ausnahme, nämlich die Besetzungsre-
sind die Großen Straf- und Jugendkammern bei den duktion, zum Regelfall werden soll – eine Entwicklung,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16667

(A) die die SPD-Bundestagsfraktion in dieser Form nicht haus zu erwarten sind. Eine Aufnahme auch der Wirt- (C)
mitträgt. schaftsstrafkammern in den Katalog der obligatorischen
Dreierbesetzung halten wir hingegen nicht für erforder-
Vor wenigen Wochen hat es ein erweitertes Bericht- lich, da es auch bei Wirtschaftsstrafsachen Verhandlun-
erstattergespräch gegeben. Die Anhörung der Sachver- gen gibt, die mit ausreichender rechtsstaatlicher Garantie
ständigen war allerdings anscheinend ohne Belang für in der reduzierten Besetzung unter den gleichen Krite-
die Koalition. Drei der vier angehörten Sachverständi- rien wie bei den Strafkammern durchgeführt werden
gen haben sich nachvollziehbar auf den Standpunkt ge- können. Dem Änderungsantrag der Grünen können wir
stellt, dass es nicht akzeptabel sei, eine besondere deshalb nicht zustimmen.
Schwierigkeit oder einen besonderen Umfang der Sache,
die eine Dreierbesetzung erforderlich machen, erst bei Die Beteiligung mehrerer Berufsrichter neben dem
einer voraussichtlichen Verfahrensdauer von zehn Tagen Vorsitzenden ist grundsätzlich geeignet, Aufgaben insbe-
anzunehmen. Die Bundesrechtsanwaltskammer sieht sondere in der Hauptverhandlung sachgerecht aufzutei-
weniger als fünf Hauptverhandlungstage als Regelvo- len, den Verfahrensstoff intensiver zu würdigen und
raussetzung für eine Besetzung mit nur zwei Richtern als schwierige Rechtsfragen besser zu bewältigen. Eine zu
angemessen an, die Neue Richtervereinigung sogar nur umfassend ausgedehnte Besetzungsreduktion birgt die
eine Verhandlungsdauer von drei Tagen. Ob fünf oder Gefahr des Verlusts der Kontrollfunktion, die der zweite
drei Verhandlungstage – beide Regelungen sind in jedem beisitzende Richter mit Blick auf den ordnungsgemäßen
Fall klarer und weniger zugänglich für gestalterische In- Verfahrensablauf und die Urteilsberatung ausübt. Da-
terpretationsmöglichkeiten der Verhandlungsdauer und durch kommt es zu einer stärkeren Belastung insbeson-
sind damit weniger missbrauchsanfällig. 60 Prozent der dere des Vorsitzenden, die Einarbeitung junger unerfah-
Verfahren werden sogar innerhalb dreier Verhandlungs- rener Richterinnen und Richter wird ebenso erschwert
tage verhandelt. Insofern bleiben genügend einfache wie die Erlernung kollegialer und kommunikativer
Verfahren erhalten, bei denen eine Zweierbesetzung aus- Kompetenzen. Außerdem schafft die häufigere Anwen-
reicht. dung der Zweierbesetzung langfristig keine neuen Kapa-
Die SPD-Bundestagsfraktion bedauert, dass die Ko- zitäten bei den Gerichten, da Stellen gestrichen werden
alition nicht auf die Einschätzungen der Wissenschaft könnten.
und Praxis eingegangen ist und keine interfraktionelle Die Neuregelung der Besetzung der Straf- und Ju-
Lösung gesucht hat. Zwar stellt der Gesetzentwurf eine gendkammern in der Hauptverhandlung dürfte im Ver-
Verbesserung des Status quo dar und ist durchaus disku- gleich zur derzeit geltenden Rechtslage zu einem nicht
tabel. Zwei für uns wesentliche Aspekte werden aber genau bezifferbaren höheren Personalbedarf und damit
nicht erfüllt: Erstens: Die Dreierbesetzung wird nicht zu höheren Personalkosten für die Länder führen. Das (D)
(B)
ausreichend als Regelfall dargestellt. Zweitens: Die Be- sehen wir durchaus. Die Gerichte und Justizbehörden
setzung mit zwei Berufsrichtern bei allen Verfahren mit sind aber keine untergeordneten Behörden der Finanz-
einer Verhandlungsdauer bis zu zehn Tagen ist zu weit- minister. Die Kosten sind überschaubar. Das hohe Gut
gehend. De facto wird in Umkehrung von § 76 Abs. 1 der Rechtsstaatlichkeit sollte uns dies wert sein.
GVG damit die Besetzung mit zwei Berufsrichtern zum
Regelfall erklärt.
Jens Petermann (DIE LINKE): Wir begrüßen den
Der Änderungsantrag der SPD-Fraktion zielt demge- Versuch, die Notlösung in § 76 Abs. 2 Gerichtsverfas-
genüber darauf ab, die Dreierbesetzung der Berufsrich- sungsgesetz nicht nochmals zu verlängern. Man sollte
terbank wieder zum Regelfall zu erklären; sie soll nur in sie aber einfach am 31. Dezember auslaufen lassen und
besonderen Fällen entbehrlich sein. Dazu schlagen wir nicht wie geplant zur Regel machen. Deshalb kann ich
Regelbeispiele vor. Wir orientieren uns hierbei im We- zum wiederholten Mal den Einbringern kritische Hin-
sentlichen an den Vorschlägen der Bundesrechtsanwalts- weise nicht ersparen. Die Bedenken gegen das Vorhaben
kammer. Mit der von uns vorgeschlagenen Fassung wird wurden bereits in einem erweiterten Berichterstatterge-
die strukturelle Überlegenheit der Dreierbesetzung ver- spräch vorgetragen, haben jedoch bei der Koalition nicht
deutlicht und das Regel-Ausnahme-Verhältnis der Beset- zu einer Neubewertung geführt. Leider läuft das der Ab-
zung mit drei Berufsrichtern verankert. Nicht die Dreier- sicht zuwider, den Gesetzentwurf nach Anhörung von
besetzung bedarf einer besonderen Begründung, sondern Sachverständigen sachlich zu verbessern. Es nützt
die Zweierbesetzung als Ausnahmefall. Um den Grund- nichts, Sachverständige einzuladen, wenn man nicht be-
satz nicht zu sehr auszuhöhlen, favorisieren wir eine reit ist, ihre Argumente zu hören.
Fünf- und keine Zehn-Verhandlungstage-Lösung. Nach
unserem Vorschlag beschließt die Große Strafkammer, Worum geht es genau? Nach Herstellung der deut-
dass sie in der Hauptverhandlung nur mit zwei Richtern schen Einheit wuchs der Bedarf an Richterinnen, Rich-
einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen be- tern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten im Beitritts-
setzt ist, wenn die Hauptverhandlung voraussichtlich gebiet kurzfristig stark an. Deshalb entschied sich der
weniger als fünf Tage dauern wird oder in der Hauptver- Gesetzgeber im Jahre 1993 für eine vorübergehende
handlung ein Geständnis zu erwarten ist. Dies gilt nicht, Notlösung. Er erlaubte befristet bis zum 28. Februar
wenn die Strafkammer als Schwurgericht zuständig ist 1998 den Großen Strafkammern an den Landgerichten,
oder die Anordnung der Unterbringung in der Siche- selbst über ihre Besetzung mit zwei oder drei Berufsrich-
rungsverwahrung, deren Vorbehalt oder die Anordnung tern zu entscheiden. Man ging davon aus, dass nach fünf
der Unterbringung in einem psychiatrischen Kranken- Jahren genügend geeignete Juristinnen und Juristen zur
16668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) Verfügung stünden, was tatsächlich auch der Fall war. Zu dem Gesetzentwurf wurden im Rechtsausschuss (C)
Doch heute bleibt die Zahl der offenen Stellen in der Jus- noch drei Änderungsanträge eingebracht. Die Anträge
tiz weit hinter der Zahl bestens geeigneter Juristinnen von SPD und Grünen lassen zwar vermuten, dass sie die
und Juristen zurück. Die Geschäftsgrundlage für die da- Defizite des Entwurfes erkannt haben, vermögen es aber
malige Sonderregelung, nämlich der Mangel an geeigne- leider nicht, die Mängel gänzlich auszuräumen.
ten Fachkräften, ist also längst entfallen.
Ja, und dann gibt es noch einen überraschenden Än-
Es drängt sich damit die Frage auf, aus welchen Moti- derungsantrag der Koalitionsfraktionen. Es ist schon er-
ven bei der Besetzung der Großen Straf- und Jugend- staunlich, was da „by the way“ geplant ist. Sie möchten
kammern weiterhin ein Sonderrecht gelten soll. damit Fehler in längst abgeschlossenen Gesetzgebungs-
verfahren beheben. Sie haben selbst eingeräumt, dass
Eine naheliegende Antwort lautet: Kosteneinsparung das mit der Besetzung von Straf- und Jugendkammern
in der Justiz. Durch die Notlösung wurden in jedem gar nichts zu tun hat.
Bundesland, also auch in den alten Bundesländern, min-
destens fünf bis zehn Richterstellen eingespart. Das hat Bei dem Zuständigkeitskatalog des Schwurgerichts
die Finanzminister der Länder offenbar so sehr gefreut, und den Beamtenbeisitzern im Disziplinarsenat beim
dass dieser Einspareffekt nun festgeschrieben werden Bundesverwaltungsgericht könnte man noch einmal ein
soll. Damit wird nicht nur die viele Arbeit auf weniger Auge zudrücken. Aber der Rechtsschutz bei überlangen
Köpfe verteilt, sondern es wird auch leichtfertig mit der Gerichtsverfahren hat sachlich nun überhaupt nichts mit
Qualität des Strafprozesses gespielt. einem Gesetz zu tun, das die Besetzung von Großen
Straf- und Jugendkammern regelt. Abgesehen davon
Der Einspareffekt hat in der Erwägung der Bundesre- leistet der Änderungsantrag auch keinen Beitrag zur
gierung, den heute zu debattierenden Gesetzentwurf vor- Steigerung der Qualität des Entwurfes, was nach den Ar-
zulegen, wohl eine wichtige Rolle gespielt. Zwar fordert gumenten der Sachverständigen nötig gewesen wäre.
der Justizminister der schwarz-gelben Regierung in
Schleswig-Holstein für die Großen Jugendkammern eine Dem offensichtlichen Versuch, die Rechtspflege fis-
grundsätzliche Besetzung mit drei Berufsrichtern; in ei- kalischen Interessen der Länder unterzuordnen, und dem
nem Antrag für die Bundesratssitzung argumentiert er Versuch, eine neue Materie einfach ohne erste Lesung
mit Qualitätssicherung, der großen Bedeutung von Ju- mitzuregeln, versagt meine Fraktion die Unterstützung.
gendverfahren und fordert einen hohen Standard in
Strafverfahren vor einer Jugendkammer. Aber er scheint
mit dieser Position noch allein zu stehen. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eine
(B) rechtspolitische Dauerbaustelle wird heute geschlossen. (D)
Der Gesetzentwurf selbst wählt eine unpräzise Um- Was im Jahre 1993 als eine zeitlich befristete Notmaß-
schreibung des Umfangs oder der Schwierigkeit des Ver- nahme begann, hat sich als eine „never-ending story“ er-
fahrens, die für die Mitwirkung eines dritten Richters wiesen. Um den strafrechtlichen Gerichtsaufbau in den
maßgeblich sein soll. Aber auch die nur orakelhaft vor- damals neuen Bundesländern nach der Wiedervereini-
hersehbare Frist von mindestens zehn Verhandlungsta- gung zu erleichtern, hat der Gesetzgeber ausdrücklich
gen, die zu einer Dreierbesetzung führen soll, eröffnet die Besetzungsreduktion an Großen Strafkammern von
Beurteilungsspielräume, die missbräuchlich genutzt wer- drei auf zwei Berufsrichter einschließlich des Vorsitzen-
den könnten. Darüber hinaus darf nicht hingenommen den nur für eine Übergangszeit erlaubt. Diese Regelung
werden, dass ein Gericht selbst entscheidet, in welcher galt auch in den sogenannten alten Bundesländern, weil
Besetzung es tätig sein will. Es besteht die Gefahr der ein nicht unbeachtlicher Personaltransfer von West nach
Ungleichbehandlung verschiedener Delinquenten vor Ost auch in den alten Bundesländern für Engpässe in der
den Großen Straf- und Jugendkammern und somit der Justiz sorgte.
Verfestigung unterschiedlicher Standards. Eine derartige
Ungleichbehandlung verstößt auch gegen den Gleich- Die Justiz und auch die Landesjustizministerien ha-
heitsgrundsatz des Grundgesetzes. ben sich an diese Möglichkeit der Besetzungsreduktion
schnell gewöhnt und haben sie in die justizpolitischen
Dass die Bedenken zutreffend sind, ergibt sich aus der Haushalte eingepreist. So wurden sozusagen hinterrücks
unterschiedlichen Anwendungshäufigkeit in den Gerich- der Ausnahmecharakter der Vorschrift und ihre zeitliche
ten. Laut einem Gutachten der Strafrechtskommission Begrenzung konterkariert. Auch der Bundestag wollte
des Deutschen Richterbundes wurden zum Beispiel im sich dem Problem einer Rückkehr zum Zustand von vor
Saarland 9 Prozent der Verfahren in der ausnahmsweisen 1993 nicht stellen. Insgesamt 6-mal wurde die Ausnah-
Zweierbesetzung verhandelt, in Bayern und Sachsen mevorschrift jeweils zeitlich befristet verlängert. In die-
hingegen satte 90 Prozent, und das, obwohl der angeb- sen 18 Jahren ist die Besetzungsreduktion höchst unter-
lich in allen Belangen vorbildliche Freistaat Bayern schiedlich zum Einsatz gekommen. Im Saarland wurde
nicht zu den neuen Bundesländern mit Richtermangel sie in 7 Prozent aller Strafsachen vor Großen Strafkam-
und knappen Kassen gehört. Dieses Ungleichgewicht mern eingesetzt, in Brandenburg in 50 Prozent aller sol-
vermag der vorgelegte Entwurf nicht zu beseitigen, so- chen Fälle und in Bayern in 90 Prozent. So wurde, gegen
dass es besser wäre, die befristete Regelung einfach aus- die Intention des Gesetzgebers, aus einer Ausnahmevor-
laufen zu lassen und zu dem über 114 Jahre bewährten schrift eine – regional unterschiedlich – fast ausnahms-
Rechtszustand vor 1993 zurückzukehren. lose Regel.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16669

(A) Auch der Bundesgerichtshof konnte dieser Entwick- Wir haben deshalb – ähnlich wie die SPD – eine Re- (C)
lung nicht Einhalt gebieten, obwohl er in einer Grund- gelung vorgeschlagen, wonach die Mitwirkung eines
satzentscheidung den Vorzug der Dreierbesetzung ein- dritten Richters in der Regel entbehrlich ist, wenn die
drucksvoll hervorhob und sie mit der Notwendigkeit der Hauptverhandlung voraussichtlich weniger als fünf Tage
im Kollegialitätsprinzip gewährleisteten Sicherung der dauern wird oder ein Geständnis zu erwarten ist. Diese
notwendigen Qualität der Entscheidungen der Großen Regelung bringt klar zum Ausdruck, von welchem Leit-
Strafkammern begründete. An die Adresse der Landes- bild der Besetzung Großer Strafkammern der Gesetzge-
justizverwaltungen heißt es in dieser Entscheidung: ber ausgeht: regelmäßige Dreierbesetzung bei prognosti-
zierten fünf Verhandlungstagen oder mehr und
„Es spricht vieles dafür, bei der Anordnung einer regelmäßige Zweierbesetzung bei prognostiziert kürze-
Zweierbesetzung ist eine gewisse Zurückhaltung zu ren Prozessen.
üben, wenn zweifelhaft ist, ob Umfang oder Schwierig-
keit der Sache die Bestimmung einer Dreierbesetzung Leider hat die Koalition in dieser Frage keine Eini-
notwendig erscheinen lässt. Jedenfalls wäre es sach- gung mit der Opposition gesucht. Wir werden deshalb
fremd und damit objektiv willkürlich, eine reduzierte dem Gesetz auch nicht zustimmen können. Wir stimmen
Besetzung aus Gründen der Personaleinsparung zu be- ihm ferner aber auch nicht zu, weil die Koalition im so-
schließen.“ Die Justizverwaltung hat deshalb sicherzu- genannten Omnibusverfahren eine Änderung des Geset-
stellen, dass umfangreiche oder schwierige Verfahren zes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver-
mit drei Berufsrichtern durchgeführt werden können. fahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren
durchzieht – bei einem Gesetz, das erst vor wenigen
Nach 18 Jahren Provisorium scheint eine Rückkehr Tagen beschlossen wurde und noch nicht einmal im
zum alten Rechtszustand, für den nach wie vor sehr viel Bundesgesetzblatt veröffentlicht ist. Sogenannte Omni-
spricht, gegen die Länder nicht mehr durchsetzbar. Es ist busverfahren bedeuten eine Beschneidung der parlamen-
auch zuzugestehen, dass es durchaus Strafsachen gibt, tarischen Beratung und sind strukturell intransparent. Sie
die an einer Großen Strafkammer von zwei Berufsrich- sind nur in Notfällen und bei Behebung offensichtlicher
tern und zwei Schöffen bewältigt werden können. Auch Unstimmigkeiten angezeigt. Hier werden aber breit dis-
die vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebenen kutierte Teile des Gesetzes über den Rechtsschutz bei
zwei Gutachten zu dieser Frage befürworten deshalb überlangen Gerichtsverfahren quasi unter Ausschluss
nicht die ersatzlose Streichung. Aber auch eine schlichte der Öffentlichkeit korrigiert. Da können und werden wir
Entfristung der bisherigen Lösung ist rechtspolitisch nicht mitmachen.
nicht gerechtfertigt. Eine Neuregelung muss gewährleis-
ten, dass die Dreierbesetzung der Großen Strafkammern
(B) als Regelbesetzung auch in der Praxis erhalten bleibt und Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bun- (D)
dass von möglichen Ausnahmen wirklich nur in wenigen desministerin der Justiz: Das 1993 in Kraft getretene
Fällen Gebrauch gemacht wird. Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege hat der „Notsi-
tuation der Justiz in den neuen Ländern“ der damaligen
Im Grundsatz geht der von der Bundesregierung vor- Zeit Rechnung tragen wollen. Den Großen Straf- und Ju-
gelegte Gesetzentwurf deshalb den richtigen Weg. gendkammern wurde seinerzeit die Möglichkeit eröffnet,
Schwurgerichte verhandeln ausnahmslos in einer Dreier- in geeigneten Fällen in reduzierter Besetzung mit zwei
besetzung. Das Gleiche gilt für alle Varianten der Siche- statt drei Berufsrichtern zu verhandeln. Diese – immer
rungswahrung und der Einweisung in ein psychiatrisches wieder für zwei oder drei Jahre befristete – Regelung
Krankenhaus. Auch die Regelung, wonach in Wirt- wurde zuletzt bis zum 31. Dezember 2011 verlängert.
schaftsstrafsachen in der Regel davon auszugehen ist, 19 Jahre provisorische Lösungen sind genug. Jetzt ist
dass die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters notwen- höchste Zeit, eine Dauerlösung zu schaffen, auf die sich
dig ist, löst das Verhältnis zwischen Regel und Aus- die Justizverwaltungen und Gerichte einstellen können.
nahme bei der Dreier- bzw. Zweierbesetzung richtig und
handhabbar. Die Bundesregierung hält allerdings eine Rückkehr
zur Rechtslage, wie sie bis 1992 galt, angesichts der ste-
Ein Problem ist und bleibt schließlich die Lösung für tig steigenden Belastung der Landgerichte und der ange-
alle anderen Strafsachen, die vor einer Großen Strafkam- spannten Personalsituation in den Ländern nicht für
mer angeklagt werden. Der Vorschlag, insoweit den Ge- sinnvoll und – das ist angesichts der überragenden Be-
richten aufzugeben, eine Dreierbesetzung dann zu be- deutung, die der Strafrechtspflege in unserer Gesell-
schließen, wenn „nach dem Umfang oder der schaft zukommt, ausschlaggebend – auch rechtsstaatlich
Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten nicht für geboten. Wir haben – wie in der Begründung
Richters notwendig erscheint“, wobei dies in der Regel des letzten Verlängerungsgesetzes bereits angekündigt –
jedenfalls dann der Fall sein soll, wenn die Hauptver- die Handhabung der Besetzungsreduktion in der Praxis
handlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern evaluiert. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der in
wird. Das ist zu weitgehend, zu wenig konturiert und Auftrag gegebenen Gutachten, aber auch der Rechtspre-
wird sich weiterhin als ein Einfallstor für Tendenzen in chung und Literatur sowie der Stellungnahmen der Län-
der Praxis erweisen, das Regel-Ausnahme-Verhältnis der und Verbände hat die Bundesregierung den vorlie-
zwischen der Dreier- und Zweierbesetzung umzudrehen. genden Entwurf erarbeitet.
Im Jahre 2010 wurden von insgesamt 10 240 erledigten
Verfahren vor Großen Strafkammern 9 600 in zehn oder Unserer Meinung nach stellt der Entwurf einen ausge-
weniger Verhandlungstagen beendet. wogenen Mittelweg zwischen den vor und seit 1993 gel-
16670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) tenden Regelungen dar. Die Möglichkeit, mit zwei statt Entsprechend dem Vorschlag des Bundesrates wird (C)
drei Berufsrichtern zu verhandeln, wird zwar grundsätz- außerdem die Regelung zum Ausschluss von Präsiden-
lich beibehalten. Sind aber besonders schwerwiegende ten und Vizepräsidenten bei der Mitwirkung in Entschä-
Rechtsfolgen wie die Anordnung der Unterbringung in digungsverfahren gestrichen.
der Sicherungsverwahrung, deren Vorbehalt oder die
Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus zu erwarten, ist – wie bisher schon in Anlage 4
Schwurgerichtssachen – stets in Dreierbesetzung zu ver-
handeln. Darüber hinaus werden die Begriffe „Umfang“ Zu Protokoll gegebene Reden
und „Schwierigkeit der Sache“, die bisher einen sehr zur Beratung des Antrags: Nachhaltige Ent-
weiten Beurteilungsspielraum der Strafkammern zulie- wicklung in Subsahara-Afrika durch die Stär-
ßen, durch Regelbeispiele näher konturiert. Es handelt kung der Menschenrechte fördern (Tagesord-
sich dabei um Wirtschaftsstrafverfahren und Hauptver- nungspunkt 19)
handlungen, die voraussichtlich länger als zehn Tage
dauern. Diese Regelbeispielstechnik erlaubt es zum Bei-
spiel, auch künftig bei einfach gelagerten Wirtschafts- Frank Heinrich (CDU/CSU): Wenn wir in diesen Ta-
strafsachen eine Verhandlung in Zweierbesetzung zu be- gen eine Tageszeitung aufschlagen oder eine Website
schließen. Bei den Regelungen zur Besetzung der wie Spiegel Online oder Zeit Online besuchen, dann le-
Großen Jugendkammer haben wir zusätzlich jugend- sen wir in großen Lettern: Euro, Griechenland,
strafrechtlichen Besonderheiten Rechnung getragen. Berlusconi, Mindestlohn, Steuersenkung usw. Afrika ist
im Moment kaum eine Schlagzeile wert. Wir finden viel-
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Verhandlun- leicht eine Notiz zu den Umwälzungen im Norden Afri-
gen in schwierigen Fällen und bei schwerwiegenden kas. Doch schon Libyen ist nach dem Tod Muammar
Rechtsfolgen künftig immer von drei Berufsrichtern ge- Gaddafis kaum noch ein Thema in den Medien.
führt werden. Bei den übrigen Verfahren gibt es eine fle-
xible Lösung, die zwar die Dreierbesetzung bevorzugt, Das Afrika unterhalb der Sahara im Süden und Osten
aber bei einfach gelagerten Fällen einen ressourcenscho- des Kontinents dagegen ist völlig vergessen, und das, ob-
nenden Einsatz erlaubt. wohl sich vor unseren – geschlossenen! – Augen eine der
größten Hungerkatastrophen der Neuzeit abspielt. Jeder
Neben der Besetzung der Großen Straf- und Jugend- zweite Mensch in Afrika lebt in absoluter Armut, also von
kammern in der Hauptverhandlung sind weitere Ände- weniger als 1 Euro pro Tag. Nach Angaben der DSW kom-
rungen vorgesehen. Auf zwei Punkte möchte ich gern men auf 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter 84 Men-
(B) kurz eingehen: zum einen auf die Erweiterung des Zu- schen, die auf Unterstützung angewiesen sind. 30 Prozent (D)
ständigkeitskatalogs des Schwurgerichts, zum anderen der Menschen in Subsahara-Afrika hungern. Etliche Men-
auf drei nachträgliche Änderungen der Vorschriften, die schen leiden an Aids, Malaria oder Typhus. In einzelnen
durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Staaten des südlichen Afrika ist mehr als jeder fünfte Er-
Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsver- wachsene mit dem HI-Virus infiziert, so das Afrika-Kon-
fahren eingeführt worden sind. zept der Bundesregierung.
Der Zuständigkeitskatalog des Schwurgerichts erfasst Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Innerstaatli-
seiner Konzeption nach neben den Tötungsdelikten alle che Konflikte wären zu nennen, ethnische Spannungen
Verbrechen mit der Erfolgsqualifikation „Todesfolge“. und fragile Staatlichkeit, die Gefahr von zerfallenden
Der Katalog war bislang unvollständig. Künftig werden Staaten, wiederholte Völker- und Menschenrechtsverlet-
alle Straftatbestände des Kern- und des Nebenstraf- zungen sowie mangelnde Rechtsstaatlichkeit, willkürli-
rechts, die in die genannte Kategorie fallen, zur Zustän- che Rechts- und Justizsysteme, organisierte Kriminalität
digkeit des Schwurgerichts gehören. – Frauenhandel –, schlecht funktionierende Verwaltun-
gen, die von Korruption zersetzt sind. Eine Presse- und
Darüber hinaus wird im Hinblick auf das Gesetz über Meinungsfreiheit wird oftmals nur eingeschränkt ge-
den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und währleistet. Von Landflucht ist zu sprechen und der da-
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren der Protokollerklä- raus resultierenden rasanten Urbanisierung sowie von
rung der Bundesregierung zu Tagesordnungspunkt 8 der hohen Geburtenraten ohne ausreichende wirtschaftliche
888. Sitzung des Bundesrates am 14. Oktober 2011 Rech- und infrastrukturelle Versorgung.
nung getragen.
Afrika ist ein weites Feld. Daher ist die heutige De-
Durch Änderungen beim Kreis der Entschädigungsbe- batte – und mögen die Reden auch „nur“ zu Protokoll
rechtigten im Strafverfahren und bei der Regelung der gehen – mehr als eine Randnotiz im Deutschen Bundes-
örtlichen Zuständigkeit der Oberlandesgerichte für Ent- tag. Wir brauchen solche Debatten, um die humanitäre
schädigungsverfahren werden Wünsche des Bundesrates und menschenrechtliche Lage im Afrika der Subsahara
aufgegriffen. Privatkläger sollen – so die geänderte Rege- zu betonen und zurück ins Bewusstsein der Öffentlich-
lung – von der Entschädigungsregelung ausgenommen keit zu bringen. Politik muss Öffentlichkeit schaffen.
sein, und die Zuständigkeit soll aus Gründen der Dekon- Das ist eine ihrer vornehmsten Aufgaben. Wir tun dies
zentration jeweils bei dem Oberlandesgericht liegen, in heute. Darum gilt mein Dank den Kollegen von der
dessen Bezirk das streitbefangene Verfahren stattgefun- SPD-Fraktion, die mit ihrem Antrag diese Debatte er-
den hat. möglicht haben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16671

(A) Lassen Sie mich zunächst etwas zur Begrifflichkeit Beispielhaft ist die Entwicklung in Kenia. So heißt (C)
sagen. Der Begriff Subsahara-Afrika ist unglücklich ge- auf der Webseite der GIZ: „Die deutsche Unterstützung
wählt. Er mag zwar geografisch sinnvoll sein, geht aber für den Wassersektor Kenias durch die GIZ durchläuft
aus menschenrechtlicher Sicht am Ziel vorbei. Auch Ihr nunmehr die vierte Phase, die im Januar 2011 begonnen
Antrag verkennt ja die heterogene Situation keineswegs. hat und drei Jahre dauern wird. Sie umfasst fünf Kompo-
Das Afrika-Konzept der Bundesregierung betont diese nenten: Reform des Wassersektors, MWI, Regulierungs-
ausdrücklich. behörde, WASREB, Armutsfonds – Water Services Trust
Fund, WSTF, Wasserbewirtschaftung, WRMA,
Die „Löwenstaaten“ im westlichen Afrika weisen ne- WRUAS, Ausweitung der Einzelhausentsorgung,
ben ökonomischer Stärke viele Beispiele für Good Go- WSTF.“
vernance und menschenrechtliche Fortschritte auf. Der
Ansatz der Regierungskoalition, der die Menschenrechte Der vorliegende Antrag übersieht die Wasserproble-
zu einer Kernaufgabe und zu einem Querschnittsthema matik nahezu gänzlich. Hier gehen die realen Erforder-
der Außen- und Wirtschaftspolitik macht, wird hier be- nisse, aber auch die reale Politik über den Antrag hinaus.
stätigt. Entwicklungszusammenarbeit ist mehr als Ent-
wicklungshilfe; sie ist Wirtschaftszusammenarbeit und Zuzustimmen ist der Forderung, die in den Millen-
setzt auf Themen mit nachhaltiger Bedeutung. niumentwicklungszielen versprochenen Mittel von
0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Entwick-
So stehen im Mittelpunkt der deutschen Unterstützung lungszusammenarbeit bis 2015 zur Verfügung zu stellen.
eben nicht nur einzelne Projekte und Länder, sondern Wir dürfen nicht nachlassen, dieses Ziel anzustreben.
Bündnisse und Institutionen wie die Afrikanische Union, Dafür habe ich mich in meinem bisherigen politischen
AU, das panafrikanische Parlament, PAP, der Afrikani- Wirken starkgemacht und werde es weiterhin tun. Mein
sche Menschenrechtsgerichtshof und die Afrikanische Engagement für die Micha-Initiative sei dabei beispiel-
Konferenz der Dezentralisierungsminister, AMCOD. Die haft erwähnt. Dass wir hier eine parteiübergreifende
Zusammenarbeit mit Regionalorganisationen, REC, und Gruppe von 371 Bundestagsabgeordneten sind, die den
Fachnetzwerken ergänzt diesen Ansatz. Parallel beteiligt „Entwicklungspolitischen Konsens“ zur Einhaltung des
sich Deutschland an politischen Prozessen, die Afrika als Millenniumsversprechens unterschrieben haben, ist hoff-
geeinten Akteur mit afrikanischen Positionen im Außen- nungsvoll. Bleiben wir dran. Zugleich dürfen wir unser
verhältnis wahrnehmen und stärken. Beispiele sind der Engagement nicht auf eine Prozentzahl fixieren. Der
G-8/G-20-Kontext sowie die Gemeinsame Afrika-EU- menschenrechtliche Ansatz – das betone ich erneut –
Strategie, Joint Africa-EU Strategy – JAES. muss sich durch alle Politikfelder ziehen.

(B) Ein wichtiges Kriterium für die deutsche Entwick- Und machen wir uns nichts vor: Jede optimistische (D)
lungszusammenarbeit ist es, Schwerpunkte zu setzen. Zusage steht unter dem Finanzierungsvorbehalt. Hilfe
Daher hat das BMZ ein Sektorkonzept entwickelt, das in auf Pump wird nicht funktionieren. Wir brauchen ein
intensiver Zusammenarbeit mit der GIZ betrieben wird. Sparkonzept, in Deutschland, in der EU und weltweit.
Ganz vorne steht dabei das Menschenrecht auf Wasser Das wird in absoluten Summen auch die Gelder der Ent-
und Sanitärversorgung. wicklungszusammenarbeit betreffen. Darum müssen wir
umso gewissenhafter den Einsatz und die Effektivität
Im Afrika-Konzept der Bundesregierung steht Fol- von Mitteln in den Ländern kontrollieren.
gendes: 40 Prozent der Menschen haben keine ausrei-
chende Versorgung mit Trinkwasser und 70 Prozent kei- Und wir müssen Einfluss nehmen auf internationale
nen Zugang zu Sanitäreinrichtungen in dieser Region. Märkte und Spekulationsgewinne, vor allem im Bereich
Deutschland ist der größte bilaterale Entwicklungspart- der Lebensmittel. Hier möchte ich das engagierte Auf-
ner für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in treten und die internationale Führungsrolle von Angela
Afrika. Merkel, zuletzt auf dem G-20-Gipfel in Cannes, aus-
drücklich loben.
Seit 2003 hat die Bundesregierung durchschnittlich
90 bis 100 Millionen Euro pro Jahr für den Wassersektor Wir lehnen den Antrag der SPD deswegen in der vor-
in Afrika zur Verfügung gestellt. Davon fielen 70 Millio- liegenden Form ab, weil er unserer Meinung nach zum
nen Euro auf die Trinkwasser- und Sanitärversorgung. In einen zu wenig den bisherigen Einsatz der Bundesregie-
Ländern wie Ägypten, Benin, Burkina Faso, Burundi, rung würdigt und zum anderen in einigen existenziellen
der Demokratischen Republik Kongo, Mali, Marokko, Bereichen nicht weit genug geht.
Sambia, Südsudan, Tansania, Tunesien oder Uganda
sind Wasserversorgung und Abwasserentsorgung Lassen Sie mich persönlich schließen: Wir stehen
Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenar- kurz vor dem Beginn der Adventszeit – Menschen öff-
beit. nen ihre Herzen. Lassen Sie uns persönlich dabei voran-
gehen, Afrika wieder zum Thema zu machen – öffent-
Es wurden beachtliche Erfolge erzielt: In Afrika süd- lich, politisch, aber eben auch persönlich. Vielleicht mit
lich der Sahara stieg die Zahl der Menschen, die eine einer Spende für die Christoffel-Blindenmission? Oder
bessere Trinkwasserquelle nutzen, von 252 auf 492 Mil- einem Patenkind bei World Vision?
lionen zwischen 1990 und 2008 und damit auf fast das
Doppelte, so im Millennium-Entwicklungsziele-Bericht Es gilt, das eine zu tun – und das andere nicht zu las-
2011 der Vereinten Nationen. sen.
16672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) Klaus Riegert (CDU/CSU): Die Einhaltung der sind Menschenrechtsfragen. Unser Afrika-Konzept trägt (C)
Menschenrechte hat für die Koalitionsfraktionen und die den Potenzialen ebenso wie den Herausforderungen auf
Bundesregierung einen äußerst hohen Stellenwert. Men- unserem Nachbarkontinent Rechnung. Es dient als
schenrechte sind Leitprinzip deutscher Entwicklungs- Grundlage für spezifischere Länder- und thematische
politik. Der Antrag der SPD-Fraktion beschreibt nun Strategien, die der großen Vielfältigkeit des afrikani-
eine Vielzahl von Politikbereichen, in denen die Bundes- schen Kontinents gerecht werden.
regierung handelt und neue entwicklungspolitische Ak-
Wir wollen eine Partnerschaft auf Augenhöhe, jen-
zente setzt.
seits von überholten Geber-Nehmer-Strukturen. Wir
Mit unserem umfassenden Menschenrechtskonzept wollen afrikanische Eigenanstrengungen und Eigenver-
machen wir Achtung, Schutz und Gewährleistung der antwortung fördern. Und wir wollen gemeinsame Ant-
Menschenrechte zur Messlatte deutscher Entwicklungs- worten Deutschlands und Afrikas auf globale, regionale
politik. Das Konzept definiert konkret, dass Menschen- und nationale Herausforderungen auch in der Subsahara
rechte für die Entwicklungspolitik das Dach bilden, un- finden.
ter dem die Rechte von Frauen, jungen Menschen, Die Aufforderung im SPD-Antrag, vorrangig die
Menschen mit Behinderungen, indigenen Völkern und menschenrechtlichen Ziele unseres Afrika-Konzeptes zu
anderen diskriminierten Personengruppen in der Ent- verfolgen, kann ich deshalb nur als Werbung für unser
wicklungszusammenarbeit strategisch gefördert wer- Afrika-Konzept verstehen.
den. Wir achten querschnittlich darauf, Männer und
Frauen gleichberechtigt am Entwicklungsprozess zu be- Dies gilt auch für die im Antrag angesprochene Kri-
teiligen und langfristig eine Verbesserung der Stellung senprävention. Die Staaten Afrikas haben mit der
von Frauen und ihre Gleichstellung zu erreichen. Afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur Ver-
antwortung für den Frieden auf ihrem Kontinent über-
Nach Schätzungen leben weltweit etwa 690 Millionen nommen. Deutschland unterstützt sie dabei, auch im
Menschen mit Behinderungen, 80 Prozent von ihnen in Rahmen der Vereinten Nationen. Ein besonderer
Entwicklungsländern. Zählt man ihre Familienangehöri- Schwerpunkt ist die Konfliktprävention.
gen hinzu, sind mehr als 2 Milliarden Menschen – also
ein Drittel der Weltbevölkerung – direkt oder indirekt Dort, wo afrikanische Kapazitäten fehlen, oder bei
von Behinderung betroffen. Menschen mit Behinderun- schwerwiegenden Krisen sind wir, ist die Bundesregie-
gen werden weder in der Millenniumserklärung noch in rung grundsätzlich bereit, sich im Rahmen des Völker-
den Millenniumsentwicklungszielen, MDG, ausdrück- rechts auch unmittelbar zu engagieren. An erster Stelle
lich erwähnt. steht jedoch die Stärkung afrikanischer Eigenverantwor-
tung.
(B) Deshalb ist es richtig, dass der Antrag die Einhaltung (D)
der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen Menschenrechte dürfen niemals zur Disposition ste-
anmahnt. Sie werden in den Entwicklungsländern häufig hen. Zukunftsfähige Entwicklung braucht Menschen-
diskriminiert und ausgegrenzt. Unsere Entwicklungs- rechte – bürgerliche und politische, wirtschaftliche, so-
politik orientiert sich an diesem Menschenrechtsansatz: ziale und kulturelle sowie Frauen- und Kinderrechte.
Eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit fördert Aber: Ohne Rechtssicherheit, Schutz der Menschen- und
Gleichberechtigung und Teilhabe von Menschen mit Be- Eigentumsrechte gelingt keine Entwicklung. Ein demo-
hinderung. Wir betrachten sie als aktive Partner bei der kratisch verfasstes, rechtsstaatliches Gemeinwesen und
Umsetzung ihrer Rechte. Daher fördern wir nicht nur gute Regierungsführung bilden langfristig die beste Ga-
Programme für Menschen mit Behinderungen. Wir stre- rantie für Stabilität und nachhaltige Entwicklung.
ben an, dass alle Entwicklungsvorhaben auch Menschen Der „BMZ-Kriterienkatalog für die Bewertung der
mit Behinderungen zugänglich sein müssen. Unsere Bot- Entwicklungsorientierung von Partnerländern“ beurteilt
schaft lautet: Entwicklung inklusiv gestalten! jährlich die Governance- und Menschenrechtssituation in
Neu ist auch, dass die Durchführungsorganisationen den Partnerländern. Eines der insgesamt fünf Kriterien
in Zukunft Vorhaben auf menschenrechtliche Auswir- lautet „Schutz der Menschenrechte und Menschenrechts-
kungen und Risiken prüfen müssen. Weiter verbessern situation“. Die Bewertung erfolgt auf der Grundlage von
wir menschenrechtliches Monitoring und Evaluierun- international anerkannten Indizes und Assessments inter-
gen. nationaler Organisationen bzw. Institutionen, den Bot-
schaftsberichten, den Empfehlungen internationaler
Grundsätzlich arbeiten wir darauf hin, die Kohärenz Menschenrechtsorgane sowie Studien und Berichten von
der Politik für eine global nachhaltige Politik zu erhö- Menschenrechtsorganisationen zur Menschenrechtslage.
hen. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich darauf verstän- Die Förderung regionaler und subregionaler Gerichtshöfe
digt, Politikkohärenz für Entwicklung – Policy Cohe- kann ein konkreter deutscher Beitrag zur EU-Afrika-
rence for Development – zu fördern und sich in einem Strategie sein.
Monitoringprozess besonders auf die Politikbereiche
Handel und Finanzen, Ernährungssicherheit, Klimawan- Wichtig ist auch: Die Menschen in den Partnerländern
del, Migration und Sicherheit zu konzentrieren. müssen befähigt werden, Menschenrechte einzufordern
und die Entwicklung ihres Landes selbst in die Hand zu
Wesentliches Element unserer ressortübergreifenden nehmen. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen in
Strategiepapiere für die Zusammenarbeit zum Beispiel den Partnerländern und in Deutschland spielen hierbei
mit Lateinamerika, der Karibik und insbesondere Afrika eine zentrale Rolle. Daher haben wir bei der bilateralen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16673

(A) Entwicklungszusammenarbeit zivilgesellschaftlicher und in Subsahara-Afrika hat sich insgesamt verbessert“, (C)
wirtschaftlicher Gruppen und Institutionen die Ausga- schreiben Sie. Ja, wenn die SPD dies selbst feststellt,
benansätze deutlich gesteigert. Deutschland unterstützt warum formulieren Sie diesen Antrag? Wir alle wissen,
grundsätzlich weltweit Menschenrechtsverteidiger, und dass in dieser Region nach wie vor Missstände existie-
in deutschen Botschaften haben wir meist einen An- ren. Wir wissen aber auch: Die Bundesregierung unter-
sprechpartner für Menschenrechtsverteidiger. nimmt alles Erdenkliche, um die Lage in Subsahara-
Afrika zu verbessern!
Weiter wollen wir den Auf- und Ausbau demokratischer
Strukturen im subsaharischen Afrika durch zahlreiche In-
strumente verstärkt unterstützen und demokratiefördernde, Christoph Strässer (SPD): Wenn es um Afrika geht
entwicklungs-, migrations- und wirtschaftspolitische An- – und das merkt man immer wieder in vielen Ge-
sätze verknüpfen. Als eine der führenden Handelsnatio- sprächen –, dann haben die meisten Menschen be-
nen haben wir ein natürliches Interesse an freiem Welt- stimmte Bilder im Kopf, Bilder, gegen die es schwer ist,
handel und zunehmender Integration der afrikanischen anzukämpfen, weil sie sich über Jahrzehnte festgesetzt
Märkte untereinander und in die Weltwirtschaft. haben. So wird Afrika in der westlichen Welt oft als ein
Gleichzeitig sind Auslandsinvestitionen im Interesse Kontinent der Katastrophen wahrgenommen und darge-
afrikanischer Länder. Sie schaffen Arbeitsplätze, sorgen stellt, als ein Gebilde, welches sich vor allem „auszeich-
für Bildung und Ausbildung und können zu nachhalti- net“ durch Hungerkatastrophen, durch Bürgerkriege,
gem Wirtschaftswachstum beitragen. Deutsche Entwick- Korruption und schlechte Regierungsführung, durch Na-
lungspolitik fördert wirtschaftliches Engagement in den turkatastrophen, die unendliches Leiden und Sterben von
Partnerländern, das die Einhaltung von Menschenrechts- Menschen und vor allem von vielen Kindern hervorru-
standards sicherstellt und Chancen für alle eröffnet. Nur fen. Beispielhaft dafür steht momentan die aktuelle Hun-
so kann langfristige Armutsreduzierung gelingen. Aller- gerkatastrophe am Horn von Afrika. Das sind die Ereig-
dings: Die Hauptverantwortung für die Einhaltung der nisse, die unser Bild von Afrika bestimmen. Es stimmt:
Menschenrechte tragen die Staaten und ihre Organe. Alle diese schrecklichen Entwicklungen sind Teil Afri-
kas. Es gilt, sie mit aller Kraft zu bekämpfen. Es stimmt
Darüber hinaus sind alle Einzelpersonen und alle pri- aber auch, dass diese Umstände nur ein Teil Afrikas
vaten Akteure der Gesellschaft aufgefordert, Menschen- sind, und ein solches einseitiges Bild niemandem weiter-
rechte zu respektieren. Dies schließt Unternehmen ein. hilft. Die Komplexität und das Zusammenwirken der
Unternehmen tragen gesellschaftliche Verantwortung. vielen verschiedenen afrikanischen kulturellen, politi-
Wir unterstützen verantwortungsvolles unternehmeri- schen und wirtschaftlichen Traditionen bedürfen viel-
sches Handeln, CSR, auf verschiedenen Ebenen und auf mehr eines tiefgreifenden und umfassenden Ansatzes.
(B) vielfaltige Art und Weise. (D)
Die SPD-Bundestagsfraktion tritt diesem einseitigen
Handlungsleitend ist für uns das international verein- realitätsfernen Blick mit einem Antrag entgegen, der ei-
barte Konzept von VN-Sonderberichterstatter John Ruggie nen ganzheitlichen Ansatz aufweist, der den Menschen in
zur menschenrechtlichen Unternehmensverantwortung. den Mittelpunkt unseres Handelns setzt und die zum Teil
Es enthält unter anderem die Verpflichtung der National- großen regionalen sowie staatlichen Entwicklungsunter-
staaten, vor Menschenrechtsverletzungen durch Dritte schiede berücksichtigt. In diesem Sinne sind demokrati-
zu schützen – protect –, die Verantwortung von Unter- sche Staatsführung und die Einhaltung der Menschen-
nehmen, Menschenrechte zu achten – respect –, men- rechte der Schlüssel zu einer nachhaltigen Entwicklung
schenrechtliche Auswirkungen ihrer Tätigkeit zu be- Afrikas. Diese Zielrichtung haben wir deshalb in unse-
obachten – due diligence – sowie wirksame gerichtliche rem Afrika-Konzept verfolgt und ausformuliert. Ressour-
und, für den Fall von Verletzungen, außergerichtliche
cenreichtum und wirtschaftliches Wachstum allein kön-
Beschwerdemechanismen einzuführen und Betroffene
nen eine solche Entwicklung nicht bewirken. Vielmehr
zu entschädigen – remedy –. Die Entwicklungspolitik
geht es darum, politische Rahmenbedingungen zu schaf-
der Bundesregierung wird die Weiterentwicklung des in-
fen, mit denen sich für eine Mehrheit der Bevölkerung
ternationalen Rechtsrahmens für verantwortungsvolles
die Lebensbedingungen verbessern und die Armut ver-
unternehmerisches Handeln und darüber hinaus Stan-
ringern lassen. Armut ist nämlich nicht nur eine Folge
dards, Leitlinien und freiwillige Initiativen von Unter-
von ungünstigen ökonomischen Rahmenbedingungen,
nehmen und Wirtschaftssektoren – Corporate Social
sondern auch das Ergebnis mangelnder Partizipation und
Responsibility – fördern.
der Verletzung der Menschenrechte. Deshalb ist es wich-
Schon diese wenigen herausgegriffenen Politikfelder tig, die menschenrechtlichen Prinzipien wie Empower-
zeigen: Wo die Sozialdemokraten mit ihrem Antrag hin ment und Partizipation, Nichtdiskriminierung und Chan-
wollen, da ist die Regierungskoalition schon angekom- cengleichheit, Transparenz und Rechenschaftspflicht zu
men. fördern. Sie beschreiben die Handlungsweisen, wie die
Menschenrechte umgesetzt werden sollen, und zugleich
Die Beratungen in den Ausschüssen werden zeigen,
die Ziele, die durch die Verwirklichung von Menschen-
dass Minister Dirk Niebel auch in den weiteren Politik-
rechten erreicht werden sollen. Die Anwendung men-
feldern Ihres Antrages wegweisende Spuren hinterlassen
schenrechtlicher Prinzipien und die Stärkung der Men-
hat.
schenrechte können wesentlich zu Armutsbekämpfung
Ich habe den Eindruck – Sie wissen dass auch –: „Die und einer nachhaltigen Entwicklung in Afrika beitragen.
politische, menschenrechtliche und wirtschaftliche Lage Es gilt deshalb, reformorientierte Regierungen zu unter-
16674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) stützen und zivilgesellschaftliche Organisationen zu stär- der Energie und Rohstoffversorgung, werden nicht aus- (C)
ken. Gute Regierungsführung und die Achtung der Men- reichend benannt. Das gilt auch für die Interessen der in
schenrechte gehören zusammen. Wir unterstützen daher den Rohstoffindustrien arbeitenden Menschen, das
zum Beispiel konsequent die Umsetzung der UN-Resolu- Recht auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen, die
tion 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“, die eine Rolle von Gewerkschaften beim Kampf um lebenswerte
wichtige Rolle von Frauen bei der Prävention und Lö- Arbeitsbedingungen
sung von Konflikten und ihren Schutz vor – sexueller –
Gewalt fordert. Leider stehen insofern in diesem Konzept nicht die
Überwindung von Armut und Hunger im Vordergrund,
Ein relativ neues Organ der AU ist der auch mit deut- sondern deutsche Wirtschaftsinteressen, wobei das eine
schen Mitteln geförderte Afrikanische Gerichtshof für das andere nicht ausschließen muss. Das kritisiert zu-
Menschenrechte. Wir erwarten, dass er zumindest länger- recht auch der Verband Entwicklungspolitik deutscher
fristig einen wirksamen Beitrag gegen Straflosigkeit leis- Nichtregierungsorganisationen, VENRO. Noch dazu be-
tet. Es ist kein Zufall, dass die menschenrechtspolitischen klagen Nichtregierungsorganisationen unzureichend ein-
Konzepte der Responsibility to Protect aus dem afrikani- bezogen worden zu sein.
schen Kontext entwickelt worden sind und dass die afri-
kanischen Staaten die größte regionale Staatengruppe Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich ist es
stellt, die das römische Statut des Internationalen Straf- nicht verwerflich, sondern kann sogar sinnvoll und nütz-
rechtsgerichtshofs ratifiziert haben. In reformorientierten lich sein, dass deutsche und europäische Unternehmen in
Staaten unterstützen wir bilateral und multilateral den Afrika investieren und hierdurch auch Gewinne erzielen.
Aufbau und die Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen. Jedoch darf das Handeln nicht einseitig nur auf Gewinn-
Die meisten afrikanischen Staaten haben die wichtigsten erzielung ausgerichtet sein, sondern muss sich immer
internationalen Menschenrechtsabkommen ratifiziert und auch an menschenrechtlichen und entwicklungspolitisch
sind zu deren Einhaltung verpflichtet. Richtschnur unse- sinnvollen Standards messen lassen. Viele Unternehmen
res politischen Handelns ist daher die Forderung nach sind dabei schon weiter als die Bundesregierung, sie ha-
konsequenter Umsetzung der politischen und bürgerli- ben nämlich erkannt, dass die Einhaltung menschen-
chen sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen rechtlicher, sozialer und ökologischer Standards nicht
Menschenrechte. Insofern ist es durchaus bemerkens- nur einen Kostenfaktor in der betriebswirtschaftlichen
wert, dass im Rahmen der NEPAD-Initiative das Konzept Bilanz darstellen, sondern einen positiven Standortfaktor
des African-Peer-Review-Prozesses entwickelt wurde, in im Wettbewerb bedeuten. Es ist nämlich offenkundig,
dem sich die Mitgliedstaaten verpflichtet haben, die Ein- dass einseitig ausgerichtete ökomische Entwicklungs-
haltung menschenrechtlicher Standards in ihren eigenen ziele nicht grundsätzlich den Menschen in ihren konkre-
(B) Ländern zu überprüfen und die Ergebnisse öffentlich zu ten Lebensbedürfnissen weiterhelfen. Denn sie stellen (D)
machen, gewissermaßen eine Patenschaft für den UPR- den Menschen nicht in den Mittelpunkt, was gerade in
Prozess, wie er im VN-Menschenrechtsrat praktiziert Afrika so dringend notwendig wäre.
wird. Deshalb begrüße ich ausdrücklich das Motto des
Nun gibt es seit Juni dieses Jahres auch das Afrika- Konzeptes der Bundesregierung: „Partnerschaft auf Au-
Konzept der Bundesregierung. Dass die Bundesregie- genhöhe“ und das Ziel, Afrika-Politik als ressortüber-
rung und das AA damit zumindest den Willen bekunden, greifende kohärente Aufgabe zu verstehen. Denn sozial-
Afrika nicht von der politischen Agenda verschwinden demokratische Menschenrechts- und Entwicklungs-
zu lassen, ist erst einmal lobenswert. Leider ist der An- politik orientiert sich stets an den Bedürfnissen der Men-
satz des Konzeptes aber von einem sehr einseitigen und schen vor Ort. Menschenrechtspolitik ist im Verständnis
realitätsfernen Weltbild geprägt. Die Zielrichtung des der SPD insofern schon lange eine Querschnittsaufgabe.
ganzen Konzeptes lässt sich dementsprechend auf fol- Wenn zumindest dies eine Erkenntnis ist, die die Bun-
gende Formel bringen: Die Wirtschaft wird es richten, desregierung aus ihrer Konzepterarbeitung gewonnen
gut ist, was der deutschen Wirtschaft nutzt. hat, so ist dies positiv zu vermerken; bei der Umsetzung
eines solchen Konzepts können Sie daher auf unsere Un-
Dem Konzept fehlt es deshalb an einer klaren Zielper- terstützung rechnen. Gegenwärtig können wir aber nicht
spektive und vor allem auch an einem klaren Bekenntnis erkennen, dass dieses Konzept von Ihnen ernst genom-
zum deutschen und europäischen Anteil zur Erreichung men wird. Deshalb bitten wir um Unterstützung für un-
der Millenniumsentwicklungsziele. Wirtschaftsinteres- seren Antrag.
sen stehen klar im Vordergrund. Das Bekenntnis zum
Freihandel und die Öffnung der afrikanischen Märkte für Marina Schuster (FDP): Menschenrechte sind das
deutsche Unternehmen führen aber nicht zwangsläufig Fundament unserer Außen- und Entwicklungszusam-
zu mehr Wohlstand beim Großteil der afrikanischen Be- menarbeit.
völkerung. Die hohen Wachstumsraten der nationalen
Ökonomien verstellen den Blick auf die realen Entwick- Und es ist in der Tat richtig, was der Titel des Antrags
lungen in vielen Teilen des Kontinents. Das Konzept der SPD-Fraktion fordert. Menschenrechte durchzuset-
zeigt einen geschönten Blick auf Afrika und vernachläs- zen ist eine Voraussetzung für die nachhaltige Entwick-
sigt insbesondere die ländliche Entwicklung. 80 Prozent lung. Viele Punkte Ihres Antrags geben im Feststellungs-
der – armen – Menschen leben nämlich in ländlichen teil die Beschreibung der Lage in Subsahara-Afrika
Gebieten und nicht in Wirtschaftszentren. Bereits offen richtig wider. An manchen Stellen sind die Ausführun-
zu Tage tretende Zielkonflikte, zum Beispiel im Bereich gen allerdings schlichtweg nicht richtig – gerade was das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16675

(A) Engagement der Bundesregierung betrifft. Wir werden nicht gelesen haben. Zur Erinnerung: Nach der Einlei- (C)
daher Ihrem Antrag nicht zustimmen können. Aber las- tung nimmt das Thema das zweite Kapitel ein.
sen Sie mich das im Folgenden darlegen:
Der partnerschaftliche Ansatz des Afrika-Konzepts
Der Zusammenhang zwischen nachhaltiger Entwick- setzt darauf, Chancen und Potenziale des Kontinents und
lung und Einhaltung von Menschenrechten wurde von seiner Menschen zu identifizieren und zu entwickeln. In
der Bundesregierung längst erkannt. Menschenrechte allen identifizierten Schlüsselbereichen kann sich das
stellen in den Strategien und in der Arbeit der Bundes- Engagement der Bundesregierung sehen lassen.
regierung einen zentralen, kohärenten Lösungsansatz
dar, um die Situation unter anderem in Subsahara-Afrika Und den Vorwurf, die schwarz-gelbe Bundesregie-
effektiv zu verbessern. rung würde sich auf deutsche Wirtschaftsinteressen kon-
zentrieren, weise ich entschieden zurück. Die wirtschaft-
Das möchte ich gerne näher ausführen: Im Mai diesen liche Zusammenarbeit – wie sie das Bundesministerium
Jahres hat das Bundesministeriums für wirtschaftliche für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Zusammenarbeit und Entwicklung, BMZ, das erste ver- bereits in seinem Namen trägt – ergänzt die vielfältigen
bindliche Menschenrechtskonzept vorgestellt. Die Strate- Aktivitäten, ist aber nicht Kern unserer Entwicklungs-
gie des BMZ hat einen dualen Ansatz: 1. Die Förderung politik mit Afrika. Es ist richtig, die wirtschaftliche Zu-
von spezifischen Menschenrechtsvorhaben und 2. die sammenarbeit stärker in den Blick zu nehmen – das trägt
Querschnittsverankerung des Menschenrechtsansatzes in der neuen Rolle Afrikas schließlich Rechnung. Afrika
allen Sektoren und Schwerpunkten der Zusammenarbeit. spricht zunehmend mit einer Stimme, Afrikas Wirtschaft
ist seit der Jahrtausendwende mit knapp 6 Prozent pro
Das Menschenrechtskonzept enthält verbindliche, Jahr stärker gewachsen als der Weltdurchschnitt. Afrika
entscheidungsrelevante Vorgaben für die Gestaltung der ist längst und zurecht als Akteur auf der globalen Bühne
deutschen Entwicklungspolitik – und die Einhaltung des angekommen. Ich habe oft von afrikanischen Gesprächs-
Konzepts wird regelmäßig überprüft werden. Damit ha- partnern gehört, dass sie selbst diese wirtschaftlichen
ben wir transparente Ziele, klare Handlungsvorgaben Chancen nutzen wollen.
und ein systematisches Monitoring, wie sie zuvor in der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit noch nicht be- Blicken wir auf die Länder des „Arabischen Früh-
standen haben! lings“ – wir wissen doch alle, dass die jungen Menschen,
die auf die Straße gegangen sind, neben ihrem Wunsch
Das operative Handeln, das dadurch festgelegt wird, nach Demokratie und Menschenrechten auch den
geht damit meiner Ansicht nach sogar weiter, als es in Wunsch nach Lebensperspektiven hatten, nach Chancen,
Ihrem Antrag gefordert wird! Es richtet sich am Drei- nach Arbeitsplätzen. Deswegen wissen wir alle, wie
(B) klang folgender Schritte aus: erstens staatliche Pflichten- wichtig die wirtschaftliche Komponente bei der Ent- (D)
träger befähigen, ihren menschenrechtlichen Pflichten wicklung der Länder ist, gerade bei der Transformation.
nachzukommen. Zweitens bedürftige Zielgruppen in die
Lage zu versetzen, ihre Rechte effektiv einzufordern und Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie
drittens Regierungen bei Nichteinhaltung von Men- müssen endlich weg von der Geber- und Empfänger-
schenrechten zur Rechenschaft zu ziehen. Bei letztem mentalität hin zu einem partnerschaftlichen Dialog auf
Punkt geht die Bundesregierung sogar soweit die Zu- Augenhöhe. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und poli-
sammenarbeit bei Nichteinhaltung von Menschenrech- tische Entwicklung gelingt nur durch gute Regierungs-
ten in letzter Konsequenz einzustellen. führung, durch die Abwesenheit von gewaltsamen Kon-
flikten und durch effektive Korruptionsbekämpfung.
Das Menschenrechtskonzept des BMZ stellt hier eine Und wirtschaftliche Entwicklung gehört dazu, sie schafft
Art „Menschenrechts-TÜV“ dar. Menschenrechte wer- Anreize und ist daher ein Motor für die nachhaltige Ent-
den als Konditionalität für staatliche EZ eingesetzt, wicklung von Gesellschaften. Stärkerer bilateraler Han-
wenn staatliche Akteure in den Partnerländern gravie- del und Investitionen tragen dazu bei. Allein durch deut-
renden und systematischen Menschenrechtsverletzungen sche Arbeitgeber erhalten bspw. heutzutage in Afrika
begehen. Im Falle von Uganda hat der erhöhte Druck circa 146 000 Menschen einen Arbeitsplatz. Ich kann
von Minister Niebel und Staatssekretär Beerfeltz, die nicht verstehen, was die SPD-Fraktion gegen die Schaf-
Entwicklungszusammenarbeit einzustellen, dazu ge- fung von Arbeitsplätzen hat!
führt, dass das geplante menschenverachtende Anti-
homosexuellengesetz bisher nicht weiter verfolgt wurde. Ich kann mich noch gut an den Besuch der Bundes-
Dieses Beispiel zeigt, dass diese Art der Konditionalität kanzlerin in Liberia erinnern, an dem ich teilnehmen
der einzig richtige Weg ist. durfte. Ellen Johnson-Sirleaf sagte sehr deutlich zur mit-
reisenden Wirtschaftsdelegation, dass sie keine Almosen
Im Koalitionsvertrag hat die schwarz-gelbe Koalition wolle, sondern Jobs – bei einer Arbeitslosenquote von
erstmals ein ressortübergreifendes Afrika-Konzept ver- damals 80 Prozent mehr als verständlich.
ankert. Dieses erstmals ressortübergreifende und kohä-
rente Afrikakonzept der Bundesregierung verfolgt einen Nach wie vor gibt es allerdings eine Reihe von Ent-
partnerschaftlichen Ansatz auf Augenhöhe konsequent. wicklungshemmnissen in Afrika: regionale Konflikte,
Das Thema Menschenrechte spielt dabei in dem Konzept Instabilität, schlechte Regierungsführung und Straflosig-
eine zentrale Rolle. Und ich sage ganz klar: Wer den keit. Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen
Vorwurf erhebt, in dem Afrika-Konzept würden Men- gehen oft einher mit schwacher Staatlichkeit, fehlender
schenrechte keine Rolle spielen, der kann das Konzept Rechtsstaatlichkeit und schweren Menschenrechtsverge-
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(A) hen. Wir haben als Menschenrechtsausschuss all das er- Sie sehen, wir haben einiges vorzuweisen – und die- (C)
leben können bei unserem Besuch im Ostkongo in die- sen Weg werden wir konsequent weiter gehen.
sem Jahr.
Deswegen ist ein zentrales Anliegen unserer Politik, Annette Groth (DIE LINKE): Die Fraktion Die
gemeinsam mit den afrikanischen Staaten – sowohl auf Linke fordert seit vielen Jahren eine andere Menschen-
internationaler und europäischer Ebene –, die afrikani- rechtspolitik als integralen Bestandteil der deutschen
schen Fähigkeiten zur regionalen Krisenprävention und Außen- und Handelspolitik ein. Nur wenn Menschen-
-bewältigung zu stärken. Und gerade die Afrikanische rechte nicht mehr den Wirtschafts- und Handelsinteres-
Union hat im Bereich „Frieden und Sicherheit“ einige sen untergeordnet werden, kann die Menschenrechtslage
Anstrengungen unternommen, sei es mit dem early-war- in den Ländern Subsahara-Afrikas nachhaltig verbessert
ning center, mit der African Standby Force, sei es mit werden.
weiteren Bemühungen auf dem Kontinent wie zum Bei-
spiel das Kofi Annan Peacebuilding Center. Und dieses Die aktuelle Situation der Menschenrechte in den
Engagement unterstützen wir. Wie wichtig der Bereich Staaten des südlichen Afrikas ist problematisch. Dazu
„Frieden und Sicherheit“ ist, zeigen folgende Zahlen: hat auch die Afrika-Politik der westlichen Industrielän-
Knapp die Hälfte aller Friedensmissionen sind in Afrika, der, die diese Region vor allem als Rohstofflieferant und
etwa 70 Prozent aller Blauhelmsoldatinnen und -solda- Absatzmarkt betrachten, beigetragen. Auch sind viele
ten werden auf dem Kontinent eingesetzt. Die Bundes- der betroffenen Staaten bis heute von postkolonialen
regierung ist der viertgrößte Beitragszahler für friedens- Strukturen geprägt.
erhaltende Maßnahmen der Vereinten Nationen. Ein Aus diesem Grund halten wir die Einschätzung im
bedeutender Anteil geht hier an Blauhelmmissionen. SPD-Antrag, dass bei einer Reihe von afrikanischen
Ich danke meinem Kollegen Joachim Spatz als Vorsit- Staaten südlich der Subsahara die Chance besteht, die
zenden des Unterausschusses Zivile Krisenprävention „Löwenstaaten“ der Zukunft zu werden, für mehr als
und vernetzte Sicherheit ganz explizit für die Arbeit des fragwürdig. Bisher zeigt sich in keiner Weise, dass die
Ausschusses. Es zeigt, wie wichtig das deutsche Engage- gestiegenen Rohstoffpreise für die Entwicklung der Län-
ment im Bereich Krisenprävention und Konfliktlösung der direkte Vorteile gebracht hätten.
ist.
Die Mehrzahl der Rohstoffkonzerne befindet sich im
Auch der Bereich „Good Governance“ ist ein aussa- Eigentum transnationaler Konzerne, welche die zusätz-
gekräftige Gradmesser, ob ein Staat in der Lage und wil- lichen Gewinne in die Konzernkassen in den Industrie-
lens ist, Menschenrechte einzuhalten. Er steht für Ge- staaten leiten. Zudem zeigt sich, dass durch den Roh-
(B) waltenteilung, Rechenschaftspflicht der Regierungen stoffboom die Vertreibung von Bauern zugenommen hat. (D)
und verantwortliches Handeln der öffentlichen Verwal-
tung. Gute Regierungsführung ist Schwerpunkt des Laut Amnesty International sind seit dem Jahr 2000
BMZ mit 16 afrikanischen Ländern. Kein anderer in Nigeria über 2 Millionen Menschen unrechtmäßig aus
Schwerpunkt wurde häufiger vereinbart. Mit einem jähr- ihren Häusern vertrieben worden. Von diesen Zwangs-
lichen Fördervolumen von 285 Millionen Euro gehört räumungen sind vor allem die ärmsten Bevölkerungs-
Deutschland zu den drei größten bilateralen Unterstüt- gruppen betroffen. Sie werden in noch größeres Elend
zern guter Regierungsführung in Afrika. Im Bereich gestürzt und verlieren für die Interessen einiger weniger
Rechtsstaatlichkeit werden verschiedene Justizpro- alles.
gramme in der Elfenbeinküste, Liberia und Sierra Leone Diese Vertreibungen gehen auch aktuell weiter. So
durchgeführt. Die Programme unterstützen die effektive sollen in der nigerianischen Hafenstadt Port Harcourt
Reform des Sicherheitssektors und den Aufbau einer un- 200 000 Menschen vertrieben werden, damit ein neues
abhängigen Justiz. Die Bundesregierung unterstützt wei- Geschäfts- und Freizeitzentrum für Unternehmen und
terhin den internationalen Strafgerichtshof, den 2004 ge- die kleine Oberschicht errichtet werden kann. Dies alles
gründeten Afrikanischen Menschengerichtshof und die passiert unter Zustimmung der lokalen Regierung, die
internationalen Strafgerichtshöfe für Ruanda und Sierra einen sogenannten Stadtentwicklungsplan umsetzt. 2009
Leone sowie vieles mehr. wurden 17 000 Menschen gezwungen, ihre Häuser zu
Denn – und das teilen wir sicher im ganzen Haus – verlassen, um 40 hochmodernen Uferquartieren Platz zu
die Kultur der Straflosigkeit muss endlich ein Ende ha- machen. Mit „Löwenstaaten“ hat dies nach unserer Mei-
ben! nung wenig zu tun, vielmehr mit Unrecht, Vertreibung
und Verarmung der Bevölkerung.
Deswegen kann man nicht genug betonen, wie wichtig
der deutsche Beitrag bei der Review-Konferenz zum Der Antrag der SPD geht von einem verkürzten Men-
Rom-Statut in Kampala im vergangenen Jahr war. Durch schenrechtsbegriff aus, in dem wirtschaftliche, soziale
das deutsche Engagement unter der Leitung unseres Men- und kulturelle Menschenrechte nur unzureichend ange-
schenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus sprochen werden. Dadurch werden wesentliche Ursachen
Löning, ist es gelungen, eine Strafbarkeitslücke zu für Menschenrechtsverletzungen nicht angesprochen,
schließen. Das ist ein Meilenstein auf der Weiterent- und zwar gerade solche, die besonders entwicklungsrele-
wicklung des Völkerstrafrechts. Leider hat dieses kom- vant sind, etwa die erzwungene Freihandels-, Privatisie-
plexe Thema in den Medien zu wenig Beachtung gefun- rungs- und Liberalisierungspolitik durch die Staaten des
den. Nordens.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16677

(A) Menschenrechte dürfen nicht auf die bürgerlichen Auch wenn in dem Antrag einige richtige Forderun- (C)
Menschenrechte beschränkt werden, sondern müssen gen aufgegriffen werden, ist er insgesamt ein Dokument
umfassend definiert werden. Vor allem die sozialen einer weitgehend unzureichenden Menschenrechtspoli-
Menschenrechte dürfen nicht mehr hinter Wirtschafts- tik. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen.
interessen zurückstehen.
Der großflächige Verkauf oder die Verpachtung von Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Land an Großinvestoren wird häufig durch Menschen- Es gibt zwei Arten parlamentarischer Initiativen, mit de-
rechtsverletzung durchgesetzt. Westliche Konzerne neh- nen schwer umzugehen ist. Einerseits sind es diejenigen,
men den Menschen ihr Recht auf Nahrung und Wasser, die so tief ins Detail gehen, dass nur noch jene sie verste-
damit Blumen für den europäischen Markt gezüchtet hen, die sie geschrieben haben oder die zumindest über
werden können. Sie missbrauchen wertvolles Ackerland enormes Expertenwissen verfügen. Andererseits gibt es
zum Anbau von Energiepflanzen für die Spritproduktion Initiativen, die so allgemein gehalten sind, dass man ih-
des Nordens. nen sogleich zustimmen möchte, weil sie die Probleme
so übersichtlich darstellen und zugleich suggerieren,
Beispiel Äthiopien: Nur 13 Prozent der Landfläche dass sie mit einem Handstreich zu lösen sein könnten.
sind landwirtschaftlich nutzbar. Von diesen 15 Millionen Zur letzteren Gruppe gehört der Antrag der SPD, über
Hektar wurden etwa 3,3 Millionen Hektar als Pachtland den an dieser Stelle diskutiert wird. Wir diskutieren über
für Investoren ausgewiesen. Durch diese Verpachtung einen Antrag zu nahezu einem gesamten Kontinent, ei-
finden großflächige Umsiedlungen statt. Nomaden wird ner Region mit 35 Staaten. Ein solcher Antrag kann den
ihr bisheriges Weideland genommen. tatsächlichen Problemen in keiner Weise gerecht wer-
den. Zwar mag der Problemaufriss übersichtlich geglie-
Insgesamt ist der SPD-Antrag von einer problemati- dert und um Vollständigkeit bemüht sein. Eine seriöse
schen Haltung gegenüber den Partnerländern im Süden Auseinandersetzung ist aber in solch einer Kürze nicht
durchdrungen. Menschenrechtliche Prinzipien sollen in möglich.
den Partnerländern „bekannt gemacht werden“, es wer-
den Schulnoten an einzelne Staaten vergeben und Kon- Ich möchte mich auf einen Punkt konzentrieren, der
ditionen für die Entwicklungszusammenarbeit gefordert. in dem Antrag nur skizzenhaft auftaucht, den institutio-
„Unsere“ Vorstellungen von „Good Governance“ wer- nellen Schutz der Menschenrechte durch den Afrikani-
den zum Maßstab erhoben und als Voraussetzung für schen Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechte
Entwicklung dargestellt, obwohl es für diesen unterstell- der Völker, AGMR, den Internationalen Strafgerichts-
ten Zusammenhang keinen Nachweis gibt. hof, IStGH, und die nationalen Rechtsordnungen – ein-
(B) schließlich derer der Europäischen Union und Deutsch- (D)
In ihrem Antrag betont die SPD einseitig Selbstver- lands.
pflichtungen der afrikanischen Staaten, etwa im Rahmen
der Gründungsakte der Afrikanischen Union, des Afri- Der AGMR wacht seit Juli 2006 über die Wahrung
can Peer Review Mechanismus, der Afrikanischen der Menschenrechte durch die 25 Mitglieder der Afrika-
Charta der Menschenrechte und internationaler Men- nischen Union, die das Zusatzprotokoll zur Afrikani-
schenrechtskonventionen. schen Menschenrechtscharta von 1998 unterzeichnet
haben. Der Gerichtshof übernimmt die Arbeit der Afri-
Es ist viel von afrikanischer Eigenverantwortung die kanischen Kommission in Bezug auf den Menschen-
Rede, aber nie von der Verantwortung der Industriestaa- rechtsschutz. Durch seine bindenden Urteile kann er ein
ten. Die Linke lehnt diese einseitige Herangehensweise bedeutendes Instrument zur Förderung von Wahrung
ab. Es ist eine nicht zu akzeptierende Haltung, dass und Schutz der Menschenrechte auf dem afrikanischen
„wir“ uns herausnehmen, den Menschen in Afrika etwas Kontinent darstellen. Der Wirksamkeit und Funktionsfä-
beizubringen. „Wir“, also die Staaten des reichen Nor- higkeit des Gerichtshofs als Teil eines Gesamtsystems
dens, sind nicht in der Situation, anderen Ländern Men- stehen allerdings noch verschiedene Hemmnisse entge-
schenrechte zu lehren. Vielmehr müsste die Politik der gen, sodass zum jetzigen Zeitpunkt erst ein einziger Fall
EU grundsätzlich geändert werden, damit Menschen- entschieden wurde.
rechte auch dort verwirklicht werden können. Ich
möchte hier als Stichworte nur die unmenschliche Be- Zum einen ist gemäß Art. 34 Abs. 6 und Art. 5 Abs. 3
handlung von Flüchtlingen an der EU-Außengrenze nen- Individuen und Nichtregierungsorganisationen eine
nen. Klage nur möglich, sofern der betreffende Staat in einer
Zusatzerklärung der Individualklage zugestimmt hat.
Auch die unkritische Bezugnahme auf die afrikani- Dies ist bis zum jetzigen Zeitpunkt erst durch die Staaten
sche Friedens- und Sicherheitsarchitektur und AU-Frie- Burkina Faso, Mali, Malawi und Tansania geschehen.
densmissionen teilen wir nicht. Die Militarisierung der Folglich bleibt einem Großteil der Menschen der Zugang
Beziehungen zwischen der EU und Afrika lehnen wir ab. zum Gerichtshof verwehrt.
Menschenrechte werden in Afrika insbesondere auch
durch militärische Interventionen des Westens verletzt, Zum anderen befindet sich der strukturelle und perso-
siehe Libyen und Côte d’Ivoire. Waffenexporte werden nelle Aufbau des Gerichtshofes noch in der Entwicklung.
im Antrag zwar angesprochen, es wird jedoch versäumt, Ein Austausch zwischen dem AGMR und den anderen
Deutschlands Rolle als drittgrößter Waffenexporteur di- regionalen Menschenrechtsgerichtshöfen, insbesondere
rekt zu problematisieren. dem EGMR, könnte die Entwicklung hin zu einem funk-
16678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011

(A) tionierenden Organ des Menschenrechtschutzes unter- Und vielleicht ist Kenias Entscheidung auch ein Signal (C)
stützen. an den Chefankläger des IStGH. Denn dessen zielstrebi-
ges Vorgehen insbesondere gegen afrikanische Täter
Die Bundesregierung muss hier die Initiative ergrei- missfällt vielen dortigen Verantwortlichen. Für uns ist
fen und sollte in bilateralen Gesprächen die Staaten der klar, dass Umar al-Baschir auf die Anklagebank gehört.
Afrikanischen Union, die das Protokoll bis dato noch Er muss sich endlich für den Völkermord in Darfur ver-
nicht unterzeichnet haben, zum Unterzeichnen aufzufor- antworten, denn auch Staatsoberhäupter können sich nicht
dern. In Gesprächen mit jenen Staaten der Afrikanischen auf ihre Immunität berufen, wenn sie wegen Völker-
Union, die die Zusatzerklärung zur Individualklage noch rechtsverbrechen angeklagt sind. Es darf keine weitere
nicht abgegeben haben, sollte sie zudem die Bedeutung Aushöhlung des Strafgerichtshofes durch seine Mitglied-
der Individualklage hervorheben. Darüber hinaus wäre staaten geben. Auch hier ist die Bundesregierung in bila-
es hilfreich, wenn sich die Bundesregierung im Europa- teralen Gesprächen sowie in Gesprächen mit der Afrikani-
rat für eine verstärkte Zusammenarbeit in Form eines schen Union in der Pflicht, Überzeugungsarbeit zu leisten.
Expertenaustausches zwischen EGMR und AGMR ein-
Deutsche und europäische Wirtschaftsunternehmen
setzen würde. Und schließlich muss sie die finanzielle
sind in großem Ausmaß in afrikanischen Staaten tätig.
und personelle Unterstützung im Rahmen der Entwick- Sie lassen dort ihre Waren produzieren, beuten Rohstoffe
lungszusammenarbeit intensivieren, anstatt sie wie in aus, investieren, bauen und vieles mehr. Sie profitieren
der aktuellen Haushaltsrunde zu kürzen. dabei nicht nur von menschenunwürdigen Löhnen oder
den Vorkommen seltener Erden, sondern auch von zu-
Nicht ohne Grund richten sich alle derzeit beim
weilen schwachen Verwaltungen, korrupten Beamten,
IStGH anhängigen Verfahren gegen Verantwortliche aus
schlechten Gesetzen oder untätigen Gerichten. Sie haben
afrikanischen Staaten. Damit sei nicht gesagt, dass nicht also mitunter ganz konkreten Einfluss auf Menschen-
auch in anderen Teilen der Welt Völkerrechtsverbrechen rechtsverletzungen, nehmen an diesen teil oder profitie-
begangen werden, doch auf dem afrikanischen Konti- ren von ihnen. Deutsche und europäische Unternehmen,
nent ist sowohl ihre Zahl als auch ihr Ausmaß erschre- die auf dem afrikanischen Kontinent tätig sind, müssten
ckend und gewaltig. Die Anklagen vor dem Gerichtshof daher gesetzlich dazu verpflichtet werden, regelmäßige
entfalten zunehmend eine präventive Wirkung. Dennoch Berichte zu ihren Menschenrechtspolitiken zu erstellen.
ist seine Akzeptanz in weiten Teilen afrikanischer Polit- Allerdings werden weder die klassischen, staatszentrier-
eliten zu gering. 31 afrikanische Staaten haben das Rö- ten menschenrechtlichen Konzeptionen noch die beste-
mische Statut zur Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof hende nationale und internationale Rechtslage den Ge-
ratifiziert und sich somit zur Zusammenarbeit verpflich- fahren, die von Unternehmen für die Menschenrechte
tet. Dies beinhaltet unter anderem die Ausführung von auf dem afrikanischen Kontinent ausgehen, gerecht.
(B) Haftbefehlen. Dass dies für einige Regierungen jedoch (D)
nur ein Lippenbekenntnis darstellt, wird exemplarisch Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen daher
ein ums andere Mal deutlich, wenn der sudanesische auf völkerrechtlicher und europäischer Ebene, dringend
Präsident Umar al-Baschir herumreist. Vor wenigen Wo- aber auch im nationalen deutschen Recht, verbessert
chen war er anlässlich eines Treffens des Common Mar- werden. Zwar existieren bereits jetzt Soft-Law-Verfah-
ket for Eastern and Southern Africa in Malawi. Dort ren, die rechtsunverbindlich genutzt werden können, wie
hätte man sich der Zusammenarbeit mit dem IStGH die OECD-Beschwerden und Weltbank-Beschwerdever-
fahren. Durch Klagen und juristische Verfahren aber
nicht verweigern dürfen. Als Unterzeichnerstaat des Sta-
könnten Menschen in Afrika deutlich machen, dass es
tuts des Internationalen Strafgerichtshof hätte Malawi al- sich bei Menschenrechtsverletzungen nicht allein um
Baschir festnehmen und an Den Haag ausliefern müssen. politische und soziale Skandale handelt, sondern um
Ähnlich war es zuvor in Kenia. Doch in beiden Vertrags- Verstöße gegen konkrete Rechtsnormen.
staaten des IStGH fühlte sich der international Ange-
klagte sicher und reiste dann auch wieder unbehelligt zu- Das deutsche und europäische Zivilrecht und Zivil-
rück in seine Heimat. prozessrecht sollte deswegen so ausgestaltet werden,
dass Opfer von Menschenrechtsverletzungen transnatio-
Stellt al-Baschirs Auftritt etwa in Nairobi nun das Be- naler Unternehmen – nicht nur, aber häufig in Afrika –
kenntnis Kenias infrage, mit dem IStGH zusammenzuar- Entschädigungsansprüche effektiv geltend machen kön-
beiten, wenn es um Ermittlungen im eigenen Land geht? nen. Auch müsste das Handels- und Gesellschaftsrecht
Unter denen, die infolge der Wahlen 2007 Unruhen mit dahingehend geändert werden, dass Entscheidungsträge-
mehr als 1 100 Toten angezettelt haben sollen, sind weit- rinnen und -träger in Unternehmen verpflichtet sind,
hin wohl einige Regierungsmitglieder. Nairobi hatte bis- auch nach menschenrechtlichen Kriterien zu entscheiden
lang für die Untersuchung des IStGH in Kenia uneinge- und nicht nur nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunk-
schränkte Kooperation zugesagt und diese gerade im ten. Denn viel zu häufig beruht die Entscheidung, wirt-
Juni 2010 bei der Überprüfungskonferenz in Kampala, schaftlich in einem afrikanischen Staat tätig zu werden,
Uganda, noch bekräftigt. Aber letztlich ist ungewiss, wie einzig auf der Erwägung, dort billigste Voraussetzungen
die Regierung mit der nächsten Herausforderung umge- vorzufinden. Die menschenrechtlichen Belange finden
hen wird: Noch in diesem Monat ist mit den Anklagen dabei zumeist keine Berücksichtigung – und dürfen es
wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu rechnen. nach der derzeitigen Rechtslage im Handels- und Gesell-
Dass die dann angeklagten Politikerinnen und Politiker schaftsrecht auch nicht, da die Managerinnen und Mana-
Kenias ausgeliefert werden, dürfte nach diesem offiziel- ger von Unternehmen verpflichtet sind, deren Vermö-
len Staatsbesuch al-Baschirs bezweifelt werden. gensinteressen wahrzunehmen und für einen reibungs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 16679

(A) losen, effizienten und gewinnorientierten Betriebsablauf tät, wo eigentlich Pluralität und Vielfalt herrschen. Ganz (C)
Sorge zu tragen. so, als ob der Saharasand ein Hemmnis für die von Nor-
Lassen Sie mich nach dieser Fokussierung auf einen den her voranschreitende Kultur und Sprache und alles
Punkt des Antrags noch eine allgemeine Bemerkung ma- darunter irgendwie zusammengehörig sei. Diesen Sand
chen. Es ist gut, dass der aus der Kolonialzeit stam- zur sprachlichen Klammer einer Vielzahl von Staaten,
mende rassistische Begriff „Schwarzafrika“ peu à peu Völkern und Kulturen zu erheben, wird ihnen allen nicht
aus dem Sprachgebrauch verschwindet. Der Terminus gerecht und geht vollkommen an den Realitäten vorbei.
„Subsahara-Afrika“ mag zwar sperrig sein, knüpft aber Es gibt so mannigfaltige Unterschiede in dieser großen
immerhin nicht mehr an ethnische und pseudobiologisti- Region, dass wir unseren Blick von Norden her deutlich
sche Zusammenhänge an. Nichtsdestotrotz ist auch diese schärfen müssen. Der Antrag der SPD, der in einem gro-
Unterteilung des afrikanischen Kontinents in zwei Kate- ßen Aufwasch Probleme verallgemeinert und verunklart,
gorien ein sprachliches Überbleibsel kolonialistischen tut genau das Gegenteil. Diese Sichtweise auf Afrika ist
Denkens. Sie gründet in der Idee des „divide et impera“, nicht nur vollends veraltet, sie ist auch in der politischen
des Teilens und Herrschens, und suggeriert Homogeni- Debatte nicht mehr wirklich hilfreich.

(B) (D)
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ISSN 0722-7980

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