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D eutscher Bundestag

72. Sitzung

Bonn, den 24. April 1963

Inhalt:

Anteilnahme an dem Tod des Staatspräsi Frage des Abg. Rademacher:


denten von Israel 3301 A Verspätung von F , FT und TEE Zügen
- - -

Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister 3303 D


Begrüßung von Parlamentariern der
Schweiz 3301 B Dürr (FDP) 3304 A

Frage des Abg. Seibert:


Glückwünsche zu den Geburtstagen der
Abg. Storch, Dr. Meyer (Frankfurt), Statistische Erhebungen betr. Fahrgeld-
Ritzel, Gehring, Horn, Blöcker, Hussong, freiheit für Schüler . . . . . . . . 3304 B
Stein und Gerns . . . . . . . . 3301 B, C
Frage des Abg. Seibert:
Die Abg. Ziegler und Frau Lösche treten in Erstattung von Fahrkosten an Schüler 3304 B
den Bundestag ein 3301 C
Frage des Abg. Seibert:
Fragestunde (Drucksache IV/1193) Nachttransporte bei der Kinderver-
schickung 3304 C
Frage des Abg. Lemmrich:
Kosten für die Beseitigung der Frost- Fragen des Abg. Memmel:
schäden auf den Bundesfernstraßen
Beschädigung der neuen Talbrücke
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister 3303 A Heidingsfeld
Lemmrich (CDU/CSU) 3303 B Dr.-Ing. Seebohm,
Ritzel (SPD) 3303 C Bundesminister . . 3304 C, D, 3305 A
Memmel (CDU/CSU) . . . . . . 3305 A
Frage des Abg. Lemmrich: -
Bewährung von zwischenausgebauten Fragen der Abg. Frau Schanzenbach:
Straßen Kindertransporte auf der Bundesbahn
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 3303 D Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister . 3305 B
II Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Frage der Abg. Frau Schanzenbach: Frage des Abg. Felder:


Waschgelegenheit in Schnell und Fern-
- Stiftung „Preußischer Kulturbesitz"
zügen Höcherl, Bundesminister 3311 B
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister 3305 C, D
Frau Schanzenbach (SPD) . . . . 3305 D Fragen des Abg. Dr. Wuermeling:
Kinderzuschläge für Arbeiter und An-
Frage des Abg. Dr. Besold: gestellte des öffentlichen Dienstes
Körperschaftsteuerpflicht der öffentlich Höcherl, Bundesminister . . . . 3311 C, D,
rechtlichen berufsständischen Pflicht- 3312 A, B, C, D
versicherungseinrichtungen
Dr. Wuermeling (CDU/CSU) . . . 3311 C,
Grund, Staatssekretär . . . . . 3306 A, B 3312 A, D
Dr. Besold (CDU/CSU) . . . . . 3306 B Gscheidle (SPD) . . . 3311 D, 3312 A, D
Frau Pitz-Savelsberg (SPD) . . . . 3312 B
Frage des Abg. Dr. Dr. h. c. Friedensburg:
Betriebsprüfungen bei Mineralölgesell-
Frage des Abg. Seuffert:
schaften
Einbürgerungsbewerber aus Ostblock-
Grund, Staatssekretär 3306 C staaten
Höcherl, Bundesminister 3313 A
Fragen des Abg. Gewandt:
Seuffert (SPD) . . . . . . . 3313 A
Werbefernsehen
Dr. Westrick, Staatssekretär . . . 3306 D,
3307 B, C Fragen der Abg. Dr. Rinderspacher und
Glüsing (Dithmarschen) :
Gewandt (CDU/CSU) . . . . . . 3307 B
Gemüse- und Obstpreise, Versorgung
des Gemüsemarktes
Frage des Abg. Felder:
Schwarz, Bundesminister . 3313 B, 3314 A
Altersvorsorge für Rechtsanwälte
Dr. Rinderspacher (SPD) 3314 A
Blank, Bundesministei 3307 C, D, 3308 A, B
Felder (SPD) 3307 D
Frage des Abg. Glüsing (Dithmarschen) :
Memmel (CDU/CSU) . . . . . 3308 A
Fernsehwerbung für den Absatz deut-
Wittrock (SPD) . . . . . . . 3308 A scher Lebensmittel
Dr. Besold (CDU/CSU) . . . . 3308 B Schwarz, Bundesminister . . . 3314 A, B, C
Glüsing (Dithmarschen) (CDU/CSU) . 3314 B
Frage der Abg. Frau Dr. Diemer-
Bauer (Wasserburg) (CDU/CSU) . . 3314 B
Nicolaus:
Pflichtplätze für Schwerbeschädigte
Frage des Abg. Ertl:
Blank, Bundesminister 3308 B, 3309 A
- Tiereinfuhr nach Frankreich
Frau Dr. Diemer-Nicolaus (FDP) . . 3309 A
Schwarz, Bundesminister 3314 C, D, 3315 A
Fragen des Abg. Gscheidle: Ertl (FDP) 3314 D, 3315 A
Mietsätze für Bundesdarlehnswohnun-
gen Frage des Abg. Fritsch:
Lücke, Bundesminister 3309 B, D, Bekämpfung der Bienenseuchen
3310A, B, C, D, 3311 A Schwarz, Bundesminister . . . . 3315 A, B
Gscheidle (SPD) . . . 3309 C, D, 3310 A Fritsch (SPD) 3315 B
Büttner (SPD) 3310 B
Schmitt-Vockenhausen (SPD) . . 3310 C Fragen des Abg. Dr. Reinhard:
Höcherl, Bundesminister . . . . 3310 D Einfuhr von mit Zusatzstoffen gefütter-
3310 D ten Masthähnchen
Baier (Mosbach) (CDU/CSU) . .
Schwarz, Bundesminister . . . . 3315 C, D,
3316 A, B, C
Frage des Abg. Peiter:
Ausbau deutscher Kriegerfriedhöfe Dr. Reinhard (CDU/CSU) 3315 C, D, 3316 C
durch Jugendgruppen . . . . . . 3311 A
. Bading (SPD) 3316 A
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 III

Antrag betr. Enquete über die Situation der Entwurf eines Gesetzes zu dem Inter-
Frau in Beruf, Familie und Gesellschaft nationalen Kaffee-Übereinkommen 1962
(SPD) (Drucksache IV/837) (Drucksache IV/1168) — Erste Beratung — 3395 C
Frau Strobel (SPD) . . . . . . . 3316 C
Entwurf eines Gesetzes zu dem Inter-
Frau Kalinke (CDU/CSU) . . . . 3323 B
nationalen Weizen-Übereinkommen 1962
Frau Dr. Kiep-Altenloh (FDP) . . . 3333 D (Drucksache IV/1169) — Erste Beratung — 3395 C

Bericht der Bundesregierung über die Wirt- Entwurf eines Gesetzes zu dem Protokoll
schaftsentwicklung im Jahre 1962 und die vom 16. Dezember 1961 über den Beitritt
Aussichten für 1963 (Drucksache IV/1010) Dänemarks und anderer Mitglieder des
Dr. Dr. h. c. Erhard, Europarats zu dem Übereinkommen vom
Bundesminister . . . 3336 C, 3367 B 17. April 1950 über Gastarbeitnehmer
(Drucksache IV/1173) — Erste Beratung — 3395 D
Schmücker (CDU/CSU) . . . . . 3342 A
Dr. Deist (SPD) . . . . 3347 B, 3371 D Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag
Dr. Atzenroth (FDP) . . . . . . 3360 B vom 6. September 1962 mit der Republik
Dr. Burgbacher (CDU/CSU) . . . . 3364 B Österreich über Zollerleichterungen im
kleinen Grenzverkehr und im Durch
Haase (Kassel) (CDU/CSU) . . . . 3374 C gangsverkehr (Drucksache IV/1184) —
Dr. Siemer (CDU/CSU) . . . . . 3377 B Erste Beratung — . . . . . . . . 3395 D

Große Anfrage der Abg. Dr. Besold, Dr. Schriftlicher Bericht des Ausschusses für
Schmidt (Wuppertal), Dr. Schwörer, Ruf, Kulturpolitik und Publizistik über den
Stiller, Dr. Vogel, Dr. Imle u. Gen. betr. Vorschlag der Kommission der EWG
Maßnahmen zur Behebung des Arbeits- einer ersten Richtlinie auf dem Gebiet
kräftemangels (Drucksache IV/1072); in des Filmwesens (Drucksachen IV/619,
Verbindung mit dem IV/1170) 3396 A

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
Einkommensteuergesetzes (Abg. Dr. Imle, ' über den Vorschlag der Kommission der
Mertes, Dr. Supf, Opitz u. Gen.) (Druck- EWG für eine Richtlinie zur Harmoni-
sache IV/1161) — Erste Beratung — sierung der Rechtsvorschriften betr. die
Umsatzsteuern (Drucksachen IV/850,
Dr. Besold (CDU/CSU) . . . . . 3379 D IV/1179) . . . . . . . . . . . . 3396 A
Blank, Bundesminister . . . . . . 3384 C
Dr. Imle (FDP) . . . . . . . 3386 B Übersicht 12 des Rechtsausschusses über
Folger (SPD) 3388 C Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht (Drucksache IV/1162) . . . . . 3396 B
Müller (Remscheid) (CDU/CSU) . 3391 D
Meis (CDU/CSU) 3393 D Schriftlicher Bericht des Außenhandelsaus-
schusses über die Verordnung zur Ände-
Nachwahlen zur Beratenden Versammlung rung der Verordnung über die Verringe-
des Europarates . . . . . . . . . 3395 A
- rung von Abschöpfungssätzen bei der
Einfuhr von Eiprodukten (Drucksachen
IV/1017, IV/1155) 3396 B
Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 20. November 1962 mit der Republik Zweite Verordnung über die Verringerung
Ecuador über den Luftverkehr (Druck- von Abschöpfungssätzen bei der Einfuhr
sache IV/1165) — Erste Beratung — . . 3395 B von Eiprodukten (Drucksache IV/1192) . 3396 C

Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkom- Antrag betr. Kraftfahrzeugsteuer im Hucke-


men vom 19. März 1962 mit dem Austra- packverkehr (FDP) (Drucksache IV/1058) 3396 C
lischen Bund über den Austausch von
Postpaketen (Drucksache IV/1166) —
Erste Beratung — 3395 B Antrag betr. Bestallungsordnung für Ärzte
(CDU/CSU, FDP) (Drucksache IV/1147
[neu]) 3396 D
Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag
vom 29. Juni 1962 mit der Bundesrepu-
blik Kamerun über die Förderung von Nächste Sitzung 3396 D
Kapitalanlagen (Drucksache IV/1167) —
Erste Beratung — 3395 C Anlagen 3397
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3301

72. Sitzung
Bonn, den 24. April 1963

Stenographischer Bericht Herrn Abgeordneten Hussong, der am 17. April das


6. Lebensjahrzehnt vollendet hat,
(Beifall)
Beginn: 9.02 Uhr
ebenso dem Herrn Abgeordneten Stein, der am
19. April das gleiche Alter erreicht hat,
Vizepräsident Dr. Dehler: Die Sitzung ist er- (Beifall)
öffnet. und schließlich dem Herrn Abgeordneten Gerns, der
Der Herr Präsident des Bundestages hat an den am 22. April seinen 71. Geburtstag gefeiert hat.
Herrn Botschafter Dr. Shinnar in Tel Aviv in Israel (Beifall.)
folgendes Telegramm gerichtet:
Für den durch Verzicht ausgeschiedenen Abge-
Aus Anlaß des Todes des Herrn Staatspräsiden- ordneten Wacher ist mit Wirkung vom 1. April 1963
ten von Israel, Yitzchak Ben-Zvi, möchte ich Sie der Abgeordnete Ziegler in den Bundestag einge-
bitten, Ihrer Regierung sowie den Angehörigen treten, und für den durch Verzicht ausgeschiedenen
die aufrichtige und herzliche Anteilnahme des Abgeordneten Neubauer ist die Abgeordnete Frau
Deutschen Bundestages zu übermitteln. Lösche mit Wirkung vom 18. April 1963 in den Bun-
Der Verewigte hat auf mich einen so tiefen Ein- destag eingetreten. Ich begrüße die neuen Mitglie-
druck gemacht, daß ich überzeugt bin, daß seine der in diesem Hause und wünsche ihnen eine ge-
Gestalt und sein Werk ein Segen für Israel deihliche Zusammenarbeit.
bleiben werden. (Beifall.)
Ich habe die Freude, in unserem Kreise heute Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden
zwei schweizerische Parlamentarier zu begrüßen, ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht
den Herrn Ständerat Dr. Mäder und den Herrn aufgenommen:
Nationalrat Dr. Boerlin.
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 5. April 1963 den
(Beifall.) nachstehenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß
Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht gestellt:
Während der Ostertage haben eine Reihe von Sechzehntes Gesetz zur Änderung des Lastenausgleichs-
Kollegen ihre Geburtstage gefeiert. Ich darf Glück- gesetzes (16. ÄndG LAG)

wünsche aussprechen dem Herrn Abgeordneten Gesetz zur Anderung des Gesetzes über die Finanzverwa
tung, der Reichsabgabenordnung und anderer Steuergesetze
Storch, der am 1. April 71 Jahre alt geworden ist,
Gesetz über die Allgemeine Statistik in der Elektrizitäts-
(Beifall) - und Gaswirtschaft und die Durchführung des Europäischen
Industriezensus in der Versorgungswirtschaft
ebenso dem Herrn Abgeordneten Dr. Meyer (Frank-
Zweites Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes über die Allge-
furt), der am 2. April das gleiche Alter erreicht hat, meine Statistik in der Industrie und 1m Bauhauptgewerbe

(Beifall) Gesetz zu dem Abkommen vom 30. April 1962 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Peru über den
Herrn Abgeordneten Ritzel, der am 10. April das Luftverkehr

7. Lebensjahrzehnt vollendet hat, Gesetz zur Ä nderung und Ergänzung des Gesetzes über die
Pfandbriefe und verwandten Schuldverschreibungen öffent-
lich-rechtlicher Kreditanstalten
(Beifall)
Gesetz zur Ä nderung und Ergänzung des Schiffsbankgesetzes
dem Herrn Abgeordneten Gehring, der am 15. April
Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Personalausweise
65 Jahre alt geworden ist,
Gesetz zur Ä nderung des Gesetzes über die Errichtung eines
(Beifall) Bundesgesundheitsamtes
Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der deut-
Herrn Abgeordneten Horn, der ebenfalls am schen Eier- und Geflügelwirtschaft
15. April 72 Jahre alt geworden ist, Zwölftes Gesetz zur Ä nderung des Umsatzsteuergesetzes.
(Beifall) In der gleichen Sitzung hat der Bundesrat beschlossen, hin-
sichtlich des
Herrn Abgeordneten Blöcker, der am 17. April auch Gesetzes zur Einschränkung des § 7 b des Einkommensteuer-
die Grenze der 65 Jahre erreicht hat, gesetzes
zu verlangen, daß der Vermittlungsausschuß einberufen wird.
(Beifall) Sein Schreiben ist als Drucksache IV/1181 verteilt.
3302 Deutscher Bundestag - 4. Wahlperiode - 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Vizepräsident Dr. Dehler
Der Herr Bundesminister für Verkehr hat unter dem 31. März an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten -
1963 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Schmidt (Wupper- federführend - und an den Außenhandelsausschuß - mitbe-
tal), Bading, Margulies und Genossen betr. Transport gefähr- ratend - mit der Bitte um Berichterstattung innerhalb eines
licher Stoffe durch die Deutsche Bundesbahn - Drucksache Monats, wenn im Ausschuß Bedenken gegen die Verordnung
IV/1055 - beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache IV/1177 erhoben werden.
verteilt.
Verordnung Nr. 11/63/EWG des Rats vom 20. Februar 1963
Der Herr Bundesminister für Wirtschaft und der Herr Bundes- zur Verlängerung der Geltungsdauer der Verordnung Nr. 156
minister für Arbeit und Sozialordnung haben unter dem 8. April des Rats (Amtsblatt S. 404/63)
1963 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. Berufsaus- an den Außenhandelsausschuß federführend - und an den
bildung - Drucksache IV/1144 - beantwortet. Ihr Schreiben ist Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten - mitbe-
als Drucksache IV/1182 verteilt. ratend - mit der Bitte um Berichterstattung innerhalb eines
Monats, wenn im Ausschuß Bedenken gegen die Verordnung er-
Der Herr Staatssekretär des Auswärtigen Amts hat unter dem hoben werden.
9. April 1963 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD vom
25. März 1963 betr. Verzögerung des Inkrafttretens des Ab-
kommens über die Rechtsstellung der bei den Alliierten Be- Zu den in der Fragestunde der 69. Sitzung des
schäftigten - Drucksache IV/1136 - beantwortet. Sein Schreiben Deutschen Bundestages am 27. März 1963 gestellten
ist als Drucksache IV/1187 verteilt.
Fragen des Abgeordneten Faller Nr. V/3 und V/4 *)
Der Herr Vertreter des Staatssekretärs des Bundesschatzmini-
steriums hat unter dem 29. März 1963 die Kleine Anfrage der ist inzwischen die schriftliche Antwort des Herrn
Abgeordneten Dr. Hahn (Heidelberg), Dr. Wahl, Dr. Hesberg,
Baier (Mosbach) und Genossen betr. Veräußerung von Bundes-
Bundesministers Dr. Bucher vom 3. April 1963 ein-
gelände in Heidelberg - Drucksache IV/1077 - beantwortet. gegangen. Sie lautet:
Sein Schreiben ist als Drucksache IV/1174 verteilt.
Zu diesen Fragen kann ich z. Z. nur wie folgt Stellung
Der Herr Staatssekretär des Auswärtigen Amts hat unter dem nehmen:
9. April 1963 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr.
Rechtsansprüche unehelicher Kinder von Vätern, die Angehörige Der Bundesregierung sind die Hintergründe des Attentatsver-
der stationierten Streitkräfte sind - Drucksache IV/1137 be- suchs, der am 20. Februar 1963 in Lörrach auf den deutschen
antwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache IV/1185 verteilt. Staatsangehörigen Dr. Kleinwächter verübt worden ist, noch nicht
näher bekannt.
Der Herr Bundesminister der Finanzen hat unter dem 10. April An Einzelheiten kann ich folgendes mitteilen:
1963 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. Vorschläge
des Ausschusses für wirtschaftliche Verwaltung (AWV) - Druck- a) Am 20. Februar 1963 gegen 21 Uhr wurde auf den in Lörrach
sache IV/1145 - beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache wohnhaften Ingenieur Dr. Hans Kleinwächter in Lörrach von
IV/1186 verteilt. drei oder vier noch nicht ermittelten Tätern ein Überfall
verübt, der offensichtlich zum Ziel hatte, Dr. Kleinwächter zu
Die Frau Bundesministerin für Gesundheitswesen und der töten. Dr. Kleinwächter befand sich mit seinem Pkw auf der
HerBundsmitfüAbeundSozialrghbeunt Heimfahrt zu seiner in Lörrach gelegenen Wohnung. Kurz vor
dem 20. April 1963 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Erreichen seiner Wohnung kamen ihm in einem Pkw drei
Schmidt (Wuppertal), Bading, Margulies und Genossen betr. männliche Personen entgegengefahren. Infolge der geringen
Luftgüte in Ballungsgebieten bei Inversionslagen - Drucksache Breite des Weges mußten beide Fahrzeuge anhalten. Einer
IV/1053 - beantwortet. Ihr Schreiben wird als Drucksache IV/1197 der Insassen des Pkw's verließ das Fahrzeug, begab sich zu
verteilt. dem Pkw des Dr. Kleinwächter, sprach diesen durch das leicht
geöffnete Seitenfenster des Fahrzeugs an und gab anschlie-
Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat unter dem ßend sofort aus einer Kleinkaliberpistole mit Schalldämpfer
28. März 1963 unter Bezug auf den Beschluß des Bundestages einen Schuß auf Dr. Kleinwächter ab. Das Geschoß zertrüm-
vom 12. Dezember 1962 einen Bericht der Bundesregierung über merte die Scheibe des Wagenfensters und blieb im Wollschal
Intereuropäische Naturparks übersandt, der als Drucksache des Überfallenen in Brusthöhe stecken. Zur Abgabe eines
IV/1175 verteilt ist. zweiten Schusses kam es nicht, weil an der Kleinkaliber-
pistole des Täters eine Ladehemmung entstanden war. Nach
Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat unter dem Mißlingen des Anschlags ergriffen der Täter und seine Tat-
25. März 1963 unter Bezug auf den Beschluß des Bundestages genossen die Flucht.
vom 4. Mai 1961 einen Abschlußbericht über die britisch-kana-
disch-deutschen Verhandlungen sowie einen Bericht über den Wegen dieses Sachverhalts führt die Staatsanwaltschaft bei
Stand der innerdeutschen Maßnahmen gegeben. Sein Schreiben dem Landgericht Freiburg/Breisgau ein Ermittlungsverfahren
ist als Drucksache IV/1190 verteilt. gegen den israelischen Staatsangehörigen Bengal und den
österreichischen Staatsangehörigen Dr. Joklik wegen ver-
Der Herr Bundesminister des Innern hat unter dem 10. April suchten Mordes. Beide sind am 2. März 1963 von schweizeri-
1963 unter Bezug auf den Beschluß des Bundestages vom 7. De- schen Behörden festgenommen worden, weil sie verdächtig
zember 1962 den Bericht der Bundesregierung über die Zu- sind, in der Schweiz strafbare Handlungen begangen zu
ständigkeit für Bundesstatistiken übersandt, der als Drucksache haben.
IV/1191 verteilt ist. Soweit mir bekannt ist, unterhält Dr. Kleinwächter in
Lörrach ein Laboratorium, in dem er unter anderem For-
Der Abgeordnete Kühn (Köln) hat mit Wirkung vom 9. April schungs- und Entwicklungsaufträge für die ägyptische Regie-
1963 sein Mandat niedergelegt. rung ausführt.
Der Abgeordnete Neubauer hat mit Wirkung vom 16. April b) Am 11. September 1962 verschwand aus München aus bisher
1963 sein Mandat niedergelegt. unbekannten Gründen der Geschäftsführer Dr. Heinz Krug.
Aus diesem Anlaß hat der Oberstaatsanwalt bei dem Land-
Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß gericht München I ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt
des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen wegen Freiheitsberaubung und Geheimbündelei eingeleitet.
überwiesen:
Die bisherigen Feststellungen haben folgendes ergeben:
Verordnung des Rates über eine von Artikel 7 und 8 der Dr. Krug hat gemeinsam mit den Professoren Goerke und
Verordnung Nr. 20 des Rates abweichende Regelung betref- Pilz in München die Intra-Handelsgesellschaft gegründet, die
fend die Festsetzung der Einschleusungspreise und der fast ausschließlich Handel mit Ägypten betreibt. Insbesondere
Zusatzbeträge für einige Schweinefleischerzeugnisse - Druck- dient sie dazu, die für die ägyptische Raketenforschung und
sache IV/1176 - Produktion benötigen Rohstoffe, Maschinen und Geräte zu
beschaffen. Im Rahmen dieser Geschäftsbeziehungen lernte
an den Außenhandelsausschuß - federführend - und an den Dr. Krug einen gewissen Nadim kennen. Am Abend des
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten - mitbe- 10. September 1962 wurde Dr. Krug, der sich in Begleitung
ratend - mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor von Dr. Joklik befand, von einem gewissen Mister Saleh
dem Plenum am 8. Mai 1963. ein angeblicher Brief des Nadim übergeben, in dem Dr. Krug
gebeten wurde, mit Mister Saleh nach Solln zu fahren. Am
Verordnung Nr. 23/63/EWG des Rats vom 21. März 1963 11. September 1962 teilte Dr. Krug seinem Büro mit, er fahre
über von der Verordnung Nr. 55 des Rats abweichende zu einem Besuch nach Solln, dessen Dauer er auf etwa zwei
Maßnahmen betreffend die für einige Futtermittelarten gel- Stunden veranschlage. Zu der Fahrt benutzte Dr. Krug seinen
tenden Abschöpfungsbeträge (Amtsblatt S. 986/63) und der Pkw, der am 14. September 1962 in München aufgefunden
Verordnung Nr. 25/63/EWG des Rats vom 21. März 1963 über wurde. Seit dem Verlassen seines Büros fehlt jede Spur von
die gegenüber dritten Ländern geltenden Abschöpfungs- Dr. Krug. Die Großfahndung nach ihm verlief bisher ergebnis-
beträge für geschlachtete Schweine und für lebende Schweine los. Die Ermittlungen dauern an. Über das Verschwinden des
für die vom 1. April bis zum 30. Juni 1963 getätigten Ein- Dr. Wolfgang Pilz aus Stuttgart ist weder den Justizbehörden
fuhren (Amtsblatt S. 989/63) des Landes Baden-Württemberg noch den bayerischen Justiz-
behörden etwas bekannt. Bisher noch unbekannte Personen
an den Außenhandelsausschuß - federführend - und an den haben im November 1962 von Hamburg nach Kairo drei
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten - mitbe- Sendungen mit Sprengkörpern versandt, von denen zwei
ratend - mit der Bitte um Berichterstattung innerhalb eines beim Öffnen explodiert sind und mehrere Menschen getötet
Monats, wenn im Ausschuß Bedenken gegen die Verordnungen bzw. schwer verletzt haben. Da der Verdacht besteht, daß
erhoben werden. die Attentate von einer in der Bundesrepublik bestehenden
Gruppe verübt worden sind, die als Geheimbund und krimi-
Verordnung Nr. 24/63/EWG des Rats vom 21. März 1963 zur nelle Untergrundorganisation im Sinne der §§ 128, 129 StGB
Änderung der Verordnung Nr. 55 des Rats hinsichtlich des
Höchstbetrags für die Erstattung bei der Erzeugung von
Stärke aus Weichweizen (Amtsblatt 987/63) *) Siehe 69. Sitzung Seite 3088 C, D.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3303
Vizepräsident Dr. Dehler
anzusehen ist, hat der Generalbundesanwalt gemäß § 74 a
Abs. 2 GVG die Ermittlungen übernommen und die Siche-
übersehen. Aus meiner Antwort ergibt sich aber,
rungsgruppe des Bundeskriminalamtes mit den weiteren Er- daß diese Mittel aus dem Straßenbauhaushalt, also
mittlungen beauftragt. Diese dauern noch an.
aus der Gesamtsumme, die mir in diesem Jahr zur
Es sind Vorkehrungen getroffen worden, daß die genannten
Ermittlungen koordiniert werden. Verfügung steht, entnommen werden müßten.

Wir treten in die Tagesordnung ein und kommen Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage
zum ersten Tagesordnungspunkt, der des Herrn Abgeordneten Ritzel.
Fragestunde (Drucksache IV/1193).
Ich rufe auf die Fragen aus dem Geschäftsbereich Ritzel (SPD) : Herr Bundesverkehrsminister, wür-
des Herrn Bundesministers für Verkehr, zunächst den Sie die beiden in Frage kommenden Ausschüsse,
die Frage IX/1 — des Herrn Abgeordneten Lemm- also den Ausschuß für Verkehr und den Haushalts-
rich —: ausschuß, darüber informieren, welche geplanten
Aufwendungen durch die Verschiebung der Aus-
Hat die Bundesregierung einen Überblick über die Kosten,
die für die Beseitigung der Frostschäden auf den Bundesfern- gaben infolge der Frostschäden etwa notleidend
straßen anfallen werden? werden, damit sich die Ausschüsse überlegen kön-
Bitte, Herr Minister. nen, welche Vorlage notwendig ist, um eine zusätz-
liche Bereitstellung von Mitteln zu beschließen?
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Ver- Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
kehr: Nach den ersten Schätzungen kann angenom- Jawohl, Herr Kollege, das werde ich tun, und ich
men werden, daß die Behebung der in diesem Früh- werde auch sogar darum bitten, daß wir gegebenen-
jahr entstandenen Frostschäden an den Bundesstra- falls gemeinsam überlegen, welche Auswege wir
ßen einen Aufwand von etwa 400 Millionen DM finden können, damit die notwendigen Neubauten
erfordert. Bei dieser Zahl ist vorausgesetzt, daß alle nicht verhindert werden.
Schäden nicht nur durch Oberflächenbehandlung,
sondern auch durch Untergrundsanierung beseitigt
werden. Das ist dann mehr als das Doppelte des
Vizepräsident Dr. Dehler: Frage IX/2 — des
Herrn Abgeordneten Lemmrich —:
Durchschnitts des Aufwands der Jahre 1960/62. Die
Erhebungen der Länder sind allerdings noch nicht Wie haben sich zwischenausgebaute Straßen, die mit einer
neuen Asphaltdecke versehen wurden, gegenüber den Frostein-
abgeschlossen, so daß die endgültige Zahl, auch für wirkungen verhalten?
die Bundesstraßen, noch nicht genannt werden kann.
Der Termin für die jährlich zu erstattenden Berichte Bitte, Herr Minister.
ist der 15. Mai.
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
Fürs erste bildet die Mittelbereitstellung für die Herr Kollege, die Straßenabschnitte, die im Wege
Durchführung der Arbeiten zur Behebung der Frost- des sogenannten Zwischenausbaus mit neuen Fahr-
schäden kein Hindernis. Die Länder haben die er- bahndecken versehen wurden, haben sich gegenüber
forderlichen Mittel in Höhe von 400 Millionen DM den Frosteinwirkungen, wie mir berichtet wird,
bereits im Februar und März vorsorglich zugewie- durchweg gut bewährt. Es besteht daher die Absicht,
sen erhalten. diese Bauweise in den kommenden Jahren womög-
Ich habe dem Haushaltsausschuß einen Bericht in lich noch in verstärktem Maße anzuwenden, vor
Aussicht gestellt, in dem ich den genauen Umfang allem in Süddeutschland.
der Schäden auf den Bundesstraßen eingehend dar-
legen werde, sobald mir die angeforderten Meldun- Vizepräsident Dr. Dehler: Dann die Frage
gen der Auftragsverwaltungen vorliegen. Bis dahin IX/3 — des Herrn Abgeordneten Rademacher —:
werde ich auch besser übersehen können, wie sich Worauf ist es zurückzuführen, daß zahlreiche F-, FT- und TEE-
der unvermeidliche Aufwand für die Schadensbe- Züge der Deutschen Bundesbahn fast regelmäßig und unabhän-
gig von der Witterung mit 20 Minuten und mehr Verspätung
hebung auf die Abwicklung des diesjährigen Stra- (zum Beispiel Parsifal und Gambrinus) an Knotenpunktstationen
ßenbauhaushalts auswirken wird. eintreffen?

Ist der Herr Abgeordnete Rademacher da? — Der


Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordnete Dürr übernimmt die Frage.
Herr Abgeordneter Lemmrich?
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
Lemmrich(CDU/CSU): Herr Minister, bedeutet Herr Kollege, im Benehmen mit der Hauptverwal-
das, daß diese 400 Millionen DM vom allgemeinen tung der Deutschen Bundesbahn beantworte ich Ihre
Straßenbau abgezweigt werden? Frage wie folgt.
Der ungewöhnlich strenge Winter hatte auch im
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr: Streckennetz der Deutschen Bundesbahn empfind-
Herr Kollege, die 400 Millionen DM entstammen liche Nachteile in Form von Frostschäden aller Art
dem Straßenbauhaushalt dieses Jahres und entspre- verursacht. Dadurch entstand eine zusätzliche, nicht
chen der Summe, die für die Unterhaltungsarbeiten unerhebliche Zahl von Langsamfahrstellen, die erst
in diesem Jahre vorgesehen war. Ob wir nun außer nach und nach zu beseitigen sind. Die planmäßig
für die Beseitigung der Frostschäden noch weitere vorgesehenen Geschwindigkeiten der Züge können
Mittel für dringende Unterhaltungsarbeiten aufzu- an diesen Stellen nicht ausgefahren werden. Auf
wenden haben, kann ich im Augenblick noch nicht den F- und D-Zugstrecken der Deutschen Bundes-
3304 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Bundesminister Dr. Ing. Seebohm


-

bahn sind rund 400 derartige Langsamfahrstellen Ich rufe auf die Frage IX/6 — des Abgeordneten
mit einer Länge von etwa 800 km eingetreten. Be- Seibert —:
sonders betroffen war hierbei die Strecke Hamburg- Ist die Bundesregierung bereit, 1963 Schritte dahin gehend zu
Bremen-Osnabrück-Ruhrgebiet-Köln. Dadurch ent- unternehmen, daß die von Württemberg an die Nordsee und
vom Rheinland nach Oberbayern in Nachttransporten zur Erho-
standen die von Ihnen angeführten Verspätungen lung geschickten Kinder nicht wieder gezwungen sind, während
des „Parsifal" und des „Gambrinus". An der Besei- dieser Fahrt teilweise auf den unhygienischen Böden der Wag-
gons schlafen zu müssen?
tigung dieser Schadensstellen sowie an der Durch-
führung der an sich in den Frostmonaten planmäßig Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beant-
vorgesehenen und nun nachzuholenden Reparaturen wortung einverstanden erklärt. Die Antwort des
wird mit aller Energie gearbeitet. Es werden jedoch Herrn Bundesministers Dr.-Ing. Seebohm vom
noch einige Wochen vergehen, bis diese Hauptver- 24. April 1963 lautet:
spätungsquellen beseitigt sind. Auch ich halte es für falsch, die Kinder bei Nachttransporten
in den Sonderzügen auf den Böden der Wagen schlafen zu
lassen, und weiß mich mit der Deutschen Bundesbahn darin
Vizepräsident Dr. Dehler: Zu einer Zusatz- einig, daß dies auch nicht nötig ist. Die Sonderzüge verfügen
nach Angabe der Deutschen Bundesbahn stets über so viele
frage Herr Abgeordneter Dürr! Sitzplätze, daß die Kinder bequem und locker sitzen können
und ausreichende Möglichkeit haben, ihre Sitz- und Körper-
haltung zu wechseln. Die Masse der Kinder kann allerdings
nicht liegen.
Dürr (FDP) : Herr Minister, können Sie Ihre An- Leider reicht der Reisezugwagenpark der Deutschen Bundes-
gabe „noch einige Wochen" vielleicht ein wenig bahn nicht aus, um Wagen mit ausziehbaren Sitzen für Kinder-
transporte freizumachen. Auch ist es der Deutschen Bundesbahn
genauer fassen, ,damit die Bevölkerung Bescheid nicht möglich, für eine zusätzliche Beschaffung solcher Fahrzeuge
weiß, wann es wieder fahrplanmäßig geht? Eigenmittel zur Verfügung zu stellen.
Die Deutsche Bundesbahn ist deshalb bemüht, auch die letzten
fünf noch nachts fahrenden Kindersonderzüge nach Möglichkeit
durch Tagesfahrten zu ersetzen, wenn die Veranstalter mit einer
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
- sehr frühen Abfahrt einverstanden wären, die notwendig ist,
um die Schiffe nach den Inseln noch zu erreichen.
Bekanntlich ist das Auftreten von Langsamfahrstel-
len nicht im voraus, sondern erst, nachdem die Schä-
den eingetreten sind, zu übersehen. Die Fahrplan- Ich rufe auf Frage IX/7 — Abgeordneten Mem-
zeiten sind auf ein im Laufe der Jahre praktisch von mel —:
Langsamfahrstellen bereinigtes Netz ausgerichtet Sind die Ursachen der Beschädigung der neuen Talbrücke
gewesen. Wir werden also in den nächsten Wochen Heidingsfeld auf der Autobahnstrecke Würzburg-West—Würz-
burg-Ost inzwischen ermittelt worden?
sicher noch mit Verspätungen zu rechnen haben.
Bevor die Langsamfahrstellen nicht beseitigt sind,
können die vorgesehenen Geschwindigkeiten nicht Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
-

) ausgefahren werden. Herr Kollege, die Ursachen der Beschädigung der


neuen Talbrücke Heidingsfeld sind inzwischen er-
Vizepräsident Dr. Dehler: Ich rufe auf die mittelt worden. Sie sind darin zu suchen, daß die
Frage IX/4 — des Abgeordneten Seibert —: Stahlbrücke, die zur Erzielung des gewünschten
Wie weit sind im Zusammenhang mit einer eventuellen Spannungszustandes vor dem Betonieren der Fahr-
Schüler-Fahrgeldlreiheit auf öffentlichen Verkehrsmitteln die bahn angehoben und nach dem Betonieren abge-
vom Bundesverkehrsministerium angeforderten statistischen Er-
hebungen gediehen bzw. bis wann ist mit deren Vorlage zu senkt werden mußte, für diesen vorübergehenden
rechnen?
Zustand durch aufeinandergestapelte Betonplatten
Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beant- unterstützt wurde, die an der abgerutschten Stelle
wortung einverstanden erklärt. Die Antwort des schadhaft geworden waren.
Herrn Bundesministers Dr.-Ing. Seebohm vom
24. April 1963 lautet: Vizepräsident Dr. Dehler: Die Frage 8 — Ab-
Für die zur Zeit laufenden Verhandlungen mit den Ländern geordneter Memmel — :

werden Zahlen über den Umfang des Schülerpendelverkehrs,


gegliedert nach Bundesländern, benötigt. In Zusammenarbeit mit Ist Vorsorge getroffen, daß durch die runliebsame Beschädigung
der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder und dem der neuen Talbrücke Heidingsfeld keinesfalls der zugesagte Ter-
Statistischen Bundesamt ist festgestellt worden, daß diese An- min für die Fertigstellung der Autobahn Würzburg—Nürnberg
gaben am einfachsten und schnellsten durch eine Sonderauswer- hinausgezögert wird?
tung der Volkszählung 1961 gewonnen werden können. Sie wer-
den voraussichtlich in der zweiten Hälfte dieses Jahres zur
Verfügung stehen.
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
-

Ich rufe auf die Frage IX/5 — des Abgeordneten Herr Kollege, es ist Vorsorge getroffen worden, daß
Seibert —: die Beschädigung so schnell wie möglich, aber auch
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die eventuelle
so gründlich wie möglich behoben wird. Eine Ver-
Fahrkostenerstattung für Schiller ausschließlich durch die Bundes- zögerung in der Fertigstellung der Brücke läßt sich
länder zu erfolgen hätte, oder sieht sie Möglichkeiten, für diese
Zwecke auch Mittel aus dem Bundesetat bereitzustellen? leider nicht vermeiden. Es soll versucht werden, die
Brücke noch vor Eintritt des Winters in Verkehr zu
Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beant- nehmen. Eine feste Zusage hierfür kann ich im
wortung einverstanden erklärt. Die Antwort des Augenblick noch nicht machen. Ich habe Anweisung
Herrn Bundesministers Dr.-Ing. Seebohm vom gegeben, daß die Instandsetzung auf alle Fälle sorg-
24. April 1963 lautet: fältig durchgeführt wird, auch wenn sich dadurch
Solange Zahlen über den Umfang des Schülerpendelverkehrs Terminverzögerungen nicht vermeiden lassen soll-
noch nicht vorliegen und die Länder zur Auffassung der Bundes- ten.
regierung, daß es sich bei der Förderung des Schülerverkehrs
um eine Aufgabe im Rahmen der Kulturhoheit handelt, noch
nicht Stellung genommen haben, ist eine Beantwortung dieser
Frage für die Bundesregierung noch nicht möglich. Ich habe sie
deshalb mit dem Herrn Bundesminister der Finanzen noch nicht
Vizepräsident Dr. Dehler: Zu einer Zusatz-
erörtert. frage Herr Abgeordneter Memmel!
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3305

Memmel (CDU/CSU) : Herr Minister, läßt sich mals über eine Vereinfachung des Abfertigungsver-
eine Verzögerung des zugesagten Termins nicht da- fahrens zu verhandeln. Wir sehen deshalb im Augen-
durch verhindern, daß man jetzt auch mit Nacht- blick keine Notwendigkeit, in dieser Sache Weiteres
schichten arbeitet? Sie kennen ja die Verkehrsnot zu tun.
auf den Straßen durch Würzburg.
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
- wird nicht gewünscht.
Herr Kollege, ich würde das, wenn es irgendeinen Ich rufe die ebenfalls von der Abgeordneten Frau
Sinn hätte, in diesem besonderen Fall durchaus in Schanzenbach gestellte Frage IX/11 auf:
Erwägung ziehen. Es hat aber deshalb keinen Sinn,
weil ein großer Teil der Brückenkonstruktion her- Ist die Bundesregierung bereit, bei der Deutschen Bundesbahn
darauf hinzuwirken, daß in allen Schnell- und Fernzügen für
ausgeschweißt und durch eine neue Konstruktion er- Erwachsene, die mit Säuglingen und Kleinkindern reisen, eine
besondere Abteilung, die möglichst mit Waschgelegenheit aus-
setzt werden muß. Hier rührt der Engpaß natürlich gestattet ist, bereitgestellt wird?
daher, daß die Brückenbaufirma das nicht voraus-
gesehen hat und nun auch das erforderliche Material
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
-
angeliefert werden muß. Wir drängen darauf, daß
Frau Kollegin, die Frage der Bereitstellung von
die Brücke so schnell wie möglich fertiggestellt wird.
Sonderabteilen für Erwachsene, die mit Säuglingen
Aber ich muß bei dieser besonders schwierigen
und Kleinkindern reisen, ist schon wiederholt be-
Brücke auch darauf Wert legen, daß so sorgfältig wie
handelt worden. Wie mir die Deutsche Bundesbahn
möglich gearbeitet wird. Ich habe leider die Befürch-
mitteilt, werden bereits heute in etwa 100 der im
tung, daß man bei der Herstellung der Betonplatten
Bereich der Deutschen Bundesbahn verkehrenden
nicht die Beanspruchung durch einen so langen und
Schnellzüge Sonderabteile „Frau und Kind" vorge-
starken Frost berücksichtigt hat.
halten. Abteile zusätzlich mit einer Waschgelegen-
heit auszustatten ist installations- und raummäßig
Vizepräsident Dr. Dehler: Frage IX/9 — Frau äußerst schwierig.
Abgeordnete Schanzenbach —:
Leider hat nun die Einrichtung der Sonderabteile
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die neue Regelung des in der Öffentlichkeit nicht den erwarteten Wider-
Verfahrens bei der Anmeldung von Kindertransporten bei der
Deutschen Bundesbahn für die Träger der Erholungsfürsorge, hall gefunden; denn die Abteile werden im allge-
insbesondere für die freien Wohlfahrtsverbände und die Kinder-
fahitmeldestellen, eine wesentliche Mehrbelastung an Verwal- meinen wenig benutzt. Da demgegenüber der Auf-
tungsarbeit mit sich bringt und damit die Erholungsverschickung wand für das Vorhalten der Plätze verhältnismäßig
von Kindern gefährdet?
hoch ist, lehnt es die Deutsche Bundesbahn ange-
sichts der unbefriedigenden Ausnutzung zur Zeit ab,
Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
-
die Zahl der Sonderabteile zu erhöhen.
Frau Kollegin, ich darf um Ihre Erlaubnis und die
des Herrn Präsidenten bitten, die Fragen g und 10, Es darf darauf verwiesen werden, daß alle neuen
die das gleiche Thema zum Gegenstand haben, zu- Schnellzugwagen neben der schon immer vorhande-
sammen zu beantworten. nen Waschgelegenheit im WC seit langem zusätz-
lich je zwei Waschräume erhalten haben, in denen
Vizepräsident Dr. Dehler: Einverstanden. Ich auch die Kinder gewaschen werden können.
rufe also auch die Frage der Abgeordneten Frau
Schanzenbach unter IX/10 auf: Vizepräsident Dr. Dehler: Zu einer Zusatz-
ist die Bundesregierung bereit, mit der Deutschen Bundesbahn frage Frau Abgeordnete Schanzenbach.
über die Durchführung von Kindertransporten zu verhandeln mit
dem Ziel, die alte Regelung wiederherzustellen?

Frau Schanzenbach (SPD) : Herr Minister, haben


Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
- Sie nicht den Eindruck — ich weiß nicht, ob Sie bei
Danke sehr! —Ihren Reisen die Bundesbahn sehr viel benutzen
Die Bundesregierung hat bei der Hauptverwal- daß es notwendig wäre, dieser Frage eine beson-
tung der Deutschen Bundesbahn angefragt und fest- dere Bedeutung beizumessen? Ich halte es für uner-
gestellt, daß das Verfahren bei der Anmeldung von träglich, wenn in der Reisezeit im Sommer Mütter
Kindertransporten bei der Bundesbahn kürzlich ge- mit Kindern und besonders unsere Gastarbeiterin-
ändert worden ist. Während bisher die Ausstellung nen mit Kindern reisen und Säuglinge in den zum
eines Sammelfahrscheins und die etwa erforderliche Teil sehr dreckigen, nicht den Hygieneerfordernis-
Platzreservierung in ein und demselben Formular sen entsprechend eingerichteten Zügen gestillt wer-
beantragt werden konnte, sind jetzt zwei Formulare den. Ich möchte also sehr darum bitten, daß Sie
auszufüllen. Eins davon, der Antrag auf Platzreser- Nachdruck darauf legen, daß dieser Frage größere
vierung, ist der Bundesbahn vorab zuzuleiten, wäh- Bedeutung beigemessen wird.
rend das andere erst bei Lösung des Sammelfahr-
scheins, d. h. kurz vor Antritt der Fahrt, vorgelegt Vizepräsident Dr. Dehler: Bitte, Herr Mini-
wird. Die Deutsche Bundesbahn sieht in dieser aus ster.
praktischen Gründen erforderlichen Umstellung
keine Gefährdung der Verschickung erholungsbe- Dr. Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
-

dürftiger Kinder. Sie hat sich aber auf unseren Ein- Ich werde es gern tun, verehrte Frau Kollegin. Aber
wand hin gegenüber der Arbeitsgemeinschaft der Sie wissen ja, die Bundesbahn ist ein Betrieb, in
Kinderfahrtmeldestellen in Köln bereit erklärt, noch- dem überwiegend Männer tätig sind, die oftmals
3306 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm


nicht so sehr die Notwendigkeit verspüren, diesen Vizepräsident Dr. Dehler: Ich rufe die Frage
Fragen besonders hohes Interesse zuzuwenden. I/2 — des Herrn Abgeordneten Dr. Friedensburg —
Trotzdem werde ich mich bemühen, Ihren Wünschen auf :
durch ständige Unterrichtung und Bitten Nachdruck Zu welchem Ergebnis haben die Betriebsprüfungen geführt, die
— nach einer Mitteilung des Vertreters des Bundesfinanzministe-
zu verleihen. riums in der Fragestunde des Deutschen Bundestages vom
28. September 1960 auf eine Anfrage des Abgeordneten Ritzel
— bei verschiedenen Mineralölgesellschaften vorgenommen wor-
den sind?
Vizepräsident Dr. Dehler: Ich danke Ihnen,
Herr Minister. Ist der Herr Abgeordnete Dr. Friedensburg im
Saal? — Wird die Frage übernommen? — Herr Ab-
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäfts- geordneter Memmel übernimmt sie. Bitte, Herr
bereich des Bundesministers der Finanzen. Staatssekretär.
Ich rufe die Frage I/1 — des Herrn Abgeordneten Grund, Staatssekretär des Bundesministeriums
Dr. Besold — auf: der Finanzen: Die Betriebsprüfungen bei den Mine-
Warum werden öffentlich-rechtliche berufsständische Pflicht- ralölgesellschaften, die bei der Beantwortung der
versicherungseinrichtungen für die Berufsunfähigkeits-, Alters Anfrage des Herrn Abgeordneten Ritzel am 28. Sep-
und Hinterbliebenenversorgung im Gegensatz zu den Renten-
versicherungsträgern der Sozialversicherung der Körperschaft- tember 1960 erwähnt wurden, sind auch heute noch
steuerpflicht nach §§ 4 bis 6 der Körperschaftsteuer-Durchfüh-
rungsverordnung in der Fassung vom 6. Juni 1962 (BGBl. I S. 412) nicht ganz abgeschlossen. Es liegen noch nicht alle
unterworfen, obwohl sie überwiegend der Ausübung der öffent-
lichen Gewalt dienen und im wesentlichen die gleichen Aufgaben
Prüfungsberichte vor. Das hängt zum Teil damit zu-
zu erfüllen haben wie die Sozialversicherung? sammen, daß bei Konzernen die zugehörigen Toch-
ter- und Schwestergesellschaften mitgeprüft werden
Bitte, Herr Staatssekretär. müssen. Ich darf jedoch darauf aufmerksam machen,
daß ich auch nach Abschluß dieser Betriebsprüfun-
gen, die sich übrigens nur auf die Jahre 1952 bis ein-
Grund, Staatssekretär des Bundesministeriums schließlich 1957 beziehen, nicht an der Lage sein
der Finanzen: Die Frage der steuerrechtlichen werde, konkrete Einzelheiten der Prüfungsberichte
Gleichbehandlung der auf Landesgesetzen beruhen- bei den verschiedenen Gesellschaften hier in diesem
den Pflichtversicherungs- und Versorgungseinrich- Hause bekanntzugeben. Diese Angaben unterliegen
tungen der freien Berufe mit den Sozialversiche- dem Schutz des Steuergeheimnisses nach § 22 der
rungsträgern ist erst etwa in den letzten zwei Jah- Abgabenordnung.
ren aufgekommen. Die Erörterung dieser Frage hat
zunächst dazu geführt, daß diese Einrichtungen von
der Vermögensteuer befreit worden sind. In An- Vizepräsident Dr. Dehler: Keine Zusatzfrage.
passung an diese Regelung bei der Vermögensteuer Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
ist i n Übereinstimmung mit dem Bundesarbeitsmini- Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäfts-
sterium und den obersten Finanzbehörden der Län- bereich des Bundesministers für Wirtschaft. Ich rufe
der vorgesehen, diese Einrichtungen auch von der auf die Frage II/1 — des Herrn Abgeordneten
Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer zu be- Gewandt —:
freien. Die Befreiungsvorschriften sollen bei der
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Praktiken des
nächsten Änderung des Körperschaftsteuergesetzes Werbefernsehens wegen ihrer wettbewerbsverfälschenden Ten-
und des Gewerbesteuergesetzes in die Gesetze auf- denzen auf zunehmende Kritik stoßen?
genommen werden. Dann wird die gewünschte Bitte, Herr Staatssekretär!
Gleichstellung der beiden Einrichtungen erreicht
sein. Dr. Westrick, Staatssekretär im Bundesministe-
rium für Wirtschaft: Ich bitte um die Zustimmung
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage. - des Herrn Bundestagspräsidenten, daß ich die Fra-
gen II/1 und II/2, die in einem inneren sachlichen
Zusammenhang miteinander stehen, zusammen be-
Dr. Besold (CDU/CSU) : Nachdem ich soeben ge- antworte.
hört habe, daß eine gesetzliche Regelung vorberei-
tet wird, erlaube ich mir die Zusatzfrage: Welche Vizepräsident Dr. Dehler: Einverstanden! Ich
Übergangsregelung wird die Bundesregierung für
rufe dann zusätzlich die Frage II/2 — des Herrn
die Zeit bis zum Inkrafttreten der beabsichtigten
Abgeordneten Gewandt — auf:
Änderung des Körperschaftsteuerrechts treffen?
Ist die Bundesregierung bereit, eine gesetzliche Regelung der
Wirtschaftswerbung des Fernsehens vorzubereiten?
Grund, Staatssekretär des Bundesministeriums
der Finanzen: Herr Abgeordneter, die Bundesregie- Dr. Westrick, Staatssekretär im Bundesministe-
rung wird für eine Übergangsregelung eintreten, rium für Wirtschaft: Danke vielmals! — Selbstver-
und zwar in dem Sinne, daß sie sich bei den ober- ständlich ist der Bundesregierung nicht entgangen,
sten Finanzbehörden der Länder dafür einsetzen daß an der Fernsehwerbung von zahlreichen Seiten
wird, gleichlautende Ländererlasse herauszugeben Kritik geübt wird. Schon am 14. Februar des ver-
mit dem Ziele, die Befreiung von der Körperschaft- gangenen Jahres hat der Bundeswirtschaftsminister
steuer und von der Gewerbesteuer schon für den in der damaligen Fragestunde darauf hingewiesen,
Veranlagungszeitraum 1963 — das ist also das Ka- daß die Angelegenheiten der Rundfunk- und Fern-
lenderjahr — anzuordnen. sehanstalten in die Zuständigkeit der Länder ge-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3307
Staatssekretär Dr. Westrick
hören und daß die Bundesregierung auf das Wirt- Dr. Westrick, Staatssekretär im Bundesministe-
schaftsgebaren dieser Fernsehanstalten keinen Ein- rium für Wirtschaft: Ich würde es begrüßen, Herr
fluß hat. Abgeordneter, wenn sich Damen und Herren aus
diesem Hohen Hause auch zur Beratung während
Ob mittels einer gesetzlichen Regelung der Fern- des Ganges unserer Prüfungen zur Verfügung stell-
sehwerbung eine Änderung der Wirtschaftswerbung ten, damit wir Ihre Frage dann zufriedenstellend be-
herbeigeführt werden soll, ist nicht leicht zu ent- antworten können.
scheiden. In den übrigen Bereichen der Werbung,
z. B. Anzeigen in Illustrierten, Kinowerbung, Post-
wurfsendungen, Plakatwerbung usw., ist die Hand-
Vizepräsident Dr. Dehler: Ich danke Ihnen,
Herr Staatssekretär.
habung, wie bekannt, völlig frei. Wir sind uns dar-
über im klaren, daß der öffentlich-rechtliche Charak- Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäfts-
ter der Fernsehanstalten sowie ihre derzeitige bereich des Bundesministers für Arbeit und Sozial-
monopolartige Situation als gewichtiges und beacht- ordnung. Ich rufe auf die Frage III/1 — des Herrn
liches Argument für eine besondere gesetzliche Abgeordneten Felder —:
Regelung gewertet werden können, vielleicht auch Welche Überlegungen veranlaßten den Herrn Bundesarbeits-
gewertet werden müssen. Andererseits müßten es minister, den Gesetzentwurf zur Schaffung einer Altersvorsorge
für Rechtsanwälte dem Kabinett noch nicht vorzulegen?
meines Erachtens aber schon sehr gewichtige und
eindeutige Gründe sein, die eine gesetzliche Be- Bitte, Herr Minister!
handlung der Fernsehwerbung wirklich rechtfertigen
können. Blank, Bundesminister für Arbeit und Sozialord-
nung: Ich habe den Entwurf eines Rechtsanwaltsver-
Der gesamte Fragenkreis ist außerordentlich kom- sicherungsgesetzes, der nach seinem materiellen In-
pliziert. Die Prüfung hat — das muß ich leider zu- halt dem in der vergangenen Legislaturperiode die-
geben — schon geraume Zeit in Anspruch genom- sem Hohen Hause vorgelegten Entwurf entsprach,
men. Sie ist aber immer noch nicht abgeschlossen, dem Bundeskabinett am 27. Dezember 1961 zugelei-
da sowohl von den Ländern als auch von den ver- tet. Allerdings konnte das Kabinett den Gesetzent-
schiedenen Bundesressorts mannigfache Gesichts- wurf noch nicht abschließend behandeln, weil ich
punkte rechtlicher und wirtschaftlicher Art für und selbst neue Vorschläge für eine bessere Regelung
gegen eine solche Behandlung angeführt werden. für die alten Rechtsanwälte, die Hinterbliebenen und
Nach dem bisherigen Ergebnis der Untersuchungen die Waisen nachgereicht habe. Die Beratungen der
erscheint es noch fraglich, ob eine gesetzliche Son-
beteiligten Ressorts über diese Vorschläge sind noch
derbehandlung der Fernsehwerbung vertretbar ist. nicht abgeschlossen.

Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage, Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage,
Herr Abgeordneter Gewandt! Herr Abgeordneter Felder!

- Gewandt (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wer- Felder (SPD) : Ist Ihnen bekannt, Herr Minister,
den Sie bei Ihren weiteren Untersuchungen auch daß Sie schon in der Fragestunde des Deutschen
darauf Rücksicht nehmen, daß die Kritik sich zu Bundestages vom 28. Juni 1962 die Verabschiedung
einem wesentlichen Teil dagegen richtet, daß durch des Gesetzentwurfes im Kabinett nach den Parla-
die ständige Ausweitung der Wirtschaftswerbung in mentsferien 1962 in Aussicht gestellt haben? Ist es
den Monopolanstalten, die mit einem öffentlich- richtig, daß Sie im März 1963 dem Herrn Rechts-
rechtlichen Privileg ausgestattet sind, die Existenz- anwalt Paulsen vom Deutschen Antwaltsverein er-
grundlage der mit diesen Anstalten in Konkurrenz klärten, Sie würden sogar einen verbesserten Ent-
befindlichen unabhängigen Verleger außerordent- wurf vorlegen?
lich eingeengt werden kann?
Blank, Bundesminister für Arbeit und Sozialord-
'Dr. Westrick, Staatssekretär im Bundesministe- nung: Sie haben mich ja schon einmal gefragt. Ich
rium für Wirtschaft: Herr Abgeordneter, gerade hatte Ihnen schon damals geantwortet, daß der Ent-
diese Gesichtspunkte waren schon in der Vergangen- wurf vorliege. Ich sagte jetzt, daß ich Verbesse-
heit mitbestimmend dafür, daß wir der Frage über- rungsvorschläge gemacht habe, deren Beratung noch
haupt in dieser sehr objektiven Weise näherge- nicht abgeschlossen ist. Mit dem Herrn Rechtsanwalt
treten sind. Ich bitte Sie, versichert zu sein, daß wir Paulsen habe ich mehrfach über die Angelegenheit
diese Aspekte auch in der Zukunft gebührend be- gesprochen und werde das auch in der kommenden
rücksichtigen werden. Woche wieder tun.

Vizepräsident Dr. Dehler: Eine weitere Frage,


Vizepräsident Dr. Dehler: Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Felder!
Herr Abgeordneter Gewandt!
Felder (SPD) : Sind Sie nicht der Meinung, Herr
Gewandt (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, dür- Minister, daß der großen Notlage, in der sich viele
fen wir davon ausgehen, daß Sie nach Abschluß ältere Rechtsanwälte nun seit Jahren befinden, nicht
Ihrer Untersuchungen dem Parlament und der mit dauernden Vertröstungen und uneingelösten
Offentlichkeit Ihre Ergebnisse und Schlußfolgerun- Zusicherungen, sondern nur mit tatkräftigem Han-
gen vorlegen werden? deln begegnet werden kann?
3308 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Blank, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- nicht vermeiden, da wir mit sehr viel Zahlenan-
nung: Ich bin nicht der Auffassung, daß es sich hier gaben arbeiten müssen.
um Vertröstungen handelt, sondern glaube, daß es,
Durch die Novelle zum Schwerbeschädigtengesetz
wenn man ein gutes Gesetz machen will, dabei we-
vom 3. Juli 1961 wurde der Pflichtsatz für alle
niger auf die Schnelligkeit als vielmehr auf den in-
öffentlichen und privaten Betriebe auf 6 v. H. herab-
neren Gehalt ankommt, über den sehr sorgfältig
gesetzt. Außerdem wurde der Beginn der Beschäf-
mit allen Beteiligten beraten werden muß.
tigungspflicht von 7 auf 10 für öffentliche Verwal-
(Zurufe von der SPD.) tungen und auf 16 Arbeitsplätze für öffentliche und
private Betriebe heraufgesetzt. Die von der Bundes-
Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter anstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenver-
Memmel, eine Zusatzfrage! sicherung mit Stichtag vom 1. November 1961 durch-
geführte Betriebserhebung zeigt gegenüber der Er-
Memmel (CDU/CSU) : Herr Bundesarbeitsmini- hebung von 1959 eine Abnahme der beschäftigungs-
ster, sind Sie in der Lage, jetzt einen ungefähren pflichtigen Betriebe um 50 000 oder 32,9 v. H. Im
Termin anzugeben, wann der Entwurf des Anwalts- Zuge des weiteren wirtschaftlichen Aufstiegs stieg
versicherungsgesetzes als Bundestagsdrucksache er- aber in der gleichen Zeit die Zahl der Arbeitsplätze
scheinen kann? um rund 364 900 oder 2,7 v. H. an, während die Zahl
der Pflichtplätze trotz der generellen Herabsetzung
Blank, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- des Pflichtsatzes nur um 31 060 oder 4,2 % abnahm.
nung: Herr Kollege Memmel, sobald die Bespre- Am 1. November 1961 standen im Bundesgebiet
chungen zwischen den beteiligten Ressorts abge- einschließlich Berlin 299 118 unbesetzte Pflichtplätze
schlossen sind. Ich hoffe, in aller Kürze. 7783 arbeitslosen Schwerbeschädigten gegenüber.
Auf einen arbeitslosen Schwerbeschädigten entfie-
Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter len somit — wie Sie in Ihrer Frage zutreffend er-
Wittrock, eine Zusatzfrage! wähnen — im Bundesdurchschnitt einschließlich
Berlin 38,4 unbesetzte Pflichtplätze. In den einzel-
nen Landesarbeitsamtsbezirken sind jedoch starke
Wittrock (SPD) : Herr Minister, werden Sie, zu-
Abweichungen festzustellen, die zwischen 1 : 188,9
mal dieser Gesetzentwurf den Belangen und den
Wünschen eines ganz überwiegenden Teils der An- in Baden-Württemberg und 1 : 6,2 in Berlin schwan-
waltschaft entspricht, auf eine größtmögliche Be- ken. Auch innerhalb der Landes arbeitsamtsbezirke
schleunigung der Arbeiten hinwirken? sind die Abweichungen bedeutend, z. B. in Nieder-
sachsen von 1 : 121,1 bis 1 : 1,6.
Blank, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- Das Ergebnis der Betriebserhebung der Bundes-
nung: Ja, Herr Kollege. anstalt wird zur Zeit eingehend geprüft. Es ist noch
nicht zu übersehen, ob der Überhang an unbesetz-
Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter ten Pflichtplätzen durch eine neue Novelle zum
Besold, eine Zusatzfrage! Schwerbeschädigtengesetz — darauf zielte Ihre
Frage vornehmlich ab —, eine Änderung der Zwei-
Dr. Besold (CDU/CSU) : Ich möchte die beiden ten Durchführungsverordnung zum Schwerbeschä-
Fragen noch präzisieren. Herr Bundesminister, sind digtengesetz vom 27. Dezember 1955 oder durch
Sie in der Lage zu sagen, es sei mit einer an Sicher- Herabsetzung des Pflichtsatzes im Einzelfall aufge-
heit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu erwarten, fangen werden kann. Die Novelle zum Schwerbe-
daß dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode schädigtengesetz vom 3. Juli 1961 ermächtigt die
verabschiedet wird? Bundesregierung, durch Rechtsverordnung mit Zu-
stimmung des Bundesrates allgemein oder für ein-
zelne Verwaltungen oder Wirtschaftszweige oder
Blank, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- Betriebsarten den Pflichtsatz bis auf 4 v. H. herab-
nung: Ich bin sicher, daß das geschehen wird, zumal
zusetzen. Die Novelle gibt ferner den Betrieben die
ich annehme, daß der Rechtsausschuß, sobald ich den
Möglichkeit, nach § 3 Abs. 5 des Gesetzes bei den
Entwurf vorgelegt habe, sich der Materie mit der
Landesarbeitsämtern die Herabsetzung des Pflicht-
gleichen Liebe wie in der vergangenen Legislatur-
satzes im Einzelfall bis auf 2 v. H. zu beantragen.
periode widmen wird.
Diese Vorschrift hat den Sinn, den Pflichtsatz regio-
nal dem Angebot an arbeitslosen Schwerbeschädig-
Vizepräsident Dr. Dehler: Dann die Frage III/2 ten anzupassen. Hiervon haben die Arbeitgeber
— der Abgeordneten Frau Dr. Diemer-Nicolaus —: nach den Feststellungen der Bundesanstalt bisher
Beabsichtigt die Bundesregierung eine Anpassung des Schwer- nur in geringem Umfange Gebrauch gemacht. In-
beschädigtengesetzes an die Tatsache, daß auf einen Schwer- wieweit diese Vorschrift den Überhang an unbe-
beschädigten etwa 38,4 unbesetzte Pflichtplätze kommen?
setzten Pflichtplätzen beseitigen hilft, läßt sich erst
Bitte, Herr Minister! bei der nächsten Betriebserhebung der Bundesan-
stalt mit Stichtag 1. November 1963 feststellen.
Blank, Bundesminister für Arbeit und Sozialord-
nung: Ich bitte im voraus um Vergebung, Frau Kol-
legin, daß die Antwort sehr umfangreich ausfällt. Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage,
Aber das ließ sich bei dieser Materie nun einmal Frau Dr. Diemer-Nicolaus.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3309

Frau Dr. Diemer-Nicolaus (FDP) : Herr Mini- Während die Mieten im öffentlich geförderten
ster, darf ich Ihre Antwort so auffassen: .die Zah- sozialen Wohnungsbau seitdem den steigenden Bau-
lungen, die von den Arbeitgebern geleistet werden kosten und der Entwicklung des allgemeinen Miet-
müssen, werden jetzt den tatsächlichen Verhältnis- , gefüges sowie aber auch der Entwicklung des Ein-
sen angepaßt? kommens — zum Teil jedenfalls — gefolgt sind,
blieben ,die Mieten der Bundesdarlehnswohnungen
Blank, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- für Bundesbedienstete im wesentlichen unverändert
nung: Gnädige Frau, ich habe damals eine Novelle und damit zunehmend hinter den Sozialmieten zu-
zum Schwerbeschädigtengesetz eingebracht, weil rück; sie blieben also auf dem Mietstand von 1956.
zwischen der Zahl der Pflichtplätze auf der einen
Seite und der Zahl der arbeitslosen Schwerbeschä- Es ist daher gerechtfertigt, die Mieten in der
digten auf der anderen Seite keine vernünftige Re- Wohnungsfürsorge des Bundes der allgemeinen
lation mehr bestand. Ich glaube, daß uns die Rechts- Entwicklung anzugleichen. Der Umfang der Mietan-
verordnung hier eine Möglichkeit bietet; das wollen hebung steht noch nicht fest. Die Mietanhebung muß
wir einmal prüfen. Wir werden, versuchen müssen, zum Teil noch mit den anderen Bundesministerien,
das zur Zeit noch nicht hinreichend ausgeglichene die hier beteiligt sind, abgestimmt werden. Sie wird
Verhältnis wieder etwas ausgeglichener zu gestal- sich aber in jedem Falle — dais kann ich jetzt schon
ten. zusagen — im Hinblick auf die seither eingetretene
Erhöhung der Dienstbezüge für die Angehörigen des
öffentlichen Dienstes in- einem tragbaren Rahmen
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine weitere Zu- bewegen.
satzfrage, Frau Dr. Diemer Nicolaus.
-

Frau Dr. Diemer Nicolaus (FDP) : Welche Mög-


- Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage,
lichkeit haben Arbeitgeber, die — entsprechend dem Herr Abgeordneter Gscheidle.
Gesetz — gern Arbeitsplätze mit Schwerbeschädig-
ten besetzen wollen, aber keine bekommen, um von
den Zahlungen freizukommen? Gscheidle (SPD) : Ist Ihnen bekannt, daß bei einer
Erhöhung zwischen 30 und 50 % die Erhöhungen bei
Blank, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- einem Beamten des einfachen Dienstes, die seit 1957
nung: Sie haben die Möglichkeit — wie ich soeben eingetreten sind, zu ungefähr zwei Dritteln aufgeso-
sagte —, nach § 3 Abs. 5 des Gesetzes bei den Lan- gen würden?
desarbeitsämtern die Herabsetzung des Pflichtsatzes
im Einzelfall sogar bis auf 2 v. H. zu beantragen.
Lücke, Bundesminister für Wohnungswesen,
Im übrigen besteht die Möglichkeit, die Zahlung zu
Städtebau und Raumordnung: Ich sagte Ihnen: über
erlassen, wenn die Arbeitgeber bei aller Bemühung
die Prozentsätze kann ich hier nichts sagen. Auch
keine schwerbeschädigten Arbeitnehmer bekommen.
für die Beamten wird — wie für alle Bundesbürger
Davon sollten wir ausgehen und einmal miteinan-
— gleichzeitig ein System der Miet- und Lastenbei-
der prüfen, was wir hier noch tun können. Ich halte hilfen eingeführt, das es dann den Bediensteten der
es für ungerechtfertigt, jemand die Zahlung einer
unteren Einkommensgruppen möglich macht, einen
Gebühr aufzuerlegen, wenn er es nicht in der Hand
bestimmten Prozentsatz für das Wohnen aufzubrin-
hat, die Bedingungen zu erfüllen, die das Gesetz
gen.
ihm stellt, weil es Schwerbeschädigte in diesem Um-
fange nicht mehr gibt.
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine weitere Zu-
Vizepräsident Dr. Dehler: Wir kommen zu satzfrage, Herr Abgeordneter Gscheidle.
den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundes-
ministers für Wohnungswesen, Städtebau und
Raumordnung. Ich rufe die Frage IV/1 — des Herrn Gscheidle (SPD) : Ist Ihnen bekannt, daß z. B.
Abgeordneten Gscheidle auf —: im Bereich der Deutschen Bundespost 90 % dieser
Wohnungen mit Länderdarlehen errichtet werden
Beabsichtigt die Bundesregierung, die Mindestmietsätze bei
Bundesdarlehnswohnungen für die Beschäftigten des öffentlichen und daß in dem Augenblick, in dem die Vorstellun-
Dienstes zwischen 30 und 50 % anzuheben?
gen Ihres Hauses, die mir bekannt sind, Verord-
nungskraft erlangen würden, die Bundespost diese
Lücke Bundesminister für Wohnungswesen, Länderzuschüsse nicht mehr erhalten könnte?
Städtebau und Raumordnung: Die für die Vermie-
tung von Bundesdarlehenswohnungen zur Zeit gel-
tenden Mindestmietsätze beruhen auf Weisungen Lücke, Bundesminister für Wohnungswesen,
aus dem Jahre 1958, denen die durchschnittlichen Städtebau und Raumordnung: Für diese Fragen sind
Mieten des öffentlich geförderten sozialen Woh- natürlich die Bundespost und die Bundesbahn zu-
nungsbaues des Jahres 1956 zugrunde liegen. ständig, d. h. die beteiligten Minister. Ich glaube,
Diese durchschnittlichen Mieten waren damals im daß die Länder den entsprechenden Weisungen fol-
Sinne des § 29 des Ersten Wohnungsbaugesetzes gen werden, weil es wohl nur schwer vertretbar
sogenannte feste Richtsatzmieten, die nur bei Vor- wäre, im Rahmen der allgemeinen Mietpreisfrei-
liegen bestimmter Voraussetzungen in geringem gabe, die wir doch bis zum Jahre 1966 anstreben,
Umfang überschritten werden durften. bestimmte Schongebiete zu schaffen.
3310 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Vizepräsident Dr. Dehler: Frage IV/2 — des Lücke, Bundesminister für Wohnungswesen,
Herrn Abgeordneten Gscheidle —: Städtebau und Raumordnung: Vorsicht dürfen Sie
Trifft es zu, daß evtl. Mieterhöhungen für Beschäftigte des
bei mir voraussetzen. Sie wissen, daß es die Grund-
öffentlichen Dienstes im Hinblick auf die derzeitigen Lohn- und ivoraussetzung meiner Politik ist, daß endlich einmal
Gehaltsbewegungen im öffentlichen Dienst erst am 1. Juli 1963
erfolgen sollen? den Familien mit Kindern geholfen wird. Darum
wird ab 1. Juli dieses Jahres die Mietpreisfreigabe
Bitte, Herr Minister! — auch diese Weisung — nur dann in Kraft treten
können, wenn gleichzeitig das Hohe Haus dem von
Lücke, Bundesminister für Wohnungswesen, mir vorgelegten Gesetzentwurf über Zahlung von
Städtebau und Raumordnung: Nein, das trifft nicht Miet- und Lastenbeihilfen zustimmt, durch die zum
zu. Der 1. Juli 1963 ist als Termin im Hinblick auf erstenmal in Deutschland, und zwar für alle Fami-
den § 15 des Gesetzes über 'den Abbau der Woh- lien, hier aber insbesondere wiederum für die kin-
nungszwangswirtschaft und über ein soziales Miet- derreichen Familien, sichergestellt wird, daß sie den
recht vom 23. Juni 1960 deshalb vorgesehen, weil Mindestwohnraum bezahlen können.
von diesem Zeitpunkt an die Mietpreisfreigabe bei
dem mietpreisgebundenen Wohnraum in den soge-
nannten weißen Kreisen erfolgen soll.
Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter
Schmitt-Vockenhausen zu einer Zusatzfrage.

Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage,


Herr Abgeordneter Gscheidle. Schmitt-Vockenhausen (SPD) : Kann uns dann
der Herr Bundesinnenminister Auskunft geben, was
sich sein Ressort dabei gedacht hat, als es im No-
Gscheidle (SPD) : Nach Ihren Ausführungen ist vember die Mieterhöhungen auf den Juli datieren
es also eine falsche Information, daß bei den Res- wollte?
sortbesprechungen am 29. November 1962 der Be-
auftragte des Bundesministers des Innern im Hin-
blick auf besoldungs- und tarifpolitische Gründe
Lücke, Bundesminister für Wohnungswesen,
Städtebau und Raumordnung: Ich habe die Frage
eine Erhöhung frühestens zum 1. Juli 1963 als durch-
nicht verstanden.
führbar bezeichnet hat?
Schmitt-Vockenhausen (SPD) : Kann der Herr
Lücke, Bundesminister für Wohnungswesen,
Bundesinnenminister darüber Auskunft geben, was
Städtebau und Raumordnung: Ich kenne eine solche
sich sein Ressort dabei gedacht hat, als seine Herren
Äußerung nicht; dafür ist auch mein Kollege zu
im November in der von dem Kollegen Gscheidle
ständig.
erwähnten Besprechungen vorgeschlagen haben, die
Mieterhöhung im Hinblick auf die Gehalts- und
Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter Tarifsituation erst zum 1. Juli vorzunehmen?
Büttner zu einer Zusatzfrage.
Lücke, Bundesminister für Wohnungswesen,
Büttner (SPD) : Herr Minister, halten Sie es für Städtebau und Raumordnung: Die Frage ist an mei-
sinnvoll, die Mieten für Angehörige des öffentlichen
nen Kollegen gerichtet — der federführende Mini-
Dienstes zu erhöhen, besonders für die Beamten des
ster steht hier —; vielleicht kann er die Antwort
einfachen Dienstes, um sie dann auf die Mietbei-
geben.
hilfen zu verweisen; ist das ein besonderer Beitrag
zur Verwaltungsvereinfachung?
Vizepräsident Dr. Dehler: Bitte!
Lücke, Bundesminister für Wohnungswesen,- Höcherl, Bundesminister des Innern: Herr Kol-
Städtebau und Raumordnung: Das Mietgefüge hat
lege, es ist im Rahmen der Fragestunde im allgemei-
sich auch bei den Wohnungen für Bundesbedienstete
nen üblich, daß die Fragen eingereicht und mir dann
im Laufe der Jahre verzerrt; es wird in dieser Wei-
zugeleitet werden. Ich bin gerne bereit, die Frage
sung nur neu geregelt, damit alle in gleicher Weise
zu beantworten. Ich werde den Fall genau unter-
belastet werden. Es dient einer Vereinfachung, kei-
ner Komplizierung des Verfahrens. Nur in Spitzen- suchen und werde Ihnen mitteilen, was sich der
Bundesinnenminister gedacht hat.
fällen werden soziale Härten aufgefangen werden.
(Heiterkeit.)
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine weitere Frage
des Herrn Abgeordneten Büttner. Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage
des Abgeordneten Baier (Mosbach).
Büttner (SPD) : Herr Bundesminister, ist Ihnen
die Fragestunde in Erinnerung, in der Ihr Kollege Baier (Mosbach) (CDU/CSU) : Herr Minister, darf
Postminister die Auskunft erteilt hat, daß besonders ich Sie fragen, ob Sie es andererseits für sinnvoll
das Einkommen der kinderreichen Beamten im ein- halten würden, daß für die Mieter von Bundesbedien-
fachen Dienst unter dem Fürsorgerichtsatz liegt, und stetenwohnungen im Rahmen des gesamten Miet-
müßte dann nicht mit einer ganz besonderen Vor preisgefüges ein Sonderstatus geschaffen wird? Ich
sieht an eine Verabschiedung einer neuen Verord- darf doch voraussetzen, daß nach dem Gesetz über
nung herangegangen werden? Wohnbeihilfen für Bundesbedienstete die gleichen
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3311
Baier (Mosbach)
1 Rechte wie für alle übrigen Staatsbürger gelten wer- Höcherl, Bundesminister des Innern: Ich bitte,
den. mir zu gestatten, daß ich Ihre erste und zweite Frage
zusammenfasse und gemeinsam beantworte, weil sie
Lücke, Bundesminister für Wohnungswesen, sachlich zusammenhängen.
Städtebau und Raumordnung: Ich halte das nicht für
berechtigt. Ich glaube auch nicht, daß es sinnvoll Vizepräsident Dr Dehler: Ich rufe also auf
wäre, wenn ausgerechnet die Bundesbediensteten Frage VI/3 — des Herrn Abgeordneten Dr. Wuerme-
etwas forderten, was wir dem kleinen Rentner und ling —:
Arbeiter versagen. Wurde in .den schwebenden Tarifverhandlungen erörtert, daß
die monatlichen Bezüge z. B. der Lohnempfänger der Lohn-
gruppe IV (Ortsklasse I) seit 1956 erhöht wurden
Vizepräsident Dr. Dehler: Ich danke Ihnen, bei Kinderlosen um 53 %,
bei 1 Kind um 48 %,
Herr Minister. bei 3 Kindern um 41 %,
bei 5 Kindern um 35 %,
Ich rufe auf die Frage V aus dem Geschäftsbereich weil die Kinderzuschläge unverändert blieben?
des Bundesministers für Familien- und Jugendfragen
— des Herrn Abgeordneten Peiter —: Höcherl, Bundesminister des Innern: Ich darf
Stehen für Jugendgruppen, die beim Ausbau deutscher Krieger- darauf folgendes erwidern. Wir haben am 27. März
friedhöfe freiwillige Arbeit leisten, Geldmittel zur Verfügung?
dieses Jahres die Tarifverhandlungen mit den be-
Ist der Abgeordnete Peiter im Raum? — Wird die teiligten Gewerkschaften, mit den Ländern und Ge-
Frage übernommen? — Dann wird die Frage schrift- meinden gemeinsam begonnen. Die Tarifverhandlun-
lich beantwortet. — Ich danke Ihnen, Herr Minister. gen werden morgen fortgesetzt. Ich bin in diesem
Stadium der Verhandlungen leider nicht in der Lage,
Wir kommen nun zu den Fragen aus dem Ge-
schäftsbereich des Bundesministers des Innern. Ich die beiden Fragen zu beantworten, bin aber gerne
bereit, später auf diese Fragen zurückzukommen und
rufe auf die Frage VI/1 — des Herrn Abgeordneten
sie ausführlich zu beantworten.
Felder —:
Ist der Herr Bundesinnenminister bereit, der Forderung des
Berliner Senats, die Stiftung „Preußischer Kulturbesitz" mit Hilfe
des Bundes und der in Betracht kommenden Länder großzügiger Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter
zu fördern, weil gesamtdeutsche Interessen dies erfordern, durch
die Entfaltung neuer Initiativen zu entsprechen?
Dr. Wuermeling zu einer Zusatzfrage!

Bitte, Herr Minister! Dr. Wuermeling (CDU/CSU) : Herr Minister, ist


es denn nicht möglich, auf die erste Frage wenig-
Höcherl, Bundesminister des Innern: Herr Kol- stens mit Ja oder Nein zu antworten, wenn ich die
lege Felder, die Frage ist etwas unverständlich, und Zusicherung gebe, daß ich keine Zusatzfragen stel-
zwar deswegen, weil der Bundesregierung keine len werde? Denn es interessiert doch sehr, nachdem
Forderung des Berliner Senats, der ja genauso wie die Bundesregierung seinerzeit offiziell erklärt hat,
der Bund und die beteiligten Länder in dieser Stif- sie werde sich darum bemühen, daß sich auch der
tung mit zwei Mitgliedern vertreten ist, auf Anhe- Deutsche Gewerkschaftsbund bereit finde, die Not-
bung der Leistungen bekannt ist. wendigkeit der Erhöhung für Kinderzuschläge anzu-
Im übrigen aber darf folgendes festgestellt wer- erkennen, ob das nun bei den neuen Verhandlun-
den. Seit die Stiftung sich im Jahre 1961 konstitu- gen durchzusetzen versucht wird.
ierte, hat sich das Haushaltsvolumen der Stiftung
wie folgt entwickelt: Im Jahre 1961 waren es 9,7 Mil- Höcherl, Bundesminister des Innern: Herr Kol-
lionen DM, im Jahre 1962 12 Millionen DM, im lege, ich habe soeben ein höfliches und vorläufiges
Jahre 1963 17,3 Millionen DM, und im Jahre 1964 Nein gesagt. Ich kann nicht in der nächsten Minute
werden es voraussichtlich 20 Millionen DM sein. Das ein Ja darauf sagen.
ist eine sehr beachtliche Entwicklung. Außerdem
waren für die Sammlungen der Stiftung vorgesehen: Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage
im Jahre 1961 1,8 Millionen DM, im Jahre 1962 2,8 des Herrn Abgeordneten Gscheidle.
Millionen DM, im Jahre 1963 4,0 Millionen DM, und
im Jahre 1964 werden es wahrscheinlich 5,5 Millio-
nen DM sein. In der gesamten Bauplanung, die sich Gscheidle (SPD) : Darf ich unbeschadet dieser
auf ungefähr zehn Jahre erstreckt, sind insgesamt Erklärung, Herr Minister, folgendes fragen. Sie be-
95 Millionen DM in Aussicht genommen. Ich glaube, stätigen, daß nach den tarifvertraglichen Bestim-
daß die — vom Berliner Senat gar nicht geforderte — mungen, die im öffentlichen Dienst gelten, Kinder-
Verstärkung der Initiative überhaupt nicht besser zuschlag neben dem Lohn gezahlt wird und daß er
dargetan werden kann als durch diese Zahlen. sich für Arbeiter und Angestellte nach den Bestim-
mungen richtet, die jeweils für Beamte getroffen
Vizepräsident Dr. Dehler: Ich rufe auf die werden?
Frage VI/2 — des Herrn Abgeordneten Dr. Wuerme-
ling —: Höcherl, Bundesminister des Innern: Das ist rich-
Hat die Bundesregierung ihre Bemühungen um eine familien- tig.
gerechte Regelung für die Arbeiter des öffentlichen Dienstes,
wie durch Kabinettserklärung vom 4. Oktober 1962 angekündigt,
bei den schwebenden Tarifverhandlungen erneut ausgenommen?
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine weitere Zu-
Bitte, Herr Minister! satzfrage.
3312 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Gscheidle (SPD) : Würden Sie auch bestätigen, Vizepräsident Dr. Dehler: Dann kommt die
Herr Minister, daß nach den tarifvertraglichen Be- Frage VI/4 — des Abgeordneten Dr. Wuerme-
stimmungen, unbeschadet der sonstigen Kündi- ling —:
gungsfristen des Tarifsrechts im öffentlichen Dienst, Haben die Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes und
der Christlichen Gewerkschaft eine (über die Beamtenbesoldung
bei Erhöhung der Kinderzuschläge für die Beamten erfolgende) Erhöhung der seit 1956 nicht mehr erhöhten Kinder-
automatisch Verhandlungen über die gleiche Erhö- zuschläge als vordringlich auch für die Arbeiter und Angestellten
anerkannt und sich bereit gezeigt, das bei ihren linearen Lohn-
hung für Arbeiter und Angestellte aufgenommen forderungen zu berücksichtigen?
werden können? Bitte, Herr Minister. .

Höcherl, Bundesminister des Innern: Die Frage Höcherl, Bundesminister des Innern: Ihre Frage 3
wird geprüft. darf ich jetzt beantworten.

Vizepräsident Dr. Dehler: Ich rufe dann die Vizepräsident Dr. Dehler: Die Fragen 2 und 3
nächste Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Wuer- haben sie zusammengefaßt, meinte ich.
meling auf.
Höcherl, Bundesminister des Innern: Nein, die
(Dr. Wuermeling: Darf ich vorher noch eine Fragen 1 und 2. Es waren insgesamt drei Fragen
Zusatzfrage stellen?) des Herrn Kollegen Dr. Wuermeling.
— Hatten Sie nicht das Versprechen gegeben, keine Ich darf Sie zu Ihrer letzten Frage, Herr Kollege
weiteren Zusatzfragen mehr zu stellen, Herr Kol- Wuermeling, darauf hinweisen, daß die Angestell-
lege? ten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes Kinder-
(Zuruf des Abg. Dr. Wuermeling) zuschlag nach Maßgabe der jeweils für die Beamten
— Das galt nur bedingt? Sie haben das Recht auf geltenden Bestimmungen erhalten. Bei dieser Rechts-
eine Zusatzfrage; Herr Abgeordneter Dr. Wuerme- lage sind Tarifverhandlungen über den Kinderzu-
ling, bitte. schlag für die Arbeitnehmer nicht erforderlich. So-
wohl der Deutsche Gewerkschaftsbund als auch der
Christliche Gewerkschaftsbund Deutschlands haben
Dr. Wuermeling (CDU/CSU) : Ist es richtig, daß,
in ihren Vorschlägen zur Verbesserung der Beam-
wenn die Kinderzuschläge über das Gesetz für die
tenbesoldung eine Erhöhung der Kinderzuschläge
Beamten erhöht werden, das letztlich auch bei den
gefordert. Diese Erhöhung kommt infolge der be-
Arbeitern, wo es sich ja automatisch auswirkt, nur
reits erwähnten Koppelung auch den Angestellten
zu Lasten der für Löhne verfügbaren Mittel gehen
und Arbeitern zugute. Das Ausmaß der anläßlich
kann, daß also die Lohnforderungen, wenn man Er-
der jetzigen Verhandlungen erhobenen Forderun-
höhungen der Kinderzuschläge will, entsprechend
gen läßt bei keiner der Gewerkschaften erkennen,
reduziert werden müssen?
ob diese bei ihren linearen Forderungen die Vor-
dringlichkeit einer Erhöhung der Kinderzuschläge
Höcherl, Bundesminister des Innern: Ich halte berücksichtigt haben.
es für eine Frage des geometrischen Ortes, wo eine
solche Angleichung stattfinden soll, ob im Tarifrecht Dr. Wuermeling (CDU/CSU) : Ist nicht bei der
oder in einem anderen Bereich. Christlichen Gewerkschaft der Wunsch sichtbar ge-
worden, die Erhöhung des Kinderzuschlages vor-
rangig zu behandeln?
Vizepräsident Dr. Dehler: Keine weiteren Zu-
satzfragen? — Eine Zusatzfrage der Frau Kollegin Höcherl, Bundesminister des Innern: Jawohl.
Pitz-Savelsberg.
Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter
Frau Pitz Savelsberg (CDU/CSU) : Herr Mini-
-
Gscheidle, eine Zusatzfrage.
ster, ist es mit der Fürsorgepflicht des Dienstherrn
im öffentlichen Dienst vereinbar, daß durch diese Gscheidle (SPD) : Herr Innenminister, welche An-
Lohnpolitik ein Gefälle zum Nachteil der Familien strengungen hat die Bundesregierung in der Ver-
mit Kindern entsteht, und was gedenken Sie — ganz gangenheit unternommen, auch im öffentlichen
generell — zu tun, um das abzustellen? Dienst die Kinderzuschläge vom dritten Kind an
ähnlich wie nach dem Kindergeldgesetz steuerfrei
zu gewähren?
Höcherl, Bundesminister des Innern: Sehr ver-
ehrte Frau Kollegin, ich glaube, daß es nicht nur
Höcherl, Bundesminister des Innern: Darüber
eine Frage der Fürsorgepflicht, sondern ganz allge-
sind Überlegungen noch im Gange.
mein eine sehr wichtige Frage der Beschäftigungs-
politik ist, und daß des weiteren die Frage ist, ob
nicht der ganze Bereich der Familienzuschläge Vizepräsident Dr. Dehler: Ich rufe auf die
außerhalb des Tarifrechts, der Kindergeldgesetzge- Frage VI/5 — des Herrn Abgeordneten Seuffert —:
bung usw. in der Familiengesetzgebung geregelt Ist es richtig, daß für Einbürgerungen von früheren Staats-
angehörigen der Ostblockstaaten neuerdings eine Entlassungs-
werden müßte. Das ist die entscheidende Frage, die, urkunde des Geburtsstaates verlangt wird, obwohl dieses Doku-
glaube ich, im Interesse der Familien sehr gründlich ment erfahrungsgemäß fast nicht zu erhalten ist?

und sehr gewissenhaft geprüft werden muß. Bitte, Herr Minister!


Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3313

Höcherl, Bundesminister des Innern: Die Durch- ursachte die Beheizung in diesem Frühjahr außer-
führung der Staatsangehörigkeitsgesetze obliegt gewöhnliche Kosten. Die Dauer der Frostwitterung
grundsätzlich den Behörden der Länder. Der Bundes- verhinderte auch die rechtzeitige Auspflanzung des
minister des Innern wird nur beteiligt, wenn die Frühjahrsgemüses.
Staatsangehörigkeitsbehörde beabsichtigt, dem Ein-
bürgerungsantrag stattzugeben. Nach meiner Kennt- Das Angebot an Frischgemüse war also wesent-
lich kleiner als in anderen Jahren und mit über-
nis der Praxis der Länder wird die vorherige Entlas-
durchschnittlichen Kosten belastet.
sung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit bei Ein-
bürgerungsbewerbern aus Ostblockstaaten nur bei Die Einfuhr war und 'ist praktisch liberalisiert.
jugoslawischen Staatsangehörig en verlangt. Aber Trotzdem reicht sie, von einigen Erzeugnissen abge-
auch hier wird in jedem Einzelfall geprüft, ob be- sehen, leider bei weitem nicht aus, weil Ernte und
sondere Härten eine Ausnahme gebieten. Witterung in den Exportländern praktisch denen der
Bundesrepublik gleichen und überall als Folge des
Mißverhältnisses zwischen Angebot und Nachfrage
Seuffert (SPD) : Wollen Sie zur Kenntnis nehmen, die Preise fühlbar angestiegen sind.
daß in mir bekannten Fällen diese Papiere auch bei
Polen verlangt worden sind? Die Bundesrepublik kann bis zum 31. Mai 1963
bestenfalls noch mit einer Einfuhr von 92 000 t
Höcherl, Bundesminister des Innern: Das ist rich- Frischgemüse rechnen. Diese Liefererwartung liegt
tig, Herr Kollege. Aber im Jahre 1962 hat eine Be- um 20 % unter der Importmenge der gleichen Zeit
sprechung mit den Innenministern der Länder statt- des Vorjahres.
gefunden, so daß von dieser Praxis in der Zukunft In richtiger Einschätzung der kommenden Ent-
Abstand genommen wird. wicklung öffnete die Bundesregierung schon vor
Monaten die Grenzen für praktisch 'unbegrenzte Ein-
Vizepräsident Dr. Dehler: Ich danke Ihnen, fuhren von Gemüsekonserven. Im Inland wie in den
Herr Minister. Exportländern ist im Jahre 1962 eine bisher noch
nicht erreichte Menge von Gemüse konserviert wor-
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäfts- den, und zwar wurden in der Bundesrepublik
bereich des Bundesministers für Ernährung, Land- Deutschland 430 000 t statt 350 000 t am Jahre 1961
wirtschaft und Forsten. Ich rufe auf die Frage VII/1 erzeugt. Die Einfuhr dürfte von 100 000 t auf
— des Abgeordneten Dr. Rinderspacher —: 160 000 t ansteigen. Das Angebot war und ist infol-
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die derzeitig gedessen so reichlich, .daß die Preise nur in wenigen
außerordentlich hohen Gemüse- und Obstpreise auf ein erträg-
liches Maß zurückzuführen? Spezialfällen den Stand des Vorjahres geringfügig
überschritten haben.
Bitte, Herr Minister!
Obwohl die Ansichten über die Wirkung von
Zollermäßigungen auf die Verbraucherpreise bei
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- unzulänglichem Angebot geteilt sind, hat die Bun-
wirtschaft und Forsten: Herr Präsident, gestatten Sie
desregierung einige Zollaussetzungen vorgeschla-
mir bitte, die Frage VII/1 zusammen mit den Fragen
gen, um damit zur Beruhigung des Marktes beizu-
VII/5 und VII/6 — des Herrn Abgeordneten Glüsing
tragen.
— zu beantworten, da sie in einem engen Sachzu-
sammenhang stehen. Die Preise für Frischgemüse werden aber allge-
mein enst nachgeben, wenn mit der Besserung der
Vizepräsident Dr. Dehler: Einverstanden. —
Wachstumsbedingungen in ganz Europa das Ange-
Auch die 'beiden Kollegen Dr. Rinderspacher und bot wieder fühlbar zunimmt. Für Spinat ist diese
Glüsing sind einverstanden. Situation bereits eingetreten. Andere Erzeugnisse
werden in Kürze folgen. Bis dahin kann die rech-
Ich rufe dann ebenfalls auf die Fragen VII/5 und nende Hausfrau auf die preisgünstigen Gemüsekon-
VII/6 — des Abgeordneten Glüsing (Dithmar- serven und in Verbindung damit auf das ebenso
schen) —: preisgünstige, reichhaltige und qualitativ gute Kar-
Was hat die Bundesregierung getan, um den Markt zum Aus- toffelangebot aus der alten Ernte zurückgreifen.
gleich für das fehlende Frischgemüse ausreichend und preis-
günstig mit Gemüsekonserven zu versorgen? Der Obstmarkt wird saisonbedingt zur Zeit noch
Welches Angebot erwartet die Bundesregierung zur besseren vom Apfel beherrscht. Im Gegensatz zum Frisch-
Versorgung des Gemüsemarktes aus den Exportländern?
gemüse übersteigt das in- und ausländische Apfel-
angebot bei weitem die Nachfrage. Die Preise dek-
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- ken vielfach nicht mehr die Lager- und Transport-
wirtschaft und Forsten: Die Ernte an Dauergemüse kosten. Der Markt vermag die angebotenen Mengen
war in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre gar nicht aufzunehmen. Auch wenn die Bundesregie-
1962 um 11,8 %, ohne Wintermöhren sogar um rung über preisdrückende Maßnahmen verfügte —
21,25 % kleiner als im Vorjahr. Der lange Frost was übrigens nicht der Fall ist —, würde sie deren
mindertWvoäwierhblcund Anwendung angesichts der derzeitigen Marktlage
verteuerte zudem nicht unwesentlich die Lager- und auf dem Obstmarkt nicht für vertretbar halten. Auch
Transportkosten. Glashausware vermag selbst in mit Apfelsinen und Bananen ist der Markt ausrei-
Jahren mit mildem Winter das Dauergemüse nur zu chend zu Preisen versorgt, die für den Verbraucher
ergänzen, nicht aber zu ersetzen. Außerdem ver- günstig Sind.
3314 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter sich Ihre Bereitschaft, künftig für die Fernsehwer-
Dr. Rinderspacher zu einer Zusatzfrage. bung für deutsche Lebensmittel etwas zu tun, auch
auf die Milcherzeugnisse erstreckt, für die bisher
Dr. Rinderspacher (SPD) : Herr Minister, Sie schon, aber nur mit Mitteln der Wirtschaft, Fernseh-
sprachen von 20%igen Zollaussetzungen für einige werbung betrieben wurde?
Gemüsesorten. Sind Sie nicht der Meinung, daß im
Hinblick auf die weit unter die Hälfte gesunkenen Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
Einfuhren eine totale Zollaussetzung für alle Ge- wirtschaft und Forsten: Herr Kollege, die Frage des
müsearten der Hausfrau wirklich eine fühlbare Ent- Herrn Abgeordneten Glüsing erstreckte sich auf die
lastung bringen würde? Fernsehwerbung im Ausland, Ihre Frage auf die
Werbung im Inland. Hier müssen wir insonderheit
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- dem Berufsstand und den berufsständischen Organi-
wirtschaft und Forsten: Eine solche Zollaussetzung sationen den Vorrang überlassen; denn die Bundes-
ist in die Wege geleitet. Sie wird in diesen Tagen regierung ist nicht in der Lage, auf dem innerdeut-
wirksam. schen Markt für spezifische Dinge Geld auszugeben,
es sei denn durch eine gewisse Unterstützung und
Dr. Rinderspacher (SPD) : Ich danke. Förderung der jeweiligen Organisationen.

Vizepräsident Dr. Dehler: Wir kommen zur Vizepräsident Dr. Dehler: Frage VII/3 — des
Frage VII/2 — des Herrn Abgeordneten Glüsing Herrn Abgeordneten Ertl —:
(Dithmarschen) —. Trifft es zu, daß durch die französische Regierung die Einfuhr
holländischer Tiere trotz einer wesentlich stärkeren Verseuchung
Ist die Bundesregierung bereit, wie es andere europäische Län- Hollands mit Maul- und Klauenseuche nicht verboten wurde, da-
der schon seit längerem in der Bundesrepublik tun, in diesen gegen die Einfuhr aus der Bundesrepublik sofort eingestellt
Ländern auch über die dortigen Fernseheinrichtungen für den werden mußte, obwohl das Ausmaß der Verseuchung wesentlich
Absatz deutscher Lebensmittel zu werben und dementsprechende geringer war?
Mittel im Bundeshaushalt einzuplanen?
Bitte, Herr Minister!
Bitte, Herr Minister!

Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
wirtschaft und Forsten: Es trifft nicht zu, daß seitens
wirtschaft und Forsten: Eine Absatzwerbung für
der französischen Behörden die viehseuchenpolizei-
deutsche Nahrungsmittel und Getränke über das
liche Maßregelung der Einfuhr von Wiederkäuern
Werbefernsehen in Holland, Belgien, Luxemburg,
und Schweinen aus der Bundesrepublik Deutschland
I Frankreich, Italien und England wird für zweckmäßig
bzw. den Niederlanden im Hinblick auf die Ver-
und erfolgversprechend gehalten. Ich werde prüfen
breitung der Maul- und Klauenseuche in beiden
lassen, ob eine solche Werbung durch Zuschüsse des
Ländern unterschiedlich gehandhabt worden ist.
Bundes im Rechnungsjahr 1964 unterstützt Werden
kann. Die im Rechnungsjahr 1963 bei Kapitel 1002 Vielmehr hat das französische Landwirtschafts-
Titel '652 (Messen, Ausstellungen, Ausfuhrwerbung) ministerium in einer am 3. Februar 1962 veröffent-
bereitstehenden Mittel sind fest verplant und kön- lichen Bekanntmachung angeordnet, daß in Anbe-
nen für eine Unterstützung der Fernsehwerbung tracht der Ausbreitung der Maul- und Klauenseuche
nicht in Anspruch genommen werden. in der Bundesrepublik und in den Niederlanden
viehseuchenpolizeiliche Ausnahmegenehmigungen
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage zur Einfuhr von Wiederkäuern und Schweinen aus
des Herrn Abgeordneten Glüsing. beiden Ländern ab sofort nicht mehr erteilt werden.

Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter


Glüsing (Dithmarschen) (CDU/CSU) : Herr Mini- Ertl zu einer Zusatzfrage!'
ster, darf ich Ihren Worten entnehmen, daß auch
Ihr Haus von der Notwendigkeit einer verstärkten
Werbung für den Absatz deutscher Lebensmittel im Ertl (FDP) : Herr Minister, wie war es dann mög-
Ausland überzeugt ist und für eine verstärkte Wer- lich, daß auf der französischen Ausstellung in Paris
bung eintreten wird? holländische Tiere ausgestellt werden konnten und
deutsche nicht?
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
wirtschaft und Forsten: Herr Kollege, das kann ich Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
ohne weiteres bejahen. Die Notwendigkeit ist gege- wirtschaft und Forsten: Das Vorkommen von Maul-
ben. Die Frage der Zweckmäßigkeit der Werbung und Klauenseuche in den Niederlanden beschränkte
muß geprüft werden, weil es sich um sehr große Aus- sich zur Zeit der französischen Landwirtschaftsaus-
gaben handelt. stellung auf drei von insgesamt elf Provinzen. So-
mit konnten die niederländischen Ausstellungstiere
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage aus , den seuchenfreien Provinzen auch nach Frank-
des Herrn Abgeordneten Bauer (Wasserburg). reich hereingebracht werden.
Im Gegensatz dazu gab es zur Zeit der Landwirt-
Bauer (Wasserburg) (CDU/CSU) : Herr Minister, schaftsausstellung in Paris kein deutsches Bundes-
darf ich Ihren ersten Ausführungen entnehmen, daß land, das sechs Wochen von der Maul- und Klauen-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3315
Bundesminister Schwarz
seuche frei war. Daraus erklärt sich die andere Ist der Bundesregierung bekannt, daß im Ausland in der
Hähnchenmast u. a. Stoffe mit oestrogener oder thyreostatischer
Behandlung. Wirkung sowie Arsen, Molybdän und sog. Tranquilizer ver-
wendet und Hähnchen, die auf diese Art gemästet sind, in die
Bundesrepublik eingeführt werden?
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine weitere Zu- Sie wird vom Herrn Bundesminister für Ernährung,
satzfrage des Herrn Abgeordneten Ertl! Landwirtschaft und Forsten beantwortet. Bitte, Herr
Minister.
Ertl (FDP) : Ich darf also Ihren Ausführungen ent-
nehmen, daß es keine Spannungen zwischen der Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
Veterinärverwaltung der Bundesrepublik und der- wirtschaft und Forsten: Der Bundesregierung ist
jenigen Frankreichs gibt? bekannt, daß im Ausland die Verwendung von Zu-
satzstoffen in der Hähnchenmast zum Teil abwei-
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- chend von den deutschen Vorschriften geregelt ist.
wirtschaft und Forsten: Ihre Auffassung ist zutref- Die Verwendung von Futterzusatzstoffen mit
fend, Herr Kollege. oestrogener oder thyreostatischer Wirkung sowie
von Arsen, Molybdän oder sogenannten Tranqui-
Vizepräsident Dr. Dehler: Die Frage VII/4 — li zer ist grundsätzlich auch im Ausland verböten.
des Herrn Abgeordneten Rauhaus — wird in der So hat z. B. die Botschaft der Vereinigten Staaten
morgigen Fragestunde vom Bundesminister der Ver- von Amerika erneut ausdrücklich bestätigt, daß
teidigung beantwortet werden. Die Fragen 5 und 6 diese Verbote in den USA auch für die Fütterung
sind schon beantwortet. von Masthähnchen bestehen.
Wir kommen damit zur Frage VII/7 — des Herrn Bei diesem Sachverhalt besteht keine rechtliche
Abgeordneten Fritsch —: Handhabe, die Einfuhr von Masthähnchen aus dem
Ausland zu unterbinden.
Wann ist mit dem Erlaß einer Verordnung über die Bekämp-
fung der Bienenseuchen zu rechnen?
Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- Dr. Reinhard, eine Zusatzfrage!
wirtschaft und Forsten: Nach eingehenden Beratun-
gen mit Sachverständigen, Vertretern des deutschen Dr. Reinhard (CDU/CSU) : Herr Minister, ist ge-
Imkeübundes und den zuständigen Behörden der währleistet, daß dieses Verbot tatsächlich beachtet
Länder wurden in meinem Hause Referenten- wird, d. h. daß kein mit gesundheitsschädigenden
entwürfe für Verordnungen 1. über die Einführung Stoffen gefüttertes Geflügel eingeführt werden
der Anzeigepflicht für die bösartige Faulbrut und kann? Was tut die Bundesregierung, um solche
die Milbenseuche der Bienen für das gesamte Bun- Einfuhren unmöglich zu machen?
desgebiet und 2. zum Schutze gegen die bösartige
Faulbrut und die Milbenseuche der Bienen im Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
wesentlichen fertiggestellt. wirtschaft und Forsten: Herr Kollege, es ist die
Die beiden Entwürfe werden in Kürze dem Herrn Aufgabe des Bundesministeriums für Gesundheits-
Bundesminister der Justiz zur Überprüfung der wesen, d i e Überwachung durchzuführen. Ich werde
Rechtsförmlichkeit und anschließend dem Bundesrat meinerseits alles tun, um diesem Ihrem Anliegen
zur Zustimmung zugeleitet werden. gemeinsam mit der Frau Kollegin Dr. Schwarzhaupt
Rechnung zu tragen.
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage
Vizepräsident Dr. Dehler: Ist auch die Frage
des Herrn Abgeordneten Fritsch!
XII/18 damit beantwortet? — Diese Frage — des
Herrn Abgeordneten Dr. Reinhard — lautet:
Fritsch (SPD) : Herr Minister, ist Ihnen bekannt, Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die in Frage
daß z. B. das Land Bayern in Ermangelung einer XII/17 näher bezeichneten Einfuhren, die eindeutig in Gegen-
satz zu § 21 des Lebensmittelgesetzes stehen, zu unterbinden?
bundeseinheitlichen Regelung 'in der Bekämpfung
der Bienenseuchen eigene rechtliche Vorstellungen
auf diesem Gebiet entwickeln will bzw. schon ent- Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
wickelt hat, und befürchten Sie irgendwelche Aus- wirtschaft und Forsten: Im Einvernehmen mit dem
wirkungen dieser Regelungen des Landes Bayern Bundesministerium für Gesundheit bitte ich, meiner
auf eine bundeselinheitliche Regelung? Beantwortung der vorigen Frage zu entnehmen, daß
ein Anwendungsfall des § 21 des Lebensmittelgeset-
zes bei dieser Einfuhr nicht vorliegt.
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
wirtschaft und Forsten: Herr Kollege, die Regelung
ist bekannt. Wir denken aber durch die neu ein- Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage?
geleiteten Maßnahmen hier einheitliches Recht
schaffen zu können. Dr. Reinhard (CDU/CSU) : Herr Minister, darf
ich Ihrer Antwort entnehmen, daß dann bei der in-
Vizepräsident Dr. Dehler: Ich rufe dann noch ländischen Geflügelmast die gleichen Futterzusätze
auf 'die Frage XII/17 — des Herrn Abgeordneten erlaubt sind, die in den Vereinigten Staaten ge-
Dr. Reinhard —: bräuchlich, wenn auch verboten sind?
3316 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- Dr. Reinhard (CDU/CSU) : Herr Minister, darf
wirtschaft und Forsten: Herr Kollege, wir haben ich die Frage stellen, ob, falls festgestellt wird, daß
hier ein sehr streng formuliertes Verbot. Wir haben Geflügelfleisch, das mit solchen Futtermitteln her-
die Auskunft erhalten, daß ein ähnliches Verbot gestellt worden ist, eingeführt wird, von der Bun-
auch in den Vereinigten Staaten vorliegt. Wir haben desregierung Maßnahmen in der von mir ange-
deshalb keine Veranlassung, an dem zu zweifeln, sprochenen Richtung erwogen werden?
was uns von seiten der Vereinigten Staaten mitge-
teilt wird. Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
wirtschaft und Forsten: Jawohl, Herr Kollege.
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage
des Herrn Abgeordneten Bading. Vizepräsident Dr. Dehler: Ich danke Ihnen,
Herr Minister. Ich schließe die heutige Fragestunde.
Bading (SPD) : Herr Minister, Sie sagten vorhin,
daß keine rechtliche Grundlage für eine Verhinde- Der Punkt 2 der Tagesordnung, Nachwahlen zur
rung der Einfuhr von Geflügel bestehe, das mit den Beratenden Versammlung des Europarates, wird
betreffenden Stoffen gefüttert worden ist. Wie zurückgestellt.
kommt es eigentlich, daß Frankreich die Möglichkeit
sieht, eine solche Einfuhr zu unterbinden? Ich rufe auf den Punkt 3 der Tagesordnung:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- betr. Enquete über die Situation der Frau in
wirtschaft und Forsten: In Frankreich bestehen an- Beruf, Familie und Gesellschaft (Drucksache
dere gesetzliche Grundlagen, Herr Kollege Bading, IV/837).
die es Frankreich ermöglichen, andere Konsequen- Wird das Wort zur Begründung gewünscht? —
zen aus den Vorgängen zu ziehen. Es ist auch denk- Frau Abgeordnete Strobel hat das Wort.
bar, daß gewisse Gesetze in Frankreich anders aus-
gelegt werden als bei uns. Frau Strobel (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die sozialdemokra-
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine weitere Zu- tische Bundestagsfraktion fordert mit ihrem Antrag
satzfrage. Drucksache IV/837 eine umfassende Erhebung über
die Situation der Frau in Beruf, Familie und Gesell-
schaft unid über die vorhandenen und die erforder-
Bading (SPD) : Wäre es dann nicht aber richtig,
lichen Maßnahmen zur besseren Bewältigung der
zu überlegen, ob nicht im Interesse der Gesundheit
damit zusammenhängenden Probleme. Ich habe die
der Verbraucher solch eine Gesetzgebung auch hier
Ehre, diesen Antrag zu begründen und vor allen
einzuführen ist?
Dingen darauf hinzuweisen, warum wir diese
Enquete für dringend notwendig halten.
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- Die Tatsache, daß immer mehr Frauen, Tauch wenn
wirtschaft und Forsten: Diese Überlegungen finden
sie verheiratet sind unid Familie haben, berufstätig
statt. Mein Haus steht in engster Verbindung mit bleiben oder werden, beeinflußt in starkem Maße
dem Bundesministerium für Gesundheit, um diese die Struktur unserer , Gesellschaft.
Frage zu prüfen, die uns gemeinsam interessiert, die
Frau Kollegin Dr. Schwarzhaupt mindestens ebenso Wir können aber nicht gerade behaupten, daß
wie mich, einerseits im Hinblick auf die Gesundheit dieser Wandel in der 'sozialen Struktur, in der Ge-
der Bevölkerung, andererseits im Hinblick auf die sellscha t, täglichen Leben der Menschen beach-
Fragen der Verfütterungsmöglichkeiten, die be- tet wird. Leider müssen wir feststellen, daß weder
kanntlich meinem Hause anvertraut sind. im sozialen noch im kulturellen Bereich die gebo-
tene Reaktion auf die igeänderten Verhältnisse er-
folgt. Das ist nicht nur von Nachteil für die direkt
Vizepräsident Dr. Dehler: Es folgt noch die betroffenen Mädchen, Frauen unid Familien, son-
Frage XII/19 — des Herrn Abgeordneten Dr. Rein- dern auch von Nachteil für di e Gesellschaft unid für
hard —: die Wirtschaft. Typisch für die Situation ist z. B.,
Wie gedenkt die Bundesregierung die Benachteiligung der daß, während noch 'große Teile der Allgemeinheit
deutschen Produktion, die dadurch entsteht, daß sie die in Frage
XII/17 angeführten Futterzusätze und Mittel nicht anwenden recht skeptisch gegenüber außerhäuslicher Erwerbs-
darf, auf dem deutschen Markt aber mit Auslandsprodukten arbeiit der verheirateten Frauen sind, die Wirt-
konkurrieren muß, für die das Verbot nicht gilt, auszugleichen?
schaft auf diese Frauen gar nicht verzichten kann,
ja daß sie mit den modernsten Methoden um sie
Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land- wirbt. Ich könnte Beispiele dafür anführen; eines
wirtschaft und Forsten: Da die benannten Futter- möchte ich nennen: daß eine große Firma, um Reine-
zusätze auch im Ausland, soweit bekannt, einem machefrauen zu bekommen, ausgeschrieben hat: „ Es
Verwendungsverbot unterliegen, dürfte eine Be- braucht ja niemand zu wissen, daß Sie arbeiten,
nachteiligung der deutschen Produktion von Mast- Ihr Mann braucht es nicht zu erfahren, Sie können
hähnchen mit den inländischen Verboten kaum zu bei uns zwei Stunden täglich tätig sein, können
begründen sein. sich zusätzlich etwas verdienen, ohne daß es be-
kannt wird", usw. Solche Methoden wendet die
Vizepräsident Dr. Dehler: Eine Zusatzfrage? Wirtschaft heute 'an, weil sie anscheinend nur noch
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3317
Frau Strobel
auf diese Weise Frauen für die unbesetzten Ar- über, wie sie diese Aufgaben bewältigen, welche
beitsplätze bekommt. Leistungen die Frauen vollbringen? Sind sie auf
dieses Leben gut genug vorbereitet? Welche Maß-
Aus der Tatsache, daß Idas ,allgemeine Bewußt-
nahmen sind nötig, um ihnen diese Aufgaben zu
sein heute in vielen Fällen nicht der Realität ent-
erleichtern?
spricht, 'ergeben sich ungesunde Spannungen, un-
genügende Vorbereitung ,auf das wirkliiche Leben, Es gibt in der Bundesrepublik heute rund 10 Mil-
unausgenutzte Möglichkeiten, die Situation zu lionen berufstätige Frauen. Ich scheue mich direkt,
meistern. Vor allen Dingen wird der Wandel weder eine absolute Zahl anzugeben; denn je nach Quelle
vom Gesetzgelber noch in der Praxis in seiner gan- sind diese Zahlen grundverschieden. Man kann an
zen Tragweite respektiert. einem Tag lesen, es seien 7 Millionen, am anderen
Tag, es seien 9 Millionen, und wieder an einem
Es handelt such um ein geradezu ,erregendes
anderen Tag, es seien sogar 14 Millionen. Das be-
Phänomen unserer Zeit, das wir Sozialdemokraten
weist nur, wie dringend nötig es ist, objektives sta-
mit diesem Antrag mit der ,gebotenen Verantwor-
tistisches Material darüber zu erarbeiten.
tung in dein Vorldergrund rücken wollen. Dabei geht
es nicht in erster Linie, wie vielleicht manche an- Aber der Tatbestand, daß so viele Frauen berufs-
nehmen möchten, um Frauenrecht und Frauenfra- tätig sind, ist in das öffentliche Bewußtsein ent-
gen, sondern es geht um die volle Erfassung der weder nur als „berufliche Notwendigkeit" oder auch
Entwicklung, die alle betrifft, +und vor allen Dingen als . „Krise der Familie" eingegangen. Ich möchte
eben auch um die richtige Reaktion auf diese Ent- sagen, kein Thema ist mit derart massiven Vorurtei-
wicklung. Wenn die Reaktion sinnvoll sein soll, len, Tabus und vermeintlichem Wissen von der
muß man wissen, was wirklich vorgeht; wenn die Mission der Frauen belastet wie jene Fragen, die
Maßnahmen der sich wandelnden Struktur entspre- die Stellung der Frau in unserer Gesellschaft be-
chen sollen, ja sie eventuell sogar beeinflussen sol- treffen. Die eigentliche Problematik wird durch Kli-
len, muß man möglichst genaue Kenntnis davon schees verdeckt. Die berufstätige Mutter ist dabei
haben, welche Strukturveränderungen staittgefun- der Extremfall, bei dem die möglichen Konflikte
den haben, welche Umwälzungen im ,Gange sind, der Doppelrolle der Frau in größter Schärfe deutlich
welche Trends sich vermutlich aufzeigen lassen. werden. Doch ist das gesicherte Wissen um die
Motive für Frauen- und Müttererwerbsarbeit und
Ich möchte hoffen, daß wir Politiker uns hier in
deren mögliche Konsequenzen für die Familien wie
SÜboeziraflnstdmchug,
auch für die Frauen selbst völlig unzureichend. Eine
die die wissenschaftliche Vorarbeit für die Erkennt-
Klärung der Problematik jenseits pathetischer De-
nis der Situation leisten. Der bekannte Soziologe
klamation und Bekenntnisse erscheint uns daher
Professor S c he 1 s k y hat das einmal, auf die Fa-
dringend nötig.
milie bezogen, wie folgt ausgedrückt — ich zitiere
mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten aus „Wandlun- Die Zeit ist reif für eine große, systematische
gen der deutschen Familie in der Gegenwart" —: Erhebung, welche die Urisachen und die Ergebnisse
des fortdauernden Wandels der Familien- und Wirt-
Zunächst muß sich jede politische und soziale
schaftsstruktur in der industriellen Gesellschaft im
Maßnahme, die sich auf die Familie richtet, nach
Hinblick auf die Stellung der Frau aufzeigen sollte
den Entwicklungstrends richten, die jeweils die
Wir sind der Auffassung, daß es an der Zeit ist, aus
Familie in der betreffenden Gesellschaft und ge-
dem Klima der Ad-hoc-Lösungen, der Teillösungen
schichtlichen Situation besitzt. Dies bedeutet,
herauszufinden und den gesellschaftlichen Verände-
daß sie diese jeweils gegenwärtige Sozialstruk-
rungen mit gezielten Maßnahmen zu begegnen.
tur der Familie zunächst in unvoreingenomme-
ner Weise erkennt, die in ihr liegenden Ent- Gewiß gibt es in der Bundesrepublik eine Reihe
wicklungstendenzen überblickt und abzugren- empirisch-soziologischer wie auch statistischer
zen versteht, in welcher Richtung sich bestimmte Untersuchungen, die sich mit diesem Thema in allge-
Maßnahmen familienpolitischer Art auswirken meiner oder auch in mehr spezieller Art befassen.
werden. Diese Forderung ist keineswegs so Von großem Nachteil ist dabei allerdings die Tat-
selbstverständlich in allen Formen der Fami- sache, daß sich diese Untersuchungen alle auf Teil-
lienpolitik erfüllt worden, wie es erscheinen gebiete richten, lediglich einzelne und bestimmte
möchte. Immer wieder trifft man z. B. auf An- Gruppen von Frauen erfassen und untereinander
sichten, die eben nur vor der industriell-büro- schwer vergleichbar sind. Sie sind darüber hinaus
kratischen Sozialverfassung unserer Gesell- nahezu ausschließlich nichtrepräsentativ für den
schaft möglich waren. Querschnitt unserer gesamten Bevölkerung. Hier-
durch wird eine wirklich richtige Erfassung der
Soweit Professor Schelsky. Man kann das fast wört-
Problematik sehr erschwert. Der Großteil der empi-
lich, auf alle Fälle sinngemäß auf die Situation der
rischen Studien ist entweder durch eine Unterreprä-
Mädchen und Frauen in unserer Gesellschaft über- sentanz oder eine Überrepräsentanz der verschiede-
tragen. Die Einstellung zu den mit dieser Situation
nen sozialen Schichten — z. B. der Arbeitnehmerin-
zusammenhängenden Problemen entspricht nämlich nen, der Arbeiterinnen oder der Angestellten oder
vielfach auch bei den Frauen selbst überliefertem der gehobenen Berufe wie der Akademikerinnen —
,
Denken und antiquierten Gewohnheiten. gekennzeichnet. Soweit sie dem Querschnitt unseres
Die Frage ist: Was wissen wir wirklich über die Volkes aber nicht maßstabgerecht entsprechen, ver-
Anforderungen, die heute in der Familie und im lieren derartige Untersuchungen an verbindlicher
Berufsleben an die Frauen gestellt werden, und dar- und richtungweisender Aussagekraft für die schich-
3318 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Frau Strobel
tungsgebundene Problematik der Stellung der Frau deshalb — und zwar Frauen u n d Männer — auf
in ihrer sozialen Umwelt. der Suche nach einem neuen Leitbild bei der Traum-
Ich habe von der Bibliothek unseres Hauses eine fabrik, und ich meine, wir sollten uns alle einig dar-
Übersicht über die bekannten Veröffentlichungen über sein, daß die Traumfrau in Wirklichkeit eben
erbeten. Es ist eine lange Liste, meine Damen und nicht existiert, ja, nicht existieren kann.
Herren. Daraus geht hervor, daß solche Erhebungen (Abg. Frau Geisendörfer: Auch nicht der
durchgeführt wurden und werden insbesondere über Traummann! — Heiterkeit.)
die Gebiete, die für die Wirtschaft und für die — Aber natürlich auch nicht der Traummann, da
Berufstätigkeit der Frauen wichtig sind, daß aber
haben Sie völlig recht.
das Gebiet der Leistung der Hausfrau, das Gebiet
der Leistung der Mutter in der Familie für die Ge- (Abg. Stingl: Gott sei Dank, daß es den
sellschaft, der Rollenwandel im Leben der Frau und nicht gibt, Frau Strobel!)
die Verteilung der Aufgaben von Frauen und Män- Die Unsicherheit, die sich aus dem vermeintlichen
nern im Zusammenhang mit dem Rollenwandel Konflikt zwischen Ehe, Beruf und Familie ergibt,
sowie die möglichen Aufgabenerleichterungen für muß nach unserer Meinung beseitigt werden. Das
die Frauen — insbesondere hinsichtlich der Bildung
mütterliche Leitbild muß ergänzt werden durch die
— nicht so viel Beachtung finden. Übrigens will die
Objektivierung der gesellschaftlichen Leistungen
Bibliothek, angeregt durch die vielen Anforderun-
und des gesellschaftlichen Wertes der Frauen im
gen, die im Zusammenhang mit unserem Antrag an
Berufsleben, als Konsumenten in der Wirtschaft und
sie gekommen sind, für alle Abgeordneten eine
als verantwortliche Mitträger des öffentlichen
möglichst vollständige Bibliographie zu diesem Ge-
Lebens.
biet erarbeiten, was ich auch als ein immerhin inter-
essantes Nebenprodukt unseres Antrages betrachten Lassen Sie mich gerade aus diesem Grunde einige
möchte. Bemerkungen zur Situationserfassung machen. Ich
muß mich hier leider auf ausländische Untersuchun-
Es ist — so möchte ich in diesem Fall zusammen-
gen beziehen, da mir solche vorausschauenden Un-
fassend feststellen — also das beschämende Faktum
tersuchungen im Gebiet der Bundesrepublik nicht
festzuhalten, daß uns auf diesem Gebiet keine um-
zur Verfügung standen. Nach einer schwedischen
fassende und repräsentative empirische Untersu-
chung vorliegt, die 'der Bedeutung der Problematik Untersuchung über die voraussichtliche Entwick-
gerecht würde. lung des Arbeitsmarktes sind in Schweden die ein-
zige Arbeitskraftreserve die verheirateten Frauen.
Man kann nur bedauern, daß bisher kein Mitglied In Schweden waren 1950 30 % verheiratete Frauen
der Bundesregierung eine solche Untersuchung ver- berufstätig; 1960 waren es bereits 40 %. Nach dieser
anlaßt hat, wozu in der Bundesregierung ja ohne vorausschauenden Untersuchung werden es 1970
weiteres Gelegenheit gewesen wäre. Ich bin der 50 % sein, wenn das aufgestellte Programm der
Meinung: wollen wir die sozialen Wandlungen und wirtschaftlichen Entwicklung verwirklicht werden
Strömungen richtig verstehen, wollen wir den beste- soll. Aber, meine Damen und Herren, 48 % der in
henden Spannungen sinnvoll begegnen oder sie ver- Schweden arbeitenden Frauen arbeiten weniger als
mindern, so ist die Erstellung gesicherter wissen- 35 Stunden, und mehr als 25 % der in Schweden
schaftlicher Grundlagen ein Erfordernis von vorran- berufstätigen Frauen arbeiten weniger als 22 Stun-
giger Bedeutung. den!
Daß von der Bundesregierung und den sonst dafür Um den Fehlschlüssen, die auf das überlebte Leit-
in Frage kommenden Stellen diesen Fragen nur bild der auf Lebenszeit durch die Ehe versorgten
unzureichend, sehr oft mit mangelndem Interesse Frau zurückgehen, begegnen zu können, muß man
begegnet wird, dafür nur ein Beispiel. Wie es wissen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß
scheint, ist es richtig, daß eine umfangreiche soziolo- Frauen nach der Heirat noch berufstätig sein wer-
gische Untersuchung über die Berufstätigkeit der den. Ich meine, wenn die Technik und die Konjunk-
Mütter, die vor einiger Zeit durch die Deutsche For- tur weiter in so erregender Geschwindigkeit in das
schungsgemeinschaft angeregt und durchgeführt Leben der Menschen eingreifen, ist es höchste Zeit,
wurde, an Repräsentanz unvollkommen blieb, weil daß sich Gesetzgeber und Offentlichkeit an den
die beantragten Zusatzfragen zum Mikrozensus ab- neuen Maßstäben orientieren.
gelehnt worden sind.
(Beifall bei der SPD.)
Meine Damen und Herren, die Vorstellung, die
Ich bin überzeugt, wenn die Wirtschaft zu immer
sich die weitaus meisten Männer und Frauen jeden
größerer Produktivität drängt, wenn beim Konsu-
Alters von der Frau von heute machen, sind falsch.
menten immer neue Bedürfnisse entstehen, wird
(Abg. Wehner: Hört! Hört!) Erwerbsarbeit von Frauen zu einem selbstverständ-
Die Vorbereitung der Mädchen und Jungen auf das lichen Bestandteil unserer Wirtschaft und Gesell-
Leben entspricht noch viel zu oft diesem falschen schaft werden. Ich sage bewußt nicht „die Erwerbs-
Bild. Das macht das Leben für sie nicht leicht. Es arbeit der Frauen", sondern „Erwerbsarbeit von
entstehen unzählige vermeidbare, sozial uner- Frauen".
wünschte Erscheinungen und Konfliktsituationen. Es Aber immer noch ist das Ausbildungsziel der El-
entgehen sowohl der Gesellschaft als auch den Fa- tern für ihre Töchter niedriger gesteckt als für ihre
milien wie dem einzelnen Menschen Chancen posi- Söhne. Bei einer 1960 durchgeführten Befragung
tiver Entwicklung. Viele sind unsicher. Sie landen nach der beabsichtigten Schulausbildung der Kinder
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode '— 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3319
Frau Strobel
lagen für die Mädchen die höheren Prozentzahlen Nach einer Untersuchung — wieder einer in
bei der Volksschule und der mittleren Reife. Für die England lebenden Frau — von Frau Viola Klein,
Söhne ist der Prozentsatz für Abitur mehr als zwei- London, will die Hälfte aller befragten Frauen, die
mal so hoch wie für Mädchen. Die berufliche Aus- die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, als Begrün-
bildung der Mädchen erfolgt im allgemeinen nach dung für ihre Erwerbstätigkeit angeben, auch bei
dem Gesichtspunkt, daß sie den Beruf nur auf Zeit wirtschaftlicher Besserstellung weiterhin berufstätig
und nicht fürs Leben ausüben. Die Eltern, die Mäd- bleiben. Die Mädchen und Frauen gewöhnen sich an
chen selbst und vor allen Dingen die Wirtschaft tra- den Gedanke, daß sie einen größeren Teil ihres
gen zu dieser Fehlentscheidung bei. Lebens mit Erwerbstätigkeit ausfüllen. Nach Viola
(Sehr wahr! bei der SPD.) Klein hat man z. B. in den USA errechnet, daß das
durchsnitleAb rFauhet
In der Wirtschaft bietet man den Mädchen vielfach 25 Jahre beträgt.
nur eine Anlernzeit oder eine Kurzausbildung an,
während die Jungen eine ordentliche Lehre erhal- Ein Teil der Frauen weiß heute auch, daß sie in
ten. Abiturientinnen wird auch heute noch bei der vielen Berufen etwas leisten können und daß eine
Berufsberatung in der Schule — sogar durch Aka- gute Berufsausbildung fürs ganze Leben wichtig ist.
demiker selber — von einer längeren akademischen Aber es stimmt auch — leider stimmt es —, daß die
Ausbildung abgeraten. Ich habe das in meiner eige- Mehrzahl der berufstätigen Frauen nicht durch eine
nen Familie erlebt, als meine Tochter in der Abitur- abgeschlossene Lehre auf das Berufs- und Arbeits-
klasse beraten wurde. leben vorbereitet wurden. Ganz eindeutig ergibt
eine Erhebung der Abteilung „Frauen" des Deut-
(Hört! Hört! bei der SPD.) schen Gewerkschaftsbundes, daß die Schulausbil-
So sind — das steht ja auch weitgehend fest — dung für den beruflichen Aufstieg der Frauen von
heute die bedeutendste Begabtenreserve, die immer größter Bedeutung ist.
noch besonders vernachlässigt wird, die weiblichen Die Gesamtzahl der in abhängiger Stellung Be-
Jugendlichen. Die Vorstellung, daß Mädchen eigent- schäftigten hat in der Bundesrepublik in den Jahren
lich — das sind immer Formulierungen besonders 1952 bis 1959 um 30 %zugenommen; bei den weib-
aus der Wirtschaft — keine so kostspielige Berufs- lichen Beschäftigten betrug ,die Zunahme 42,9 %
ausbildung brauchen, weil sie ja doch bald heiraten, Von den zuletzt gezählten zirka 10 Millionen
entspricht einfach nicht mehr den Tatsachen; denn erwerbstätigen Frauen sind fast 4 Millionen verhei-
viele junge Frauen bleiben auch in der Ehe weiter ratet, davon 2,5 Millionen Mütter. Daraus geht her-
berufstätig, und viele Frauen kehren sogar, wenn vor, welche Bedeutung die weibliche Arbeitskraft in
die Kinder groß sind, in den Beruf zurück, ganz ab- unserer Wirtschaft hat.
gesehen von der großen Zahl unverheirateter
Frauen und vaterloser Familien. Mit der Bedeutung des Einkommens der Frauen
für die Familien ist es ähnlich. Obgleich die Frau
(Sehr wahr! bei der SPD.) von der Wirtschaft gebraucht und von ihr gesucht
Die Vorstellungen, warum verheiratete Frauen wird, obgleich unsere Verfassung, die Konvention
arbeiten, sind übrigens selten objektiv. Auch das Nr. 100 und auch der EWG-Vertrag Lohndiskrimi-
hängt zum Teil mit traditionsbedingten Vorurteilen nierungen verbieten, liegen die Frauen mit ihrem
zusammen. Wenn die Mütter nicht arbeiteten, würde Einkommen dennoch weit unter dem der männlichen
manches uns selbstverständlich erscheinende Be- Berufe.
dürfnis nicht befriedigt werden können. Manches (Abg. Frau Döhring: Leider wahr!)
Kind würde keine Berufsausbildung erhalten. Dabei fällt —nach Angaben des Statistischen Bun-
(Sehr wahr! bei der SPD.) desamtes — sehr ins Gewicht, daß die Frauen im
Vergleich mit den Männern in weniger qualifizier-
Wenn es den politischen Kräften — und zwar allen
ten Stellungen beschäftigt sind.
politischen Kräften, möchte ich hoffen — in diesem
Parlament mit einer gesicherten Berufsausbildung Vor allem erwerbstätige Frauen und Mütter sind
für alle Kinder und jungen Menschen nach ihren in hohem Maße überbeansprucht. Die tägliche
Fähigkeiten ernst ist, ohne daß deswegen Mütter Arbeitszeit zu Hause und im Beruf beträgt bis zu
gezwungen sind, die Mittel dafür durch zusätzliche 13 Stunden. Nach einer Züricher Mütterbefragung
Berufsarbeit aufzubringen, dann muß das von der hat die berufstätige Mutter eine 76-Stunden-Woche.
SPD seit langem vorgelegte Gesetz über die Aus- Drei Viertel der Frauen verwenden das Wochen-
bildungsförderung endlich angenommen werden. ende für Hausarbeit. Mehr als 60 % dieser Frauen
(Beifall bei der SPD.) benutzen ihren Jahresurlaub, um ihren Haushalt
wieder einmal zu überholen. So schaffen sie den
Um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich dem
höheren Lebensstandard, die größere Wohnung, die
hinzufügen, daß die Freude am Beruf und der
bessere Ausbildung für ihre Kinder, und sie tun es
Wunsch nach Kontakt mit der Außenwelt, auch die
sicher gern. Aber einen Teil ihrer zusätzlichen
Selbstbestätigung und der Wunsch, über mehr eige-
Belastung kann und muß man ihnen abnehmen, und
nes Geld zu verfügen, und andere Gründe durchaus
auch das wollen wir mit diesem Antrag endlich
legitim sind und daß sie absolut dem Grundsatz erreichen.
des Rechtes auf Arbeit und der freien Wahl eines
Arbeitsplatzes ohne Diskriminierung entsprechen. Eigentlich — das möchte ich ganz ehrlich sagen —
Wichtig ist in erster Linie, daß die Motive richtig hätte man erwarten können, daß Frau Minister
erkannt werden. Schwarzhaupt auf diesem Gebiet im Bundeskabinett
3320 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Frau Strobel
die Initiative ergreift. Ich bin ein bißchen traurig des Bundesgesundheitsministeriums an Idas Kabi-
darüber, ,daß man außer verständnisvollen Reden, nett? Wo blöiben tatsächliche, sinnvolle Maßnah-
was alles und daß alles getan werden müsse, um men?
dem Raubbau an der Gesundheit der Frauen zu
In ,der Bundesrepublik starben — 'ich erlaube mir
begegnen, bis jetzt leider nichts gemerkt hat.
jetzt, diese Zahl zu nennen; sie list bisher von nie-
Was sind in erster Linie die Sorgen der Frauen, mandem 'bestritten worden, obwohl sie laufend von
die im Arbeitsleben stehen? Ich habe viele direkt Ärzten veröffentlicht wird — im Jahre 1959 von
am Arbeitsplatz befragt: es sind in erster Linie die 1000 lebend geborenen Kindern 33, 'in Schweden 16,
Kinder; der Geldanke an die Kinder verläßt die in 'Holland 17, in 'der Bundesrepublik also zweimal
Frauen den ganzen Tag nicht. Vor allen Dingen die so viel.
Gedanken der alleinstehenden Mütter bewegen sich (Abg. Frau Dr. Pannhoff: Die Statistiken
natürlich um ihre Kinder. Und dann ist es ihre sind unvergleichbar!)
Gesundheit. Die jungen Mäldchen in der Fabrik sa-
Ich nenne 'diese beiden Länder, weil in Schweden
gen uns noch, daß ihnen das Arbeitstempo, die Ge-
eine höhere Berufstätigkeit der Frauen besteht,
räuschkulisse usw. nichts ausmachten. Aber die
während in den Niederlanden eine niedrigere
Dreißigjährigen fragen sich schon, wilelange sie das
Berufstätigkeit beisteht. Da muß man sich doch fra-
werden. durchalten
gen: macht es in Schweden vielleicht doch die kür-
Deshalb fragen wir in diesem Zusammenhang — zere Arbeitszeit,
immer nur, um Beispiele zu nennen —: warum (Abg. Frau Dr. Pannhoff: Nein! Die Stati
sterben in der Bundesrepublik prozentual mehr stiken sind nicht vergleichbar!)
Babies als in anderen vergleichbaren Ländern? War-
um haben wir in der Bundesrepublik eine höhere der bessere Mutterschutz, der längere Urlaub, die
Zahl von Früh- und Fehlgeburten? Warum haben weitergehenden Lebenshilfen? — Frau Pannhoff,
wir eine wesentlich höhere Müttersterblichkeit als wollen Sie bestreiten, daß Schweden uns ein dieser
andere verglelichbare Länder? Beziehung wesentlich voran ist?
(Abg. Frau Kalinke: Das ist ja gar nicht (Abg. Frau Dr. Pannhoff: Ja!)
bewiesen!) Wir müssen und wollen mit unserem Antrag in
— Ich weiß, Frau Kalinke, das sind unbequeme diesem Zusammenhang erreichen, daß diejenigen,
Zahlen. die auf den Wandel im Frauenleben, auf die Ur-
sachen und Wirkungen dieses Wandels immer wie-
(Abg. Frau Kalinke: Nicht unbequeme, aber
der aufmerksam machen und vor allem auf die Ur-
unbiewiesene Behauptungen!)
sachen und Wirkungen für die ganze Gesellschaft
— Wir beantragen gerade aus diesem Grunde die hinweisen, nicht wie bisher Prediger in der Wüste
Enquete, damit es gesicherte Zahlen darüber gibt. sind, sondern daß die Gesellschaft und vor allen
(Beifall bei der SPD.) Dingen der Gesetzgeber die reale Situation zur
Kenntnis nimmt und darauf entsprechend reagiert.
Aber beunruhigt diese Frage die Gesellschaft
wirklich? Ich muß Ihnen ehrlich sagen, daß man Es ist z. B. dringend nötig, festzustellen, ob und in
bedrückt Idarüber sein muß, warum so alarmierende welcher Beziehung der besondere, weitergehende
Vorträge wie der von Professor 'Kirchhoff auf der Arbeitsschutz für Frauen und Mädchen aus biolo-
Bundesärztetagung 1961 keine nachhaltigere Wir- gischen Gründen unter den gegenwärtigen und un-
kung in der Bundesrepublik auslösen. ter den zu erwartenden Arbeitsbedingungen geän-
dert werden müß. Ich möchte auch hier nur ein Bei-
(Sehr wahr! bei der SPD.)
spiel vor vielen nennen, das Beispiel des Strahlen-
Wenn man der Meinung ist, daß alle die bisher - schutzes. Schon heute sind nach meiner Auffassung
veröffentlichten Zahlen in dieser Beziehung nicht die geltenden Schutzbestimmungen bei Strahlenge-
stimmen, warum hat dann das Bundesgesundheits- fährdung für die Frauen nicht ausreichend. Für
ministerium nicht längst eine gründliche und genaue Frauen sollte nicht erst, wenn sie ein Kind erwar-
Untersuchung darüber veranstaltet? ten, die Beschäftigung an strahlengefährdeten Ar-
(Belfall bei der SPD.) beitsplätzen verboten sein. Wenn wir wirklich jede
Gefahr für das keimende Leben ausschließen wol-
Wir wissen, daß es auf alle diese Fragen keine len, dürfen Frauen im gebärfähigen Alter über-
leichten Antworten gibt. Aber daß von der Bundes- haupt nicht an solchen Arbeitsplätzen beschäftigt
regierung bis jetzt effektiv nichts geschehen ist, werden.
um den Ursachen und ihren alarmierenden Folgen (Sehr richtig! bei der SPD.)
zu begegnen, ist einfach erschreckend. In diesem Zu-
sammenhang muß ich fragen: wozu haben wir dann Bereits bei der ersten Behandlung der Strahlen-
eigentlich ein Bundesgesundheitsministerium? schutzverordnung im Europäischen Parlament habe
ich für die sozialistische Fraktion des Europäischen
(Sehr richtig! bei der SPD.) Parlaments auf diese Mängel in der Strahlenschutz-
Ich selbst habe einen Vortrag von Frau Minister verordnung aufmerksam gemacht. Ich meine, mit
SchwarzuptinNübegdmBusfran- zunehmender Berufstätigkeit der Frauen gewinnen
kongreß 'des DGB gehönt, aus dem hervorging, daß solche Gefahren an Gewicht. Wir wollen dies nicht
ihr diese beklagenswerten Zustände bekannt sind. über-, aber wir dürfen es auch keinesfalls unter-
Da frage ich Mich dann: wo 'bleiben die Vorlagen schätzen. Wir wollen objektive Feststellungen und
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Frau Strobel
die notwendige Reaktion. Wir müssen in den arbei- Die Vorbereitung auf die Rolle der Frau im Haus-
tenden Frauen und Mädchen schon die künftigen halt und als Verbraucherin ist ebenfalls absolut un-
Mütter schützen. Den Mutterschutz als solchen kann zureichend. Ein genügender Unterricht darüber
ich in diesem Zusammenhang ausklammern. müßte heute umfassen die richtige Organisation des
Haushalts, die vernünftige Einteilung des Haushalts-
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat budgets, sinnvolles Verbraucherverhalten, richtige
bereits einen eigenen Gesetzentwurf mit den wich- Ernährung und vieles andere mehr.
tigsten Verbesserungen vorgelegt, und es hat sich
bei der Anhörung von Sachverständigen im zustän- Ich darf in diesem Zusammenhang fragen, welche
digen Ausschuß schon gezeigt — und Frau Pannhoff, Vorurteile heute noch gegenüber der Hausarbeit be-
wer weiß, was sich morgen in dieser Frage bei der stehen, und zwar teilweise nur deswegen, weil sie
Anhörung von Sachverständigen im zuständigen unbezahlt ist.
Ausschuß ergibt! —, daß die sozialdemokratischen (Frau Geisendörfer: Wen fragen Sie?)
Forderungen beim Mutterschutz nur zu berechtigt
sind. Auch hier kann ich nur sagen: Hoffentlich fin- — Ich frage uns alle, Frau Geisendörfer, aus diesem
den die Anträge auf Verbesserungen bald eine Grunde legen wir ja diesen Antrag auf eine um-
Mehrheit in diesem Hause! fassende Enquete vor.
In welchem Maße wird die Hausarbeit unter-
(Beifall bei der SPD.) schätzt? Untersuchungen zeigen, daß die Arbeitszeit
Ich möchte meinen, zwischen den verschiedenen der Hausfrau weit über der normalen Arbeitszeit
gesellschaftlichen und politischen Kräften in der Erwerbstätiger liegt. Das muß aber nicht so sein; das
Bundesrepublik besteht Übereinstimmung darin, daß wissen wir heute auch. Auch die Hausarbeit sollte
'Mütter von Säuglingen und Kleinkindern nicht ge- nach den besten Bedingungen getan werden können
zwungen sein sollten, erwerbstätig zu sein. Vielen und sie soll gerecht bewertet werden. Es ist zu
bleibt aber gar nichts anderes übrig, weil ihre mate- wenig bekannt, daß nur 20 % der Haushalte ein
rielle Situation sie dazu zwingt. Darüber gibt es Mixgerät, nur 29 % eine Waschmaschine und nur
schon recht eindeutige Untersuchungen. Es gibt aber 41 % einen Kühlschrank haben. Und wer kann sich
auch Erfahrungen in anderen Ländern, die den schon eine Geschirrspülmaschine leisten! Ich er-
Familienlastenausgleich wesentlich besser geregelt wähne das auch nur, um ein weiteres Beispiel anzu-
haben als wir. Das geht von den Kinderbeihilfen führen.
über die Wohnungsmiete bis zur Versorgung der (Abg. Frau Geisendörfer: das ist unnötig!)
vaterlosen Kinder. Diese Probleme sind in der Bun- Die immer wieder geforderte steuerliche Begünsti-
desrepublik alles andere als beispielhaft gelöst. Es gung beim Einkauf von Haushaltsmaschinen haben
wäre unserer Gesellschaft absolut würdig, daß jede wir bis heute nicht. — Frau Geisendörfer, ob eine
Mutter frei und unabhängig von materiellem Zwang Geschirrspülmaschine nötig oder unnötig ist, hängt
darüber entscheiden könnte, ob sie berufstätig sein von der Größe des Haushalts ab, und die Entschei-
will oder nicht. Aber dazu gehört dann eben auch, dung darüber wollen wir gern den Frauen selbst
daß die Kinder und vor allem die größeren Kinder überlassen. Sie werden selbst entscheiden, ob sie
für den Fall der Berufstätigkeit der Mutter gut ver- eine kaufen wollen, wenn sie das Geld für eine
sorgt sind. Geschirrspülmaschine aufbringen!
Auch auf diesem Gebiet liegen wesentliche Teil- Gewiß, vieles von dem, was die Hausfrau früher
untersuchungen vor. Fehlende bzw. unzureichende selber machen mußte, wird heute fertig geliefert.
Kindertagesstätten, Spiel- und Sportplätze, Ferien- Dieser Prozeß der Minderung der Arbeit für die
heime und Erholungsstätten weisen die Bundes- Hausfrau ist aber verbunden mit einem Wandel der
republik nicht gerade als sozial fortschrittlich aus. Familienstruktur und mit einem Funktionswandel in
Wenn diese Frage einmal eingeordnet in eine Ge- der Familie. In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft
samtschau der gesellschaftlichen Situation, die sich ist die Familie der eigentliche und einzige Ort, an
heute aus ihrem Wandel ergibt, gesehen wird, wer- dem die persönlichen, unmittelbar menschlichen Be-
den diese Lücken sicherlich noch deutlicher werden, ziehungen an Wert gewinnen. Die Bedeutung der
hoffentlich aber auch die Chance größer, daß sie Familie für den einzelnen nimmt sowohl für die
geschlossen werden. Kinder als auch für die Eltern bzw. die Ehepartner
zu. Damit nehmen aber auch — und das möchte ich
Die Frage muß beantwortet werden: Welches sind
die wichtigsten Voraussetzungen dafür, daß Mütter sehr betonen — die Ansprüche an die Frau und
größerer Kinder berufstätig sein können? Dazu ge- Mutter im erzieherisch-menschlichen Bereich zu. Bei
hört die zweckmäßige Wohnung genauso wie eine den heute von der Frau bei der Kindererziehung er-
rationelle Haushaltsführung. Dazu gehört die Er- warteten Leistungen wird von ihr mehr gefordert,
als ihr bei dem gegenwärtigen Erziehungs- und Bil-
ziehung zu der Fähigkeit, sich aller Möglichkeiten
und auch aller Vorteile als Verbraucherin zu be- dungsniveau im allgemeinen mitgegeben worden
dienen, die geboten werden können. Die Schule, die ist, wird eine voll entfaltete Persönlichkeit gefordert.
Vorbereitung auf das Leben im Elternhaus, die Be- Es besteht die Frage: Stimmt es — ich behaupte
rufsausbildung, die Fortbildungs- und auch die Um- es nicht; es ist nur wieder eine Frage —, daß die
schulungsmöglichkeiten entsprechen in weiten Be- nichtberufstätige Hausfrau sozial isoliert wird we-
reichen nicht den gegebenen Notwendigkeiten. Auch gen der Einsamkeit der häuslichen Arbeit in der
dieser Bereich soll nach unserem Antrag in die industriellen Gesellschaft? Stimmt es, daß die Kon-
Untersuchung einbezogen werden. zentrierung auf Haushalt und Familie eine Beschrän-
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Frau Strobel
kung der Persönlichkeit der Hausfrau bedeutet, aus ihr besteht eine verstärkte Tendenz zur Überwin-
der sich eine Beschränkung ihrer Möglichkeiten als dung eines sie nicht voll befriedigenden Zustandes.
wirkliche Partnerin des Mannes und lebendige und Wenn dieser Wandlungsprozeß rechtzeitig und
intelligente Erzieherin ihrer Kinder ergeben kann? richtig aufgefangen wird, wenn Berufe, die sich z. B.
Solche Behauptungen stehen in der Öffentlichkeit aus dem wachsenden Anteil der Dienstleistungs-
im Raum. Die Frage ist bis jetzt nicht eindeutig und berufe ergeben, für diese Frauen anziehender ge-
klar und nicht wissenschaftlich präzise beantwortet macht werden, kann sich daraus durchaus eine bes-
worden. Es ist aber ein so ungemein wichtiges ge- sere Lebenserfüllung für diese Frauen ergeben.
sellschaftspolitisches Problem für die Frauen, für die
Familie und für uns alle, daß man sich unbedingt (Sehr gut! bei der SPD.)
davor hüten muß, leichtfertige Schlußfolgerungen In Schweden sind 68 % der arbeitenden Frauen in
zu ziehen. Deshalb soll ja eine wissenschaftliche Dienstleistungsberufen tätig. Viele allerdings, wie
Untersuchung Klarheit schaffen. Ist es nicht so, daß schon gesagt, in Teilzeitarbeit.
die ständige Vorbereitung der Mütter auf die immer
Das Problem der Teilzeitarbeit ist in der Bundes-
neuen Lebensphasen der Kinder und die damit ver-
bundenen Erziehungsaufgaben, wenn sie genügend republik zwar immer wieder untersucht worden,
aber es sind noch nicht die richtigen Lösungen dafür
und bewußt geschieht, durchaus die soziale Isolie-
gefunden. Für viele Frauen würde Teilzeitarbeit
rung durchbricht? Aber dazu ist es notwendig, daß
eine wesentlich bessere Lösung darstellen als die
in der Mädchenbildung rechtzeitig auf diese Phase
Ganztagsbeschäftigung. Deshalb brauchen wir trag-
des weiblichen Lebens hingewirkt wird und daß die
bare Lösungen.
kommenden Mütter, Ehefrauen und Väter auch in
diesem Sinne zur Lebenstüchtigkeit erzogen werden. Ein wesentlicher Nachteil — ich nenne nur einen
von vielen — beim Übergang von der Ganztags-
(Beifall bei der SPD.)
arbeit zur Halbtagsarbeit oder Teilzeitarbeit mit
Wieder eine ganz andere Frage ist, ob die auf niedrigerem Einkommen ist, daß sich der erworbene
dem Lande lebende Frau der Gefahr einer Isolie- Rentenanspruch trotz weiterer Arbeit verschlechtert.
rung stärker ausgesetzt ist als die Frau in der Groß- Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hatte
stadt. Wir wollen, daß die Untersuchung insbeson- schon bei der Reform der Rentengesetzgebung diese
dere auch auf die Situation der auf dem Lande Ungerechtigkeit ausmerzen wollen. Leider waren un-
lebenden und in der Landwirtschaft arbeitenden sere Bemühungen erfolglos. Wir haben aber die Er-
Frau ausgedehnt wird. Die Fragen des Gesundheits- wartung, daß bei einer gründlichen Prüfung der
zustandes der Landfrau, ihrer Belastung, des Ur- Probleme, die mit der Teilzeitarbeit zusammenhän-
laubs und der Freizeit, ihrer sozialen Sicherheit so- gen, auch dieser sehr wesentliche Hinderungsgrund
wie möglicher und notwendiger Lebenshilfen sollen beseitigt wird.
von der Enquete erfaßt werden. In diesem Zusam- In diesem Zusammenhang empfehle ich vor allen
menhang verweise ich besonders darauf, daß wir Dingen auch die Auswertung der Untersuchungen
einen Katalog von Unterfragen zu unserem Antrag und Empfehlungen des Internationalen Arbeits-
vorlegen, da wir eben in unserem Antrag alle amtes. Auch die Deutsche Zentrale für Volksgesund-
Frauen in allen Berufsgruppen erfassen wollten und heit hat sich damit beschäftigt. Die Anwesenheit von
nicht die eine oder die andere Gruppe besonders Frau Minister Schwarzhaupt ist dabei ja in der
nennen wollten. Presse sehr lobend erwähnt worden. Ich kann nur
Eine wichtige Frage ist noch: Welche Diskriminie- sagen, hoffentlich wird sich diese Anwesenheit bald
rungen gibt es außer der Lohndiskriminierung heute auch positiv auswirken.
noch für Mädchen und Frauen, und wie kann man „Was wissen wir von der Frau von heute?" steht
diesen Diskriminierungen begegnen? Man muß sich praktisch ungesehen als Überschrift über unserem
darüber klar sein, daß die traditionelle Idee „die Antrag. Besonders wenig, meine Damen und Herren,
Frau gehört ins Haus" überholt ist. Ebensowenig wissen wir von der alleinstehenden Frau. Ich er-
darf man aber leugnen, daß Kinder und Familie im laube mir die Frage: ist ihr Problem wirklich in er-
Lebensgefühl der Frau eine andere Rolle spielen als ster Linie, daß sie unverheiratet ist? Gibt es nicht an-
in dem des Mannes. Die doppelte Rolle der Frau dere Probleme, die ihr das Leben unnötig erschwe-
muß die Gesellschaft akzeptieren, sich aber dann ren und die man lösen könnte? Sie verdient z. B.
auch der Probleme annnehmen, die sich daraus er- durchschnittlich viel zu wenig. Das Statistische Bun-
geben. desamt meldet: 34 % aller allein lebenden Frauen
(Beifall bei der SPD.) in der Bundesrepublik mußten 1960 mit weniger als
Deshalb muß eine neue Einstellung zum Platz der 200 DM im Monat auskommen.
Frau in unserer heutigen Gesellschaft gefunden (Hört! Hört! bei der SPD.)
werden. Sie wird meiner Meinung nach vor allen
Etwa ebenso viele hatten nur ein Einkommen bis zu
Dingen auch durch die längere Lebenserwartung der
300 DM, und nur 7 % aller allein lebenden Frauen
Menschen überhaupt notwendig. Ebenso muß man
verfügen über ein Einkommen von 500 DM und
die Tatsache sehen, daß in 70' 0/o aller Haushaltun-
mehr. Dabei gibt es in der Bundesrepublik zweiein-
gen in der Bundesrepublik keine Kinder unter 14
halb Millionen Frauen, die in Einzelhaushalten leben.
Jahren leben. Die schwierige Lage und die beson-
dere Problematik der berufsätigen Mutter darf nicht Die alleinlebenden Frauen haben es im allgemei-
gleichgesetzt werden mit der Lage der verheirate- nen schwerer als ihre männlichen Kollegen, sich
ten Frau, die von Mutterpflichten entlastet ist. Bei durchzusetzen, vor allem im beruflichen Leben. Sie
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Frau Strobel
haben es schwerer, ihre Stellung zu verbessern. Im weichen, die heute mit dieser Enquete angesprochen
Alter ist ihre Rente meistens zu niedrig. Sie haben sind; wir begrüßen vielmehr diese Diskussion und
es z. B. auch sehr viel schwerer, eine Wohnung zu wir begrüßen die Möglichkeit, von der Fülle, ja
bekommen. Viele solche Fragen hängen damit zu- der Vielfalt der angeschnittenen Probleme doch
sammen. einige hier gründlich und, wenn es möglich wäre,.
Natürlich gibt es Ausnahmen, Frauen, deren vertieft zu 'besprechen.
Tüchtigkeit und gute Berufsausbildung diese Be- Wer über die heutige Situation der Frau in der
nachteiligung überwinden. Im allgemeinen aber Gesellschaft, in der Familie, in der Politik sprechen
geht unserer Gesellschaft viel zuviel dadurch verlo- will, wer von der Stellung der Frau in der Zeit,
ren, daß der geistige Beitrag, den Frauen zu geben in der wir leben, sprechen will, muß sich der ganzen
hätten, vielfach nicht nur nicht entwickelt, sondern Problematik bewußt sein und wissen, daß sie ohne
geradezu gehemmt wird. Die gleichen Chancen, die Einsicht in die 'soziale und igesellschaftspolitische
das Grundgesetz verspricht, sind in der Praxis nicht Wirklichkeit nicht 'gemeistert werden kann. Man
verwirklicht. Wir wollen eine genaue Erhebung dar- kann deshalb auch an so wichtige Untersuchungen
über, um auch für eine gerechte Lösung all dieser über die Fakten nicht herangehen, ohne sich be-
Fragen objektive Grundlagen zu haben. wußt zu sein, daß die Einsicht in wesentliche und
Meine Damen und Herren, ich habe einen Katalog bleibende Zusammenhänge unerläßlich ist. Es wäre
von Unterfragen zu unserem Antrag. Ich möchte es daher 'sehr tragisch, wenn das Gespräch über die
Ihnen ersparen, alle diese Unterfragen anzuhören; Situation der Frau in unserer Zeit nur von Frauen
ich erlaube mir, sie zu Protokoll zu geben *). Wir für Frauen 'geführt würde.
wollen für die Wissenschaftler, die sich hoffentlich (Abg. Frau Geisendörfer: Sehr richtig!)
sehr bald mit der Enquete beschäftigen können, den
Es ist die Auffassung meiner Freunde in der
Katalog der Unterfragen nicht unnötig einschränken, CDU/S,derMänwiFau,dßr
sondern möchten deutlich machen, welche uns ge- hier stellvertretend für alle Mitglieder dieses
wichtig genug erscheinen, erwähnt zu werden. Hauses zu einem Problem sprechen, das die Sache
Lassen Sie mich abschließend noch einmal beson- des ganzen Parlaments unid der deutschen Offent-
ders betonen, daß dem Problem der Bildung von lichkeit ist.
der Schule über das Elternhaus zur Berufsausbil- (Beifall bei der CDU/CSU.)
dung und Erwachsenenbildung, ja der permanen-
ten Bildung überhaupt, auch bei den mit unserem Es 'wäre aber auch tragisch, über die Situation der
Antrag zusammenhängenden Fragen eine zentrale Frau in der Politik und der Wirtschaft nur zu .spre-
Bedeutung zukommt. chen als von ihrer Rolle in der vollbeschäftigten
Wirtschaft oder von ihrer Stellung als Arbeits-
Wir hoffen, daß unser Antrag rasch verabschiedet kraftreserve oder etwa nur von ,den Problemen 'des
wird. Selbstverständlich kann die im Antrag ge- materiellen Kampfes urn die Gleichbehandlung und
nannte Frist nicht mehr eingehalten werden; sie Gleichberechtigung, wie das heute morgen hier an-
muß wahrscheinlich um ein Jahr verlängert werden. geklungen ist.
Wir möchten aber betonen, daß einige der ange-
schnittenen Probleme für unsere Gesellschaft, für (Abg. Frau Geisendörfer: Das ist wichtig!)
alle Frauen, für alle Männer und ihre Familien so Die Fülle der Probleme, die ich nur mit einzelnen
wichtig sind, daß die Durchführung der Enquete Stichworten aufzeigen kann und aufzeigen werde,
keinesfalls verzögert werden darf. würde uns viele Tage beschäftigen, wenn wir sie so
(Beifall bei der SPD.) vertiefen könnten, 'wie , es die Sache in der Tat
erfordert. Die großen Fragen der verfassungsrecht-
Vizepräsident Dr. Dehler: Der Antrag der lichen Stellung der Frau sind in unserer Verfassung
Fraktion der SPD ist begründet. Es liegt noch der zwar theoretisch weitgehend geregelt. Daß aber
Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf die Verfassungswirklichkeit eines Tages auch sicht-
Umdruck 247 *) vor. — Das Wort hat Frau Abgeord- bar wird, wie es auch Frau Strobel igewünscht hat,
nete Kalinke. ist unser gemeinsames Anliegen über die Parteien
und die einzelnen Gruppen hinweg.
Frau Kalinke (CDU/CSU) : Herr Präsident! Der statistischen Erfassung aller mit der Frauen-
Meine Herren und Damen! Ich habe die Ehre, na- erwerbsarbeit zusammenhängenden Fakten messen
mens der Fraktion der CDU/CSU zum Antrag der wir die größte Bedeutung bei. Das gleiche gilt für
Fraktion , der SPD Drucksache IV/837 Stellung zu die Frage nach dem Ausbildungswillen der Jugend
nehmen und den Änderungsantrag der Fraktion und dem Ausbildungswillen der Arbeitgeber 'der
der CDU/CSU zu begründen. jugendlichen Menschen, nach Erschließung neuer
Berufe und vor allem nach den Aufstiegschancen
Von Jaspers stammt der Satz, „daß unser Zeit- für die Frau in allen Berufen. Damit werden zahl-
alter durch den Umfang und die Tiefe der Verwand- reiche Probleme aufgeworfen, bei denen es nicht
lung allen menschlichen Lebens die einschnei- allein um .die Ordnung und Gestaltung am Arbeits-
dendste Bedeutung hat." Wie niemand der Ge- platz und der Arbeitsbedingungen, sondern um die
schichte entkommen kann, so können und wollen wir sozialpolitische Wirklichkeit wie um Ausblicke in
auch nicht der Diskussion der wichtigen Fragen aus- die Zukunft geht. Es fällt mir sehr schwer, nicht
*) Siehe Anlage 2 schon an dieser Stelle Frau Strobel einiges zu sagen
s) Siehe Anlage 3. von dem, was in der sozialpolitischen Wirklichkeit
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Frau Kalinke
in der Bundesrepublik Deutschland nach meiner Auf- beträgt heute nur noch 2,5 zu 1 im Gegensatz zu
fassung weit über das hinausgeht, was in Schwe- etwa 20 zu 1 um die Jahrhundertwende.
den und den nordischen Ländern nicht immer zum
Durch die vermehrte Freizeit hat der Lebens-
Wohl der mitarbeitenden Hausfrauen, Mütter und
rhythmus jedes Menschen einen anderen Takt er-
Ehefrauen soziale Wirklichkeit ist.
halten. Für viele, Frau Kollegin Strobel, bietet aller-
,

(Beifall bei der CDU/CSU.) dings die im Interesse der Gesunderhaltung der ein-
zelnen und ihrer Familien vermehrte Freizeit nicht
Schließlich gehört zu dem großen Komplex, den -
gerade das, was von Ihnen an dem Modell der 20
wir heute behandeln, auch das wichtige Problem
Stunden-Woche in Schweden dargestellt worden ist.
desArbitkäfmangl,dschturewi-
Für viele ist die verlängerte Freizeit leider keine
schaftlichem ,Aspekt, sondern auch von der Seite
Quelle der Erholung und Entspannung. Diese ver-
unserer Hausfrauen, unserer Landfrauen, der Fami-
änderte Verhaltensweise in unserer industriellen
lien, der Krankenhäuser, der Anstalten und der
Gesellschaft ist eines der Probleme, das zu den
Heimzushnt,djgeualMn-
größten Sorgen Anlaß gibt.
schen gepflegt werden sollen und gepflegt werden
müssen. • Aus diesem Grunde sollten wir zugeben, daß sich
(Beifall bei der CDU/CSU.) auch die Einstellung und Haltung der einzelnen zu
den Werten des Lebens stark gewandelt hat. Das
Selbstverständlich wollen wir uns mit allem guten Lebensstandard-Denken, das so in den Vordergrund
Willen gemeinsam darüber unterhalten, zu welcher geschoben worden ist, mögen wir es bedauern oder
Situation die Mitarbeit, die sicherlich in vielen Fäl- nicht, die Situation, daß Beruf, soziale Stellung und
len notwendige Mitarbeit, so vieler verheirateter Einkommenshöhe und der damit verbundene äußere
Frauen führt, und uns dabei auch bewußt sein, in Lebensstil den Menschen heute weit mehr in die Ge-
welchem Maße dadurch der Standort der Familie sellschaft eingruppieren als etwa der Bildungsstand
in unserer Welt verändert wird. oder die soziale Herkunft, — all das sind Tatbe-
Ich bin mir darüber klar, daß ich heute morgen stände, die wir nicht nur zur Kenntnis nehmen, son-
keineswegs alle, sondern nur einige dieser wich- dern denen wir unsere sorgfältigste Beachtung
tigen Fragen behandeln kann. Lassen Sie mich vor- schenken müssen.
weg aber etwas zu den geschichtlichen Vorausset- Weder die Frauen im Hause, noch die Frauen im
zungen der Debatte sagen, die wir hier führen. Beruf, noch diejenigen, die Haus und Beruf mitein-
Die von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts aus- ander verbinden müssen, sind von diesen Umwand-
gehenden geistigen und politischen Impulse sowie lungen verschont geblieben. Die heutige Struktur
die überaus schnelle industrielle Entwicklung seit und Lebensarbeit der Familie, die mit der vorin-
der Mitte des 19. Jahrhunderts haben nicht nur zu dustriellen Zeit so gar nichts mehr gemeinsam hat,
einer völligen Veränderung und Umstrukturierung die völlige Trennung zwischen Lebensbereich und
der politischen und gesellschaftlichen sozialen Ord- Arbeitsraum, die — mit Ausnahme der Landwirt-
nung geführt. Die Einführung der Demokratie, die schaft und einiger Handwerksbetriebe, wo es noch
politische und soziale Emanzipation der .Arbeitneh- eine echte Zusammenarbeit von Mann und Frau
merschaft, die Aufhebung der ständischen Gesell- gibt — überall stattgefunden hat, die geringere Kin-
schaft zugunsten einer nivellierten Mittelstands- derzahl, nicht zuletzt aber auch die veränderte Ver-
gesellschaft — um mit Worten von Schelsky zu haltensweise der Väter — auch das soll hier ausge-
sprechen — mit ihrem pluralistischen Grundgefüge sprochen werden — haben zu all den Schwierig-
sind nur einige der Folgen dieser Entwicklung, mit keiten geführt, von denen heute morgen die Rede
der wir uns auseinanderzusetzen haben. Diese gei- ist. Die Funktionen und die Rolle der Eheleute, der
stigen und politisch-sozialen Veränderungen haben Kinder und der Eltern, sie alle haben sich gewan-
das Bild der Gesellschaft völlig umgeformt und - delt.
selbstverständlich tief in das Leben des einzelnen Diese hier nur skizzenhaft aufgezeigten Verände-
Menschen und 'der 'einzelnen Familien hineinge- rungen in Gesellschaft, Familie und im Leben des
wirkt. Sie haben unsere Lebensordnung und Lebens- einzelnen, die an den Frauen nicht spurlos vorüber-
weise in so verhältnismäßig kurzer Zeit derartig gegangen sind, zeigen, daß Frauen wie Männer in
gewandelt, wie es am Ende des 19. Jahrhunderts einer gänzlich veränderten Lebenssituation in Fa-
nur von wenigen prophetischen Geistern — ich will milie, Beruf und Öffentlichkeit stehen. Die lange
nur Tocqueville als einen nennen — vorausgeahnt erstrebte, auch heute von meiner Kollegin zitierte,
worden ist. Selbstverständlich ist auch das Bild der endlich erreichte, von manchen männlichen Kollegen
Frau in unserer Zeit diesen Wandlungen unterwor- belächelte und doch so problematische Gleichberech-
fen. tigung ist nur ein Teil und letztlich nur eine Folge
Aber auch die Berufsstruktur hat sich geändert. der angedeuteten gesellschaftlichen Veränderungen.
Neue Berufe sind entstanden, in denen noch unsere Sie hat Tatbestände im Leben der Frauen und in der
Eltern niemals Frauen vermutet hätten. Andere Be- Gesellschaft nur quasi legalisiert, die auch ohne
rufe sind von der Entwicklung überholt worden. 'Gleichberechtigung längst vorhanden waren.
Arbeitsweise, Arbeitsbedingungen usw. sind infolge (Abg. Frau Geisendörfer: Nachvollzogen!)
vón Mechanisierung, Rationalisierung und Automa-
tisierung für jeden, ob Arbeiter oder Angestellter, — Sehr richtig, Frau Kollegin, sie hat sie nachvoll
völlig anders als vor Jahrzehnten. Das zahlen- zogen. — Ich darf nur an die große und über
mäßige Verhältnis von Arbeitern zu Angestellten ragende Leistung der Frauen in den schweren Jah-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3325

Frau Kalinke
ren des Krieges und der Nachkriegszeit erinnern. und Funktionen einer verheirateten Frau sind nun
Sie wissen, daß da die Frau nicht nur als Arbeits- einmal andere als die einer unverheirateten, die
kraft, sondern auch als Erhalterin des Arbeitsplatzes einer Mutter andere als die der kinderlos verheira-
für den Familienvater immer höchst beliebt gewe- teten Ehefrau.
sen ist. Niemand wird die Erwerbstätigkeit der Frauen
daher richtig beurteilen, der nicht etwa Stellung
Die Gesellschaft und ihre Glieder haben längst
dazu nimmt, daß das Streben der Frau nach Mit-
das Tätigwerden der Frau in der Berufs- und Ar-
beitswelt, ja sogar im politischen Bereich — wie wir arbeit und Mitverantwortung nichts Neues ist, son-
selber hier darstellen können — bewußt und un- dern in Wirklichkeit die Rückgewinnung eines ver-
bewußt stillschweigend hingenommen, weil die Mit- lorengegangenen Anteils am Wirtschaftsleben, den
arbeit der Frau auch im außerfamiliären Bereich un- die Frau schon einmal besessen hat.
erläßlich geworden ist. Aber sie hat — darin stimme (Beifall in der Mitte.)
ich Frau Strobel gerne zu — bis heute diese Funk- Trotzdem, ich wiederhole es, gibt es eine Reihe von
tionen der Frau, die gar nicht so neu sind, weil sie klugen Männern aus den Bereichen beider Kirchen
vor der Industrialisierung innerhalb des Bereichs und aus den Bereichen der Politik, die diese Pro-
der Großfamilie, des eigenen Handwerksbetriebs, in bleme erkannt haben. Ich möchte hier nur an zwei
der Landwirtschaft wahrgenommen wurden, häufig sehr interessante Aufsätze erinnern, die Zodrow in
weder offen bejaht noch gefördert. Dem stehen lei- den „Stimmen der Zeit" im Rahmen einer sehr be-
der viele traditionsgebundene Leitbilder von der achteten Artikelreihe unter Anführung wichtiger
Aufgabe, der Stellung der Frau noch gegenüber, die Fakten geschrieben hat; sie sind nachlesenswert.
sich mit der heutigen Wirklichkeit in der Tat nicht Einige dieser Punkte möchte ich aufgreifen, weil
mehr decken. Wie so oft in der Geschichte der Völ- sie mir für die weitere Debatte sehr wichtig er-
ker und der Menschheit hinkt auch in diesem Falle scheinen. Tatsache ist doch, daß die Frau im vor-
das geistige Bewußtsein der Gesellschaft hinter der industriellen Zeitalter äußerst tätig am wirtschaft-
tatsächlichen Entwicklung her. Es sei hier als un- lichen Leben teilgenommen hat und keineswegs auf
bestrittene Tatsache festgestellt, daß selbstverständ- den Haushalt beschränkt war. Trotzdem ist auch
lich Männer und Frauen auf Grund ihrer spezifischen in dieser Zeit die Doppelaufgabe, Kinder aufzu-
Eigenarten und Talente verschiedene Aufgaben in ziehen und wirtschaftlich produktive Arbeit zu lei-
Familie und Gesellschaft mit ganz bestimmten sten, gestützt auf einheitliche Lebensform gemei-
Schwerpunkten zu erfüllen haben. Ihre Funktionen
stert worden.
sind nicht gleich und sollten auch nie gleicher Art
sein. Die Frau hat zu allen Zeiten bestimmte Auf- (Abg. Frau Geisendörfer: Das wird immer
gaben übernommen und wird sie auch künftig zu vergessen!)
übernehmen haben. Es sei hier nur auf ihre spezi- Es sollte nicht verschwiegen werden, daß die Auf-
fische Rolle als Hausfrau und Mutter hingewiesen, fassung, die Erwerbstätigkeit der Mutter führe not-
auch auf ihre Neigung, zu hüten, zu bewahren, zu wendigerweise zur Vernachlässigung der Kinder
sorgen und zu pflegen, die Gott sei Dank in der und der Familien, völlig grundlos ist.
Bundesrepublik, in Frankreich, ja, ich möchte sagen, Schließlich glaube ich mit vielen anderen klugen
im ganzen westeuropäischen Bereich noch eine an- Männern und Frauen, die diese Probleme unter-
dere Grundlage haben, als das hier zum Teil in der sucht haben, daß gerade die gemeinsame Beteili-
Rede der Kollegin Strobel durchgeklungen ist. gung von Mann und Frau am Familienleben das
Es scheint mir, daß das gesellschaftliche Bewußt- Problem ist, über das wir sprechen sollten: die
sein noch nicht recht zu unterscheiden vermag zwi- gemeinsame Verantwortung von Männern und
schen den unwandelbaren, von Natur aus immer Frauen für die Kindererziehung und für die Arbeit
gegebenen, im Wesen der Frau liegenden Aufgaben in der Gesellschaftsordnung, die in der Vergangen-
und den mit der Zeit sich ständig ändernden Wir- heit ausgewogener war und ein Gleichgewicht zwi-
kungskreisen und äußeren Funktionen der Frau. Der schen den Geschlechtern schuf, das in der Zeit der
Wirkungskreis der Frau von heute ist und muß ein Industrialisierung — aus welchen Gründen auch
anderer sein als in der Vergangenheit. Ich muß aber immer, das kann ich heute nicht untersuchen — wie
der Frau Kollegin Strobel schon an dieser Stelle in unserer Zeit der Überbeschäftigung leider zu
sagen, daß weder die englische Situation, wie sie verschwinden droht.
Viola Klein dargestellt hat, noch die schwedische (Abg. Frau Geisendörfer: Und jetzt ge-
Situation, die Sie uns als Idealbild schildern wollten, meinsam wiedergefunden werden muß!)
der Mehrheit der deutschen Frauen als das Leitbild
Deshalb bleibt es aber unbestritten, daß wir
und das Ideal erscheinen wird.
nach diesem Gleichgewicht streben sollten, und es
(Beifall in der Mitte.) bleibt unbestritten, daß Männer wie Frauen das
Es ist sicherlich nicht einfach, meine Kolleginnen Recht auf eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit,
von der Opposition, die unwandelbaren und manch- d. h. aller ihrer Talente und Fähigkeiten haben.
mal auch wandelbaren Züge im Leitbild der Frau Darin stimmen wir selbstverständlich auch mit
voneinander zu scheiden, weil wir alle in Tradi- der sozialdemokratischen Fraktion überein: daß eine
tionen, in zum Teil mißverstandenen weltanschau- Gesellschaft, die dies verhindert oder nicht ge-
lichen Denkvorstellungen verhaftet sind. Auch diffe- nügend fördert, sich selber den größten Schaden
renzieren wir vielleicht zuwenig in unseren Vor- zufügen würde.
stellungen und Überlegungen. Denn die Aufgaben (Lachen links.)
3326 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Frau Kalinke
— Ich weiß nicht, was da lächerlich ist, mein Herr Mütter und Hausfrauen. Ihre Beschaffung und Aus-
Kollege. Vielleicht ist es das für Sie. Mir ist es sehr wertung berührt deshalb nicht nur die Zuständig-
ernst. — Es bedarf auch des Bemühens wirklich aller keit des Statistischen Bundesamtes, des Arbeits-
aufgeschlossenen Kräfte, nicht nur in diesem Hause, ministeriums, des Gesundheitsministeriums und des
sondern auf allen Seiten, bei allen nach Lösungen Familienministeriums, sondern es wird nach meiner
suchenden Gruppen — ich meine insbesondere: die Auffassung eine große Gemeinschaftsarbeit not-
Kirchen, die politischen Parteien, die Wissenschaft wendig sein, um diese Aufgabe zu lösen.
und speziell die Soziologen —, um über diesen
Die Quellen des Materials, mit dessen Hilfe die
ganzen Fragenkreis Klarheit zu gewinnen.
Lage der Frauen umfassend geschildert werden
Aus unserem Änderungsantrag ersehen Sie, wie kann, sind sehr breit gestreut. Das Material müßte
dringend deshalb auch wir daran interessiert sind, endlich gesammelt und katalogisiert werden. Außer-
über das, was ist, und über das, was sein wird, eine dem ist es, da vielfach nur in miteinander nicht
klare und verbindliche Aussage zu erhalten. Selbst- koordinierten Einzeluntersuchungen enthalten, be-
verständlich wäre es falsch, zu verschweigen, daß züglich der statistischen Unterlagen lückenhaft und
das Suchen nach einem neuen Leitbild für die Rolle — das gebe ich zu — zur Zeit noch nicht aus-
der Frau in der modernen Industriegesellschaft, das reichend.
die bleibenden und wesensbedingten Talente und
Wir vermissen aber im Antrag der Fraktion der
Befähigungen der Frau in unsere Zeit hineinstellt,
SPD eine Anzahl von Fragen, deren Beantwortung
einerseits durch mangelnde konkrete und detaillierte
wir unsererseits für dringend notwendig halten, um
Kenntnis über die reale Bedeutung und den tatsäch-
bei der künftigen Gesetzgebung in Wirtschafts- und
lichen Einfluß der Frau auf die Gesellschaft in den
Sozialpolitik die Situation der Frau in Beruf und
verschiedensten Bereichen der Kultur, Politik und
Familie vom Gesellschaftspolitischen her mehr als
Wirtschaft erschwert wird. bisher zu berücksichtigen.
Andererseit — das muß gleichermaßen gesagt
werden — führt eine zum Teil falsch verstandene Wenn wir allerdings von der Regierung nicht Un-
und, wie sich auch heute gezeigt hat, in einzelnen mögliches verlangen und ihr nicht zumuten wollen,
Fragen falsch interpretierte Auffassung der juri- unzulängliche Teilergebnisse vorzulegen, ist es
stischen Gleichberechtigung auch bei der Suche nach sicherlich erforderlich — und ich bin der Frau Kol-
neuen Leitvorstellungen in die Irre. legin für ihre Einsicht dankbar —, daß wir ihr die
Zeit für die Gewinnung und Sammlung der Doku-
Ich begrüße mit meinen Freunden aus der CDU/ mentation, für die Aufbereitung des notwendigen
CSU daher alle Anregungen, durch umfassende sta- Materials geben. Ich freue mich deshalb, daß Sie
tistische Auswertungen, soziologische Untersuchun- aus diesen Gründen unserem Änderungsantrag, den
gen und Grundlagenarbeiten festzustellen, wie die Bericht der Bundesregierung frühestens am 31. De-
konkrete Situation der Frau heute in Beruf, Familie zember 1964 zu erwarten, zustimmen werden.
und Gesellschaft ist. Wir wissen, daß uns bei allen
Bemühungen der Regierung, die ich noch besonders (Zuruf von der SPD.)
nachweisen werde, vieles an Klarheit fehlt. Eine — Ich freue mich, wie gesagt, daß wir auch darin
solche Ubersicht wird in der Tat helfen — auch übereinstimmen, Frau Kollegin Korspeter.
darin stimmen wir mit Ihnen überein —, in aller
Lassen Sie mich etwas zu den Voraussetzungen
Nüchternheit und Objektivität und fern von der
des statistischen Vergleichs sagen. Ich muß es vor
einen und der anderen vielleicht liebgewordenen,
allen Dingen deshalb sagen, weil auch hier Dinge
aber nicht mehr der Wirklichkeit entsprechenden
behauptet oder, besser gesagt, in den Raum gestellt
Vorstellung Wege und Lösungen zu suchen und
worden sind — um mit einem modernen Ausdruck
sie auch zu finden, die die schwierige Situation der
zu operieren —, die nicht beweisbar und nicht ver-
Faru heute in unserem Lande verbessern und er-
gleichbar sind, weil die statistischen Voraussetzun-
leichtem können. Daß das nicht von heute auf mor-
gen nicht stimmen.
gen geht, weil alle Veränderungen des geistigen
Bewußtseins ihre Zeit brauchen, wissen wir Politi- Wir haben in diesem Hause mit dem Gesetz über
ker am allerbesten. die Durchführung von Statistiken auf dem Gebiet
Die in dem Antrag der Fraktion der SPD gefor- der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der
derte Untersuchung betrifft Fragen und Probleme, Jugendhilfe vom 15. Januar 1963 Voraussetzungen
für deren Beurteilung zum Teil schon Unterlagen für eine Jahresstatistik in den einzelnen Leistungs-
der amtlichen Statistik und anderer Untersuchungs- gebieten geschaffen, durch die wir nun in Kürze
ergebnisse vorhanden sind. Sie betrifft aber auch repräsentative Voraussagen aus diesem Teilbereich
Fragen, für die Beurteilungsgrundlagen erst gewon- der Sozialpolitik erhalten werden.
nen werden müssen, wie solche, die ihrer Natur nach Die Diskussion über statistische Vergleiche, ins-
nicht statistischer Art sind und deshalb durch Stati- besondere in bezug auf die sozialen Verhältnisse
stiken allein auch nicht belegt werden können. von Familien und erwerbstätigen Frauen — ich werfe
Im ganzen gesehen sind die Angaben, die für hier nur das Stichwort hinein: Vergleiche hinsicht-
eine Beurteilung der Situation des weiblichen Teils lich Kindergeld und Familienpolitik — in Frankreich
der Bevölkerung benötigt werden, außerordentlich und Deutschland und anderen mehr, ist deshalb
vielfältig. Sie beziehen sich sowohl auf die Teil- nicht möglich. Diese statistischen Vergleiche lassen
nahme der Frauen am Erwerbsleben, auf ihre soziale große Lücken wie auch begriffliche und methodische
Sicherung als auch auf den besonderen Schutz der Mängel erkennen, die behoben werden müssen,
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3327
Frau Kalinke
wenn nutzbringende Darstellungen für statistische und Kinder zu sorgen, Versuche, die nicht nur von
Erhebungen erwartet werden. Sozialdemokraten angeregt worden sind.
Auch die Aussprachen und Auseinandersetzungen (Beifall bei der CDU/CSU.)
um die Sozialpolitik im wachsenden europäischen Für diese schon im Oktober 1962 vorbereitete Zu-
Bereich haben ja sehr deutlich gezeigt, woran es satzerhebung über die Betreuung der Kinder er-
fehlt, wo Vergleiche hinken und welche Vorausset- werbstätiger Mütter ist die Rechtsgrundlage das von
zungen geschaffen werden müssen, um den Ver- uns beschlossene Gesetz zur Änderung des Gesetzes
gleich so zu gestalten, daß wirklich von Vergleich- über die Durchführung einer Repräsentativstatistik
barem gesprochen werden kann. der Bevölkerung vom 5. Dezember 1960. In dieser
Diese für den Bericht erforderlichen Erhebungen Erhebung wurde auch die Zeit der Abwesenheit der
sind zum Teil — es ist keineswegs so, daß die berufstätigen Mütter aus dem Haushalt, also Ar-
Bundesregierung diese Dinge übersehen oder ihnen beitszeit zuzüglich Arbeitsweg, festgestellt. Gleich-
nicht die genügende Bedeutung beigemessen hätte — zeitig wurde nach der Art der Betreuung der Kinder
bereits geplant, und ihre Ergebnisse werden in ab- gefragt. Sie sehen auch darin, Frau Kollegin, wie
sehbarer Zeit zur Verfügung stehen. sehr wir schon in der Vergangenheit bis ins einzelne
diesen Problemen gegenüber aufgeschlossen waren
Weil wir aber wissen, daß die erforderlichen und das nicht erst in der Zukunft sein wollen. Mit
Unterlagen erst im Laufe vieler Monate beschafft der Auswertung dieser Fragebogen, die uns gemein-
werden können und daß auch in den Ministerien wie sam wichtige Erkenntnisse vermitteln werden, ist
beim Statistischen Bundesamt Arbeitskräftemangel beim Statistischen Bundesamt bereits begonnen wor-
genauso eine Rolle spielt wie in anderen Betrieben, den. Wir hoffen, daß diese Ergebnisse schon im
sollten wir der Regierung, glaube ich, die notwen- Laufe dieses Jahres vorliegen werden.
dige Zeit lassen.
Zu der wichtigen Frage nach Position und Auf-
In dem Antrag der Fraktion der SPD wird unter stiegschancen haben das Bundesministerium für Ar-
Punkt 1 nach Art und Umfang der Beschäftigung im beit, die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und
Berufs- und Arbeitsleben, nach der Aufgliederung Arbeitslosenversicherung, die Gewerkschaften aller
nach Familienstand, Zahl und Alter der Kinder, Posi- Richtungen und die Wirtschaft in allen Bereichen,
tion und Aufstiegschancen sowie nach der Bean- besonders aber die Frauenberufsverbände, national
spruchung durch Haushalt und Familie gefragt. Hier- und international immer wieder ihr Interesse be-
zu liegen bereits Unterlagen aus dem Mikrozensus kundet. Das Bundesministerium für Arbeit — dafür
vor, die noch im Laufe dieses Jahres ausgewertet sei ihm auch an dieser Stelle Dank gesagt — hat
werden können. Hierzu hat gerade die Bundesmini- erfreulicherweise wertvolle Untersuchungen einge-
sterin für das Gesundheitswesen, die Sie heute sehr leitet, von denen Sie eigentlich auch wissen müßten,
zu Unrecht in diesem Punkt angegriffen haben, wert- bei denen vor allen Dingen an eine vielbeachtete
vollste und wichtigste Anregungen, auf die ich noch Arbeit— „Möglichkeiten einer stärkeren Berücksich-
im einzelnen komme, an das Statistische Bundesamt tigung von Frauen in Fach- und Spezialarbeit in der
gegeben. Auch aus der bekannten Haushalts- und Industrie" von Professor Riedel — erinnert sei.
Familienstatistik des Mikrozensus von 1957, die im
Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums Hingewiesen werden muß von mir in diesem Zu-
für Familien- und Jugendfragen mehrfach erörtert sammenhang auch auf die bevorstehenden Veröf-
wurde — daran mögen Sie erkennen, wie sehr sich fentlichungen des Arbeitskreises Frauenarbeit beim
auch der Familienminister immer in die Erörterung Rationalisierungskuratorium für die deutsche Wirt-
dieser Probleme eingeschaltet hat; er hat das ja als schaft. Ich glaube, Sie haben der deutschen Wirt-
Kabinettsmitglied, als ein Teil der Regierung und als schaft Unrecht getan — das wird diese Veröffent-
Angehöriger der Regierungsparteien getan —, ste- lichung zeigen — mit ihrer etwas sehr einseitigen
hen Zahlen über die Familien erwerbstätiger Frauen, Darstellung, als sei die Wirtschaft an diesen Pro-
über Zahl und Alter der Kinder, über Art und Platz blemen wenig interessiert. In diesem Kuratorium
der Erwerbstätigkeit — auch in der Landwirtschaft arbeiten, wie sie wissen, Vertreterinnen der Sozial-
und anderen Wirtschaftszweigen — als selbständige partner, also auch Ihre Freunde, Vertreterinnen der
mithelfende Familienangehörige oder als Arbeit- Ministerien und der Wissenschaft zusammen. Hier
nehmer zur Verfügung. Dieses Material wird durch handelt es sich vor allen Dingen um drei sehr wich-
die Volks- und Berufszählung 1961, die zur Zeit tige Untersuchungen — 1. „Förderung der Frauen-
gerade aufgearbeitet wird, noch vertieft werden arbeit durch Verbesserung der Arbeitsplatzbedin-
können. Aber auch aus der einprozentigen Woh- gungen" , 2. „Das berufliche Fortkommen von Frauen"
nungsstichprobe sind Unterlagen über die Einkom- und 3. das Thema „Frauen als Vorgesetzte" —, mit
mensquellen und die Höhe der Einkommen berufs- deren Veröffentlichung schon kurzfristig gerechnet
tätiger Frauen ersichtlich. werden kann und von deren Kenntnis nach meiner
Auffassung wichtige Impulse zur weiteren Auswer-
Schließlich ist darüber hinaus schon im Oktober tung und Vertiefung der Themen ausgehen könnten.
1962 eine Zusatzerhebung über die Betreuung der Ich bin überzeugt, daß Arbeitnehmer- und Arbeit-
Kinder erwerbstätiger Mütter durchgeführt worden. geberorganisationen höchst interessiert daran sind,
Wir sind also nicht ganz so hinter dem Wald, wie solche Feststellungen zu treffen, damit auf dem Gebiet
Sie das darstellen wollten, Frau Kollegin. Sie wer- der Ausbildung und Fortbildung der weiblichen An-
den mir zugeben, daß es viele praktische Versuche gestellten und Arbeiterinnen mehr Möglichkeiten als
dieser Art in der Bundesrepublik gibt, für Mütter bisher für den Aufstieg der berufstätigen Frauen
3328 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Frau Kalinke
auch in leitende und unternehmerische Funktionen wird auch beweisen, daß 'die Unterstellung, die Re-
geschaffen werden können. Akademische Gespräche giierung sei a n diesem Problem nicht interessiert,
und Diskussionen, wie sie unlängst wieder in der einfach und schlicht nicht zutrifft.
Evangelischen Akademie in Mülheim an der Ruhr (Zustimmung bei der CDU/CSU.)
und anderswo geführt wurden, Beobachtungen auf
den letzten großen Tagungen der Frauenorganisa- Im nächsten Punkt haben Sie mit Recht auf die
tionen zeigen ebenso wie die Feststellungen der Notwendigkeit der Vorbereitung der jungen Mäd-
Literatur des Verbandes der weiblichen Angestellten chen auf ihre Aufgaben im Haus und 'in der Familie
in den Christlichen Gewerkschaften, der Frauen- hingewiesen. Die Vielschichtigkeit igerade ¡dieses
gruppen von DAG und DGB fast übereinstimmend Problems deutet ,auch di e Frage nach der Vorberei-
die Vielschichtigkeit der Probleme auf. tung (der Frauen sauf ihre Aufgaben 'im Haushalt,
auf das 'Berufs- und 'Erwerbslielben an. Da diese Fra-
Es wäre nun wahrhaft einseitig, die Situation der gen weitgehend 'kulturpolitische Aufgaben der Län-
Frauen in bezug auf Position und Aufstiegschancen der betreffen, werden idem Bundestag statistische
nur aus der Sicht der Wirtschaft, des Arbeitgebers Unterlagen wahrscheinlich nur mit Schwierigkeiten
oder des Arbeitsplatzes zu sehen. Gerade die Ge- vorgelegt werden können. Die CDU/CSU-Fraktion
bundenheit der Frau in der Familie und an ihre Fa- hält es aber für notwendig, daß — im Zusammen-
milienverpflichtungen bestimmen weitgehend ihre wirken zwischen Bund und Ländern, eventuell über
Verhaltensweise und ihr Streben nach einer verän- die Konferenz der Kultusminister — dahin 'gewirkt
derten Position. Oft ist der Aufstieg oder die Beför- wird, dem Parlament die bei Aden Ländern vorhan-
derung mit einem Ortswechsel oder mit der Lösung denen Materialien zur Verfügung zu stellen. Hier-
von der Familie verbunden. Dadurch können die zu könnten sicher aus der laufenden Schul- und
Aufstiegschancen von den Frauen nicht im gleichen Hochschulstatistik interessante Angaben über den
Maße wahrgenommen werden wie von den Män- Besuch von Berufsfachschulen der Mädchen, von
nern. Wir mögen das bedauern, aber wir müssen berufsblildenden Schulen, über die Beteiligung an
es feststellen. Es scheitert vor allem an der Gebun- Fortbildungskursen in Stadt und Land und über die
denheit der Frau an ihre Familie. in den Ländern sicherlich unterschiedlichen Stun-
den- und Arbeitspläne, über Mütterschulung und
(Beifall bei der CDU/CSU.) Mütterberatung — eventuell auch mit Hilfe der Trä-
Dabei denke ich nicht nur an die Ehefrauen mit Kin- ger im privaten und karitativen Bereich — ermit-
dern in der Familie, sondern auch an die alleinste- telt wenden. In dieses Gebiet gehören aber auch
henden berufstätigen Frauen, die erfreulicherweise die Probleme der Eheberatung, der Beteiligung der
in großem Maße für alte Eltern sorgen und sie nicht jungen Mädchen an Lehrgängen des Deutschen Ro-
auf die öffentliche Fürsorge abschieben. • ten Kreuzes, des 'freiwilligen Einsatzes im Diakoni-
schen Jahr, im karitativen Hilfsdienst der Kirchen
(Erneuter Beilfall bei der CDU/CSU.) und in allen Einrichtungen der verschiedenen Orga-
Wer so an alte Menschen und ,an die Wohnung ,ge- nisationen, lin denen sich die Jugend in großer Hilfs-
bunden ist, ist nicht so leicht bereit, um einer Auf- bereitschaft betätigt. Vieles, was wir als scheinbar
mangelndes staatslbürgerliches Interesse bei dien
stiegschance willen die Möglichkeit eines Arbeits-
platzwechsels wahrzunehmen. Daß sich viele Frauen Frauen beklagen, vieles, was besonders diejenigen
in diesemGewissenskonflikt für die Familienbin- Mädchen und Frauen beklagen, denen die Chance
dung entscheiden, betrachten wir in der CDU/CSU einer guten Schul- und Berufsausbildung durch das
als etwas Positives. Elternhaus versagt worden ist gehört lin diesen
,

Fragenbereich „Frauen- und Mädchenbildung". Es


(Beifall bei der CDU/CSU.) wäre außerordentlich wichtig, daß die Konferenz der
Die Antragsteller werden mir zugeben, daß Ver- Kultusminister und der Deutsche Ausschuß endlich
haltensweisen statistisch schwer zu erfassen sind. Schritte unternähmen, um eine Gesamtkonzeption
Wir sollten aber alle gemeinsam darum bemüht der verantwortlichen Stellen in der Mädchenbildung
Sein, lin der Grundlagenforschung festzustellen, in- zu fördern.
wieweit die Ausgeistaltung der von der Bundes- Mit dem nächsten Punkt haben Sie die Frage der
regiterung so vielseitig ,geförderten Ausbildungs- Bedeutung und Auswirkung der zunehmenden Er-
beihilfen möglich 'ist. So wird ein Bericht des Herrn werbstätigkeit der Frauen angeschnitten. Zu der
Bundesmlinisters für Arbeit über sein Programm für Frage 3, nämlich Bedeutung und Auswirkungen der
Berufsförderungsmaßnahmen für uns genauso i nter- Erwerbstätigkeit der Frauen auf das Familienein-
essant sein wie die Untersuchungen, welchen Krei- kommen, auf die Stellung der Frauen in der Gesell-
sen Ausbildungsbeihilfen zugute gekommen sind schaft, auf die Familienstruktur und auf die Auf-
unid mit welchem Erfolg dies geschehen ist. Wir gaben der Familie in der Volkswirtschaft, können
haben in diesem Hause über die Notwendigkeit statistische Unterlagen uns sicherlich schon sehr
einer zusammenfassenden 'Darstellung der Probleme bald zur Verfügung gestellt werden. Sie mögen auch
der Berufsförderung nach meiner Erinnerung keine hieran erkennen, wie aufgeschlossen die Regierung
Meinungsverschiedenheiten gehabt. Eine zusam- gerade gegenüber all diesen Problemen ist. Schon
menfassende Erhebung über die Leistungen für Ju- weitgehend sind Unterlagen darüber vorhanden im
gend un d Familie aus dem Bundesjugendplan, aus Rahmen der einprozentigen Wohnungsstichprobe,
dem Honnefer Modell, aus Erziehungs- und Aus- die schon 1960, meine Herren und Damen von der
bildungsbeihilfen wird deutlich zeigen, wie groß SPD, erarbeitet worden ist. Weitere Unterlagen zu
und umfassend di e staatliche Hilfe schon ist. Sie dieser Frage werden auch im Rahmen der Einkom-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3329
Frau Kalinke
mens- und Verbrauchsstichprobe anfallen, die das Jugend erhalten und wiederaufgebaut haben.
Statistische Bundesamt seit Juni 1962 durchführt. Daß die große Zahl der mithelfenden Familien-
Die Frage des Einflusses der Erwerbstätigkeit auf angehörigen dabei nicht vergessen werden darf,
das Familieneinkommen kann sicherlich nicht ge- versteht sich genauso wie die Anerkennung der Lei-
stellt und nicht beantwortet werden, ohne daß auch stung der immer wachsenden Zahl der Arbeitnehme-
rinnen, der Angestellten und Arbeiterinnen, ohne
im Deutschen Bundestag zum Ausdruck gebracht
deren Einsatz in der Bundesrepublik unsere Markt-
wird, welchen Dank unsere Nation den Frauen
wirtschaft nicht funktionieren kann, unsere wirt-
schuldet, die nach schweren Kriegserfahrungen und
schwerem Kriegseinsatz, nach Vertreibung von schaftliche Aufwärtsentwicklung nicht möglich ge-
Haus, Hof und Nachbarschaft mit ihrem Einsatz und wesen wäre und unsere freiheitliche Ordnung nicht
ihrer Arbeit dazu beigetragen haben, das Familien- erhalten werden kann.
einkommen zu sichern, die Ausbildung der Kinder Bei aller Anerkennung der materiellen Bedeutung
zu garantieren und manche Familie erst wieder um des Familieneinkommens möchten wir doch der
den Familientisch zu versammeln. Frage nach der materiellen Einflußnahme nicht den
(Beifall bei der CDU/CSU.) Vorrang geben.
Daß dabei in den unvollständigen Familien, die den Es wäre nun recht verlockend, zu den Zahlen,
Vater durch den Krieg verloren haben, der allein- die Frau Strobel genannt hat, noch eine Fülle von
stehenden Mutter die besondere Achtung der Na- Problemen aufzuzeigen und weitere Zahlen hinzu-
tion gebührt, soll auch an dieser Stelle und heute zufügen. Ich werde dieser Verlockung nicht erlie-
nicht vergessen werden. gen. Ich .stimme Frau Strobel nur darin zu, daß es
in der Tat gut ist, der weit verbreiteten Meinung
(Beifall bei der CDU/CSU.) objektiv zu begegnen, daß verheiratete Frauen, die
Mit großem Respekt anerkennt die Fraktion der einer Erwerbstätigkeit nachgehen, nur für den so-
CDU/CSU die Leistung der Frauen in Beruf und genannten höheren Lebensstandard arbeiten. Eine
Haus. Sie weiß, daß ohne ihren Einsatz die vollbe- genaue Analyse und eine Sondererhebung, die ge-
schäftigte Wirtschaft genauso wenig funktionieren rade in Berlin gemacht worden ist, haben bewiesen,
würde, wie die Höhe unseres Sozialetats nicht erar- daß das in unendlich vielen Fällen nicht richtig ist.
beitet werden könnte. Wir anerkennen ganz beson- Auch wir legen Wert auf die Beantwortung der
ders den unermüdlichen Einsatz der Landfrauen für gestellten Fragen nach der Auswirkung der Er-
die Fortführung und Erhaltung der Betriebe wäh- werbstätigkeit auf die Stellung der Frau nicht nur
rend des Kriegseinsatzes und danach in all den land- in der Familie, sondern auch 'in der Gesellschafts-
wirtschaftlichen Familienbetrieben, in denen der struktur. Hier werden uns die statistischen Unter-
Bauer selber nicht mehr vorhanden und die heran- lagen und Ergebnisse, von denen ich bereits sprach,
wachsenden Kinder noch nicht groß genug waren, allerdings nur einen gewissen Ausschnitt des viel-
um die Aufgabe zu übernehmen. schichtigen Problems aufzeigen können.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Frau Kollegin Strobel hat hier .die Untersuchun-
Was ich hier von der Landwirtschaft sage, gilt für gen von Viola Klein besonders angezogen. Ich
alle Bereiche der Selbständigen im Gewerbe, Han- möchte auf deutsche Untersuchungen hinweisen.
del und überall da in den freien Berufen, wo Frauen Alle Interessierten wissen, daß dieses Thema Ge-
in die Bresche gesprungen sind. genstand großer soziologischer Untersuchungen ge-
wesen ist, und das berühmte Buch von Frau Dr.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Elisabeth Pfeil über die Berufstätigkeit von Müttern
Die Fraktion der CDU/CSU begrüßt es daher, daß wird allen, die nach Unterlagen suchen, Auskunft
diese Aussprache uns Gelegenheit gibt, auch all den geben. Diese Untersuchung, die als eine empirische
vielen Frauen und Müttern zu danken, die gesell- soziologische Erhebung — vorgenommen bei 900
schaftspolitisch mit ihrer Lebensleistung die Voraus- Müttern — schon im Jahre 1961 veröffentlicht wor-
setzungen dafür geschaffen haben, daß eine entwur- den ist, hat besonders viel über das Thema auszu-
zelte und heimatlos gewordene, eine durch den sagen, obwohl sie sich speziell nur auf Großstadt-
Eisernen Vorhang in zwei Fronten getrennte Nation verhältnisse und auf vollständige Familien bezieht.
sich wieder gefunden hat und in den Grundsatzfra- Die Frage der unvollständigen Familie, also der
gen einig ist. Wir sehen mit Stolz die Leistungen Halbfamilie, ist dankenswerterweise von dem Wis-
der Vertriebenen, — eine nicht hoch genug zu wür- senschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für
digende Bedeutung für die Erhaltung der gesell- Familien- und Jugendfragen inzwischen aufgegriffen
schaftspolitischen Situation der Familie im Staat. worden. Hierzu gehört auch eine weitere Unter-
Die CDU/CSU hat — und auch das möge die SPD suchung über Lehre und Leistung erwerbstätiger
bedenken — gerade im Grünen Plan hinsichtlich der Mütter, die im Jahre 1960 in West-Berlin von der
Bereitstellung der Mittel zur Rationalisierung im Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde.
ländlichen Haushalt im Etat des Bundesministeriums Ich bin mit der Kollegin Strobel in dem Punkt
für Arbeit, für Zwecke der Berufsförderung im Etat einig, daß wir uns niemals dazu hergeben dürfen,
der Kriegsopferversorgung und des Lastenausgleichs solche Statistiken und Untersuchungen zu verall-
immer wieder deutlich zu machen gesucht, wie sehr gemeinern und falsch zu kommentieren, und daß wir
ihr daran liegt, die schwere Aufgabe der Frauen nicht in die Ebene der Irrtümer geraten dürfen, weil
zu erleichtern, die durch ihre Berufstätigkeit die Aussage vieler Untersuchungen — das zeigt z. B.
Arbeitsplätze und Betriebe für die heranwachsende die Berliner Untersuchung — durch eine Vor-
3330 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Frau Kalinke
Auslese der Betroffenen verzerrt sein kann. Viele geschieht --- Kräfte für die typischen Haushalts-
der genannten Untersuchungen, die durch Erfah- und Pflegeberufe angeworben und ausgebildet wer-
rungsberichte aus den Bereichen unserer politischen den. Uns erscheint das als ein besonderes Gebot der
Arbeit ergänzt werden können, zeigen die Viel- Stunde. Wenn hier die erforderlichen Bemühungen
schichtigkeit auch der Gründe für die Berufstätig- unternommen werden, kann vielen Familien und
keit und die Mehrwertigkeit des Gegenstandes, für Heimen geholfen werden. Einzelne Modelle, wie
den es eine einfache Antwort und eine einfache Lö- sie jetzt in Göttingen und anderswo, auch von kari-
sung nicht gibt. tativen Verbänden, Orden und Anstalten verwirk-
licht wurden, könnten Maßstab für künftige Bemü-
Ich möchte auch an dieser Stelle allen denen, die hungen sein. Der Herr Wohnungsbauminister
im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministe- könnte sich ein Verdienst erwerben, wenn er in Zu-
riums für Familien- und Jugendfragen an der gro- sammenarbeit mit dem Bundesministerium für Ar-
ßen Aufgabe der Untersuchung der ökonomischen beit und der Bundesanstalt in Nürnberg Wege
Lage der Familie in der Bundesrepublik mitgearbei- fände, alleinstehende Frauen oder Ehefrauen unse-
tet haben, Dank sagen und den Bericht von Helga rer Gastarbeiter unterzubringen und damit Anre-
Schmuck über die Haushalte und die Familien, über gungen für die Beschäftigung in deutschen Haushal-
die Erwerbstätigkeit der verheirateten Frauen und ten zu geben.
Mütter dabei erwähnen. Wir glauben, daß viele der
von der SPD gestellten Fragen schon aus diesem Be- Lassen Sie mich noch ein Wort zu den von Frau
richt allein beantwortet werden können. Strobel angesprochenen Problemen der Frauen in
der Landwirtschaft sagen. Selbstverständlich erfüllt
(Abg. Dr. Wuermeling: Sehr richtig!) uns die Abwanderung von weiblichen Arbeitskräf-
Schließlich möchte ich nicht versäumen, alle In- ten, aber auch von mithelfenden Familienangehöri-
teressierten auf die Veröffentlichungen von Profes- gen aus der Landwirtschaft mit ganz besonderer
sor Harmsen hinzuweisen, die in „Wirtschaft und Sorge. Diese Abwanderung, die zu einer vermehr-
Statistik" Heft 10/1962 über die Situation der Be- ten Arbeitsbelastung gerade in den bäuerlichen
rufstätigkeit der Mütter im Anschluß an das Ergeb- Familienbetrieben führt und die verbliebenen
nis einer Sonderauszählung dargestellt ist. Zusam- Frauen physisch und psychisch ganz besonders be-
men mit den Arbeiten von Frau Dr. Pfeil und Frau lastet, muß aufgefangen werden. Wir begrüßen
A. H. Herrmann besitzen wir damit ein ausgezeich- deshalb alle Maßnahmen, die durch den Grünen
netes Material, so daß jeder, der sich unterrichten Plan mit Hilfe der einmaligen Sondermaßnahmen
will, hier sachliche Grundlagen findet. Es ist unbe- zur Verbesserung der Lage bäuerlicher Familien-
stritten, daß eine falsche Kommentierung wie eine betriebe die Voraussetzungen zur Arbeitsrationali-
falsche Auslegung des Grundsatzes der Gleichbe- sierung schaffen sollen. Wir möchten gern wissen,
rechtigung 'den wohlverstandenen und gewollten wieweit diese Rationalisierungsmaßnahmen schon
Sinn des Art. 3 unseres Grundgesetzes verändern durchgeführt werden konnten und was auf dem
kann oder jedenfalls ihm nicht gerecht würde. Land bisher zur Rationalisierung der Innenwirt-
schaft — auch im Zusammenhang mit der dringenden
Meine sehr verehrten Herren und Damen, ich Modernisierung der Altbauten — erfolgt ist. Wir
muß noch zu einem Vorwurf meiner Vorrednerin möchten auch wissen, welche Absichten der Herr
Stellung nehmen, den ich schon anfangs zurückge- Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und
wiesen habe, nämlich zu dem Anwurf gegen die Forsten hat, um auf diesem Gebiet seine Bemühun-
Gesundheitsministerin, als halte sie nur Reden und gen zu aktivieren. Wenn es zutrifft, daß auf dem
veranlasse nicht das Notwendige. Ich muß aus- Lande 50 % aller Wohnungen sanierungsbedürftig
drücklich wiederholen, daß Frau Dr. Schwarzhaupt sind, so erwächst hier der künftigen Strukturpolitik
das, was sie in ihren Reden angekündigt hat, zum und uns eine große gemeinsame Aufgabe.
Anlaß einer persönlichen Initiative genommen und
beim Statistischen Bundesamt zum letzten Mikro- Inwieweit landwirtschaftliche Beratungsdienste
zensus angeregt hat, Erhebungen zu dem Thema vorhanden sind, welche Frauen im Durchschnitt da-
Frauenarbeit anzustellen, wobei die Erhebungen von erfaßt werden, inwieweit sie auch der Bevölke-
aufgegliedert werden sollen nach verheirateten und rung zur Verfügung stehen, die auf dem Lande lebt,
unverheirateten Frauen, nach deren Kinderzahl aber nicht in der Landwirtschaft arbeitet, ist eine
usw. Auch die Fragen des Gesundheitszustandes weitere Frage, die uns besonders interessiert.
und der Berufsschädigungen, die unsere Gesund-
So wichtig alle Maßnahmen zur Verbesserung der
heitsministerin besonders bewegen, werden in die-
ser Erhebung einen gewichtigen Platz haben. Agrarstruktur, der Flurbereinigung und Aussiedlung
auch sind, sie werden nur gemeistert werden, wenn
Meinen Freunden und mir liegt daran, in diesem unsere Familien auf dem Lande gesund bleiben und
Zusammenhang ein Problem anzusprechen, das wenn die Landfrau Zeit für ihre Familie findet. Auch
Müttern, Haushalten und Kliniken große Sorgen be- für die Landfrauen sind die von mir angesprochenen
reitet: mehr Arbeitsplätze für die Haushalte, mehr Fragen der intensiven Werbung von Arbeitskräften
Arbeitsplätze für Kinder- und Altenheime. Wir für die Mitarbeit in ländlichen Betrieben von lebens-
regen deshalb an, der Herr Bundesminister für wichtiger Bedeutung. Wir begrüßen die Pläne zur
Arbeit sowie die Bundesanstalt für Arbeitsvermitt- Aussiedlung und Aufstockung, die mit dazu bei-
lung und Arbeitslosenversicherung mögen dafür tragen werden, für die Frauen in der Innen- und
sorgen, daß aus dem Kreis der Gastarbeiterinnen Hauswirtschaft wesentliche Arbeitserleichterungen
mehr noch als bisher — ich weiß, daß bereits etwas zu schaffen.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3331 .

Frau Kalinke
Wenn ich auch nicht glaube, daß das, was die Förderung des freiwilligen sozialen Dienstes, diese
Kollegin Strobel gesagt hat, nämlich das Problem Gegenwartsprobleme zu bewältigen.
der Geschirrspülmaschine, das Gebot der Stunde ist
(Zuruf von der SPD.)
(Zurufe von der SPD)
— Die „Große Lösung" ist die, die wir gemeinsam
—ich weiß, daß Sie das vielleicht nicht so gemeint ablehnen, nämlich ein Pflichtjahr zu schaffen, das,
haben —, so glaube ich doch — und Sie werden wie Sie wissen, durchaus in der Diskussion vieler
mir wohl zustimmen —, daß die Elektrifizierung und Frauenverbände und auch vieler männlicher Auf-
die zentrale Wasserversorgung entscheidendere fassungen steht.
Voraussetzungen sind, mit deren Schaffung erst ein-
mal geholfen werden kann, das gesundheitsschädi- (Abg. Frau Korspeter: Sind das Lösungen?)
gende Tragen der schweren Wassereimer und die — Das wäre eine Lösung, wenn wir diese Auffas-
damit verbundene Belastung zu bekämpfen. Die sung hätten. Ich sagte deutlich, Frau Korspeter, daß
Benutzung manchen modernen Geräts ist ja über- wir gemeinsam den Zwang ablehnen und uns ge-
haupt erst möglich, wenn Wasserversorgung und meinsam für freiheitliche Impulse ausgesprochen
Elektrifizierung vorangegangen sind. Darin sind wir haben. Sie mögen es als positiv nehmen, daß wir in
mit Ihnen einig, daß solche Rationalisierungsmaß- dieser Gemeinsamkeit, der Freiheit zu dienen und
nahmen für die Haushalte in Stadt und Land in den Zwang abzuwehren, so einig sind. Es ist unser
Zukunft mehr als bisher gefördert werden müssen. aller Aufgabe, zu verhindern, daß durch die Doppel-
Der Ausbau der Bundesforschungsanstalt für die belastung unserer Frauen in Beruf und Haushalt,
Hauswirtschaft und die Vergrößerung der vorhan- die durch die vollbeschäftigte Wirtschaft ständig zu-
denen Abteilungen zwecks Vertiefung der Forschung nimmt, den Familien Schaden entsteht. Nur eine
sowohl auf sozialökonomischem wie auf technischem sehr vitale und überaus reich ausgestattete Natur
Gebiet gehören mit zu diesen Forderungen. wird diese große Doppelaufgabe meistern und in
In der Fragestellung des SPD-Antrags — das Wort befriedigender Weise vereinigen können.
werden Sie mir bitte nicht übelnehmen — ist unter- Wir sind in der CDU/CSU in voller Übereinstim-
stellt, daß die Beschäftigung der berufstätigen Frauen mung mit unseren männlichen Kollegen darum be-
immer zu einer Überbelastung führt. Das muß nicht müht, dieses Problem der Überbelastung der Frauen
unbedingt der Fall sein und wird für diejenigen bei tallen künftigen politischen Entscheidungen nicht
keine solche Rolle spielen, bei denen die Haushalts- nur in , der Sozialpolitik, sondern auch im Bereich
probleme gelöst sind. der Kulturpolitik vor Augen zu haben. Für die Fol-
(Abg. Frau Strobel: Das Wort „immer" ist gerungen brauchen wir aber nicht nur statistisches
falsch!) Material, .das nach finanziellen Leistungen in Durch-
schnittssätzen aufgemacht ist, sondern vertieftes
— Gut, dann sind wir ja einig. Hier kommt der statistisches Material, das uns mehr über den Men-
Mutter und Tante, kurzum dem Zusammenleben der schen und seine Situation aussagt. Darum wollen
Generationen, das in den Großstädten immer ge- wir, wie aus unserem Antrag hervorgeht — ich
ringer wird, auf dem Lande aber noch in erfreulicher wende mir erlauben, zum Protokoll die Einzelheiten
Weise vorhanden ist, die größte Bedeutung zu. hinzuzugeben *) —, eine vertiefte Statistik in allen
Bereichen der Sozial- und Gesundheitspolitik, die
Problematisch ist die Überbelastung — darin sind uns im Bereich der Krankenversicherung, der Ren-
wir uns einig — in all den Fällen, in denen die tenversicherung, vor allem aber der vielen Ge-
alleinstehende Frau und Mutter die Verantwortung sundheitsstatistiken mehr aussagt, als uns bisher zur
für eine unvollständige Familie trägt, in der sie Verfügungsteht. Wir legen besonderen Wert dar-
für heranwachsende Töchter und Söhne mitsorgt auf, daß die Ergebnisse aller der Untersuchungen
oder in denen die Frau allein den Betrieb führt oder und Analysen, die ich heute hier genannt habe, und
im Betrieb des Mannes mitarbeitet und die kleinen weitere Arbeiten, die die Bundesregierung bereits
Kinder, die der Hilfe der Mutter noch bedürfen, zu angeregt hat, über das Parlament der breiten Öffent-
kurz kommen. Dieses Problem werden wir mit lichkeit so bald wie möglich zur Kenntnisgegeben
schwedischen Modellfällen wahrscheinlich nicht zu wenden.
lösen in der Lage sein.
Frau Strobel wird, glaube ich, nach diesen Aus-
Manche Belastung der berufstätigen Frau und führungen gern die 'Behauptung zurücknehmen, daß
vieler hochqualifizierter Kräfte wäre geringer und — wie sie irrtümlich annahm — kein Mitglied der
manche Sorgen der Mütter und Ehefrauen wären Bundesregierung solche Untersuchungen jemals ver-
behoben, wenn das Problem der auch nur vorüber- anlaßt habe, und sie wird uns sicher in den weiteren
gehenden Hilfe gelöst wäre. Darum hoffen und er- Debatten gern bestätigen — draußen vor allen Din-
warten wir, daß gerade von unseren Anregungen, gen, nicht nur in diesem Hause —, wie weitschichtig
die wir auf diesem Gebiet durch die Gesetzes- und in wie großem Maße wir daran interessiert ge-
initiative gegeben haben, ein kräftiger Impuls für wesen sind, einer Situation gerecht zu werden; al l er-
die Bereitstellung vieler junger Kräfte ausgeht, die dings einer Situation, die wir — auch da stimme ich
in Haushalt, Familie und in Anstalten helfen sollen. Professor Schelsky zu — bei allen politischen und
sozialen Maßnahmen unvoreinigenommen sehen
Meine Fraktion hat daher die Initiative, die aus
wollen nach den Entwicklungstendenzen, die in un-
unseren Reihen gekommen ist, außerordentlich be-
grüßt, mit der, ich gebe zu: „Kleinen Lösung", einer *) Siehe Anlage 4 A
3332 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Frau Kalinke
serer Zeit reif sind für ein neues Umdenken und Frauen veranlassen, einer Erwerbstätigkeit auch
Bedenken. dann nachzugehen, wenn sie als Frau und Mutter
Es tut mir leid, daß ein Thema von Ihnen nicht durch die Beschäftigung im Haushalt voll ausge-
erwähnt worden ist, das ich nun anschneiden muß, lastet wären. Auch zu diesem Thema ist in den Ver-
die Frage der Teilzeitarbeit. Es würde die Debatte handlungen des Wissenschaftlichen 'Beirats beim
eines ganzen Tages füllen, und deshalib lassen Sie Bundesministerium für 'Familien- und Jugendfragen
mich nur sagen: unsere heutige Debatte kann nicht Wichtiges geplant, nämlich noch in diesem Jahr
allein den Zweck haben, mit Hilfe einer Stichprobe Ermittlungen über die
Lebenssituation von Frauen mit Kindern und Ju-
(Abg. Dr. Schäfer: Das ist Ihrer Aufmerk gendlichen anzustellen. Die Fraktion der CDU/CSU
samkeit entgangen!) begrüßt sehr die Befragung, die unter methodischer
— verzeihen Sie bitte! — die Vielschichtigkeit und Beratung seitens des Statistischen Bundesamtes von
Mehrwertigkeit unseres Themas zu beleuchten, s on- der Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher In-
dern sollte auch mögliche Lösungen aufzeigen. stitute durchgeführt werden soll.
Schließlich begrüßen wir die unter Punkt 6 des SPD-
Es ist kein Zweifel, daß bestimmte soziale Posi- Antrags gegebene Anregung, die Untersuchung der
tionen unid Grundeinstellungen, Verhaltensweisen Regierung auch auf Maßnahmen zu erstrecken, die
und Konstitutionen oftschwere Belastungen zur Fol- zur Bewältigung der durch die veränderte Situation
ge haben können. Aber Patentlösungen gibt e s we- geschaffenen Probleme geeignet sind. Ich hoffe, Sie
der mu t der Teilzditarbeit noch mit größeren Schutz-
sind überzeugt, daß die vielfältigen Anregungen,
vorschriften für alle Matter. Wenn Sie hier auf die aus den Reihen der Kabinettsmitglieder, aber
Herrn Professor Kirchhoff hingewiesen haben, so
auch der Beiräte bei den einzelnen Ministerien ge-
möchte ich nur an eines erinnern, an die sicher für
geben worden sind, deutlich machen, wie ernst es
uns alle hochinteressante Anhörung der Sachver-
den 'Regierungsparteien und der Bundesregierung
ständigen im Ausschuß für das 'Gesundheitswesen,
gerade um die Lösung all der Fragenkomplexe ist,
wo namhafte Professoren, besonders die Gynäkolo- die auch in unserem Änderungsantrag angespro-
gen, uns darüber belehrt haben, daß nicht alle Pro-
chen werden. Bei der Krankenversicherungsreform,
bleme, die uns Sorgen machen, nur mit Geld und
bei der Reform der Mutterschutzgesetzgebung und
nur mit längerer materieller Leistung zu lösen sind, bei der Novelle zur Rentenreform werden wir alle
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. diese Probleme zu bedenken haben.
Schäfer: War Ihnen das neu?) Ich kann meine Ausführungen nicht schließen,
daß die wichtigen Fragen der Vorsorge, die wichti- ohne noch ein Schlußwort zu den Fragen der Fami-
) gen Fragen, die wlir gerade bei der Fortsetzung der lienpolitik zu sagen. Wir stimmen Ihnen in dem
i n der Krankenversiche- sozialenRfrm,uch einen zu, daß wir eine Versachlichung der Dis-
rungsreform, aufgreifen werden, ein ganz besonde- kusssion brauchen, daß wir Unterlagen brauchen
res Gewicht haben. über die Tatbestände und Zusammenhänge, um Vor-
schläge für Verbesserungen machen zu können. Das
Schon in den Jahren 1953/54 hat — auch das
gilt nicht nur für die materielle Seite, für das Kin-
möge die Kollegin von der SPD noch besonders in-
dergeld, für Familienhilfeleistungen in der Sozial-
teressieren — das Bundesministerium für Arbeit
versicherung, Begünstigung im Steuerrecht, sondern
eine große Erhebung zu dem Thema „Möglichkeiten
das gilt auch für die Fortsetzung der Sozialpolitik
und Zweckmäßigkeiten der Einrichtung von Teilzeit-
bei allen familienpolitischen Entscheidungen, die wir
arbeit" eingeleitet, deren Ergebnis schon 1956 ver- - Übereinstimmung mit der geltenden Gesellschafts
in
öffentlicht worden ist. Von besonderem Aussage-
und Wirtschaftsordnung treffen wollen. Deshalb
wert werden alle diese Arbeiten sein, wenn sie uns
begrüßen wir den Wunsch des Familienministers,
einmal vorgelegt sind und wir Gelegenheit haben
eine Darstellung über alle diese Leistungen zu
werden, uns über .die Probleme, die gerade auch -
geben, damit einmal deutlich wird, in welch umfas-
bei 'der Aushilfsarbeit hinsichtlich der Abstimmung
sender Weise in der Bundesrepublik Deutschland die
der Freigrenzen eine Rolle spielen, zu unterhalten.
Belange der Familie schon berücksichtigt werden,
Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten möchte übrigens allein in der Krankenversicherung in einem
ich zu diesen Ausführungen noch einige Ergänzun- Maße, wie in keinem der sozialistisch regierten Län-
gen zu Protokoll geben *). der Vergleichbares nachzuweisen ist.
Das, was in Ihrem Antrag in den Punkten 4 und 5 (Beifall bei der CDU/CSU.)
sich mit vielen unserer Forderungen deckt, ist die Die Zusammenstellung sollte deshalb auch deutlich
Sorge um die Auswirkungen der außerhäuslichen machen, daß wirtschaftliche Hilfe bei uns in hohem
Erwerbsarbeit. Ich kann mit Rücksicht auf die be- Maße gegeben wird, daß darüber hinaus aber sicher-
grenzte Zeit, die uns zur Verfügung steht, nur sa- gestellt werden muß, daß die Eigenverantwortung
gen, daß es sich hier neben der wirtschaftlichen der Familie und der Wille zur Selbstverantwortung
Entwicklung aber auch um eine sehr subjektive auch im wirtschaftlichen Bereich nicht gegenstands-
Einstellung der Frauen zur Berufsarbeit handelt los wird. Eine Übersicht über alle diese Mittel wird
und daß es deshalb für die amtliche Statistik außer- diese unsere Auffassung bekräftigen.
ordentlich schwierig sein wird, Motive, Absichten
Es wäre auch zu begrüßen, wenn der Bundes-
und Meinungen, d. h. die Gründe zu erfahren, die die
finanzminister in seinem nächsten Finanzbericht das
*) Siehe Anlage 4 B Thema der Leistungen für die Familie mitbehandelte.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3333
Frau Kalinke
Da befinden wir uns sicher in voller Übereinstim- zu vermitteln und ihr Bewußtsein zu stärken, daß
mung. Die Fraktion der CDU/CSU legt Wert darauf, die jungen Menschen zu ihrem Teil an dem Bestand
die gesellschaftspolitische Bedeutung der Familie und dem Glück der Familie wie an der gesellschaft-
nicht nur durch materielle Leistungen für kinder- lichen Verantwortung teilhaben. Nur dann wird es
reiche Familien — das versteht sich für uns von gelingen, daß die große Prägekraft der Familie und
selbst —, sondern auch durch Hilfen zur Selbsthilfe ihre Funktion auch in bezug auf die Erziehung und
immer wieder zu unterstreichen. die wirksame Charakterbildung der Kinder differen-
zierter werden, aber keineswegs Schaden leiden.
Mögen diese Enquete und die heutige Beratung
Lassen Sie uns gemeinsam darum besorgt sein, daß
dazu beitragen, ein in der Offentlichkeit manchmal
der familiäre Bereich erhalten bleibt als ein Bereich
falsch gezeichnetes Bild unserer familienpolitischen
der Selbstbestimmung, der Selbsthilfe und der Selbst-
Leistungen in ihrer umfassenden Form in ein rich-
gestaltung, wie ihn Wurzbacher genannt hat.
tiges Licht zu rücken, und möge diese Debatte das
Interesse aller Frauen und ihrer Organisationen, Meine sehr verehrten Herren und Damen, ich
aber auch der Jugend, der Familien einschließlich habe Ihre Zeit wegen der Fülle der Probleme tüchtig
der Familienväter finden, denn ohne die Gesund- strapaziert. Aber ich weiß, daß Männer und Frauen
heit, Lebenskraft und Lebensleistung unserer Fami- in diesem Hause diese Frage als sehr wichtig an-
lien kann die große Arbeit des Wiederaufbaus, auch sehen und daß wir alle glücklich über das sind, was
im Hinblick auf unser nationales Anliegen der Wie- wir in 14 Jahren der Aufbauarbeit haben erreichen
dervereinigung, nicht gemeistert werden. können. Unsere Schwestern und Brüder im bedrohten
Teil unseres Vaterlandes haben nicht die Freiheit
Der Herr Präsident wird mir gestatten, daß ich in der Berufswahl und Berufsausübung.
meine Ausführungen zu dem Thema der Wohnungs-
stichprobe und der Wohnungsstatistik — wegen des Unsere Schwestern hinter der Willkürgrenze müs-
Zeitdrucks — mit zu Protokoll gebe ***). Uns liegt sen ihr Innerstes verleugnen und haben nicht die
mit unserem Zusatzantrag daran, daß die auf diesem Freiheit, sich für die Familie oder den Beruf oder
Gebiet so vorbildlich erfolgte Förderung des Woh- für beides freiwillig zu entscheiden. Sie sind ge-
nungsbaus mit den Leistungen für die Familien auch zwungen, ihre Freiheit den Forderungen des Staates
in Zukunft noch in der einen oder anderen Frage und der Einheitspartei zu opfern.
verbessert wird. Wir sollten als Teil der freien Welt dieser Ent-
Ob es vielen gefällt oder nicht, wir müssen von persönlichung und Entwürdigung der Jugend und
der Tatsache ausgehen, daß in der gesellschaftlichen Frauengeneration jetzt und in Zukunft entgegen-
Situation, in der wir leben, Frauen aller sozialen treten. Wir wollen für alle Deutschen Schutz und
Schichten berufstätig sind und auch in Zukunft be- Hilfe des Staates da gewähren, wo Hilfe not tut
rufstätig sein werden. Wir müssen gemeinsam for- — aber die freie Entscheidung und den Selbstver-
dern, daß jedes junge Mädchen einen Beruf erlernt, antwortungswillen stärken, da, wo die Hilfe der
damit es für die Wechselfälle des Lebens aus- Gemeinschaft nicht notwendig ist.
gerüstet ist. Daß möglichst zuvor, notfalls auch da- Die Fraktion der CDU/CSU schlägt Ihnen vor, den
neben die Ausbildung für Haushalt und Familie Antrag der Fraktion der SPD und den Zusatzantrag
nicht vernachlässigt wird, ist ein besonderes An- der Fraktion der CDU/CSU dem Ausschuß für
liegen, das wir im Interesse glücklicher Ehen und Jugend- und Familienfragen als federführendem Aus-
gesunder Familien fördern müssen. So werden sich schuß und dem Ausschuß für Arbeit zur Mitberatung
formende Kräfte der Berufswelt gegenüber der zu überweisen.
Familienprägung durchsetzen, was bei allen Indu- (Beifall bei der CDU/CSU.)
striestaaten als Zeichen der modernen Entwicklung
erkennbar ist, und es werden Ehe und Familie bei
einer guten Ausbildung für den Hauptberuf des jun-
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat Frau
Abgeordnete Kiep-Altenloh.
gen Mädchens nicht zu kurz kommen.
Der einmal von der Frauenbewegung erkämpfte, Frau Dr. Kiep-Altenloh (FDP) : Herr Präsident!
längst von der Verfassung gewährleistete, von der Meine Herren und Damen! Wir haben heute ein
modernen Wirtschaft mit ihrem großen Stellenange- Thema angeschnitten, das zweifellos von großer so-
bot geförderte Zugang zum Beruf schafft aber auch ziologischer und wirtschaftlicher Bedeutung ist,
für die Familie von morgen mehr Sicherheit. Die nämlich die Stellung der Frau in der heutigen Ge-
für einen Beruf ausgebildete und in einem Beruf sellschaft. Wenn ich mir aber die Ausführungen
erfahrene junge Frau ist bei einer Frühinvalidität meiner verehrten beiden Vorrednerinnen betrachte,
oder beim Verlust des Ehegatten besser in der Lage, diejenigen von Frau Strobel ebenso wie diejenigen
den Schicksalsschlägen für sich und ihre Familie von Frau Kalinke, so bin ich mir nicht klar, ob bei
Widerstand zu leisten. Wir brauchen nicht besorgt der Fülle der Forderungen, die hier erhoben worden
darum zu sein, daß die praktische Folge der beruf- sind, die Regierung mit der Beantwortung und Zu-
lichen und außerhäuslichen Tätigkeit etwa die häus- sammenstellung nicht überfordert worden ist, und
liche, mütterliche Aufgabe zu kurz kommen läßt, ich bin mir auch nicht klar darüber, ob diese Fragen
wenn wir alle gemeinsam darum bemüht sind, auch tatsächlich in die Tiefe derjenigen Probleme gehen,
dem jungen Mädchen eine gute Erziehung und eine die auf uns zukommen und die uns beschäftigen.
Ausbildung für ihre Aufgabe in Haus und Familie
Es kommt meiner Meinung nach nicht auf die
***) Siehe Anlage 4 C Breite des Mate rials an. Ich habe bei aller Gründ-
3334 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Frau Dr. Kiep-Altenloh
lichkeit der Ausführungen das Gefühl, daß man an leben entwickeln sollte. Aber wir müssen uns klar
der Vertiefung noch viel mehr tun kann, sich auf machen, daß dieses Gemeinschaftsleben, wie es frü-
Einzelfragen beschränken sollte, die zu der künf- her in der Dorfgemeinschaft und in einem gewissen
tigen Gesetzgebung gehören und beantwortet wer- Maße sogar in großen Mietshäusern und Stadtvier-
den müssen. teln vorhanden war, sich dort nicht entwickelt hat.
An diesen Dingen sollten wir nicht vorbeigehen.
Zweifellos sind diese beiden Anträge aus dem Wir sollten uns fragen, ob die Besetzung dieser
Gefühl entstanden, daß in der Situation der Frauen Zentren nicht richtig, nicht organisch genug ist oder
von heute irgend etwas nicht stimmt. Die Frauen woran es liegt.
sind zu einem erheblichen Teil nicht organisch ein-
geordnet in das soziologische und Wirtschaftsleben, Zum Teil — das ist allerdings eine ganz subjek-
wie wir es heute nun 'einmal haben. Man redet viel tive Auffassung — ist die große Vereinsamung und
von einer unbewältigten Vergangenheit. Hier könn- der Mangel an soziologischen Bindungen in der Ge-
te man vielleicht von einer unbewältigten Gegen- sellschaft durch das Auto begründet. Die Menschen
wart reden, die ihre Ursachen in der veränderten fahren als einzelne hinaus und bleiben in einer
Struktur des Frauendaseins hat, die Frau Kalinke anonymen Masse fremd. Meine persönliche Ansicht
in aller Ausführlichkeit dargelegt hat. ist also, daß das Auto, soziologisch gesehen, gesell-
schaftshemmend wirkt. Die Vereinsamung eines
Die Ursachen sind sehr differenziert und verschie- großen Teils der Frauen ist ja heute eines der Pro-
den. Ich zweifle daran, daß man mit statistischen bleme, die immer wieder auf uns zukommen.
Erhebungen all den Dingen auf Grund kommt und
daß man mit ihnen allein die Heilsmiaßnahmen fin- Bei Ihren Ausführungen, Frau Strobel, ist mir
.den kann. Trotzdem glaube ich, daß man die Dinge nicht ganz klargeworden, welches Leitbild Sie sich
angehen muß, und sie sind auch anzugehen. Ich nun vorstellen. Die Generation, die jünger ist als
möchte hier einmal zwei weitgespannte Bogen auf- ich, und auch ich haben mit großer Beglückung eine
zeigen. bessere Ausbildung erfahren und damit eine Berei-
cherung unseres Lebens für uns verbuchen dürfen.
Vor etwa einem Jahr veröffentlichte eine eng- Wenn wir nun eine qualifizierte Ausbildung für die
lische Zeitschrift eine Enquete, aus der die mich Frauen verlangen und erwarten — was ich für rich-
erschütternde Tatsache hervorging, daß die Nur tig halte —, können wir nicht gleichzeitig eine Ver-
Hausfrauen, auch wenn sie Kinder haben, mit ihrer kürzung der Arbeitszeit um jeden Preis verlangen;
Lebenssituation aufs tiefste unzufrieden sind und denn wenn Sie den Dingen auf den Grund gehen,
die berufstätigen Frauen beneiden. Eine entspre- werden Sie feststellen, daß gehobene Stellungen
chende Rundfrage, die dann eine deutsche Zeitschrift eine volle Arbeitszeit verlangen. Man kann eine ge-
veranstaltet hat, kam zu ähnlichen Resultaten, wenn hobene Stellung mit einer verkürzten Arbeitszeit
auch nicht in diesem hohen Prozentsatz. Das sollte nicht ausfüllen. Ich möchte das nur anführen, um zu
uns zu denken geben. Da ist irgend etwas falsch. zeigen, daß die Probleme so vielschichtig sind und
Denn es sollte nicht sein, daß ein so wichtiger Teil nicht so einfach gelöst werden können, wie es mit
der Frauen heute mit ihrer Lebenssituation unzu- einer verkürzten Arbeitszeit und einer besseren
frieden ist. Von da aber bis zu der über Gebühr be- Ausbildung der Fall zu sein scheint.
lasteten Kriegerwitwe oder Kriegermutter, denen
wir einen Teil der Bewältigung der Vergangenheit Wir müssen hier in die Tiefe gehen und einmal
aufgeladen haben, der über ihre Kräfte hinausgeht, fragen: Was können wir denn den Frauen zumuten?
ist eine unendliche Spanne und ein sehr weiter Weg. Wir, die wir etwas älter sind, haben für die Frauen
Auf diesem Weg liegt eine Fülle von Problemen. die Gleichberechtigung gefordert. Aber wir müssen
uns nun einmal ernsthaft fragen: Was können wir
Die Freie Demokratische Partei hat immer wieder ihnen zumuten?
darauf hingewiesen, daß die Bewältigung der Ver- -
Wenn wir diese Fragen anschneiden, müssen wir
gangenheit — ich wiederhole diesen Begriff, weil er
immer davon ausgehen, daß ein großer Teil des
heute ein Modewort geworden ist — diesen Krie-
Lebens einer Frau sich heute im Erwerbsleben ab-
gerfrauen und auch den Eltern der Kriegsgefallenen
spielt: vor der Ehe, zum Teil während der Ehe. Und
in einem unverantwortlich hohen Maß auferlegt
worden ist und daß in allererster Linie hier etwas jetzt kommt das große Problem: Wenn die Kinder
geschehen muß, damit die Allgemeinheit diesen aus dem Hause gegangen sind und erwachsen sind,
ist die Leere da. Da liegt der Knacks. Das sind die
Frauen ihre zu schwere Verantwortung etwas von
Dinge, die wir bei unseren Untersuchungen ins Auge
den Schultern nimmt. Ich denke nicht daran, daß
fassen müssen, soweit sie gesetzgeberischen Maß-
man hier durch materielle Maßnahmen etwas grund-
nahmen zugänglich sind.
legend ändern könnte.
Nicht alles läßt sich mit Gesetzen erledigen. Die
Ein zweiter weitgespannter Bogen: Da ist die Frau Schicksale werden auch in Zukunft persönlich ge-
in den modernen neuen Siedlungen außerhalb der tragen werden müssen. Wir werden auch durch noch
Städte. Ich habe mit vielen jungen Frauen gespro- so viele Erleichterungen dem einzelnen das Schicksal
chen, die dort in einem hübschen Zuhause leben nicht von der Schulter nehmen können. Wir können
und die, soweit sie früher im Beruf tätig waren, ein- nur die materiellen Voraussetzungen erleichtern.
fach Budenangst bekommen und weglaufen. Die
Architekten, die Städteplaner haben sich große Bei der Prüfung von Gesetzesvorlagen fehlen uns
Mühe gegeben, in diesen Vorstädten Zentren zu trotz dieses großen Straußes von Wünschen und
schaffen, in denen sich ein neues Gemeinschafts- Forderungen sehr häufig die einfachsten Voraus-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3335
Frau Dr. Kiep-Altenloh
setzungen, um eine Lage beurteilen zu können und wegen diese Frauen früher altern und für einen
das Gesetz so zu formen, wie es den Bedürfnissen Beruf untüchtig werden, in den sie doch zunächst
entspricht. mit Begeisterung hineingegangen sind.
Im Ausschuß für Gesundheitswesen wird augen- Ich bringe nur diese Beispiele, weil ich der An-
blicklich z. B. das Mutterschutzgesetz beraten. Bis sicht bin, daß wir uns, wenn wir wirklich etwas
heute weiß keiner, wieviel Arbeit einer Frau vor erreichen wollen, auf wenige Gebiete konzentrieren
der Entbindung zuträglich ist, welche Arbeit ihr zu- sollten. Verzeihen Sie, daß ich das sage. Aber ich
träglich ist oder ob ihr keine Arbeit zuträglich ist. glaube, die Fülle schafft uns keinen Erfolg. Hier
Das ist offen; man weiß es nicht. Man müßte gerade sind die psychologischen Voraussetzungen des Ar-
hierüber einmal konkrete Untersuchungen anstellen. beitsplatzes zu prüfen. Es sind aber auch die psycho-
Die Betriebsärzte haben zum Teil recht gutes Mate- logischen Voraussetzungen der Existenz dieser
rial. Aber es ist nicht breit genug. Man kann nicht Frauen, die altern, zu prüfen. Das gilt übrigens
sagen: Die Frau muß geschont werden. Es gibt auch für die Männer. Diese kommen ja auch mit
Therapien, bei denen sie gerade Bewegung braucht. ihrem Älterwerden aus verschiedenen Gründen nicht
Aber welche? Man kann auch nicht sagen, daß die zurecht. Hier könnte man ihnen vielleicht helfen.
nicht berufstätige Frau weniger Fehlgeburten habe
als die berufstätige. Das ist nicht erwiesen; man Die Rentenversicherungsreform wirft für die
weiß es nicht. Frauen eine Fülle sehr handgreiflicher Probleme
auf. Ich möchte immer wieder sagen: das Mehr ist
(Abg. Frau Dr. Hubert: Das wollen wir ja gar nicht so sehr das Entscheidende; entscheidend
feststellen!) sind das Wie und das Wann.
— Ja, ich komme darauf deswegen, weil ich in der Gerade heute morgen ist sehr oft Schelsky zitiert
Fülle der Dinge mehr gezielte Fragen gestellt sehen worden. In seinem Buch über die Situation der
möchte. Ich möchte mehr auf bestimmte Vorhaben Familie, das vor einigen Jahren erschienen ist, wird
zielen, die in der Zeit liegen oder gesetzlich vorbe- festgestellt, daß die Halbfamilie, also die Familie,
reitet werden. Gerade hier sollte man einmal viel in der die Mutter allein für die Kinder zu sorgen
tiefer gehen, als man es bisher getan hat. hat, ganz besonders gut zusammenhält, was als
Eine Frage, die uns ganz bestimmt beschäftigen großes Plus zu werten ist. Woran liegt das? Was
muß, ist die der Frühinvalidität der Frauen. Die können wir daraus für andere lernen? Wir sehen,
Frauen sind früher verbraucht. Wir haben die Alters- daß es sich nicht so sehr um die äußerlichen, die
grenze für den Bezug der Altersrente bei den Frauen materiellen Voraussetzungen handelt. Die sind in
auf 60 Jahre herabgesetzt. Auf der anderen Seite dieser Halbfamilie meistens nicht sehr goldig, und
werden aber die Frauen in der Regel sehr viel doch weist sie auf der anderen Seite soziologisch
älter als die Männer. Warum werden die Frauen so das eben erwähnte große Plus auf.
früh invalide? Die hier bestehenden Probleme sind Mich beschäftigt immer wieder die Frage, was wir
nicht einfach mit verkürzter Arbeitszeit zu lösen. auf dem Gebiete der Gesetzgebung in den nächsten
Hier sind ganz andere psychologische Voraussetzun- Monaten und vielleicht Jahren hier zu tun haben.
gen zu klären, die zu diesem unerhört raschen Ver- Es sind ja viele Sachen — die brodeln lange — zu
brauch führen. erwarten. Ich frage mich: Wie können wir die er-
Frauen brauchen eine Entspannung auch nicht erst forderlichen statistischen Unterlagen bekommen —
dann, wenn sie krank sind. Frauen brauchen eine ich zweifle daran, daß alles statistisch oder auch
Entspannung zur rechten Zeit, in der richtigen Weise selbst durch eine Enquete zu erfassen ist —, und
und in der richtigen Umgebung. Auch hier fehlen uns wie können wir tiefer in die psychologischen Vor-
genaue Unterlagen. Weshalb werden Frauen eigent- aussetzungen eindringen, auf denen die Schwierig-
lich früher invalide, wo sie doch an Jahren älter keiten beruhen?
werden und auch nicht siechen? Ich habe den Eindruck, bei Ihnen, Frau Strobel,
Ein Mangel ist auch, daß die Frauen nicht darüber fehlt das Leitbild der Frau. Wenn man bei diesem
unterrichtet werden, daß man sich mit den Beschwer- Leitbild erörtert, ob die Frau dauernd berufstätig
nissen, die das Alter nun einmal für jeden Menschen sein soll, kommt eine Fülle neuer Probleme hinzu,
mit sich bringt, abfinden, daß man mit ihnen fertig die nicht ohne weiteres zu bewältigen sind. Das ist
werden muß, daß das natürlich ist. Sie wissen ihre das Aussetzen im Beruf während der Entwicklung
Lebenssituation nicht zu meistern, und ihnen wird der Kinder, das bis zu einem gewissen Grade nötig
hier auch nicht in Form von Beratungen geholfen. isst; das ist bei der neuen Entwicklung in den Wis-
Gerade hier sollte man mehr in die Tiefe gehen, senschaften das Zurückbleiben gerade in den ge-
und zwar in die psychologische Tiefe, um diese Vor- hobenen Berufen. Diesen Problemen muß man ein-
aussetzungen einmal zu klären; denn hier liegt nicht mal nachgehen. Man kann sie nicht einfach mit
nur ein soziologisches Problem vor. Die Frauen, die Worten wie „Halbtagsarbeit" und „gute Ausbildung
nachher doch wieder vereinsamt sind und Zuflucht der Mädchen" abtun.
in einem Altersheim suchen, für das sie zunächst Andererseits sagt Frau Kalinke: Die Frauen müs-
nicht alt genug sind, und die dann dort auch in der sen ausgebildet werden, um Durststrecken überwin-
Regel nicht glücklich sind, sind jene, die mit der den zu können. Was ist das nun wieder? Ist das
Lebenssituation, die sich aus dem Altern ergibt, eine notwendige, primitive Ausbildung, die ein
nicht fertig werden. Hier sollte man auf psycholo- Lebensminimum garantiert? Oder ist das eine Aus-
gischer Grundlage tiefergehend erforschen, wes- bildung, die 'einen Lebensraum erfüllt?
3336 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Frau Dr. Kiep-Altenloh
Wir sind der Ansicht, daß diese beiden Vorlagen — Federführend soll der Ausschuß für Familien-
im Ausschuß für Familien- und Jugendfragen und und Jugendfragen sein. Das Haus ist damit einver-
im Arbeitsausschuß eingehend behandelt werden standen? — Es ist so beschlossen.
sollten. Ich möchte vorschlagen, daß man aus der
Meine Damen und Herren, die Fraktionen haben
Fülle der Wünsche, die hier vorgebracht sind, die- verabredet, daß wir jetzt die Pause eintreten las-
jenigen auswählt, die genau auf die Fragen zielen, sen sollen. Wann wollen wir wieder zusammenkom-
die wir gesetzlich regeln sollen. Es kann doch nicht men? Um 14 Uhr?
darauf ankommen, daß wir ein Buch „Die Frau von
der Wiege bis zur Bahre in allen Lebenslagen" ver- (Zustimmung.)
öffentlichen. Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr.
(Heiterkeit.)
(Unterbrechung der Sitzung von 12.30 bis
Das ist nicht der Sinn der Arbeit eines Parlaments.
14.02 Uhr.)
Unsere Aufgabe ist es doch, gute Gesetze zu ma-
chen, die auf Grund tiefer Erkenntnisse die äußeren
Voraussetzungen richtig ordnen, wobei nicht nur Vizepräsident Dr. Schmid: Wir fahren in der
das Mehr, sondern auch das Wie von Bedeutung unterbrochenen Sitzung 'fort.
ist. Das möchte ich immer wieder unterstreichen.
Bei dieser Fülle kann e s auch nicht darauf ankom- Ich rufe Punkt 4 a auf:
men, aufzuzeigen, wie herrlich weit wir es ge- Beratung des Berichts der Bundesregierung
bracht und was alles wir .schon getan haben. Wir über die Wirtschaftsentwicklung im Jahre
haben es gar nicht herrlich weit gebracht. In ganz 1962 und die Aussichten für 1963 (Drucksache
wesentlichen Punkten tappen wir im dunkeln, selbst IV/1010).
in so iwesentlichen Fragen wie der, warum eine
Frau eigentlich früher invalide wird, wenn sie doch Das Wort hat der Herr Bundesminister Dr. Erhard.
so viel älter wird. Es kommt also wirklich nicht
darauf an, eine Fülle von Problemen zu untersu- Dr. Dr. h. c. Erhard, Bundesminister für Wirt-
chen. Aus diesem Grunde habe ich diese Beispiele schaft: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
gebracht. Bevor ich zu .dem Wirtschaftsbericht selbst spreche,
Nach meiner Meinung wird es darauf ankommen, möchte ich etwas zu dem Problem Berlin sagen, weil
daß wir einige gezielte Fragen gründlich vorprüfen die Nichteinbeziehung Berlins im Wirtschaftsbericht
lassen, um dann Gesetze zu machen, die wirklich eine kritische Würdigung erfahren hat.
) den Gegebenheiten der Zeit entsprechen.
Im Wdrtschaftslbenicht wird darauf hingewiesen,
(Beifall bei der FDP.) daß Westberlin bei den statistischen Angaben nicht
Wir müssen uns klar darüber werden, daß der Pro- berücksichtigt ist. So heißt es in der Anmerkung zu
bleme viele sind. Man sollte auch auf anderen Ebe- Ziffer 6:
nen einmal die schiefe Situation der jungen Frauen Die in , diesem Bericht enthaltenen Zahlen bezie-
überprüfen, die, wie gesagt, in ihren Siedlungen h en sich — soweit nichts anderes vermerkt ist
sitzen und Budenangst bekommen. Aber, meine — auf das Bundesgebiet einischließlich Saar-
Herren und Damen Kollegen, das ist nicht Aufgabe land, ohne Berlin (West).
eines Parlaments. Wir wollen \uns einmal ganz klar-
machen: wir sind dazu da, gute Gesetze zu machen, Die Nichteinbeziehung von Westberlin in dieser
die das Leben in seinen äußeren Voraussetzungen Form ist üblich, seitdem es eine Statistik für die
und in den Bildungsvoraussetzungen erleichtern — Bundesrepublik gibt. In der volkswirtschaftlichen
das letztere mit den Ländern zusammen. Darauf Gesamtrechnung dies Statistischen Bundesamtes und
wollen wir uns konzentrieren, damit nicht das der Deutschen Bunldesbank ist Westberlin nicht ent-
Ganzels.igroßSchwunetzlimPapr- halten. Das .gleiche gilt auch für Wandere Wirtschafts-
korb landet. statistiken. Da der Wirtschaftsbericht auf diesen
Unterlagen .aufbauenmußte, war es bei der zur
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten Verfügung stehenden Zeit nicht möglich, Westberlin
der CDU/CSU.) einzuberziehen. Historisch geht dieser Modus darauf
zurück, daß die Ergebnisse der volkswirtschaftlichen
Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und Gesamtrechnung in der ersten Nachkriegszeit haupt-
Herren, für die Weiterbehandlung der Sache schlage sächlich für die Berichterstattung an internationale
ich vor, \daß wir nicht über die Änderungsanträge Organisationen wie auch für die Berechnung der
abstimmen, sondern daß wir beide Vorlagen an den Manshlpifedt.Hragseim
Ausschuß überweisen. Ich glaube, das wird einfacher Interesse Westberlins, gesondert ausgewiesen zu
sein. werden.
(Zustimmung.) Die Diskussion über den Wirtschaftsbericht hat zu
grotesken Behauptungen geführt, so z. B. in .SED-
Nun die Ausschüsse! In Betracht kommen der Zeitungen, man neige dazu, „Berlin aus der Bundes-
Ausschuß für Familien- und Jugendfragen und der republik auszuklammern". Ich glaube, daß ich nicht
Ausschuß für Arbeit. ausdrücklich darauf hinzuweisen brauche, um wel-
(Abg. Stingl: Ausschuß für Familien- und chen schreienden Unsinn und Unfug essich dabei
Jugenidfragen federführend!) handelt.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3337
Bundesminister Dr. Dr. h. c. Erhard
Es ist nur aus der Situation der letzten Wochen samte Arbeitsvolumen, d. h. Beschäftigte mal Ar
zu verstehen, daß bei der Vorlage des Wirtschafts- beitszeit, zurückgehen, und zwar wäre dann mit
berichtes etwas kritisiert wurde, was in Dutzenden einem Rückgang dieses Arbeitsvolumens um etwa
von Veröffentlichungen der Bundesbank, des Stati- 1 % zu rechnen. Aber das wäre das erstemal seit
stischen Bundesamtes, im Statistischen Jahrbuch und dem Jahre 1948.
auch in anderen öffentlichen Verlautbarungen ge- Nun, selbst ohne die Kunst des Vorhersehens
nauso formuliert wurde. Wir haben uns zwangs- übermäßig in Anspruch nehmen zu müssen, läßt sich
läufig an die gleiche Formulierung halten müssen, doch feststellen, daß mit dieser Zäsur in unserem
wie sie üblicherweise gebraucht wird. Arbeitskräftepotential tatsächlich eine neue Seite
Dennoch gebe ich zu, daß es nicht gerade eine unserer Wirtschaftspolitik aufgeschlagen wird. In
stilistische Meisterleistung war, auf Seite 26 der allen vergangenen Jahren konnten wir es hinneh-
Drucksache Berlin in die Rubrik „übrige Welt" ein- men, daß die Ansprüche an unsere Volkswirtschaft,
zubeziehen. Aber auch das hat seine Ursache. Die- sei es aus staatlichem Verbrauch oder staatlichen
ser Begriff hat sich seit vielen Jahren eingebürgert, Investitionen, privatem Verbrauch, privaten Investi-
um statistisch deutlich zu machen, daß die Sowjet- tionen oder sei es von der Auslandsnachfrage, das
zone eben nicht „Ausland" ist. Aus diesen statisti- jeweils aktuelle Angebot an Gütern und Dienst-
schen Gründen mußte eben jene Behandlung Platz leistungen oft sogar erheblich überstiegen. Denn
greifen. dadurch wurde in erster Linie die Zahl der Arbeits-
losen vermindert, ja sogar beseitigt. Es gelang die
Ich habe indessen dieses Vorkommnis dazu be-
Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge in
nutzt, um sofort Beratungen zu veranlassen, in
unsere Volkswirtschaft; der Ausbau der Kapazitäten
denen überprüft werden soll, ob nicht in möglichst
wurde gefördert, kurz: das Leistungspotential ver-
kurzer Zeit die Statistik für Berlin in die Statistik
größert, das öffentliche Leben wieder auf gesunde
der Bundesrepublik eingebaut werden kann; dann
Bahnen gebracht.
wird in den nächsten Vorlagen dieser Art auch
Westberlin enthalten sein. Die Beratungen sind im Erst in zweiter Linie führte der Nachfrageüberhang
Gange. Ich möchte gleich dazu sagen: es ist nicht neben der raschen realen Expansion zu einer ge-
beabsichtigt, die Arbeit des Statistischen Amtes in wissen, aber im internationalen Maßstab gemessen
Berlin dadurch zu beschränken. Ich glaubte, diese nicht allzu beunruhigenden Verschlechterung der
Frage vorwegnehmen zu sollen; denn in bezug auf Kaufkraft des Geldes. Von jetzt ab aber, meine sehr
die Verantwortung für Westberlin kann es zwi- verehrten Damen und Herren, wird ein Überhang
schen uns über alle Parteien hinweg keine Diskus- der Nachfrage über das Leistungsangebot in erster
sion geben. Linie die Preise in die Höhe treiben, weil die
Chancen der realen Ausweitung inzwischen an die I
Nun komme ich zum Wirtschaftsbericht selbst. Ich
schon beschriebenen engeren Grenzen gestoßen sind.
würde Wert darauf legen, diese Aussprache rein
Zur Vermeidung einer schleichenden Inflation wer-
sachlich und ohne Polemik zu führen; denn hier
den wir also die an das Sozialprodukt gestellten
handelt es sich um eine Sache, die uns alle angeht.
Ansprüche sehr viel sorgfältiger mit dem Leistungs-
Wir tragen eine gemeinsame Verantwortung für die
vermögen in Übereinstimmung bringen müssen. In
Erhaltung,füdieScs unfürieglck-
dieser Aufgabe liegt ein gut Stück künftiger Wirt-
liche Fortentwicklung der Konjunktur, die das fast
schaftspolitik.
magische Dreieck Vollbeschäftigung-Wachstum-Sta-
bilität nicht 'auseinanderreißt. Bisher konnten wir uns in der Konjunkturpolitik
fast ausschließlich auf die Geld- und Kreditpolitik
Der dem Bundestag Ende Februar vorgelegte
und die Handelspolitik stützen. Bei einem Übermaß
Wirtschaftsbericht der Bundesregierung macht in
der Gesamtnachfrage, der das Leistungspotential
gewisser Hinsicht eine Zäsur in unserer wirtschaft- unserer Volkswirtschaft nicht rasch genug folgen
lichen Entwicklung deutlich. Denn nachdem bis da-- konnte, wurde durch eine Verknappung und Ver-
hin Jahre stetigen und zum Teil ungewöhnlich star-
teuerung des Kredits die weitere Aufblähung der
ken Aufschwunges und Wachstums zu verzeichnen
Nachfrage gezügelt und das Angebot durch die
— und möglich — waren, stehen wir heute vor
erleichterten Einfuhren — ich denke nur an die
einem wirtschaftlichen Datum von größter Bedeu-
Liberalisierung oder an die zollpolitischen Maßnah-
tung. Das ist der Faktor der menschlichen Arbeits-
men der Bundesregierung, die von diesem Hohen
kraft, der der wirtschaftlichen Entwicklung und Ex-
Hause beschlossen wurden — vergrößert.
pansion zwangsläufig sehr viel engere Grenzen
setzt. Von 1950 bis 1960 z. B. verzeichneten wir Beide Instrumente stehen uns nicht mehr oder
eine Zunahme der Erwerbsbevölkerung von rund nur noch sehr bedingt zur Verfügung; denn im
25 °/o, während von 1960 bis 1970 auf Grund des Herbst 1960 mußte die Bundesbank ihre restriktive
Altersaufbaues unserer Bevölkerung und der ver- Politik wegen der phantastischen Überschüsse in der
hinderten Zuwanderung aus der Sowjetischen Besat- Zahlungsbilanz aufgeben, obwohl die innere Situa-
zungszone nur noch 3 bis höchstens 5 °/o anzuneh- tion weiterhin eine Politik des knappen und teuren
men sind. Dieser Wechsel macht sich ziemlich ab- Geldes verlangte. Auch heute gestattet die Situation
rupt im Jahre 1963 bemerkbar, wie es auch im unserer Zahlungsbilanz in einer Welt fast unbe-
Wirtschaftsbericht in Ziffer 25 näher beschrieben hinderter Freizügigkeit des Geld- und Kapitalver-
ist. Geht nun die Arbeitszeit entsprechend den schon kehrs über die nationalen Grenzen hinaus keine
beschlossenen und den erst beabsichtigten Verträ- betont restriktive Politik der Notenbank, wenn wir
gen zurück, so wird im Jahre 1963 , erstmalig das ge- nicht dem internationalen Währungssystem neue
3338 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Bundesminister Dr. Dr. h. c. Erhard


Spannungen zufügen wollen. Mit diesem Thema Es ist ja bekannt, daß ich für die Denkweise, der
beschäftigt sich ja die ganze wissenschaftliche Welt, man heute so oft begegnet, nämlich durch eine Pro-
und es gibt bereits viele Pläne, die sie mit der grammierung, durch eine Planifikation usw. die
Besserung der unzureichenden intervalutaren Ordnung in einer Volkswirtschaft aufrechtzuerhal-
Ordnung befaßt. ten, nicht allzuviel Verständnis aufbringe. Ich glaube
aber, über diesen Gegenstand werden wir uns noch
In unserer Handelspolitik und besonders in unse- gesondert unterhalten müssen.
rer Zollpolitik sind wir durch den EWG-Vertrag in
der Entscheidungsfreiheit beengt. Wir sind nament- Ich darf weiter hinzufügen: Wenn wir den Wirt-
lich nicht mehr in der Lage, die Einfuhr aus Ländern schaftsbericht weiter ausbauten, etwa im 'Sinne
außerhalb der EWG durch autonome Zollsenkungen eines Nationalbudgets, dann würde das in letzter
zu erleichtern. Obwohl diese Beschränkungen unse- Konsequenz bedeuten, daß wir alle, in welchen
rer Bewegungsfreiheit und Entscheidungsfreiheit Gruppen auch immer, sehr bald der wirtschaftlichen
manchmal unbequem sind und den internen Bedürf- Freizügigkeit verlustig gehen müßten. Machten wir
nissen wirtschaftspolitischen Handelns widerspre- also einen solchen Versuch, so würden wir einen
chen, bin ich natürlich doch glücklich über die Libe- politischen Kampf aller Gruppen gegen alle ins
ralität im internationalen Handels- und Zahlungs- Werk setzen. Es fehlt aber Gott sei Dank der abso-
verkehr, die es den Gütern und Dienstleistungen lute Staat, der Ordnung in das Getümmel der kol-
ebenso wie dem Geld und Kapital gestattet, fast un- lektiven Marktmächte — beinahe möchte ich sagen,
behindert die nationalen Grenzen in beiden Rich- der Feudalmächte — bringen könnte. Zwar sehe ich
tungen zu überschreiten. Das ist die ökonomische eine wirtschaftspolitische Aufgabe in der Gewähr-
Entsprechung und Basis für die politische Zusam- leistung wirtschaftlicher Expansion unter Bedingun-
menarbeit der westlichen Welt. Im übrigen haben gen der Stabilität, d. h. in der Bestimmung des
sich große Inflationen regelmäßig nur hinter dem optimalen Gesamtvolumens wirtschaftlicher Aktivi-
Schutzwall von Handels- und Devisenrestriktionen tät; denn dieses stellt sich nicht von allein ein.
entfalten können oder, was beinahe auf das gleiche Arbeitslosigkeit und — umgekehrt — eine Über-
hinausläuft, unter dem Schutz des verfallenden beanspruchung der Ressourcen mit darauffolgen-
Außenwerts der Währung, wie in der großen Infla- der Geldentwertung zu vermeiden, ist der Wirt-
tion nach dem ersten Weltkrieg. schaftspolitik, der Konjunkturpolitik, ständig aufge-
geben. Wie sich aber innerhalb des Gesamtvolu-
Sind aber nun die alten Instrumente für unsere mens der so determinierten Aktivität die einzelnen
internen konjunkturpolitischen Bedürfnisse nicht Branchen entwickeln und welches die Lohnrelatio-
mehr oder nicht unter allen Bedingungen und jeden- nen zwischen den Beschäftigten sein werden, hat
falls in der augenblicklichen Situation nicht anzu- der Wettbewerb, wenn auch manchmal der Wettbe-
wenden, so gilt es, den Quellen der Nachfrage und werb zwischen Kollektiven, zu entscheiden. An den
Übernachfrage im einzelnen nachzuspüren und die Ergebnissen oder an den Entwicklungstendenzen
Gesamtnachfrage mit dem Leistungsangebot in Über- können dabei gelegentlich durchaus Korrekturen
einstimmung zu bringen. In seinem analytischen gemacht werden, beispielsweise in Form von Über-
Teil, dem Bericht über das Jahr 1962, und der gangshilfen verschiedenster Art, sei es für die Un-
Voraussage für das Jahr 1963 deckt der Wirtschafts- ternehmungen, sei es für die Arbeitnehmer, wie es
bericht die Quellen der Übernachfrage auf. z. B. im Bergbau, in der Landwirtschaft, für einige
Landstriche der Bundesrepublik oder auch durch
Die Vorausschau auf das Jahr 1963 ist kein Wirt-
Maßnahmen zur besseren Vermögensstreuung und
schaftsprogramm, auch kein Wunschbild, sondern
durch den ganzen Komplex der sekundären Ein-
ein Bild der Entwicklung, wie sie auf Grund der
kommensverteilung über die Steuer, Sozialversiche-
gegenwärtigen Tendenzen und wirkenden Kräfte
rung oder auch das Kindergeld geschieht.
eintreten wird — jetzt kommt der entscheidende
-
Satz —, wenn nichts Weiteres an wirtschaftspoliti- Der Wirtschaftsbericht zeigt in seiner Vorschau
scher Aktivität geschieht. Es wurde mit Hilfe aller auf 1963, daß die Entwicklung ohne weitere wirt-
Kenntnisse und Erkenntnisse der volkswirtschaft schaftspolitische Aktivität in diesem Jahre nicht
lichen Gesamtrechnung in einem interministeriellen ganz 'befriedigend verlaufen wird. Nach wie vor
Arbeitskreis unter dem Vorsitz des Präsidenten des wird ein Übermaß der Nachfrage über das mögliche
Statistischen Bundesamts entworfen. Angebot an Gütern und Diensten zu einer Auf-
wärtsbewegung der Preise führen.
Diese Vorausschau auf 1963 ist gewissermaßen ein
quantifiziertes Vorausdenken, das behilflich sein Allerdings schäumen nicht alle Quellen der Nach-
soll, zu erkennen, wo und wie die Wirtschaftspolitik frage über. Die privaten Investitionen sind sogar
agieren muß, um eine befriedigende Fortentwick- recht gedämpft, und von unserem Außenwirtschafts-
lung zu erreichen. Die Vorausschau soll Maßstäbe verkehr, der so lange zur Übersteigerung der Ge-
für das wirtschaftspolitische Handeln vermitteln. samtnachfrage beitrug, gehen für das Preisniveau
stabilisierende Einflüsse aus. Schon ausdiesem
Der Wirtschaftsbericht ist kein Vorläufer einer Grunde wäre es falsch, mit den bislang verwende-
systematischen Programmierung der Wirtschaftsent- ten Instrumenten der Konjunkturpolitik, der Geld-
wicklung, nach Branchen aufgegliedert, und einer und Kreditpolitik und der Außenhandelspolitik, zu
vorbestimmten Aufteilung des Volkseinkommens operieren, selbst wenn wir das könnten. Die ge-
nach Wirtschaftsfunktionen und Gruppen der Be- werbliche Wirtschaft erlitte dadurch nur eine wei-
völkerung. tere Erschwerung der ohnedies geringer geworde-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3339
Bundesminister Dr. Dr. h. c. Erhard
nen Investitionsneigung und beengten Finanzie- und die Diskussion auf diesen Teil geworfen haben,
rungsmöglichkeiten für neue Investitionen. und der sachliche, objektive Ausgangspunkt vor
Die Quellen der Übernachfrage im Jahre 1963 allen Dingen auch für diese Beratung wäre zu kurz
sind vielmehr in erster Linie die öffentlichen Aus- gekommen oder seine Erörterung überhaupt ver-
gaben und hier vornehmlich die Bauausgaben der hindert worden. Der Bundesregierung lag an einer
über 25 000 „öffentlichen Hände" in der Bundesre- durch den Bericht zu fördernden Versachlichung der
publik. wirtschaftspolitischen Diskussion in diesem Hohen
(Beifall bei der CDU/CSU.) Hause, die der Beschlußfassung über konkrete Maß-
nahmen vorangestellt werden sollte.
In zweiter Linie, aber unübersehbar, ist es die vor-
wiegend, nicht ausschließlich aus der immer noch zu Was im Bericht in der Vorausschau auf 1963 ge-
starken Aufwärtsbewegung der Löhne und Gehälter sagt wurde, basiert auf Daten, die Ende 1962 be-
abgeleitete Verbrauchernachfrage. kannt waren. Aber das tim Bericht gegebene Bild
braucht auch jetzt, vier Monate später, nicht korri-
Meine Damen und Herren, wer der Meinung ist, giert zu werden. Vielleicht, daß der lange und stren-
daß die Bauausgaben der öffentlichen Hand preis- ge Winter mit idem eher noch schnelleren, 'als im
politisch neutral seien, weil sie ja, sehr zu meinem Bericht angenommenen Steigen der Staatsausgaben
Mißvergnügen, fast völlig über die ordentlichen gewisse Modifikationen bringen wird. Vielleicht
Haushalte gedeckt würden und somit keine Wirkung wird auch die Außenhandelsbilanz ein wenig gün-
auf das Preisniveau und auf den Wirtschaftsablauf stiger abschließen, nachdem unsere Unternehmer bei
ausüben könnten, befindet sich völlig im Irrtum. Im der ruhigeren Absatzlage .auf dem heimischen Markt
Gegenteil, diese Methode hat dazu geführt, daß ihre Aufmerksamkeit mehr den Auslandsmärkten
eine völlige Verzerrung in der Volkswirtschaft ein- zu Widmen scheinen. Das nicht voll befriedigende
getreten ist und danach ganz unterschiedliche Kon- Bild für 1963 wird durch diese möglichen Modifika-
junkturen in den einzelnen Bereichen vorliegen. tionen indessen nicht verändert.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Die reale Zuwachsrate des Sazialprodukts wird
Diese .Massierungen der Nachfrage, die auf solche unter der Annahme der Arbeitszeitverkürzungen,
Weise in der Bauwirtschaft, im Ausbaugewerbe und wie sie schon beschlossen sind oder zur Diskussion
dergleichen mehr zustande kommen, pflanzen sich stehen, etwa 3/2 Prozent sein. Die Nachfrage insge-
dann auf andere Wirtschaftszweige fort. Sie werden samt wild hingegen — wenn nichts geschieht,
Maßstäbe und Begründungen für weitere Forderun- wohlgemerkt — um 6 % .steigen. Aber es sind, wie
gen, sei es in bezug auf Preiserhöhungen, sei es in schongesagt, ausschließlich die Ausgaben aller
bezug auf weitere Forderungen von seiten der öffentlichen Haushalte und die privaten Ausgaben,
Arbeitnehmer. die die Nachfrage insgesamt auf dieses das Lei-
stungspotential übersteigende Niveau hinauftrei-
Diesen beiden Quellen der insgesamt noch über- ben: die öffentlichen Ausgaben mit einer Zuwachs-
mäßigen Nachfrage gelten die Leitlinien des Wirt- rate von etwa 9 %, der private Verbrauch mit einer
schaftsberichts, die Maßstäbe für das Verhalten solchen von 6 %.
geben, aber selbst noch keine konkreten Maßnah-
men der Bundesregierung enthalten. Auch hier hat Wollen wir indessen die Stabilität der Kaufkraft,
die Kritik eingesetzt. Man hat fast mit dem Hinweis dann muß die Nachfrage .an diesen beiden Quellen
darauf, wie viele Zeilen den einzelnen Partnern beschränkt der , das Angebot durch eine Verschie-
gewidmet sind, nachzuweisen versucht, daß wir un- bung von Arbeitszeitverkürzungen erhöht werden,
sere Gunst oder unsere Kritik sehr einseitig ver- so wie ,die Tarifpartner ides Baugewerbes es schon
teilten. Meine Damen und Herren, hätten wir den getan haben. Die Eindämmung der öffentlichen
Wirtschaftsbericht etwa vor zwei Jahren vorlegen Ausgaben 'insbesondere der Ausgaben für Bauten,
müssen, dann hätten wir zum Beispiel über die ist die vordringlichste Aufgabe. Trotz aller Rück-
Gewinnsituation in den Unternehmungen sicher ein schläge — ich denke nur an das Schicksal des Bun-
ganz anderes und auch kritisches Urteil abzugeben deshaushalts 1963 — sollten die über 25 000 öffent-
gehabt. Aber gerade in dieser Beziehung haben sich lichen Haushalte 'einen neuen Versuch machen, we-
die Verhältnisse wesentlich gewandelt. Wie schon niger auszugeben, als die Finanzierungsmöglichkei-
gesagt, am Wirtschaftsbericht ist diese Abstinenz ten es an sich erlauben.
der Bundesregierung und auch des Bundeswirt- Vielleicht ist es von Regierungen, Parlamenten
schaftsministers kritisiert worden. Mit Bedacht je- und Haushaltsverwaltern mehr verlangt, .als sie lei-
doch enthält der Wirtschaftsbericht keine konkreten sten können, wenn sie sich trotz vorhandener Fi-
Vorschläge. Er sollte mit seiner Darstellung der nanzierungsmöglichkeiten der sogar einer gewis-
Situation und der Ursachen für die nicht voll befrie- sen Kassenfülle bescheiden sollen. Wer wollte die
digende Vorausschau für das Jahr 1963 wirken. Nützlichkeit der von Regierungen Oder Parlamenten
Soweit ich sehen kann, ist dieser Teil des Berichts beschlossenen Ausgaben imeinzelnen 'bezweifeln?
auch nicht angegriffen worden, was zu der Hoffnung Aber wenn die Leichtigkeit der Finanzierung nur
berechtigt, daß auch in diesem Hohen Hause keine der Ausdruck einer gewissen inflationistischen
Meinungsunterschiede über die Beurteilung der Euphorie ist,dann 'schadet das Übermaß der Ge-
Situation und der näheren Zukunftsaussichten be- samtheit.
stehen. Hätte der Bericht mit der Empfehlung kon- Meine Damen und Herren, Schiller sagt einmal in
kreter Maßnahmen der Bundesregierung abgeschlos- „Wallenstein": „Der Krieg ernährt den Krieg". Ich
sen, so würden sich die politischen Leidenschaften glaube, das kann man ohne weiteres auch dahin
3340 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Bundesminister Dr. Dr. h. c. Erhard


Übersetzen: „Die Inflation ernährt die Inflation". nisbildung von 1950 bis 1962. Mein früherer Kollege
Dadurch kommt es zustande, daß die armen Finanz- Finanzminister Etzel hat einmal im Jahre 1958
minist er a m Schluß eines Hauslhaltsjahres immer darauf hingewiesen, daß es eine glückliche Relation
vor der Sachlage standen, daß die von diesem Hause zu sein scheint, wenn der Staat, die Unternehmen
beschlossenen Mehrausgaben, für die scheinbar und die privaten Haushalte mit rund je einem Drit-
kleine Deckung vorhanden war, darm schließlich doch tel an der Vermögensbildung teilhaben. Leider
gedeckt werden konnten. Ja, meine Damen und haben sich die Verhältnisse grundlegend gewandelt.
Herren, sie konnten gedeckt werden auf Grund Der im Jahre 1958 ausgewiesene 32,7 %ige Anteil
einer Finanzpolitik und lauf Grund einer Ausgaben- des Staates, im weitesten Umfang der öffentlichen
politik, die eben (doch eine sehr kritische Beurtei- Hand, ist inzwischen auf 48,2 % gestiegen.
lung verdienen. Lassen Sie mich Ihnen einmal das ganze Bild
(Abg. Dr. Deist: Das wind sich ja nun dem zeigen. Im Jahre 1950 hat der Anteil des Staates an
nächst alles ändern! — Heiterkdit.) der Vermögensbildung 28,9 % betragen. Jetzt be-
trägt er, wie gesagt, 48,2 %, also 20 % mehr. Der
— Das habe ich nicht behauptet. Im übrigen stehe Anteil der Unternehmen an der Vermögensbildung
ich hier als Wirtschaftsminister — um hier gar kei- betrug im Jahre 1950 aus uns bekannten Gründen,
nen Zweifel aufkommen zu lassen! aus der seinerzeitigen währungspolitischen Situation
(Heiterkeit.) 38,9 %. Er hat sich im Jahre 1962 auf 21,7 % ermä-
Der Bundeskanzler hat i n seiner Erklärung vom ßigt. Die privaten Haushalte haben ihren Anteil in
9. Oktober 1962 vor dem Bundestag die Verantwor- diesen 12 Jahren von 16,5 % auf 32,6 % steigern
tung der öffentlichen Haushalte für die Stabilität mit können.
den Worten umrissen: (Zuruf von der SPD: Welchen Anteil haben
Wer Aufgaben anpackt, die zusammengenom- die Unternehmerhaushalte daran?)
men seine Kraft Übersteigen, erreicht nichts, er — Ich habe die Unternehmen und die privaten
erleidet Schiffbruch. Der Staat kann seine Auf- Haushalte genannt. Bei den privaten Haushalten
gaben nur erfüllen, wenn er eine Aufgabe nach sind natürlich alle dabei, die ärmeren und die rei-
der anderen unter richtiger Einschätzung seiner cheren Leute.
finanziellen Kraft in Angriff ninmt. (Zuruf von der Mitte: Aber nur die
An einer anderen Stelle lese ich: Entnahmen!)
Diejenigen also, die zwar ihre Rechte in An- — Selbstverständlich, nur die Entnahmen.
spruch nehmen, aber ihre Pflichten ganz ver- Wer anerkennt, daß die bloße Einsicht in das
gessen oder nicht entsprechend erfüllen, sind richtige Verhalten noch nicht ohne weiteres das
denen zu vergleichen, die ein Gebäude mit der richtige Verhalten nach sich zieht, sollte vor einer
einen Hand aufbauen und mit der anderen gewissen Institutionalisierung eines konjunktur-
Hand wieder zerstören. gerechten Verhaltens der öffentlichen Hand im Sinne
(Abg. Dr. Deist: Aber nicht nur lesen!) antizyklischer Fiskalpolitik nicht zurückschrecken.
Sie gehört zu den neuen Techniken der Konjunktur-
Meine Damen und Herren, das stammt aus der politik, auf die wir uns künftig werden stützen
Enzyklika des Papstes. müssen.
(Abg. Dr. Deist: Nicht nur lesen; (Beifall in der Mitte.)
beherzigen!)
In unserem Bundesstaat ist das gewiß eine schwie-
Selbst wenn heute noch mehr Bauten finanziert rigere Aufgabe als andernorts, wo Zentralregierun-
werden könnten, würde nichts erreicht werden; nicht gen bis in die Gemeinden hinein regieren. Aber die
mehr Wohnungen würden gebaut, sondern die glei- - Tatsache der Gliederung unseres Staates in auto-
he Zahl würde zu höheren Kosten gebaut werden. nome politische Gebilde entbindet uns nicht von der
Dieses ganze Gebaren der öffentlichen Hand gerade gemeinsamen Verantwortung. Wir werden darum
auf dem Sektor der Bauwirtschaft ist wirklich so auch gemeinsam nach Lösungen suchen müssen. Ich
;innlos, daß es nur überrascht, daß es kein Ende glaube, daß es eine wesentliche Aufgabe für die
findet. Wäre es, so frage ich, nicht besser, wenn die Zukunft sein wird, das föderative System in unserem
Steuereinnahmen etwas weniger reichlich flössen, Staate, das wir bejahen, in Einklang zu bringen mit
and würde das nicht manchen Etatansatz von vorn- den Notwendigkeiten, die sich wirtschafts-, wäh-
ierein verhindern oder knapper halten? Würde das rungs-, finanz- und konjunkturpolitisch ergeben, und
licht auch dem von allen Parteien geliebten Stil ein das setzt natürlich voraus, das das Verhältnis zwi-
ande machen, sich durch Ausgabenansätze, die bei schen Bund, Ländern und Gemeinden nicht nur
jeweils wechselnden Gruppen der Bevölkerung zu atmosphärisch, sondern in den Zuständigkeiten eine
Einnahmeansätzen werden, in ein gutes Licht zu gewisse Veränderung und Besserung erfährt.
rücken? Werden alle Ausgaben auch richtig finan- Ich stelle auch die Frage, ob die Aufstellung von
ziert? Könnte nicht die Verschuldung der „öffent- Einjahreshaushaltsplänen unserer Situation noch an-
ichen Hände" ein wenig größer sein, da heute doch gemessen ist. Finanzieren wir wirklich die großen
bald50%ergsmtnVöbildugafen staatspolitischen Aufgaben? Können wir mit bloßen
Staat in allen seinen Erscheinungsformen entfallen? Einjahreshaushalten den wirklichen staatspolitischen
Ich darf Ihnen hier von einer Statistik einige Zahlen Bedürfnissen auf mittlere und längere Sicht noch
nVermögens-
e,udzwarübi und Erspar- gerecht werden? Sollen wir nicht die Einjahreshaus-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3341
Bundesminister Dr. Dr. h. c. Erhard
halte zum mindesten in eine mehrjährige Haushalts- Verantwortung handeln und nicht danach stre-
überlegung einbetten, die von den Parlamenten ben, für ihre Gruppen eng begrenzte Vorteile
ebenfalls zu beschließen wäre, wenn auch nicht im zu erhaschen, sondern das dauernde Wohl der
Sinne der Bewilligung entsprechend den jetzigen Gemeinschaft im Auge haben.
Haushaltsgesetzen? Solche mittel- und langfristige So bei Beveridge in seinem Buch „Vollbeschäftigung
Überlegungen dürften natürlich ebenfalls nicht an in der freien Gesellschaft", Seite 18, nachzulesen.
der Trennungslinie zwischen Bund und Ländern zu
Ende gehen. Daß im Wirtschaftsbericht erneut die Forderung
nach einer maßvollen und der Gesamtheit nicht ab-
In zweiter Linie ist als Quelle der Übernachfrage träglichen Lohn- und Gehaltsentwicklung erhoben
die vornehmlich aus der Entwicklung der Löhne und wird, ist auch auf dem Hintergrund der sehr starken
Gehälter gespeiste Verbrauchernachfrage zu nennen. Reallohnsteigerung in den letzten Jahren zu sehen
Bedenklicher noch als die Einkommens- und damit und erscheint von da aus nicht unberechtigt. Gewiß
Nachfrageseite der für 1963 erwarteten Lohn- und haben die Unternehmergewinne in dem letzten gro-
Gehaltsbewegung ist deren Kostenseite. Der Wirt- ßen Konjunkturaufstieg vom Frühjahr 1959 bis 1960
schaftsbericht stellt zu diesem Komplex als Leitlinie sehr stark zugenommen. Aber schon im Jahre 1961
auf eine größere Mäßigung der Tarifparteien ab, bleiben sie bemerkenswert hinter der Lohnentwick-
indem er empfiehlt, daß Löhne und Gehälter im lung zurück. Die nicht entnommenen Gewinne stie-
Jahre 1963 um nicht mehr als die Arbeitsproduktivi- gen von 1959 auf 1960 noch um 18,9 %, gingen aber
tät steigen sollen. Das ist etwa um 3 bis 3 1/2 %. von 1960 auf 1961 um 15 % und von 1961 auf 1962
Die Bundesregierung hat damit nicht grundsätzlich noch einmal um 18,4 % zurück. Aus dem Auftrags-
eine Koppelung der beiden Größen vorgeschlagen. eingang erkennen wir ganz deutlich die Schwäche
Aber ich glaube, nach der Entwicklung der letzten der inneren Konjunktur, gerade was die Aus-
Jahre, die unsere Wettbewerbsfähigkeit im inter- rüstungsinvestitionen anbelangt. Erst recht ist die
nationalen Licht zweifellos etwas verschlechtert hat, Selbstfinanzierung von einschließlich 1961 ab wieder
ist eine solche Empfehlung angebracht. Denn einer erheblich zusammengedrückt worden. Wenn die
Steigerung der Lohn- und Gehaltsbezüge von 30 % erwarteten Lohnerhöhungen, soweit sie den gesamt-
in drei Jahren steht eine Produktivitätssteigerung wirtschaftlichen Produktivitätszuwachs übersteigen,
pro Erwerbstätigen um nur 15 % gegenüber. nicht oder nicht ganz auf die Preise weitergewälzt
Sicherlich kann man von den Gewerkschaften eine werden können, was gewiß unerwünscht ist, wird
größere Zurückhaltung nur erwarten, wenn sie das schließlich die Einengung des Finanzierungsspiel-
Vertrauen haben, daß auch alle anderen an der raums für weitere Investitionen unser volkswirt-
Stabilisierung unserer wirtschaftlichen Entwicklung schaftliches Wachstum, unsere Produktivität und
mitarbeiten und nicht eine einseitige Leistung von unsere Wettbewerbsfähigkeit in Frage stellen.
den Arbeitnehmern verlangt wird, die den anderen Von den Gewerkschaften — so sage ich noch ein-
Gruppen dann zum Vorteil gereicht. mal — wird nichts Unbilliges erwartet, wenn sie
(Beifall bei der CDU/CSU. — Hört! Hört! aufgefordert werden, hinsichtlich der Lohntarife und
bei der SPD.) der Arbeitszeit den Erfordernissen der Stabilität
Rechnung zu tragen. Die Regierung, die an sie die
Der Wirtschaftsbericht mutet den Gewerkschaften Anforderung richtet, sollte das Vertrauen der Ge-
nicht eine solche einseitige Leistung zu. Aber ande- werkschaften genießen. Das ist keine reaktionäre
rerseits läßt er keinen Zweifel, daß auch von ihnen oder restaurative Regierung. Unsere Arbeitnehmer
zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung können sich nicht beklagen, in unserer Gesellschaft
beigetragen werden muß. auf der Schattenseite zu stehen.
Das gilt nicht nur für die aktuelle Situation, son- (Beifall in der Mitte.)
dern ist ein allgemeines Problem bei der Vollbe-
schäftigung in allen Ländern. Die Vollbeschäftigung Was an wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt
gibt dem einzelnen Arbeitnehmer schon eine bessere auf sie entfallen ist, brauchte auch nicht mühsam
Marktstellung, als wenn er von schleichender Ar- einer widerwilligen Regierung abgerungen zu wer-
beitslosigkeit bedroht ist. Erst recht ist die Markt- den. Insbesondere kann die Entwicklung und kön-
stellung der Gewerkschaften in der Vollbeschäfti- nen die deutschen Verhältnisse jeden Vergleich mit
gung größer, wenn der Arbeitgeber vor die Wahl dem uns benachbarten und vergleichbaren Ausland
zwischen höheren Löhnen und dem Verlust seiner aushalten.
Arbeitskräfte gestellt ist. Daß unter Bedingungen Ich habe mich bemüht, Ihnen so leidenschaftslos
der Vollbeschäftigung die Gewerkschaften anders wie möglich den Bericht vorzutragen, zu erläutern.
handeln müssen als früher unter den Bedingungen Ich hoffe, daß auch die weiteren Beratungen von die-
akuter oder schleichender Arbeitslosigkeit, haben sem Geist getragen sind.
schon die Lehrmeister der Vollbeschäftigungstheorie
Dieser Wirtschaftsbericht stellt eine Art Zwischen-
und -politik ausgesprochen. Der kürzlich verstorbene lösung dar zwischen idem bisherigen Verfahren, wie
Lord Beveridge, den niemand als einen Sozialreak- es in verschiedenen konjunkturpolitischen Debatten,
tionär ansehen wird, hat das wie folgt ausgedrückt:
aber jedenfalls vereinzelt und nicht systematisiert
Freiheiten müssen mit dem Gefühl der Verant- geübt wurde, und der künftigen Regelung, nämlich
wortung gepaart werden. Tariflohnverhandlun- der Konstituierung eines Sachverständigengre-
gen sollten in der Vollbeschäftigung aufrechter- miums, das die Unterlagen, die Beleuchtungen bei-
halten werden. Aber die Parteien müssen mit zubringen hat und dann der Regierung Maßstäbe an
3342 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Bundesminister Dr. Dr. h. c. Erhard


die Hand geben soll, damit sie mit der Vorlage an li en. Jeder, der eine solche Anmerkung macht, muß (4
diesHohaunEtceidghrbfü- sichgefaln,dßmihvorwfte-
ren kann. So gesehen stehen wir hier zwischen den stehe überhaupt nichts davon. Ich gehe diese Ge-
Fronten. Ich bin auf Grund der bisherigen Beratun- fahr gern ein.
gen hoffnungsvoll, daß die Fortschritte, die wir in Wir sind nicht so vermessen, von einem Wirt-
bezug auf die Ausgestaltung und Orientierung die- schaftsbericht einen exakten Fahrplan zu erwarten.
ses Sachverständigengremiums erzielt haben, eine Er kann nur Anhaltspunkte geben. 'Der Wirtschafts-
baldige Beschlußfassung und Verabschiedung des ablauf wird von so vielen täglich wechselnden Fak-
Gesetzes durch dieses Hohe Haus möglich machen. toren bestimmt, daß die Aufgaben der Wirtschafts-
Dann sind wir ein Stück weitergekommen in der politik ebenso stark in der immer wieder notwendig
Versachlichung unserer Arbeit, in der Befriedigung werdenden Anpassung wie in der Ausrichtung nach
unserer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und so- langfristigen Plänen liegt. Um es also ganz deutlich
zialen Verhältnisse. Die Zeit, die vor uns liegt, die zu sagen: Beide Dinge müssen gleichberechtigt
Verhältnisse, die wir zu erwarten haben, die Sor- nebeneinandergestellt werden, und wer die Anpas-
gen, die vor uns stehen hinsichtlich der weiteren sung vernachlässigt oder, spitzer gesagt, wer durch
wirtschaftlichen Entwicklung unter dem Aspekt Plänemacherei die 'Elastizität verliert, der sollte lie-
einer sich immer weiträumiger und immer enger ber die Finger davon lassen. Denn veraltete Pläne
integrierenden Welt, erfordern diese Gemeinsam- und Fehlrechnungen sind schlimmer als gar keine.
keit und diese gemeinsame Verantwortung des
Handelns. Meine Damen und Herren, betrachten wir einmal
den Lauf dieses Wirtschaftsberichts! Er ist im Win-
(LebhafterBeifall bei den Regierungspar ter erstellt worden. Er hat bis zur Verabschiedung
teien.) einen Monat länger gebraucht, als wir erwartet hat-
ten. Nun, diejenigen, die mit der Arbeit unmittelbar
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der zu tun hatten, haben, glaube 'ich, einen Anspruch
Abgeordnete Schmücker. darauf, daß wir diese Zeitverzögerung respektieren.
Aber auch wir haben in diesem Hause zwei Monate
Schmücker (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine gebraucht, um zur Debatte zu kommen. Sicherlich,
Damen und Herren! Etwa zehn Institutionen er- draußen haben wir sehr vieles gesagt. Aber die
statten seit Jahren Berichte zur wirtschaftlichen Lage, Geschäftslage des Hauses hat es nicht erlaubt, die
Berichte, die Anspruch auf öffentlichen Rang haben. Debatte früher durchzuführen.
Diese Berichte sind naturgemäß mitbestimmt durch Ich sage das, weil diese Gefahr für alle Pläne
) die Eigenart der jeweiligen Institute. So rückt die besteht. Ich beziehe mach auf den vorhin gesagten
Bundesbank die monetären Fragen in den Vorder- Satz: Mir wäre es viel sympathischer, wenn die
grund, und Berichte ides Finanzministeriums sehen Wirtschaftsberichte künftig im Zusammenhang mit
zwangsläufig anders aus als die des Wirtschafts- dem Bundeshaushalt 'diskutiert würden; denn der
ministeriums. In anderen Berichten merken wir Haushalt ist der konkreteste Beitrag des Bundes zur
selbst die Besonderheiten regionaler Art, und den Wirtschaftspolitik. Im Haushalt wird die Probe auf
verbandsgebundenen Instituten kann man es selbst- das Exempel geliefert. Im Haushalt muß der Wahr-
verständlich nicht verübeln, daß sie die Aspekte heitsbeweis angetreten werden.
ihrer Träger stärker zur Geltung bringen. Ich habe
diese Vielfalt nie bedauert. Nur muß man 'bei der Wir können heute — und Herr Professor Erhard
jewilgnLktürdPoseVfar hat das von einem Standpunkt aus mit Recht be-
berücksichtigen. Aber das gilt ja auch anderswo. grüßt — alle möglichen Fragen anpacken, ohne daß
Jedoch ist es selbstverständlich, daß wir angesichts sogleich Farbe bekannt werden muß. Ich sage, das
dieser Vielfalt immer 'häufiger den Wunsch nach ist gut. Aber es ist besser, wenn man Theorie und
einer Art Obergutachten gehört haben, und diese - Praxis vereint.
Aufgabe soll der Wirtschaftsbericht übernehmen, Da ich gerade den Haushalt erwähnt habe, möchte
der Wirtschaftsbericht, der erstmalig von der Bun- ich darüber hinaus sagen: Wir werden auf die
desregierung erstellt worden ist und später vom Dauer gar nicht darum herumkommen, daß sämt-
Gutachtengremium erarbeitet werden soll. liche Gesetze, die eine Haushaltsauswirkung haben,
dm Zusammenhang mit dem Haushalt verabschiedet
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt den ersten Wirt- werden;
schaftsbericht der Bundesregierung als eine gute
Analyse der Wirtschaftslage. Wir hoffen, daß die (Zustimmung bei der CDU/CSU)
Anregungen nicht nur zu theoretischen Erörterun- denn bei der getrennten Beratung der vielen für
gen verwendet werden, sondern auch konkrete Maß- sich gerechtfertigten Wünsche lehnt es jede Gruppe
nahmen auslösen und daß die Wirtschaft — beide ganz natürlich ab, mit einer anderen verglichen zu
Partner der Wirtschaft, alle Teile der Wirtschaft — werden. Man ist geradezu empört, wenn jemand es
nicht an den Leitlinien vorbeigeht. wagt, diesen Vergleich herzustellen. Bei einer ge-
Ich möchte einen Gedanken aufgreifen, den Herr schlossenen Beratung tritt dieses Thema natürlicher-
Professor Erhard hier erwähnt hat. Es wird heute weise ganz von selbst auf, und niemand kann darin
eine Diffamierung sehen.
in der Tat sehr viel von Plänen gesprochen: volks-
wirtschaftliche Gesamtrechnung, Nationalbudget, Nun mag man sagen, diese Feststellung sei ein
Programmierung, Planifikation, und es entsteht die Gemeinplatz. Meine Damen und Herren, ich wollte,
Gefahr der Überbewertung von Berichten und Plä- es wäre einer. In Wahrheit ist es eine bittere Klage.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3343
Schmücker
Wenn wir unsere Wirtschaft in den Griff bekom- aber i n der Praxis nicht bereit, daraus nun auch die
men wollen, müssen Parlament und Regierung auf Schlußfolgerungen zu ziehen.
Bundes- und Länderebene und müssen die Kom- (Beifall 'bei der CDU/CSU.)
munalverwaltungen in der Haushaltspolitik mit gu-
tem Beispiel vorangehen. Die Zeiten sind natürlich lange vorbei, als der SPD-
Vorsitzende unseren Freund Erhard fragte, wo er
(Beifall bei der CDU/CSU.) seine Kollegs geschwänzt habe, oder der wirtschafts-
Dazu gehört, daß adle Gesetze mit Haushaltsaus- politische Sprecher der SPD meinte, das Wort
wirkung im Zusammenhang Mit idem Haushalt be- „marktkonform" sei nicht mehr zeitkonform, und ich
trachtet werden und daß wir allgemeirne Debatten in bin auch geneigt, einer Vielzahl von sozialdemo-
eine möglichst große Nähe mit dem Haushalt brin- kratischen Wirtschaftspolitikern zu glauben, daß sie
gen — und das ist ja auch hiergeschehen —, damit den Sozialismus alter Prägung überwunden haben.
man nach den theoretischen Erörterungen — ich „Einer Vielzahl" habe ich gesagt; wie viele oder
sage es nocheinmal — den Wahrheitsbeweis antre- wie wenige es sind, vermag ich nicht festzustellen.
ten kann. Aber wir werden ja in den nächsten Wochen zu
diesem Thema noch einiges zu hören bekommen.
Ich meine damit alle Fraktionen dieses Hauses Die Hundertjahrfeier mit dem Bekenntnis zu Las-
und schließe meine eigene Fraktion keineswegs aus, salle, ausgesprochen von allen Vertretern der SPD,
aber auch Sie nicht, meine Herren von 'der SPD; gibt immerhin die Möglichkeit zu interessanten
denn Sie haben in der Tat seit Jahr und Tag ein Studien.
besonderes Geschick ,darin entwickelt, Sparsamkeit (Zurufe von der SPD.)
zu predigen unid Ausgabefreudigkeit zu praktizieren.
— Das wollen Sie doch nicht bestreiten?! Das ist
(Widerspruch des Abg. Dr. Deist.) doch ein Thema, über das wir uns auch einmal
unterhalten dürfen. Wir sehen mit großem Interesse,
— Wollten Sie das etwa 'bestreiten? Soll ich Ihnen wie Sie dieses schwierige Thema in Ihren kommen-
die Liste der Anträge vorliegen? Ich komme gleich den Veranstaltungen bewältigen wollen.
auf einige Punkte.
(Abg. Dr. Schäfer: Politisches Verständnis
Wenn ich den Grundsatz einer einheitlichen Wirt- scheint Ihnen abzugehen!)
schafts-, Finanz- und Sozialpolitik hier noch einmal
— Sie sollten in Ihrem Urteil doch nicht so hart
herausstelle, so deswegen, weil ich meine, daß wir
sein! Sie sind jedesmal bereit, wenn jemand eine
in den Parlamentsdebatten den Grundsatzfragen den
andere Meinung vertritt, sofort 'die härteste Zensur
Vorranggeben sollten. Überall neigen die Experten
1— natürlich auch hier 'im Hause — zur Überbeto- zu erteilen,
nung der Details, und ein leerer Sitzungssaal ist (Zurufe von der SPD)
meistens ein untrüglicher Beweis dafür, daß man und wenn Sie mal eine freundliche Anregung be-
zu stark in eine Detailberatung eingetreten ist. Ins- kommen, die etwas kritisch ist, sind Sie empört.
besondere die Wirtschaftspolitiker sollten sich vor (Erneute Zurufe von der SPD.)
einem Perfektionismus hüten. Das .sage 'ich gerade
zu dem Beitrag von Herrn Erhard 'zur Versachli- — Wandeln Sie sich bitte auch im Punkt der Emp-
chung der Politik, den ich sehr unterstreichen findlichkeit!
möchte. Aber niemand kann von uns 'erwarten, daß, (Beifall bei der CDU/CSU.)
wenn hier im Parlament zu sehr 'in die Einzelheiten Ich würde Ihnen empfehlen, etwas unempfindlicher
gegangen wird, die politisch interessierte Öffent- zu sein.
lichkeit aufmerksamer zuhört als wir selber. Meine
Damen und Herren, es ist nicht allein damit getan, (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU. — Wei
daß wir hier sehr gute und sehr gut vorbereitete - tere Zurufe von der SPD.)
Reden halten, sondern die Wirtschaft 'wickelt sich — Meine Damen und Herren, ich gebe Ihnen ja
doch 'in der Mitbeteiligung unserer Bürger ab. Sie einige Beispiele, und Sie können konkret, wenn Sie
müssen es doch 'spüren, worum es geht. Wir müssen wollen, darauf eingehen. Sie müssen es sich gefallen
die Dinge so 'ansprechen, daß sie von ihnen nicht lassen, daß Ihnen gesagt wird, es genügt nicht, hier
nur begriffen werden, sondern daß unsere Menschen Opposition zu betreiben; denn Sie haben an vielen
mitgehen. Punkten die Möglichkeit, den Wahrheitsbeweis an-
Darum möchte ich hier noch einmal die ganz ein- zutreten, und auf diese Punkte müssen wir Sie hin-
fache Frage anschneiden, ob wir (angesichts der wirt- weisen. Sie sitzen doch in den reichsten 'deutschen
schaftlichen Lage noch von einer Bewährung der Städten in den entscheidenden Ämtern. Sorgen Sie
sozialen Marktwirtschaft sprechen können oder ob nun auch einmal dafür, daß im öffentlichen Leben
wir genötigt sind, uns nach anderen Grundsätzen die Reichen sich den Ärmeren gegenüber etwas soli-
umzusehen. Ich stelle diese Frage gerade deswegen, darischer verhalten.
weil sich alle Parteien dieses Hohen Hauses cum (Zurufe von der SPD.)
grano salis zu der sozialen Marktwirtschaft und Tragen Sie doch etwas dazu bei, meine Damen und
auch zu dem Leistungswettbewerbbekennen. Aber, Herren!
meinDaudHr,wenasvolm (Beifall bei der CDU/CSU.)
in der praktischen Arbeit draußen, die Konsequen-
zen gezogen? Ich bestreite das. Man bekennt sich Viele Ihrer sozialdemokratischen Kollegen — —
theoretisch zu dieser sozialen Marktwirtschaft, ist (Erneute Zurufe von der SPD.)
3344 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
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— Winken Sie nicht ab! Das ist ein entscheidendes jeden — ich sage das so deutlich — für einen To- (
Problem, und wenn es so weitergeht, daß die reichen ren, der glaubt, er könne und müsse die Vollbe-
Städte nicht geneigt sind, sich mit den ärmeren schäftigung durch eine bewußte Arbeitslosigkeit
Gemeinden zu vergleichen, dann weiß ich nicht, wie abläsen. Das halten wir für unmoralisch, wirtschaft-
wir nicht nur die Wirtschaftspolitik, sondern auch lich dumm und fiskalisch gefährlich.
überhaupt unser ganzes Gemeinschaftsleben wieder Trotzdem müssen wir uns natürlich bemühen, die
in den Griff bekommen wollen. Reserven zu mobilisieren, die Verhältnisse auf dem
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von Arbeitsmarkt ein wenig aufzulockern. Da sollten
der SPD.) wir die geringste, auch die schwächste Möglichkeit,
die sich bietet, anfassen. Wir haben hier sehr häu-
— Ich könnte Ihnen noch eine ganze Reihe von
fig über die Rationalisierung gesprochen. Ich be-
weiteren Beispielen nennen; aber ich möchte nicht,
streite gar nicht — ich habe das auch in der Haws-
daß das, was ich noch sagen wollte, in Ihren freund-
haltsdebatte gesagt —, daß in vielen Fällen eine
lichen Zwischenrufen untergeht. Sie haben auch in
Rationalisierung angestrebt worden ist, man aber
Verbandspositionen so viele Möglichkeiten, den
nicht zu dem Effekt gekommen ist, den man erwar-
Wahrheitsbeweis für das Godesberger Programm
tet hat. Trotzdem läßt sich nicht bestreiten, daß wir
anzutreten, und ich habe die herzliche Bitte, daß
durch eine Rationalisierung noch gewisse Reser-
Sie sich darum genauso intensiv bemühen wie um
ven erfassen können. Mit dem zweiten knüpfe ich
theoretische Erörterungen.
an die Debatte von heute morgen an. Ich bin ganz
(Zurufe von der SPD: Tun wir ja!) konziliant, auch zu dem Beitrag unserer Kollegin
Frau Strobel. Ich bin der Meinung, daß es möglich
Meine Damen und Herren, ich sagte vorhin
ist, leinen besseren Einsatz der Arbeitskräfte durch
schon, wir sollten uns bemühen, die wirtschaftspo-
die Arbeitsverwaltung, aber auch durch den An-
litische Debatte so zu führen, daß sie eine spür- reiz, den wir gesetzgeberisch bieten können, zu er-
bare Resonanz in der Bevölkerung hat. Denn der reichen. Ich wollte hier an die Eingabe des Handels
einzelne Bürger muß gerade die soziale Marktwirt-
erinnern, der die Sozialversicherungsvorschriften
schaft mit tragen. Wir sollten ganz simpel die
für die Aushilfskräfte verbessern will. Das ist heute
Frage stellen, wie der Bürger die Wirtschaftspolitik
morgen auch von Ihrer Seite gesagt worden.
spürt. Darauf kann man antworten: an seinem Ein-
kommen, am Gehalt 'und an ,den Preisen. Jeder will Auch wenn es auf Kritik stößt, ich wiederhole es
möglichst viel verdienen und wenig bezahlen. Das hier, meine Damen und Herren: wir brauchen die
ist sein gutes Recht. Alle Gespräche münden Möglichkeit, den Menschen auch bei kurzer Arbeit
schließlich in die Frage nach der Stabilität der die Chance zu geben, Geld am Arbeitsmarkt zu ver-
Währung. dienen. Dem Arbeitsmarkt kann auf diese Weise
eine Auflockerung zuteil werden.
Nun möchte ich ganz kurz zu den einzelnen Fak-
toren, die unseren wirtschaftlichen Ablauf bestim- Das nächste, was ich hier auch nur erwähnen
men, Stellung nehmen. Wir sind uns wohl darin möchte, weil es schon häufig gesagt, aber noch nicht
einig: Kapital und Arbeit — Kapital im weitesten durchgeführt worden ist, ist die stärkere Einschal-
Sinne genommen —, beide Faktoren können erst tung der Selbständigen. Man kann natürlich nicht
durch eine unternehmerische Leistung wirksam exakt feststellen, wie es bei ihnen um die Arbeits-
werden. Darauf muß viel stärker hingewiesen wer- zeit und die Arbeitsleistung steht. Immerhin hat sich
den. Wir haben nämlich draußen, vor allen Dingen das Statistische Bundesamt einmal darum bemüht
bei regionalen Förderungsprogrammen, immer das und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Selb-
, die Menschen glauben, man könne Erlebnis,daß ständigen im Durchschnitt etwa 10 Stunden mehr
Arbeitskräfte einsetzen, man könne Kapital einset- arbeiten als die übrigen. Das ist kein Werturteil;
zen, und dann sei alles fertig. Nein, die unterneh- die Selbständigen kommen gar nicht darum herum,
merische Leistung —damit meine ichkeineswegs sie müssen soviel arbeiten. Das müssen alle Füh-
nur die unternehmerische Leistung eines Selbstän- rungskräfte. Ich sage noch einmal: es ist kein Wert-
digen — ist so ,entscheidend wichtig, daß es drin- urteil! Wesentlich scheint mir zu sein, daß sie sich
gend geboten ist, sie viel stärker in den Vorder- dem Arbeitsanfall anpassen. Es gibt weite Bereiche
grund der Debatte zu stellen. Wenn nämlich diese bis in die Verwaltung hinein, wo wir die Selbstän-
unternehmerische Leistung nicht erfüllt wird, wer- digen stärker beteiligen können. Last not least
den wir einen wirtschaftlichen Fortschritt nicht möchte ich noch die Ausbildungsfrage erwähnen,
durchsetzen können. um dann zu dem meistdiskutierten Problem zu kom-
men, der Tarifhoheit.
Der Faktor Arbeit ist in dem Wirtschaftsbericht
sehr ausführlich behandelt worden. Der Bericht Meine Damen und Herren, alle Parteien dieses
weist auf die Problematik der Vollbeschäftigung Hauses haben bei den fleißigen gegenseitigen Be-
hin. Ich darf sagen: diese Vollbeschäftigung ist un- suchen dem DGB gegenüber ein Bekenntnis zur
ser Erfolg; denn Sie von der SPD haben uns ja die Tarifhoheit abgelegt, und das ist gut so. Wir haben
Millionen Arbeitsloser prophezeit. Wir wissen, daß uns in unserer Fraktion überlegt, ob es zweckmäßig
ein Erfolg niemals paradiesische Zustände schafft, ist, diese Frage im gegenwärtigen Zeitpunkt über-
sondern neue Aufgaben mit sich bringt. Wir müs- haupt zu erörtern. Wir gingen in unseren Über-
sen mit diesen Aufgaben fertig werden. Meine Da- legungen so weit, daß wir eventuell eine gewisse
men und Herren, damit gar kein Zweifel entsteht: Vertagung dieser Debatte vorschlagen wollten, denn
wir bejahen diese Vollbeschäftigung und halten wir möchten auf keinen Fall, daß durch die gut ge-
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meinten Äußerungen und die Darlegung der Pflich- man muß sie auch dann auf den Tisch legen, wenn
ten der einzelnen die zur Zeit in harten Verhand- sie einem ein wenig Unbequemlichkeiten macht.
lungen befindlichen Parteien so oder so — sagen Kurzum, ich will alle Kollegen, die hier in diesem
wir einmal — verketzert oder bewegt werden, sich Hause sind, die Einfluß auf die eine oder auf die
nicht vernünftig, sondern nach einem Prestige zu andere Seite haben, bitten, ihren Einfluß geltend
verhalten. Einige meinten, man dürfe nicht in ein zu machen, damit man hier zu einer maßvollen ver-
schwebendes Verfahren eingreifen. Ich glaube, daß nünftigen Regelung im Tarifstreit der Metallindu-
diese Denkkategorie hier nicht am Platze ist. Ich strie kommt.
will mich also bemühen, mich so auszudrücken, daß
Darüber sind wir uns doch alle im klaren: wenn
keiner nachher sagen kann, man habe den gegen-
diese Entwicklung so weiterläuft, verlieren wir un-
wärtigen Arbeitsstreit noch geschürt.
sere internationale Wettbewerbsfähigkeit. Wir kom-
Eins ist doch unbestritten; es ist so unbestritten, men zu unerhörten Schwierigkeiten am Binnen-
daß es fast ein Gemeinplatz ist, das hier zu sagen: markt; die Schwierigkeiten sind hier doch schon
daß die Tariffreiheit eine Verantwortung erfordert groß genug; nehmen Sie nur einmal das Verhältnis
und daß Zwangsgesetze — Lohnstopp, Preisstopp von Landwirtschaft und gewerblicher Wirtschaft.
und alle diese Dinge — gar keinen Sinn haben; es Wir stehen vor den Beratungen der sogenannten
würde sofort ein grauer Markt entstehen. Ich will Kennedy-Runde. Alle möchten gern, daß hier Rege-
noch hinzufügen: selbst Tarifvereinbarungen, die an lungen kommen, die den Weg für eine möglichste
der Wirklichkeit vorbeigehen, werden vom Markt Freizügigkeit freigeben. Aber das können wir doch
überspielt. Das ist häufig ein sehr gerechtfertigtes nur, wenn bei uns die Voraussetzungen intakt blei-
Argument, das von den Gewerkschaften ins Feld ben. Jeder ist nach meiner Meinung verpflichtet, an
geführt wird. jeder Stelle dazu beizutragen, wo es ihm möglich
ist. Niemand möge sich damit herausreden, daß er
Wir können jedoch nicht daran vorbeigehen, aus zwei oder drei verschiedene Funktionen hat; das ist
diesen grundsätzlichen Feststellungen auch die so eine moderne Schizophrenie. Man kann nur eine
Schlußfolgerungen zu ziehen: Die Freiheit der Tarif- Auffassung haben, und die muß man überall ver-
partner ist Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft; treten.
beide bedingen sich gegenseitig. Wenn diese Gegen- (Beifall bei der CDU/CSU.)
seitigkeit nicht beachtet wird, dann kann beides —
sowohl die Tariffreiheit wie die soziale Marktwirt- Ich möchte nun auch noch ein paar Worte zur
schaft — verlorengehen. Diese Verantwortung muß Kapitalseite sagen. Die Kapitalausstattung der deut-
jeder spüren und beachten. Da ist es nach meiner schen Wirtschaft, besonders verglichen mit den Ver-
Meinung nicht erlaubt, daß ich — sagen wir ein- einigten Staaten, aber auch innerhalb Europas, ist
mal — als Politiker die soziale Martwirtschaft for- zu schwach. Ich bedauere es, daß im Wirtschaftsbe-
dere und verbandsmäßig nicht gewillt bin, die ent- richt darüber so wenig gesagt worden ist, und ich
sprechenden Bindungen und Verantwortlichkeiten beklage es, daß wir in der gesamten Debatte so stur
zu übernehmen; das gilt für die eine wie für die immer wieder nur auf den Arbeitsmarkt sehen, —
andere Seite. als ob wir meinten, dort allein fielen die Entschei-
dungen. Den Zusammenhang zwischen Arbeits- und
(Beifall bei der CDU/CSU.) Kapitalmarkt spüren wir nicht nur in der Rationali-
Man darf sich nicht wundern, wenn dann hin und sierung, den spüren wir an allen Ecken. Was an
wieder peinliche Fragen aufkommen. Dieser Zusam- Auflockerung auf der Arbeitsseite nicht möglich ist,
menhang ist nämlich so klar und so unwiderleglich, kann möglicherweise auf der Kapitalseite erzielt
daß ihn jeder begreifen müßte. Wenn man ihm werden. Aber ich möchte mit besonderem Nachdruck
dennoch nicht folgt, dann muß man damit rechnen, darauf hinweisen, daß man bei Betrachtung der
daß die Absicht unterstellt wird, in der Tat diese Kapitalseite nicht nur die Investitionen sehen darf,
Freiheiten zu beseitigen. sondern auch das Umlaufvermögen sehen muß. Ich
glaube, daß darin eine der entscheidenden Benach-
Wir sollten immer wieder — auch in diesem teiligungen der deutschen Wirtschaft, vor allem im
Augenblick — an die Beteiligten den Appell richten, internationalen Wettbewerb liegt. Wir sind nicht ge-
daß sie maßvoll sind. Von Gesetzes wegen können nügend beweglich. Das betrifft die Großwirtschaft
wir in eine Überprüfung des Tarifrechtes eintreten. genauso wie das mittelständische Gewerbe, genauso
Wir können überlegen, ob wir Spielregeln — das wie die Landwirtschaft. Ich brauche nur daran zu
Wort ist Mode geworden — schaffen. Ich glaube, erinnern, daß diese Debatten uns in allen Versamm-
wir sind im konkreten Fall auch gehalten, unsere lungen wieder begegnen. Dann sagt der eine: „Mehr
Stellungnahme zumindest besänftigend oder mit Kredite!", und der andere sagt: „Weniger Steuern!"
einer Bitte um eine maßvolle Regelung abzugeben. Dann hebt sich das gegenseitig auf, und es passiert
Meine Herren von der SPD, Sie kennen unsere Stel- nichts.
lungnahme; vielleicht äußern Sie sich nachher auch
einmal dazu. Ich habe viele Beiträge von Ihnen Meine Damen und Herren, wir müssen die Kapi-
gelesen, in denen von der kritischen Situation ins- talfrage stärker beachten. Dazu gehört natürlich
besondere auf den Sektoren Eisen und Stahl, Texti- auch, daß wir die Wettbewerbsverhältnisse auf dem
lien, Werften usw. die Rede ist. Herr Nevermann Geld- und Kapitalmarkt schärfer beobachten. Un-
hat sich gestern auch schon geäußert. Man kann strittig ist, daß es bei den Wechselzinsen erhebliche
doch eine solche Argumentation nicht nur dann ge- Unterschiede gibt. Unstrittig ist auch, daß die inter-
brauchen, wenn sie einem gerade nutzt, sondern nationale Verflechtung zu sehr unterschiedlichen
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und damit wettbewerbsverfälschenden Kosten, also daß nämlich die Koodinierung der Baumaßnahmen
Zinsbelastungen, geführt hat. Ich darf, nicht mit dringeotws,Krdineugcht
Schadenfreude, aber mit einiger Genugtuung darauf innerhalb ides Bundes, sondern zwischen Bund, Län-
hinweisen, Herr Minister Erhard, daß bei der letzten dern und Gemeinden. Der Herr Verteidigungsmini-
Diskonterhöhung der Mittelstandskreis der CDU/ ster ist leider nicht da. Das ist ganz natürlich; denn
CSU es gewesen ist, der mit Nachdruck gegen diese die Verteidigung interessiert sich nicht so sehr für
Maßnahme protestiert hat, — sicherlich weil unsere wirtschaftliche Fragen. Ich stelle das ganz einfach
eigenen Leute betroffen wurden, aber mehr noch, fest und nehme das gar nicht übel. Aber die Vertei-
weil wir darauf hingewiesen haben, daß bei der digung löst so viele wirtschaftliche Probleme aus,
heutigen internationalen Verflechtung Maßnahmen daß man auch hier eine Koordinierung mit der Wirt-
dieser Art gar nicht mehr wirksam werden können. schaftspolitik verlangen muß. Ich persönlich habe es
Das sollte man in Zukunft stärker beachten. begrüßt, daß die Bauverwaltung bei der Kabinetts-
umbildung dem Schatzministerium zurückgegeben
Zu der Frage der Kapitalkostenseite gehört natür-
werden sollte, damit die Bundesbauten von einer
lich auch die Steuergesetzgebung. Ich persönlich bin
Stelle aus gelenkt werden können.
der Meinung, daß die Wirtschaftspolitik heute im
wesentlichen in der Finanz- und Steuerpolitik ent- (Zurufe von der SPD.)
schieden wird. Ich wies vorhin schon darauf hin, daß Denn es geht nicht an, daß allein durch die Baumaß-
die mangelhafte Kapitalbildung in unseren Betrie- nahmen des Bundes schon örtlich eine Überhitzung
ben das entscheidende Handikap im internationalen eintritt. Erst wenn der Bund selbst seine eigenen
Wettbewerb, aber auch im innerdeutschen Wettbe- Maßnahmen koordiniert, kann er füglicherweise
werb ist und sehr viele Wettbewerbsverzerrungen eine Koordinierung der Länder und der Gemeinden
hervorruft. Es ist notwendig, gerade auch im Hin- verlangen.
blick auf die Verlautbarungen von Herrn Möller —
ich weiß natürlich nicht, ob sie von dpa richtig wie- (Abg. Dr. Schäfer: Herr Schmücker, nicht
dergegeben sind —, darauf hinzuweisen, daß eine einmal das wurde durchgeführt! Es wurde
Steuererhöhung, die die Investitionstätigkeit, aber nur in Aussicht genommen, aber nicht ver
auch das Umlaufvermögen einschränkt, für unsere wirklicht!)
Wirtschaft und die fiskalischen Möglichkeiten töd- — Ach, Herr Schäfer, ich weiß, Sie sind immer sehr
lich sein kann. voreilig. Mir ist z. B. bekannt, daß die beiden be-
(Beifall bei der CDU/CSU.) teiligten Ressortminister gestern abend über diese
Frage gesprochen haben und sich bemühen werden,
Es hat keinen Sinn, hier einfach die Menschen anzu- hier zu einer Einigung zu kommen. Ich bin davon
sprechen und ihnen vorzugaukeln: „Die Unterneh- überzeugt — und das entspricht auch der Forde-
mer verdienen heute soundso viel", wenn man ihnen rung meiner Fraktion —, daß man sich einigen
nicht gleichzeitig sagt, wieviel wieder investiert wird.
wird.
Meine Damen und Herren, wir müssen bei der
Ich bin mit den meisten Kollegen dieses Hauses Haushaltspolitik, überhaupt bei der kommenden
darüber einig, daß es möglich sein muß, den über- Gestaltung der Wirtschaftspolitik viel stärker den
luxuriösen Verbrauch härter anzufassen. Aber auf Haushalt in den Vordergrund bringen. Ich stimme
keinen Fall darf die Kapitalbildung weder beim ein- mit Herrn Minister Erhard darin überein, daß die
fachen Bürger noch beim Großunternehmen be- nächste Phase der Politik entscheidend bestimmt
schränkt werden. Wir müssen dafür sorgen, daß die wird von der Gestaltung der Beziehungen zwischen
Kapitalbildung nicht nur für die Investitionen, ich Bund, Ländern und Gemeinden. Die vernünftige Ge-
wiederhole es, sondern auch für das Umlaufvermö- staltung der Haushalte ist das entscheidende kon-
gen nicht nur weiterhin möglich ist, nein, ich meine junkturpolitische Mittel, das wir in der Hand haben.
sogar, noch verstärkt wird. In diesen Zusammen- - Das muß auf allen Ebenen — inzwischen spricht
hang gehört eine breite Eigentumsstreuung, wie wir man ja nicht mehr von der öffentlichen Hand, son-
sie begonnen haben und trotz der fiskalischen dern von .den öffentlichen Händen —, also bei allen
Schwierigkeiten, verstärkt fortsetzen müssen. öffentlichen Händen erreicht werden.
Meine Damen und Herren, wir haben heute einen Meine Damen und Herren von der SPD, Sie wer-
Wirtschaftsbericht zu diskutieren. Ich sagte vorhin den doch nicht bestreiten, daß Sie hier eine ganz
schon, es wäre besser, er würde im Zusammenhang enorme Möglichkeit der Mitwirkung haben, weil Sie
mit dem Haushalt besprochen, weil man dann das, inegLädr nuvoalemishr
was man theoretisch anführt, auch konkret unter vielen — ich wiederhole — reichen Städten zu sagen
Beweis stellen müßte. Einer der Kollegen meinte, haben.
diese Wirtschafitsdebatte sei eine Haushaltsdebatte (Abg. Dr. Deist: Nordrhein-Westfalen zum
ohne Haushalt. Wir haben ja in 14 Tagen, soviel Beispiel!)
ich weiß, den Haushalt zu behandeln. Im vorhinein
sind schon etliche Kritiken mitgeteilt worden; das Ich möchte zum Schluß noch kurz die Struktur-
politik erwähnen. Ich hoffe, daß die mangelhafte Er-
ist gut für die Teilnehmer an der Debatte; die kön-
nen sich einstellen. wähnung im Wirtschaftsbericht nicht ein Zeichen da-
für ist, daß man die Bedeutung der Strukturpolitik
Eines aber muß hier, glaube ich, Übereinstim nicht kennt. Wir haben von Herrn Lücke gehört,
mung mit dem, was Sie, Herr Minister Erhard, ge daß er ein Raumordnungsgesetz vorschlägt. Ich weiß.
sagt haben, immer wieder herausgestellt werden, nicht, ob das der richtige Weg ist. Entscheidend aber
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3347
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ist bei dieser Frage, daß alle Beteiligten, lich sage als Ansatzpunkt zur Bewältigung neuer, auf uns zu
noch einmal: Bund, Länder und Gemeinden, den kommender Probleme gedacht ist, sehr ernsthaft
ernsten Willen haben, zusammenzuarbeiten. diskutiert und sich bemüht, in gemeinsamer Arbeit
festzustellen: Was bietet die Vorlage, die uns hier
Zur wirtschaftsrechtlichen Seite sei noch betont,
gegeben worden ist, an Gutem, und was bietet sie
daß wir uns — sagen Wir —etwas widerstrebend
an Dingen, mit denen wir uns kritisch auseinander-
damit abgefunden haben, daß die Konzentrations-
setzen müssen und die verbessert werden müssen?
enquete uns im nächsten Winter vorgelegt werden
Ich möchte annehmen, daß Sie eine solche parla-
soll, so daß wir sie im Frühjahr — hoffentlich er-
mentarisch gebotene Auseinandersetzung nicht unter
laubt das die Geschäftslage des Hauses — beraten
die Rubrik Zensurenverteilung bringen wollen, son-
können. Wir begrüßen es — hoffentlichstimmt die
dern daß Sie die Auseinandersetzung mit einem
Meldung —, daß die Bundesregierung auch eine
Bankenenquete angeordnet hat. Wenn uns diese solchen Dokument als eine angemessene Methode
Ergebnisse vorliegen, müssen wir in eine gründliche anerkennen.
Überprüfung des Wirtschaftsrechts, und hier meine Darum möchte ich im Hinblick auf die herbe Kritik,
ichnsbeodraKtlch,ein.Wr die in der gesamten Offentlichkeit an diesem Wirt-
müssen die Verhandlungien in der Weise führen, schaftsbericht geübt wurde und der ich einiges hin-
daß wir die Verhältnisse in der Europäischen Wir- zuzufügen habe, zunächst einmal etwas über die
schaftsgemelinschaft mit berücksichtigen können. Bedeutung des Wirtschaftsberichts sagen. Ich meine,
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum daß das Positive, das in diesem Ansatzpunkt zu
Abschluß folgendes nagen, auch wenn das ein Ge- sehen ist, nicht in der Debatte untergehen sollte.
meinplatz sein sollte! Es ist notwendig, daß wir die Wir verzeichnen es mit Genugtuung, daß zum
Debatte sachlich führen; es ist aber rauch notwendig, erstenmal ein solcher Wirtschaftsbericht vorgelegt
so zu diskutieren, daß uns die Menschen draußen worden ist, der uns die Möglichkeit gibt, an Hand
verstehen. Es ist ferner notwendig, daß wir den po- einer Gesamtschau über die Grundlagen der Wirt-
litischen Willen höher stellen als irgendwelche Ge- schaftspolitik der Bundesregierung zu diskutieren.
setzes- oder Verwaltungsmaßnahmen. Ich glaube, Wir begrüßen das insbesondere deshalb, weil wir
daß die soziale Marktwirtschaft nur durchführbar uns seit 7 Jahren bemühen, die Bundesregierung
ist, wenn alle, die für dieses Prinzip eintreten, auch zu veranlassen, ein solches Dokument vorzulegen.
in ihrem persönlichen Verhalten den Wahrheits- Die Damen und Herren, die damals dem Bundestag
beweis dafür antreten. angehörten, wissen, daß wir im Jahre 1956 einen
Wir nehmen den Appell des Wirtschaftsberichts Gesetzentwurf zur Sicherung des wirtschaftlichen
als einen Appell an uns alle auf, durch unser eigenes Wachstums eingebracht haben, der sowohl die Frage
Verhalten dazu beizutragen, daß die wirtschaftliche der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als auch
Entwicklung in gesunden Bahnen weitergeführt wer- die Frage von Vorausschauen und die Errichtung
den kann und daß sie nicht in eine inflationäre Ent- eines Sachverständigengremiums zur Debatte stellte.
wicklung ausartet, unter der wir alle zu leiden Leider hat das keinen Erfolg gehabt, und leider
hätten. haben auch entsprechende Vorschläge, die der Wis-
senschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministe-
Der nächste Redner ist, soviel ich weiß, der Herr riums in den Jahren 1954 und 1956 gemacht hat,
Kollege Dr. Deist von der SPD. Ich .weiß, Herr Kol- keinen Anklang im Wirtschaftsministerium und bei
lege Deist, Sie haben den Brauch, mit einigen Zen- der Bundesregierung gefunden. Das liegt sicherlich
suren 'zu beginnen. Ich bitte gar nicht um Nachsicht. daran, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister ge-
Ich möchte keine zu gute Zensur haben; das ist ge- genüber solchen Problemen etwas zurückhaltend ist
fährlich. und, wie Herr Professor Krelle es einmal ausdrückte,
(Zurufe) gerne eine etwas „freihändige" Wirtschaftspolitik
Aber bei all Ihrer Beredsamkeit und Ihrer Zitierlust, - liebt — und nicht so sehr die sorgsame Arbeit der
Herr Kollege Deist, nehmen Sie doch bitte auch zu Architekten und Baumeister, die ja auch freischaf-
einigen Vorschlägen ganz konkret Stellung! Dann fende Menschen sind und die deshalb vielleicht
hat die Debatte einen Sinn gehabt. doch ein Vorbild sein sollten für die, die am Aufbau
(Beifall bei den Regierungsparteien.) unserer deutschen Wirtschaft arbeiten.
Um die Dinge gerecht zu verteilen, muß ich aller-
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat dings hinzufügen: Der Herr Bundeswirtschaftsmini-
der Abgeordnete Dr. Deist. ster hat zweimal einen schüchternen Ansatz zur
Schaffung eines solchen Konjunkturrates oder wis-
senschaftlichen Rates gemacht. Und ich muß zu-
Dr. Deist (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen geben, daß diese Ansätze vom Herrn Bundeskanzler
und Herren! Ich möchte nicht in die Fußtapfen meines zerschlagen worden sind. Insgesamt ist jedenfalls
Vorredners treten und mit Zensuren nach links und aus all diesen Dingen nichts geworden. Wir begrü-
rechts beginnen. ßen es — und wir begrüßen es ehrlich —, daß uns
(Beifall bei der SPD.) nunmehr erstmals ein solches wirtschaftspolitisches
Dokument vorliegt, das die Möglichkeit zu einer
Allerdings, Herr Schmücker, scheint es mir richtig
ernsthaften Diskussion gibt.
zu sein, daß man in einer parlamentarischen Ausein-
andersetzung, insbesondere wenn es sich um ein Dann möchte ich noch ein zweites sagen. Dieser
Dokument h andelt, das ja auch von Ihnen irgendwie Wirtschaftsbericht leidet an einem gewissen Zwie-
3348 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Dr. Deist
spalt. Das, was an Zahlenmaterial gegeben ist, das sprochen, obwohl wir eigentlich über den Wirt
quantitative Material — das wird jeder bestätigen, schaftsbericht sprechen sollten. Ich will mich darum
der es ernsthaft angeschaut hat —, ist eine hervor- nur ganz kurz damit befassen, Herr Kollege
ragende und saubere Arbeit. Es ist nur zu bedauern, Schmücker. Sehen Sie, es ist schon etwas schwierig,
daß der verbale Text des Berichts, insbesondere so- über eine Gesamtvorstellung von Steuerpolitik, wie
weit er sich mit der Prognose befaßt, keineswegs auf sie unser Kollege Möller vorgetragen hat, an Hand
derselben Höhe steht, ja, wie ich noch nachzuweisen einer Zeitungsnotiz — Sie haben es selber zugege-
versuchen werden, in vielen Dingen einfach nicht ben — hier im Rahmen einer ganz anders gearteten
aus den quantitativen Feststellungen zu erklären Debatte mit einigen Schlenkern einige Bemerkun-
ist. gen zu machen. Das ist furchtbar einfach, aber nicht
Es ist schon erstaunlich, was jetzt aus dem Bun- sehr fruchtbar; vielleicht fruchtbar für den nieder-
deswirtschaftsministerium an quantitativem Mate- sächsischen Wahlkampf — das kann ich nicht sa-
rial zur Gesamtrechnung und zur Vorausschau her- gen —,
vorgebracht worden ist. Ich möchte sagen: Die Ar- (Beifall bei der SPD)
chitekten im Hause scheinen hier ihrem Herrn und aber für die Sache bringt uns das nicht wesentlich
Meister einige Ellen vorausgewesen zu sein. Immer- weiter.
hin, das ist eine gute Sache, und wir entnehmen
daraus die Erkenntnis, daß wir bereits heute, wenn Herr Schmücker, wir wissen selber zu genau, daß
auch noch nicht über völlig zulängliches, so doch die Kapitalbildung der Wirtschaft ein wichtiges
über ausbaufähiges Material verfügen, das uns ein Problem ist. Nur machen wir es uns nicht so ein-
ausreichendes Instrument für eine genügende Durch- fach wie Sie. Wir wissen nämlich, daß das in der
leuchtung der wirtschaftlichen Lage und der wirt- Wirtschaft sehr verschieden liegt und daß die
schaftlichen Entwicklungstendenzen aufbauen läßt, Frage der Kapitalbildung für mittlere und kleinere
und daß es möglich ist, auch bei uns in Deutschland Unternehmen ein viel schwierigeres und viel be-
fundierte Aussagen über voraussichtliche Entwick- deutsameres Problem ist als z. B. für die Groß-
lungen zu machen. unternehmen, die Kapitalgesellschaften mit ihren
Selbstfinanzierungsmöglichkeiten. Darum hilft es
Das sind zwei Dinge, die wir festhalten sollten, uns nichts, daß gesagt wird: „Die Vermögensteuer
weil sie das Positive an diesen Vorgängen sind. ist viel zu hoch" und „Es darf keine größere Steuer-
Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat dann in belastung geben" ; das Problem ist vielmehr, ob
seinen Ausführungen einige neue Akzente zu den wir nicht gerade der Kapitalbildung bei mittleren
Leitlngsz.Zudvelnarsizw und kleineren Unternehmen durch eine gerechtere
neue Leitbilder gekommen. Ein Leitbild über eine Verteilung der Steuern helfen können.
zukünftige Finanzreform, bei der die Gemeinden ein
besonders wohlwollendes Interesse fanden. Nur (Beifall bei der SPD.)
überlege ich mir: Wer regiert eigentlich hier in Sehen , Sie, Herr Schmücker, das ist unsere Aufgabe:
Deutschland seit 12, 13 Jahren? Wer ist hier eigent- nicht global über alle möglichen Dinge zu reden,
lich Bundeskanzler, wer Vizekanzler und seit wann sondern konkret zu sagen, welche Schwierigkeiten
haben wir die Zusage des Bundeskanzlers, nun werde und welche gezielten Maßnahmen es gibt.
endlich eine Finanzreform durchgeführt? A n. wem
liegt es eigentlich, daß der Beschluß dieses Bundes- (Abg. Schmücker: Das habe ich auch ge
tages, zur Erörterung dieser Finanzreform eine Sach- sagt! Sie waren genauso „global" wie ich!)
verständigenkommission einzusetzen, seit andert- Vielleicht, Herr Kollege Schmücker, wollten Sie
halb Jahren einfach nicht vorwärtskommt? damit nur über etwas hinwegsprechen: darüber,
(Beifall bei der SPD.) daß die Finanzreform, in der das nämlich alles ge-
- regelt werden müßte, unter der Ägide ihrer Regie-
Das sind doch etwas billige Deklamationen, und
rung einfach nicht vom Fleck kommt.
ich möchte mich mit diesem Fragenkomplex eigent-
lich erst befassen, wenn nicht nur unverbindliche (Beifall bei der SPD.)
Erklärungen, sondern wirkliche Fakten, Vorschläge
der Bundesregierung vorliegen. So lange sind De- In dieses Kapitel gehören auch Ihre unvorsichti-
klamationen ohne allzu großen Wert. gen Bemerkungen über die armen und reichen Ge-
meinden. Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen.
Dasselbe gilt für die Vorstellungen des Bundes- Einen freiwilligen Ausgleich zwischen großen und
wirtschaftsministers zur Budgetgestaltung. So neu ist kleinen, reichen und armen Gemeinden? Das ist
das ja wohl nicht. Wir waren immer der Auffassung, ja wohl eine törichte Vorstellung, die ich Ihnen
daß für den Aufbau der Infrastruktur und die lang- nicht zumuten möchte.
fristigen öffentlichen Investitionsvorhaben mehr-
jährige Haushaltspläne aufgestellt werden müssen. (Abg. Schmücker: Sie wissen genau, was
Aber wer legt denn die Haushaltspläne hier vor, wer wir wollen!)
legt denn die Gesetzentwürfe vor, und wer hat
Herr Kollege Schmücker, wenn man schon so leicht-
denn hier die Mehrheit? Was sollen uns solche De-
klamationen? hin über die Gemeinden redet, dann darf man nicht
vergessen, daß sogar die reichen Gemeinden einen
(Beifall bei der SPD.)
ungeheuren Rückstand an Gemeinschaftsaufgaben
Herr Schmücker hat dann in dieselbe Kerbe haben,
geschlagen. Er hat über Finanzen und Steuern ge (Zustimmung bei der SPD)
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3349
Dr. Deist
der aufgeholt werden muß, um eines sozialen und Die einzige Konsequenz, die die Bundesregierung
gesunden Lebens bei uns in Deutschland willen. daraus in ihrem Bericht gezogen hat, ist, daß die
(Zurufe von der CDU/CSU.) engeren Grenzen für die weitere Wohlstandsaus-
weitung damit klar geworden sind. Das heißt: jetzt
Auch das mündet wieder in die Frage einer grund- kommen auf die sieben fetten Jahre die sieben
legenden Finanzreform. mageren Jahre. Wir müssen den Riemen enger
In dieses Kapitel, Herr Schmücker, gehören nicht schnallen. Das ist ein unabwendbares Fatum.
nur die reichen und die armen Gemeinden, sondern Ich glaube, bei einer solchen Debatte sollte man
auch die reichen Länder und die armen Länder. Sie sich darüber klar sein, daß das Jahr 1963 nicht ein-
sollten sich in Ihrem Lande Niedersachsen einmal fach die Fortsetzung der Entwicklung der vergan-
über dieses Problem der armen und der reichen Län- genen Jahre ist. Die erste Nachkriegsperiode der
der unterhalten; dann würden Sie sehr schnell fest- deutschen Wirtschaft geht zu Ende. Damit zeigen
stellen, daß alles das, was Sie über angeblich reiche sich deutlich große, ernsthafte Strukturwandlungen
Gemeinden erzählt haben, zutrifft für ein großes in unserer Wirtschaft. Das Wirtschaftswachstum
reiches Land mit der Hauptstadt Düsseldorf, das un- stützt sich heute nicht mehr so sehr und kann sich
ter CDU-Leitung steht. nicht mehr so sehr stützen auf eine Vermehrung der
Arbeitskräfte und auf die Erhöhung des Kapital-
Alles das sollten Sie berücksichtigen, wenn Sie so
einsatzes. Entscheidend wird in der Zukunft viel-
leichthin von Reichen und Armen in Deutschland
mehr die Qualität der Arbeitskräfte, die technische
sprechen. Herr Kollege Schmücker, wenn Sie schon
Forschung und Entwicklung und damit alles das
den Wirtschaftsbericht der Bundesregierung zu sol-
sein, was mit Bildung, Wissenschaft und Forschung
chen beiläufigen Bemerkungen — die aus bestimm-
zusammenhängt. Das ist eine wichtige Erkenntnis,
ten Gründen ganz interessant sein mögen — benut-
die wir für die Beurteilung der zukünftigen Wirt-
zen, dann müssen Sie sich bieten lassen, daß hierauf
schaftsentwicklung zugrunde legen müssen. Damit
etwas eingegangen wird, zumindest eingangs; Sie
können sich darauf verlassen, daß ich mich dadurch hängt zusammen, daß die Elastizität des Angebots
in starkem Umfang nicht eng bestimmt ist durch die
nicht davon ablenken lassen werde, das Thema
selbst zu behandeln. sachliche Begrenzung der Produktionsmittel, sondern
von der Produktivitätsentwicklung und von der
Nun möchte ich aber noch eine andere Bemer Mobilität der Arbeitskräfte abhängt.
kung machen, Herr Schmücker. Wenn eine Partei ein
hundertjähriges Jubiläum feiert, dann ist das viel- Hinzu kommt, daß der Wohlstand in Zukunft nicht
leicht eine für das gesamte deutsche Volk wichtige mehr so sehr nur gemessen werden kann an dem
Sache, ganz gleich, welche Partei das sein möge. In materiellen Wohlsein des einzelnen, sondern daß es
der Demokratie haben die Parteien eine große, darauf ankommt, die großen Gemeinschaftsaufgaben
große Aufgabe. zu erfüllen. Das sind aktuelle wirtschaftspolitische
Probleme. In dem Bericht finden sich nur einige
(Zurufe von der Mitte.) schüchterne Hinweise darauf, gemischt mit einer
— Die Art der Behandlung, die Sie diesem Problem großen Skepsis. Kein Hauch davon, daß hier eine
haben angedeihen lassen, zeugt nicht von einem neue Form von Wirtschaftspolitik angebrochen ist.
ausreichenden Geschichtsbewußtsein, das jeder tra- Diese Haltung ist sehr negativ, sie ist sehr fata-
gen sollte, der weiß, was die Geschichte und die listisch. Man findet sich ab mit dem, was ist. Wir
Vergangenheit für ein großes Volk bedeutet. sollten aber wissen, daß Wirtschaft nicht Schicksal
ist, sondern daß wir in der Lage sind, sie zu ge-
(Beifall bei der SPD.)
stalten, und daß der Wirtschaftsbericht der Bundes-
Ihre besondere Bemerkung über Lassalle, Herr regierung ein Dokument dieses Gestaltungswillens
Schmücker, scheint mir zu zeigen, daß Sie auch nicht sein sollte.
einen Hauch von dem verstanden haben, was ge- -
rade Lassalle für die deutsche Arbeiterbewegung Eine zweite Bemerkung. Dieser Wirtschaftsbericht
und damit für die deutsche Geschichte bedeutet hat. ist von einer merkwürdigen einseitigen Sicht ge-
tragen. Der Bundeskanzler hat am 9. Oktober 1962
(Erneuter Beifall bei der SPD.) bei der Ankündigung des Wirtschaftsberichtes ge-
sagt, die Bundesregierung wolle Leitlinien aufstellen,
Damit möchte ich wieder zum Thema zurückkom- die das Verhalten aller regeln sollten, die Ansprüche
men, das uns heute hier gestellt ist. Gestatten Sie an das Sozialprodukt stellten. Im Wirtschaftsbericht
mir zunächst einige allgemeine Bemerkungen. selbst heißt es unter Nr. 34, die wichtigste wirt-
Im Wirtschaftsbericht ist davon gesprochen wor- schaftspolitische Aufgabe sei, alles zu tun, um die
den, daß sich die Bedingungen und Voraussetzungen Ansprüche an das Sozialprodukt auf das Maß zu-
für das künftige Wirtschaftswachstum gewandelt rückzuführen, das mit der Aufrechterhaltung der
haben. Das ist sicher richtig. Vielleicht darf ich Preisstabilität vereinbar sei. Mir scheint, daß hier
darauf hinweisen, daß das Bruttosozialprodukt in ein grundlegender Fehler vorliegt, daß man die
den Jahren 1950 bis 1955 um 9 % real gestiegen ist. Zusammenhänge in der Wirtschaft wie eine Kausal
Jetzt befinden wir uns in einer Periode, in der wir reihe sieht, die einseitig von der Entwicklung der
nur mit einem wesentlich niedrigeren normalen Zu- Nachfrage abhängt, und daß man übersieht, daß es
wachs des Bruttosozialprodukts real zu rechnen ha- vielfältige Wechselbeziehungen zwischen der Be-
ben. Im letzten Jahr sind es etwas über 4 % gewe- schäftigung, dem Angebot an Arbeitnehmern, der
sen. Im Jahre 1963 werden es 3,5 bis 4 % sein. Produktivität, der Lohnentwicklung, der Nachfrage-
3350 Deutscher Bundestag - 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Dr. Deist
entwicklung und der Preisentwicklung gibt. Das ist sind: Drosselung der öffentlichen Ausgaben, Drosse-
ein vielfältiges Gebilde. Es ist viel zu einfach, da- lung .der Löhne und Gehälter, Drosselung der Bau-
von auszugehen, daß die Ansprüche an das Sozial- wirtschaft durch Baustopp. Eine solche Sicht verengt
produkt das Regulativ für die Steuerung der wirt- den Blick für die Vielfalt der Wirtschaft und für
schaftlichen Entwicklung seien. die Vielfalt der wirtschaftspolitischen Möglichkei-
ten. Sie bringt uns geradezu in einen wirtschafts-
Bei der Betrachtung von Angebot und Nachfrage politischen Fatalismus und einen wirtschaftspoliti-
dürfen wir das Angebot nicht außer acht lassen. schen Attentismus, von dem dieser Bericht gekenn-
Das ist im Bericht der Bundesregierung theoretisch zeichnet ist.
geschehen. Aber folgendes ist an diesem Bericht
bemerkenswert. (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der
CDU/CSU.)
Im Vordergrund stehen Klagen darüber, daß zu-
wenig Arbeitskräfte zur Verfügung stünden und daß — Sie haben die Möglichkeit, in der Diskussion auf
daher die Arbeitszeitverkürzung den Spielraum der vermeintliche Widersprüche hinzuweisen, und ich
Arbeit vermindere; nichts davon, wie positiv eine werde mich dann mit Ihnen auseinandersetzen.
solche Entwicklung der Arbeitszeit auch zu betrach- Dann eine dritte allgemeine Bemerkung! Der Be-
ten ist, wie stark sie zu einer Fluktuation, zur Mobi- richt leidet unter einer allzu globalen Betrachtung
lität der Arbeitskräfte beiträgt, wie wichtig der und einer allzu globalen Beurteilung einer Wirt-
Zwang zum technischen Fortschritt ist, der damit schaft, die im einzelnen außerordentlich differen-
ausgelöst ist, und daß diese Anpassung der Arbeits- ziert ist. Wir haben doch nicht eine überbeschäf-
zeit an die modernen Verhältnisse auch eine soziale tigte Wirtschaft, sondern wir haben eine Wirtschaft,
Tat ist. Davon keine Spur in diesem Wirtschafts- in der — jedenfalls bis zum Ende des vergangenen
bericht! Jahres — ein einziger Zweig wirklich über-
Ein Zweites. In diesem Wirtschaftsbericht wird schäumte an Beschäftigung; das war die Bauwirt-
über den Rückgang der volkswirtschaftlichen Pro- schaft. Wir hatten dann ein sehr starkes wirtschaft-
duktivität gesprochen, und es werden globale Jah- liches Wachstum in der Mineralölwirtschaft, in der
reszahlen von 6,5 % im Jahre 1960 über 4 % im Chemie, in den Fahrzeugbetrieben, in der Kunst-
Jahre 1961 auf 3 % volkswirtschaftlichen Produk- stoffverarbeitung und dergleichen. Wir hatten an-
tivitätszuwachs im Jahre 1962 angegeben. Dabei dere Bereiche, in denen die Entwicklung normal
wird völlig übersehen, daß es sich hier keineswegs war; dazu gehörten z. B. fast alle Verbrauchsgüter
um stetigen Ablauf handelt, sondern daß wir z. B. industrien. Wir hatten schließlich einige Zweige, die
im Jahre 1962 eine sehr starke Steigerung der sich sehr schwach entwickelten; das waren Teile
volkswirtschaftlichen Produktivität zu verzeichnen des Maschinenbaus, Teile der Elektroindustrie und
haben. Je Erwerbstätigenstunde hat sich der volks- die Eisen- und Stahlindustrie, in der mit Einschrän-
wirtschaftliche Produktivitätszuwachs z. B. im Jahre kungen gearbeitet wird.
1962 von 3 % im ersten Quartal auf 5,5 % im vier- Darum scheint mir wichtig zu sein, als Ausgangs-
ten Quartal erhöht. Das heißt, wir haben es nicht punkt für Betrachtungen, wie sie in einem solchen
mit einem ständigen Absinken, sondern mit einer Wirtschaftsbericht gemacht werden müssen, zu-
sehr flexiblen Wirtschaft zu tun. grunde zu legen, daß Konjunkturpolitik heute im
Ein Drittes. Der Herr Bundeswirtschaftsminister großen Umfang Strukturpolitik sein muß und daß
schreibt in seinem Bericht, die Angebotssteigerung es darauf ankommt, nicht nur Globalmaßnahmen,
sei allgemein begrenzt. Dabei war die Elastizität sondern gezielte Maßnahmen in den Vordergrund zu
des Angebots in den Jahren 1961/62 geradezu er- stellen. Wenn man das nämlich nicht tut, wenn man
staunlich. Vom ersten Halbjahr 1961 bis zum Win- zu lange meint, mit Globalmaßnahmen auskommen,
terhalbjahr 1961/62 hatten wir einen Rückgang der - auf gezielte Wirtschaftspolitik verzichten zu kön-
Expansionsrate und daher einen Rückgang des nen, dann ist man letzten Endes gezwungen, so
realen Wachstums von 7 auf 3 %. Aber im zweiten dirigistisch einzugreifen, wie das die Bundesregie-
Halbjahr 1962, also innerhalb eines halben Jahres, rung heute in der Bauwirtschaft tut.
wuchs die Zuwachsrate des Verbrauchs ganz gewal- Eine vierte Bemerkung, die an die Aufrichtigkeit
tig, und das reale Wachstum betrug mehr als 5 %. dieser Berichterstattung rührt! Der Tenor des Be-
So flexibel ist die moderne Wirtschaft. Da darf man richtes ist, alle Ansprüche an das Sozialprodukt soll-
nicht davon sprechen, daß die Angebotssteigerung ten auf die reale Zuwachsrate hin geordnet werden,
allgemein begrenzt sei. Darum ist es eben nicht die und für die öffentliche Hand heißt es in Ziffer 40:
einzige Lösung, immer wieder auf die Arbeitszeit-
verkürzung und ihre notwendige Bremsung hinzu- Die Steigerung der Gesamtausgaben der öffent-
weisen. Es gibt sehr vielfältige Quellen der wirt- lichen Hand, also derjenigen des Bundes, der
schaftlichen Entwicklung und sehr viele Möglich- Länder und Gemeinden muß in dieser Entwick-
keiten, die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. lungsphase an der zu erwartenden Steigerung
des realen Sozialprodukts orientiert werden....
Der Bericht der Bundesregierung steht unter der diese Forderung (muß) 1963 mit Nachdruck er-
Zwangsvorstellung einer allgemeinen Übernach- hoben werden.
frage. Infolgedessen steht im Zentrum die Frage,
wie man den Nachfrageanstieg begrenzen kann. Da- Meine Damen und Herren, die Rechnung der Bundes-
her die ganze restriktive Haltung dieses Wirt- regierung aber geht von einem Zuwachs der öffent-
schaftsberichtes, dessen entscheidende Vorschläge lichen Ausgaben von 9 % aus. Wer unsere Haus-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3351
Dr. Deist
haltsberatungen kennt, der weiß, daß, jedenfalls auf Meine Damen und Herren, ich bitte Sie wirklich
den Bund bezogen, die Ausgabensteigerung unter um Prüfung, ob das nicht eine sehr, sehr einseitige
Führung der Bundesregierung und unter Zustim- Darstellung ist. Auf der einen Seite wird gesagt,
mung der Bundestagsmehrheit wahrscheinlich eher alle müßten Sich auf den Zuwachs des Sozialpro-
auf einen Betrag über 9 % als unter 9 % gelangen dukts beschränken. Dann läßt man für die öffent-
wird. Auch der Herr Bundeskanzler hat am 9. Okto- liche Hand 10 % zu, berechnet für die Unter-
ber 1962 von einer Stabilisierung des Haushalts nehmungen 7 %, und den Arbeitnehmern sagt man:
gesprochen, und zwar in einem Augenblick, in dem Ihr habt euch mit 3 bis 3 1/2 % zu begnügen! Meine
der Staatsverbrauch von 11 % im ersten Halbjahr Damen und Herren, das grenzt an Irreführung der
1962 auf 17 % im zweiten Halbjahr 1962 gestiegen öffentlichen Meinung.
war. Es ist etwas schwierig, an die Aufrichtigkeit
solch maßvoller Formulierungen zu glauben, wenn (Beifall bei der SPD. — Lachen bei der
sie im selben Augenblick durch die Fakten wider- CDU/CSU.)
legt werden. Wenn Sie Disziplin von anderen verlangen, müs-
(Zurufe von der CDU/CSU.) sen Sie zunächst einmal bei sich selber Disziplin
halten.
— Die Steigerung steht zunächst einmal in den Vor- (Beifall bei der SPD.)
schlägen der Bundesregierung.
(Zuruf von der CDU/CSU: Vorschläge der Wenn Sie verlangen, daß Vertrauen zu einer sol-
Opposition!) chen Wirtschaftspolitik der Bundesregierung besteht
oder entsteht, dann müssen Sie alle Karten, auch
— Zunächst einmal hat die Bundesregierung die die eigenen, offen auf den Tisch legen.
Vorschläge gemacht. Ich spreche ja nur davon, ob
Behauptungen der Bundesregierung in ihrem Wirt- (Erneuter Beifall bei der SPD.)
schaftsbericht und das, was sie wirklich tut, so aus- Der Mißbrauch dieses Wirtschaftsberichts zu einer
einanderklaffen dürfen oder nicht. solchen Meinungsmanipulation entwertet die Glaub-
(Beifall bei der SPD. — Zuruf von der würdigkeit und Überzeugungskraft eines solchen
CDU/CSU: Verteidigungshaushalt!) Dokuments.
— Ich spreche von dem Zwiespalt zwischen dem, was Meine Damen und Herren, eine fünfte allgemeine
die Bundesregierung tut, und dem, was sie in solchen Feststellung. Der Wirtschaftsbericht soll ein Instru-
Berichten sagt. ment der Wirtschaftspolitik sein. Er ist nicht allein
(Abg. Lemmrich: Würden Sie es anders ein Produkt wissenschaftlicher Arbeit, er ist nicht
machen?) nur für Propaganda bestimmt, sondern er soll die
— Jedenfalls ist soviel sicher: wir würden nicht so Grundlage für Wirtschaftspolitik — idas heißt ja
zwiespältig reden. wohl: auch für die wirtschaftspolitischen Instanzen
des Bundes, auch für die Bundesregierung — sein.
(Lachen bei der CDU/CSU.)
In Ziffer 5 des Wirtschaftsberichts heißt es auch:
Meine Damen und Herren, dann komme ich auf
die Unternehmerinvestitionen. Sie haben im Jahre Die Ergebnisse sollen deutlich machen, ob, in
1962 uni 10 % zugenommen. Nach der Vorausschau welchem Ausmaß und in welcher Richtung eine
werden sie fin diesem Jahr um 7 % zunehmen. Um besondere staatliche Aktivität . . . notwendig
auch hier nicht mißverstanden zu werden, muß ich erscheint, . . .
sagen: Ich bin der Auffassung, daß in der labilen Das einzige Kapitel, das in diesem Wirtschafts-
Zeit, in der wir leben, eine Einengung dieser Inve- bericht fehlt, ist jenes Kapitel, das von der staat-
stitionen nicht stattfinden darf. Nur darf dann auch lichen Aktivität im eigenen staatlichen Raum han-
die Bundesregierung in ihrem Bericht nicht so tun, delt. Da gibt es nur unverbindliche Ratschläge an
als wenn sich alle, die Ansprüche an das Wirt- andere, kein Wort über die Ziele der Bundesregie-
schaftsprodukt stellen, auf 3 oder 3 1/2 % zu beschrän- rung, kein Wort über die Maßnahmen, die die Bun-
ken hätten.
desregierung in ihrem eigenen Zuständigkeitsbe-
Dann kommt als einzige Gruppe, bei der diese reich ergreifen will. Meine Damen und Herren, das
Forderung ernst genommen wird, die Gruppe der ist nicht nur meine Auffassung. In den Mitteilungen
Arbeitnehmer. Da heißt es: der Industrie- und Handelskammer in Dortmund
Bei einer sorgfältigen Prüfung der bei Abfas- schreibt Herr Dr. Jungermann:
sung dieses Berichts erkennbaren Entwicklungen
Es fehlt das vierte Kapitel, in dem nicht von der
und Möglichkeiten sollte die Steigerung der
Verantwortung der anderen, sondern von der
Lohn- und Gehaltssumme je Beschäftigten über
eigenen Verantwortung zu sprechen gewesen
den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfort-
schritt je Erwerbstätigen keinesfalls hinausge- wäre.... Es fehlt das vierte Kapitel, in dem zu
sagen wäre, was sie — die Wirtschaftspolitik —
hen. Dieser wird für 1963 . . . auf 3 bis 3 1/2 %
zu tun gedenkt.
geschätzt.... Bei der gegebenen Datenkonstella-
tion ist nicht nur zu befürchten, daß jedes Über- In dem Punkt, bei dem es sich darum handelt, ob
schreiten dieses Rahmens zu Schädigungen der wir hier nur eine quasi-wissenschaftliche Arbeit
Gesamtwirtschaft führen wird; derartige Schädi- oder ein entscheidendes wirtschaftspolitisches Doku-
gungen werden vielmehr mit sehr hoher Wahr- ment vor uns haben, muß leider Fehlanzeige erstat-
scheinlichkeit eintreten. tet werden.
3352 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Dr. Deist
Daraus erklärt sich auch das allgemeine Unbe- Anlaß zu leidenschaftlichen Auseinandersetzungen
hagen, das in der gesamten Ö ffentlichkeit hinsicht- geben.
lich dieses Wirtschaftsberichts besteht. Ich hoffe, Sie Damit komme ich zu einigen zentralen Problemen,
sind sich über diese Reaktion der Öffentlichkeit nicht zunächst zur Beschäftigungslage. Die Beschäftigungs-
im unklaren, sonst könnte ich mit einigen Zitaten lage in der deutschen Wirtschaft ist außerordentlich
aus der Presse von links bis rechts dazu dienen. differenziert, und wir sollten nicht so tun, als hätten
Aber vielleicht ist es nicht uninteressant, daß die wir in der deutschen Wirtschaft im wesentlichen
Europäische Wirtschaftskommission in ihrem ersten eine Überbeschäftigung. Wir haben einige Bereiche,
Quartalsbericht für 1963, der gerade erschienen ist, die überbeschäftigt sind; wir haben viele Bereiche,
davon spricht, daß im Bericht der Bundesregierung die normal beschäftigt sind; und wir haben sogar
leider keine konkreten Maßnahmen oder Aktionen einige Bereiche, die unterbeschäftigt sind. Lassen
angedeutet seien; „die tatsächliche Politik möglichst Sie mich dazu zwei Beispiele nennen.
schnell mit den Zielsetzungen in Übereinstimmung
zu bringen, wäre nun wichtig". Das ist in dem Die Bauwirtschaft ist zweifellos überhitzt. Aber
Quartalsbericht der Europäischen Wirtschaftskom- vielleicht soll man gegenüber Übertreibungen, die
mission zu lesen, und vielleicht ist das für manchen üblich sind, eines hinzufügen. Der Wohnungsbau
überzeugender, als wenn ich es sagte. hatimJre195643%dgsamtnBuprok-
tion ausgemacht, im Jahre 1962 dagegen nur noch
So erklärt sich auch das allgemeine Unbehagen, 36 %. Auch das sollte man beachten, wenn man
das Sie in der ganzen deutschen Öffentlichkeit immer davon spricht, daß der Wohnungsbau der
wegen der Passivität finden, die aus dem Wirt- Überhitzungsfaktor sei.
schaftsbericht der Bundesregierung spricht. Ich
(Beifall bei der SPD.)
brauche nicht alle Zeitungsnotizen anzuführen; aber
lassen Sie mich eine erwähnen, die im „Volkswirt" Sicherlich haben wir, ganz gleich, woran das liegen
vom 15. Februar 1963 erschienen ist. Da heißt es: mag, auf dem Gebiete der Bauwirtschaft Spannun-
gen, und wir haben uns mit ihnen auseinanderzu-
Wirtschaftspolitisch führen heißt jedoch nicht setzen. Die Frage ist nur, ob wir wirklich wieder
predigen. Die Führung bedarf schon klarer Vor- ,nur restriktiv vorgehen sollen, daß wir nur nach
stellungen über Ziele und Methoden, wohlge- der Nachfrage schauen und dann zu dem merkwür-
merkt, konkreter Ziele, nicht allein philoso- digen Mittel des Baustopps greifen, der doch, weiß
phisch-ethischer Postulate. Gott, nicht so recht in eine freiheitliche Wirtschaft
So der „Volkswirt" und nicht etwa ein Mitglied der hineinpaßt. Oder sollten wir nicht vielmehr über-
Opposition dieses Bundestages. legen, ob von der Seite des Angebots, der Bau-
leistung, nicht auch einiges geschehen kann?
Herr Schmücker hat, fürchte ich, dem Bericht
keinen besonderen Gefallen getan, als er versuchte, (Zuruf von der CDU/CSU: Machen Sie
ihn abzuwerten und in die Reihe der vielen sonsti- doch einen Vorschlag!)
gen Konjunkturberichte und anderer Gutachten zu — Moment mal, ich kann doch nicht alles auf ein-
stellen. mal sagen.
(Abg. Schmücker: Das ist doch gar nicht Vielleicht gibt es uns zu denken, daß die Bau-
wahr! Das machen Sie jetzt daraus! Das produktion im Tiefbau vom Jahre 1956 bis 1961
sind Ihre Unterstellungen! So diskutieren um 70 % gestiegen ist, die Bauproduktion im Hoch-
Sie! — Gegenrufe bei der SPD.) bau aber nur um 30%. Vielleicht ist zu überlegen,
— Nicht so heftig! Herr Schmücker, lassen Sie mich ob wir das wirklich einfach als Faktum hinnehmen
müssen oder ob e s nicht auch im Hochbau Möglich-
in aller Ruhe darauf antworten. Ich hatte gemeint —
keiten der Rationalisierung und Modernisierung
ich bin ganz vorsichtig; ich will Ihnen nicht zu nahe
gibt. Ich möchte anerkennen, daß der Herr Bundes-
treten —, diesen Ton aus Ihren Ausführungen her-
wohnungsbauminister sich seit zwei Jahren mit
auszuhören. Wenn Sie mir sagen, das sei entweder
diesem Problem befaßt. Er kommt aber offenbar in
nicht gewollt oder nicht geschehen, dann bin ich
diesem Kabinett mit seinen Überlegungen kein
gern bereit, das zu akzeptieren und daran keine
einziges Stück vorwärts.
weitere Kritik zu knüpfen.
In Frankreich und Schweden werden etwa 50 %
Aber der Herr Bundeswirtschaftsminister sollte der Bauten aus fertigen Teilen erstellt. In anderen
es sich überlegen, ob es richtig ist, bei einem solchen Ländern hat der Fertigbau einen Anteil von etwa
Dokument davon zu sprechen, daß es mit Absicht 10 % bis 20 %, in Deutschland macht der Anteil
keine konkreten Maßnahmen enthalte, weil man der Bauproduktion mit Fertigbauteilen 2 % aus.
eine ruhige Betrachtung der Lage, jedoch keine
leidenschaftlichen Auseinandersetzungen wünsche. (Zuruf von der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, zur Politik gehört leider — Ja, meinen Sie, daß man immer darauf warten
nicht nur eine ruhige Betrachtung dessen, was ist, muß? Meinen Sie nicht, .daß ein moderner Staat
sondern dazu gehören, wenn sie wirklich echt sein die Aufgabe hat, Anreize zu der Entwicklung einer
soll, auch leidenschaftliche Auseinandersetzungen. solchen modernen Bauweise zu geben, wie das alle
Darum sollte man ein solches Dokument nicht ab- anderen demokratischen Staaten auch tun? Die Bun-
werten, sondern ein solcher erster Wirtschaftsbericht desregierung lehnt das theoretisch ja nicht einmal
als Grundlage der Wirtschaftspolitik sollte eigent- ab. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regie-
lich, wenn wir ein gesundes politisches Leben haben, rungserklärung vom Oktober 1962 gesagt, die Re-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3353
Dr. Deist
gierung erwäge Schritte zur Förderung des Fertig- Das ist aktive Wirtschaftspolitik, die eigentlich von
baus. Das Schlimme ist nur, daß bei dieser Bundes- derBunsgibtewrdnmüß.
regierung auf diesem Gebiete überhaupt nichts ge-
schieht. Ich will gar nicht davon sprechen, daß, wenn die
Bundesregierung auf dem Gebiet der Werften etwas
(Zurufe von der CDU/CSU: Das stimmt ja früher aktiv geworden wäre, wir dann vielleicht
einfach nicht!) eine bessere Beschäftigung der Werften und damit
— Aber natürlich! Würden Sie mir sagen, was die auch eine größere Auftragserteilung an die Eisen-
Bundesregierung effektiv auf dem Gebiete der För- und Stahlindustrie von hier aus gehabt hätten. Ich
derung 'des Fertigbaus getan hat, ob sie Erleichte- meine, auch beim Röhrenembargo hätten man sich
rungen bei den Abschreibungen, ob sie Steuerer- überlegen müssen, ob die außenpolitischen Argu-
leichterungen gewährt hat? mentationen nicht allzu fadenscheinig sind,

(Abg. Dr. Besold: Es müssen erst Fabriken (Zurufe von der Mitte)
für die Fertigbauweise gebaut werden!)
und man hätte nicht übersehen sollen, eine wie
— Es werden leider keine Fabriken gebaut. Die wichtige Aufgabe der Wirtschaftspolitik mit zur
Bundesregierung kann zwar viele andere Dinge an- Diskussion stand. Hier bestehen Möglichkeiten zu
regen und fördern, bloß anscheinend nicht auf dem einer aktiven gezielten Wirtschaftspolitik, die bei
Gebiete der Bauwirtschaft. Hier ist ihre Aufgabe, uns i n keiner Weise ausgenutzt werden. — Das ist
die Ansatzpunkte für eine gesunde wirtschaftliche das erste Kapitel.
Entwicklung zu geben. Sie sollten doch die Regie-
rung und den modernen Staat nicht zu einem sol- Lassen Sie mich einiges zu den Investitionen
chen Nachtwächterstaat herabwürdigen, wie Sie das sagen. Zu dem Gebiet der Investitionen kann der
hier zu tun versuchen. Bericht natürlich nicht sagen, daß wir eine allge-
(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der meine Übernachfrage hätten; im Gegenteil. Aber es
CDU/CSU.) ist doch die Frage, ob wir dem Zweckpessimismus
folgen müssen, der von der Bundesregierung im
Auf dem Gebiete der Steuerpolitik, sogar auf Hinblick auf die Investitionstätigkeit gezeigt wird,
dem Gebiete der Beeinflussung der öffentlichen und ob auf diesem Gebiet wirklich solche Gefahren
Meinung — hier wäre ein erfolgversprechendes vorliegen, wie sie hier geschildert werden.
Gebiet für Seelenmassage, Herr Bundeswirtschafts-
minister — könnte man etwas tun, um die Lethar- Die Anlageinvestitionen der deutschen Wirt-
gie, die bei uns in Deutschland auf diesem Sektor schaft sind im Jahre 1962 immerhin um 10 % ge-
herrscht, endlich einmal zu beseitigen. Auch das ist stiegen, und für das Jahr 1963 rechnen wir mit einer
die Aufgabe einer aktiven Regierung. Meine Da- Steigerung der Anlageinvestitionen um 7 %. Wir
men und Herren, das ist ein Gebiet, auf dem wir wissen auch, daß sich zum Jahresende die Löhne all-
der Überhitzung durch eine Steigerung des Ange- mählich abgeflacht haben. Wir wissen aus allen
bots beikommen könnten. wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen, daß
sich die Gewinnlage der Unternehmungen — Gott
Nun will ich ein Gebiet von der anderen Seite sei Dank, sage ich — allmählich ein klein wenig zu
als Beispiel nehmen, nämlich die Eisen- und Stahl- bessern beginnt. Hier zeigt sich also, daß sich be-
industrie. In dem Wirtschaftsbericht der Bundesre- reits ein Wechsel in der gesamten wirtschaftlichen
gierung wird theoretisch gesagt, manche Bereiche Entwicklung anbahnt.
seien mangels Nachfrage nicht ausgenutzt. Aber es
wird nichts davon gesagt, welche Möglichkeiten In einer solchen Situation, die, wie ich gern zu-
hier eigentlich für die Wirtschaftspolitik bestehen, gebe, außerordentlich labil ist und daher sehr vor-
eine Produktionssteigerung anzuregen. sichtig beurteilt und behandelt werden muß, ist der
Die eisenschaffende Industrie bestreitet 5 % un- Zweckpessimismus der Bundesregierung die größte
serer industriellen Produktion, sie hat also eine Gefahr. Wenn die Bundesregierung wirtschaftspoli-
zentrale Stellung. Wenn sie heute unterbeschäftigt tische Vorsorge treffen würde — durch steuerliche
ist, dann liegt das an der gesamten Entwicklung Anreize, eigene Investitionsprogramme und derglei-
des Beschäftigungsvolumens in der verarbeitenden chen mehr —, würde sie wahrscheinlich durch diese
Industrie. Wir wissen aber, daß d a sehr stark Pha- Vorsorge effektive Eingriffe vermeiden, aber einen
senverschiebungen eine Rolle spielen. Hier wäre Impuls für eine Verbesserung der Lage gerade der
es doch eine Aufgabe der öffentlichen Unterneh- Investiogürduben.EsitAfga
mungen — der Bundesbahn, der Veba, der Viag —, der Bundesregierung, dafür Maßnahmen vorzube-
zurückgestellte Aufträge endlich einmal an die Bi- reiten.
sen- und Stahlindustrie zu geben; so könnte der Vielleicht ist es nicht ganz uninteressant, darauf
Wagen- oder Lokomotivpark unserer Eisenbahnen hinzuweisen, daß von der Kommission der Euro-
modernisiert und damit den von der augenblick- päischen Wirtschaftsgemeinschaft den fünf Regie-
lichen Entwicklung benachteiligten Gruppen der
rungen der Staaten der Europäischen Wirtschaftsge-
Wirtschaft — hier der Eisen- und Stahlindustrie — meinschaft ein Dokument zugeleitet wurde, das von
Möglichkeiten zu einer stärkeren Beschäftigung ge-
ihnen verlangt, solche vorbereitende Maßnahmen
geben werden.
gegen eine Abschwächung der wirtschaftlichen
(Beifall bei der SPD.) Tätigkeit zu treffen.
3354 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie Wirtschaft auf dem Weltmarkt entscheidend zu be-
eine Zwischenfrage? einträchtigen drohe. Vielleicht ist es doch wichtig,
gegenüber dieser Meinung, die durch den Bericht
hervorgerufen wird, auf vier Tatsachen hinzuweisen.
Dr. Deist (SPD) : Einen Moment bitte. — Diese
prophylaktische Tätigkeit ist ein wichtiges Element Die erste: wir haben im Jahre 1962 tatsächlich
jeder modernen Wirtschaftspolitik; aber von dieser eine sehr hohe Einfuhr gehabt, aber sie war zum
wirtschaftspolitischen Vorsorge ist in dem Wirt- Teil auf die schlechte Ernte bei den Nahrungsmitteln
schaftsbericht der Bundesregierung leider kaum die und auf sehr hohe Auslandsbezüge von Rüstungs-
Rede. gütern zurückzuführen.
Bitte sehr, Herr Burgbacher. Ein zweites! Die Entwicklung unseres Exports
nach Abnahmegebieten ist außerordentlich interes-
Dr. Burgbacher .(CDU/CSU) : Herr Abgeordneter sant. Im gesamten hat sich unser Export im Jahre
Deist, Sie haben wiederholt gesagt, daß der Bericht 1962 etwa um 4 % vermehrt. Aber der Export in
von Pessimismus spreche. Haben Sie den Satz auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist um 11 %
Seite 11 nicht gelesen, der lautet; gestiegen, der Export in die Vereinigten Staaten von
Amerika ist um 12 % gestiegen, der Export in die
Die Ergebnisse der Vorausschau verbieten einen EFTA ist nur um 2 % gestiegen, und der Export in
Konjunkturpessimismus. die überseeischen Gebiete ist um 8 % gesunken. Das
Wenn Sie ihn gelesen haben, worauf stützen Sie Ihre ist ein wichtiges Kapitel. Es kann also nicht etwa
Meinung? von einer gefährlichen allgemeinen Absenkung die
Rede sein, sondern wir müssen feststellen, daß der
Export in einzelne Gebiete sehr stark steigt und
Dr. Deist (SPD) : Ich habe den Satz gelesen. Aber in andere Gebiete — wie z. B. in die EFTA — in
es kommt nicht auf einen Satz, sondern es kommt gefährlicher Weise sinkt.
auf den ganzen Inhalt des Berichts an.
Ich bin im Augenblick dabei, im einzelnen dar- In dem letzten Monatsbericht des Bundeswirt-
zulegen, wie wenig die Bundesregierung darauf ver- schaftsministers vom 1. April wird ausführlich dar-
traut, daß durch eigene Maßnahmen Ansatzpunkte gelegt, daß der Auftragseingang aus dem Ausland
für eine wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung und erfreulicherweise recht günstig sei und daß vor allen
für eine Überwindung von Tälern geschaffen wer- Dingen im Februar 1962 der Auftragseingang an
den können. Alles, was sie vorbereitet, kumuliert Investitionsgütern um 18 % gestiegen sei. Ich sage
vielmehr in dem Satz: „Einschränken, einschränken, das alles nur, um zu einer realistischen Beurteilung
einschränken!" Ich habe das vorhin im einzelnen dar- der Außenhandelssituation beizutragen.
gelegt. Herr Burgbacher, wenn Sie diesen Bericht Nun eine letzte Feststellung! Der Anteil der deut-
einmal durchlesen, werden Sie spüren, wie wider- schen Ausfuhr am Weltexport ist von 1958 bis zum
sprüchlich er im ganzen ist, wie er sich bemüht, in Jahre 1962 nicht etwa gesunken, wie man nach den
Worten vielseitig seine Gunst zu verteilen, und wie üblichen Unkenrufen annehmen könnte, sondern er
dann, wenn Hinweise gegeben werden und wenn ist von 9,2 % auf 10,8 % gestiegen. Auch im Jahre
es um die Aktivität der Bundesregierung geht, eine 1962 ist der Anteil der deutschen Ausfuhr am Welt-
ganz einseitige Betrachtungsweise Platz greift. export noch von 10,7 % auf 10,8 % angewachsen.
Lassen Sie mich ein paar Worte zum Außenhandel Also, meine Damen und Herren, irgendwie kann
sagen. Auch auf diesem Gebiet verfolgt die Bundes- es wohl nicht ganz stimmen, daß unser Außenhandel
regierung in ihrem Bericht einen Zweckpessimismus, unter der inländischen Kosteninflation, unter der
der in keiner Weise angebracht ist. Wir haben jahre- Lohnentwicklung leide. Unser Außenhandel, unsere
lang Milliarden-Überschüsse in der deutschen Außen- Ausfuhr sind glücklicherweise doch recht wettbe-
wirtschaftsbilanz gehabt, und wir haben sehr dar- werbsfähig, und wir haben unseren Anteil am
über geklagt, weil diese übergroßen Überschüsse Außenhandel der Welt in den letzten Jahren stetig
eine außerordentliche Belastung unserer wirtschaft- steigern können. Das wollte ich nur sagen, um die
lichen Entwicklung waren. Der Herr Bundeswirt- Akzente richtig zu setzen.
schaftsminister hat ja die D-Mark-Aufwertung gerade Wichtig erscheint mir, daß wir unseren Außen-
damit begründet, es komme darauf an, Einfuhren handel genauestens beobachten müssen, daß die
und Ausfuhren in ein einigermaßen verträgliches Lage auf den Auslandsmärkten außerordentlich labil
Verhältnis zu bringen. Ich .will jetzt über diese ist und unsere größte Aufmerksamkeit erfordert.
Maßnahme nicht rechten. Ich will nur sagen: der Aber dann ist es völlig falsch, in politischer Blindheit
Effekt war, daß der Außenhandelsüberschuß, der den Blick in die falsche Richtung zu lenken, als wenn
im Jahre 1961 6,8 Milliarden DM betrug, im Jahre die Lohn- und Kostenentwicklung die Ausfuhr er-
1962 auf 3,7 Milliarden DM abgesunken ist. Ich schwere, und uns damit den Blick dafür zu verne-
möchte meinen — das ist auch im Wirtschaftsbericht beln, daß es sich hier vielmehr um die Frage der
des Herrn Bundeswirtschaftsministers angedeutet -, Gestaltung der europäischen Politik handelt, einmal
daß darin im Prinzip ein Normalisierungsprozeß zu des Verhältnisses der EWG zur EFTA, d. h. um die
sehen ist. gesamteuropäische Entwicklung, zum anderen, um
In dem Bericht wird im übrigen der Eindruck die Politik gegenüber den Entwicklungsländern, da-
erweckt, als ob es sich um einen schweren Einbruch mit nicht alles an Kapitalkraft, was in diese Länder
handle, der die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen fließt, durch die Senkung der Ausfuhren dieser Ge-
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Dr. Deist
biete wieder zunichte gemacht wird. Es kommt hier Nur allmählich ist die Wissenschaft zu der Über
darauf an, daß wir die Gelegenheit des Appells zeugung gekommen, daß hier verhältnismäßig ge-
Kennedys zu einer weltweiten Besserung der Welt- ringe Zusammenhänge bestehen unid daß die Preis-
handelsbeziehungen nutzen, um diese Schwierigkei- steigerungen weitgehend verhältnismäßig konstant
ten zu überwinden. Da sollten wir auch ein klein bleiben, unabhängig davon, wie sich Angebot unid
wenig überlegen, ob unsere Ausfuhrpolitik insge- Nachfrage entwickeln. Wir hatten Zeiten starker
samt gesehen diesen modernen, neuen Erkenntnissen Preissteigerung, während sich zur gleichen Zeit die
noch ganz angemesesn ist. Hier nützt aber kein Nachfrage nur ganz gering ausweitete, und wir hat-
Zweckpessimismus, daß unsere Kostenlage die Aus- ten Zeiten einer starken Nachfrageausweitung, wäh-
fuhr erschwere, sondern es gehört eine ganz realisti- rend die Preissteigerungen nur ganz gering waren.
sche Erkenntnis der Lage auf unseren Außenhandels-
märkten und eine aktive Außenhandelspolitik dazu. Preis Auf dem Gebiet, auf dem wir die stärksten
-st eigerungen haben, haben wir eigentlich die starr-
(Zuruf von der FDP: Und auch der Kosten! ste Nachfrage, z. B. bei den Mieten, bei Getreide,
— Gegenruf von der Mitte: Kosten spielen bei Lebensmitteln und dergleichen mehr.
doch keine Rolle!)
(Lebhafte Zurufe von der Mitte unid rechts.)
— Die Kosten spielen natürlich eine Rolle. Ich habe
Ihnen nur gesagt, daß wir offenbar im Wettbewerb — Bitte, ich habe gesagt: Lebensmittel, Ernährungs-
durchaus mithalten können und daß unser Anteil am güter, Mieten usw. Das ist doch immerhin ein merk-
Welthandel sich im letzten Jahr sogar noch gestei- würdiges Zeichen. Es scheint doch nicht ganz so ein-
gert hat. Das ist doch wohl ein Beweis dafür, daß fach, daß die Preisentwicklung von der Nachfrage
Probleme des Welthandels und unseres Außenhan- bestimmt wird. Hier sind vielmehr viel, viel kom-
dels nicht so einseitig unter dem Gesichtspunkt der pliziertere Tatbestände zu beachten. Das halt die
Löhne und Kosten beurteilt werden können. neuere Literatur unid hat auch der Bericht der Bun-
desregierung gesehen. Die Bundesregierung führt
Wenige Worte zur Preisentwicklung. Der Wirt-
daher ergänzend an, daß ein Teil der Preise durch
schaftsbericht stellt zutreffend fest, Zielsetzung und
die Kosteninflation bedingt sei, daß nämlich die
Ergebnis unserer Preispolitik klaffen weit ausein-
Löhne so gestiegen seien, daß sie nunmehr die
ander. Die Tatsachen sind wirklich erschütternd. Die
Preise in die Höhe trieben.
Lebenshaltungskosten sind im Jahre 1962 um 3,5 %
gestiegen. Im Februar 1963 lagen sie um 5 % über Sicherlich, die Löhne sind in der deutschen Indu-
denen des Vorjahres, und für 1963 veranschlagt die striewirtschaft am stärksten gestiegen, insbesondere
Vorschau der Bundesregierung eine weitere Preis- im Jahre 1962. Nur sind die Preise für die Industrie-
erhöhung um insgesamt etwa 2 bis 3 %. Unter Zif- erzeugnisse in diesem Jahre kaum, nämlich nur um
fer 34 des Berichts des Herrn Bundeswirtschafts- 1 %, gestiegen. Die Preissteigerungen zeigten sich
ministers wird deutlich gesagt, daß Erhaltung der weit entfernt von den Erzeugermärkten, auf denen
Preisstabilität die wichtigste wirtschaftspolitische sich diese Löhne auswirken, nämlich auf den Ver-
Aufgabe der Bundesregierung sei. Ich frage mich brauchermärkten. Das zeigt doch sehr deutlich, daß
aber, meine Damen und Herren: Wo finden wir eine solche enge Beziehung — ich leugne nicht jede
eigentlich lin dem ganzen Wirtschaftsbericht der Beziehung, sondern spreche von enger Beziehung —
Bundesregierung eine einzige wirtschaftspolitische zwischen Löhnen und Preisen nicht besteht und daß
Maßnahme zur Preisstabilisierung außer guten Rat- die Dinge viel, viel komplizierter sind.
schlägen an viele andere Beteiligte? Bitte, eigene
wirtschaftspolitische Maßnahmen der Bundesregie- Ich finde, daß das Europäische Parlament einen
rung! Ich will nicht selber als Zeuge auftreten. In Beitrag zu einer etwas sachlicheren Beurteilung der
der „Zeit" hat Hermann Riedel dazu geschrieben: Zusammenhänge zwischen Kosten und Preisen ge
liefert hat. Es hat einstimmig — also mit Zustim-
Die Erhaltung der Preisstabilität wird als ein -
mung Ihrer Freunde, meine Damen und Herren —
Hauptziel der deutschen Wirtschaftspolitik ak- eine Entschließung angenommen, in der es heißt:
zeptiert, und doch prognostiziert idas Bundes-
wirtschaftsministerium in seinem Plan, daß die Das Parlament erwartet von der EWG-Kommis-
Preise 1963 um 2 bis 2,5 % steigen werden. Wie sion eine Bestandsaufnahme und eine Bewer-
man zu dieser Feststellung kommt, ist nur tung
schwer erklärlich. Entweder ist es eine Bankrott-
a) der verschiedenen Arten der geführten Lohn-
erklärung aller bisherigen und künftigen wirt-
politik,
schaftspolitischen Maßnahmen oder es ist ein-
fach eine Prognose ohne ökonomische Logik. b) der Bedeutung der Nachfrage nach Investi-
tionsgütern,
Über preispolitische Maßnahmen, d . h. über Maß-
nahmen der Bundesregierung zur Sicherung der c) der Auswirkungen oligopolistischer Markt-
Preisstablilität, wird in .diesem ganzen Bericht nicht strukturen,
ein einziges Wort verloren. Aber, Herr Atzenroth, — und jetzt kommt die Begründung:
Sie halben recht: Gedanken darüber hat man sich
auch in dem Bericht gemacht. Diese Geldanken gehen da sich das Europäische Parlament erst dann
'in zwei Richtungen. Man sagt einmal: die Nachfrage ein Bild über die zentralen Ursachen der Preis-
ist zu hoch, vor allem die private Nachfrage, ange steigerung machen und gegebenenfalls Vorstel-
heizt durch die Löhne, unid dadurch — durch über- lungen über eine Neuorientierung der Lohn-
reiche Nachfrage — steigen ständig die Preise. und Preisbildungspolitik entwickeln kann.
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Dr. Deist
Meine Damen und Herren, mir scheint, daß eine An diesem Kapitel wird das Versagen des Wirt-
solche Untersuchung die Voraussetzungen zu einer schaftsberichts sehr deutlich erkennbar. Denn wenn
sachlichen Erörterung des Problems schaffen kann. es diese Ursachen für die ständigen Preissteigerun-
Man darf nicht immer so einseitig auf die Löhne gen, für die ständige Steigerung des Preisniveaus,
starren, wie das bei uns in Deutschland heute der bei uns in Deutschland gibt, dann muß es ja wohl
Fall ist. auch für die Wirtschaftspolitik Mittel geben, dieser
von Ihnen selbst immer als unglücklich angepran-
Vielleicht darf ich auf folgende zwei Tatsachen gerten Entwicklung entgegenzutreten. Wenn Sie
hinweisen, die für die Preisentwicklung von ent- meinen, daß die von uns vorgeschlagenen Mittel
scheidender Bedeutung sind. In der letzten Zeit sind nicht wirksam oder nicht zweckmäßig sind, dann
die Preise der Ernährungsgüter sowie die Bahn- und sollten Sie wenigstens andere Vorschläge machen.
Postgebühren, die Mieten und die Preise für den Es genügt nicht, große und gute Worte über diese
Hausbrand gestiegen. Das sind alles Dinge, die mit Dinge zu sagen und dann nicht eine einzige Tat,
der Lohnentwicklung verhältnismäßig wenig zu tun nicht einen einzigen Vorschlag zur Lösung dieses
haben; aber die Preissteigerungen, die mehr als Problems folgen zu lassen.
50 % der Lebenshaltungskosten ausmachen, — —
(Beifall bei der SPD.)
(Abg. Dr. Burgbacher: Wie, mehr als 50 %?
— Weitere Zurufe von der Mitte und Ge Lassen Sie mich ein paar Worte zu dem Problem
genrufe von der SPD.) der Löhne sagen, das in diesem Bericht ja auch aus-
führlich behandelt wird. Meine Damen und Herren,
— Die Ernährungskosten, die Kosten für Bahn und hier geht es um eine wichtige Sache. Es geht um das
Post, die Beförderungskosten, die Mieten und die soziale Klima bei uns in Deutschland. Es geht dar-
Kosten für den Hausbrand machen sicherlich mehr um, die Auseinandersetzungen über die Beteiligung
als 50 % der Lebenshaltungskosten aus. an der Einkommensentwicklung bei uns in Deutsch-
land mehr zu versachlichen. Ich möchte über die Be-
(Zuruf von der Mitte: Aber die Preissteige
deutung dieses Themas keinerlei Zweifel lassen.
rung macht nicht mehr als 50% aus!)
Wir haben eine wirtschaftliche Entwicklung hinter
— Wenn ich Preissteigerung gesagt habe, habe ich uns, nach der wir uns nunmehr in jeder Hin-
mich versprochen. Ich meinte, daß bei diesen Grup- sicht — auf der Seite der Gewinnentwicklung, auf
pen, die mehr als 50 % der Lebenshaltungskosten der Seite der Investitionen und auf der Seite des
ausmachen, entscheidende Preissteigerungen einge- Verbrauchs — veränderten Verhältnissen anpassen
treten sind. müssen. Das ist ein Vorgang, der einer ernsthaften
Beachtung und einer ernsthaften Untersuchung be-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen darf. Ich möchte die Bedeutung dieses Problems gar
Sie mich ein Zitat aus diesem Wirtschaftsbericht nicht verkleinern. Aber ich meine, wenn es sich um
bringen, das sehr aufschlußreich ist: ein solches Problem der Anpassung an veränderte
Preissenkungen in Bereichen mit überdurch- Verhältnisse handelt, die immer schwierig ist, dann
schnittlichem Produktionsfortschritt sind zum sollte man sich doch zunächst einmal über die Fak-
Ausgleich für unvermeidbare Preiserhöhungen ten, die hier vorliegen, Klarheit verschaffen, damit
in Zweigen mit geringer Rationalisierungsmög- man nicht in Unkenntnis der Fakten zu falschen
Urteilen und vielleicht auch zu falschen Maßnahmen
lichkeit notwendig, wenn das gesamte Preis-
kommt.
niveau nicht weiter steigen soll.
Die Entwicklung der Löhne und Gehälter hat sich
Das ist wirklich die Kardinalfrage, die hier gestellt im Laufe der letzten zehn bis zwölf Jahre durchaus
ist: Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um im Rahmen der allgemeinen Einkommensentwick-
dafür zu sorgen, daß in diesen Bereichen, wo wir - lung gehalten. Das Volkseinkommen ist je Einwoh-
große Rationalisierungsfortschritte haben, die not- ner in Deutschland seit 1950 um 168 % gestiegen.
wendigen Preissenkungen erfolgen? Das ist zugleich Die Nettolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer sind
die Frage der Kartellpolitik, das ist die Frage der um 137 % gestiegen, also im Laufe der elf, zwölf
Preisbindung zweiter Hand, über die wir so viel Jahre hinter der gesamten Steigerung des Volks-
gehört haben und um die es auf einmal so furchtbar einkommens zurückgeblieben.
still geworden ist, das ist die Frage der Kartell-
politik gegenüber marktbeherrschenden Unterneh- (Zurufe von der CDU/CSU.)
mungen, das ist die Frage der Monopolkommission — Ich stelle jetzt nur einmal Tatsachen fest, weil
zur Offenlegung der Verhältnisse in den monopoli- es wichtig ist, daß man sich vor Urteilen über die
sierten Bereichen, das ist die Frage des Preisrates, Fakten ein einigermaßen ruhiges und sachliches Ur-
um in die Preisentwicklung hineinzuleuchten. Meine teil bildet.
Damen und Herren, Sie können die eine oder andere Die Zuwachsrate bei den Löhnen und Gehältern
dieser von uns vorgeschlagenen Maßnahmen für . der Arbeitnehmer hat im Jahre 1960/61 sicherlich
nichtguale.Abrskönchweliag: sehr stark zugenommen. Sie ist aber seither — d. h.
Hier liegt das entscheidende Problem, auf der in den Jahren 1962 und 1963 — wie die ersten Zah-
anderen Seite aber sagen: Alles, was geschehen len für 1963 ausweisen — in einem Prozeß der
könnte, um dieses Problem zu lösen, halten wir nicht Rückbildung begriffen. Im Jahre 1961 sind die Löhne
für möglich und wollen wir nicht. und Gehälter je Arbeitnehmer um 10,2 % gestiegen,
(Beifall bei der SPD.) im Jahre 1962 um 8,7 %, im ersten Quartal 1963
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3357
Dr. Deist
I offenbar, nach den bisher vorliegenden Zahlen, nur schränkt; wir haben ihm großzügigerweise 4,5 %
um 7,5 %. Wir haben hier also einen Prozeß der bewilligt. Wir sind weiter davon ausgegangen, daß
Anpassung nach unten vorliegen. nach Ihren Richtlinien und Vorschlägen die Löhne
und Gehälter nur um 3,5 % steigen. Bei einer sorg-
Hinzu kommt, daß die Produktivität der Wirt- fältigen Durchrechnung, die wir durch wirtschafts-
schaft in Deutschland Ende 1962 wesentlich höher wissenschaftliche Institute haben überprüfen lassen,
lag als am Beginn des Jahres 1962. In der Industrie sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß das wirt-
war sie um 7,5 % gestiegen. Das heißt: die Schere schaftliche Wachstum außerordentlich gedrosselt
zwischen der Produktivitätsentwicklung und der werden würde, wenn diese Ihre Richtlinien beachtet
Lohnentwicklung schließt sich wieder, und wir sind würden, und daß wir höchstens mit einem Zuwachs
bereits mitten in diesem Prozeß der Normalisie- des wirtschaftlichen Wachstums von 1 1 /2 bis 2 %
rung. zu rechnen hätten, statt von 3 1/2 % , wie Sie in Ihrem
Lassen Sie mich eine vierte Feststellung treffen, Bericht errechnet haben.
die Sie sicherlich nicht bestreiten können. Wir ha- (Hört! Hört! bei der SPD.)
ben es ungeachtet dieses Prozesses mit einer stän-
dig steigenden Sparneigung zu tun. Unsere Spar- Das heißt: die Berücksichtigung Ihrer Leitlinien
rate beträgt ein klein wenig über 9 % der Privat- würde zu einer starken Rezession innerhalb der
einkommen. Das ist eine hohe Sparrate, und es ist Wirtschaft führen.
ein gesunder Ansatz für die Vermögensbildung, die (Hört! Hört! bei der SPD.)
wir doch wohl alle auf unsere Fahnen geschrieben
haben. Ich möchte Sie daher bitten, diese Angaben ein-
mal nachzuprüfen. Mir scheint, daß hier ein gefähr-
Meine Damen und Herren, wenn man sich alle licher Weg begangen wird. Ich möchte auch gerne
diese Zahlen überlegt, muß man sich darüber klar- wissen, ob in Ihrem Hause auch rechnerisch nach-
werden, daß die Entwicklung schon ein klein wenig geprüft worden ist, wohin Ihre Rechnung führen
weitergegangen ist gegenüber der Situation, die würde, wenn sich alle, der Staat, die Wirtschaft und
dem Wirtschaftsbericht der Bundesregierung zu- die Arbeitnehmer, an dieses Limit von einer Steige-
grunde liegt. Wir stehen in der Gefahr, daß die rung ihrer Ansprüche um 3 bis 3 1/2 % hielten. Nach
Nachfrage in weiten Bereichen eher zu gering als all den Unterlagen, die wir vorliegen haben, bin ich
zu hoch ist und daß dadurch rezessive Wirkungen der festen Überzeugung, daß das zu einer starken
ausgelöst werden. Wir stehen weiter vor der Ge- Gefährdung unserer wirtschaftlichen Entwicklung
fahr, daß durch die Verringerung der Lohnentwick- führen würde. Ich meine: eine Bundesregierung, die
lung die guten Ansätze zu einer Vermögensbildung eine solche Pferdekur vorschlägt, wäre wenigstens
zerschlagen werden. Darum, meine Damen und Her verpflichtet, nachdem sie sonstige Eventualrechnun-
ren, ist die Forderung des Wirtschaftsberichts, die gen vorlegt, uns auch eine Rechnung darüber vorzu-
Nachfrage weiterhin zurückzudrängen, ein gefähr- legen, wohin die Entwicklung führen würde, wenn
licher Ratschlag; er beschwört nämlich die Gefahr sich alle — der Staat mit seinen Ausgaben, die
herauf, daß das reale Wachstum der Wirtschaft mehr Wirtschaft mit ihren Investitionen und die Verbrau-
geschwächt wird als zu vertreten isst. — Meine Da- cher mit ihren Ansprüchen — auf dieses Limit von
men und Herren, das ist nicht nur Theorie. 3 1/2 % beschränkten.
Lassen Sie mich jetzt hierzu eine Frage stellen, (Beifall bei der SPD.)
die unmittelbar mit dem Text des Wirtschaftsbe-
Mir scheint, daß man sich darüber klarwerden
richts zusammenhängt. In den Leitlinien der Bun-
muß, daß wir uns in einer Übergangsperiode befin-
desregierung wird verlangt, daß sich die Entwick-
den, daß sich die Wachstumsbedingungen ändern
lung in den verschiedenen Bereichen der Wirtschaft
und daß man schon die Ansprüche der verschiedenen
an dieses Maß von 3,5 % hält, das nach Auffassung
Gruppen des Volkes aufeinander abstimmen muß,
der Bundesregierung möglich und tragbar ist. Meine -
im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung. Aber
Damen rund Herren, ich sagte schon, daß die Bundes-
wenn die Verhältnisse wirklich so liegen, wenn sich
regierung aus dieser Forderung nicht die notwendi-
die Voraussetzungen einer guten wirtschaftlichen
gen Konsequenzen gezogen hat, sondern bezüglich
Entwicklung wesentlich verändert haben und wenn,
der öffentlichen Aufgaben wesentlich höhere Raten
wie ich zu Beginn ausführen durfte, wir nicht nur
des Volkseinkommens in Anspruch nimmt und
auf eine mengenmäßige Expansion rechnen dürfen,
nolens volens auch für die Investitionsneigung hö-
sondern die Grundlagen unserer wirtschaftlichen
here Raten zugestehen muß. Aber die Frage ist die:
Entwicklung modernen Tendenzen anpassen müs-
Die Bundesregierung muß sich ja doch wohl Gedan-
sen, dann ist es notwendig, ein soziales Klima zu
ken darüber gemacht haben, zu welchen Ergebnis-
schaffen, in dem ein solcher Prozeß der Umgestal-
sen ihre Leitlinien führen würden, wenn sie ange-
tung ohne größere Gefahren vor sich gehen kann.
wendet würden. Sie hat leider darauf verzichtet,
Dazu gehört auch eine Versachlichung der Ausein-
eine solche Prognose zu stellen, eine Rechnung auf-
andersetzungen; dazu gehört, daß man an Berech-
zustellen, wohin die Wirtschaft laufen würde, wenn
nungen und Unterlagen, wie sie hier vorgelegt wer-
sich alle diejenigen, die Ansprüche an das Sozial-
den, die Betroffenen beteiligt, damit sie eine Ein-
produkt stellen, an diese Grenze von etwa 3 1/2 %
sicht in die Dinge bekommen, mit denen sie unmit-
Zuwachs hielten. Wir haben einmal eine Berech-
telbar zu tun haben.
nung aufstellen lassen. Sie geht vorsichtigerweise
davon aus, daß sich der Staat hinsichtlich seiner Vielleicht ist es nicht uninteressant, daß die euro-
Aufgaben gar nicht etwa auf 3,5 % Zuwachs be päische Wirtschaftskommission in dem Bericht, den
3358 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Dr. Deist
ich Ihnen vorhin darlegte, ausdrücklich darauf hin- nicht als Bestandteil der Bundesrepublik betrachtet
gewiesen hat, wie wichtig es ist, daß ein solcher wird.
Bericht vor seiner Fertigstellung mit den maßgeb- (Abg. Mattick: Sehr wahr!)
lichen Behörden, den Gebietskörperschaften, den
Wir haben mit Dank zur Kenntnis genommen, was
Vertretern der wichtigsten Bevölkerungsgruppen,
der Herr Bundeswirtschaftsminister heute dazu aus-
vor allem der Sozialpartner, in Konsultation aufge-
geführt hat. Aber es ist nicht nur eine Frage des
stellt wird. Das ist ein wichtiges Element für den
Stils, sondern es geht viel weiter, ob man in einem
Aufbau einer gesunden demokratischen Gesellschaft,
solchen Dokument unter der „übrigen Welt" das
die sich ständigen Veränderungen anpassen muß.
Ausland, die sowjetische Besatzungszone und Berlin
Dann ist es eben nicht ganz aufrichtig, wenn man in einem Zuge nennen kann. Ich möchte sehr hoffen,
unter dem Gesichtspunkt „Wir müssen uns jetzt alle daß der Herr Bundeskanzlerkandidat das Finger-
diesem Zuwachs von 3 % anpassen" im stillen auf spitzengefühl aufbringt, das für solche Dokumente
der Seite des Staates 9 % Expansion zuläßt, auf der erforderlich ist und das dieser Passus in dem Wirt-
Seite der Wirtschaft 7 % und dem Arbeitnehmer schaftsbericht der Bundesregierung leider vermissen
sagt: Du mußt dich auf 3 1/2 % beschränken. läßt. Ich wollte das ohne großes Aufheben, aber doch
Meine Damen und Herren, eine Wirtschaft wird mit aller Ruhe und Deutlichkeit hier gesagt haben.
nie darin bestehen können, daß alle ständig in glei- Lassen Sie mich eine weitere Bemerkung machen.
chem Maße am wirtschaftlichen Zuwachs beteiligt In der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sind
werden, aber man sollte offen miteinander reden die Arbeiten zur Aufstellung eines Aktionspro-
und nicht immer unter dem Gesichtspunkt „Alle gramms der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
müssen sich in gleicher Weise einschränken" die für lange Sicht im Gang. Da handelt es sich um
Einschränkung einem der Partner der Wirtschaft zu- Vorausschauen, und da handelt es sich darum, die
denken; denn das zerstört die Grundlagen eines so- notwendigen Maßnahmen für die zukünftige Wirt-
zialen Klimas, wie wir es für die nächste Entwick- schaftspolitik offenzulegen und sich über sie klar-
lung dringend nötig haben. zuwerden. Wir haben den wohl nicht falschen Ein-
Es ist wichtig, daß die Auswirkungen solcher druck, daß die Bearbeitung dieser Fragen von der
Rechnungen offen dargelegt werden und daß die deutschen Bundesregierung in großem Umfang ver-
fundamentalen Grundsätze einer freiheitlichen und zögert oder gar blockiert wird. Jedenfalls haben wir
sozialen Politik dabei nicht vernachlässigt werden. feststellen müssen, daß im Europäischen Parlament
Es ist ein Ergebnis der unaufrichtigen Darstellung, der Bundeswirtschaftsminister der einzige war, der
die in diesem Wirtschaftsbericht zum Ausdruck sich sehr bemerkenswerterweise gegen die Bestre-
kommt, daß man nicht offenlegt, wie das Maß auf bungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
die verschiedenen Gruppen der Bevölkerung ver- gewendet hat, ein solches modernes Aktionspro-
teilt wird, so daß wir heute mit einer starken Ver- gramm und damit die Grundlagen für eine ziel
härtung der Lohnpolitik zu rechnen haben. Das bewußte Wirtschaftspolitik in Europa zu schaffen.
führt zu so grotesken Äußerungen, wie ich sie am (Abg. Dr. Atzenroth: Godesberger Markt
23. April dieses Jahres im „Industriekurier" lesen wirtschaft! — Heiterkeit bei den Regie
konnte, wo bezüglich der Stahlarbeiter, die sich rungsparteien.)
auf eine Rate von 3,5 % Lohnerhöhung nicht einlas-
sen wollen, gesagt wird: Wer sich darüber hinweg- — Herr Atzenroth, Sie sollten ein klein wenig vor-
setzt und mehr fordert, setzt sich auch über die sichtig sein. Wollen Sie wirklich behaupten, daß die
Staatsautorität hinweg. Das sind Konsequenzen einer übrigen Länder der Europäischen Wirtschaftsgemein-
Wirtschaftspolitik, die nicht zusammenführt, sondern schaft, daß die Mitglieder der Europäischen Wirt-
die auseinanderführt. Mir scheint, daß das „Handels- schaftskommission so einfach in einen Topf mit
blatt" vielleicht doch ein wenig recht hatte, als es - jenen gesteckt werden können, die die Marktwirt-
am 28. Februar dieses Jahres sagte: schaft ablehnen? Das sind doch wohl demokratische,
freiheitlich geordnete Länder. Können Sie wirklich
So unterstreicht die nüchterne Darstellung des das, was in diesen Ländern erarbeitet worden ist
Berichts der Bundesregierung, die Durchleuch- und die Grundlage ihrer Wirtschaftspolitik darstellt,
tung der volkswirtschaftlichen Situation, was mit solchen Wertungen einfach abtun?
überhaupt alles in der Vergangenheit verab-
säumt wurde. So aber werden die Fakten des (Abg. Dr. Atzenroth: Nein, das ist bloß
Wirtschaftsberichts zum härtesten Kritiker der anders, als wir es uns vorstellen!)
Bundesregierung. Unser Bekenntnis zu Europa wird danach gewertet
Meine Damen und Herren, das sagte nicht ich, son- werden, inwieweit wir Europa zu einer wirtschaft-
dern das sagte das „Handelsblatt", das im allge- lichen und politischen Realität gestalten und inwie-
meinen der Politik dieser Bundesregierung nicht weit wir bereit sind, die wirtschaftliche Entwicklung
übermäßig negativ gegenübersteht. Europas gemeinsam mit den anderen Ländern mit
modernen Mitteln vorwärtszutreiben.
Nun lassen Sie mich bitte einige abschließende
(Beifall bei der SPD.)
politische Bemerkungen machen. Dieser Wirtschafts-
bericht ist nicht irgendein wissenschaftliches Doku- Worum geht es bei den Unterhaltungen, "die in
ment, sondern er ist ein politisches Dokument. Wir der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine
haben in der Öffentlichkeit darauf hingewiesen, daß Rolle spielen und die auch bei uns in Deutschland
es ein Unglück ist, daß in diesem Dokument Berlin eine Rolle spielen? Wir wollen eine freie Gesell-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3359
Dr. Deist
schaft, wir wollen eine Gesellschaft, in der die auto- Das ist die Methode der freien Kooperation, die
nomen Entscheidungen der Menschen und die auto- wir herbeiführen müssen und die unmöglich ist,
nomen Entscheidungen der verschiedenen Gruppen wenn an der Erarbeitung der gemeinsamen wirt-
die Grundlage unserer gemeinschaftlichen Arbeit schaftlichen Ziele nicht alle Kräfte der Wirtschaft,
bilden. Aber wir wollen auch, daß es in Verantwor- der Gesellschaft beteiligt werden. Darum möchte
tung der Gemeinschaft gegenüber geschieht. ich wünschen, daß der nächste Jahreswirtschaftsbe-
richt, der erstattet wird, aus einer solchen Koope-
Auch dieser Wirtschaftsbericht ist ein Versuch, ration aller Kräfte entsteht. Denn nur dann kann
eine Methode für die Ordnung der Wirtschaft zu ich erwarten, daß sich die verschiedenartigen freien
finden, die in freiheitlich geordneten Staaten an- Kräfte — die selbständig bleiben sollen — auf eine
nehmbar und notwendig ist. Wir lehnen es ab, die gemeinsame Richtung einigen, wenn sie diese Rich-
Wirtschaft unter einheitliches Kommando zu stel- tung zuvor unter Führung des Staates gemeinsam
len. Aber wir meinen auch, daß es nicht möglich ist, erarbeitet haben und von der Notwendigkeit des
die Wirtschaft einfach freihändig ihrer Entwicklung gemeinsamen Weges überzeugt sind. Erst dann,
zu überlassen. Wohin wir kommen, wenn wir die meine Damen und Herren, kann man von den Men-
freien Kräfte innerhalb der Wirtschaft völlig un- schen der Wirtschaft verlangen, daß sie verant-
geordnet ihrer Entwicklung überlassen, das haben wortungsbewußte Entscheidungen treffen, weil sie
wir zu unserem Leidwesen in der Weimarer Repu- nämlich den Rahmen setzen können, in dem verant-
blik erfahren müssen. Es kommt entscheidend dar- wortungsbewußte Entscheidungen getroffen werden
auf an, daß wir eine freiheitliche Methode finden, können.
um die verschiedenen Gruppen unseres Volkes
unter eine gemeinsame Verantwortung zu stellen, Es kommt ein viertes hinzu, was der moderne
d. h. eine Methode, die eine freiwillige Kooperation Staat machen muß, um diese vielfältigen Kräfte,
freier Menschen und freier Gruppen von Menschen deren Selbständigkeit wir wünschen, zu koordinie-
herbeiführt. Das mag manchem wenig erscheinen. ren. Er muß die öffentliche Meinung mobilisieren,
Das ist aber die Aufgabe, die in der freien Gesell- er muß auch sie zu einem Instrument der Wirt-
schaft zu erfüllen ist. schaftspolitik machen. Meine Damen und Herren,
das ist kein Sonderproblem für uns in Deutschland,
Dazu ist zunächst einmal notwendig, daß man sondern ein Problem, das auch in allen anderen
weiß, was ist, mit welchem Tatbestand man es z. B. modernen Industriestaaten besteht.
in der Wirtschaft zu tun hat, und daß man die
modernsten Mittel anwendet, um mit den Proble- Ich möchte auch hier, um keine Mißverständnisse
men der modernen Wirtschaft fertig zu werden. Das aufkommen zu lassen, hinzufügen: In einem Staat
ist nicht eine Frage der Prophetie. Niemand kann wie Deutschland, der unmittelbar an der Zonengren-
die wirtschaftliche Entwicklung prophezeien, und ze liegt, sind die Verhältnisse sicherlich anders als
wir haben auch nicht die Absicht, das zu tun. Aber in Staaten, die von dieser Zonengrenze weiter ent-
es ist die Frage, ob man die wirtschaftlichen Mög- fernt sind. Darum bin ich der Überzeugung, daß wir
lichkeiten abschätzen kann und ob der Mensch in in Deutschland mit gutem Grund gegenüber man-
der Lage ist, der Entwicklung einen vernünftigen chen Maßnahmen und Methoden allergisch sein
Rahmen zu setzen. Das ist die erste Aufgabe, die sollten, denen gegenüber man in Frankreich, in
wir in der Welt von heute zu leisten haben. Großbritannien oder in Italien nicht allergisch zu
sein brauchte.
Und das Zweite: Wir wollen der Wirtschaft keine
verbindliche Richtlinie geben. Niemand unter uns Ich möchte ein zweites hinzufügen. Bei der
behauptet, daß der Staat die Wirtschaft komman- Gründlichkeit, die uns Deutschen nun einmal eigen
ist, und bei unserem Hang zu bürokratischer Ver-
dieren dürfe. Aber der Staat setzt immer — ob er
will oder nicht — für die wirtschaftspolitische Ent- festigung ist es auch einer Überlegung wert, ob alle
wicklung bestimmte Daten, insbesondere dann, wenn Maßnahmen und Methoden, die in anderen demo-
etwa 30 % des Volkseinkommens über öffentliche kratischen Ländern anwendbar und zweckmäßig
Kassen laufen. Darum meine ich, der Staat soll zwar sind, bei uns in Deutschland wirklich in gleicher
Weise angewandt werden sollen. Wir alle müssen
nicht verbindlich anordnen, aber er muß Ziele set-
bereit sein, solche Überlegungen anzustellen und
zen, er muß eigene Maßnahmen in eigener Verant-
auch die Probleme zu sehen und uns zu Variationen
wortung treffen, und er muß der übrigen Offentlich-
gegenüber dem bereit zu finden, was vielleicht in
keit, vor allen Dingen den wirtschaftlichen Kräften,
anderen Ländern möglich und zweckmäßig sein
deutlich sagen, welche eigene Politik er betreibt, so
mag.
daß die übrigen freien Kräfte der Wirtschaft sich
nach diesen wirtschaftspolitischen Richtlinien rich- Aber wir kommen nicht darum herum, diese In-
ten können. strumente zu entwickeln und in gemeinsamer Bera-
tung zu prüfen, wie sie einer gesunden wirtschaft-
(Abg. Dr. Atzenroth: „Müssen"!)
lichen Gesamtentwicklung in Deutschland nutzbar
— Nein, richtig können, Herr Atzenroth. Es kommt gemacht werden können. Nach der Entwicklung,
darauf an, daß der Staat die Richtlinien für sein die andere Länder genommen haben, wird es
eigenes Handeln verbindlich darlegt, nicht, damit höchste Zeit, daß wir diese Probleme, die mit einem
er anschließend nicht wieder davon herunter kann: solchen Wirtschaftsbericht zusammenhängen, mutig
Aber er wird dadurch verpflichtet, der freien Wirt- in Angriff nehmen und nicht allzuviel Angst vor
schaft zu sagen, wenn er seine Zielsetzung und seine der demokratischen Zuverlässigkeit der demokrati-
Methoden verändert. schen Kräfte bei uns in Deutschland haben. Oder
3360 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Dr. Deist
sollte vielleicht doch der Wunsch die Triebfeder Zu dieser Hoffnung berechtigt uns die Tatsache, daß
sein, die Wirtschaftspolitik viel mehr aktiven an- die SPD am 11. Oktober 1962 durch ihren Sprecher,
deren Kräften zu übertragen und zu überlassen als Herrn Dr. Deist, verkündet hat: Wenn schon ein
der gemeinsamen öffentlichen Ordnung, die die solcher Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt wird,
Verantwortung für alle trägt? dann muß er auch für die freie Wirtschaft — für die
(Zuruf von der Mitte: Wen meinen Sie?) Unternehmer ebenso wie für die Arbeitnehmer —
verbindlich sein.
— Ich habe gefragt, und jeder, der sich getroffen
fühlt, möge an seine eigene Brust klopfen. Daß das Die heutige erste Erklärung von Herrn Dr. Deist
wirklich ein Problem ist, über das man verschiede- bestätigte zunächst diese Feststellung. Dann kam
ner Meinung sein kann, daß es aber ein Problem in das, was die Vorwürfe oder die Klagen von Herrn
demokratischen Staaten ist, darüber sollten wir uns Schmücker Ihnen gegenüber beinhaltet. Herr Dr.
doch eigentlich nichts vormachen. Deist, Sie haben Ihr großes Redetalent für eine sehr
lange Zeit darauf verwendet, von dieser einen Fest-
(Abg. Dr. Wuermeling: Sehr richtig, auch
stellung wieder wegzukommen.
nach links!)
Uns ist hier eine große Aufgabe gestellt, die (Abg. Dr. Deist: Welcher?)
nicht mit Hilflosigkeit und Führungslosigkeit gelöst — Ich habe Sie an Ihre Erklärung vom 11. Oktober
werden kann. Es kommt vielmehr darauf an, Füh- 1962 erinnert, in der Sie gesagt haben: Wenn schon
rung mit den Mitteln demokratischer Ordnung in ein solcher Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt wird,
unserer Gesellschaft und damit auch in unserer dann muß er auch für die freie Wirtschaft — für die
Wirtschaft durchzusetzen, d. h. alle unter das Ge- Unternehmer ebenso wie für die Arbeitnehmer —
setz einer gemeinsamen Verantwortung zu bringen. verbindlich sein, und ich habe hinzugefügt, daß Sie
Dazu genügt es nicht, nur Verantwortung zu pre- Ihre große Redekunst dazu verwendet haben, von
digen, sondern jeder muß sehr hart vor seine Ver- dieser Erklärung wieder wegzukommen. Sie haben
antwortung gestellt werden. Insbesondere die gro- eine Fülle von Versuchen gemacht, dem wieder aus-
ßen wirtschaftlichen Gruppen auf beiden Seiten zuweichen. Sie haben zunächst gesagt: Dieser Bericht
müssen an der Erarbeitung der gemeinsamen Auf- fordert von den Sozialpartnern — nicht: von den
gaben beteiligt werden. Diese verschiedenen Kräfte Arbeitnehmern — eine Beschränkung auf 3,5 %,
müssen wissen, daß der Staat in der Lage ist, Ge- aber den Unternehmern gestattet er, ich glaube, 7 %,
genmaßnahmen zu ergreifen, wenn sich die eine die ich allerdings in dem Bericht nicht finden kann.
oder andere Gruppe nicht dem gemeinsamen Wohl
unterordnet, und an die öffentliche Verantwortung (Zuruf von der SPD: Im Zahlenteil steht's
zu appellieren. drin!)
(Abg. Dr. Achenbach: Das bezieht sich doch Darin liegt doch das, was Herr Schmücker Ihnen
wohl auf alle Gruppen?) immer wieder vorwirft, nicht sachlich zu bleiben.
Bei den Zahlen handelt es sich ja um solche des ver-
— Das bezieht sich auf alle Gruppen der Bevölke- gangenen Jahres. Es sind doch nicht Zahlen, die
rung; ich habe nicht eine einzige ausgenommen. — einen Vorschlag der B undesregierung für die Unter-
Dazu gibt es Instrumente und Verfahren auch in nehmer im Jahre 1963 beinhalten. Ebensowenig
einer Politik freiheitlicher Ordnung. Die ersten An- kann ich dem Bericht entnehmen, daß er sich dafür
sätze sind mit dem Wirtschaftsbericht geschaffen, einsetzt, daß die öffentliche Hand künftig einen
der uns heute vorliegt. Aber wir stehen vor der Aufstieg um 10 % erfahren dürfe. Im Gegenteil, Sie
Aufgabe, diese zunächst ungenügenden Anfänge zu kennen unsere Ansicht, daß wir sehr bestrebt sind,
einem wirksamen Mittel einer zielbewußten Wirt- auch den Anteil der öffentlichen Hand am Sozial-
schaftspolitik zu gestalten, die uns ein stetiges wirt- produkt so zu halten, wie es der allgemeinen Linie
schaftliches Wachstum, die Vollbeschäftigung und entspricht. Aber, Herr Dr. Deist, fragen Sie doch
die Erhaltung unserer Geldwertstabilität sichert. Ihre Kollegen, ob sie damit immer , einverstanden
(Lebhafter Beifall bei der SPD.) sind, wenn wir darauf dringen! Fragen Sie Herrn
Professor Schellenberg, ob er sich zu begnügen be-
reit ist! Also dieser Vorwurf ist nicht berechtigt,
Vizepräsident Schoettle: Das Wort hat der und damit können Sie von Ihrem Wort nicht weg-
Abgeordnete Dr. Atzenroth. kommen.
Dann haben Sie neue Zahlen gebracht, die Sie auf
Dr. Atzenroth (FDP) : Meine Damen und Herren! das überaus schlechte erste Vierteljahr 1963 stützen,
Wir Freien Demokraten begrüßen die Vorlage dieses die selbstverständlich in diesem Wirtschaftsbericht
Berichts als einer sachlichen Feststellung von Tat- nicht enthalten sind. Aber auch damit kann man
sachen. Wir hoffen, daß es auf dieser Grundlage natürlich solche Begründungen nicht stützen.
möglich sein wird, den Weg zu einer Wirtschafts-
politik zu finden, die den Gedanken der Marktwirt- Der dritte Versuch, von dieser Erklärung wegzu-
schaft besser realisiert als bisher. Wir können jetzt kommen, ist, daß Si e nun von Zuwachsraten spre-
vielleicht abkommen von der Gefälligkeitsdemokra- chen. Herr Dr. Deist, gleiche Zuwachsraten in den
tie mit ihren Geschenken, die in den letzten Jahren zehn Jahren von 1950 bis 1960 für alle Menschen
soviel Schaden gestiftet hat. Wir hoffen auch, daß der deutschen Bevölkerung zu fordern, ist doch wohl
die Sozialpartner die im Bericht enthaltenen Daten utopisch.
anerkennen und daraus ihre Folgerungen ziehen. (Abg. D r. Deist: Das tue ich auch nicht!)
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3361
Dr. Atzenroth
Wenn man fordert, daß der Arbeiter diesen seinen wieder nicht klar Farbe bekennen zu müssen —
Anteil in dieser Zeit beanspruchen soll — das hat erklärt, daß eine ständige Verringerung der Arbeits-
er getan, und er hat ihn auch erhalten —, dann zeit hierauf nun gar keinen Einfluß habe.
müßte man eine Reihe von anderen Gruppen un-
seres Wirtschaftslebens oder unseres Volkes auch (Abg. Matthöfer: Worauf?)
hinzuziehen, die weit zurückgeblieben sind und be- — Auf die Tatsache, daß wir nicht mehr mit einem
dauerlicherweise immer weit zurückbleiben werden. Zuwachs an Arbeitskräften rechnen können, und
Auch diese Begründung können wir also nicht an- darauf, daß, wenn wir das nicht können, ein Zu-
erkennen. Herr Dr. Deist, Sie müssen schon zu der wachs des Sozialproduktes nicht mehr möglich ist.
Erklärung stehen, daß die Sozialpartner den Bericht Er wäre möglich, wenn wir eine weitere Verringe-
der Bundesregierung und die Folgerungen, die die rung der Arbeitszeit vermieden. Dann könnte sich
Bundesregierung aus diesem Bericht gezogen hat, aus der Steigerung der Qualität und aus der techni-
anerk.DgibtsneulWrhb schen Entwicklung ein Zuwachs ergeben.
die Forderung und haben die Hoffnung, daß jeden-
falls die Sozialpartner dieses Anerkenntnis leichter Herr D r. Deist hat behauptet, daß die Verringe-
aussprechen, als Sie es getan halben. rung der Arbeitszeit keinen Einfluß auf die Verrin-
gerung der Produktion gehabt habe. Das ist natür-
Nun ein anderer Weg, auch wieder der Versuch, lich eine Behauptung, die jeder aufstellen kann,
eine Kritik an diesem Bericht vornehmen zu kön- und jeder kann das Gegenteil behaupten. Die Ab-
nen. Herr D r. Deist, Sie unterstellen diesem Bericht hängigkeit hat sich aber für denjenigen, der in der
einen Pessimismus. Ich habe das Gefühl — durch Praxis steht, mit einer erschreckenden Deutlichkeit
eine Zwischenfrage ist das Gefühl auch an anderer gezeigt.
Stelle aufgetreten —, daß von Pessimismus in die-
sem Bericht zum mindesten für das Jahr 1962 keine Hinzu kommt, daß dais mit der Verringerung der
Rede sein kann. Das werden Sie mir doch zugeben. Arbeitszeit angestrebte Ziel gar nicht erreicht wor-
Ich habe eher das Gefühl, daß man von einem ge- den ist. Ziel sollte doch die Schonung der mensch-
linden, vielleicht schon zu großen Optimismus spre- lichen Arbeitskraft sein. Das ist in vielen Fällen
chen muß. Ich werde darauf nachher noch zu spre- nicht eingetreten.
chen kommen. Sie sagen aber: die Bundesregierung (Abg. Matthöfer: Weil die Unternehmer
fordert Drosselung, Drosselung, Drosselung. Auch das Arbeitstempo erhöht haben!)
das ist nicht nichtig. Sie fordert nicht Herabsetzung
— Nein, im Gegenteil, weil man nach der Beendi-
der Raten und der Ansprüche, sondern sie will die
gung der ersten Arbeitszeit ein zweites Arbeitsver-
Überstigunaf mesMßzurück
hältnis einging. Diese Tatsache ist doch in Hundert-
führen. Diese Forderung stellt sie sowohl an die So-
tausenden von Fällen unbestritten, und Sie brau-
zialpartner .als auch an di e anderen Zweige unserer
chen nur einmal in meinen Betrieb zu kommen,
Wirtschaft, stellt sie an den Staat selbst — wenig-
dann will ich Ihnen das klar und deutlich beweisen.
stens in diesem Bericht. Ich gebe Ihnen zu, daß an-
Das ist ein Fall; es gibt aber Hunderttausende von
dere Stellen der Bundesregierung diese Forderung
Fällen, in denen das unbestritten ist.
nicht immer in der gleichen Weise erhoben haben.
Wir werden versuchen, das in Ordnung zu bringen, Ich möchte dann noch zu dem Problem der Preis-
damit da wieder eine einheitliche Auffassung zu- steigerung kommen, von dem Herr Dr. Deist auch
stande kommt. gesprochen hat. Auch wir sind der Meinung, man
sollte es nicht ohne weiteres hinnehmen, daß der
Sie sprachen von einem Zwiespalt, der in dem
Geldwert in jedem Jahr eine Verringerung um etwa
Bericht der Bundesregierung enthalten sei, aber sel-
3 % erfährt. Es muß unser größtes Ziel sein, eine
ber empfinden Sie anscheinend den Zwiespalt i n
solche Entwicklung zu verhindern, die dazu führen
Ihren Ausführungen nicht. Sie wenden sich da-
würde, daß dem Sparer der Zins weggenommen
gegen, daß die Bundesregierung eine Drosselung -
wird.
der Staatsausgaben fordert. Sie selber sprechen
aber an anderer Stelle von zu hohen Staatsausga- (Abg. Könen [Düsseldorf]:: Das ist schon
ben. Das ist doch dasselbe. Sie haben z. B. in Ihren lange so, Herr Atzenroth!)
sogenannten konkreten Vorschlägen gefordert, daß
die Bundesbahn mehr investieren soll. Die Folge- Nun zu der Frage: woher rührt denn diese Ent-
rungen sind doch höhere Staatsausgaben oder hö- wicklung? Herr Dr. Deist hat gesagt, wir sähen ein-
here Preise für die Bundesbahn. Anders läßt sich seitig und unsachlich nur den Lohnanteil. Er bestrei-
dieses Problem nicht lösen. Das haben wir gerade tet, daß die Erhöhung der Löhne einen entscheiden-
an dieser Stelle mit besonderer Deutlichkeit ge- den Anteil an der Steigerung der Preise hat. Er
sehen. weist z. B. darauf hin, daß die Bahn- und Posttarife
gestiegen sind. Aber warum sind denn diese Tarife
Sie haben dann ebenso wie die Bundesregierung gestiegen? Letzten Endes doch wegen der Erhöhung
von den kommenden mageren Jahren gesprochen. der Löhne. Das ist der ausschlaggebende Grund für
Der Zuwachs an Arbeitskräften wird voraussichtlich die Steigerung der Bahn- und Posttarife gewesen.
geringer werden, und der Zuwachs an Kapital wird Alles spitzt sich letzten Endes auf den Lohnanteil
langsamer bleiben. Sie haben als Ausweg eine Ver- zu. Die Preissteigerung ist zu einem ganz gewalti-
stärkung der Qualität und der technischen Entwick- gen Teil — ob zu 90 %, kann ich nicht sagen; das
lung vorgeschlagen. Da gehe ich mit Ihnen einig. kann ja niemand errechnen — auf die Steigerung
Sie haben aber gleichzeitig — um in diesem Punkte der Löhne zurückzuführen.
3362 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Dr. Atzenroth
Ein anderer Punkt bei diesen Preissteigerungen, gen zum Aufbau der Gesamtrechnung machen. Es
den Herr Dr. Deist ebenfalls erwähnt hat, sind die sind keine entscheidenden Einwendungen, aber
Mieten. Hier liegen die Dinge aber ganz anders. doch, wie es uns scheint, Systemwidrigkeiten.
Da kann man nicht von einer Preissteigerung spre-
chen, sondern hier soll etwas wiedergutgemacht 1. Warum werden die Beiträge zur gesetzlichen
werden, was in vielen Jahren versäumt worden ist. Unfallversicherung anders behandelt als die übrigen
Der Anteil für Miete an den Ausgaben des einzel- Sozialversicherungsleistungen? Um diesen Betrag
nen Menschen soll wieder in das Verhältnis gesetzt erhöht sich zweifellos die Bruttolohn- und -gehalts-
werden, das der Wirklichkeit entspricht. Es soll ver- summe.
hindert werden, daß große Vermögenswerte immer 2. Bei den Einkommen des Staates aus Unterneh-
weiter zugrunde gehen, weil vom Staat eine den mertätigkeit vermissen wir den Wertzuwachs, der
echten Kosten nicht entsprechende Miete festgesetzt sich nicht in Dividenden und in anderen Abgaben
worden ist. niedergeschlagen hat, sondern in einer Erhöhung
Wir stimmen aber zu, daß wir ernsthafte Maß- des Wertes der Erwerbsunternehmungen der öffent-
nahmen überlegen müßten, mit denen dieser schlei- lichen Hand. In dem Bericht ist davon nicht gespro-
chenden Inflation — wenn wir sie so bezeichnen chen worden.
sollen—entgegengetreten werden kann. Aber wenn 3. Schließlich können wir nicht verstehen, warum
man zu solchen Maßnahmen kommt, kann man an Sachleistungen der Sozialversicherung und ähnlicher
dem Problem der Löhne nicht vorbeigehen. Institutionen zum Staatsverbrauch gerechnet wer-
Von unserer Seite aus gesehen ist es erfreulich, den. Es sind nach unserer Meinung ebenso Einkom-
daß der Wirtschaftsminister im zweiten Teil seines mensübertragungen des Staates an private Haus-
Berichts nur eine Vorausschau geben wollte und daß haltungen wie die Barleistungen.
es sich nicht um eine Planifikation handeln sollte, Die notwendigen Berichtigungen werden aber den
wie sie nun wieder von meinem Vorredner gefor- Gesamtbericht nicht entscheidend ändern.
dert worden ist. Herr Deist hat auf die europäische
Planung hingewiesen, auf die europäische Gemein- Der Bericht stellt die wirtschaftliche Entwicklung,
schaft, die eine solche Planung fordert. Er hat der wie wir glauben, sehr günstig dar. Das trifft auch
Bundesregierung den Vorwurf gemacht, daß sie die auf die meisten Branchen im vergangenen Jahr zu.
Teilnahme an diesen Verhandlungen absichtlich ver- Der Bericht geht aber nicht ernsthaft auf die Unter-
zögere. Er hat zum Schluß erklärt, es sei doch ein schiede ein, die sich im vergangenen Jahr zwischen
Versäumnis der deutschen Bundesregierung, sich verschiedenen Wirtschaftszweigen ergeben haben
solchen modernen Wirtschaftsmethoden nicht anzu- und auf die Herr Dr. Deist schon hingewiesen hat.
schließen. „Moderne Wirtschaftsmethoden", Herr In einigen Branchen ist es im vergangenen Jahr zum
Dr. Deist, wenn Sie das auf Frankreich und Italien erstenmal zu Kurzarbeit gekommen. Auch die
beziehen, ist das doch sicherlich eine falsche Be- Schwierigkeiten, die sich in der Textilindustrie oder
zeichnung. Diese beiden Länder mit ihrem Protek- in der Lederindustrie zeigten, dürfen nicht einfach
tionismus haben nicht eine moderne Wirtschaftsver- übergangen werden. Diese Gefahren haben sich
fassung, sondern eine uralte, meiner Ansicht nach in dann noch in den ersten Monaten des Jahres 1963
der heutigen Zeit überholte. Es wäre sehr traurig, verstärkt. Aber sie haben ihren Ursprung in der Ent-
wenn die Bundesregierung sich dieser von Ihnen als wicklung des vergangenen Jahres. In vielen Fällen
modern bezeichneten, von uns als veraltet angese- handelt es sich um strukturelle Schwierigkeiten, die
henen Wirtschaftsmethode anpassen wollte. Inso- teilweise durch Maßnahmen der Bundesregierung
fern begrüßen wir sogar die Zurückhaltung, die Herr entstanden sind. Die Aufwertung hat nicht nur Vor-
Professor Erhard in dieser Beziehung in Brüssel ge- teile für die deutsche Wirtschaft gebracht, und
zeigt hat und hoffentlich noch weiter zeigen wird. unsere zollpolitischen Maßnahmen, die wohl dämp-
fend auf das Preisniveau im Inland wirken sollten,
Heute ist in der Debatte auch über das System -
haben auf der anderen Seite auch zu ernsten Schwie-
einer antizyklischen Fiskalpolitik gesprochen wor-
rigkeiten geführt. Es scheint mir ein einfacher Weg
den. An und für sich verbergen sich dahinter Ge-
zu sein, auf dem Konsumgütersektor Waren zu nied-
danken, die nicht neu sind. Wir sind gern bereit,
rigen Preisen zollfrei hereinzulassen, um auf den
sie aufzugreifen. Aber wir möchten doch erst einmal
Erzeuger einen Preisdruck auszuüben. Wenn aber
dieses allgemein gehaltene Wort konkretisieren,
die kalkulatorischen Unterschiede in den Lohnkosten
ehe wir dazu richtig Stellung nehmen können. Viel-
liegen — und das ist sehr häufig der Fall —, könnte
leicht hängt damit etwas zusammen, daß meine bei-
der gewünschte Erfolg nur dann eintreten, wenn die
den Vorredner sich gegenseitig bescheinigt haben,
betroffenen Branchen auf einer wirtschaftspoliti-
sie setzten sich für eine baldige Finanzreform ein.
schen Insel lägen. Bei der heutigen Verflechtung
Jeder hat dem anderen vorgeworfen, seine Partei
unserer Wirtschaft und dem Mangel an Arbeitskräf-
sei Schuld daran, daß diese Reform nicht weiter-
ten kann keine Branche eine eigene Lohnpolitik be-
kommen könne. Angesichts der Tatsache, die sich
treiben. Sie muß sich dem anpassen, was ihr von den
heute klar und deutlich ergeben hat, daß wir alle in
Wirtschaftszweigen aufgezwungen wird, die nicht
diesem Hause einmütig für eine solche Finanzreform
unter dem Konkurrenzdruck des Auslands stehen.
sind, sollten wir doch nun erwarten können, daß die
Dinge nun in aller Kürze von beiden Seiten voran- Das gilt nicht nur für den Kostenfaktor Löhne,
getrieben werden. sondern auch für die Erhöhungen, die von der öffent-
Ich darf mich jetzt etwas mit dem Bericht selbst lichen Hand vorgenommen werden. Wir hätten er-
beschäftigen. Zunächst möchte ich einige Bemerkun wartet, daß der Bundeswirtschaftsminister jetzt oder
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3363
Dr. Atzenroth
schon früher ein Wort gegen die übermäßigen Preis- herstellen und keinen ausreichenden Absatz haben,
steigerungen und Leistungsverminderungen der Post weil nämlich ein großer Teil der Baulustigen sich
gefunden hätte. Insofern teilen wir Ihre Meinung, weigert, solche — wie sie glauben — Ersatzbauten
daß Maßnahmen zur Niedrighaltung der Preise, nicht zu beschaffen.
in allen Fällen in ausreichendem Maße getroffen (Zuruf von der SPD: Weil die Baubehörden
worden sind. Schwierigkeiten machen!)
(Abg. Schulhoff: Was sollte denn mit dem — Richtig!
Postdefizit geschehen? Wenn wir die Preise
nicht angehoben hätten, wäre das Defizit (Erneuter Zuruf von der SPD: Weil sie
bei der Post ja noch größer geworden!) reaktionär-konservative Brüder sind!)
— Bei der Post gibt es z. B. den alten Vorwurf, daß — Warum greifen Sie mir vor? Das wollte ich
sie zuviel investiert habe. Bei dieser Sachlage hätte gerade sagen. Aber wo sitzen die Baubehörden?
sie ihre Investitionen auf einen längeren Zeitraum Doch in den Kommunen, die im wesentlichen von
verteilen müssen. Ihren Freunden beherrscht werden.
(Abg. Matthöfer: Ich denke, das waren die (Lebhafte Zurufe von der SPD: Aha! —
Löhne, Herr Atzenroth!) Lachen bei der SPD. — Abg. Schmücker:
Diese Freude gönnen wir Ihnen; aber die
- Ja, und der andere Teil ist selbstverständlich Wahrheit ist es!)
der Lohnanteil, die Erhöhung der Löhne, und zwar
eine sehr erhebliche Erhöhung der Löhne, die sich Wir freuten uns, als wir von Herrn Schmücker
automatisch in der Erhöhung der Preise niederschla- hörten, daß die Bauverwaltung des Verteidigungs-
gen muß. ministeriums in das Ministerium zurückgeführt wer-
den soll, in das sie auch gehört. Ich bin mit Ihnen,
(Abg. Schulhoff: Haben Sie auch darüber Herr Schmücker, voll und ganz der Meinung, daß in
nachgedacht, daß wir seit 1953 die Post- eine Betrachtung unserer Wirtschaftslage auch die
gebühren nicht erhöht hatten, seit 1953? — Verteidigung gehört; denn mit ihren weiten Ver-
Zuruf von der SPD: Um wieviel sind dann zweigungen stellt sie natürlich einen sehr großen
die Möbel in dieser Zeit teurer geworden?) Teil unserer Wirtschaft dar, und Maßnahmen, die
— Das ist sehr einfach zu beantworten, nämlich: au idem Sektor der Verteidigung getroffen werden,
fast gar nicht! können beruhigend, aber auch anregend .auf die Ge-
samtwirtschaft wirken.
Wir vermissen in dem Bericht ferner einen Hin-
weis darauf, daß für den Kostenanstieg in der Eine große Lücke in idem Bericht sehen wir darin,
Wirtschaft in erheblichem Maße auch die Beschlüsse daß an keiner Stelle der Mittelstand erwähnt ist, den
des Bundestages in Fragen der Sozialversicherung zu fördern die Bundesregierung in allen bisherigen
beigetragen haben. Aus der uns vorgelegten Sta- Regierungserklärungen versprochen hat. Die Not-
tistik ist leider nicht zu ersehen, um wieviel stärker wendigkeit dazu zeigt sich in der Feststellung, daß
diese Lohnbelastung gestiegen ist, als dies in den die Zahl der selbständig Tätigen immer weiter ab-
Jahren zuvor geschehen ist. Jeder, der in der Praxis nimmt. Sehen Sie sich die Tabelle an! Hier müssen
steht, weiß aber, daß gerade dieser Kostenanteil endlich Entscheidungen fallen. Wir können in d ie-
sich für die Kalkulation der Betriebe schwerwiegend sem Punkt nicht auf den Enquetebericht über die
ausgewirkt hat. Auch hier vermissen wir ein Wort ZusameniblgwrtchfMa en.
der Bundesregierung darüber, daß die Entwicklung Die Maßnahmen dürften sich auch nicht auf Kredit-
so nicht weitergetrieben werden kann. erleichterungen beschränken. Wenn man dem ge-
werblichen Mittelstand wirklich helfen will, muß
Wir unterstreichen das, was der Bericht über die man ihm auch Wettbewerbsvorteile auf steuerlichem
Entwicklung des Baumarktes sagt. Er bestätigt un- und sozialem Gebiet einräumen.
sere Auffassung, die wir im vergangenen Jahr bei
der Beratung des Gesetzes zur Dämpfung der Bau- (Sehr richtig! in der Mitte.)
konjunktur vertreten haben. Am stärksten — so Schließlich darf ich noch auf die w i cht ige Frage
lesen wir in dem Bericht — stiegen die staatlichen unserer Liquiditätssituation hinweisen. Es wäre
Investitionen, von denen 90 % Bauinvestitionen sehr instruktiv, wenn sich der Bericht auch mit der
waren, während der gewerbliche Bau schon eine steigenden Verschuldung der öffentlichen Hand be-
Beruhigung in der Nachfrage zeigte. So sagt es der faßt hätte. Aus den Mitteilungen der Bundesbank
Bericht. Warum legt die Bundesregierung dann noch sehen wir, daß die Fremdfinanzierung der Unter-
ein Baustoppgesetz vor, das Genehmigungen vor- nehmen immer schwieriger wird. Die Erhaltung
sieht? Vordringlich wären doch Maßnahmen im Be- eines gewissen Ausmaßes an Selbstfinanzierung ist
reich der öffentlichen Hand. dringend notwendig und gehört .auch in unser Wirt-
Herr Dr. Deist glaubt, einen besonders guten Vor- schaftssystem.
schlag gemacht zu haben, um dieser Überhitzung Die entscheidende Frage aber ist und bleibt die
auf dem Baumarkt entgegentreten zu können. Er Entwicklung der Löhne, von der ich schon gespro-
will den Übergang auf die Fertigbauweise, auf chen habe. Nach einem Bericht der EWG-Kommis-
Fertighäuser propagieren. Aber, Herr Kollege Deist, sion, den Herr Deist Wucht gern hört, stehen wir
aus meiner eigenen Erfahrung kann ich Ihnen sagen, schon jetzt mit den Lohnkosten an der Spitze. Dem
daß es in der Bundesrepublik eine ganze Reihe von erneuten Appell an die Sozialpartner schließen wir
Unternehmungen gibt, die Fertighäuser aus Holz uns mit allem Ernst , an. Bisher haben solche Appelle
3364 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Dr. Atzenroth
leider nicht viel genützt. Man wartet auf das Wun- Bevor ich aber auf einige wenige Dinge eingehe,
der eines Gutachtergremiums, dessen Urteil sich die möchte ich noch einmal auf das Zwischenspiel we-
Tarifpartner angeblich unterwerfen wollen. Aber gen der Hundertjahrfeier der SPD zurückkommen.
was kann dieses Gremium an Zahlen anders sagen Ich bin überzeugt, der Kollege Schmücker wollte
als der vorliegende Bericht? Gerade jetzt, in dieser nur sagen, daß eine Partei sich mit Recht auf ihre
heiklen Situation, sollten di e streitenden Parteien hundertjährige Geschichte besinnt und sich auch
die Angaben des Berichts anerkennen und daraus mit Recht mit ihrer Geschichte konfrontiert und daß
ihre Folgerungen ziehen; ihre Verantwortung vor dies aller Achtung wert ist. Ich möchte aber auch
der Allgemeinheit war niemals so groß wie jetzt. annehmen, er wollte sagen, daß es dann auch inter-
Meine Damen und Herren, den Lelitlini en, die den essant ist, ¡die Entwicklung in diesen hundert Jah-
Schluß des Berichts bilden, wird voraussichtlich von ren und ihr bestehendes Ergebnis festzustellen.
einem neuen Wirtschaftsminister Beachtung ver- Seien Sie uns bitte nicht böse, wenn wir feststellen
schafft werden müssen. Es wird für ihn sehr schwie- oder glauben feststellen zu dürfen, daß die Ent-
rig sein. Er wird einmal im Schatten seines Vorgän- wicklungslinien der Sozialdemokratischen Partei
gers, zum anderen unter dem Druck der EWG ste- sehr viel stärker auf die Grundsätze der CDU zu-
hen, und er wird darüber hinaus nicht allein Wirt- laufen, als es in diesen hundert Jahren etwa um-
schaftspolitik betreiben; denn hier beisteht, wie gekehrt der Fall gewesen ist.
schon Herr Schmücker gesagt hat, eine enge Ver- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Matt
zahnung und Verbindung mit dem Finanzminister, höfer: Sprechen Sie vom Ahlener Pro
dem Wohnungsbauminister und dem Verteidigungs- gramm? — Das war doch Ihr letztes Pro
ressort, aber auch mit dem Sozialminister. gramm! — Weitere Zurufe.)
(Zuruf von der Mitte: Und mit den Abge — Ich wiederhole in aller Ruhe, daß es meine
ordneten!) Überzeugung ist — und ich weiß gar nicht, wieso
— Und selbstverständlich mit den Abgeordneten. Sie das als Kritik auffassen —, daß Ihre Entwick-
lung in den Fragen der Politik unserer Tage auf
(Zuruf von 'der SPD: Und mit idem Bundes unsere Grundsätze zuläuft und nicht unsere Grund-
kanzler!) sätze auf Ihre früheren.
Ich hoffe, daß die Zusammenarbeit, wenn es um (Abg. Börner: Welche Grundsätze meinen
die Beachtung der Leitlinien geht, so gut klappt, daß Sie denn?)
wirklich eine Verbesserung unid eine Stärkung
unserer Marktwirtschaft eintreten.
Vizepräsident Schoettle: Herr Abgeordneter,
(Beifall bei den Regierungsparteien.) gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Vizepräsident Schoettle: Das Wort hat der Dr. Burgbacher (CDU/CSU) : Mit Vergnügen!
Abgeordnete Dr. Burgbacher.
Vizepräsident Schoettle: Bitte, Herr Abge-
Dr. Burgbacher (CDU/CSU): Herr Präsident! ordneter!
Meine Damen und Herren! Es ist natürlich nicht
möglich, der Opposition und ihrem Sprecher zuzu- Matthöfer (SPD) : Herr Professor Burgbacher, wie
muten, primär von Anerkennungen für die Regierung stehen Sie zum Ahlener Programm der CDU?
und in diesem Falle des Wirtschaftsberichts der Re-
gierung zu sprechen; denn es ist nun einmal so, Dr. Burgbacher (CDU/CSU) : Ich sehe das Ahle-
daß die Opposition von den Mängeln und Unterlas- ner Programm genauso als eine wichtige Etappe in
sungen, die in jedem menschlichen System beste- der Entwicklung an, wie Sie heute noch Ihre Urvor-
hen, lebt. - gänger als wichtige geistige Väter Ihrer Entwicklung
(Abg. Matthöfer: Das werden Sie auch ansehen, obwohl sie sich der unsrigen genähert hat
bald tun!) und nicht umgekehrt. Diese Feststellung kann ich
Um so erfreulicher ist es allerdings, daß unser Kol- Ihnen nicht ersparen.
lege Deist dank seiner Kenntnisse und seiner rhe- (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von
torischen Fähigkeiten insofern ein Meisterstück ge- der SPD.)
leistet hat, als er feststellte, wie ausgezeichnet bei
uns die Lage ist, daß sie immer besser war, als eine Ich gebe Ihnen dabei gerne zu, daß es für uns viel
Vorausschau der Regierung gesagt hatte, daß die gefährlicher ist, als wenn Sie noch bei Ihren alten
Welthandelssituation sich für uns immer verbessert Thesen wären.
hat und daß der Pessimismus der Regierung, so wie Herr Kollege Deist hat auch dem Herrn Bundes-
er ihn aus diesem Bericht liest — während er gar wirtschaftsminister gesagt, ein wenig mehr Plan sei
nicht darin ist —, nicht angebracht ist. Der Hinter- doch ganz gut.
grund Ihrer Ausführungen, sehr geehrter Herr Kol-
(Abg. Dr. Deist: So habe ich es gar nicht
lege Deist, war also eine außerordentlich positive
gesagt!)
Betrachtung des bestehenden wirtschaftlichen Zu-
standes. Ich glaube, es ist wichtiger, daß ohne Ich will mich dazu gar nicht äußern. Aber der Hin-
mögliche oder sogar nützliche Berichte die Wirt- weis auf den freischaffenden Architekten, der auch
schaft in der Tat gut steht, als daß es mit Berichten einen Plan brauche — und den Hinweis haben Sie
weniger günstig wäre. mit Recht gebracht —, veranlaßt mich doch zu der
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3365
Dr. Atzenroth
Feststellung, daß jeder freischaffende Architekt fast finanziert sähe als über Vorläufer von Kriegsan-
jedes Haus anders baut, und auch zu der Feststel- leihen.
lung, daß die Harmonie eines Stadt- und Land-
schaftsbildes in der Verschiedenheit der nach einzel- Dr. Burgbacher (CDU/CSU) : Ja, ich stimme
nen Plänen gebauten Einrichtungen besteht oder, Ihnen zu. Sie haben mit Geschick die Frage nach
wie es Tagore viel schöner formuliert hat, daß das den Verteidigungsinvestitionen gestellt. In Fragen
Wesen der Gemeinschaft in Harmonie und nicht in der Verteidigungsinvestitionen bin ich Ihrer Auf-
Einförmigkeit besteht. fassung. Wenn Sie mich aber gefragt hätten, ob ich
(Abg. Dr. Deist: Wem sagen Sie das? — eine Autobahn oder einen Sportplatz oder Schulen
Abg. Könen (Düsseldorf) : Nur die Statik auch so ansehen würde wie Kasernen, hätte ich
muß stimmen!) Ihnen das verneinen müssen, denn dies sind pro-
duktive Ausgaben. Ich hoffe nicht, daß Sie der Mei-
— Allerdings! nung sind Wie der alte englische Volkswirt, ein
(Abg. Schulhoff: Es ist noch kein Haus ein- Schweinehirt sei zwar produktiv, aber ein Professor
gestürzt!—Gegenruf von der SPD: Bayern!) oder Doktor sei seiner Natur nach unproduktiv.
— Gegenruf von der CDU/CSU: Das ist (Abg. Dr. Dr. h. c. Dresbach: Darf ich Ihr
aber etwas anderes! —Fortgesetzte Zurufe.) Wissen bereichern? Es war Friedrich List,
- Moment mal, sonst dauert es ja noch länger. der dem widersprach!)
Also: Wenn der Herr Bundeswirtschaftsminister - Nein, nein! Es war nicht List!
mit Recht auf die außergewöhnliche Steigerung des
Anteils der öffentlichen Hand der drei Ebenen an Dr. Dr. h. c. Dresbach (CDU/CSU) : Lieber Herr
dem Zuwachs an Nationalvermögen, nämlich mit Burgbacher, Sie erwähnten das Thema „Schulen".
48 % im Jahre 1962, hingewiesen hat, so ist damit Sie wissen, daß es in der alten Kameralistik eine
auch ein Teil dessen erklärt — wenn nicht alles —, Unterscheidung zwischen Verwaltungsvermögen
was Sie, Herr Kollege Deist, an sich mit Recht be- und sonstigem Vermögen gibt. Wollen Sie das
anstandet haben, nämlich die Steigerung an Auf- wegfallen lassen?
wendungen der öffentlichen Hand in den Haushalts-
plänen. Das hängt damit zusammen — ich habe es
schon einmal gesagt und wiederhole es, und ich Dr. Burgbacher (CDU/CSU) : Ja. Ich mache einen
glaube, wir waren damals auch einer Meinung —, Unterschied. Sie kennen die alten Regeln der Kame-
daß alle diese vermögenswirksamen Ausgaben der ralistik, die Ihnen so tabu sind
I öffentlichen Hand der drei Ebenen noch vorwiegend (Abg. Dr. Dr. h. c. Dresbach: Ach was,
aus laufenden Steuereinnahmen statt aus dem An- „tabu" !)
leihemarkt gedeckt und finanziert werden. Es ist
aber ein Unterschied auch in der öffentlichen Finanz- — ja, tabu sind —,
gebarung, ob eine Ausgabe konsumtiv oder investiv (Abg. Dr. Dr. h. c. Dresbach: Tabu ist mir
erfolgt, und insofern sind diese Steigerungen der gar nichts, aber Grundsätze muß es geben!)
Ausgaben der öffentlichen Hand, die in vermögens- die können Sie in einer Zeit, in der ein Drittel des
wirksamen Anlagen sich auswirken, investiv erfolgt Bruttosozialprodukts über die öffentlichen Kassen
und haben irgendwie ein anderes Gewicht, als wenn läuft, in dieser alten klassischen Weise nicht mehr
sie nur konsumtiven Zwecken zugeführt würden. aufrechterhalten. Die Zeiten des Zehnten sind längst
vorbei.
Vizepräsident Schoettle: Herr Abgeordneter,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Dr. Dres- Dr. Dr. h. c. Dresbach (CDU/CSU) : Also gut; ich
bach? - bleibe bei meiner Meinung, aber Ihrer Rhetorik bin
ich nicht gewachsen; ich fühle mich als abgeführt.
Dr. Burgbacher (CDU/CSU) : Ja. (Heiterkeit.)

Dr. Dr. h. c. Dresbach (CDU/CSU) : Verehrter Vizepräsident Schoettle: Meine Damen und
Freund Burgbacher, würden Sie auch Ausgaben für Herren, ich hätte an sich die Pflicht gehabt, dieses
Kasernenbauten als produktiv ansehen? Intermezzo zu unterbrechen, aber es war zu amü-
(Abg. Dr. Burgbacher: Bitte? Ausgaben für?) sant. — Bitte, Herr Abgeordneter, fahren Sie fort.
— Ausgaben für Kasernenbauten und ähnliches? Ist
Ihnen in Erinnerung, daß um die Jahrhundertwende Dr. Burgbacher (CDU/CSU) : Weil es so ist, wie
darüber ein großer Streit entbrannte und daß der ich eben sagte, nämlich daß 30 bis 35 % des Brutto-
große Nationalökonom Adolph Wagner diese Frage sozialprodukts über die öffentlichen Kassen der
bejahte und damit sich mit dem Deutschen Flotten- drei Ebenen gehen, bin ich der Meinung — und
verein auf eine Stufe stellte? Ich muß Ihnen ehrlich ich unterstütze diese Auffassung des Bundeswirt-
sagen — ich müßte ja fragen! —: schaftsministers sehr nachdrücklich — daß Bund,
,

Länder und Gemeinden auch bei dem Föderativ


(Abg. Dr. Burgbacher: Ja, ja, ich weiß!) system, das wir haben, doch nach Möglichkeiten
Seien Sie mir nicht böse, wenn ich diese Ausgaben suchen müßten und sie finden sollten, um in einer
doch lieber aus ordentlichen Steuereinnahmen echten Abstimmung über den Rahmen der Haus-
3366 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Dr. Burgbacher
haltspläne, der Bauvorhaben und der Investitionen verzichten, weil dieser Bericht nicht ein Gesetz, son-
den Versuch zu machen, die einfachste Konjunktur- dern eben ein Bericht ist und die konkreten Vor-
politik, die wir in der Bundesrepublik treiben kön- schläge, die darin stehen, Gegenstand der Gesetz-
nen, nämlich die Steuerung des größten Auftrag- gebung der kommenden Zeit sein müssen.
gebers in der Bundesrepublik, besser in den Griff
zu bekommen als bisher. Ich meine — und ich appel- Herr Kollege Atzenroth hat schon darauf hinge-
liere damit an alle, auch an meine politischen Freun- wiesen, daß man durch Staatsaufträge notleidenden
de in einigen Ländern und Gemeinden —, daß man Wirtschaftszweigen helfen kann und unter Umstän-
sich da weniger von dem Föderativsystem als von den auch muß. Man darf dann aber nicht zweierlei
dem Solidaritätsempfinden einer Nation leiten las- tun: einmal durch Staatsaufträge helfen und dann
sen sollte. eine Erweiterung des Ausgabevolumens der öffent-
(Bravo! von der Mitte.) lichen Hand, sofern nicht diese Staatsaufträge aus
Anleihen finanziert sind, beklagen. Man muß dann
Deshalb muß trotzdem eine Finanzreform kommen. schon in der Logik bleiben.
Ich habe den Bericht nicht so aufgefaßt, als wolle Die Preisstabilität ist unser Problem. Die absolute
er sagen, daß jetzt auf die sieben fetten Jahre die Preisstabilität ist unser Wunsch. Ich hoffe aber, von
sieben mageren Jahre folgen würden. Um bei dem diesem Hohen Hause nicht mißverstanden zu wer-
Beispiel zu bleiben: ich fasse ihn vielmehr so auf — den, wenn ich darauf hinweise, wie schwer es ist,
und nur so ist das wohl möglich —, daß jetzt nicht freie Wirtschaft, Vollbeschäftigung und hundertpro-
mehr jedes Jahr um den gleichen Prozentsatz fetter zentige, absolute Preisstabilität gleichzeitig zu
wird als die bisherigen Jahre, ja, daß vielleicht auch haben. Ich darf darauf hinwiesen, daß die Bundes-
einmal Jahre der Stagnation kommen. Ich habe republik zu der Gruppe der Länder mit den relativ
aber in dem ganzen Bericht keinerlei Anhaltspunkte stabilsten Währungen unter allen Ländern der freien
für den Verdacht gefunden, daß man jetzt mit sieben Welt gehört. Ich bitte wiederum um Entschuldigung,
mageren Jahren rechnet. daß ich darauf hinweise, daß in sozialistisch regier-
(Abg. Kurlbaum: Mager an Zuwachs!) ten Ländern die Kaufkraftveränderung in der glei-
chen Zeitspanne wesentlich größer ist als in der
Ich halte es auch für sehr bedenklich, eine solche
Bundesrepublik.
Auffassung diesem Bericht zu unterstellen; denn
das steht nicht drin. (Zuruf von der SPD: Wie steht es mit der
Reallohnerhöhung?)
Richtig ist natürlich, daß bei den Unternehmen
der Investitionsakzent nicht mehr primär auf der — Das ist genau mein nächstes Stichwort. Das ist
sehr schön, wie Sie offenbar mit mir zusammen den
Expansiolegt,druf chenWt-
bewerbsdruck, durch die Arbeitsmarktlage und ken können. Ich wollte nämlich gerade feststellen,
durch die internationale Wettbewerbslage mehr daß die Realkaufkraft aller Arbeitseinkommen lau-
oder weniger erzwungenen Rationalisierung, Ener- fend gestiegen ist. Herr Kollege Deist hat mit Recht
getisierung und einer immer weitergehenden Ver- darauf hingewiesen, daß die Preise der Industrie-
wissenschaftlichung der personalen Leistungen, was produkte wenig gestiegen sind, daß aber z. B. auf
selbstverständlich auch entsprechende Bildungsein- dem Ernährungssektor — und er hätte noch viel
richtungen voraussetzt. mehr den Dienstleistungssektor anführen können —
die Preise gestiegen sind. Lieber Herr Kollege Deist,
Der Bericht — ich habe das bei der Beantwortung ich bin so sicher, daß Sie das, was ich jetzt sage,
der Zwischenfrage schon festgestellt — ist kein schon längst wissen; ich sage es nur, damit die
pessimistischer Bericht. Er ist auch kein Bericht, der anderen Ihre Ausführungen richtig verstehen: daß
auf Drosselung ausgeht, sondern er geht auf — ich nämlich darin gar keine Kritik liegen kann, sondern
muß das Wort wiederholen — maßvolles Verhalten nur eine Selbstverständlichkeit liegt. Es ist völlig
ein, was weder mit Pessimismus noch mit Drosse- - klar, daß alle Produkte, die ein Erzeugnis eines mehr
lung gleichzusetzen ist. oder weniger automatisierten und immer mehr ratio-
Insbesondere wird in dem Bericht auf die Gefah- nalisierten Produktionsvorganges sind, entweder im
ren aus überhitzten Sektoren hingewiesen. Das muß Preis fallen oder bei höheren Qualitäten den Preis
getan werden, weil im Zeitalter der Vollbeschäfti- halten oder geringe Preissteigerungen haben. Aber
gung die große Gefahr besteht, daß sich das Ein- ebenso selbstverständlich ist im Zeitalter der Voll-
kommensniveau aller nach den Leistungs- und Zah- beschäftigung, daß die Lohnauswirkungen aus den
lungsmöglichkeiten des überhitzten Sektors aus- automatisierten Industrien in alle anderen Wirt
richtet, und das ist dann die Quelle einer Gefahr schaftszweige ausstrahlen, ohne daß die Lohner-
für den gesamten volkswirtschaftlichen Ablauf. höhung, die in den vollautomatisierten Industrien
Deshalb muß die Wirtschaftspolitik die überhitzten voll berechtigt ist, bei den anderen die gleiche Be-
Sektoren aktiv angreifen. Dabei darf man dann auch rechtigung hat, weil dort nicht in dem gleichen Maße
nicht vor — wie Sie sagten, Herr Dr. Deist — diri- rationalisiert und automatisiert werden kann. Daher
gistischen Maßnahmen zurückweichen. verändert sich mit wachsender Automation der Preis-
fächer ständig, und zwar so, daß die Preise für lohn-
Sie haben gesagt, es fehlen konkrete Vorschläge. schwere Produkte steigende Tendenz und die Preise
Ich darf Sie bitten, sich die Seite 11 und die folgen- für lohnleichte, technisierte Produkte fallende Ten-
den noch einmal anzusehen. Ich habe mir eine denz haben. Trotzdem, meine Herren von der SPD,
Menge unterstrichen, möchte aber wegen der Zeit ist der Anteil für die Ernährung am Arbeitseinkom-
auf die Verlesung dieser ganz konkreten Vorschläge men prozentual bis heute laufend zurückgegangen.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3367
Dr. Burgbacher
Ich möchte auch im Hinblick auf die Agrarpolitik mit möchte ich die Wahrheit ins Gedächtnis zurück
großem Nachdruck darauf hinweisen. rufen.
Den Hinweis auf die EWG möchte ich unterstützen. Der Wirtschaftsaufbau in Deutschland aus dem
Es ist bekannt, daß das sogenannte Aktionspro- Trümmerfeld 1948 wurde auf Grund von wirt-
gramm der EWG-Kommission verschieden beurteilt schaftspolitischen Vorstellungen und vor allen Din-
wird. Es gibt in der EWG noch viele Fragen, die gen Ordnungsvorstellungen entwickelt, für die ich
verschieden beurteilt werden. Ich hoffe, daß man wesentlich verantwortlich bin.
sich auch auf diesem Gebiet, wie soll ich sagen, zu- (Zuruf von der SPD: Die Arbeitnehmer
sammenrauft, besonders nach den klaren Feststel- haben dazu nichts beigetragen?!)
lungen, die in den Ausführungen von Herrn Kollegen — Wirtschaftspolitik und Ordnungsvorstellungen!
Deist enthalten waren: keine Kommandowirtschaft, Die Leistung des Arbeiters wird selbstverständlich
sondern persönliche Initiative. voll anerkannt. Aber er ist nicht für die Wirt-
Dieser Bericht ist eine wirtschaftliche Vorausschau schaftspolitik verantwortlich. — Jetzt sieht es fast
auf ein Jahr. Wie sich das Kind entwickelt, das so aus, als ob alles das, was bisher zum Teil auch
wird uns die nächste Zeit lehren. Vor allem aber von Ihnen gelobt wurde, das Verdienst der SPD
werden wir in den kommenden Berichten noch mehr, sei, und an allem, was im Augenblick nicht in Ord-
als es in diesem Bericht geschehen ist, auf die nung ist, die Bundesregierung schuld sei. Hier
Entwicklung im Gemeinsamen Markt achten müssen, scheinen doch die Dimensionen und Relationen
weil wir uns immer mehr dem Ende der Übergangs- etwas verwechselt zu sein.
zeit nähern. (Beifall in der Mitte.)
Ich unterstütze die Meinung, daß im Rahmen Sie haben gefragt: Wer ist denn dafür verant-
der Kennedy-Runde und der GATT-Verhandlungen wortlich, wer ist denn in der Bundesregierung, wer
soweit wie möglich Zollsenkungen durchgeführt wer- trägt denn diese Regierung, welche Koalition? Na-
den sollten, selbstverständlich unter Einbeziehung türlich kann man diese Fragen stellen, aber ich
Großbritanniens. Ich möchte dabei aber klar zum habe auch nicht die Absicht gehabt, etwa nur nach
Ausdruck bringen, daß diese Zollsenkungen dann dieser Seite des Hauses, d. h. zur Opposition, zu
nicht gerecht sind, wenn sie nur in einem prozen- sprechen, sondern ebensosehr zu meiner Fraktion
tualen Abbau vorhandener Zölle bestehen. Sie sind und zu unserer Koalitionspartei. Das ist selbstver-
erst dann ökonomisch berechtigt und wirkungsvoll, ständlich! Wenn wir glaubten, es sei bei uns alles
wenn sie nicht linear, sondern in ökonomischer schon in bester Ordnung, dann wäre ein solches
Ausgewogenheit erfolgen. Gespräch überhaupt überflüssig. Deshalb mag sich
Es ist dann noch gefragt worden, ob nun eigentlich jeder angesprochen fühlen. Ich bin also der Mei
der Staat oder die außerstaatlichen Kräfte die Wirt- nung, Sie haben gar keinen Grund, sich zu be-
schaftspolitik mitbestimmen oder sie gar machen schweren, daß etwa Sie im besonderen herausge-
sollten. Es ist bekannt, daß meine Freunde und ich hoben worden wären. Das war nicht meine Absicht.
auf dem Boden des Subsidiaritätsprinzips stehen, Aber darauf werde ich noch zu sprechen kommen.
wonach bei den einzelnen Menschen geschehen muß, Das gilt z. B. für den Hinweis, daß nicht mehr-
was bei ihnen geschehen kann, in der Familie ge- jährige Haushaltspläne aufgestellt worden sind.
schehen muß, was dort geschehen kann. So verhält Das gilt auch hinsichtlich der Überlegung, ob nicht
es sich auch in bezug auf die Gemeinschaften. In der Anteil des Staates, der öffentlichen Hand
den Gemeinschaften soll geschehen, was nicht beim schlechthin an ,der Vermögensbildung zu stark i n
Staat geschehen muß. Aber diese Freiheit der Ge- den Vordergrund gerückt sei. Wenn das so ist, dann
meinschaften steht und fällt natürlich auf die Dauer geht das zwangsläufig zu Lasten des produktiven
damit, ob die Gemeinschaften tun, was sie wollen, Kapitals und der privaten Vermögensbildung.
oder tun, was sie sollen, d. h. ob sie diese Freiheit - Ich bin der Meinung, hier müssen wir uns einmal
primär als Pflicht oder als Recht betrachten. ernsthaft überlegen, ob nicht eine Änderung her-
Im übrigen möchte ich feststellen, daß diese beigeführt werden kann, dergestalt, daß das Fort-
Debatte gute Ansatzpunkte für die Haushaltsdebatte schreiten der Vermögensbildung in der öffentlichen
enthielt und eine gute Vorbereitung darauf war. Ich Hand zurückgedrängt wird und daß, wahrscheinlich
möchte die Anregung unterstützen, daß die Haus- am besten durch steuerliche Maßnahmen oder auch
haltsdebatte da, wo es angeht, auch unter wirt- durch andere Anreize, das Einkommen der Privaten
schaftspolitischen Gesichtspunkten geführt wird. zu etwas größerer Spartätigkeit in Richtung priva-
ter Vermögensbildung ausreicht. Das gilt für die
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Unternehmer, für Investitionen, es gilt auch für den
Arbeitnehmer hinsichtlich der privaten Vermögens-
Vizepräsident Schoettle: Das Wort hat der bildung, vor allen Dingen dann, wenn sie produk-
Herr Bundeswirtschaftsminister. tive Anwendung und Verwendung findet.
Wir sind noch lange nicht am Ende! Ich stimme
Dr. Dr. h. c. Erhard, Bundesminister für Wirt- Ihnen hier in gewisser Hinsicht zu; wir stehen nicht
schaft: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! vor einer Wende. Es beginnt nicht das Unglück. Des-
Ich fühle mich gezwungen, noch einige Worte hin- halb paßt Ihr Bild von den sieben fetten und den
zuzufügen, und zwar wie üblich an , die Adresse von sieben mageren Jahren keineswegs. Es müßte das
Herrn Kollegen Deist. Es scheint mir doch allmäh- erste Mal sein, daß ich pessimistisch wäre. Soviel
lich einiges fast gespenstisch zu sein, und darum zur Richtigstellung.
3368 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Bundesminister Dr. Dr. h. c. Erhard


Die Situation hat sich verändert; die Konstellation — Das nehmen die Verfasser in Anspruch! Darum
der ökonomischen Daten stellt sich heute anders geht es ja. Wenn wir uns über Programmierung
dar. Ich bin auch nicht der Meinung, daß allein der unterhalten, werde ich Ihnen die Kapitel vorlesen,
Arbeitskräftemangel die Situation verändert hat. in denen es gerade darum geht. Ich unterscheide
Aber Sie werden zugeben: das ist ein entscheiden- mich nicht darin, daß ich hinsichtlich der staatspoli
des Faktum. tischen Ausgaben der öffentlichen Hand eine länger-
fristige Planung leugnen möchte. Ich bejahe sogar
Wenn seit dem Jahre 1955 die Arbeitszeit in die Möglichkeit, ja, geradezu die Verpflichtung, auf
Deutschland um rund 10 % zurückgegangen ist, diesem Felde vorauszuschauen, wie sich, etwa im
dann haben wir trotzdem noch Fortschritte in der Verkehr, die Dinge weiter entwickeln sollen oder
Steigerung des Sozialprodukts erzielt, weil eben die wie andere wichtige öffentliche Ausgaben in eine ge-
Arbeitskraft und der Arbeitseinsatz nicht alles sind, wisse längerfristige Ordnung gebracht wenden kön-
sondern die Produktivität, die Rationalisierung usw. nen. Aber diese Art von Vorausschau ist etwas ganz
dazukommen, die geistige, die schöpferische Lei- anderes els die Voraussage — um nicht zu sagen:
stung in Wissenschaft und Technik. Das hatte ich aus dem Kaffeesatz —, was und wieviel ein Volk
also schon nicht verwechselt. von 50 Millionen Menschen oder eine Gemeinschaft
Es liegt mir am Herzen, vor allen Dingen ein von 160 Millionen Menschen in fünf Jahren ver-
anderes Problem herauszustellen. Sie haben eine brauchen oder nicht verbrauchen wird. Wir spü-
sehr große Liebe zur EWG entwickelt. Das tue auch ren auch ganz deutlich, was daraus erwächst. Dias
ich. Ich bejahe diese Institution vollkommen. Aber Quelle des Protektionismus. istmenwlch
ich traue der Kommission der EWG nicht etwa die Denn es ist wieder selbstverständlich: wenn einmal
absolute Weisheit zu, und in bezug auf Wirt- eine wirtschaftliche Ordnung auf diese Maximen
schaftspolitik bin ich eben in vieler Hinsicht an- ausgerichtet ist und wenn sich die Planungsbehörde
derer Meinung. Ich weiß auch nicht, was mich dazu nicht dauernd blamieren will, wenn sie nicht ad
zwingen könnte, unter allen Umständen meine ei- absurdum geführt werden will, dann muß sie dafür
genen Vorstellungen umzustoßen. Denn wenn ich sorgen, daß durch entsprechende Inzucht das Ziel
die Entwicklung unter Berücksichtigung des Aus- erreicht wird, das statistisch gesetzt wurde.
gangspunktes 1948 sehe und bedenke, was wir er- (Beifall bei der CDU/CSU.)
reicht haben und was mit anderen wirtschaftlichen
Methoden und anderen ökonomischen und Ord- Da werde ich widerstehen, mit allen Mitteln
nungsvorstellungen in anderen Ländern der EWG widerstehen; denn dem Teufel gibt man bekannt-
erreicht worden ist, dann muß ich schon sagen: Wir lich nicht den kleinen Finger. „Im ersten sind wir
brauchen unser Licht nicht unter den Scheffel zu frei, im zweiten sind 'wir Knechte." Ich möchte auf
I stellen. Im. Gegenteil! solche Weise die deutsche Marktwirtschaft nicht
preisgeben, ganz gleichgültig, was der eine oder
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und andere darüber denkt. Haben denn andere Länder
Abgeordneten der FDP.) ihre Erfolge mit diesen Planungen erzielt? Ich spre-
che das nicht gern aus, weil es wie eine Kritik an
Wenn ich in bezug auf die Vorstellungen von Pla- irgendeinem anderen Land gedeutet werden könnte,
nifikation — nicht etwa von volkswirtschaftlicher was mir völlig fern liegt. Ich brauche gar keinen
Gesamtrechnung und von globalen Vorstellungen Namen zu nennen. Es gibt Länder, die jetzt in ihrem
— bis in einzelne Branchen hineingehe und mir vor- vierten Vierjahresplan stehen, und wohin sie zu-
stelle, ich könnte mir einigermaßen sicher ausrech- mindest mit den ersten drei Vierjahresplänen ge-
nen, was ,irr fünf Jahren in diesem oder jenem Wirt- kommen sind, ist ja bekannt genug.
schaftszweig produziert oder verbraucht werden
wird, dann eben lehne ich derart unwirkliche Vor- (Abg. Dr. Deist: Das ist doch wohl etwas
stellungen ab. Wir wissen ja in etwa, wohin die - ganz anderes als das, was in westlichen
Planifikation geht. Jetzt ist z. B . ein Gutachten dar- Ländern vor sich geht!)
über vorgelegt worden, wie viele Automobile in — Das ist doch ein westliches Land!
der EWG in fünf Jahren produziert und denLär
verbraucht werden sollen. Ich bin bereit, mit Ihnen (Heiterkeit. — Abg. Dr. Deist: Darf ich fra
privat jede Wette abzuschließen, daß sich das Ergeb- gen, welches Land Sie meinen? Farbe be
nis als „Unfug" erweisen wird. Die Zahlen stim- kennen! Welches Land? — Erneute Heiter
men unter gar keinen Umständen; sie können auch keit.)
gar nicht stimmen, zumal die Entfaltung der Tech-
— Wenn ich es schon sagen muß — ich hoffe, es
nik unberechenbar ist, unser ganzes Lebensgefühl
wird nicht mißverstanden —: Frankreich.
sich fortdauernd ändert, neue Verbrauchergewohn-
heiten, neue Verbrauchsmöglichkeiten, neue Sitten (Abg. Dr. Deist: Das ist eine sehr schiefe
auftauchen, dazu vom Ausland in einer freien Welt Darstellung! — Gegenrufe von der CDU/
neue Strömungen zu uns hereinschlagen. Da soll CSU: Na, na, na!)
mir jemand erzählen, wie ich. auf lange Sicht bran- — Moment! Frankreich steht jetzt in seinem vierten
chenmäßig gezielt rinne quantitative Voraussage ma- Vierjahresplan, ja kommt damit bald zu Ende. Vor-
chen soll! her aber gab es schon drei Vierjahrespläne. Nie-
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU. — Abg. mand aber wird behaupten wollen, daß diese ersten
Dr. Deist: Nehmen die Verfasser das in An drei Vierjahrespläne Frankreich auf eine wirklich
spruch?) gesunde Grundlage gestellt haben. Erst seit Frank-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3369

Bundesminister Dr. Dr. h. c. Erhard


reich marktwirtschaftliche Methoden und Prinzipien Bezug genommen habe. Sie sagten mir z. B., es
nach klaren ordnungspolitischen Vorstellungen seien viele Faktoren für Angebot und Nachfrage,
unter einer starken Regierung eingeführt und durch- für das Leistungsvermögen einer Volkswirtschaft
gesetzt hat, ist seine Gesundung eingetreten. und die Kaufkraft maßgebend. Ja, das weiß ich
selbstverständlich auch. Das weiß doch jeder, der
(Zustimmung bei der CDU/CSU.)
etwas von Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik
Hier dürfen Ursache und Wirkung nicht verwechselt versteht. Aber das muß ich doch nicht jeden Tag auf
werden. den Tisch legen. Es sind doch im Grunde genommen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP.) „olle Kamellen", daß die Produktivität hier wesent-
lich mitspielt.
Denken Sie im übrigen auch an die Preissteige-
rungen in den Ländern der EWG und in Deutsch- Sie meinen, daß, wenn ich die Entwicklung be-
land. Ich bagatellisiere die Preissteigerung bei uns klage, ich nur einseitig etwa die Arbeitnehmer und
wirklich nicht; aber in anderen Ländern hat man die Verbrauchsausgaben angesprochen hätte. Wenn
damit im Augenblick sehr viel .größere Sorgen. wir indessen die Qualität der Arbeitsplätze ver-
Wir haben — um ein anderes Land zu nennen — bessern sollen, wie Sie das fordern — ich bin sehr
z. B. der italienischen Statistik entnommen, daß in dafür —, dann ist dafür ein hoher Kapitalaufwand
Italien die Preissteigerung innerhalb feines Jahres erforderlich. Sie glauben — ich bin auch da wieder
fast 10 % ausmacht. Daß sich je nach der inneren der gleichen Meinung —, daß sich der Wohlstand
Preisentwicklung auch die Wettbewerbsbedingun- auch in der Erfüllung von Gemeinschaftsaufgaben
gen unter den Ländern verschieben, ist selbstver- auswirken soll. Das erfordert dann aber wieder
ständlich. Aber ich halte es für einfalsches Prinzip, einen entsprechenden Kapitalaufwand. Es ist doch
daß sich die Exportchancen eines Landes sozusagen die ganz simple Tatsache in einer Volkswirtschaft,
nur deshalb verbessern, weil in anderen Ländern daß man nicht alles zu gleicher Zeit erfüllen kann,
womöglich noch mehr gesündigt wird. Wenn dies sondern daß man in einer gewissen Schichtung, in
das Prinzip ist, ,daß die Tugend nur aus der Diffe- einer Ordnungsvorstellung von Rang und Wert
renz der Sünden besteht, dann muß ich schon sagen, dahin kommen muß, ob man einmal die Akzente
daß das eine schlechte Politik ist. etwas mehr nach dieser Richtung oder nach der
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU. anderen Richtung legen solle.
— Lachen und Zurufe bei der SPD.) Es ist wohl nicht unbillig, wenn ich jetzt sage:
Meine Damen und Herren, wir haben bekanntlich In dieser unserer Situation — da meine ich nicht nur
in dem EWG-Vertrag einen Art. 226, der schon die deutsche, sondern die ganze weltwirtschaftliche
manchmal angewandt worden ist. Einen ganz be- Lage —, da wir als moderner Industriestaat in diese
stimmten Fall habe ich im Auge. Wann ist er ange- Entwicklung eingespannt sind, die die Völker immer
wandt worden? Wenn die innere Planifikation nicht freier, immer offener zusammenarbeiten läßt, er-
stimmt, kann man damit die Schleusen herunter- scheint es mir im Augenblick notwendiger zu sein,
lassen. Unter Berufung auf diesen Artikel werden die produktive Seite unserer Volkswirtschaft gegen-
dann die Grenzen geschlossen — dann stimmt die über dem reinen Konsum stärker in den Vorder-
Rechnung wieder. Auch das scheint mir eine unzu- grund zu rücken.
reichende Ordnung zu sein. (Beifall bei der CDU/CSU.)
(Abg. Dr. Deist: Haben wir diese Bestim Daß ich auch hier kein Säulenheiliger geworden bin,
mungen nicht im umgekehrten Fall auch brauche ich nicht zu sagen. Von mir stammt doch
einmal angewandt?) die These „Mut zum Verbrauch". Das habe ich in
- Das ist mir nicht bekannt! Im übrigen ist d as einer Zeit gesagt, als das eine elementare Kraft
wohl deutlich genug, Herr Kollege Deist: Wenn es war, um die Wirtschaft hochzuziehen,
unter den sechs EWG-Ländern ein Land mit der - (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)
liberalsten und weltoffensten Gesinnung gibt, dann
um die Menschen voll zu beschäftigen, unsere Wirt-
sind das wir. Wir werden wahrscheinlich noch unsere
schaft auch ergiebiger zu gestalten. In Zeiten mit
liebe Not haben, unsere Partner und Freunde auf
einer Fortschrittsrate von jährlich 8 % und 9 % kann
einen Weg zu bringen, der im Zusammenhang mit
man diese Politik machen. Aber in einem Augen-
der kommenden GATT-Konferenz und mit der
blick, da wir uns doch auch nach Ihrer Meinung in
Kennedy-Runde nicht nur für die EWG, sondern —
einem gewissen Umordnungsprozeß befinden, meine
da sind wir uns wohl wieder völlig einig — für
ich, würde es im Interesse des ganzen deutschen
das gesamte freie Europa einen Geist, eine Bereit-
Volkes liegen, etwas mehr auf die produktive Seite
schaft bezeugt. Das aber gerade würde einen glück- umzuschalten, um für morgen gerüstet zu sein, um
lichen Anfang zum Gelingen der Kennedy-Runde
dann auch die Lebensmöglichkeiten des deutschen
bedeuten. Volkes wieder erhöhen und den privaten Konsum
Herr Kollege Deist, Sie sind mir, wenn Sie diese aufstocken zu können.
Vorträge hier halten, offen gestanden zu gescheit. (Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie wollen alles sagen, was Sie wissen. Ich nehme
an, Sie wissen vielleicht noch mehr. Ich aber be- Darum ginge mein Wunsch z. B. dahin, der Regie-
scheide mich mit dem Thema, mit dem aktuellen rung etwas mehr Vollmachten in der Steuerpolitik
Stoff, um den es gerade geht. Sie machen mir zum zu geben, damit sie innerhalb einer gewissen Band-
Vorwurf, daß ich nicht alles sehe oder nicht auf alles breite etwas variieren kann. Das gleiche gilt für die
3370 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Bundesminister Dr. Dr. h. c. Erhard
Abschreibungen. Auf solche Weise würde man ein Differenziertheit der Konjunktur nach Branchen, die
Instrumentarium in der Hand haben, das je nach nicht vorausberechenbar und nicht abschätzbar und
der Konjunkturlage rechtzeitig eingesetzt werden vor allen Dingen nicht quantifizierbar ist, können
könnte. Die Konjunkturlage kann sich bei diesen Sie wieder keine gezielte prophylaktische Vorsorge
politischen Verhältnissen unter Umständen einmal treffen. Eine Wirtschaftspolitik, die zu schnellen
schneller wandeln, als das bisher während eines 12- Reaktionen fähig ist — das ist ja die Grundlage des
oder 14jährigen stetigen Aufschwungs der Fall ge- Wettbewerbsgedankens —, schafft die beste pro-
wesen ist. phylaktische Vorsorge und läßt es überhaupt nicht
Herr Kollege Deist: die Güte einer Wirtschafts- zu Anspannungen, zu krisenhaften Erscheinungen
politik ist nicht daran zu messen, wieviel Möglich- kommen.
keiten staatlicher Einflußnahme gezielter Art zur Sie sagten, von mir gehe der Schrei aus — in dem
Verfügung stehen. Sie ist vielmehr danach zu beur- Wirtschaftsbericht — „Einschränken, einschränken"!
teilen, ob die Funktionen dieser Volkswirtschaft Ich denke doch gar nicht daran. Diese Vokabel wer-
erhalten bleiben und das innere Ordnungsgefüge den Sie von mir nicht hören.
nicht gestört wird. Das ist weniger von Einzelmaß-
nahmen als von einer klaren Sicht der Wirtschafts- Aber ich glaube, daß die richtige Vokabel heute
politik abhängig. Sie sagten vorhin: Die muß man dahin lautet: sich anzupassen an die jeweiligen Ver-
haben. Ich habe den Eindruck, ich hab sie; wo wären hältnisse. Darin, glaube ich allerdings, besteht ein
wir denn sonst geblieben? Aus nichts kommt be- echter Unterschied in unseren Vorstellungen. Alles,
kanntlich nichts. was Sie dazu sagen, daß der Auftragseingang vom
Ausland her günstig ist — ich habe vorhin schon
(Beifall bei der CDU/CSU.) darauf Bezug genommen —, daß die EWG erweitert
Sie sagten, Sie wollten eine leidenschaftliche De- werden, daß vor allem Großbritannien hinzukom-
batte führen. Ach ja, schön, die können Sie haben! men, daß die europäische Einigung überhaupt fort-
Aber das, was Sie gesagt haben, und die Art und geführt werden soll, hätten Sie sich ersparen kön-
Weise Ihres Vortrags haben nichts mit Leidenschaft nen. Sie tragen die Eulen nach Athen. Das predige
zu tun, sondern das ist ein billiges Nörgeln an die- ich seit zwei Jahren, nein seit fünf Jahren kämpfe
sem und an jenem; das kann nicht mit Leidenschaft ich für diese Idee; die sind also wirklich nicht neu
verwechselt werden. und sind auch nicht besonders aktuell.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Die Maßnahmen zur Preisstabilisierung! Sie sag-
Das soll keine Beleidigung sein. ten, wir nähmen ohne weiteres an, daß im Jahre
1963 die Preise um 2 bis 2 1/2 % steigen werden. Das
(Zurufe von der SPD.) ist nicht korrekt wiedergegeben. Wir nehmen viel
Dann zu einem anderen Punkt! Hierzu ist schon mehr an, daß, wenn wir nicht etwas Ent-
einiges gesagt worden; ich brauche es deshalb nur scheidendes tun, die Preise wohl um diesen
ganz kurz anzudeuten. Ich habe mich wirklich dafür Prozentsatz steigen müßten. Dabei haben wir schon
eingesetzt, bei uns die modernen Bauweisen stärker in Rechnung gestellt, daß eine gewisse Abflachung
in den Vordergrund zu rücken. Aber es ist schon Platz greift; aber sicher nicht in dem Umfang, wie er
einmal gesagt worden: offenbar setzt die deutsche mir notwendig erscheint. Herr Dr. Deist, es ist dann
Individualität dem Grenzen. Der alte Zopf der Bau- eben doch die Frage: was ist denn eigentlich wich-
behörden ist ebenfalls angesprochen worden. tiger für eine Volkswirtschaft, gerade für eine
Volkswirtschaft der Struktur, wie sie die deutsche
Aber zum anderen: Wir haben z. B. bei der Euro- Volkswirtschaft ausmacht? Sollen wir den Akzent
päischen Kommission den Antrag gestellt, 50 000 mehr auf die Zuwachsrate richten, also auf die Aus-
Fertighäuser — wenn es geht, auch noch mehr — weitung, oder sollen wir den Akzent mehr auf die
aus Skandinavien zollfrei einführen zu dürfen. Diese - Stabilität legen? Ich gehöre nicht zu den Wachs-
Art von Häusern würde bei uns begehrt und würde tumsfanatikern — um es gleich zu sagen —, obwohl
unserem Geschmack entsprechen. Das ist uns abge- ich ganz bestimmt eine expansive Wirtschaftspolitik
lehnt worden. Warum? Wir sollen eben sogenannte getrieben habe. Aber in diesem Augenblick und an-
„europäische" Häuser kaufen. Ich bin der Meinung, gesichts der Entwicklung der letzten Jahre, die doch
daß ein nordisches Haus aus Skandinavien auch ein immerhin bedenklicher macht, bin ich der Meinung,
europäisches Haus ist. Ich weiß nicht, warum der- daß im Augenblick der Stabilität unter allen Um-
jenige, der ein solches Haus haben will, mit 17 % ständen der Vorrang gebührt vor dem Wachstum.
Zoll bestraft werden soll, — nur, weil er sein Haus
nicht aus Frankreich oder Holland beziehen will? (Beifall bei der CDU/CSU.)
Das ist doch gewiß eine protektionistische Gesin- Denn erst auf der Grundlage der Stabilität können
nung! Wir müssen meiner Ansicht nach Wächter dann die produktiven Kräfte' wieder richtig, d. h. am
und Mahner sein, damit diese Denkweise in der richtigen Ort und mit der höchsten Wirksamkeit ein-
Europäischen Wirtschaftsgesellschaft nicht fort- gesetzt werden.
schreitet. Zu dem sozialen Klima! Ich würde gern alles da-
Damit komme ich zu der prophylaktischen Vor- zutun, um das soziale Klima in Deutschland zu ver-
sorge. Ich bin der Meinung, daß die antizyklische bessern. Ich bin gar nicht so hoffnungslos. Es gibt
Haushaltspolitik und die Möglichkeiten einer Steuer- doch immerhin einige Ansätze, die tragen können.
differenzierung und Anpassung die beste prophy- Aber ich bin nicht der Meinung, daß man schlecht-
laktische Vorsorge darstellen. Aber bei der starken hin sagen dürfe, man müsse das Lohn- und Gehalts-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3371
Bundesminister Dr. Dr. h. c. Erhard
einkommen unter allen Umständen erhöhen, weil — Wir wollen darüber hier nicht streiten, denn,
die Nachfrage zu gering wäre. Nein, dem wider- Herr Deist, ich sage noch einmal zum Schluß, ich
spreche ich allerdings mit aller Entschiedenheit, min- will die Diskussion nicht verschärfen, will sie vor
destens für die Konjunktur, in der wir uns im allen Dingen nicht feindselig gestalten. Ich habe
Augenblick befinden. Es gibt wohl Konjunkturlagen, mit diesem Wirtschaftsbericht nicht die SPD ange-
in denen man die Nachfrage erhöhen muß. Gott sei sprochen, sondern dieses ganze Hohe Haus! Für die
es geklagt, daß z. B. Herr Brüning das im Jahre 1928 Entscheidungen, die schließlich hier gefällt werden,
nicht getan hat, sondern den Weg der Deflation ge- für die Ausgaben und die Haushaltsgebarung sind
gangen ist. wir alle, die einen als Regierung, Sie als Opposi-
tion, dem deutschen Volk verantwortlich.
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von
der SPD: Herr Schacht hat es verboten!) Ich habe vorhin meine Rede damit beendet, daß
ich sagte, die Regierung ist alles andere als restau-
Diesen Weg gehe ich nicht; da brauchen Sie keine rativ oder unsozial. Ich möchte Ihnen sagen, wie eis
Angst zu haben. Aber ich glaube, daß eine Wirt- um die Einkommensverhältnisse steht. Wenn Sie
schaftspolitik des Gleichgewichts im Augenblick die dasVolkeinm Jahr1950gleicst-
richtige Politik ist. Die ständigen Preissteigerungen zen, dann ist der Durchschnitt 1962 nominal auf
als ein Schicksal hinzunehmen, widerspricht meinem 349 gestiegen. Das Einkommen aus Unternehmer-
Konzept in höchstem Maße. tätigkeit und Vermögen ist auf 310, das Einkommen
aus unselbständiger Arbeit auf 376 angewachsen.
Wenn Sie grundsätzlich sagen, daß wir mehr Nun bin ich ehrlich und sage ausdrücklich, hier
Kaufkraft brauchen — wo gibt es da eigentlich die kommt nicht die gestiegene Zahl der Beschäftigten
Grenze? —, dann heißt das etwa: je mehr Kaufkraft zum Ausdruck; insofern ist eine Korrektur not-
ich schaffe, desto mehr begünstige ich die Konjunk- wendig!
tur. Da schlage ich Sie jetzt mit Ihren eigenen Wor-
(Zuruf von der SPD: Etwa um 50 %)
ten. So einfach sind die Dinge nicht! Da sind viele
Kräfte, viele Faktoren am Werke. Sonst brauchte Auf der anderen Seite müssen Sie bedenken, daß
man ja nur möglichst viel zu konsumieren, um die noch andere Korrekturen notwendig sind; bei den
Konjunktur zu sichern. „Je mehr wir konsumieren, genannten Zahlen handelt es sich um Bruttoein-
desto besser wird die Konjunktur sein"? Nein, da- kommen. Wenn Sie diese auf Nettoeinkommen um-
gegen spreche ich mich entschieden aus. rechneten und berücksichtigten, was bei den ein-
zelnen Einkommenskategorien konsumtiv verbraucht
Die Preissenkungen! Dazu habe ich ja gesagt: und investiv angelegt wird, würde sich das Bild
Preissenkungen sollten durchgeführt werden, wo erneut ändern.
immer die Produktivität es zuläßt oder, anders ge-
Ich will damit durchaus nicht unter allen Um-
sagt, wo trotz Lohnerhöhungen doch noch Preis-
ständen recht behalten. Ich wollte das nur deshalb
senkungen möglich sind. Aber das hat dann eine
sagen, weil Sie glaubten, darauf hinweisen zu müs-
Parallele. Das bedeutet volkswirtschaftlich, daß dort,
sen, daß all dies nicht so einfach sei, wie ich es mir
wo höhere Löhne herausgeholt werden können,
hier gemacht hätte. Wir wollen es uns keineswegs
diese Chancen nicht bis zum letzten ausgenützt
einfach machen. Wir wollten diesen Wirtschafts-
werden, um auch den anderen noch einen besseren
bericht wirklich so wahrhaftig, s o redlich und so
Zutritt zum Sozialprodukt zu eröffnen. Das eine ist
ehrlich erstatten, wie es einer Behörde oder — ich
von dem andern nicht zu trennen. Was Sie in bezug
möchte besser sagen — Menschen überhaupt mög-
auf die Preise von den Unternehmern verlangen,
lich ist. Mag der Wirtschaftsbericht vielleicht un-
das gilt auch für die monopolistischen Schichten oder
vollkommen sein, wie wir Menschen alle unvoll-
Gruppen, gilt auch für die Arbeitnehmer. Es handelt
kommen sind. Aber ich verwahre mich mit aller
sich um keine Anklage, wenn ich das sage, sondern
- Schärfe dagegen, daß wir mit diesem Wirtschafts-
lediglich um eine Richtigstellung.
bericht einen Mißbrauch mit der öffentlichen Mei-
(Abg. Kurlbaum: Beides muß gleichzeitig nung hätten treiben wollen, wie Sie das gesagt
erfolgen!) haben. Das ist nicht wahr! Und wer so redlich strebt
und es so redlich meint, der kann es nicht dulden,
— Man muß beides gleichzeitig machen, aber dann in dieser Weise angegriffen zu werden. Das ist
müßten Sie mich auch in einer Wirtschaftspolitik keine 'feindselige Attacke, sondern eine Richtigstel-
unterstützen, die den Wettbewerb nicht durch Plani- lung, die absolut notwendig ist.
fikation abschwächt, sondern die ihn verstärkt. Wir
werden ja in dieser Legislaturperiode oder vielleicht (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar
bereits bis zum Herbst einige Gesetze hier beraten, teien. — Zuruf von der SPD: Wo bleibt
bei denen es zum Schwur kommt, auch für meine eigentlich der Arbeitnehmerflügel der
eigene Partei, so z. B. die Kartellgesetznovelle mit CDU?)
der Preisbindung der zweiten Hand; ich denke auch
an die Konzentrationsenquete. Ich habe z. B. bei un- Vizepräsident Schoettle: Das Wort hat der
seren Beratungen nicht den Eindruck gehabt, daß Herr Abgeordnete Dr. Deist.
Sie ein ganz mutiger Streiter für die Aufhebung der
Preisbindung der zweiten Hand sind.
Dr. Deist (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
(Abg. Dr. Deist: Ich möchte realistisch etwas und Herren! Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat
erreichen!) im Laufe seiner Ausführungen dargelegt, daß die
3372 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Dr. Deist
Güte einer Wirtschaftspolitik nicht davon abhänge, lung auf der anderen Seite genannt werden und daß
wieweit und in welchem Umfang der Staat seinen sonst im ganzen Bericht keinerlei wirksame Möglich-
Einfluß auf die Wirtschaft geltend mache, sondern keiten einer Steuerung des Wirtschaftsablaufs auf-
es darauf ankomme, daß dies am rechten Fleck ge- gezeigt werden. Wenn das in einem Bericht ge-
schieht. Ich möchte ihm darin völlig zustimmen. schieht, der doch eine grundlegende Bedeutung hat,
Meine Freunde und ich sind gar nicht der Auffas- ist es berechtigt, auf die Einseitigkeit einer solchen
sung, die Güte der Wirtschaftspolitik hänge davon Betrachtungsweise hinzuweisen.
ab, daß der staatliche Einfluß so weit wie möglich Ich sage das nicht nur, weil durch diese einseitige
gehe. Aber wir sind ernsthaft der Auffassung, daß Betrachtungsweise der Bericht Schlagseite erhält —
sie davon abhängt, ob Einfluß wirklich am rechten das wäre vielleicht nicht so schlimm, weil es korri-
Fleck und zur rechten Zeit genommen wird. giert werden kann —, sondern ich sage es auch, weil
Der Herr Bundeswirtschfatsminister hat dazu ein diese Betrachtungsweise die notwendige Ausein-
Kapitel berührt, das ich hier nicht sehr ausweiten andersetzung der Tarifparteien und damit der ver-
will, das jedoch ein bemerkenswertes Licht auf die schiedenen Gruppen innerhalb der deutschen Wirt-
Situation wirft: die Preispolitik der großen Unter- schaft außerordentlich erschwert und geeignet ist,
nehmungen. Meine Damen und Herren, hier kommt die Verhandlungen und Beziehungen zwischen den
es eben darauf an, daß man das richtige Maß staat- verschiedenen Gruppen, die ja letzten Endes zu-
lichen Einflusses und staatlicher Begrenzung findet. sammenwirken müssen, zu vergiften. Darum haben
Mir scheint, daß nach unserem Kartellgesetz die wir uns gegen diese einseitige Tendenz, auf dem
Möglichkeiten einer Eingrenzung des Mißbrauchs Gebiete der Lohnpolitik eine Grenze von 3 1/2 % zu
wirtschaftlicher Macht gerade bei den Großunter- setzen, im übrigen aber diese Grenze zu leugnen,
nehmungen nur in ganz geringem Umfange gegeben gewandt. Mir scheint, daß wir gerade in dem Sta-
dium, in dem wir sind und in dem wir nach der
sind. Auf dieses Maß kommt es eben an.
großen Expansion, die wir nach dem Krieg und Zu-
Gerade bei den Überlegungen, welchen Einfluß sammenbruch hatten, auf eine normalere wirt-
man auf die wirtschaftliche Entwicklung durch eine schaftliche Entwicklung zusteuern, Methoden finden
planmäßige Steuerung des Wirtschaftsprozesses müssen, um die Ansprüche der verschiedenen Grup-
nehmen kann, muß man sich sehr eingehend dar- pen der Bevölkerung auf ein angemessenes Maß
über unterhalten, .wie verschieden reagibel auf zueinander zurückzuführen.
staatliche Maßnahmen die Teile der Wirtschaft sind. An diesem Wirtschaftsbericht haben wir auszu-
Der Zwang zu schärferen Eingriffen ist immer dort setzen, daß er, unabhängig von seinem theore-
vorhanden, wo die Reaktionsfähigkeit der Wirt- tischen Teil, in seinen Empfehlungen außerordent-
schaft auf normale staatliche Eingriffe zu gering ist. lich einseitig in der Verteilung der Lasten ist, daß
Darum ist dieses Kapitel der marktbeherrschen- er auf der einen Seite dem Staate eine Einnahmen-
den Unternehmungen ein ernstes Kapitel der Wirt- politik gestattet, die weit über das normale durch-
schaftspolitik. Der Bundeswirtschaftsminister weiß schnittliche Maß hinausgeht, daß er auch der Wirt-
selbst, daß der Grad der Aktivität in der Preispolitik schaft eine Expansionspolitik zugesteht - ich gebe
und Wirtschaftspolitik verschieden sein muß für die zu, daß man es in dieser wirtschaftspolitischen Si-
Wirtschaftszweige mit hohem Lohnanteil und für die tuation tun muß —, die über den normalen Produk-
Wirtschaftszweige mit geringem Lohnanteil und tivitätszuwachs hinausläuft, und daß er mit aller
nach der verschiedenen Reagibilität auf wirtschafts- Härte verlangt, daß die Lasten dieser Entwicklung
politische Aktionen. Dabei ist es notwendig, in ganz einseitig von einer Gruppe der deutschen
jenen Industriezweigen, in denen monopolistische Wirtschaft getragen werden, nämlich der Arbeit-
Strukturen vorherrschen, eine besonders starke inehmerschaft! Das ist die Crux dieses Berichtes.
wirtschaftliche Aktivität zu entwickeln. Ich meine, wir sollten uns bemühen, bei Erörte-
Gerade der Hinweis des Bundeswirtschaftsmini- rungen über das, was wirtschaftspolitisch notwendig
sters auf die Preispolitik der Großunternehmungen ist, ein etwas größeres Maß an Objektivität obwal-
zeigt, daß bezüglich der Wirtschaftspolitik dosierte ten zu lassen und die Lasten gerechter zu verteilen,
und sehr gezielte Maßnahmen notwendig sind und als es nach diesem Wirtschaftsbericht der Fall ist.
daß man hier nicht in allzu globale Betrachtungen Wir sollten uns auch überlegen, ob das, was vor-
der wirtschaftlichen Lage und der Wirtschaftspolitik geschlagen ist, wirklich ein zweckmäßiges Mittel
absinken darf. ist, um eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung
zu erreichen. Ich habe nicht ohne Absicht darauf
Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat unter- hingewiesen, daß es zu unglücklichen Entwicklun-
strichen — und ich möchte ihm dafür danken —, daß gen führen müßte, wenn die Vorschläge des Bun-
viele Faktoren auf die wirtschaftliche Entwicklung deswirtschaftsministers in diesem Bericht tatsäch-
und auf die Preisbildung Einfluß haben. Ich glaube lich befolgt würden. Wenn nämlich die theoretische
nicht, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß es über- Forderung, alles — die Wirtschaft mit ihrer Expan-
heblich ist, wenn man bei der Auseinandersetzung sion, der Staat mit seinen Ausgaben und die Be-
mit einem Jahreswirtschaftsbericht, der doch wohl völkerung mit ihren Ansprüchen — solle sich auf
die Gesamtheit der wirtschaftlichen Entwicklung in den vorgesehenen realen Zuwachs von 3 1/2 % be-
den Griff bringen soll, darauf hinweist, daß hier als schränken, würden wir eine Stagnation, wenn
mögliche Manipulationselemente der Wirtschafts- nichts Schlimmeres in Kauf nehmen müssen. Schließ-
politik im wesentlichen nur ein Baustopp auf der lich kommt .es darauf an, daß man sich über diese
einen Seite und die Einschränkung der Lohnentwick- Grundlagen der Wirtschaftspolitik klar wird.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3373
Dr. Deist
Noch ein Wort z u der Frage der prophylaktischen worden, das könne man nicht immer wieder
Vorsorge. Herr Bundeswirtschaftsminister, keiner erörtern. Wenn die Bundesregierung einen solchen
auf dieser Eide ist ein Prophet, und wer das für sich Jahresbericht erstattet, der ja doch wohl die Grund-
in Anspruch nehmen wollte, dem würde man mit lage für die Wirtschaftspolitik der Regierung im
Recht sagen, er überhebe sich. Infolgedessen können kommenden Jahr sein soll , dann muß sie die ver-
solche Wirtschaftsrechnungen und wirtschaftlichen schiedenen Elemente der wirtschaftlichen Entwick-
Voraussagen auch nicht unter diesem Gesichtspunkt lung und die verschiedenen Möglichkeiten des Wirt-
aufgestellt werden — sie sollten dann aber auch schaftlichen Eingreifens in ihrer Gesamtheit dar-
nicht so beurteilt werden —, , als wenn sich hier einer legen. Daß hier die Drosselung des Lohnzuwachses
anheischig mache, zu prophezeien, wie die Entwick- auf 3 % praktisch , als einziges Mittel der Wi rt-
lung in der Zukunft laufen werde. Von der Illusion, schaftspolitik herausgestellt wird, ist nach meiner
daß das in dieser Welt möglich sei, sollten wir alle Überzeugung nicht etwa ein Zufall, sondern doch
wohl geheilt sein. wohl im wesentlichen durch die Linie dieser Wirt-
schaftspolitik mitbestimmt.
Worum es geht, ist etwas ganz anderes. Es geht
darum, gewisse Richtlinien für die eigene Politik
festzulegen und dazu gewisse Abschätzungen der zu- Vizepräsident Schoettle: Herr Abgeordneter
künftigen Entwicklung vorzunehmen. Das heißt Dr. Deist, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
nicht, daß diese Entwicklungen unbedingt so eintref-
fen müssen, wie sie abgeschätzt werden; denn wir
betreiben ja keine Prophetie, sondern wir versu- Dr. Deist (SPD) : Gern.
chen, Entwicklungslinien aufzudecken. Es ist das
Wesen einer modernen Wirtschaftspolitik, daß sie Vizepräsident Schoettle: Bitte, Herr Dr. Schwö
die Instrumente, di e wir heute haben, nutzt, um rer.
diese Entwicklungstendenzen einigermaßen richtig
abzuschätzen und darauf gleichzeitig die wirtschafts-
politischen Maßnahmen auszurichten. Herr Bundes Dr. Schwörer (CDU/CSU) : Herr Kollege Deist,
irtschaftsminister, hier scheint mir allerdings ein sollte Ihnen — wenn Sie sagen, es sei als einziges
Unterschield zwischen uns (zu liegen, indem Sie sa- Mittel die Drosselung der Löhne gefordert — bei der
gen, es sei nicht möglich ich hoffe, daß ich es Lektüre des Wirtschaftsberichts entgangen sein, daß
richtig verstanden und notiert habe —, prophylak- es unter Punkt 40 heißt: „Die Steigerung der Ge-
tisch d i e notwendige Vorsorge zu treffen. samtausgaben der öffentlichen Hand . . . muß in
dieser Entwicklungsphase an der zu erwartenden
(Bundesminister Dr. Dr. h. c. Erhard: Eine Steigerung des realen Sozialprodukts orientiert
gezielte!) werden"? Das ist doch auch eine Forderung, die in
— Eine gezielte. Ich meine, über die Frage, wieweit diese Richtung geht.
gezielt, läßt sich reden. Wer da meint, beinahe jeden
einzelnen Vorgang vorausberechnen zu können und
Dr. Deist (SPD) : Herr Kollege, ich bin darauf
darauf gezielt seine Wirtschaftspolitik aufstellen zu
vorhin in meinen Ausführungen ja eingegangen. Bis
können, der befindet sich in einem großen Irrtum.
heute kann ich nur feststellen, daß die Haushaltsvor-
Jedenfalls befinde ich mich in diesem Irrtum nicht.
schläge und das, was bei den Haushaltsberatungen
Es handelt sich vielmehr um das Vorsehen und um
zum Ausdruck kommt, deutlich zeigen, daß von einer
die Beeinflussung der großen wirtschaftlichen Ent-
Zurückhaltung auf dem Gebiet der öffentlichen Aus-
wicklungstendenzen. Ich freue mich, daß ich hier-
gaben überhaupt nicht die Rede sein kann, sondern
na ch offenbar feststellen kann, daß es wohl möglich
daß die Steigerung der öffentlichen Ausgaben selbst
ist, diese Entwicklungstendenzen in großen Zügen,
das, was in dieser Vorschau vorgesehen ist, nämlich
nicht etwa in ihren Einzelheiten, einigermaßen ab- --w
zuschätzen, nicht mit Sicherheit vorauszusehen und eine Steigerung von 9 %, offensichtlich noch wesent-
lich überschreiten wird. Herr Kollege, es finden sich
vorauszusagen, sondern einigermaßen abzuschätzen
manche goldenen Worte in dem vorliegenden Be-
und darauf auch die Wirtschaftspolitik vorsorglich
richt. Es kommt aber nicht darauf an, ob hier und da
einzustellen. Gerade das ist e s, was ich mit meinen
Ausführungen erstrebte: das Verständnis dafür zu ein goldenes Wort eingesprenkelt wird, sondern es
wecken, daß es möglich und heute auch notwendig kommt darauf an, welche Konsequenzen in dem Be-
ist, die Entwicklungstendenzen so zuverlässig wie richt selber und welche Konsequenzen in der Wirt-
möglich abzuschätzen und danach rechtzeitig wirt- schaftspolitik aus den Feststellungen des Berichts
schaftspolitische Maßnahmen zu treffen. gezogen werden. Da kann ich nur feststellen, daß die
öffentliche Ausgabenpolitik, die ja von der Mehr-
Was uns an diesem Wirtschaftsbericht eine der heit dieses Hauses bestimmt wird, im Widerspruch
schwierigen Seiten zu sein scheint, ist, daß er in zu den Richtlinien des Wirtschaftsberichts steht. Ent-
ins eitig auf die dem,wasrpktichvoläg,e weder sind die Richtlinien des Wirtschaftsberichts
Lohnentwicklung abstellt., als wenn es überhaupt falsch, oder die Politik, die Sie hier treiben, ist
kein anderes Element der wirtschaftspolitischen Ent- falsch; das will ich im einzelnen nicht untersuchen.
wicklung gäbe, das man mit wirtschaftspolitischen Jedenfalls lassen sich diese Richtlinien und die Poli-
Maßnahmen steuern könnte. Meine Damen und Her- tik, die von der Mehrheit dieses Hauses, insbeson-
ren, sagen Si e nicht — der Herr Bundeswirtschafts- dere von Ihrer Partei, Herr Bundeswirtschaftsmi-
minister hat soeben darauf hingew iesen —, es gebe nister, bestimmt wird, nicht auf einen Nenner
soviel ,andere Möglichkeiten, das sei so oft erörtert bringen.
3374 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Dr. Deist
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich tragbares Ergebnis erzielt wird. Wenn wir diese
möchte nur noch eine Schlußbemerkung machen. Der Aufgabe der Opposition verleugnen wollten, wür-
Herr Bundeswirtschaftsminister hat dargelegt, er den wir die Demokratie verleugnen.
werde den Akzent der Wirtschaftspolitik in Zukunft (Beifall bei der SPD.)
mehr auf Stabilität als auf Zuwachs des Sozialpro-
dukts legen. Vizepräsident Schoettle: Das Wort hat der
(Zuruf: Im Augenblick!)
Abgeordnete Haase.
— Ja, zur Zeit. Meine Damen und Herren, ich bin Haase (Kassel) (CDU/CSU) : Herr Präsident!
der Auffassung, daß es bei der Ausgewogenheit, die Meine Damen unid Herren! Die Debatte lebt wieder
eine Wirtschaftspolitik in bezug auf ständige Fort- auf. Ich werde versuchen, meine Ausführungen zu
entwicklung und auf Stabilität des Preisniveaus straffen unid Ihre Aufmerksamkeit, soweit sie Sie
haben muß, durchaus Variationsmöglichkeiten und mir noch schenken können, nicht über Gebühr in
Variationsnotwendigkeiten gibt, — die Möglichkeit, Anspruch zu nehmen.
einmal mehr auf den Zuwachs, ein andermal mehr
auf die Stabilität der Verhältnisse Wert zu legen. Wir wissen alle um den großen Einfluß, den die
Nur glaube ich — und ich meinte, ich hätte dafür Verhaltensweise der öffentlichen Hand, besonders
einiges Zahlenmaterial dargelegt —, daß wir uns über Besteuerung und Haushaltsgestaltung, heute
bereits in einem Stadium der Entwicklung befinden, auf die wirtschaftliche Entwicklung in unserem
in dem die restriktive Politik, die Sie zur Zeit be- Lande ausübt, und zwar im positiven als auch im
fürworten und die zuzeiten durchaus berechtigt sein negativen Sinne. Der eine oder andere Gedanke,
mag, durch die wirtschaftliche Entwicklung bereits den ich hier vortragen werde, ist sicher heute schon
überholt ist, und daß wir bereits eine Schwäche der angeklungen. Aber man sollte diese Gedanken —
wirtschaftlichen Entwicklung insgesamt zu verzeich- ich halte sie für außerordentlich wichtig — kurz
nen haben. Die Regierung müßte in ihrer Politik die noch einmal zusammenfassen.
Akzente mehr auf Wachstum als auf die Stabilität Vielleicht sind auch Vorschläge darunter, die
legen. Wer die wirtschaftliche Entwicklung sieht und von den Sozialdemokraten in der Vergangenheit
sich ein klein wenig mit dem Zahlenspiel und der schon einmal gemacht worden sind. Inwieweit sie
Zahlenentwicklung befaßt, kann jedenfalls nicht be- damals aktuell waren, darüber kann man vielleicht
streiten, daß das in unserer wirtschaftlichen Situa- streiten. Manche sind heute sicher aktuell. Im übri-
tion ein ernsthafter Diskussionspunkt für uns sein gen halte ich es für wenig sinnvoll, für gute Gedan-
muß. ken bei jeder Gelegenheit das Erstgeburtsrecht zu
beanspruchen. Wir wären töricht, wollten wir prak-
Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat über die
tikable Vorschläge der Opposition nicht aufgreifen,
Art, in der ich argumentiert habe, einige Worte und die Opposition hat ja auch genug gute Vor-
fallen lassen, auf die ich hier nicht eingehen möchte.
schläge der Christlichen Demokraten vor nicht all-
Ich möchte nur sagen: wenn ein solch umfangreicher
zu langer Zeit aufgenommen. Es sollte hier ein
Wirtschaftsbericht vorgelegt wird, Herr Bundes- beiderseitiges Geben und Nehmen stattfinden.
wirtschaftsminister, und wir uns hier im Hause mit
einem solchen Wirtschaftsbericht befassen, so ist Nach dem Wirtschaftsbericht liegen die Gründe
es nur natürlich und entspricht es der Sache wie für die Preissteigerung nach wie vor darin, daß die
auch dem kontradiktorischen Charakter demokrati- nominale Nachfrage in der Gesamtwirtschaft das
scher Verhandlungen, daß von der Seite der Regie- reale Angebot an Waren und Dienstleistungen wei-
rung und ihrer Parteien in erster Linie die positiven terhin übertraf. Herr Dr. Deist sieht sicher einen
Elemente und von der Seite der Opposition in erster weiteren Grund für die Preissteigerungen in der
Linie die negativen Elemente herausgestellt werden. Unbeweglichkeit mancher Preise infolge kartella-
Das ist die normale Arbeitsteilung, bei der die rischer und monopolistischer Absprachen. Nun, ich
verschiedenen Seiten in einem parlamentarischen sehe diese Dinge für die Vergangenheit im wesent-
Raum angemessen zum Ausdruck kommen. lichen durch monetäre Entwicklungen begründet.
Aber ich kann hier nicht weiter darauf eingehen.
Ich habe zu Anfang die positiven Gesichtspunkte
deutlich herausgestellt und meine, es ist die Auf- Hervorgerufen wurde diese Überbeanspruchung
gabe der Opposition, deutlich zu machen, daß wir des Sozialprodukts unter anderem durch die Aus-
in dieser restriktiven Politik, die den ganzen Wirt- gabensteigerung der öffentlichen Hand weit über
schaftsbericht durchläuft, bei der augenblicklichen den nominalen Zuwachs des Sozialprodukts hinaus.
konjunkturellen Situation eine Gefahr sehen. Ich Es spielen in diesem Zusammenhang natürlich auch
meine, daß, gerade wenn die Opposition diesen andere Faktoren eine Rolle, in der Vergangenheit
Standpunkt deutlich herausstellt, erst die Grundlage vor allem Zahlungsbilanzüberschüsse, die Adjustie-
gegeben ist für eine sachliche, ordnungsmäßige Dis- rung unseres Preisniveaus an das internationale
kussion der Probleme, vor denen wir stehen und Preisniveau — bei beiden Dingen spielt die Noten-
die wir gemeinsam zu lösen haben. Ich kann des- bankpolitik eine Rolle und drittens ein allseitiger
halb Ihrer Einordnung der Ausführungen der Oppo- Investitionsboom. Auf eine Analyse dieser Faktoren
sition nicht beistimmen. Wir haben die Aufgabe, möchte ich aber verzichten. Ich werde mich auf eine
auf die kritischen Elemente einer wirtschaftlichen kurze Untersuchung der Haushalts- und Finanzfra-
Entwicklung hinzuweisen, damit in der Zusammen- gen beschränken.
arbeit, durch die Darstellung der Regierungspar- Der Wirtschaftsbericht deutet mit Recht an, daß
teien und durch die Darstellung der Opposition, ein der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Wachs-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3375
Haase (Kassel)
tumsrate die öffentliche Hand zu größerer Zurück- In diesem Zusammenhang sollte auch überlegt
haltung in ihrer Ausgabenwirtschaft veranlassen werden, ob die Vorlage der Einzelberichte und
sollte, und fordert, die Steigerung der Gesamtaus- Pläne wie Grüner Plan und Grüner Bericht, die
gaben in Bund, Ländern und Gemeinden an der zu vielfach doch auch von erheblichen Ausgaben be-
erwartenden Steigerung des realen Sozialprodukts gleitet sind, nicht ebenfalls auf besagten Termin ge-
zu orientieren. Wie schwer es ist, diese ökono- legt werden sollten. Auch diese Maßnahme würde
mischen Grundsätze in der praktischen Tagespolitik den aufgezeigten Gegebenheiten Rechnung tragen
zu vertreten und zu verwirklichen, wissen wir alle. und für eine größere Überschaubarkeit der Haus-
Auf die Lage des gegenwärtigen Bundeshaushalts haltssituation sorgen.
kann ich nicht mehr eingehen. Diese Diskussion mag
der Haushaltsberatung vorbehalten bleiben. Wir Also die erste Forderung: nur einmal im Jahr
sollten uns aber hier im Parlament und unseren Kol- Gelder zu verteilen.
legen draußen in den gesetzgebenden Körperschaf- Eine andere Schwierigkeit liegt darin, daß die
ten täglich aufs neue vor Augen führen, wie schäd- Neigung sich geltend macht, die finanzielle Reali-
lich die Wirkungen der übermäßigen Expansion des sierbarkeit gesetzlicher Vorhaben, die langfristig
Staatsverbrauchs auf allen Gebieten unseres poli- den Haushalt belasten werden, in erster Linie unter
tischen und wirtschaftlichen Lebens sind. Schuldige dem Gesichtspunkt der augenblicklichen Haushalts-
zu suchen ist müßig. Wir müssen uns alle an die lage zu beurteilen. Wir neigen dazu, umfassende
Brust klopfen und eingestehen, daß wir auch hier gesetzgeberische Pläne zu erörtern und möglicher-
im Hause oft gegen besseres Wissen den beque- weise darüber zu beschließen, ohne uns immer im
meren, aber letztlich verhängnisvollen Weg gegan- klaren darüber zu sein, ob und wie sich daraus er-
gen sind. gebende zusätzliche Dauerbelastungen sich in die
Haushaltswirtschaft künftiger Jahre organisch ein-
Regierung und Parlament sollten künftig ver- ordnen lassen. Zum Teil erklärt sich dies aus un-
suchen, die Haushaltsgestaltung mehr an den kon- genügender Information über die Wirtschaftslage
junkturpolitischen Notwendigkeiten auszurichten. und über die künftige Haushaltsentwicklung. In
In diesem Zusammenhang möchte ich einen Gedan- diesem Zusammenhang bedeutet der Wirtschafts-
ken meines Freundes Schmücker aufgreifen und bericht, der jährlich vorgelegt werden soll, eine
unterstreichen: Es ist notwendig, von der isolierten Verbesserung der Unterrichtung auch der Abgeord-
Betrachtung der Ausgaben wegzukommen. Die par- neten.
lamentarische Praxis bringt es mit sich, daß vielfach
zusätzliche finanzielle Anforderungen einzeln und Jede neue Verpflichtung, die die öffentliche Hand
isoliert an die Bundesregierung herangetragen wer- übernimmt, tritt in Konkurrenz zu schon bestehen-
den. Für jede dieser Forderungen werden gewichtige den Dauerlasten. Da neue gesetzgeberische Vorha-
Gründe geltend gemacht, die ihre politische, soziale ben, wenn sie erst einmal realisiert sind, kaum wie-
und wirtschaftliche Notwendigkeit beweisen sollen. der rückgängig gemacht werden können — ich
Läßt sich die Regierung auf eine gesonderte Aus- denke z. B. an unsere Sozialgesetzgebung —, setzt
einandersetzung über die vorgetragenen Wünsche die parlamentarische Behandlung voraus, daß hin-
ein, so erweist sich meist die Unmöglichkeit, mit reichend Klarheit besteht, Klarheit vor allem dar-
haushaltsmäßigen Begründungen den Anträgen zu über, ob die langfristig zur Verfügung stehenden
entgegnen. Die Einzelbetrachtung, die hier prakti- Einnahmen ausreichen, neben den schon bestehen-
ziert wird und die den Gesamtzusammenhang nicht den Dauerverpflichtungen auch die neuen Aufgaben
berücksichtigt, läßt die entscheidenden finanzpoli- zu finanzieren. Es sollte in Erwägung gezogen wer-
tischen Gesichtspunkte überhaupt nicht zur Geltung den, eine Finanzpolitik auf längere Sicht zu betrei-
kommen. Inwieweit Wünsche realisierbar sind, kann ben, und der Herr Vizekanzler hat ja in diesem Zu-
man vernünftig letztlich nur im Rahmen einer Ge- sammenhang auch bereits Zusagen gemacht.
samtwürdigung aller Anforderungen und der ver- Die Bundesregierung sollte ein Rahmenprogramm
fügbaren Deckungsmittel zutreffend beurteilen. Nur erarbeiten. Es sollte eine gewisse Vorausschau
eine Gesamtbehandlung ermöglicht die Aufstellung über die Entwicklung des Sozialproduktes und der
einer Dringlichkeitsskala der Bedürfnisse und ge- öffentlichen Einnahmen darin enthalten sein, und
stattet eine verantwortliche Entscheidung über Be- es sollten demgegenüber die notwendigen und er-
willigung, Kürzung oder Streichung. wünschten Ausgaben aufgezeigt werden, vielleicht
differenziert nach großen Ausgabengruppen. Dieser
Um isolierte Vorwegbewilligungen zu verhin- Rahmenplan könnte auch in etwa die wirtschafts-
dern, die einen Haushaltsausgleich gefährden, und finanzpolitische Konzeption der Bundesregie-
sollte künftig sichergestellt werden, daß Gesetze, rung für einen gewissen Zeitraum wiedergeben.
in deren Gefolge erhebliche finanzielle Engage- Die Kenntnis seiner Einzelheiten würde es ermög-
ments erwachsen, nur in Zusammenhang mit der lichen, eine allgemeine Rangordnung der öffent-
Entscheidung über den Jahreshaushalt beschlossen lichen Bedürfnisse zu bestimmen.
werden dürfen. Gelänge es, die Verabschiedung fi-
nanziell bedeutsamer Vorhaben zeitlich zu konzen- Dies sind sicher keine neuen Ideen, aber es ist
trieren, dann wäre damit eine haushaltswirtschaft- doch angezeigt, sie wieder einmal zu durchdenken
liche Gesamtbeurteilung ermöglicht. Man wäre i n und zu überlegen.
der Lage, unter den zur Erörterung stehenden Ein- Zweite Forderung also: langfristige Haushalts-
zelvorhaben eine Auswahlentscheidung nach Dring- politik, wie wir sie z. B. schon auf dem Verkehrs-
lichkeit zu treffen. sektor haben. Die Haushaltsgestaltung muß mehr
3376 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Haase (Kassel)
zu einem Instrument der Wirtschafts- und Konjunk- Lassen Sie mich abschließend noch einige Worte
turpolitik werden. Nur über eine solche langfristige zur antizyklischen Haushaltspolitik im engeren
Vorausschau wäre es auch möglich, eine Finanz- Sinne sagen. Diese Forderungen lassen sich nur in
reform erfolgreich in Angriff zu nehmen. begrenzten Bereichen verwirklichen. Auf dem Ge-
biet der öffentlichen Einnahmen, namentlich der
Hier nur noch einige wenige Hinweise! Verfas- Steuern, begegnen kompensatorische Maßnahmen
sungsrechtlich sind Bund und Länder in ihrer Haus- wie Änderung der Steuersätze praktisch und poli-
haltswirtschaft selbständig und voneinander unab- tisch großen Schwierigkeiten. Da Steuern den Cha-
hängig. Inwieweit diese Unabhängigkeit sich mit rakter von Daten haben, die in die langfristigen
der Erkenntnis verträgt, daß volkswirtschaftlich und Planungen einbezogen werden, erscheint es auch
konjunkturpolitisch die Haushalte des Bundes, der fraglich, ob kurzfristige Manipulationen wirtschafts-
Länder und der Gemeinden als eine Einheit betrach- politisch erwünscht sind. In unserer gegenwärtigen
tet werden müssen, das zu beurteilen überlasse ich Situation bietet sich hier lediglich eine Überprüfung
jedem einzelnen. Meines Erachtens kann diese der Einkommensteuer an, besonders im Hinblick auf
garantierte Unabhängigkeit der regionalen und kom- die Beseitigung der zu früh einsetzenden Progres-
munalen Haushaltswirtschaften in Zeiten wirtschaft- sionszone. Hier sollte eine Steuersenkung in Er-
licher Spannung zu einer ernsten Gefahr für die wägung gezogen und der Bund zum Ausgleich ge-
Geldwertstabilität und das volkswirtschaftliche gebenenfalls auf den Kapitalmarkt verwiesen wer-
Wachstum werden. Appelle an die Vernunft und den.
das Einsehen der Beteiligten halte ich für nur sehr
bedingt wirksam. Wäre es nicht gut — auch aus gesellschaftspoliti-
schen Gründen —, daß die öffentliche Hand mehr
Beispiele aus letzter Zeit ließen sich genug brin- als bisher zur Finanzierung öffentlicher Investitionen
gen. Denken Sie nur daran: Der Bund hält sich auf den Anleiheweg beschreitet?
dem Baumarkt zurück, während viele Gebietskör-
perschaften ihre Baubemühungen verstärken. Daß (Abg. Ritzel: Sehr gut!)
hier Bund, Länder und Gemeinden nicht im Gleich-
schritt gehen, versteht der Mann auf der Straße Ich begrüße die Meinung, die der Herr Vizekanzler
nicht; es wird immer eine Quelle des Ärgernisses hier vorgetragen hat: Der Staat sollte sich bei sei-
sein und erscheint mir geeignet, unseren Staatsauf- nen Bürgern stärker verschulden, anstatt ihnen die
Mittel zur Investitionsfinanzierung durch Besteue-
bau in der Bevölkerung draußen zu diskreditieren.
Der Bund müßte die Handhabe bekommen, notfalls rung endgültig zu entziehen. Sollte nicht die Selbst-
auf die Haushaltspolitik der Länder und der Ge finanzierung der öffentlichen Hand etwas einge-
schränkt werden? Eine höhere Staatsverschuldung
meinden mit dem Ziel ihrer Anpassung an die
würde auch die ungesunde Vermögensakkumulation
konjunkturpolitischen Erfordernisse einzuwirken.
der öffentlichen Hand auf ein vertretbares Maß zu-
(Abg. Ritzel: Wie wollen Sie das machen?) rückführen.
— Natürlich, Herr Kollege, wenn es ein guter Ge- (Sehr richtig! bei der SPD.)
danke ist, warum soll er nicht aufgegriffen werden!
Auf der Ausgabenseite der Haushalte scheiden
(Zurufe von der SPD: Wie denn?! — Gleich innerhalb des Instrumentariums der Konjunktur-
geschaltet wurde früher! — Weitere Zu politik die laufenden Aufwendungen weitgehend
rufe von der SPD.) aus, da sie zum großen Teil verbindlich festgelegt
— Einen Augenblick! Ich führe es ja noch weiter sind und daher entsprechend dem Konjunkturver-
aus. lauf kurzfristig weder ausgedehnt noch einge-
schränkt werden können.
Zur Erreichung einer antizyklischen Haushalts-
politik könnte eine Ergänzung zu Art. 109 des- Dies trifft für den größten Teil der öffentlichen
Grundgesetzes in Erwägung gezogen werden. Mit Investitionen jedoch nicht zu. Diese sind im allge-
dem Hinweis, daß sie die föderativen Verfassungs- meinen nicht so starr festgelegt und nicht so drin-
prinzipien berühre, könnte die Ablehnung dieser gend und unabweisbar. Eine Ausnahme macht viel-
Grundgesetzänderung nicht gerechtfertigt werden, leicht der Straßenbau; das sage ich zur Beruhigung
weil die Sicherung der Geldwertstabilität doch ge- meines Freundes Lemmrich. Gegenwärtig wird an-
wiß absolute Priorität vor dem Anspruch der Länder nähernd die Hälfte der gesamten Investitionen in
und Gemeinden auf Wahrung ihrer haushaltspoli- der Bundesrepublik direkt oder indirekt durch
tischen Eigenständigkeit haben muß. Sollte die Er- öffentliche Stellen gesteuert. Dieses beträchtliche
gänzung des Grundgesetzes trotzdem nicht zu er- Gewicht, das die öffentlichen Investitionsausgaben
reichen sein, dann sollte die Bundesregierung ein gesamtwirtschaftlich erreicht haben, verlangt ge-
Abkommen mit den Ländern anstreben. Diese sollten radezu eine konjunkturpolitische Dosierung. Der
sich bereit erklären, sich in ihrer Haushaltsführung Einsatz der öffentlichen Investitionshaushalte im
mindestens die gleichen Beschränkungen aufzuer- Dienst der Konjunkturpolitik bietet auch den Vor-
legen, zu denen sich auch der Bund bereit findet. teil gezielter Maßnahmen, die gegebenenfalls bran-
chenweise und schwerpunktmäßig differenziert wer-
Die dritte Forderung heißt: Haushaltspolitischer den können.
Gleichschritt bei Bund, Ländern und Gemeinden. Die
anderen Fragen der Finanzreform sind im Augen- (Hört! Hört! bei der SPD.)
blick und in diesem Zusammenhang nicht bedeu- — Natürlich! Sollen wir nicht dem Schiffbau helfen?
tungsvoll. Herr Kollege, darüber sind wir uns doch alle einig.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3377
Haase (Kassel)
Es wäre eine Torheit, das bestreiten zu wollen. Da Aber damit in der Optik wenigstens alles richtig
gibt es doch in diesem Hause keine Gegensätze. steht und die Landwirtschaft nicht fehlt, die einiges
zu diesem Wirtschaftsbericht zu sagen hat, ver-
(Hört! Hört! bei der SPD.)
zeihen Sie mir, wenn ich versuche, in wenigen Wor-
Ein elastischer Vollzug der Investitionshaushalte ten einige Gedanken zu dem Wirtschaftsbericht des
könnte Schwankungen der privaten Investitions- Bundeswirtschaftsministeriums mitzuteilen.
tätigkeit wenigstens teilweise ausgleichen. Eine Wir bekommen schon seit acht Jahren einen
konjunkturgerechte Steuerung der öffentlichen In- gegenüber dem Wirtschaftsbericht des Bundeswirt-
vestitionstätigkeit setzt jedoch voraus, daß wir auch schaftsministeriums viel größeren und umfassende-
hier zu einer langfristigen Haushaltsbetrachtung ren Bericht, der unsere Landwirtschaft durchleuchtet.
kommen, wie es von meinen Freunden heute schon Ich habe nun den Wirtschaftsbericht, den die Bun-
angedeutet worden ist. Das gegenwärtig prakti- desregierung vorgelegt hat, doch einer genauen
zierte Verfahren der Haushaltsbewilligung müßte Durchsicht unterzogen und habe festgestellt, daß
modifiziert werden, und es müßte insbesondere für auch die Landwirtschaft zweimal erwähnt wird.
längere Zeiträume ein Investitionshaushalt geschaf- Wenn auch die Landwirtschaft infolge ihrer Boden-
fen werden, der aus dem jährlichen Etatbewilli- abhängigkeit und der Abhängigkeit von Natur-
gungsverfahren ausgeklammert und einer Sonder- bedingtheiten eine ganz besondere Stellung inner-
regelung unterworfen wird. halb der Gesamtwirtschaft einnimmt, so ist und
Meine Damen und Herren, darf ich meine Ge- bleibt sie doch ein Teil der gesamten Wirtschaft.
danken kurz zusammenfassen: Die Fähigkeit zum Austausch zwischen der Land-
Erstens. Künftig keine Einzelbetrachtung der wirtschaft und der übrigen Wirtschaft ist nicht so,
öffentlichen Ausgaben mehr. Gesetze, die finan- daß diese eine Oase innerhalb der Wirtschaft bil-
zielle Belastungen bringen, und alle Berichte zu- det, sondern die Landwirtschaft ist eng mit der
sammen mit dem Haushalt beraten. Mittelvertei- übrigen Wirtschaft verbunden, wie ich noch an
lung nur noch einmal im Jahr. einigen Daten zeigen werde.
Zweitens. Langfristige Haushaltspolitik, beson- Zum Anfang meiner Ausführungen möchte ich
ders langfristige Gestaltung der Investitionshaus- sagen, daß ich den Wirtschaftsbericht, den ich sehr
halte. Die Haushaltspolitik muß noch mehr zu aufmerksam gelesen habe, sehr begrüße, weil er
einem Mittel der Konjunkturpolitik werden. uns die Möglichkeit gibt, nunmehr auch einen Ein-
Drittens. Herstellung eines wirtschaftspolitischen blick in das gesamtwirtschaftliche Geschehen zu
Gleichschritts zwischen Bund, Ländern und Gemein- nehmen und es mit dem zu vergleichen, was uns in
den. den Grünen Berichten dargetan wird.
Viertens. Stopp der starken Selbstfinanzierung In Ziffer 21 des Berichts, in der die Frage der
der öffentlichen Hand. Der Staat sollte sich stärker Preiserhöhungen behandelt wird, wird eine ganz
bei seinen Bürgern verschulden. bestimmte Aussage über die Landwirtschaft ge-
Meine Damen und Herren! Die hier vorgetrage- macht. Der Bericht stellt fest, daß für den Anstieg
nen Überlegungen sind gewiß schon öfter angestellt der Verbraucherpreise im Jahre 1962 auch die Ent-
worden. Es sind auch mehr oder weniger ökono- wicklung der Ernährungskosten von Einfluß war.
mische Grundtatsachen, die wir uns aber aus An- Schlechte Ernteergebnisse im Vorjahr und die
laß der Vorlage des Wirtschaftsberichts erneut ungünstige Witterung im Frühjahr 1962 lösten
durch den Kopf gehen lassen sollten. Könnten wir bei pflanzlichen Produkten einen starken Preis-
uns alle entschließen, hier in diesem Hause — das anstieg aus. Ein großer Teil der Verteuerung
gilt auch für Sie, Herr Kollege Matthöfer, und Ihre in der Lebenshaltung wurde durch diesen Son-
Kollegen, denn Sie sind doch diejenigen, die die derfaktor ausgelöst.
Dinge oft anheizen; die Zusammenhänge sind doch
jedem hier glasklar — danach zu handeln, würden Eine zweite Bemerkung findet sich im Abschnitt C
wir im Sinne der sozialen Marktwirtschaft, die Sie — Die Aussichten für die Wirtschaftsentwicklung im
ja auch nun bejahen, Jahre 1963 — in Kapitel II — Angebotsentwick-
lung —. Dort heißt es in Ziffer 27, daß die landwirt-
(Abg. Ritzel: Sehr richtig!) schaftliche Erzeugung unter der Voraussetzung nor-
ein angemessenes Verhalten an den Tag legen maler Witterungsbedingungen um rund 1 % steigen
zum Nutzen unserer Volkswirtschaft. wird.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Es ist zwar nicht viel, was in dem Bericht über die
Landwirtschaft enthalten ist. Aber es beleuchtet
Vizepräsident Schoettle: Herr Kollege Haase doch sehr eindrucksvoll die Stellungnahme unserer
hat soeben seine Jungfernrede gehalten. Ich be- Wirtschaftsexperten zum landwirtschaftlichen Pro-
glückwünsche ihn dazu. duktionsgeschehen. Zunächst einmal darf ich Ihnen
sagen, daß an Hand unserer Grünen Berichte genau
(Beifall.) nachgewiesen werden kann, daß sich die Erzeu-
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Siemer. gungsindizes vom Jahre 1958/59 bis zum Jahre
1961/62 nicht verändert haben. Ich wiederhole: die
Dr. Siemer (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Erzeugerpreise sind gleichgeblieben. Zweitens. Wir
sehr verehrten Damen und Herren! Ich wage kaum unterscheiden in den Indizes nicht nur die Gesamt-
mehr, zu so später Stunde noch etwas zu sagen. erzeugerpreise, sondern auch die Preisentwicklung
3378 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Dr. Siemer
für die pflanzlichen Erzeugnisse, soweit sie sich auf Wir wissen nämlich nicht, ob nicht Naturbedingun-
Sonderkulturen beziehen. Hier ist vielleicht infolge gen diesen Zuwachs wieder mindern; ich denke z. B.
der Witterungsverhältnisse eine unterschiedliche an die 900 Millionen des letzten Jahres.
Bewegung gewesen. Der Gesamtindex der landwirt-
schaftlichen Erzeugnisse blieb dagegen gleich, so Vergleichen Sie nun bitte einmal die Indizes der
daß also der Einfluß auf das Verbraucherpreisniveau gesamten landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Der
nur in einem Preisanstieg liegen kann, der außer- Index lag 1958/59 bei 224 Punkten und 1961/62 eben-
falls bei 224 Punkten. Nehmen Sie bitte die Sonder-
halb der Landwirtschaft begründet ist. Ich möchte,
indizes für Betriebsmittel, Löhne und dergleichen
daß dies einmal festgehalten wird, weil es von Be-
hinzu. In den letzten vier Jahren ist der Index bei
deutung ist, herauszustellen, daß sich bei landwirt-
den Betriebsmitteln von 200 auf 218, bei dem großen
schaftlichen Erzeugnissen in der Grundpreisgestal-
tung zwölf Jahre hindurch fast nichts verändert hat. Bereich der Neubauten und Maschinen von 222 auf
248 gestiegen. Bei den landwirtschaftlichen Gesamt-
Man wird fragen: Wieso? Herr Kollege Dr. Deist löhnen — hier zeigen sich ja die Folgen der anderen
hat vorhin auf die Ernährungsgüter verwiesen, die Lohn- und Preissteigerungen — haben wir eine
im Preis gestiegen seien. Ich gebe zu, das stimmt. Steigerung von 284 auf 370 zu verzeichnen. Wenn
Aber nehmen wir z. B. unser täglich Brot. Wir wis- ich Ihnen diese Zahlen nenne, werden Sie schon er-
sen, daß im Brötchen nur für 2 Pfennig Mehlpro- raten, worauf ich hinaus will: Wir haben eine abso-
dukte enthalten sind. Das Brötchen hat vor nun- lute Stabilität bei den landwirtschaftlichen Erzeuger-
mehr ungefähr zehn Jahren 5 Pfennig gekostet. preisen, keine Zuwachsraten, die ins Gewicht fallen,
Heute kostet es 8 oder 9 Pfennig. Der Mehlanteil dagegen beim gesamtwirtschaftlichen Geschehen
ist nicht größer geworden. Auch was sonst in dem eine sehr starke Lohn- und Preiserhöhung und bei
Brötchen steckt, ist im Preis, soweit es den Erzeu- den Produktionsmitteln ebenfalls eine merkbare
ger betrifft, nicht gestiegen, sondern sogar um eini- Preiserhöhung.
ge Prozent gefallen. Wie sollen wir da den Auftrag des Landwirt-
Nun zur zweiten Bemerkung, die der Wirtschafts- schaftsgesetzes erfüllen und das Ziel der EWG er-
bericht dartut. Die landwirtschaftliche Erzeugung, reichen, die Familienbetriebe zu erhalten? Schon
so wird gesagt, wird im Jahre 1963 voraussichtlich heute, wo wir noch nicht in die Gemeinschaft voll
um 1 % steigen. Gleichzeitig wird dargetan, daß für integriert sind, ist der Druck auf die Familienbe-
1963 ein reales gesamtwirtschaftliches Wachstum triebe so stark, daß wir jedes Jahr eine große An-
von 3 1/2 % erwartet werde. Zu diesen Zahlen darf zahl dieser Betriebe verlieren, ganz zu schweigen
ich etwas sagen. von den Arbeitskräften, die sich in den letzten zehn
Jahren um 42 % verringert haben.
Das wirtschaftliche Wachstum der letzten Jahre
zeigte größere Zuwachsraten, wie der Bericht er- Nun werden die ganz Klugen von Ihnen sagen:
gibt: 1960 8 1/2 %, 1961 5 1/2 %. Die nominalen Zu- Das ist ja gerade das Ziel der strukturellen Ände-
wachsraten waren noch größer: 196012 % ,1961 10 % rung, nur noch möglichst wenige Betriebe zu behal-
und 1962 8 1/2 % . Wenn wir von der Annahme aus- ten. Zunächst mal die Frage: Was steckt dahinter,
gehen, daß die weitere Entwicklung des Wirtschafts- wenn jedes Jahr die Inhaber von Betrieben, die
wachstums wenn auch nicht in dem großen Rahmen vielleicht schon Generationen in derselben Hand
der vorhergehenden Jahre, so doch in dem von dem sind, weggehen müssen, nicht nur ihren Arbeitsplatz
Bericht vorsichtig angenommenen Umfang weiter- wechseln, sondern auch von einer Welt, in der sie
geht, dann ergibt sich, daß wir vom Wirtschaftsjahr lebten, Abschied nehmen müssen?
1958/59 an bis zum Jahre 1975 einen Zuwachs von
— je nachdem, ob Sie der optimistischen oder der Wenn nun durch die ungleichmäßige Entwicklung
weniger optimistischen Meinung zuneigen — 60 bis einmal im gesamtwirtschaftlichen Wachstum des
80%habenwrd.DiLtschafwrdbei Volkes und andererseits in der Stagnation der Ein-
optimistischer Beurteilung in dieser Zeit allenfalls kommensverhältnisse in der Landwirtschaft die Dis-
eine Wachstumszunahme von 20 bis 25 % haben. parität ständig größer wird, wie es auch der letzte
Grüne Bericht auswies, und wenn der Druck durch
Vergleichen Sie bitte mit diesen Daten, die ich ständig steigende Löhne, ich wiederhole es, immer
Ihnen gab, die Preis- und Lohnentwicklung der letz- stärker wird, glauben Sie nicht, daß dann die Span-
ten Jahre. Der Bericht gibt uns die Entwicklung auf nung innerhalb dieses Wirtschaftszweiges, der doch
dem Verbraucherpreisgebiet wieder: 1959 hatten ein Teil unserer Gesamtwirtschaft ist, eine Stärke
wir eine Preissteigerung von 1,1 %, 1960 1,9 %, annehmen könnte, die zum Zerreissen führt?
1961 2,7 % und 1962 3 %. Damit betragen also in
den letzten vier Jahren, in denen die Erzeugerpreise Wenn heute schon die Herren Professoren in ihren
konstant blieben, allein die Preissteigerungen Untersuchungen feststellen, daß bei normalem Ab-
8,7 %. Hinzu kommt nun die große Wachstumsrate, lauf — unter pessimistischer Betrachtung des Wachs-
von der ich soeben sprach. tums in der gesamten Wirtschaft — in den nächsten
Jahren bis 1975 600 000 Betriebe aufgegeben werden
Die Landwirtschaft kann keine Erhöhung der müssen, wie soll sich dann erst dieser Druck auf die
Erzeugerpreise vornehmen. Durch den unelastischen familienbetriebliche Struktur auswirken, wenn die
Bedarf sind ihr Begrenzungen gesetzt. Deswegen Wachstumssprünge, wie wir sie in den letzten Jah-
rechnen die Experten pro Jahr mit einem Höchstzu- ren hatten, noch von entsprechend starken Lohner-
wachs von 1 %. Damit wird aber noch nicht gesagt, höhungen begleitet werden, die in der Landwirt-
daß in der Landwirtschaft mehr eingenommen wird. schaft nicht mehr zu verkraften sind?
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3379
Dr. Siemer
Wir sprechen heute über die gesamtwirtschaftliche Und ein Drittes. Auch wir wollen das große
Struktur und die Erwartungen konjunkturpolitischer Europa; auch wir möchten in dieses große Europa
Entwicklungen. eingebaut und integriert werden. Wir möchten aber
(Zuruf von der SPD: Keine Grüne Debatte!) nicht, daß dieses größere Europa einfach über die
Tatsache hinweggeht, daß die familienbetriebliche
Wir müssen darin aber einbeziehen — verehrter
Herr Kollege! —, daß auch wir zu der Wirtschaft Struktur eine Basis unserer gesamten Gesellschafts-
struktur bleiben muß. Solange dieses Ziel im Auge
gehören, wenn wir auch — das habe ich von Anfang
behalten wird und solange man uns auf diesem
an gesagt — besonderen Bedingungen unterworfen
Wege hilft, sind wir zu jeder Maßnahme bereit.
sind. Ich sage das nicht, um hier eine Grüne Debatte
zu führen, sondern ich sage, daß bei dem Wachstum (Beifall in der Mitte.)
unserer Gesamtwirtschaft die Verantwortung dieser
Gesamtwirtschaft für diesen Zweig, der ein Grund- Vizepräsident Schoettle: Das Wort hat der
produktionszweig ist und bleiben wird, besonders Abgeordnete Junghans. — Verzichtet? — Danke
groß ist. Niemand nimmt uns die Verantwortung schön. Dann muß ich feststellen, daß zu diesem Punkt
ab, wenn die familienbetriebliche Struktur heute der Tagesordnung keine Wortmeldungen mehr vor-
in eine derartige Krise geraten ist, daß man nicht liegen. Die Debatte ist geschlossen.
mehr weiß, wo man anfangen soll zu helfen.
Wir kommen zur Überweisung. Es wird vorge-
Sie können nicht sagen, daß die gewaltigen Lohn- schlagen, den Bericht der Bundesregierung über die
erhöhungen nicht auch einen entsprechenden Ein- Wirtschaftsentwicklung im Jahre 1962 an den Wirt-
fluß auf die Struktur haben. Wir können den Grund schaftsausschuß als den federführenden Ausschuß
und Boden nicht vergrößern. Wir können auch nicht, und an den Außenhandelsausschuß zur Mitberatung
wie ich eben sagte, die Preise der Produkte erhö- zu überweisen. Ist das Haus mit dieser Überweisung
hen, wenn neue Kosten auf uns zukommen. einverstanden? — Das ist der Fall; es ist so be-
(Zuruf von der SPD: Sie können aber den schlossen.
technischen Fortschritt ausnutzen!) Ich rufe ,auf Punkt 4 b) der Tagesordnung:
— Den technischen Fortschritt, Herr Kollege! Da
Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Besold,
müssen Sie sich einmal ein bißchen mit unseren Dr. Schmidt (Wuppertal), Dr. Schwörer, Ruf,
landwirtschaftlichen Maßnahmen der letzten 10 Jahre Stiller, Dr. Vogel, Dr. Imle und Genossen betr.
auseinandersetzen! Dann werden Sie feststellen, daß Maßnahmen zur Behebung des Arbeitskräfte-
nirgendwo so stark rationalisiert worden ist wie mangels (Drucksache IV/1072).
in der Landwirtschaft.
Zur Begründung hat das Wort der Abgeordnete
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der Dr. Besold.
SPD: Also!)
Aber ich habe heute dieses Thema aufgreifen Dr. Besold (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
wollen, damit wir nicht vergessen, daß die Land- Damen und Herren! Wenn diese Große Anfrage be-
wirtschaft im Gesamtstrukturbild unserer Wirtschaft treffend Maßnahmen zur Behebung des Arbeits-
eine gesellschaftspolitische Bedeutung hat, auf die kräftemangels zur Debatte gestellt wird, so soll
wir nie verzichten können. gleichzeitig damit vor dem Parlament das so drin-
(Zuruf von der SPD.) gende Problem der Arbeitsmarktlage überhaupt und
sollen alle damit zusammenhängenden Fragen, auch
Wir wollen aber auch die Konsequenz aus dieser die Frage einer Mehrarbeit, debattiert werden. Ge-
Feststellung ziehen. Ich habe drei Forderungen. statten Sie, daß ich zunächst eine Vorbemerkung
Erstens: wenn wir das familienbetriebliche Struk- mache.
turbild nicht restlos verändert sehen wollen, brau-
chen wir zumindest das gleiche Preisniveau in der Diese Große Anfrage ist eine parlamentarische
Landwirtschaft wie in den letzten Jahren. Jede Dis- Initiative von 63 Abgeordneten der CDU/CSU und
kussion, die begonnen wird, um an diesem Punkte der FDP in der guten Absicht, der Wirtschaftspoli-
zu mindern, stößt Tausende von Betrieben aus die- tik der Bundesregierung dienlich zu sein und das
sem Bereich der Wirtschaft heraus. Das soll man Erreichte sicherzustellen. Nachdem ich der Presse
klar sehen, und man soll, wenn man die Konsequenz entnommen habe, daß ,auch die Gewerkschaften am
nicht zieht, sich fragen, was dann daraus entsteht. 1. Mai diese Parole, das Erreichte sicherzustellen,
ausgeben wollen, ist vielleicht eine Aussicht vor-
Zweitens. Auch wenn es uns gelingt, bei den handen, daß man sich in der Frage der Mehrarbeit
kommenden Verhandlungen in der EWG unsere einer positiven Entscheidung zuwenden kann.
Vorstellungen von einem bestimmten Preisniveau
zu halten, bleibt trotzdem die Aufgabe, in der ge- (Beifall bei der CDU/CSU.)
samtwirtschaftlichen Sicht gerade diesem Betriebs- Ich möchte weiter vorweg sagen, daß die Frage
zweig, der eben unter strukturellen Maßnahmen der Mehrarbeit bei der augenblicklichen Arbeits-
besonders leidet, in ganz bestimmter Weise zu hel- marktlage nicht aufgeworfen wird, um das Rad der
fen. Die Herren, die den Wirtschaftsbericht verfaßt sozialen Errungenschaften zurückzudrehen, sondern
haben, sollten sich darüber klar sein, daß in den einzig und allein zu dem Zweck, das Fundament zur
nächsten Jahren auf diesem Gebiete Maßnahmen Vervollkommnung und Vollendung der Sozialrefor-
getroffen werden müssen, von denen wir bisher men vor der Abbröckelung und dem Zerfall zu be-
noch kaum eine Ahnung haben. wahren, um es zu festigen und um weiterbauen zu
3380 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Dr. Besold
können. Mehrarbeit wird von den Antragstellern Das ist eine Äußerung eines Gewerkschaftsvor-
auch nur so lange alswirkungsvolles Stabilisie- sitzenden, die wir nur unterschreiben können. Nichts
rungsmittel vorgeschlagen, bis der in Unordnung anderes wollen auch wir.
geratene Arbeitsmarkt den Rhythmus und die ge- (Abg. Matthöfer: Überrascht Sie diese Äuße
sunde Entwicklung des Lohn-Preis-Gefüges der Wirt- rung?)
schaft sowie die Geldwertstabilität nicht mehr ur-
sächlich oder mitursächlich stört. — Das überrascht mich nicht. Ich möchte nur sagen,
Dazu stelle ich weiter fest, daß dieser ungewohnte, wie weit sich hier eine Gewerkschaft oder ein Ge-
im heutigen Denken teilweise fast anmaßend klin- werkschaftsorgan unter Verunglimpfung von Abge-
gende Begriff der Mehrarbeit — die Arbeiter selbst ordneten in diese Debatte einmischt. Wir stellen
wollen .aber sehr gerne mehr arbeiten — uns ja positiv zu der Äußerung Rosenbergs und
wollen nur eine Korrektur der IG Metall-Zeitschrift
(Zuruf von der SPD: Welche?) zur Ehrenrettung dieser Abgeordneten. Ich weiß
— viele, kann ich Ihnen sagen — nicht in der Ab- nicht, ob Sie die Zeitschrift gelesen haben. Ich
sicht in diese Debatte geworfen wind, einen Zünd möchte die Behauptung, daß die Antragsteller „als
s taff in di e heißen Probleme der Tarifpartner zu reine Interessenvertreter hier auftreten" als Beispiel
bringen oder überhaupt in ihre Rechte einzugreifen; anführen. Es sollte doch die Bereitschaft vorhanden
absolut nicht. sein, zu überzeugen und sich von anderen über-
(Vorsitz: Präsident D. Dr. Gersten zeugen zu lassen. Deshalb sollte man diese Anfrage
maier.) so wiedergeben, wie sie gemeint ist. Man sollte
Das geschieht auch nicht deshalb, um gewisse gerade in dem gegenwärtigen Augenblick, wo
Interessen irgendeines Tarifpartners durchzusetzen, Tarifpartner sich in einem sehr ernsten Kampf ge-
sich wegen der Arbeitsmarktlage und auf Grund genüberstehen, die Probleme nicht mit einer Ten-
sondern lediglich zu dem Zweck, diejenigen, die denz darstellen, die diese Verhandlungen negativ
der täglichen Zeitungsnotizen über die Gefährdung beeinträchtigen könnte. Man sollte die Dinge nicht
der Wettbewerbsfähigkeit und über die Gefährdung völlig anders darstellen, als sie von den Antrag-
der Geldwertstabilität usf. Sorgen machen, einer stellern dieser Großen Anfrage gemeint sind.
Sorge zu entheben. Dieser Vorschlag auf eine vertretbare Mehrarbeit
Wenn in der Zeitschrift der IG Metall zur Ein- ist unter mehrarbeitswerten Bedingungen gedacht.
leitung dieser Debatte über die Große Anfrage ein Man kann in unserer deutschen Situation über die
Artikel mit dem Titel „Großangriff auf die Arbeits- Arbeitsmarktlage und über Maßnahmen zur Behe-
zeitverkürzung" gebracht wird und einzelne Abge- bung des Arbeitskräftemangels nur dann ernsthaft
ordnete abgebildet werden, wenn es so hingestellt und mit Erfolg debattieren, wenn man zumindest
wird, als ob diese Kollegen, die in einer ernsthaften eine augenblicklich und vorübergehend zu leistende
Überlegung eine Frage anschneiden, die das ge- Mehrarbeit bei den anzustellenden Überlegungen
samte Volk berührt, einseitig Unternehmerinteres- nicht außer acht läßt. Bis zur Beruhigung, also zur
sen verträten, so ist das keine gute Sache. Diese Normalisierung der Wirtschaft und der Arbeits-
Art der Darstellung erinnert an Klassenkampfzeiten. marktlage wird man sich von allen Seiten des Wirt-
schaftslebens zu flexiblen Umstellungen bequemen
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Matt
müssen, wenn man nicht einen großen Schaden für
höfer: Es gibt auch einen Klassenkampf
das ganze Volk und für das gesamte Wirtschafts-
von oben!)
leben herbeiführen will. Wenn ich sage: Der Ar-
— Mein lieber Herr Kollege, ich möchte Ihnen beitsmarkt ist in Unordnung, so gehe ich davon aus,
sagen, wie wir es halten wollen. Wir wollen es daß aus einer Darstellung des Präsidenten der Bun-
nämlich genauso halten, wie es der erste Vorsitzende desanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosen-
des Deutschen Gewerkschaftsbundes, also aller Ge- versicherung in Nürnberg dm Bulletin und auch aus
werkschaften, Herr Rosenberg, in seiner Rede „Die - dem Wirtschaftsbericht hervorgeht, daß wir im deut-
Gewerkschaften und die Demokratie" festgelegt hat. schen Wirtschaftsbereich wie schon im vorigen Jahr
Das möchte ich als einzige Antwort dieser klassen- so auch im Jahre 1963 ungefähr 1,3 Millionen Ar-
kämpferischen Methode der IG Metall und den Be- beitsplätze aus eigener Kraft nicht beisetzen können
leidigungen von Abgeordneten des Deutschen Bun- und trotz Anforderung von 800 000 Gastarbeitern
destages entgegenhalten. Er hat nämlich in dieser für dieses Jahr ungefähr 500 000 Arbeitsstellen
Rede gesagt — Herr Präsident, ich darf das vielleicht offenbleiben. Diese Tatsachen sind auf Grund der
verlesen —: Feststellungen der genannten Stellen, die nach mei-
Nach allem ist unzweifelhaft, daß das Leben ner Ansicht maßgebend sind, zu konstatieren.
in einer demokratischen Gesellschaft verschie- Das bedeutet, daß der Arbeitsmarkt zur Zeit nicht
dene Voraussetzungen verlangt, die man wie in Ordnung ist. Ein guter Markt, ein Markt, der
folgt kennzeichnen könnte: ein ständiges Inter- keine Störungen im Wirtschaftsleben auslöst, muß
esse an den öffentlichen Fragen und Aufgaben, sich von selbst füllen und muß sich auch von selbst
— haben wir auch — wieder räumen. Dann treten im Wirtschaftsleben
ein größtmögliches Wissen auf wesentlichen keine Störungen ein und sind Auswirkungen auf
Gebieten des Lebens unserer Gesellschaft, ein alle die Bereiche, die heute schon angesprochen
Verantwortungsbewußtsein für die Allgemein- worden sind, eben nicht zu befürchten.
heit, die Bereitschaft, andere zu überzeugen und Der Arbeitskräftemangel kann auch nicht mehr
sich von anderen überzeugen zu lassen. bloß als eine kurzfristige Erscheinung angesehen
Deutscher Bundestag - 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3381

Dr. Besold
werden, nachdem wir diesen schon im letzten Jahr nicht in Ordnung ist, wenn Arbeitskräfte in diesem
und im vorletzten Jahr feststellen mußten und nach- Ausmaße fehlen, dies eine einseitige Verschiebung
dem ein solcher auch für dieses Jahr, selbst wenn der Macht und Kraftverhältnisse unter den Tarif-
-

wir nicht mehr in der Hochkonjunktur sind, zu er- partnern bedeutet. Die Begünstigten sind zur Zeit
warten ist. die Arbeitnehmer. Wenn eine Zeit der Arbeits-
losigkeit wäre, wären es vielleicht die Unterneh-
Die Bundesregierung ist der Meinung, neben den mer. Ein derartig kranker Arbeitsmarkt oder ein
Dämpfungsmaßnahmen in den Haushalten von Arbeitsmarkt, der so in Unordnung ist, bei dem so
Bund, Ländern und Gemeinden müsse noch darauf viele Arbeitsplätze nicht besetzt sind, verschiebt
hingewirkt werden, daß wenigstens im Jahre 1963 die Machtverhältnisse, und das führt zu Forderun-
keine Arbeitszeitverkürzungen vorgenommen wer- gen, die in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage
den. Die Kollegen, die mit mir diesen Antrag ein- der Bundesrepublik gefährlich sind und nicht not-
gereicht haben, glauben, daß das zur Beruhigung wendig wären.
der Arbeitsmarktlage und der daraus resultierenden
Ergebnisse nicht genügen dürfte; denn wenn wir Wir sind der Überzeugung, daß auch deshalb
in den nächsten zwei Jahren tatsächlich auf eine Mehrarbeit zum möglichst raschen Ausgleich des
regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stun- Arbeitsmarktes geleistet werden sollte, weil wir
den zurückgehen, wie das in Tarifverträgen vorge- ungleiche Startbedingungen haben von Betrieben,
sehen ist, so bedeutet das ein Absinken von zirka die automatisiert, rationalisiert und technisiert
2000 Arbeitsstunden pro Jahr auf weniger als 1900. werden können, und Betrieben, die nur zum Teil
Damit vergrößert sich der Abstand zu den übrigen oder gar nicht automatisiert werden können. Nicht
europäischen Ländern, mit denen wir zu konkurrie- in diesem Übermaß wie Industriebetriebe können
ren haben und in denen man überall mehr als 2100 insbesondere die Betriebe des Handwerks, alle
Stunden pro Jahr arbeitet. Wenn also eine Arbeits- Dienstleistungsbetriebe und so fort automatisiert
zeitverkürzung durchgeführt würde, würde der Ab- und technisiert werden. Das bedeutet bei einer Ar-
stand zu den anderen Staaten vergrößert. Wenn die beitsmarktlage, wie wir sie zur Zeit haben, daß ge-
Arbeitszeitverkürzungen aber, wie es die Bundes- wisse Arbeitsgebiete leergefegt werden zugunsten
regierung will, gestoppt werden, ist der Abstand derjenigen, die automatisiert sind und wo durch
zwar kleiner, aber die in der Bundesrepublik ge- Arbeitszeitverkürzung und Lohnsteigerung eine
leisteten Arbeitsstunden würden immer noch, und bessere Arbeitsgrundlage gegeben ist. Eine solche
zwar erheblich, weniger sein als die in den Konkur- Verschiebung haben wir zur Zeit, und das ist un-
renzländern geleisteten Arbeitsstunden. gut; das merken wir täglich, wo wir gehen und
stehen.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen jetzt Drittens. Eine möglichst rasche Normalisierung
einige Gründe nennen, warum wir glauben — wir des Arbeitsmarktes durch Mehrarbeit würde einen
bitten Sie, das zu überlegen, wir bitten auch die erheblichen Beitrag zur Sicherstellung des lebens-
Bundesregierung, zu überlegen, ob wir richtig den- notwendigen Exports in Qualität und Quantität lei-
ken —, daß derartige Verhandlungen — wir wollen sten. Bei einem derart ausgehöhlten Arbeitsmarkt,
ja nicht in die Tarifverhandlungen und in die wie wir ihn zur Zeit haben, ist der Export gefährdet,
Rechte der Tarifpartner eingreifen — der Bundes- gerade in einem Augenblick, wo vor unseren Toren
regierung mit den Tarifpartnern in dieser Richtung unausgenutzte Kapazitäten in Amerika und in Eng-
geführt werden sollen. land bereitstehen und darauf warten, einen von uns
Warum ist Mehrarbeit notwendig? Erstens, weil nicht rechtzeitig oder in der Qualität nicht gut be-
trotz der Normalisierung der Konjunktur und trotz dienten Export abzusaugen. Die Normalisierung des
Hereinnahme fremder Arbeitskräfte eine erhebliche Arbeitsmarktes wäre damit auch eine starke Barriere
Lücke von zirka 500 000 nicht besetzen Arbeitsplät- gegen die Gefahr, daß unausgenützte und brachlie-
zen bleibt und weil ein in Unordnung gekommener - gende Arbeitskapazitäten vor den Toren unseres
Arbeitsmarkt den ausgeglichenen Rhythmus der Wirtschaftsraumes in unseren Exportmarkt ein-
WirtschafundeGlschaftordnugö. dringen. Gerade unsere Generation weiß, was es
Seit Jahresfrist spricht man und liest man in Fach- bedeutet, einen Exportmarkt zu erringen, was es
zeitschriften und Zeitungen von Arbeitskräfteman- bedeutet, wenn dieser abgesaugt wird, und was es
gel, Arbeitszeitverkürzungen, Lohnsteigerungen, an finanziellen Aufwendungen bedeutet, solche
Betriebserschwernissen, Qualitätsverschlechterun- eventuell verlorenen Exportmärkte wieder zurück-
gen, Wettbewerbsgefährdung, Gefährdung des Au- gewinnen zu müssen.
ßenhandels, Preissteigerung, Gefährdung der Geld- Es gibt noch einen weiteren Grund für die Über-
wertstabilität. Das ist den Menschen in der Bundes- legung, ob der Arbeitsmarkt, der soviel offene Stel-
republik, den Arbeitnehmern, den Arbeitgebern len hat, nicht durch Mehrarbeit aufgefüllt werden
und allen, die gespart haben, in die Knochen ge- sollte. Mehrarbeit würde offene Arbeitsplätze auf-
fahren. Und darum, glaube ich, muß man darüber saugen und eine Umstrukturierung von Arbeitskräf-
nachsinnen, möglichst bald diese Arbeitskräfte ten in völlig leergefegte Lebensgebiete fördern.
Lücke zu schließen. Denken Sie nur daran, daß wir infolge des Arbeits-
Zweitens, weil die zu lange Dauer der ungeord- kräftemangels in einzelnen Betrieben immer wieder
neten Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt gefähr- die Frage der Hortung von Arbeitskräften haben,
lich auf den Rhythmus der Wirtschaft und auf die die in anderen Gebieten sehr wohl gebraucht wer-
Preis- und Geldwertstabilität wirkt. Wir sehen ja den würden! Denken Sie daran, daß auf Grund des
gerade augenblicklich, daß, wenn der Arbeitsmarkt Mangers an Arbeitskräften heute noch 60 000 Ar-
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beitskräfte aus der Landwirtschaft, die an Arbeits- Unordnung gekommenen Arbeitsmarktes, aus der
kräftemangel leidet, herausgeholt werden! Denken Not der Wirtschaft heraus etwas im Übermaß vor-
Sie daran, daß heute die Haushalte von Arbeitskräf- antreiben, was sich letztlich vielleicht zum Nachteil
ten leergefegt sind, daß eine kranke Frau mit drei des Arbeitnehmers auswirken könnte.
Kindern gar nicht mehr mit Anstand und Ruhe
Eine vertretbare Mehrarbeit aus eigenen Kräften
krank sein kann, weil die Schwester, die Mutter
unter mehrarbeitswerten Bedingungen würde recht-
und vielleicht sogar auch noch die Großmutter in
zeitig die vielschichtigen Probleme, die mit der Be-
Arbeit stehen und sie deshalb keine Hilfe bekommt!
schäftigung von Gastarbeitern verbunden sind, auf
Alle diese Verhältnisse spürt das Volk. Es ver- ein erträgliches Maß verringern und vielleicht lös-
steht nicht, warum hier trotz des Wirtschaftswun- bar machen.
ders nicht Abhilfe geschaffen wird. Man will eben
In der Großen Anfrage ist auch die Frage an die
nicht, daß trotz aller Automatisierung, aller Techni-
Bundesregierung gestellt, welche Mehrkosten für
sierung und Beschleunigung der Arbeit in dieser
Gastarbeiter in den deutschen Betrieben notwendig
Situation die Arbeitszeitverkürzung noch fortgesetzt
sind, verglichen mit den Kosten der aus unserem
werden kann. Wenn schon Gastarbeiter in dem ent-
Volk hervorkommenden Arbeitskräfte. Diese Frage
sprechenden Ausmaß nicht herangezogen werden
gestellt, um eine sachliche Grundlage bei dieser
können und wenn im eigenen Volk keine Reserven
gespannten Lage zu bekommen. Wir wissen ganz
mehr vorhanden sind, dann kann der Ausgleich
genau, was wir den Gastarbeitern verdanken. Wir
eben nur durch Mehrarbeit erreicht werden.
wissen aber auch, daß das Los der Gastarbeiter, ob-
Eine Normalisierung des Arbeitsmarktes würde wohl sie hier in Deutschland gut verdienen, gar kein
eine den Arbeitsplatz gefährdende Automatisierung so sehr glückliches ist. Die soziologischen Verhält-
verhindern und Fehlentwicklungen hin zur Arbeits- nisse, die sich aus der Arbeit in einem fremden
losigkeit korrigieren. Was meine ich damit? Ich Land und aus der Zerreißung der Familien ergeben,
weiß nicht, ob im augenblicklichen Zeitpunkt die können sehr, sehr unangenehme Folgewirkungen
Forderung auf Arbeitszeitverkürzungen, auf Lohn- haben, insbesondere wenn dann auch noch Familien-
steigerung und damit letztlich auf Hebung des zusammenführungen stattgefunden haben, was not-
Kostenniveaus wirklich im Sinne der Arbeitnehmer wendig ist, wenn Gastarbeiter auf lange Zeit be-
liegt. Denken Sie nur an die Entwicklung in Ame- schäftigt werden. Wenn eines Tages infolge von
rika. Angesichts des Arbeitskräftemangels treibt die Rationalisierung und Automatisierung die ganze
Industrie die Automatisierung dann in einer schnel- Lage anders würde, wären gerade diese Arbeits-
leren Weise voran. Bei einer völligen Normalisie- kräfte nicht in einer glücklichen Lage.
rung der gesamten Konjunkturlage könnte eines
Tages vielleicht so Arbeitslosigkeit eintreten, was Es ist nicht leicht, einen Überblick über die Mehr-
hätte abgeschirmt werden können, wenn wir recht- kosten zu bekommen. Ich habe mir die Mehrkosten
zeitig den Arbeitsmarkt so beschickt und die Arbeits- in einem überschaubaren Betrieb, der in der öffent-
zeiten so eingestellt hätten, daß hier eine normale lichen Hand liegt, zusammenstellen lassen. Ich habe
und übersichtliche Entwicklung gegeben gewesen das Ergebnis zuerst gar nicht geglaubt. Ich habe
wäre. Wir wären dann nicht in die Fehler verfallen, es nachkontrollieren lassen und feststellen müssen,
die wir heute in Amerika beobachten. daß es stimmte. Die Mehrkosten setzten sich aus
folgenden Positionen zusammen: Trennungsentschä-
Vielleicht haben Sie den lehrreichen Artikel „Die digung für 12 Monate, Familienheimfahrten, Fahr-
Geißel der Arbeitslosigkeit" in der „Frankfurter kosten, Zusatzurlaub, Reisetage, Unterbringung in
Allgemeinen" gelesen. Er ist sehr aufschlußreich. Wohnheimen, Kosten der Anwerbung, der Anreise
Daraus geht hervor, daß es heute in Amerika, wo und des Dolmetschers. Diese Mehrkosten machen in
ein hoher Lebensstandard herrscht und die Produk- einem öffentlichen Betrieb pro Monat für einen
tion sehr hoch ist, 6% Arbeislose gibt. Dort kommt - Spanier 319 DM und für einen Italiener 295 DM
man zu so irrsinnigen Maßnahmen, daß auf einer aus.
Elektrolokomotive der Heizer mitfährt, obwohl er
gar nicht notwendig ist. Die Vollautomatisierung Matthöfer: Aber dem deutschen Ar
der Wirtschaft hat viele Kräfte freigestellt. Bei den beiter wollen sie nicht mehr zahlen!)
Streikbewegungen geht es heute gar nicht mehr Mir erscheinen diese Kosten sehr hoch. Sie sind
darum, die Löhne zu steigern, sondern darum, den aber nachgeprüft worden.
Arbeitsplatz zu sichern oder eine Sicherung im Zeit-
punkt der Arbeitslosigkeit zu haben. Ich habe bei Industriebetrieben nachgefragt und
habe festgestellt, daß man dort mit erheblich weni-
Meine Damen und Herren, ziehen Sie einmal den ger Mehrkosten rechnet. Dort sind die Mehrkosten
Vergleich zu dieser Entwicklung in Amerika, wo für Gastarbeiter in der Größenordnung von 50 bis
Fehlerquellen entstanden sind und wo die Auto- 80 DM errechnet. Aber wenn Sie nur die untere
matisierung lange vor uns, schon vor dem letzten Grenze, also 50 DM nehmen, bedeutet das schon
Weltkrieg, vorangetrieben worden ist! Wir sollten einen Mehraufwand von 450 Millionen DM im Jahr.
überlegen, ob wir nicht gerade zum Schutz und zur Dabei ist noch nicht mitgerechnet, daß der größte
Sicherung der Arbeitsplätze die Automatisierung, Teil des Arbeitsverdienstes nicht im Inland ver-
die Technisierung und die Rationalisierung unserer wendet wird, sondern ins Ausland geschickt wird.
Wirtschaft nur in dem Ausmaße vorwärtstreiben Das spielt ja bei der gegenwärtigen Lage, wo so-
sollten, das die gesamte Arbeitsmarktlage berück- viel Wert ,auf die Konsumgüterkonjunktur gelegt
sichtigt, und nicht jetzt aus der Notlage eines in wird, auch eine Rolle. Weiter ist noch nicht berück-
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sichtigt, daß für die Gastarbeiter — sicherlich ge- Mütter heute berufstätig sind und daß die Zahl der
rechterweise, aber es sind Kosten — auch Kinder- Kinder der erfaßten Mütter 1,7 Millionen beträgt,
geld gezahlt wird, und zwar in einem erheblichen davon 70,3 % im Alter zwischen 2 und 15 Jahren
Maße. Die Ausgaben für diese Kindergeldzahlungen und 12,2 % im Alter von unter 2 Jahren. Das ist,
steigen noch erheblich a n. glaube ich, ein Sachverhalt, der einer Überprüfung
unterzogen werden muß.
Insgesamt ergibt sich eine Größenordnung von
1 Milliarde D-Mark. Darüber sollte man sich einmal Die Statistik hat weiter ergeben — und auch da-
Gedanken machen. Sicherlich wird die Zeit kommen, nach haben wir gefragt —, daß 34 % der Frauen
wo, wie gesagt, im Zuge der Normalisierung der beschäftigt sind. Vielleicht müssen wir aus diesem
Konjunktur, der Technisierung, Automatisierung Grunde überlegen, ob es nicht zweckmäßig und uns
und Rationalisierung diese Arbeitskräfte durch nicht zuzumuten ist, nachdem diese Arbeitslücke
eigene Arbeitskräfte ersetzt wenden können. Auch nicht einmal mit Gastarbeitern geschlossen werden
zeigt die Entwicklung in Amerika, daß der unge- kann, daß man zur Normalisierung und zur Lösung
lernte Arbeiter immer weniger gebraucht unid der dieser sehr entscheidenden soziologischen Frage
angelernte Arbeiter, der Spezialarbeiter immer übergeht. Es ist von Nachteil, wenn Kinder in einem
mehr gesucht wird. So werden sich einfies Tages viel- Alter, wo sie die Nestwärme der Familie brauchen,
leicht Entwicklungen zeigen, di e man besser durch allein zu Hause sind oder, selbst wenn es gut ge-
Mehrarbeit der eigenen Arbeitskräfte für , eine kurze führte Krippen sind, gewissermaßen abgestellt und
Dauer rechtzeitig ins Lot gebracht hätte. Ich er- wieder abgeholt werden müssen.
wähne diese Dinge nur, weil sie bed der Forderung Wenn wir schon in einer derartigen Prosperität
nach Mehrarbeit überlegt werden müssen. sind und wenn wir schon das Glück haben, daß wir in
Wir müssen auch daran denken, daß ein Aus- eine solche Konjunkturentwicklung hineingekom-
gleich für den weiteren Abzug von Arbeitskräften men sind, die wir augenblicklich mit unseren eige-
aus den eigenen Reihen notwendig ist. Die Bundes- nen Kräften gar nicht bewältigen können, dann
wehr soll weiter aufgestockt werden, nach der Not- haben wir auch die Verpflichtung, die Fragen so
standsgesetzgebung sollen Einberufungen für eine ernst zu nehmen, wie sie in Wirklichkeit sind, und
Zeit von 27 Tagen im Jahr möglich sein, es soll eine uns nicht bloß an den Geschenken einer Automati-
Territorialarmee aufgestellt werden. Dadurch wer- sierungsmöglichkeit, einer Technisierung, einer
den wiederum Arbeitskräfte abgezogen. Denken Rationalisierung zu ergötzen. Vielmehr sollten wir,
Sie weiter daran, daß Vorverlegungen der Pensions- bis eine Normalisierung erreicht ist, darüber hinaus
altersgrenze und entsprechende soziale Verbesse- etwas mehr tun.
rungen geplant sind. Ferner wird eine Verlängerung Es soll von den Arbeitnehmern, die gern arbeiten
der Schulzeit gefordert, insbesondere von der So- wollen, weil sie eben auch an den Schöpfungen der
zialdemokratie, wodurch der Wirtschaft die betref- modernen Technik, an Anschaffungen teilnehmen
fenden Arbeitskräfte für ein Jahr entzogen werden. wollen — —
Beachtung verdient auch di e Entwicklung der (Zuruf von der SPD: Die Unternehmer las
Erwerbsbevölkerung in den EWG-Ländern. Ein hier- sen sie nicht teilnehmen!)
über erarbeitetes Gutachten sieht für d i e Bundes- — Die Unternehmer lassen sie schon! Aber ich sage
republik nicht günstig aus. Denn nach dieser Ana- Ihnen ganz offen: Es gibt auch manche gesetzlichen
lyse der Entwicklung der Erwerbsbevölkerung in den Bestimmungen und Verordnungen bei uns, die einer
Jahren 1960 bis 1970 wird die Erwerbsbevölkerung Mehrarbeit im Wege stehen. Darum glaube ich auch,
in der Bundesrepublik stagnieren, in den übrigen daß eine Korrektur solcher Bestimmungen Vorausset-
EWG-Ländern hingegen zunehmen. Setzt man die zung ist; denn zur Lösung einer nationalwirtschaft-
ErwebsvölkungimJahr1960ec,so lichen Frage wird ja nicht bloß eine Mehrarbeit ver-
ergeben sich für 1970 folgende Zahlen: Bundesrepu- - langt. Nach unserer Ansicht — das ist jetzt das
blik 99, Belgien 100,6, Frankreich das gleiche, Nie- Fazit — sollten alle Gesetze und Verordnungen
derlande 118, Italien 105. Bemerkenswert ist auch durchforstet werden, die einer vertretbaren Mehr-
die Feststellung, daß sich in der Bundesrepublik der arbeit sinnwidrig oder hindernd entgegenstehen.
Anteil der Jugendlichen an der Erwerbsbevölkerung Mehrarbeit soll ja auch zu mehrarbeitswerten Be-
verringert, während gleichzeitig der Anteil der alten dingungen durchgeführt werden.
Personen zunimmt.
Meine Damen und Herren, diese Große Anfrage
All diese Dinge kann man nicht außer acht lassen, hat in der Bevölkerung draußen und in interessier-
wenn man von Mehrarbeit, von einem Ausgleich des ten Kreisen sowohl bed Arbeitnehmern als auch bei
Arbeitsmarktes - insbesondere auf lange Sicht — Arbeitgebern einen großen Widerhall ausgelöst.
und von der Notwendigkeit einer Normalisierung
der Verhältnisse spricht. Man muß ernstlich prüfen (Zurf von der SPD: Das steht fest!)
und überlegen, ob nicht auf eine gewisse Dauer die Eine Reihe von Vorschlägen sind bei uns bereits
Mehrarbeit zweckmäßig wäre. eingegangen.
Ich möchte noch auf eine andere Frage zu sprechen Wir haben jetzt eine Debatte über einen Antrag,
kommen. Sie ist heute teilweise schon debattiert den die FDP eingereicht hat. Er ist nicht neu. Es
worden. Wir wissen alle, daß im Zuge der modernen sollen auch steuerliche Maßnahmen ergriffen wer-
Zeit die Frau in der Arbeit ein wichtiger Faktor den. Diese Fragen müssen einer sorgfältigen Prü-
geworden ist. Wir haben gehört, daß 1,2 Millionen fung unterzogen werden; denn wenn in dieser Rich-
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tung Maßnahmen ergriffen werden sollen, müssen müssen wir dazu beitragen, daß das Erreichte sicher-
sie steuersystematisch angepaßt werden. Wir müs- gestellt wird.
sen auch hier sagen, daß die überkommenen Grund- (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe bei
sätze der modernen Entwicklung und den modernen der SPD.)
Erfordernissen angepaßt werden sollten.
Es ist auch angeregt worden, die sozialversiche- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen
rungsrechtlichen Bestimmungen für Aushilfskräfte, und Herren, das Präsidium überlegt sich mit den
die einer Mehrarbeit entgegenstehen, zu überprüfen. Herren Fraktionsgeschäftsführern, die in einem sol-
So gibt es eine Reihe von solchen Punkten. Ich habe chen Falle am wichtigsten sind, was geschehen kann,
leider den Zettel mit meinen Notizen dazu verlegt. damit der Fluß der Reden etwas kürzer fließt.
In diesem Zusammenhang ist auch der Vorschlag (Zustimmung.)
zu erwähnen, Ü berstundenzuschläge steuerfrei zu Wir müssen heute abend mit dieser Sache fertig
lassen, um die Arbeitskräfte, die außerhalb des Be- werden. Wir wollen so verfahren, daß jetzt der Herr
triebs arbeiten, in den Betrieb zurückzuführen. Sie Bundesminister für Arbeit die Antwort auf die
arbeitnjudshlcmBetrib,ws Große Anfrage gibt. Dann wird der nächste Punkt
sich sagen: Wenn wir mehr arbeiten, haben wir zu- der Tagesordnung, Punkt 4 c, aufgerufen. Der Gesetz-
wenig davon. Dabei möchte ich aber nicht die An- entwurf wird von Herrn Dr. Imle begründet. Dann
sicht vertreten, daß man hier von allen Anforderun- bekommt in der Diskussion zum ganzen, zu Punkt 4 b
gen in dieser Beziehung absehen sollte. Auch die und c, ein Sprecher der SPD-Fraktion das Wort. Dar-
Frage, ob man im sozialen Bereich keine Anrech- auf folgt die Schlußdebatte zu Punkt 4 b und c. So
nung der Überstundenvergütung vorsehen sollte, wollen wir verfahren. Ich hoffe, daß wir bis 21 Uhr
muß geprüft werden. Vielleicht stehen die Bestim- damit fertig sind.
mungen hierüber einer Mehrarbeit entgegen, so
daß man mit einer Änderung Arbeitskräfte in den Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit.
Arbeitsmarkt zurückführen könnte.
Blank, Bundesminister für Arbeit und Sozialord-
Meine Damen und Herren, die Fragesteller wol-
nung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
len Ihnen hier gar keine Entschließung zur Entschei- Ich hoffe mir Ihren Beifall dadurch zu erringen, daß
dung vorlegen. Die Unterzeichner der Großen An- ich mich so kurz wie eben möglich fasse. Ich habe
frage, die dieses Problem angepackt haben, sind die Ehre, namens der Bundesregierung die Große
vielmehr von der Erwägung ausgegangen, daß an Anfrage wie folgt zu beantworten:
die Punkte, die hier vorgetragen worden sind und
die für eine Mehrarbeit sprechen, wenigstens vor- Zu Punkt I: Die Bundesregierung hält die im
übergehend, bis der Arbeitskräftemangel ausbalan- „Bulletin" Nr. 6 vom 10. Januar 1963 veröffentlich-
ciert ist, bei der Lösung des Problems der Mehr- ten Ausführungen des Präsidenten der Bundesanstalt
arbeit gedacht werden muß und daß wir an die Lö- für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversiche-
sung dieses Problems durch parlamentarische Initia- rung über die voraussichtliche Entwicklung der
tive herantreten müssen. Was haben wir zu ver- Arbeitsmarktlage im Jahre 1963 für richtig. Bei dem
lieren, wenn wir unseren Arbeitskräftemangel nicht zu erwartenden Wirtschaftsablauf muß in diesem
normalisieren können? Diese Zwangslage schaftt Jahr wieder mit erheblichen Spannungen auf dem
Druck und Gegendruck und hat Einfluß auf das Arbeitsmarkt gerechnet werden.
Lohnkostenniveau, auf die Preissteigerungen, auf Es ist jedoch schwierig, den Bedarf der Wirtschaft
die Wettbewerbsfähigkeit und die Exportfähigkeit. an Arbeitskräften zutreffend vorauszuschätzen. Des-
Es geht nicht allein um die Arbeitsmarktlage. Keine halb ist die Bundesregierung auch nicht in der Lage,
Situation in der Wirtschaft ist für sich allein ur- genaue Zahlen über den Kräftebedarf anzugeben.
sächlich. Wir haben heute schon von mehreren Ur- Die von der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung
sachen gehört. Wir müssen aber erkennen, daß und Arbeitslosenversicherung monatlich veröffent-
die in Unordnung geratene Arbeitsmarktlage eine lichten Zahlen stellen den jeweils am Ende eines
der Hauptursachen für die genannten Erscheinungen Monats festgestellten Restbestand der bei den
ist. Wenn wir nichts tun, können wir alle Errungen- Arbeitsämtern gemeldeten offenen Stellen dar. Sie
schaften eines Massenwohlstands verlieren. Wir bieten zwar einen Anhaltspunkt, können aber, da
können auch die Möglichkeit des Ausbaues unserer kein Meldezwang besteht, nicht als tatsächlicher
modernen Sozialeinrichtungen verlieren. Wir müs- Bedarf der Wirtschaft an Arbeitskräften gewertet
sen daher die Lage so sehen, wie sie ist, und die werden.
nachteiligen Folgen erkennen. Deshalb müssen wir
den Willen haben, hier Maßnahmen zu ergreifen, Die Bundesregierung ist weiterhin bemüht, aus-
die den Arbeitsmarkt .ausgeglichen machen, damit ländische Arbeiter hereinzunehmen. Ende Septem-
wir unserem Volke und insbesondere den Sparern ber dieses Jahres werden etwa 70 000 ausländische
die nötige Sicherheit geben, die eine Summe von Arbeitnehmer mehr in der Bundesrepublik beschäf-
69 Milliarden den Banken anvertraut und Bauspar- tigt sein als zur gleichen Zeit des Vorjahres; ins-
verträge über 11,9 Milliarden abgeschlossen haben. gesamt also etwa 800 000.
Diese Summen stammen ja aus einer sehr positiven Es trifft zu, daß in der Bundesrepublik nennens-
Wirtschaftsentwicklung. Durch aktive Maßnahmen, werte Arbeitskraftreserven nicht mehr vorhanden
die uns aus den Erfordernissen und der Entwicklung sind. Die Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen
der ganzen Wirtschaftslage heraus klar ansprechen, ging in den vergangenen Jahren stark zurück. Aus
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Bundesminister Blank
der natürlichen Bevölkerungsentwicklung ist auch liche Kosten ergeben sich jedoch aus der Notwen
in den nächsten Jahren ein größerer Zuwachs an digkeit, für ausländische Arbeitnehmer besondere
Beschäftigten nicht zu erwarten. Nähere Angaben Vorkehrungen zu treffen, um sie in die ungewohnte
darüber enthielt der vorhin behandelte Wirtschafts- Betriebswelt einzuführen und am Arbeitsplatz an-
bericht der Bundesregierung in Ziffer 25. zulernen. Hinzu kommt ein zusätzlicher Verwal-
tungsaufwand, weil die ausländischen Arbeitnehmer
In der Anfrage wird darauf hingewiesen, daß der bei ihrem Verkehr mit den zuständigen deutschen
Anteil der weiblichen Arbeitnehmer mit 34 v. H. der Behörden — Ausländeramt, Einwohnermeldeamt,
höchste in den EWG-Ländern sei. Hierzu ist zu Arbeitsamt, Finanzamt, Versicherungsamt, Kranken-
sagen, daß ein exakter Vergleich der internationa- kasse — auf die Hilfeleistung der Betriebe ange-
len Arbeitnehmerstatistiken zur Zeit nicht möglich wiesen sind. Für alle diese Zwecke stellen die Be-
ist, weil die Erfassungsmerkmale und die Erfassungs- triebe vielfach einen eigenen Dolmetscherdienst zur
termine oft nicht übereinstimmen. Die Statistiken Verfügung.
geben lediglich einen gewissen Anhaltspunkt für
Genaue Unterlagen über die etwaigen Mehr-
Vergleiche.
kosten für die Unterbringung ausländischer Arbeit-
Ausmaß und Art der Frauenarbeit, sowohl als nehmer und gegebenenfalls ihrer Familienangehöri-
Arbeitnehmertätigkeit als auch als Mithilfe im Fa- gen liegen nicht vor, da insbesondere nicht bekannt
milienbetrieb, werden von verschiedenen Umstän- ist, wie viele in Massenunterkünften und wie viele
den bestimmt. Wesentlich ist die Bevölkerungs- und in Einzelquartieren leben. Bei der Unterbringung in
Wirtschaftsstruktur. Auch der hohe Anteil der un- Einzelquartieren erwachsen den Betrieben in der
verheiratet gebliebenen und verwitweten Frauen Regel keine Mehraufwendungen. Soweit die Aus-
— eine Folge der beiden Kriege — begünstigt die länder in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, be-
Frauenarbeit. In einem hochindustriealisierten Land dürfte es besonderer Erhebungen, um die Mehr-
wie der Bundesrepublik ist die Zahl der Arbeit- kosten festzustellen, die der Wirtschaft durch die
nehmerinnen bedeutend höher als die der Mithel- Bereitstellung zusätzlicher Unterkünfte entstehen.
fenden, während in einem landwirtschaftlich struk- Bekannt ist lediglich der Betrag, den die Bundes-
turierten Land die Zahl der Mithelfenden relativ anstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosen-
hoch ist. Ferner haben die seit Jahren angespannte versicherung darlehnsweise für den Bau von Unter-
Lage auf dem Arbeitsmarkt und die große Arbeits- künften für ausländische Arbeitnehmer ausgegeben
bereitschaft der Frauen die Entwicklung .der Frauen- hat. Dieser belief sich bis zum 31. Dezember 1962
arbeit begünstigt. Der starke Bedarf an Verbrauchs- auf rund 133 Millionen DM. Da die Höhe der Dar-
gütern, das Streben nach Eigentum und höherem lehen auf 50 v. H. der Gesamtbaukosten beschränkt
Lebensstandard, der Wunsch, den Kindern eine ist, muß von der doppelten Höhe dieses Betrages,
qualifizierte Ausbildung zu geben, häufig aber auch d. h. von 270 Millionen DM, ausgegangen werden.
die Notwendigkeit, zum Familieneinkommen beizu- Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den vergleichs-
tragen, sind Motive der Frauenarbeit. weise höheren Betreuungskosten für ausländische
In der industriellen Massengesellschaft ändert Arbeitnehmer. Es bedürfte besonderer Feststellun-
sich die Aufgabe der Frau. Ein großer Teil der Ar- gen, um die Aufwendungen, die den Betrieben, den
beiten, die früher im Hause erledigt wurden, ist Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, der
in die Betriebe verlagert worden. In der Güter- öffentlichen Hand sowie den karitativen und kirch-
erzeugung und -verteilung, in der Verwaltung und lichen Stellen für Maßnahmen der Eingewöhnung
in den Dienstleistungsberufen ist die Frauenarbeit und Betreuung ausländischer Arbeitnehmer entste-
zu einem festen Bestandteil geworden. Die Erwerbs- hen, mitteilen zu können.
tätigkeit gehört zu den Lebensformen der Frau in Für die Anwerbung und Vermittlung ausländischer
unserer veränderten Gesellschaft. Prinzipiell ist sie Arbeitnehmer einschließlich der Unterhaltung von
bedenkenfrei und notwendig. Das schließt selbst- Anwerbestellen in Italien, Spanien, Griechenland
- und der Türkei entstehen im Jahre 1963 voraus-
verständlich nicht aus, daß in bestimmten Gruppen
vom soziologischen und staatspolitischen Gesichts- sichtlich Gesamtaufwendungen von 17,8 Millionen
punkt Probleme auftreten. DM.
Die Beständigkeit und die Ergiebigkeit der aus-
Vor allem gilt dies für die Erwerbsarbeit der
ländischen Arbeitskräftereserven hängen in erster
Mütter. Die Aufgaben der Mutter sind oft schwer
Linie von der Entwicklung der Arbeitsmarktlage in
mit einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit zu ver-
den Herkunftländern der ausländischen Arbeitneh-
binden. Es kommt leicht zur physischen und psychi-
mer ab. Wegen der günstigen wirtschaftlichen Ent-
schen Überbelastung der Mutter und zu Schwierig-
wicklung Italiens muß damit gerechnet werden, daß
keiten in der Pflege und Erziehung der Kinder.
ein großer Teil der italienischen Arbeitnehmer, ins-
Zu Punkt II: Es ist nicht möglich, den Gesamt- besondere Fachkräfte, nicht mehr im bisherigen
betrag der Mehrkosten zuverlässig zu ermitteln Umfange bereit sind, dauernd oder für längere Zeit
oder auch nur zu schätzen, die durch die Beschäfti- in der Bundesrepublik zu verbleiben. Aus dem
gung ausländischer Arbeitnehmer im Vergleich zu gleichen Grunde ist das in Italien verfügbare Kräfte-
Inländern entstehen. angebot bereits zurückgegangen; Facharbeiter sind
Bei der Einrichtung von Arbeitsplätzen im enge kaum noch verfügbar. Einen Ausgleich für den Aus-
en Sinne entstehen durch die Beschäftigung aus- -r fall der italienischen Arbeitskräfte bieten die Kräfte-
ländischer Arbeitnehmer in der Regel nicht mehr reserven, die insbesondere in Spanien, Griechenland
Kasten als bei inländischen Arbeitnehmern. Zusätz und der Türkei vorhanden sind.
3386 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Bundesminister Blank
Zu Punkt III: Zur Frage eines Verzichtes auf — Entschuldigung, Frau Beyer. — Meine Dame,
Arbeitszeitverkürzungen verweist die Bundesregie- meine Herren!
rung auf den Ihnen vorliegenden Wirtschaftsbericht. (Zurufe rechts.)
In der Analyse der Wirtschaftsentwicklung im Jahre
1962 — Ziffer 10 des Berichtes — und insbesondere — Dahinten ist auch noch eine Dame, richtig. Ent-
in der Darstellung der Leitlinien für die Tarifpar- schuldigen Sie, daß ich das übersehen habe. Ich
teien — Ziffer 49 — hat sie ausführlich zu dieser wollte mit meiner so gefaßten Einleitung nur darauf
Frage Stellung genommen. Nach der Aufforderung hinweisen, daß wir heute so zahlreich vorhanden
der Bundesregierung an die Sozialpartner, vorge- sind, daß wir unsere Moniteure, die sonst auf den
sehene Arbeitszeitverkürzungen hinauszuschieben, Tribünen in großer Zahl anwesend sind, an Zahl
haben bereits die Tarifpartner des Baugewerbes ihre übertreffen.
für Oktober 1963 vereinbarte Arbeitszeitverkürzung
um ein halbes Jahr verschoben. Die Bundesregierung Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Einen Augen-
mißt diesem Schritt um so größere Bedeutung zu, blick, Herr Kollege Imle! Uns bindet ein Mandat,
als es sich hier um einen Wirtschaftszweig handelt, hier zu sein. Die anderen sind Zuschauer, die kön-
in dem die Nachfrage nach Bauleistungen und auch nen spazierengehen; nur wir nicht. Das ist der
die Nachfrage nach Arbeitskräften besonders groß Unterschied.
ist. Es würde den Leitlinien des Wirtschaftsberichts (Beifall.)
entsprechen, wenn die Tarifparteien anderer Wirt-
schaftszweige sich diesem Schritt anschlössen. Die Dr. Imle (FDP) : Ich wollte damit nicht sagen,
Bundesregierung verkennt dabei nicht die mensch- daß wir sonst spazierengehen, Herr Präsident. Das
liche und soziale Bedeutung der bisherigen Vermeh- wissen Sie genau wie ich, daß wir auch sonst tätig
rung der Freizeit und die Grenzen, die vielfach einer sind, auch wenn wir hier nicht anwesend sind.
Mehrarbeit aus gesundheitlichen und sozialen Grün-
den gesetzt sind. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Beifallskund-
Die Bundesregierung wird prüfen, ob und wie gebungen auf der Tribüne sind nicht statthaft nach
gegebenenfalls vertretbare Mehrarbeit in geordne- der Geschäftsordnung dieses Hauses! — Ich bedanke
ten betrieblichen Formen gefördert werden kann. mich, meine Damen und Herren.
Sie weist aber darauf hin, daß Mehrarbeit in nen- (Heiterkeit. — Abg. Dr. Schäfer: Die Gefahr
nenswertem Umfang auch bislang ständig geleistet ist nicht groß! — Erneute Heiterkeit.)
worden ist, wie sich aus der Statistik der Arbeits-
zeiten in der Industrie ergibt. Dies zeigt, daß es Dr. Imle (FDP) : Zu dem Antrag der FDP-Abge
schon bisher vielfach nicht an der Bereitschaft der ordneten Drucksache IV/1161 — darf ich zunächst
Arbeitnehmer, Mehrarbeit zu leisten, gefehlt hat. darauf hinweisen — um das klarzustellen —, daß
Gegen eine steuerliche und sozialversicherungs- mit dem Antrag beabsichtigt ist, eine Steuerfreiheit
rechtliche Begünstigung der Mehrarbeit bestehen für Überstunden und Überstundenzuschläge in den
erhebliche Bedenken, auf die ich für die Bundes- Fällen zu erreichen, in denen die regelmäßige, durch
regierung bereits in der Fragestunde der 54. Sitzung Gesetz oder durch Tarif vereinbarte Arbeitszeit über
des Deutschen Bundestages am 16. Januar 1963 hin- 45 Stunden liegt. Dieselbe Steuerfreiheit für durch
gewiesen habe. Tarifverträge oder durch Gesetz festgelegte Zu-
Die Bundesregierung wird über Fragen der Ar- schläge soll für Sonntags-, Feiertags- und Nacht-
beitszeitverkürzung und der Mehrarbeit mit den arbeit eintreten, und zwar bei Arbeitnehmern — in
Sozialpartnern Gespräche führen und dem Bundestag beiden Fällen —, soweit das Jahreseinkommen nicht
darüber berichten. über 15 000 DM beträgt. Allerdings soll die Bundes-
regierung ermächtigt werden, für Grenzfälle Sonder-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) - regelungen zu treffen.
Was war überhaupt für uns der Anlaß, einen
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Sie haben die solchen Antrag einzubringen? Bereits in der dritten
Antwort der Bundesregierung gehört. Die Aus- Legislaturperiode hatte die FDP einen entsprechen-
sprache wird mit der zu Punkt 4 c verbunden. den Antrag eingebracht. Die Klagen, insbesondere
aus den mittelständischen Unternehmen des Hand-
Ich rufe Punkt 4 c auf: werks, haben sich seit dieser Zeit immer noch ge-
Erste Beratung des von den Abgeordneten steigert: nämlich über die Auswirkung der Arbeits-
Dr. Imle, Mertes, Dr. Supf, Opitz und Genos- zeitverkürzung beim Handwerk, daß — bei Zu-
sen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes grundelegung der Fünftagewoche — bei Feierabend
zur Änderung des Einkommensteuergesetzes am Freitag spätnachmittags dann noch über Samstag
(Drucksache IV/1161). Sonntag woanders gearbeitet wird.

Zur Begründung hat der Herr Abgeordnete Dr. (Lachen und Unruhe bei der SPD.)
Imle das Wort. — Sie können ja nachher dazu etwas sagen. — Der
Wunsch des Handwerks geht dahin, durch die
Steuerfreiheit, wie wir sie wollen, den Arbeitneh-
Dr. Imle (FDP): Herr Präsident! Meine sehr ge- mern, die sonst draußen in anderen Betrieben arbei-
ehrten Herren! ten, einen Anreiz zu geben, im eigenen Betrieb zu
(Heiterkeit und Zurufe.) arbeiten.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3387
Dr. Imle
Es ist heute schon verschiedentlich darauf hinge- Steuer zu ersparen, kein Anreiz ist, nun .deswegen
wiesen worden, daß eine besondere Überhitzung im 12 Überstunden zu machen. Die Progression, in die
Baugewerbe vorliegt. Diese ist darauf zurückzufüh- der Arbeitnehmer hineinkommt, wenn di e Über-
ren, daß die Bauherren daran interessiert sind, ihren stunden selbst versteuert werden, liegt zudem er-
Bau möglichst schnell unter Dach unid Fach zu be- heblich höher. Auch das wind ihn davon abhalten,
kommen, weil sie nämlich sonst, wenn es nach den Überstunden im .eigenen Betrieb zu leisten.
übrigen Arbeiten geht, die zuerst ,erledigt werden
müssen, eben jahrelang warten müssen. Nach Schät- Nun darf ich einmal darauf hinweisen, daß wir
zungen von Experten hat sich auf dem Bausektor be- bis zum Jahre 1951 schon die Regelung gehabt ha-
reits eine solche zusätzliche Arbeit an den freien ben, daß die Mehrarbeitsstunden unid auch die Zu-
Wochenenden ergeben — so reisen z. B. ganze Bau- schläge steuerfrei waren. Bis zum Jahre 1954 waren
kolonnen in die Ballungsgebiete —, daß man mit noch die Zuschläge steuerfrei. Das wurde dann auf-
Bauleistungen im Werte von 2 bis 3 Milliarden DM gehoben.
rechnet, die auf diese Weise erbracht werden. Die Eine weitere Frage ist, ob die Einkünfte aus Mehr-
Arbeitnehmer, die solche Arbeiten über das Wo- arbeit nicht nur steuerfrei, sondern auch frei von
chenende annehmen, wobei zum Teil auch noch der Sozialversicherungsbeiträgen sein sollten. Ich darf
Montag manchmal ausfällt, zwingen den eigenen hier darauf hinweisen, daß sich die Berechnung der
Unternehmer auch noch dazu, ihnen die Arbeits- Sozialbeiträge nach der Zweiten Lohnabzugsverord-
geräte zur Verfügung zu stellen, weil er sonst mit nung vom 24. April 1942, verkündet im Reichsgesetz-
der Künidigung rechnen muß. blatt, und nach dem gemeinsamen Erlaß des damali-
gen Reichsarbeitsministers und des Reichsfinanz-
Wenn z. B. im Baugewerbe laut Tarifvertrag eine
ministers, die heute noch Gültigkeit haben, nach der
wöchentliche Arbeitszeit — bis Frühjahr 1964 —
Lohnsteuer richtet. Hie r würde also ebenfalls eine
von 43 Stunden bei der .Fünftagewoche festgelegt
Vergünstigung eintreten und der Mehrarbeitslohn
ist, gibt es genügend Gelegenheit zu anderweiti-
dem Arbeitnehmer voll zugute kommen.
ger Arbeit. Dabei muß man bedenken, .daß diese
Arbeitsstunden nun mit 4 bis 7 DM ohne jeden Ab- (Zuruf von der SPD: Und seine Rente
zug bezahlt werden. Dabei kommt vielfach noch kürzen!)
hinzu, daß auch Essen unid Trinken kostenlos gege-
ben werden. Dieses zusätzliche Einkommen an den — Er kann ja dann freiwillig von sich aus die Bei-
Wochenenden entspricht fast dem wöchentlichen träge zahlen. Das hat doch mit der Rentenkürzung
Einkommen in der regelmäßigen Arbeitszeit. nichts zu tun. Wenn er außerhalb seines Betriebes
arbeitet und dort Lohn empfängt, versteuert er die-
Dadurch wird .andererseits — was wir heute auch sen nicht und zahlt auch keine sozialen Beiträge.
schon verschiedentlich erörtert haben — .eine er- Das ist also gar nichts anderes.
höhte Nachfrage auf dem Konsummarkt herbeige-
(Zuruf von der SPD: Kommen Sie bloß noch
führt. Wir haben volles Verständnis dafür, wenn
mit Schwarzarbeit!)
die Arbeitszeitverkürzungen damit begründet wer-
den, daß kein Raubbau an der Gesundheit getrie- — Das ist doch Schwarzarbeit!
ben werden soll. Es zeigt sich aber in dieser Sache (Zuruf von der SPD: Wer bezahlt dann den
gerade das Gegenteil. unversteuerten Lohn? Der Arbeitgeber muß
Keineswegs wird eine solche Arbeit, die daneben doch den Lohn versteuern!)
herläuft, völlig verhindert werden können. Durch
unseren Gesetzentwurf soll , aber eben der Anreiz ge- — Aber der andere geht frei aus, das habe ich doch
boten werden, im eigenen Betrieb zu .arbeiten und soeben dargelegt; und das halten wir für falsch. Ich
nicht weit von zu Hause wegzugehen. Hierbei sind kann Ihnen sagen, auf Grund dieser Erklärungen
auch folgende Fälle ins Auge gefaßt. Es gibt eine und dieser Veröffentlichungen sind jedenfalls bei
ganze Reihe von Unternehmen, die bei plötzlichen uns zahlreiche Briefe eingegangen. Es haben sich
Stoßgeschäften, bei plötzlichen größeren Aufträgen sogar Arbeitnehmerschaften von Betrieben erboten,
— ich erinnere z. B. an die Lage der Reinigungs- ganze Listen einzureichen, um darzutun, wie sie es
anstalten im Frühjahr — ihre Arbeitskräfte an den begrüßen würden, wenn eine solche Regelung er-
Samstagen selber benötigen. Es hat sich gezeigt, .daß folgte.
man sich nur bereit findet, Überstunden zu leisten, (Zuruf von der SPD: Die möchte ich gern
wenn sie voll, d. h. ohne jeden Abzug bezahlt sehen!)
werden. Wenn also der Unternehmer seine Leistung
rechtzeitig erbringen will, muß er über den üblichen — Kommen Sie einmal zu mir, die zeige ich Ihnen.
Arbeitslohn hinaus noch zusätzliche Beträge auf- Ich darf dann auf etwas hinweisen, was vielleicht
bringen. auch hier hochgespielt wird. Es ist keineswegs daran
Wenn man nicht den gesamten Lohn für die gedacht, durch diese Maßnahme zu einer allgemei-
Mehrarbeitsstunden, sondern nur die Zuschläge frei- nen Arbeitszeitverlängerung zu kommen. Ich habe
stellte, würde kaum ein Anreiz für irgendeinen schon anfangs darauf hingewiesen, daß die Ver-
Arbeitnehmer geboten wenden. Nehmen wir einmal günstigung erst ab 45 Stunden eintreten soll. Wir
einen Stundenlohn von 3 DM. Bei 12 Überstunden haben heute im Durchschnitt eine gesetzlich und
im Monat würde diese Freistellung eine Steuer- tariflich festgelegte Arbeitszeit zwischen 42 und 43
ersparnis von 3 DM ausmachen. Wir sind uns wohl Stunden. Der Lohn für die 2 Stunden bis zur 45.
alle einig darüber, daß die Aussicht, 3 DM an der Stunde, die in Mehrarbeit geleistet werden, muß voll
3388 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Dr. Imle
versteuert werden; erst dann tritt die Steuerfreiheit insgesamt der Meinung, daß die Verwirklichung
ein. Ich glaube also, das ist durchaus zu verkraften. des Antrags, wie wir ihn hier eingereicht haben,
Der Herr Kollege Besold und der Herr Bundes- durchaus eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit
arbeitsminister haben soeben schon über die weite- ist. Wir beantragen daher die Überweisung an den
ren Arbeitszeitverkürzungen und den Wunsch nach Finanzausschuß.
ihrer Hinausschiebung gesprochen. Ich kann es mir (Beifall bei den Regierungsparteien.)
ersparen, darauf einzugehen. Es ist keineswegs zu
erwarten, daß die Mehrarbeit allgemein in allen Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen
Wirtschaftszweigen stattfindet. Wenn man sagt, daß und Herren, wir verbinden die Beratung erster Le-
zwei Stunden Mehrarbeit wöchentlich es überflüssig sung mit der Aussprache über die Große Anfrage
machten, irgendwelche sonstigen Arbeitskräfte her- Drucksache IV/1072. Das Wort hat der Abgeordnete
einzuholen, so muß man hier doch daran denken, Folger.
daß es sich um verschiedene Wirtschaftszweige han-
delt, die nicht gleich behandelt werden können. Folger (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr ver-
Ein systematisches Bedenken gegen die Einfüh- ehrten Damen! Meine sehr geehrten Herren! Es
rung dieser Bestimmung besteht allerdings darin, würde mich jetzt reizen, eine gründliche Stellung-
daß die Selbständigen hiervon nicht erfaßt werden nahme zu der Großen Anfrage und zu den Aus-
sollen. Ich habe bis heute noch nicht gehört, daß führungen der Herren Dr. Besold und Dr. Imle zu
ein Selbständiger von sich aus etwa gesagt hat, geben. Ich möchte mir aber nicht den Haß der noch
er sei dagegen, weil er nicht betroffen sei. Man Dagebliebenen zuziehen und bitte Sie deshalb, wenn
sollte hier auch nicht so weit gehen, zu sagen, weil ich zu einer Sache nichts sage, nicht zu unterstellen,
es systemwidrig sein könnte, sollte man es nicht daß wir dazu nichts zu sagen hätten, sondern anzu-
tun. Sonst gehen wir noch eines Tages an Grund- nehmen, daß ich das lediglich tue, um die Zeit zu
sätzen, die wir hier aufstellen, zugrunde. Es kommt sparen.
auf den Effekt an, den wir damit erzielen wollen. In der Großen Anfrage gehen die Fragesteller
Eine weitere Frage, die sicherlich den Herrn davon aus, daß die Arbeitsmarktlage weiterhin an-
Finanzminister angehen wird, ist die, ob Ausfälle gespannt bleibt. Die Fragesteller sind da pessimi-
an Steuereinnahmen eintreten. Auf der anderen stischer, als es der Präsident der Bundesanstalt für
Seite werden auf jeden Fall mehr Einnahmen bei Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung
der Lohnsummen-, Gewerbe- und Umsatzsteuer auf- ist. Sie haben den Akzent etwas in Richtung auf
treten. Auf Grund der damit verbundenen Erhö- einen Zweckpessimismus verschärft, um zu dem
hung des Sozialprodukts werden sicherlich auch Ergebnis zu kommen, daß Mehrarbeit notwendig
sonstige Einkommensteuern in erhöhtem Umfange ist und daß die Arbeitszeitverkürzungen gebremst
anfallen. werden müssen.
Weiter muß folgendes gesagt werden. Da die Nach unserer Meinung gibt es eine Reihe von
Arbeiten an den Wochenenden, auf die ich hinge- Anzeichen dafür, daß i n den nächsten Jahren an-
wiesen habe, in großem Umfange bisher nicht er- haltend eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt
faßt wurden, wurden dafür auch keine Steuern ge- eintreten wird. Dafür gibt es eine ganze Menge
zahlt. Wenn diese Arbeiten jetzt steuerfrei gestellt von Anhaltspunkten, z. B. daß die Fluktuation der
werden, kann bei den Finanzministerien kein Aus- Arbeitskräfte laut Bericht der Bundesanstalt für Ar-
fall eintreten. Es ist eigentlich auch nicht einzu- beitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von
sehen, warum jede Mehrarbeit auch bei der Lohn- 38,3 im Jahre 1959 auf 34,4 im Jahre 1962 weiter
steuer unbedingt zu höheren Einnahmen des Staa- abgenommen hat. Das ist ein Zeichen dafür, daß
tes führen muß. die Konsolidierung auf dem Arbeitsmarkt fortschrei-
- tet.
Die SPD-Fraktion hat vor einiger Zeit einen An-
trag eingebracht — ich komme darauf, weil die Außerdem ist ein wesentlicher Anhaltspunkt für
Frage im Zusammenhang mit diesem Antrag in der die Entspannung, daß die Zunahme der offenen Stel-
Öffentlichkeit erörtert wurde —, die Sonderaus len seit 1960 stark rückläufig ist. 1960 hatten wir noch
gabenpauschale von 636 DM auf 900 DM zu erhö- eine Zunahme von 170 000, 1961 von 82 000, 1962
hen. Wir haben uns im Finanzausschuß ja schon von nur noch 13 000, und im März 1963 gab es rund
darüber geeinigt, sie auf 936 DM anzuheben, und 30 000 weniger offene Stellen als im März 1962. Die
zwar wegen der besseren Berechnung. Ich darf aber in der Großen Anfrage genannte Spitze von 632 000
darauf hinweisen, daß der Antrag auf Erhöhung muß mit dem Jahresdurchschnitt von 549 000 ver-
der Sonderausgabenpauschale mit diesem Antrag glichen werden. In diesen 549 000 stecken auch eine
nichts zu tun hat; denn bei Ihrem Antrag handelt ganze Menge Anforderungen, die nicht ernstgemeint
es sich ja darum, zu einer Entlastung der Finanz- sind, so nach dem alten Prinzip, das wir auch aus
ämter zu kommen. dem Haushaltsrecht kennen: Verlange zehn, damit
du fünf bekommst. Fachleute schätzen, daß in der
(Abg. Frau Beyer [Frankfurt] : Und Ihr An Zahl der offenen Stellen 20 bis 30 % Anforderungen
trag bringt eine Mehrarbeit!) stecken, die nicht ernstgemeint sind. Im Gegensatz
— Ein Durchschnittslohn von 600 DM macht bereits zum Präsidenten der Bundesanstalt sind wir nicht
einen Sozialversicherungsbeitrag von 72 DM erfor- der Meinung, daß soundso viele Stellen gar nicht
derlich, und dann müßte auf jeden Fall ein Antrag erst bei den Arbeitsämtern gemeldet werden, weil
beim Finanzamt gestellt werden. Wir sind daher die • Unternehmer zu skeptisch sind. Wir glauben,
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3389
Folger
daß die Unternehmer sich den besten und billigsten wenn man nur gründlich genug herangeht. Sie ist
Weg, zu Arbeitskräften zu kommen, nicht deshalb für Frauen, die kleine Kinder zu versorgen haben
ersparen, weil es vielleicht zwecklos ist; sie werden oder die pflegebedürftige Angehörige haben, und
es auf ,alle Fälle trotzdem versuchen. für nicht voll Erwerbsfähige noch eine Möglichkeit,
In der Anfrage heißt es unter anderem auch, daß sich am Arbeitsmarkt nützlich zu machen. Bisher
die Vermittlung von Arbeitskräften immer schwie- war das Interesse hauptsächlich auf seiten des Ange-
riger wird. Ich möchte in aller Kürze darauf hin- bots und weniger auf seiten der Nachfrage. Das
heißt: es haben sich mehr um eine Teilzeitarbeit
weisen, daß die Zahl der Arbeitnehmer seit 1950
ständig gestiegen ist, von 14,3 Millionen auf zuletzt beworben, als untergebracht werden können. Viele
21,3 Millionen. Es besteht gar kein Anlaß, anzu- private und öffentliche Betriebe haben nach Über-
windung von Anfangsschwierigkeiten sehr gute Er-
nehmen, daß das in absehbarer Zeit schlechter sein
wird. Gemeint ist von den Unterzeichnern der fahrungen mit der Teilzeitarbeit gemacht. Wir
meinen, daß die Bundesanstalt noch weitere For-
Großen Anfrage wahrscheinlich die Zuwachsrate.
schungen auf diesem Gebiet treiben und die Be-
Nun, die Zuwachsrate schwankt ständig von Jahr
zu Jahr, ohne daß das zu Beunruhigungen geführt triebe sachverständig beraten sollte. Auch sollte
sich die Bundes regierung noch überlegen, wie eine
hat. Sie hat 1955 974 000 betragen, 1960 241 000
Vereinfachung der steuerlichen und sozialversiche-
und 1962 365 000 jeweils gegenüber dem Vorjahr.
rungsrechtlichen Behandlung von Teilzeitarbeit her-
Es wird sicher keine überdurchschnittliche Steigerung
beigeführt werden könnte. Ich brauche nur daran
mehr eintreten, auch nicht mehr möglich sein. Wir
zu erinnern, daß z. B. die Teilzeitarbeit nach der
glauben aber, daß sie auch nicht mehr erforderlich
Arbeitslosenversicherung, nach der Krankenversiche-
sein wird.
rung und nach der Rentenversicherung ganz ver-
Herr Kollege Besold hat davon gesprochen, daß schieden behandelt wird. Wenn man da einen ge-
Unordnung auf dem Arbeitsmarkt bestehe und der meinsamen Nenner fände, würde das die Situation
Arbeitsmarkt krank sei. Da kann ich Sie nicht ver- erleichtern.
stehen, Herr Kollege Dr. Besold. Wenn alle beschäf-
tigt sind, kann man doch nicht davon sprechen, Eine weitere Entspannung ist denkbar auf dem
daß der Arbeitsmarkt krank sei; im Gegenteil, man Gebiet der Beschäftigung von ausländischen Arbeits-
kann sagen, er ist im höchsten Maße gesund. kräften. Der Herr Präsident der Bundesanstalt ist
der Meinung, daß sich da noch einiges steigern ließe.
(Zuruf von der CDU/CSU: Nachfrage!) Diese Beschäftigung ist noch entwicklungsfähig, ins-
Ein weiterer Anhaltspunkt dafür, daß eine Ent- besondere was Griechenland, Spanien und die Tür-
spannung eintritt, ist z. B. auch die Tatsache, daß die kei anlangt. Zur Zeit haben wir etwas über 3 %
Zahl der Kurzarbeiter im März 1963 sechsmal höher ausländische Arbeitskräfte. Es wäre unbedenklich,
war als im Jahre 1962 diesen Anteil bis zu etwa 5 % , d. h. bis zu etwa
1 Million zu steigern. Auch dadurch würde eine
(Zuruf von der CDU/CSU: In absoluten
wesentliche dauernde Entspannung eintreten.
Ziffern?)
und daß die Zahl der Arbeitslosen im März 1963 Die Frage nach dem Volumen der Mehrkosten
um über 10 000 höher war als im März 1962. von Ausländern ist unseres Erachtens etwas sugge-
stiv. Wir meinen, man sollte bei dieser Gelegenheit
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch reine darauf hinweisen, daß die ausländischen Arbeits-
Witterungssache!) kräfte nicht nur etwas kosten, sondern daß sie auch
Außerdem sind nach den Schätzungen des Sta- etwas bringen. Sie bringen neben ihrer puren Ar-
tistischen Bundesamtes die Zahlen der Entlassungen beitskraft auch gewisse berufliche Kenntnisse und
und Schülerabgänge aus allgemeinbildenden Schulen Erfahrungen mit, die nicht wir, sondern die andere
in den nächsten Jahren höher, als sie vorher waren, Völker bezahlt haben. Ich brauche nur an das grö-
im Jahre 1963 z. B. um 43 000 höher als im Vorjahr. ßere geschichtliche Beispiel zu erinnern, daß der
Mit kleinen temporären Einbrüchen setzt sich diese Reichtum Amerikas neben seinen Naturschätzen mit
Steigerung dann bis 1970 fort. darauf beruht, daß die Einwanderer ihre beruflichen
Kenntnisse mitgebracht haben, die sehr viel wert
Eine Möglichkeit der Entspannung auf dem Ar- sind, wenn sie in solcher Fülle auftreten.
beitsmarkt ergibt sich auch durch die Förderung
der Teilzeitarbeit. Die Bemerkungen von Herrn Im Hinblick auf den Anteil der Frauenarbeit darf
Präsidenten Sabel in seinem Bericht sind unseres ich auf die heutige Auseinandersetzung über die
Erachtens etwas zu skeptisch und widersprechen Frauenenquete verweisen. Dabei ist schon zum Aus-
den Erfahrungen, die die Arbeitsämter auf diesem druck gekommen, daß auf dem Gebiet der Frauen-
Gebiet gemacht haben und die auch die Bundes- beschäftigung noch eine ganze Menge unklar ist.
vereinigung der Arbeitgeberverbände in durchaus Die Statistiken, die da genannt werden, kann man
konstruktiver Weise beurteilt hat. Das Bundessozial- gar nicht miteinander vergleichen. Die Fragesteller
gericht war der Meinung, daß die Teilzeitarbeit haben von einem Anteil von 34 % gesprochen. Man
als eine spezifische Form der Frauen-Erwerbsarbeit könnte demgegenüber darauf hinweisen, daß der
im Hinblick auf die Doppelrolle der Frau in Beruf Anteil in anderen Ländern, z. B. in Finnland, Oster-
und Familie hervorgehoben werden muß. Wir sind reich oder Japan, noch größer ist, daß wiederum in
der Meinung, daß von hier aus, von der Förderung anderen Ländern der Anteil ungefähr so groß ist
der Teilzeitarbeit aus, noch ungeahnte Kräfte in wie bei uns. Aber das alles läßt sich schwer ver-
unserer Volkswirtschaft mobilisiert werden können, gleichen. Da müßte man schon die Grundlagen genau
3390 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963
Folger
erforschen, um gültige Beispiele anführen zu kön- arbeitsminister, kann man nicht ohne weiteres auf
nen. Erlauben Sie mir nur einen Hinweis: Die andere Wirtschaftszweige übertragen. Es handelt
Italiener schicken italienische Frauen nach Deutsch- sich hier um eine sehr stark saisonal betonte Be-
land zur Arbeit. Dadurch wird der Frauenanteil in schäftigung, die große Wellen durchmacht und
Italien gedrückt. In Deutschland steigt er. Niemand große Spitzen aufweist.
wird aber behaupten können, daß deswegen die
Die Metallindustrie hat für die Zeit vom 1. Ja-
Verhältnisse in Italien idealer sind als etwa bei uns
nuar 1964 bis 1. Juli 1965 nur eine Reduzierung um
in der Bundesrepublik.
1 1/4 Stunden vereinbart, obendrein mit der Ein-
Die Frage an die Bundesregierung, ob sie die schränkung, daß vor der Herabsetzung geprüft wer-
Möglichkeit sieht, konstruktive Maßnahmen zu er- den soll, ob weitere Verkürzungen ohne Schaden
greifen, um die Arbeitszeitverkürzungen zu bremsen, für den jeweiligen Wirtschaftszweig möglich sind.
ist nach unserem Dafürhalten unter einem Schleier
einfach die nackte Aufforderung, die Tarifautonomie Ich möchte Sie fragen: Sollen die auch von Arbeit-
der Sozialpartner in irgendeiner Form zu beschnei- nehmern erdachten Verbesserungen von Maschinen,
den, das heißt: das Recht der Sozialpartner, ihre Apparaten und technischen Anlagen, auch den Ar-
Beziehungen zueinander selbst zu regeln. Wir wol- beitnehmern in Form von Arbeitszeitverkürzungen
len nicht, daß die sonst von den Fragestellern ge- zugute kommen, oder sollen die Vorteile dieser
rühmte, gewachsene und wachsende Ordnung ge- Verbesserungen ebenso entschwinden, ohne daß die
stört und negativ beeinflußt wird. Wir wollen nicht, Arbeitnehmer etwas davon haben, wie das bei den
daß das Rad der Entwicklung aufgehalten wird. Die über die Preise finanzierten Investitionsgütern der
Fragesteller haben die Sache auch hier wieder etwas Fall gewesen ist?
pessimistischer dargestellt, als der Präsident Sabel Nun, meine Damen und Herren, gar so revolutio-
das in seinem Bericht getan hat, der die Einschrän- när und gar so neuartig sind die Bemühungen un-
kung gemacht hat: „wenn Arbeitszeitverkürzungen serer Gewerkschaften zur Zeit nicht. Am 25. No-
nicht durch Rationalisierungserfolge ausgeglichen vember 1833 wurde in Manchester eine große Ver-
werden können". Diese Einschränkung haben die sammlung abgehalten, in welcher eine starke
Fragesteller total ignoriert. Organisation gegründet wurde unter dem Namen
(Sehr wahr! bei der SPD.) „Gesellschaft der nationalen Wiedergeburt", „Na-
tional Regeneration Society", zu dem Zweck, den
Wir sind der Meinung, daß sich das Tempo der arbeitenden Klassen dazu zu verhelfen, für acht Stun-
Arbeitszeitverkürzungen schon ganz von selbst ver- den Arbeit den vollen gegenwärtigen Tageslohn zu
langsamt; das heißt, nicht ganz von selbst, sondern erhalten. Der Urheber dieses Beschlusses war kein
insbesondere durch das Verständnis der Gewerk- Sozialdemokrat und waren nicht die Gewerkschaf-
schaften bereits stark verlangsamt hat. Schauen Sie ten, sondern es war der große englische Patriot
bitte heute das Bulletin der Bundesregierung an! John Fielden, ein großer Baumwollfabrikant und
Da können Sie in Zahlen nachlesen, wie sehr sich Abgeordneter, der das damals schon für notwendig
das Tempo verlangsamt hat. Die Gewerkschaften gehalten und propagiert hat. Einige Gründe für die-
haben langfristige Abkommen über den stufenwei- sen Beschluß waren: weil es die längste Periode
sen Abbau mit einer Laufzeit bis 1965/66 und mit physischer Anstrengung ist, welche das Menschen-
minimalen Reduzierungen, zum Teil nur einer Re- geschlecht, wenn man den Durchschnitt nimmt und
duzierung der Arbeitszeit um eine halbe Stunde im dem Schwächeren die Existenzberechtigung ebenso
Laufe eines ganzen Jahres, abgeschlossen. zugesteht wie dem Stärkeren, ertragen kann; um
(Zuruf von der SPD: Das ist vorbildlich!) gesund, intelligent, tugendhaft und glücklich zu
sein; weil die modernen Erfindungen in Chemie
Das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat und Mechanik eine längere Periode physischer An-
in einem Gutachten auf Anforderung des Bundes- - strengung unnötig machen; weil bei achtstündiger
wirtschaftsministers u. a. erklärt, als Fernziel sollte Arbeit unter geeigneten Einrichtungen ein Überfluß,
die 40-Stunden-Woche etwa zwischen 1965 und 1970 ein Reichtum für alle geschaffen werden kann.
angestrebt werden. Das ist genau das, was unsere
Gewerkschaften seit Jahren bereits tun, nämlich 130 Jahre später, im Jahre 1963, wird vielfach noch
eine sehr verständige, allmähliche Angleichung. länger als acht Stunden am Tag gearbeitet, 8 1/2 und
Nach den gegenwärtig laufenden Abkommen wer- 9 Stunden, und die Fragesteller wollen jetzt noch
den erst 1965/66 5,5 Millionen der Arbeitnehmer in fördern, ja sogar provozieren, daß noch länger ge-
der Bundesrepublik in den Genuß der 40-Stunden- arbeitet wird.
Woche kommen. Über die Nachbarschaft in Ihrer Frage zwischen
Preis- und Geldwertstabilität sowie Wettbewerbs-
(Hört! Hört! bei der SPD.)
fähigkeit einerseits und Löhnen andererseits ist
Erst etwa ein Viertel der deutschen Arbeitnehmer heute in der Wirtschaftsdebatte genügend gespro-
wird also bis dahin die 40-Stunden-Woche haben; chen worden.
alle anderen arbeiten noch länger.
Uns ist aber nicht erklärlich, in welcher Form die
Der Herr Bundesminister für Arbeit, Blank, hat Bundesregierung mit den Tarifpartnern verhandeln
schon das Abkommen der IG Bau anerkannt, die soll über eine Vereinbarung, „die zum Ziele haben
eine rechtsverbindliche Vereinbarung über Verkür- soll" usw. Wie soll denn das, was hier in der An-
zung der Arbeitszeit aus Verständnis für die Lage frage steht, vor sich gehen? Wie sollen die Ergeb-
suspendiert hat. Aber dieses Beispiel, Herr Bundes nisse solcher Verhandlungen kodifiziert werden? Es
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3391
Folger
könnte sich unseres Erachtens höchstens um Empfeh- nisse durch die Vereinfachungsbrille, durch die Ver
lungen handeln, deren Wert man am besten daran allgemeinerungsbrille.
ermessen kann, daß sich die Bundesregierung bei In Wirklichkeit sind die Verhältnisse sehr diffe-
früheren Gelegenheiten an ihre eigenen Empfehlun- renziert. Ich brauche Sie, Herr Kollege Dr. Besold,
gen nicht gehalten hat. bloß daran zu erinnern — Sie wissen das sicher
Was heißt denn „vertretbare Mehrarbeit fördern"? genauso gut wie ich —, daß man im Landkreis Wolf
Die Arbeitnehmer haben in der Geschichte schon oft stein heuer im Winter bei Männern eine Arbeits-
genug bewiesen, daß sie bereit sind, Mehrarbeit zu losenquote von 36,1 % gehabt hat, in Oberviechtach
leisten, wenn es notwendig ist, wenn es die Volks- von 32,6 %, in Kötzting von 29,7 %, in Vohenstrauß
wirtschaft erfordert. Wozu sie nicht bereit sind, ist, von 29,5 %. In der Stahl- und Hüttenindustrie im
durch die Hintertür die in Jahrzehnten erhandelte Ruhrgebiet werden seit einem halben Jahr keine
berechtigte Arbeitszeitverkürzung wieder zunichte Neueinstellungen mehr vorgenommen. Der natür-
machen zu lassen. liche Abgang wird nicht ersetzt, weil man keine
Arbeit mehr für die Leute hat. In der Bekleidungs-
(Zustimmung bei der SPD.) industrie und in der Schuhindustrie wird die tarif-
Mit anderen Worten, sie will nicht die Mehrarbeit liche Arbeitszeit nicht voll ausgeschöpft. Die Ver-
zur regelmäßigen Arbeitszeit werden lassen. Die hältnisse sind von Beruf zu Beruf und von Alters-
Arbeitszeitverkürzungen wurden nicht erhandelt, gruppe zu Altersgruppe ganz verschieden. Wollen
um die Faulheit zu pflegen, sondern um der Erhal- Sie dort auch auf Arbeitszeitverkürzungen verzich-
tung der Arbeitskräfte willen. ten? Wollen Sie dort auch Mehrarbeit fördern, wo
in Wirklichkeit das Gegenteil notwendig wäre?
Der letzte Punkt der Großen Anfrage ist wieder
ein Musterbeispiel von Verschleierung der wahren Unseres Erachtens besteht deshalb gar kein Grund
Absicht. Gewollt sind steuer- und sozialversiche- zu den geforderten konstruktiven Maßnahmen. Es
rungsrechtliche Vergünstigungen. Das zeigt auch der wären in Wirklichkeit destruktive Maßnahmen.
Antrag der FDP, zu dem ich an der Stelle gleich Herr Dr. Besold hat davon gesprochen, daß die
sagen kann, daß wir bereit sind, über die Frage Große Anfrage eine große Beachtung gefunden
neuerdings zu diskutieren, obwohl das früher schon hat. Ich gehe noch ein Stück weiter. Herr Kollege
vielfach geschehen ist. Wir hatten den Zustand be- Dr. Besold, ich bin der Meinung, daß die Unter-
reits einmal, und die Meinungen darüber sind ja an zeichner der Großen Anfrage in die Geschichte ein-
und für sich bekannt. Der DGB ist aus guten Grün- gehen werden, allerdings im negativen Sinne.
den gegen eine solche Begünstigung. Er ist vielmehr
der Meinung, daß Erholungsbeihilfen steuerlich be- (Beifall und Heiterkeit bei der SPD und
günstigt werden sollten, mit anderen Worten, daß bei Abgeordneten der CDU/CSU.)
nicht der Ruin der Arbeitskräfte, sondern ihre Ge-
sunderhaltung gefördert werden soll. Wir haben Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat
nichts dagegen, eine ausnahmsweise notwendige der Herr Abgeordnete Müller (Remscheid).
Mehrarbeit zu begünstigen, aber wir haben viel da-
gegen, die Mehrarbeit auf diese Weise hintenherum
als regelmäßige Arbeitszeit einzuführen. Müller (Remscheid) (CDU/CSU) : Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich bin davon überzeugt,
Herr Kollege Dr. Besold hat davon gesprochen, daß die Große Anfrage, deren Initiator der Herr
daß die Arbeiter die Mehrarbeit selber wollten. Herr Kollege Dr. Besold ist, gut gemeint war, aber aus
Kollege Dr. Besold, das ist doch so eine Stammtisch der Sicht eines Abgeordneten, der aus der Arbeit-
weisheit, das ist eine Verallgemeinerung. Die Ar- nehmerschaft kommt, sind doch mehr kritische Be-
beiter, die die ganze Zeit in unserem Arbeitsrhyth- merkungen dazu zu machen, vor allen Dingen auch
mus streng arbeiten, sind heilfroh, wenn sie nach - zu dem FDP-Antrag.
ihren 40, 42 oder 45 Stunden fertig sind. Dann ver-
langt es sie nicht nach Mehrarbeit. Man soll nicht Die in drei Teile gegliederte Große Anfrage be-
immer wieder bei jeder Gelegenheit den Fehler der faßt sich in Teil 1 mit der Beurteilung der Arbeits-
Verallgemeinerung machen. Die schwarzen Schafe, marktlage durch den Präsidenten der Bundesanstalt
die es vielleicht wirklich machen wollen, sollten wir für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversiche-
da ruhig außer acht lassen. rung, Sabel. Auch nach meiner Ansicht ist die im
Bulletin vom 10. Januar 1963 veröffentlichte Beurtei-
Am Ende seiner Ausführungen und auch in seiner lung des Arbeitsmarkts heute noch richtig, aber, ich
Begründung hat Herr Kollege Dr. Besold eine Menge glaube, in der Großen Anfrage doch etwas schief
Widersprüche gebracht, die aufzuklären ganz inter- interpretiert.
essant wäre. Dazu ergibt sich vielleicht ein ander
mal eine Gelegenheit. Die sich bei einem Vergleich ergebenden Unter-
schiede zwischen der Großen Anfrage und dem
Es ist doch widerspruchsvoll, einerseits Mehr- Bericht Sabel sind zwar gering, aber für die Ge-
arbeit zu fordern und andererseits das Arbeits- samtbeurteilung der Situation mit entscheidend.
kräftepotential zu bremsen, z. B. die Frauenarbeit zu Sabels Bericht spricht davon, es seinen keine An-
bekritteln, die Ausländerbeschäftigung madig zu zeichen vorhanden, daß der Bedarf im neuen Jahr
machen, bloß um zu dem Ergebnis zu kommen, daß wesentlich geringer sein werde als in den letzten
Mehrarbeit notwendig ist. Nach unserer Meinung Jahren und die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt
sieht die ganze Anfrage die tatsächlichen Verhält- im Jahre 1963 nicht so umfangreich sein würden wie
3392 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Müller (Remscheid)
i n den vorhergehenden Jahren. Diese zwei Momente, Mehrkosten am besten durch die Wirtschaft beant-
die doch deutlich besagen, daß kleine Abschwächun- wortet wird. Ich halte es aber — das möchte ich nicht
gen möglich sind, fehlen in der Großen Anfrage. verschweigen — für unklug, die Frage der Auslän-
Die heutigen Zahlen der Arbeitsverwaltung be- derbeschäftigung unter negativen Aspekten zu dis-
weisen aber die Richtigkeit der Beurteilung durch kutieren,
den Präsidenten der Bundesanstalt. (Beifall bei der SPD)
Nun darf ich vielleicht einiges aus dem Bericht weil unsere Volkswirtschaft auch in Zukunft auf
des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen über ausländische Arbeitskräfte angewiesen ist und wir
die Arbeitsmarktlage vortragen. Dieser Bericht ist alles tun sollten, um der Konkurrenz anderer Staa-
sehr jungen Datums; er stammt vom 9. April 1963. ten bei der Anwerbung von ausländischen Arbeits-
Der Bericht spricht von den Veränderungen in der kräften nicht Material in die Hand zu geben, wo-
Stahlkonjunktur und steilt fest, daß auch in den durch Aversionen gegen uns geweckt oder gestärkt
Zentren der Metallverarbeitung der Bedarfsdruck werden.
auf den Arbeitsmarkt von Monat zu Monat nach- (Sehr richtig! bei (der SPD.)
läßt. Es werden auch andere Beschäftigungszweige
genannt, in denen in den letzten Wochen Freistel- In der Großen Anfrage wird auch nach den Mehr-
lungen erfolgt ,sund. Vom Bergbau möchte ich gar kosten bei der Betreuung der ausländischen Ar-
nicht reden. Ich habe an den Sitzungen des Massen- beitskräfte gefragt. Sicher kostet die Betreuung der
entlassungsausschusses des Landesarbeitsamtes tell ausländischen Arbeitskräfte Geld. Aber, meine Da-
genommen, in denen über Freistellungen in der men und Herren, wenn wir Wert darauf legen —
Metallindustrie verhandelt worden ist. und wir müssen es —, auch in Zukunft ausländische
Arbeitskräfte in unserer Wirtschaft zu beschäftigen,
Die Bemühungen der Arbeitsämter, für entlassene dann haben wir auch alles zu tun, damit diese
ältere Arbeitnehmer neue Arbeitsplätze zu finden, Menschen sich bei uns wohlfühlen. Ich möchte es
werden — so heißt e s in diesem Bericht — immer auch nicht versäumen, all den ehrenamtlichen Hel-
schwieriger. Nach meiner Auffassung wird diese fern, die in der Betreuung der ausländischen Ar-
Tendenz, daß die Spannungen am Arbeitsmarkt beiterwertvolle Arbeit leisten, den kirchlichen, den
nachlassen, auch dadurch unterstrichen, daß große karitativen Stellen, den Gewerkschaften, den Ar-
Teile der Stahlindustrie seit Wochen, wenn auch beitgeberverbänden, aber auch den Beamten und
geringfügig, verkürzt arbeiten. Angestellten der Arbeitsverwaltung für diesen
Schief dargestellt ist die :in der Großen Anfrage wertvollen Dienst herzlichen Dank zu sagen.
enthaltene Behauptung, die Zahl der verfügbaren (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD.)
l Arbeitskräfte im Inland werde kleiner. Herr Kollege
Folger hat schon darauf hingewiesen. Richtig ist, daß Der dritte Teil der Großen Anfrage hat es aller-
das Reservoir an inländischen Arbeitskräften kleiner dings in sich. Ich frage mich, mit welchen konstruk-
wird, d. h. daß die Möglichkeiten, zusätzliche Ar- tiven Maßnahmen die Bundesregierung der Ten-
beitskräfte zu gewinnen, geringer werden. Die Zahl denz zu weiteren Arbeitszeitverkürzungen begeg-
der verfügbaren inländischen Arbeitskräfte - also nen soll. Die anfragenden Kollegen werden sicher
Beschäftigte plus Arbeitslose — (wind mach Ansicht mit mir der Meinung sein, daß ein Eingriff in die
der Bundesanstalt auch im Jahre 1963 noch zuneh- Tarifautonomie besonders nach den vielen Be-
men, wenn auch schwächer als im letzten Jahr. Die teuerungen aller Parteien dieses Hohen Hauses völ-
Vergleichszahlen vom März 1962 und vom März lig indiskutabel ist.
1963 beweisen das. Ich möchte Sie jetzt nicht mit (Sehr richtig! bei der SPD.)
den Zahlen langweilen. Immerhin haben wir im
März 1963 gegenüber dem März 1962 ein Mehr von Wenn man sich aber über Arbeitszeitverkürzun-
176 000 inländischen Arbeitskräften. Trotzdem wird- gen und deren Auswirkungen unterhält, dann muß
zur Deckung des Arbeitsmarktes die Anwerbung man auch die Ergebnisse der Untersuchungen des
ausländischer Arbeitskräfte auch weiterhin notwen- schon von Herrn Folger zitierten Deutschen Insti-
dig sein. tuts für Wirtschaftsforschung in Berlin berücksich-
tigen. Dort wird doch sehr klar gesagt, die Ent-
Den Ausführungen des Herrn Bundesarbeitsmini- wicklung seit 1956 habe unwiderlegbar gezeigt, daß
sters zur Beantwortung der Großen Anfrage hin- Arbeitszeitverkürzungen ein geeignetes Mittel zur
sichtlich der Erwerbstätigkeit der Frauen habe ich Sicherung des Wirtschaftswachstums sind. Das
nichts hinzuzufügen. Wir wissen die Leistungen der Deutsche Institut weist im übrigen auch auf den
Frauen, die im Erwerbbsleben stehen, zu würdigen. heilsamen Druck zur Rationalisierung und zum
Wir wissen, wie schwer die Doppelbelastung der technischen Fortschritt hin, den wir durchaus beja-
Frau in Familie und Beruf ist. Wir wissen ebenfalls, hen.
daß unsere Wirtschaft auch in Zukunft auf die Mit-
Ich meine aber, noch überzeugender dürfte die
arbeit der Frau (angewiesen ist, und schließlich wis-
Tatsache sein, daß 1963 auf Grund getroffener Ver-
sen wir nur zu gut, daß die Frauenerwerbsarbeit zu-
einbarungen nur noch 700 000 von rund 9 Millionen
sätzliche sozialpolitische Probleme aufwirft, die aber
in der Industrie Beschäftigten weitere Arbeitszeit-
meines Erachtens durchaus gelöst werden können.
verkürzungen erfahren. Das sind zumeist noch In-
Mit den ausländischen Arbeitskräften befaßt sich dustriezweige, in denen der Arbeitsmarkt nicht so
der zweite Teil der Großen Anfrage. Ich möchte in angespannt ist, als daß die hier vereinbarten Kür-
dieser sehr kurzen Stellungnahme das Problem nicht zungen bei der Betrachtung des Gesamtproblems be-
eingehend behandeln, zumal die Frage nach den sonders interessant wären. Die Erwartungen, die
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3393
Müller (Remscheid)
man an einen Stopp der Arbeitszeitverkürzungen ein Eingriff in die vielzitierte und -beschworene
für 1963 knüpft, sind nach meiner Auffassung im Tarifautonomie angesehen werden.
Hinblick auf die geringe Zahl der davon betroffe-
(Zustimmung bei der SPD.)
nen Arbeitnehmer übertrieben.
Zweitens gibt es auch heute noch viele Berufsgrup-
Angespannt ist der Arbeitsmarkt zweifellos im pen, die eine weitaus höhere Wochenarbeitszeit als
Bereich der Bauwirtschaft. Aber auch das ist wie- 45 Stunden haben. Sie würden damit den Trend zur
derholt gesagt worden: hier hat die zuständige Arbeitszeitverkürzung nur verstärken. Sie würden
Gewerkschaft — das hat auch der Bundesarbeits- bei einer unterschiedlichen Bewertung der Arbeit
minister schon gebührend herausgestellt — die über 45 Stunden aber auch eine große Unruhe inner-
mögliche und bereits vereinbarte Arbeitszeitver- halb der Arbeitnehmerschaft schaffen, wo sich
kürzung um ein halbes Jahr verzögert, um die hier manche mit Recht benachteiligt fühlen würden. Dar-
zweifellos vorhandenen Spannungen nicht noch über hinaus haben meine Freunde aus dem selb-
größer werden zu lassen. ständigen Mittelstand gefragt, ob sie dann auch mit
Bei der Behandlung des Problems der Arbeitszeit- einer steuerlichen Begünstigung ihrer persönlich ge-
verkürzung in der Stellungnahme der Bundesregie- leisteten Mehrarbeit rechnen könnten.
rung freue ich mich vor allem auch über die Aner- Der Herr Bundesarbeitsminister hat in der Beant-
kennung, die die Bundesregierung der menschlichen wortung der Großen Anfrage erhebliche Bedenken
und sozialen Bedeutung der Vermehrung der Frei- geltend gemacht, die einer steuerlichen und sozial-
zeit und den Grenzen der Mehrarbeit entgegen- versicherungsrechtlichen Begünstigung der Mehr-
bringt. Lassen Sie mich da ohne alle Polemik einen arbeit entgegenstehen. Ich schließe mich diesen Aus-
Gedanken aussprechen, der mich bei der Großen führungen an und teile die Bedenken. Ich bitte Sie,
Anfrage, aber auch bei dem FDP-Antrag auf För- diese Bedenken bei der weiteren Behandlung dieses
derung der Mehrarbeit, bewegt hat. Der wirtschaft- Problems zu berücksichtigen.
liche Aufstieg der Bundesrepublik in den vergan-
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
genen Jahren ist nicht nur das Ergebnis einer guten
neten der SPD.)
Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und nicht
nur auf die zweifellos vorhandene und angewandte
Unternehmerinitiative zurückzuführen; als unab- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat
dingbare Voraussetzung dieses wirtschaftlichen Auf- der Abgeordnete Meis.
stiegs muß die enorme Arbeitsleistung der deutschen
Arbeitnehmerschaft gewürdigt werden. Meis (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Damen
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD.) und Herren! Ich möchte dem Vorbild unseres Bun-
desarbeitsministers folgen und nur noch ganz kurz
Meine Damen und Herren, dabei ist auch erhebliche zu dem Gesetzentwurf zur Änderung des Einkom-
Mehrarbeit geleistet worden. mensteuergesetzes Stellung nehmen.
Wir haben bei vielen Arbeitnehmern in der Ein- Aus dem Antrag der FDP-Kollegen — es handelt
schätzung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit sich wohl nicht um einen Fraktionsantrag — spricht
manche Fehleinschätzung zu verzeichnen. deutlich erkennbar die Sorge — das ist heute schon
(Abg. Behrendt: 58 Stunden am Hochofen!) wiederholt von allen Seiten dargelegt worden —
Die Auswirkungen dieser in nicht vertretbaren Gren- um die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Diese Sorge
ist ohne Zweifel in mancher Hinsicht berechtigt, ob-
zen gehaltenen Mehrarbeit zeigen sich in der star-
wohl die Arbeitsmarktsituation regional und auch
ken Frühinvalidität und in einer starken Anfällig-
branchenmäßig sehr verschieden ist; auch das ist
keit für Krankheiten. Bitte, bedenken Sie, ob nicht
heute schon wiederholt gesagt worden.
durch eine stärkere Förderung der Mehrarbeit auch
-
solche bedenklichen Erscheinungen in verstärktem Mit der Änderung des Lohnsteuerrechts will man
Maße auftreten! nun gleichzeitig , die Schwarzarbeit bekämpfen, die
(Zustimmung bei der SPD.) insbesondere auf dem Bausektor und ganz beson-
ders im Baunebengewerbe einen immer größeren
Es ist meines Erachtens angesichts der von mir Umfang annimmt. So wird z. B. in einer Veröffent-
eingangs gemachten Darlegungen über die differen- lichung des dsk — in dem sozialen Kommentar, den
zierte Konjunktur nicht zu empfehlen, derartige An- wiralezugstbkomn—iNr.13v
reize zu schaffen. Gezielte steuerliche Maßnahmen, 26. März 1963 gesagt:
die ja dann auf Grund des Gleichbehandlungsgrund-
Bei einem kurzen Sonntagsspaziergang wurde
satzes nur die gesamte Wirtschaft betreffen können,
festgestellt, daß an zehn von rund einem Dut-
sind bei der unterschiedlichen Beschäftigungslage
zend im Rohbau fertiggestellter Wohnhäuser
überhaupt nicht vertretbar.
eifrig gearbeitet wurde.
In dem Antrag der FDP zur Änderung des Ein-
kommensteuergesetzes wird mit Mehrarbeit die Ar- Es ist sicher richtig, sich eingehend mit dieser uner-
beit bezeichnet, die über mindestens 45 Stunden wünschten Situation zu befassen und nach Mitteln
hinaus in der Woche geleistet wird. Damit werden zur Bekämpfung der Schwarzarbeit Ausschau zu
aber zwei Probleme aufgeworfen: Erstens könnte halten.
das als ein Versuch gewertet werden, eine wöchent- Wenn man sich den vorgelegten Gesetzentwurf
liche Mindestarbeitszeit festzulegen, und damit als einmal näher ansieht, kommen allerdings sofort
3394 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Meis
auch manche Bedenken auf, die gegen die geplante groß werden, die bisherige Arbeitszeit zu verlängern,
Freistellung des Mehrarbeitslohnes von der Lohn- wenn auch nur zum Schein.
steuer sprechen. Es wird daher einer eingehenden Der Steuerausfall — das muß man auch erwähnen
Beratung im Finanzausschuß bedürfen, bei der zu — würde ebenfalls erheblich sein, besonders dann,
prüfen sein wird, ab die Bedenken ausgeräumt wer- wenn auch noch die normale Arbeitszeit über 45
den können oder ob vielleicht andere Wege be- Stunden steuerfrei bliebe. Wird für die Steuerfrei-
schritten werden können oder müssen, um zu dem heit davon ausgegangen, daß nur die über 45 Stun-
gewünschten Ziel zu kommen. den hinaus geleistete Arbeit als Mehrarbeit gelten
Ich möchte hier einige Bedenken aufzeigen, die soll, so ergeben sich auch erhebliche technische
meines Erachtens nicht so ohne weiteres beiseite Schwierigkeiten bei der Lohnabrechnung in all den
geschoben werden können. Einer der wichtigsten Fällen, in denen die normale tarifliche oder Besetz
Grundsätze des Einkommensteuerrechts ist der der liche Mehrarbeit mehr oder weniger als 45 Stunden
Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Dieser beträgt, weil diese tarifliche oder gesetzliche Ar-
Grundsatz wird meines Erachtens bei der geplanten beitszeit nicht mit der Mehrarbeit nach dem Steuer-
Regelung nicht beachtet. Dazu folgendes Beispiel: gesetz übereinstimmt. Dann würde diese Mehr-
Zwei Arbeiter — A und B —, beide in der gleichen arbeit nebst den Mehrarbeitszuschlägen zum Teil
Steuerklasse usw., arbeiten beide 48 Stunden steuerfrei, zum Teil steuerpflichtig sein. Die Zu-
wöchentlich und haben beide ein Einkommen von schläge für Sonntagsarbeit usw. würden immer
1000 DM. A hat eine vertragliche Arbeitszeit von steuerfrei bleiben. Man kann also schon eine ganze
48 Stunden und B von 45 Stunden. B hat einen Menge komplizieren.
Normallohn von 900 DM und 100 DM Überstunden- Ich habe nur einige Bedenken aufgezeigt. Es wer-
vergütung. Darm würde A 124 DM und B 104 DM den sicherlich noch weitere vorzubringen sein, die
Lohnsteuer zahlen. Es ergibt sich in der steuerlichen bei unseren Ausschußberatungen ebenfalls über-
Belastung ein Unterschied von fast 20 %, obwohl prüft werden müssen. Ich bin der Meinung, daß es
Arbeitszeit und Einkommen übereinstimmen. Es notwendig ist, sofort etwas Wasser in den Wein
lassen sich viele Beispiele bilden, aus denen sich zu gießen, den uns die FDP-Kollegen mit dem
ergibt, daß derjenige, der viel verdient, relativ Antrag serviert haben. Ich sage das deswegen, damit
wenig Steuer zahlen soll und umgekehrt. Nach mei- in der Öffentlichkeit nicht der Eindruck entsteht, daß
ner Meinung würde mit der Verwirklichung des der Mehrarbeitslohn schon in allernächster Zeit auf
FDP-Vorschlages der Grundsatz der Gleichmäßigkeit jeden Fall steuerfrei bleiben wird. Es muß gesagt
der Besteuerung verletzt. werden, daß auch damit gerechnet werden kann, daß
es nicht gelingen wird, die schweren Bedenken ge-
Besonders bedenklich in dem Gesetzentwurf ist
gen die beabsichtigte Regelung, insbesondere die
der Vorschlag — das ist soeben schon gesagt wor-
verfassungsrechtlichen Bedenken, auszuräumen.
den —, daß nur Arbeitnehmer, nicht dagegen selb-
Dann wird es nicht möglich sein, auf dem aufgezeig-
ständig Tätige begünstigt werden sollen. Solche
ten steuerlichen Wege die Schwarzarbeit zu be-
Ungleichheiten in der Besteuerung sind schwer zu
kämpfen und die Arbeit bei den Arbeitnehmern
rechtfertigen und vielleicht auch verfassungswidrig.
attraktiv zu machen.
Es würde daher zu prüfen sein, ob der Gleichheits-
grundsatz verletzt würde, wenn die über das nor- Selbstverständlich gibt es auch andere Mittel zur
male Maß hinaus arbeitenden Selbständigen für ihre Bekämpfung der Schwarzarbeit. Ich möchte in dem
Mehrarbeit keine Vergünstigung bekämen. Zusammenhang den Vorschlag erwähnen, den der
Gewerbeverband gemacht hat, der bekanntlich am
Weitere verfassungsrechtliche Bedenken ergeben lautesten die Steuerfreiheit für die Überstunden-
sich dadurch, daß die Steuerfreiheit nur für solche löhne gefordert hat. Er fordert nämlich, daß Schwarz-
Arbeitnehmer gelten soll, für die durch Gesetz oder - arbeit bestraft wird, da jede Schwarzarbeit seitens
Tarifvertrag Vergünstigungen für Mehrarbeit fest- des Arbeiters eine Steuerhinterziehung und seitens
gelegt sind oder die, soweit Bindungen an einen des Auftraggebers Beihilfe zur Steuerhinterziehung
Tarifvertrag nicht bestehen, auf Grund besonderer bedeute. So die Stellungnahme des Gewerbeverban-
Vereinbarungen nach den Bestimmungen des Tarif- des. Da gibt es ein ganz einfaches Mittel: dem zu-
vertrages behandelt werden sollen. Dadurch würden ständigen Finanzamt Mitteilung zu machen. Das
die Arbeiter benachteiligt, für die keine gesetzliche Finanzamt wird dann alles Weitere veranlassen. Sie
oder tarifliche Regelung gilt. Das ist bestimmt ver- dürfen dazu noch zur Kenntnis nehmen, daß eine
fassungswidrig. Zumindest ist sehr eingehend zu Eilbedürftigkeit dabei gar nicht besteht; denn man
prüfen, ob hierbei die Verfassungsmäßigkeit ge- kann eine nachträgliche Veranlagung und auch die
wahrt bleibt. nachträgliche Festsetzung einer Steuerstrafe noch
nach zehn Jahren durchführen. Ich bin sogar der
Wenn man nun — das ist auch schon wiederholt Meinung, daß eine solche Bestrafung sehr schnell
erörtert worden — nicht dem Vorschlag der FDP bekannt und auch abschreckend wirken würde.
genau folgen, sondern die rein theoretisch gerech-
tere Lösung anstreben würde, sämtliche Löhne für Die Schwarzarbeit — das muß man vielleicht auch
die über 45 Stunden hinausgehende Arbeitszeit noch am Rande erwähnen — ist nun nicht in jedem
steuerfrei zu lassen, ohne Rücksicht darauf, ob es Fall steuerlich so zu sehen. Wenn einer einmal ge-
sich dabei um Überstunden oder um vertragsmäßig legentlich Schwarzarbeit macht, so würde wahr-
oder gesetzlich festgelegte Arbeitszeit von mehr scheinlich eine Steuerpflicht gar nicht bestehen; denn
als 45 Stunden handelt, dann würde das Bestreben die Schwarzarbeit hat ohne Zweifel den Charakter
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3395
Meis
der Selbständigkeit, so daß bis zu einem Einkommen Das Wort zur Einbringung wird nicht gewünscht.
von 800 DM eine Steuerfreiheit bliebe. — Keine Aussprache. — Überweisung an den Aus-
Ich möchte zum Schluß nur noch sagen: wirksamer schuß für Verkehr, Post und Fernmeldewesen. —
zur Bekämpfung der Schwarzarbeit wäre es, wenn Das Haus ist einverstanden; es ist so beschlossen.
man nicht mit steuerlichen Vergünstigungen und
Punkt 7 der Tagesordnung:
Steuerstrafen arbeiten müßte, sondern wenn man,
wie es heute schon ausgeführt worden ist, einen Erste Beratung des von der Bundesregierung
echten Ausgleich zwischen dem Leistungsangebot eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu
und der Nachfrage auf dem Baumarkt erreichen dem Vertrag vom 29. Juni 1962 zwischen der
könnte. Das Herumkurieren nur an den Symptomen Bundesrepublik Deutschland und der Bundes-
bleibt immer Flickwerk. republik Kamerun über die Förderung von
Kapitalanlagen (Drucksache IV/1167).
Die CDU/CSU-Fraktion empfiehlt die Überweisung
des Antrages an den Finanzausschuß, damit wir uns Das Wort zur Einbringung wird nicht gewünscht.
dort ausgiebig mit dem schwierigen Problem befas- — Keine Wortmeldungen. Überweisung an den
sen können. Wirtschaftsausschuß — federführend —, an den Aus-
schuß für auswärtige Angelegenheiten und an den
(Beifall bei der CDU/CSU.) Ausschuß für Entwicklungshilfe — mitberatend —.
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Schluß der — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Debatte! Vorgesehen ist Überweisung dieses Gesetz- Punkt 8 der Tagesordnung:
entwurfs Drucksache IV/1161 an den Finanzausschuß Erste Beratung des von der Bundesregierung
— federführen 1 —, an den Ausschuß für Arbeit — eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu
mitberatend —. — Kein Widerspruch; e s ist so be- dem Internationalen Kaffee Übereinkommen
-

schlossen. 1962 (Drucksache IV/1168).


Ich rufe ,auf Punkt 2 der Tagesordnung: Das Wort zur Einbringung wird nicht gewünscht.
Nachwahlen zur Beratenden Versammlung — Keine Aussprache. Vorgesehen ist Überweisung
des Europarates. an den Außenhandelsausschuß — federführend —,
Die Fraktion , der CDU/CSU hat mir mitgeteilt, daß an den Wirtschaftsausschuß — mitberatend —.
an Stelle der verstorbenen Frau Abgeordneten Dr. — Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Weber der Herr Abgeordnete Dr. Zimmer ordent- Punkt 9 der Tagesordnung:
liches Mitglied im Europarat werden soll. Sein Stell-
vertreter soll Herr Abgeordneter Dr. Seffrin werden. Erste Beratung des von der Bundesregierung
Die Fraktion der SPD hat unter dem 23. April mit- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
geteilt, daß an Stelle des ausgeschiedenen Herrn dem Internationalen Weizen Übereinkommen
-

1962 (Drucksache IV/1169).


Abgeordneten Kühn (Köln) der Herr Abgeordnete
Bauer (Würzburg) ordentliches Mitglied im Europa- Das Wort zur Einbringung wird nicht gewünscht.
rat werden soll. Sein Stellvertreter soll der Herr — Keine Aussprache. Vorgesehen ist Überweisung
Abgeordnete Corterier werden. Für den verstorbe- an den Außenhandelsausschuß — federführend —,
nen Abgeordneten Altmaier soll als stellvertreten- an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und
des Mitglied der Abgeordnete Kahn-Ackermann Forsten — mitberatend —. — Kein Widerspruch; es
eintreten. ist so beschlossen.
Soweit 'die Vorschläge der Fraktionen. — Das Punkt 10 der Tagesordnung:
Haus ist einverstanden: Kein Widerspruch; es ist Erste Beratung des von der Bundesregierung
so beschlossen. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
Ich rufe auf Punkt 5 der Tagesordnung: dem Protokoll vom 16. Dezember 1961 über
Erste Beratung des von der Bundesregierung den Beitritt Dänemarks und anderer Mitglie-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der des Europarats zu dem Übereinkommen
dem Abkommen vom 20. September 1962 zwi- vom 17. April 1950 über Gastarbeitnehmer
schen der Bundesrepublik Deutschland und (Drucksache IV/1173) .
der Republik Ecuador über den Luftverkehr Das Wort zur Einbringung wird nicht gewünscht.
(Drucksache IV/1165). — Keine Wortmeldungen. Vorgesehen ist Überwei-
Wird das Wort zur Einbringung ,gewünscht? — sung an den Ausschuß für Arbeit. — Kein Wider-
Das Wort wird ,nicht gewünscht. Ich eröffne die Aus- spruch; es ist so beschlossen.
sprache. — Keine Wortmeldungen. Vorgesehen ist Punkt 11 der Tagesordnung:
Überweisung ,an den Ausschuß für Verkehr, Post
und Fernmeldewesen. — Kein Widerspruch; es ist Erste Beratung des von der Bundesregierung
s o beschlossen. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 6. September 1962 zwi-
Punkt 6 der Tagesordnung: schen der Bundesrepublik Deutschland und
Erste Beratung des von , der Bundesregierung der Republik Österreich über Zollerleichte-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu rungen im kleinen Grenzverkehr und im
dem Abkommen vom 19, März 1962 zwischen Durchgangsverkehr (Drucksache IV/1184).
der Bundesrepublik Deutschland und dem Das Wort zur Einbringung wird nicht gewünscht.
Australischen Bund über den Austausch von — Keine Aussprache. — Wortmeldungen liegen
Postpaketen (Drucksache IV/1166). nicht vor. Vorgeschlagen ist die Überweisung an
3396 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Präsident D. Dr. Gerstenmaier


den Außenhandelsausschuß. — Widerspruch erhebt die von der Bundesregierung vorgelegte
sich nicht; es ist so beschlossen. Verordnung zur Änderung der Verordnung
über die Verringerung von Abschöpfungs-
Punkt 12 der Tagesordnung: sätzen bei der Einfuhr von Eiprodukten
Beratung des Schriftlichen Berichts des Aus- (Drucksache IV/1017, IV/1155).
schusses für Kulturpolitik und Publizistik
(8. Ausschuß) über den von der Bundesregie- Der Abgeordnete Dr. Rinderspacher verzichtet
rung zur Unterrichtung vorgelegten Vor- auf eine Berichterstattung. — Das Wort wird nicht
schlag der Kommission der EWG einer ersten gewünscht. Wer dem Antrag des Außenhandelsaus-
Richtlinie auf dem Gebiet des Filmwesens schusses zustimmen will, den bitte ich um ein Hand-
(Drucksachen IV/619, IV/1170). zeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der
Antrag des Ausschusses ist angenommen.
Die Berichterstatterin Frau Dr. Maxsein verzichtet
auf einen Bericht. Wird das Wort gewünscht? — Punkt 16 der Tagesordnung:
Das ist nicht der Fall. Wer dem Antrag des Aus- Beratung der von der Bundesregierung vor-
schusses zustimmen will, gebe bitte din Handzei- gelegten Zweiten Verordnung über die Ver-
chen. — Gegenprobe! — Der Antrag des Ausschus- ringerung von Abschöpfungssätzen bei
ses ist angenommen. der Einfuhr von Eiprodukten (Drucksache
Punkt 13 der Tagesordnung: IV/1192).
Beratung des Schriftlichen Berichts des Fi- Wird dazu das Wort gewünscht? — Das Wort
nanzausschusses (14. Ausschuß) über den von wird nicht gewünscht. Vorgeschlagen ist die Über-
der Bundesregierung zur Unterrichtung vor- weisung an den Außenhandelsausschuß als feder-
gelegten Vorschlag der Kommission der führenden Ausschuß und an den Ausschuß für Er-
EWG für eine vom Rat der EWG zu erlas- nährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitbera-
sende Richtlinie zur Harmonisierung der tung. Widerspruch erhebt sich nicht; es ist so be-
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten be- schlossen.
treffend die Umsatzsteuern (Drucksachen
Punkt 17 der Tagesordnung:
IV/850, IV/1179).
Ich frage den Abgeordneten Dr. Dichgans als Be- Beratung des Antrags der Fraktion der FDP
richterstatter, ob er das Wort wünscht. — Der Herr betr. Kraftfahrzeugsteuer im Huckepackver-
Berichterstatter verzichtet. Ich bedanke mich dafür. kehr (Drucksache IV/1058).
Hierzu werden Erklärungen abgegeben. Ich Das Wort zur Einbringung wird nicht gewünscht.
schlage vor, daß diese Erklärungen zum Protokoll — Wortmeldungen zur Aussprache liegen nicht vor.
genommen werden. Die Erklärung der CDU/CSU- Der Finanzausschuß soll als federführender Aus-
Fraktion liegt vor *). Die übrigen Erklärungen wer- schuß mit dem Antrag befaßt werden, die Mitbe-
den nachgereicht und später zu Protokoll genom- ratung soll bei dem Ausschuß für Verkehr, Post-
men. Das Haus ist damit einverstanden. und Fernmeldewesen liegen. Widerspruch erfolgt
(Abg. D r. Schäfer: Herr Präsident, dann nicht; das Haus ist einverstanden.
bitte ich, eine Frist zu bestimmen und zu Punkt 18 der Tagesordnung:
gestatten, daß die Erklärung morgen nach
gereicht werden kann!) Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU, FDP betr. Bestallungsordnung für
— Herr Kollege Schäfer, wenn ich das sage, kön-
nen Sie es glauben. Dann verpfände ich mein Wort Ärzte (Drucksache IV/1147 [neu]).
gegenüber dem Haus. Niemand soll zu kurz kom- Wird das Wort gewünscht? — Das Wort wird
men. nicht gewünscht. Vorgeschlagen ist die Überweisung
an den Ausschuß für Gesundheitswesen. Es erhebt
Punkt 14 der Tagesordnung: - sich kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Beratung der Ubersicht 12 des Rechtsaus-
(Abg. Dr. Schäffer: Punkt 19, weiter
schusses (12. Ausschuß) über die dem Deut- machen! Sie sind so schön dabei, Herr
schen Bundestag zugeleiteten Streitsachen
Präsident!)
vor dem Bundesverfassungsgericht (Druck-
sache IV/1162). — Ich will Ihnen etwas sagen, meine Damen und
Herren, ich hätte nichts dagegen. Aber das ist ganz
Wird dazu das Wort gewünscht? — Das Wort
gegen die Vereinbarung; einer muß ja die Verein-
wird nicht gewünscht. Wer dem Antrag des Rechts-
barung halten.
ausschusses zustimmen will, den bitte ich um ein
Handzeichen. — .Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist für heute Schluß. Ich berufe die nächste
Der Antrag des Ausschusses ist angenommen. Sitzung des Hauses ein auf Donnerstag, den
Punkt 15 der Tagesordnung: 25. April 1963, 14.30 Uhr.
Beratung des Schriftlichen Berichts des Au Die Sitzung ist geschlossen.
ßenhandelsausschusses (17. Ausschuß) über
*) Siehe Anlage 5 (Schluß der Sitzuna: 21.20 Uhr.)
Berichtigungen
Es ist zu lesen:
70. Sitzung Seite 3179 D letzte Zeile, Seite 3180 A Zeilen 1, 16, 17, 26 statt „Gscheidle" : Höhmann
(Hessisch-Lichtenau); Seite 3238 A Zeile 3 statt „dieses Gesetzentwurfs": diesen Gesetzentwurf.
Deutscher Bundestag - 4. Wahlperiode - 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3397

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich

Liste der beurlaubten Abgeordneten Keller 3. 5.


Dr. h. c. Menne (Frankfurt) 10. 5.
Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller 13. 5.
Peters (Norden) 19. 5.
a) Beurlaubungen Dr. Starke 13. 5.
Anders 25. 4. Frau Vietje 31.5.
Dr. Artzinger 26. 4. Werner 30. 4.
Bauer (Würzburg) 24. 4. Zoglmann 31.5.
Blachstein 26. 4. Zühlke 30. 4.
Dr. Danz 25. 4.
Ehren 29. 4.
Eisenmann 26. 4.
Erler 26. 4.
Franke 27. 4.
26. 4. Anlage 2
Dr. Dr. h. c. Friedensburg
Haage (München) 7. 5. Schriftliche Ausführungen
Hahn (Bielefeld) * 24. 4.
Hansing 26. 4. Der Abgeordneten Frau Strobel zur Beratung des
Hellenbrock 27. 4. Antrages der Fraktion der SPD betreffend Enquete
Dr. Hesberg 24. 4. über die Situation der Frau in Beruf, Familie und
Frau Dr. Heuser 24.4. Gesellschaft (Drucksache IV/837).
Höfler 26. 4.
Illerhaus * 24. 4. Katalog von zusätzlichen Unterfragen, die ins
Jacobs 27. 4. besondere von der Enquete erfaßt werden sollen.
Dr. Jaeger 26. 4. Wie viele Frauen haben eine abgeschlossene Be-
Jaksch 26.4. rufsausbildung erhalten, und wie groß ist ihr Anteil
Frau Kipp-Kaule 26. 4. an der Gesamtzahl der Frauen?
Frau Krappe 26. 4. Welche Ausbildungsarten wurden gewählt?
Kraus 26. 4.
Dr. Kreyssig * 24. 4. Welche Arten der Berufsausbildung werden heute
Freiherr von Kühlmann-Stumm 24.4. von den in Ausbildung befindlichen Mädchen und
Lemmer 24. 4. Frauen bevorzugt?
Lohmar 30. 4. Wie viele Frauen, die keine Berufsausbildung ab-
Dr. Löhr 25. 4. geschlossen haben, sind in Anlernberufen ausge-
Lücker (München) 25. 4. bildet?
Dr. Mälzig 24. 4.
Dr. Martin 24. 4. Wie viele dieser Frauen haben eine Kurzausbil-
Dr. Mommer 26. 4. dung oder keine Ausbildung erhalten? Welche
Müller (Berlin) 26. 4. Gründe waren für die Kurzausbildung und für den
Müser 27. 4. Verzicht auf jede Berufsausbildung maßgebend?
Frau Dr. Pannhoff 24. 4. • Wie viele der erwerbstätigen Frauen mit abge-
Paul 26. 4. schlossener Berufsausbildung sind nicht in dem er-
Ramms 26. 4. - lernten Beruf tätig?
Sander 24. 4. Was kann getan werden, um eine bessere Vorbe-
Schultz 24. 4. reitung der Mädchen und Frauen auf Berufs- und
Dr. Wahl 24.4. Arbeitswelt zu ermöglichen?
Winkelheide 24. 4.
Dr. Winter 24. 4. Wie groß ist die Zahl der nicht erwerbstätigen
Wischnewski 24. 4. Frauen, die sich beruflich betätigen wollen?
Wittmer-Eigenbrodt 30. 4. Aus welchen Gründen wird eine Berufstätigkeit
gewünscht?
b) Urlaubsanträge
Von wie vielen Frauen wird für die Aufnahme
Bazille 14. 5. bzw. Wiederaufnahme der Berufstätigkeit
Dr. Böhm (Frankfurt) 30.4.
Corterier 30. 4. eine Anschlußausbildung,
Even (Köln) 18.5. eine Umschulung,
Figgen 15. 6.
Funk (Neuses am Sand) 25. 5. das Nachholen einer Ausbildung
gewünscht?
* Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Welche Maßnahmen der Ausbildungsförderung
Parlaments sind für diesen Personenkreis erforderlich?
3398 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Wie viele Frauen sind tätig Wie groß ist der Anteil der Erwerbstätigen
als unselbständige Erwerbstätige, a) bei verheirateten Frauen ohne Kinder,
als Selbständige, b) bei verheirateten Frauen mit Kindern (aufge-
gliedert nach Kinderzahl),
als mithelfende Familienangehörige,
c) bei ledigen, verwitweten und geschiedenen
als Hausfrauen ohne gleichzeitige Berufstätigkeit? Frauen ohne Kinder,
Wie verteilen sich die in abhängiger Beschäftigung d) bei ledigen, verwitweten und geschiedenen
tätigen Frauen auf die verschiedenen Berufe und Frauen mit Kindern (aufgegliedert nach Kin-
Wirtschaftszweige, und wie groß ist ihr jeweiliger derzahl)?
Anteil an der Beschäftigtenzahl? Wie lang ist die betriebliche Arbeitszeit (Wege-
Wie verteilen sich die Frauen, die zu dem Per- zeiten eingeschlossen) der erwerbstätigen Frauen
sonenkreis der Selbständigen und mithelfenden Fa- im Durchschnitt und aufgegliedert nach Gruppen?
milienangehörigen zählen, auf die verschiedenen Wie ist das Ausmaß und welches sind die Folgen
Berufs- und Wirtschaftszweige? der Doppelbelastung?
In welchen Berufs- und Wirtschaftszweigen wird Wo sind die Kinder inzwischen, wer versorgt sie,
ein Anstieg der Zahl der beschäftigten Frauen er- wer beaufsichtigt ihre Schularbeiten?
wartet, und wo ist mit einem Rückgang zu rechnen?
Was kann und muß zur Entlastung der Frauen ge-
Welche Gründe sind für die Entwicklung bestim- schehen, die gleichzeitig eine Tätigkeit in Haushalt
mend? und Beruf ausüben?
Welche Gründe sprechen für und welche gegen Aus welchen Gründen sind Frauen, die Kinder
eine Einflußnahme auf diese Entwicklung? oder pflegebedürftige Personen zu versorgen haben,
Wie viele Beschäftigte sind in Wirtschaft und erwerbstätig?
Verwaltung Wer würde aufhören zu arbeiten, wenn der Ehe-
als gelernte, mann ausreichend verdiente?
als angelernte und Welche verheiratete Frau arbeitet in ihrem erlern-
ten Beruf?
als ungelernte Welche macht einfache Arbeiten?
Kräfte beschäftigt
Wer macht die Wäsche? Wird sie weggegeben
a) bei den Frauen, oder belastet sich die Frau damit abends oder am
b) bei den Männern (absolute und Verhältnis- Wochenende?
zahlen) ? Was kann geschehen, um Frauen, die Kleinkinder
oder pflegebedürftige Personen zu versorgen haben,
Wie viele Frauen sind in Wirtschaft und Verwal-
von dem wirtschaftlichen Zwang zu befreien, .einem
tung in leitenden und in gehobenen Stellungen tätig, Erwerb außer Hause nachzugehen?
und wie groß ist ihr Anteil im Verhältnis zur Ge-
samtzahl der beschäftigten Frauen? Wie viele Frauen sind in Teilzeitarbeit (halbtags
oder an einzelnen Werktagen in der Woche) be-
Wieviele Männer sind in leitenden und in ge-
schäftigt, und wie verteilen sie sich nach Familien-
hobenen Stellungen tätig (absolute und Verhältnis- stand und Kinderzahl? Wie viele der voll beschäf-
zahlen) ? tigten Frauen, die Angehörige zu versorgen haben,
Was kann im Hinblick auf die Erleichterung des würden eine Teilzeitarbeit vorziehen? Wie viele
beruflichen Aufstiegs zur Fortbildung der Frauen nicht erwerbstätige Frauen würden eine Teilzeit-
getan werden? arbeit verrichten, wenn sich entsprechende Gelegen-
Inwieweit besteht heute die Möglichkeit, Urlaub heiten für sie bieten? Was kann geschehen, um auf
für die berufliche Fortbildung zu erhalten? eine zusätzliche Bereitstellung von Teilzeitarbeits-
plätzen hinzuwirken? Welche Folgen hat der Über-
Wie verhalten sich in den verschiedenen Berufs- gang von der Vollarbeit zur Teilzeitarbeit für die
gruppen und Wirtschaftszweigen die Durchschnitts- Sozialversicherungsrente?
löhne der Frauen zu den Löhnen der Männer?
Wie ist Art und Ausmaß der Kurbedürftigkeit bei
Wie haben sich die entsprechenden Verhältnis- MädchenuFra?
zahlen seit dem Inkrafttreten des Übereinkommens
Nr. 100 der Internationalen Arbeitsorganisation am Wie ist das Ausmaß und welches sind die Ur-
8.Juni1957(BGlIS23)verändt? sachen der Mütter- und Säuglingssterblichkeit?

Was ist erforderlich, um der Konvention Nr. 100 Was wissen wir über die Frühinvalidität, was
der Internationalen Arbeitsorganisation und dem wissen wir über die Unfälle in Haushalt und Beruf
Art. 119 des EWG-Vertrags, der den Grundsatz der sowie Berufskrankheiten?
Lohngleichheit von Mann und Frau bei gleicher In welchem Umfang ist Müttererholung und Haus-
Arbeit enthält, Geltung zu verschaffen? pflege möglich, in welchem Umfang nötig?
Wie gliedern sich die erwerbstätigen Frauen nach Wie lange dauert der Urlaub der Frauen, wo wird
Familienstand (ledig, verheiratet, verwitwet, ge- er verbracht, wie sind die Unterschiede aufgeteilt
schieden) und Kinderzahl? nach ledig, verheiratet, Mütter?
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3399

Was kann und muß zur Verbesserung der gesund- Wieweit ist der Wunsch der Frau nach außer
heitlichen Situation geschehen? häuslicher Berufstätigkeit verbreitet? Welche Ein-
stellung haben Frauen der verschiedenen sozialen
Wie ist speziell die Beanspruchung der in der Schichten zu ihrer Arbeit? Welche Motivationen,
Landwirtschaft tätigen Frau? seien sie wirtschaftlicher oder psychologischer Art,
Wie viele Frauen sind in der Landwirtschaft bestehen für Frauen- und Mütterarbeit? Welche
Einstellung zeigen die Ehemänner zur Berufstätig-
als Selbständige,
keit ihrer Frauen? Besteht ein Zusammenhang zwi-
als mithelfendes Familienmitglied, schen der Berufstätigkeit der Frauen und der Ge-
als Unselbständige burtenziffer? Ist beispielsweise der Wunsch nach
Beibehaltung eines Berufes von Einfluß auf die
tätig? Frage der Geburtenregelung?
Wie viele Frauen leiten landwirtschaftliche Be- Welchen Einfluß und welche Auswirkungen hat
triebe? die Berufstätigkeit von Müttern auf die verschiede-
Wie viele landwirtschaftliche Nebenerwerbsbe- nen Altersgruppen von Kindern? Auf Kleinkinder,
triebe werden überwiegend von Frauen ohne stän- auf schulpflichtige Kinder im Alter von 6 bis 10, im
digen Einsatz männlicher Arbeitskräfte bewirt- Alter von 10 bis 15 Jahren? Welchen Einfluß hat die
schaftet? Berufstätigkeit von Müttern auf die Entwicklung
der Kinder (positiv/negativ)? In welcher Zeit, in
In welchem Umfang verfügen die landwirtschaft- welchem Ausmaß brauchen Kinder die Pflege, Liebe
lichen Betriebe über technische Erleichterungen für und Aufmerksamkeit der Mutter in den verschiede-
die Arbeit der Frau? nen Altersstufen am meisten?
Wie groß sind die Anzahl und der Anteil der Wie verbringen Frauen im Alter von 45 bis 65
Bäuerinnen, die Jahren, die nicht erwerbstätig sind, ihre Zeit? Wie
in der gesetzlichen Krankenversicherung, verbringen ältere Frauen ihren Lebensabend,
welche Wünsche, Vorstellungen und Erwartungen
in der privaten Krankenversicherung, haben sie?
nicht krankenversichert sind? Gibt es Beweise für die Behauptung, daß die Ge-
Wie ist der Gesundheitszustand der Frauen in der sundheit der berufstätigen Frauen generell schlech-
Landwirtschaft (Bäuerinnen und unselbständig Er- ter ist als die der berufslosen Hausfrauen? Lebt die
werbstätige)? Hausfrau z. B. gesünder? Oder ist sie in gleicher
Weise gesundheitlich gefährdet, wie andere be-
Wie ist die gesundheitliche Belastung der Frauen
haupten?
in der Landwirtschaft?
Wie ist die Altersversorgung der Frauen:
Wie hoch oder wie niedrig ist der Prozentsatz der
in der Landwirtschaft tätigen Frauen, die einen Ur- a) woher erhalten Frauen Einkommen bzw.
laub verbringen? Renten im Alter,
In welchen Abständen, b) wie hoch bzw. wie niedrig ist dieses Einkom-
men?
wie lange dauert er,
wie wird er verbracht?
Wie viele Frauen leben allein?
Wie viele mit älteren Verwandten?
Anlage 3 Umdruck 247
Welche privaten Kontakte bestehen (zur Ver--
wandschaft, zu Freunden, zu anderen Familien)? Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
Wie oft werden sie zu Hausfesten bei Freunden zu dem Antrag der Fraktion der SPD betr. Enquete
und Bekannten eingeladen? über die Situation der Frau in Beruf, Familie und
Gesellschaft (Drucksache IV/837).
Fühlen sie sich vereinsamt und übergangen?
Der Bundestag wolle beschließen:
Was tun sie selbst, um die Isolierung zu über-
winden? (Mitgliedschaft in Verbänden, Parteien, 1. Der erste Abschnitt wird mit der Bezeichnung
Teilnahme am öffentlichen Leben, Übernahme ehren- „A" versehen.
amtlicher Funktionen?) 2. In Satz 1 dieses Abschnittes wird die Zahl „1963"
durch „1964" ersetzt; Satz 2 wird gestrichen.
Was tun Frauen in der Freizeit?
3. Der zweite Abschnitt wird mit der Bezeichnung
Würden sie sich am öffentlichen Leben stärker „B" versehen.
beteiligen, wenn
4. Satz 1 dieses Abschnittes wird durch folgende
a) Gelegenheiten in der Nähe wären, Fassung ersetzt:
b) ihnen jemand sagen würde, wo Bedarf an ihrer „Die Untersuchung soll sich unter Verwendung
Mitarbeit ist, bereits vorhandenen Materials und seiner doku-
c) Hilfen für den Start gegeben würden? mentarischen Erfassung sowie mit Hilfe weiterer
3400 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

Erhebungen über die sozialen Verhältnisse der Anlage 4


Bevölkerung auf folgende Bereiche erstrecken:"
Schriftliche Ausführungen
5. In Nummer 1 werden die Worte „Beschäftigung
im Berufs- und Arbeitsleben" durch die Worte der Abgeordneten Frau Kalinke zu der Beratung des
„Berufs- und Erwerbstätigkeit" ersetzt. Antrages der Fraktion der SPD betreffend Enquete
über die Situation der Frau in Beruf, Familie und
6. Die Nummern 4 bis 6 werden durch folgende
Gesellschaft (Drucksache IV/837)
Fassung ersetzt:
"C. Der Bericht der Bundesregierung möge die A Vertiefung der Statistik
Maßnahmen und Leistungen aufzeigen, Wir wollen mehr wissen über die Situation der
durch die der besonderen Situation der Frau Frauen und die Möglichkeiten zur Verbesserung
in Beruf, Familie und Gesellschaft schon ihrer Lage durch
jetzt Rechnung getragen wird, insbesondere
in den Bereichen des Arbeitslebens, der so- 1. die Vertiefung und Verbesserung der Gesund-
zialen Sicherung, des Gesundheitswesens, heitsstatistik,
der Familienpolitik und der Wohnungspoli- 2. eine zuverlässige Morbiditätsstatistik,
tik.
3. erweiterte Erhebungen über die Mütter- und
Alle Leistungen für die Familienpolitik sind Säuglingssterblichkeit.
in ihrer Gesamtheit darzustellen.
D. Die Bundesregierung wird ferner beauftragt, Wir brauchen:
die besondere Situation der in der Land- 4. Vertiefung der Leistungsstatistiken der Kran-
wirtschaft tätigen Frau zu untersuchen und kenversicherungsträger in bezug auf Leistungen,
einen Bericht über Maßnahmen deis Grünen la) für Versicherte (Männer und Frauen), getrennt
Planes zur Verbesserung der Arbeits- und nach Versicherungspflichtigen, Versicherungs-
Lebensverhältnisse der weiblichen länd- berechtigten und freiwillig Weiterversicher-
lichen Bevölkerung sowie der vorhandenen ten,
und geplanten Rationalisierung und Mo-
dernisierung der landwirtschaftlichen Haus- b) für mitversicherte Angehörige der unter a)
halte vorzulegen. genannten Personenkreise unter besonderer
Darstellung der Kosten für ärztliche Behand-
E. Die Bundesregierung wird gebeten, die Lage lung, für Arznei- und Heilmittel,
in bezug auf die Beschaffung von Arbeits-
kräften für Haus, Familie und Anstalten un- 5. Entwicklung einer Arbeitsunfähigkeitsstatistik
ter der Berücksichtigung der möglichn Zu- für Männer und Frauen, getrennt nach Arbeitern
führung von Gastarbeiterinnen darzustellen und Angestellten, Pflicht- und freiwillig Weiter-
und eine Verbesserung anzustreben, die Be- versicherten,
deutung der Teilzeit- und Aushilfsarbeit für
6. Vertiefung der Rentenstatistik durch Angaben
Frauen zu untersuchen sowie Feststellungen
über Rentenversicherte und Rentenempfänger,
über die Ausbildungs- und Weiterbildungs-
getrennt nach Männern und Frauen, insbeson-
möglichkeiten für Mädchen und Frauen ein-
dere über
schließlich der Erwachsenenbildung zu tref-
fen. a) Zahl und Struktur der Versicherten und Ren-
F. Die Bundesregierung wird weiterhin beauf- tenempfänger,
tragt, als Voraussetzung künftiger Beobach- b) Zahl der freiwillig Weiterversicherten,
tung laufende und künftige Statistiken auf c) Anteil der Frauen Ian dem vorzeitigen Bezug
die Situation der Frau und ihren differen- von Renten,
zierteren Lebensweg auszurichten, insbeson-
dere die Leistungsstatistik der Krankenver- d) Auswirkung der vorgezogenen Altersgrenze
sicherungsträger, die Arbeitsunfähigkeits- für Frauen,
Statistik, die Rentenstatistik und die Ge- 7. Ausgestaltung laufender und künftiger Reprä-
sundheitsstatistik zu vertiefen und zu ver- sentativ-Erhebungen (z. B. Mikrozensus) für
bessern, sowie begriffliche und methodische Feststellungen über die Zahl der Haus/Land-
Grundlagen für Erhebungen zu entwickeln, frauen,
die inner- und überstaatliche Vergleichs-
arbeiten ermöglichen. a) die in den RVO- und Ersatzkassen selbst
krankenversichert sind,
G. Der Bericht der Bundesregierung möge Ab-
sichten und Vorhaben zur Verbesserung der b) die Ansprüche aus der Familienhilfe an einen
Situation der Frau in Beruf, Familie und Träger der getsetzlichen Krankenversicherung
Gesellschaft, auch im Rahmen der Eigen- haben,
tumspolitik, deutlich machen." c) die in der privaten Krankenversicherung ver-
sichert sind,
Bonn, den 23. April 1963 i d) die eine Rente aus der Selbstversicherung bei
einem Träger der gesetzlichen Rentenver-
Dr. von Brentano und Fraktion sicherung erhalten,
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3401

e) die aus der freiwilligen Weiterversicherung tieft werden müßte. Wir erwarten von ihr Unter
eine Rente erhalten, lagen, die die unterschiedlichen Leistungen etwa
der stammversicherten berufstätigen Frauen, der
f) )die als Witwe oder geschiedene Frau aus der
freiwillig Weiterversicherten, der Witwen ohne Be-
Versicherung ides Ehemannes Hinterbliebe- ruf oder der Hausfrauen, die die Familienhilfe in
nenrente erhalten,
Anspruch nehmen und nur im Haushalt berufstätig
g) bei denen mehrere Renten aus Versicherung sind, deutlich machen. Nur eine solch differenzierte
und Versorgung zusammentreffen (Renten- Statistik wird wesentliche Aussagen für die Zukunft
kumulierung), machen können, um Irrtümer bei der Betrachtung
h) die aus privaten Pennsions- oder Rentenver- der Teilzeitarbeit wie der Frauenarbeit überhaupt
sicherungen Ansprüche an die Individualver- auszuschließen.
sicherung haben, Patentlösungen, die für alle gedacht, für alle prak-
i) die als ältere Landfrauen Leistungen aus der tikabel und für alle erreichbar sind, gibt es sicher-
Altershilfe für die Landwirtschaft erhalten. lich nicht. Es wird notwendig sein, elastischere
Systeme zu entwickeln, die Anpassungen nach allen
Seiten ermöglichen, wobei wiederum die Sozialpart-
B Teilzeitarbeit ner, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, es an Ideen
Unsere heutige Debatte muß daher auch den Sinn nicht fehlen lassen dürfen.
haben, nicht nur die Vielschichtigkeit und Mehr- Die Anpassung der Wirtschaft an das Verlangen
wertigkeit unseres Themas zu beleuchten, sondern der Frau nach Teilzeitarbeit ist eine Voraussetzung
auch mögliche Lösungen aufzuzeigen. Wenn nur
für das Gelingen dieser Aufgabe. Elisabeth Pfeil hat
wenige Naturen in günstiger Konstellation die dau- in ihrer großen Untersuchung über die Berufstätig-
ernde Berufsausübung auf befriedigende Weise mit keit von Müttern wörtlich gesagt, daß „Halbtags-
der mütterlichen und lebendigen Aufgabe der Haus- arbeit seit 60 Jahren vorgeschlagen und gefordert,
frau und Gefährtin vereinbaren können, haben wir um den Konflikt zwischen mütterlichen und beruf-
die anderen und ihre Familien vor Schaden zu
lichen Pflichten zu lösen, wütend bekämpft von den
schützen. Die sich ergebenden Belastungen sind um
einen, als die Lösung gepriesen von den anderen,
so unterschiedlicher, je nachdem, in welcher Zeit wiederholt erprobt und dennoch nicht aus der
und für welche Dauer die Mütter den Beruf zusätz-
Sphäre der Vorurteile und vagen Vorstellungen zu
lich ausüben. Die Schwierigkeiten werden unter
gesicherter Anschauung gehoben".
Umständen größer bei denjenigen sein, die den Be-
ruf nicht als Dauerlösung ansehen, als bei denjeni- Wenn man die Gründe pro und contra Teilzeit-
gen, die von Anfang an auf Berufstätigkeit einge- oder Halbtagsarbeit untersucht, dann würde das
stellt waren. allein die Debatte eines Tages füllen können. Es
gibt viele gute Gründe für die Halbtagsarbeit der
Das Pochen auf viele Erleichterungen kann dann
berufstätigen Frauen, wie es begründete Einwände
nicht helfen, wenn in der jungen Ehe mit kleinen
der Arbeitgeber und Gewerkschaften gibt. Fast alle
Kindern die Mutter im Grunde ins Haus gehört.
Gewerkschaften teilen mit den Frauenverbänden
Hier beginnt die Überlegung all der Vorschläge, die
auch die Sorge, daß übertriebene Sonderregelungen
wir unter dem Begriff „Teilzeit- und Halbtagsarbeit"
für Mütter zur Geringschätzung der Frauenarbeit
kennen und die für die junge Frau wie für diejeni-
führen können, und die Besorgnis, daß Frauenarbeit
ge, die nur für gewisse Zeit aus der Berufsarbeit
nur in der unteren Ebene ohne Aufstiegschancen
ausscheidet, interressant ist.
gefördert wird, bestärken.
Es ist kein Zweifel, daß bestimmte soziale Posi-
Es muß sichergestellt werden, daß Halbtagsarbeit
tionen und Grundeinstellungen, Verhaltensweisen
auch wirtschaftlich lohnend ist und daß sie denjeni-
und Konstitution bei manchen Typen schwere Be-
lastungen zur Folge haben. Patentlösungen gibt es- gen, die sie — aus welchen Gründen auch immer —
bevorzugen, nicht Schaden, sondern Vorteile bringt.
weder mit der Teilzeitarbeit noch mit größeren
Diese Vorteile brauchen nicht nur im Materiellen
Schutzvorschriften für alle berufstätigen Mütter.
zu liegen; sie können auch bedeuten, daß die Frau
Schon in den Jahren 1953/54 hat das Bundesmini- durch den Kontakt mit Beruf und Welt ihren Ge-
sterium für Arbeit eine große Erhebung zum Thema: sichtskreis erweitert, eine Isolierung überwindet
„Möglichkeit und Zweckmäßigkeit der Einrichtung und neben der Verbesserung des Familieneinkom-
von Teilzeitarbeit für Frauen in den verschiedenen mens, das sehr oft der Ausbildung der Kinder zu-
Berufen" eingeleitet, die 1956 veröffentlicht ist. gute kommt, auch aufgeschlossen wird für die ehren-
Der schon erwähnte Bericht des Rationalisierungs- amtlichen Aufgaben im öffentlichen Leben.
kuratoriums für die deutsche Wirtschaft wird diese Die Probleme des Versicherungsschutzes, die Er-
Erfahrungen sicher vertiefen. haltung erworbener Ansprüche, die Garantie der
Sowohl auf dem Gebiet der Müttersterblichkeit möglichen Sicherheit auch auf dem Arbeitswege,
wie der Frühinvalidität ist keineswegs eindeutig z. B. durch die Unfallversicherung, sollte hier selbst-
erwiesen, daß die Mitarbeit der Ehe- und Haus- verständliche Voraussetzung sein.
frauen das Anwachsen der Frühinvalidität beein- Mit der Teilzeit- und Halbtagsarbeit muß auch das
flußt. große Problem der Aushilfsarbeit, das noch dringend
Von besonderem Aussagewert ist auch die Sta- der Vereinfachung bedarf, angesprochen werden.
tistik der Krankenversicherung, die dringend ver Nicht nur die angespannte Arbeitsmarktlage, son-
3402 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

dern auch der saisonbedingte Bedarf, vor allem im eine eigene Wohnung zu finden, deren Miete im
Handel, haben das Interesse an Aushilfsarbeits- angemessenen Verhältnis zum Einkommen steht.
kräften geweckt.
Die unlängst im Norddeutschen Rundfunk Besen-
Viele verheirate, ehemals berufstätige Frauen dete Reportage über die Kosten, die von alleinste-
würden gern auch während ihrer Ehe noch einmal henden Frauen für eine freigebaute Wohnung auf-
kurzfristig zur Aushilfe oder zur Urlaubsvertretung gebracht werden müssen, hat deutlich gezeigt, wo
bereit sein, ein Problem, das gerade unseren Kran- in Zukunft noch angesetzt werden muß. Nachdem es
kenanstalten sehr zugute kommen oder den Handel den Frauenorganisationen gelungen ist, darauf zu
wesentlich entlasten könnte, wenn die gesetzlichen wirken, daß Wohnungsgenossenschaften auch Klein
Bestimmungen möglichst unkompliziert und die Frei- Wohnungen und Eigentumswohnungen bauen, sind
grenzen möglichst einheitlich gestaltet werden könn- diese Wohnungen zum Teil schwer zu vermieten
ten. Die augenblickliche Unterscheidung zwischen oder zu verkaufen, weil die Durchschnittseinkom-
gelegentlich beschäftigten Aushilfskräften und regel- men der weiblichen Angestellten, der Beamtinnen
mäßig kurzfristig beschäftigten Arbeitshilfskräften und Arbeiterinnen, besonders aber die Bezüge der
mit geringfügigem Entgelt ist nicht nur für die Be- Witwen und alleinstehenden Frauen mit Familien-
triebe, sondern auch für die Beteiligten höchst kom- angehörigen nicht für die Finanzierung ausreichen.
pliziert.
Die gesetzlichen Bestimmungen schließen zwar
Die Diskussion über die Abstimmung der Frei- die Aufnahme von Alleinlebenden in öffentlich
grenze für die Aushilfsarbeit in der Kranken-, geförderte Wohnungen nicht grundsätzlich aus; im
Arbeitslosen- und Rentenversicherung bietet sich allgemeinen stehen jedoch den alleinlebenden
daher an, wie überhaupt das Problem der Anrech- Frauen, die noch keine Wohnungsinhaber sind, nur
nungsbestimmungen auch in diesem Zusammenhang die Wege über den freifinanzierten Wohnungs-
überprüft werden sollte. markt offen, der bei der ständigen Baukostensteige-
rung ihnen keine preisgerechten Angebote machen
Das öffentliche Gespräch über die Frage zeigt, daß kann. Nur in besonderen Fällen sind die Bauträger
die Aushilfskräfte und ihre Arbeitgeber beide daran aufgeschlossen, auch im sozialen Wohnungsbau
interessiert sind, ein möglichst einfaches System kleine Wohnungen preisgebunden zu bauen.
ihrer Versorgung zu haben, wobei es den Frauen
vor allen Dingen auf bares Geld ankommt und weni- Der Stand der Versorgung der alleinstehenden
ger darauf, in der Zeit der Aushilfstätigkeit Ver- Frauen hängt also, wie in „Wirtschaft und Statistik"
sicherungsansprüche zu -erwerben, die doch wegen bei der Kommentierung der 1 % igen Wohnungs-
der Wartezeiten in bezug auf die kurzfristige Tätig- stichprobe von 1960 dargestellt wird, entscheidend
keit in der Regel nicht zu realisieren sind. Je ein- davon ab, ob die Frau zu einem früheren Zeitpunkt
facher die Bedingungen für die Aushilfskräfte sind, verheiratet war oder nach dem Tode des Ehepart-
desto mehr wird von Frauen, deren Familienver- ners oder der Eltern eine Wohnung übernehmen
pflichtungen es zulassen, die Chance der Aushilfs- kann. Viele ältere Frauen sind gezwungen, oft eine
tätigkeit genutzt werden. Ein bei dem großen Man- unnötig große Wohnung zu behalten, die sie aller-
gel an Arbeitskräften sicher noch nicht genügend dings mit Untermietern teilen und wodurch sie
genutztes Reservoir! manchem ledigen Mann helfen. Eine neue Woh-
nung auf dem freien Markt zu bekommen ist nur
Wohnungswesen und Eigentumsbildung einem ganz geringen Prozentsatz alleinlebender
,Frauen der höheren Einkommensgruppen möglich.
Von großem Interesse sind die Ergebnisse der Das ist auch der Grund, weshalb der Anteil der
letzten statistischen Erhebungen und Auswirkungen Untermieter mit steigendem Einkommen zunächst
der Wohnungsstatistik. Wenn 1960 von 3,2 Mil- langsam abnimmt.
lionen Einzelpersonen-Haushalten 2,3 Millionen Daß in der Altersgruppe der unter 40jährigen
Haushalte weiblicher Einzelpersonen ermittelt wur- - 77 % alleinlebende Frauen noch in Untermiete leben
den, ist erkennbar, in welch großem Maße dem An- und nur 23 % Wohnungsinhaber sind, ist aus vieler-
liegen und Bedürfnis der Frauen in Beruf und Fami- lei Gründen bedauerlich.
lie auf dem Wohnungssektor schon Rechnung ge-
tragen worden ist. Hier erwachsen der Sozialpolitik von morgen neue
und besondere Aufgaben. Es würde uns sehr inter-
Wenn von diesen 2,3 Millionen weiblichen Ein- essieren, wieweit die Rentenabfindungen in der
zelpersonen 44,2 % Hauptmieter einer Wohnung, Kriegsopferversorgung, bei der Unfallversicherung
19,4% sogar Eigentümer waren, ist nur der Rest wie beim Lastenausgleich zum Erwerb einer eigenen
von 36,4 % zu den Untermietern zu zählen. Wohnung verwandt worden sind und wieviel jüngere
Angesichts der laufend gestiegenen Einkommen und ältere Frauen, vor allem solche, die Haushal-
erscheint es sicherlich auf den ersten Blick etwas tungsvorstand sind und eine unvollständige Familie
merkwürdig, daß fast 50 % der erwerbstätigen zu versorgen haben, davon betroffen sind. Was
Frauen noch in Untermiete leben, während bei den die unvollständigen oder Halbfamilien angeht, so
nicht Erwerbstätigen nur etwa ein Drittel nicht im meine ich nicht nur die allein gebliebenen Frauen
Besitz einer eigenen Wohnung war. Die Gründe für mit ihren Kindern, sondern auch die alleinstehenden
diese Verteilung liegen zum Teil in der noch ange- Frauen, die für Eltern und Geschwister sorgten und
spannten Lage auf dem Wohnungsmarkt, die es mit ihnen die Lebensgemeinschaft teilten.
alleinlebenden Frauen, die noch nicht im Besitz Es ist nicht zuletzt unsere Initiative, deren Ergeb-
einer Familienwohnung sind, sehr schwer macht, nis wir begrüßen, wenn im § 28 des zweiten Woh-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963 3403

nungsbaugesetzes vom 27. Juni 1956 betont ist, daß Neben den Zöllen, die nach dem Vertrag im Jahre
„in angemessenem Umfang auch die Wohnbedürf- 1970 verschwinden werden, sind es hauptsächlich
nisse von alleinstehenden, von berufstätigen Frauen die Steuerunterschiede, die den freien Warenver-
mit Kindern und älteren Ehepaaren zu berücksich- kehr hemmen. Solange jeder Mitgliedstaat auch im
tigen sind". Auch im § 39 des Zweiten Wohnungs- Verkehr mit den übrigen Mitgliedstaaten der EWG
baugesetzes ist diese Fürsorge für die Alleinstehen- für Waren, die sein Staatsgebiet verlassen, eine
den besonders hervorgehoben und hinsichtlich der Ausfuhrrückvergütung gewährt, und Waren, die in
Wohnungsgröße kommentiert. das Staatsgebiet hereinkommen, mit einer Umsatz-
Es ist eine spezielle Aufgabe der Länder und Ge- ausgleichsteuer belegt, müssen alle Waren an der
meinden, die für die Durchführung der Wohnungs- Grenze angehalten, geprüft, bewertet und versteuert
bauprogramme zuständig sind, daß diese Forderung werden. Die Steuergrenzen, die sich dabei ergeben,
auch beachtet wird, und es ist ein wichtiges Anlie- hemmen den Warenfluß in manchen Fällen weit
gen aller Betriebe, insbesondere also der Arbeit- stärker als die alten Zollgrenzen. Diese Steuer-
geber, dafür zu sorgen, daß bei der Finanzierung grenzen müssen also verschwinden. Neben der wirt-
der kleinen Wohnungen, die bekanntlich durch die schaftlichen Notwendigkeit, den freien Warenver-
Installation verhältnismäßig teurer sind als die kehr zu fördern, steht dabei die politische Notwen-
digkeit, die Kontrollen an der Grenze, die auch den
größeren Wohnungen, die Finanzierungslücke auch
für die weiblichen Arbeitnehmer durch Arbeitgeber- Personenverkehr behindern, zu beseitigen. Erst beim
Verschwinden aller Grenzkontrollen erreichen wir
darlehen aufgefangen werden kann.
den einheitlichen europäischen Raum, den wir er-
Zur Zeit sind die Klagen der alleinstehenden streben.
Frauen berechtigt, die — wenn sie jung sind — ein
Die EWG-Kommission will ihr Ziel durch die
Arbeitgeberdarlehen für diesen Zweck nicht erhal-
stufenweise Umstellung der Umsatzsteuer auf das
ten, weil man mit ihrer Heirat rechnet und die —
System der Mehrwertsteuer erreichen. Am Ende soll
wenn sie alt sind — erst recht keine Chance haben,
ein einheitliches System mit einheitlichen Sätzen
weil man mit ihrer frühzeitigen Invalidisierung zu
stehen, das die Beseitigung der Steuergrenzen auto-
rechnen pflegt.
matisch zur Folge haben soll. Es ist zu begrüßen,
Es sollte geprüft werden, wieweit beim Erwerb wenn das Ziel auf diese Weise erreicht wird. Die
von Wohnungseigentum auch den Alleinstehenden, von der EWG-Kommission vorgesehene Methode ist
besonders aber den Alleinstehenden mit Familien- jedoch nur eine der möglichen. Entscheidend ist die
verpflichtungen größere steuerliche Anreize gebo- Erreichung des Ziels, die Beseitigung der Steuer-
ten werden können, als sie zur Zeit über die Bau- grenzen.
sparprämien und die Steuererleichterungen nach den
Dieses Ziel ist in der Richtlinie der EWG-Kom-
§§ 7 b und 7 c des Einkommensteuergesetzes gege-
mission ein zeitlich unbestimmtes Fernziel, das erst
ben sind.
zu einem späteren Zeitpunkt konkret angesprochen
werden soll, wenn die zunächst vorgeschlagene
Harmonisierung der Steuersysteme abgeschlossen
ist. Nun haben die Harmonisierungsbestrebungen nur
dann wirtschaftlich und politisch einen Sinn, wenn
Anlage 5 ihnen die Beseitigung der Steuergrenzen folgt. Diese
Umstellung, die das Kernziel der Aktion darstellt,
Erklärung
darf also nicht im Ungewissen bleiben, sondern muß
der Fraktion der CDU/CSU zur Beratung des jetzt schon konkret, auch dem Termin nach, fest-
Schriftlichen Berichts ides Finanzausschusses (14. gelegt werden. Deshalb billigt die Fraktion der
Ausschuß) über den von der Bundesnegierung zur CDU/CSU den Entschließungsentwurf, der die Besei-
Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der Kommis- tigung der Steuergrenzen gleichzeitig mit der Besei-
sion der EWG für eine vom Rat der EWG zu erlas- tigung der Zollgrenzen fordert und die Umstellung
sende Richtlinie zur Harmonisierung der Rechts- auf die Mehrwertsteuer beschleunigen will.
vorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die Um-
satzsteuern (Drucksachen IV/850, IV/1179).
Die Fraktion der CDU/CSU begrüßt es, daß die
EWG-Kommission di e Initiative ergriffen und dem Anlage 6
BWG-Ministerrat Richtlinien vorgelegt hat, die die
Umsatzsteuer der Mitgliedstaaten durch Umstel- Schriftliche Antwort
lung auf das System der Mehrwertsteuer vereinheit-
-
lichen und das heutige System der steuerlichen Ent des Herrn Staatssekretärs Dr. Steinmetz vom
und Belastungen beim Überschreiten einer Grenze 29. März 1963 auf die Mündliche Anfrage des Abge-
zwischen den Mitgliedstaaten beseitigen sollen. ordneten Ertl Drucksache IV/1093 Frage XI/2 `:
Wäre es nicht zweckmäßig, wenn vor Ausstrahlung des 3. Fern-
Das Ziel der Römischen Verträge, die Errichtung sehprogramms zunächst dafür gesorgt würde, daß die Voraus-
setzungen für den Empfang des 2. Fernsehprogramms überall
eines großen Gemeinsamen Marktes in Europa, in gegeben sind?
dem der Warenverkehr ebenso ungehindert fließen
Der weitere Ausbau des Fernsehnetzes für das
kann wie in einem Binnenmarkt, kann nur erreicht
2. Programm wird durch die Errichtung von Fern-
werden, wenn alle Behinderungen fortfallen, die
heute das Überschreiten einer Grenze erschweren. *) Siehe 70. Sitzung Seite 3178 C
3404 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. April 1963

sehsendeanlagen zur Ausstrahlung eines 3. Fern-


sehprogramms nicht beeinträchtigt. Die Sender für
das 3. Programm werden an den gleichen Stand-
orten wie die für das 2. Programm errichtet, so daß
für das 3. Programm im wesentlichen lediglich
Sendeanlagen zu beschaffen sind. Die Beschaffung
von Sendeanlagen bereitet aber keine besondere
Schwierigkeit. Schwierigkeiten bereiten jedoch die
Erstellung der für beide Netze gemeinsam erforder-
lichen Hoch- und Stahlbauten, die wegen der äußerst
angespannten Lage auf dem Baumarkt nicht weiter
beschleunigt werden kann.

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