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Eutscher Bundestag: Stenographischer Bericht 98. Sitzung
Eutscher Bundestag: Stenographischer Bericht 98. Sitzung
Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht
98. Sitzung
Inhalt:
Nachruf auf das ehemalige Mitglied des - zu dem Antrag der Abgeordneten
Deutschen Bundestages Bundesministerin Dr. Edith Niehuis, Christel Hane-
a. D. Käthe Strobel 8651 A winckel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD: Vierte
Gedenkworte für die Opfer der Brandka- Weltfrauenkonferenz der Verein-
tastrophe auf dem Düsseldorfer Flugha- ten Nationen vom 4. bis 15. Sep-
fen 8651 D tember 1995 in Peking
e) Erste Beratung des von der Bun- m) Antrag des Bundesministeriums der
desregierung eingebrachten Ent- Finanzen: Einwilligung gemäß § 64
wurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
kommen vom 20. März 1995 zwi- in die Veräußerung eines Grund-
schen der Regierung der Bundesre- stücks in Berlin-Steglitz (Drucksa-
publik Deutschland und der Regie- che 13/4218) 8721 B
rung der Republik Polen über die
Seeschiffahrt (Drucksache 13/4046) 8720 C n) Antrag des Bundesministeriums der
Finanzen: Einwilligung gemäß § 64
f) Erste Beratung des von der Bun- Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
desregierung eingebrachten Ent- in die Veräußerung eines Grund-
wurfs eines Gesetzes zu dem Ab- stücks in Berlin-Charlottenburg
kommen vom 24. April 1995 zwi- (Drucksache 13/4256) 8721 B
schen der Regierung der Bundesre-
publik Deutschland und der Regie-
rung der Demokratischen Volksre- Tagesordnungspunkt 17:
publik Algerien über die Seeschif-
fahrtsbeziehungen (Drucksache 13/ Abschließende Beratungen ohne Aus-
4047) 8720C sprache
g) Antrag der Abgeordneten Walter
Kolbow, Brigitte Schulte (Hameln), a) Zweite und dritte Beratung des vom
weitrAbgodnue Bundesrat eingebrachten Entwurfs
Fraktion der SPD: Einberufung von eines Gesetzes zur Änderung des
Wehrpflichtigen nach der Lehre Gewerbesteuergesetzes (Drucksa-
oder Berufsausbildung (Drucksache chen 13/2835, 13/4043, 13/4045) . . 8721C
13/3761) 8720C
b) Beschlußempfehlung und Bericht des
h) Antrag der Abgeordneten Gerhard Ausschusses für Umwelt, Natur-
Zwerenz, Heinrich Graf von Ein- schutz und Reaktorsicherheit zu der
siedel, weiterer Abgeordneter und Unterrichtung durch die Bundesre-
der Gruppe der PDS: Fortsetzung gierung: Vorschlag für eine Richtli-
der konventionellen Abrüstung in nie des Rates zur Änderung der
Europa (Drucksache 13/3987) . . . 8720D Richtlinie 76/895/EWG des Rates
vom 23. November 1976 über die
i) Antrag der Abgeordneten Freimut Festsetzung von Höchstgehalten an
Duve, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Rückständen von Schädlingsbe-
weiterer Abgeordneter und der kämpfungsmitteln auf und in Obst
Fraktion der SPD: Förderung unab- und Gemüse, der Richtlinie 86/362/
hängiger Medien in Bosnien-Herze- EWG des Rates vom 24. Juli 1986
gowina (Drucksache 13/4083) . . . 8720D über die Festsetzung von Höchstge-
halten an Rückständen von Schäd-
j) Antrag der Abgeordneten Freimut
lingsbekämpfungsmitteln auf und in
Duve, Rudolf Bindig, weiterer Abge-
Getreide, der Richtlinie 86/363/EWG
ordneter und der Fraktion der SPD:
des Rates vom 24. Juli 1986 über die
Koordinierung der Aufnahme von
Festsetzung von Höchstgehalten an
Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlin-
Rückständen von Schädlingsbe-
gen in der Europäischen Union -
kämpfungsmitteln auf und in Le-
Schaffung eines Europäischen
bensmitteln tierischen Ursprungs
Flüchtlingskommissariats - (Druck-
und der Richtlinie 90/642/EWG des
sache 13/4084) 8720D
Rates vom 27. November 1990 über
k) Antrag des Bundesministeriums der die Festsetzung von Höchstgehalten
Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 an Rückständen von Schädlings-
Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung bekämpfungsmitteln auf und in
in die Veräußerung der bundeseige- bestimmten Erzeugnissen pflanzli-
nen Wohnsiedlung Dr.-Martin-Lu- chen Ursprungs einschließlich Obst
ther-King-Village in Mainz (Druck- und Gemüse (Drucksachen 13/2306
sache 13/4149) 8721 A Nr. 2.103, 13/3379) 8721 D
und der Fraktion der SPD: Eck- Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/
punkte zur Novellierung der Ver- DIE GRÜNEN 8746D, 8752B
packungsverordnung (Drucksache Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/DIE
13/2818) 8734 C GRÜNEN 8747 C
Eva Bulling-Schröter PDS . . . . 8748A, 8749 C
f) Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel
Hartenstein, Michael Müller (Düs- Walter Hirche, Parl. Staatssekretär BMU . 8749C
seldorf), weiterer Abgeordneter und Marion Caspers-Merk SPD 8750 C
der Fraktion der SPD: Erlaß einer Dr. Liesel Hartenstein SPD 8753A
Getränkemehrwegverordnung
(Drucksache 13/2855) 8734 C Dr. Gerhard Friedrich CDU/CSU . . . 8755 D
Dr. Angelica Schwall-Düren SPD . . . 8757 D
g) Antrag der Abgeordneten Gila Alt-
mann (Aurich), Dr. Jürgen Rochlitz,
Tagesordnungspunkt 7:
weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN:
a) Beschlußempfehlung und Bericht des
Erlaß einer Altautoverordnung
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
(Drucksache 13/3334) 8734 D
und Reaktorsicherheit zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Angelica
in Verbindung mit Schwall-Düren, Susanne Kastner, wei-
-
terer Abgeordneter und der Fraktion
Zusatztagesordnungspunkt 8: der SPD: Verhinderung weiterer Ge-
wässerverunreinigungen durch das To-
Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen talherbizid Diuron (Drucksachen 13/
Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/ 2518, 13/3940) 8759C
DIE GRÜNEN: Verordnung über die
Vermeidung, Verringerung und Ver- b) Beschlußempfehlung und Bericht des
wertung von Abfällen gebrauchter Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
elektrischer und elektronischer Geräte schaft und Forsten zu dem Antrag der
(Elektronikschrott-Verordnung) Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi
(Drucksache 13/4351) 8734 D Lemke, Dr. Jürgen Rochlitz und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
in Verbindung mit Schutz der Gewässer und des Trink-
wassers vor Pestizidbelastungen in der
Europäischen Union (Drucksachen 13/
Zusatztagesordnungspunkt 9: 1544, 13/3307) 8759D
Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) CDU/CSU 8760A
Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen 8760D
Dr. Angelica Schwall-Düren SPD . . . .
Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Abfallvermeidung orga- Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
nisieren - Gesundheitsgefahren aus NEN 8762 C
Abfallverbrennungsanlagen minimie- Günther Bredehorn F.D.P. 8763 C
ren (Drucksache 13/4352) 8735A Eva Bulling-Schröter PDS 8764 C
Wilhelm Dietzel CDU/CSU 8765 B
in Verbindung mit
Tagesordnungspunkt 8:
Zusatztagesordnungspunkt 10:
Antrag der Abgeordneten Volker Krö-
Antrag des Abgeordneten Dr. Jürgen ning, Uta Zapf, weiterer Abgeordneter
Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/ und der Fraktion der SPD: Anti-Perso-
DIE GRÜNEN: Ersatz der Verpak- nen-Minen (Drucksache 13/4093) . . 8766D
kungsverordnung durch eine Verpak-
kungsvermeidungs- und Mehrwegver- in Verbindung mit
ordnung (Drucksache 13/4354) . . . 8735A
Steffen Kampeter CDU/CSU . . . 8735B, 8749B
Zusatztagesordnungspunkt 14:
Marion Caspers-Merk SPD 8739 A
Steffen Kampeter CDU/CSU . . 8740A, 8754 D Antrag der Abgeordneten Dr. Friedbert
Dr. Jürgen Rochlitz BÜNDNIS 90/DIE Pflüger, Hans-Dirk Bierling, weiterer
GRÜNEN 8741D Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Birgit Homburger F.D.P. . . . . . 8744 B, 8747D Volker Kröning, Uta Zapf, weiterer Ab-
Dr. Jürgen Rochlitz BÜNDNIS 90/DIE geordneter und der Fraktion der SPD
GRÜNEN 8745B, 8751A sowie der Abgeordneten Dr. Olaf Feld-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 VII
Tagesordnungspunkt 13:
Anlage 2
a) Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Zu Protokoll gegebene Rede zu Tages-
Wolf, Dr. Dagmar Enkelmann, weiterer ordnungspunkt 13 (a - Verkehrsplanung
Abgeordneter und der Gruppe der PDS: Hauptstadt Berlin und Region Berlin-Bran-
Verkehrsplanung Hauptstadt Berlin denburg, b - Planungsgruppe „Fahrrad-
und Region Berlin-Brandenburg (Druck- freundliches Regierungsviertel Berlin")
sache 13/2668) 8806 D Rudolf Meinl CDU/CSU 8815* C
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8651
98. Sitzung
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, setz verbunden. Außerdem hatte sie wesentlichen
liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die erste Anteil an der Reform des Jugendwohlfahrtsgesetzes.
Sitzung nach der Osterpause.
1972 verzichtete Frau Strobel auf eine erneute
Ich möchte Sie bitten, sich zunächst von den Plät- Kandidatur zum Bundestag und auf ihr Ministeramt,
zen zu erheben, um unserer verstorbenen Kollegin blieb aber politisch aktiv, unter anderem als Mitglied
Käte Strobel zu gedenken. im Stadtrat ihrer Heimatstadt Nürnberg, wo sie sich
bis 1978 für das Wohl ihrer Mitbürger einsetzte und
In der Osterpause erreichte uns die Nachricht vom auch zur Ehrenbürgerin ernannt wurde. Noch 1986
Tode der langjährigen Bundestagsabgeordneten und wählte der Vorstand ihrer Pa rt ei sie zur Vorsitzenden
früheren Bundesministerin für Jugend, Familie und des Seniorenbeirats.
Gesundheit, Käte Strobel. Sie starb am 26. März im
Alter von 88 Jahren in ihrer Heimatstadt Nürnberg. Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen standen immer
die selbständig und politisch handelnden Bürgerin-
Am 23. Juli 1907 wurde Käte Strobel in eine sozial- nen und Bürger. Käte Strobel wollte die Frauen für
demokratisch geprägte, kinderreiche, neunköpfige die politische Arbeit gewinnen und ihre gesellschaft-
Familie hineingeboren. Schon sehr früh, als 18jäh- lichen Chancen verbessern. Sie hat auf diesem Weg
rige, trat sie in die SPD ein. Durch die Erfahrungen viel erreicht.
1933 bis 1945 ist sie entscheidend geprägt worden.
Da ihr Mann auch nach 1933 als Sozialdemokrat ak- Der Deutsche Bundestag gedenkt dieser in der und
tiv blieb, war die Familie der ganzen Härte der natio- für die Demokratie engagierten und bedeutenden
nalsozialistischen Repression ausgesetzt. Während Politikerin in Dankbarkeit und Respekt.
ihr Mann Gefängnis, Konzentrationslager, Strafba-
taillon und Kriegsgefangenschaft durchlitt, lastete Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte
auf Käte Strobel die Sorge und Verantwortung für ich auch der Opfer der Brandkatastrophe auf dem
ihre beiden Töchter. Düsseldorfer Flughafen gedenken.
Gleich nach Kriegsende widmete sich Frau Strobel Bei dem tragischen Unglück, ausgelöst durch
wieder aktiv der Politik, vor allem der Jugend- und Schweißarbeiten, kamen am vergangenen Donners-
Frauenarbeit. Sie gehörte zu den Politikerinnen und tag im Flughafengebäude Düsseldorf 16 Menschen
Politikern der ersten Stunde in der Bundesrepublik qualvoll ums Leben. Die Toten sind französischer, ita-
Deutschland; sie hat die demokratische Grundord- lienischer, britischer und deutscher Nationalität. Sie
nung unserer Gesellschaft entscheidend mitgeprägt. erstickten an hochgiftigen Gasen, die durch die Ver-
Von 1949 bis 1972 war sie Mitglied des Deutschen brennung von Dämmaterialien und Kabeln entstan-
Bundestages, wo sie sich vor allem um Probleme der den waren. Mehr als 60 Personen erlitten teilweise
Landwirtschaft und des Verbraucherschutzes sowie schwere Rauchvergiftungen.
um gesundheitspolitische Fragen kümmerte. Dane- Niemand, der die Bilder der verzweifelt um das Le-
ben gehörte sie von 1958 bis 1966 auch dem Europäi- ben der Verunglückten kämpfenden Notärzte und
schen Parlament an, als dessen Vizepräsidentin sie Sanitäter gesehen hat, kann sich von dem Eindruck
von 1962 bis 1964 amtierte. dieses grauenvollen Brandes freimachen.
Bei der Bildung der Großen Koalition im Jahre Den beteiligten Rettungsmannschaften, die unter
1966 wurde Käte Strobel ins Kabinett berufen und beispiellosem Einsatz die Opfer bargen und medizi-
leitete das Gesundheitsministerium. Im folgenden er- nisch versorgten, gilt unser aller Dank.
sten Kabinett Brandt wurde ihr im Oktober 1969 auch
die Zuständigkeit für die Bereiche Jugend und Fami- Wir gedenken der Opfer und nehmen Anteil an
lie übertragen. Als Bundesministerin bleibt der Name dem Leid und der Trauer der von dem Unglück
von Käte Strobel mit einer Reform des Lebensmit- betroffenen Familien. Den Hinterbliebenen der To-
telrechts und mit dem Krankenhausfinanzierungsge- ten möchte ich im Namen des Deutschen Bundes-
8652 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1996
Joachim Hörster
sem Hause stattfindet. Das ist des Bundestages nicht Deshalb sind wir als F.D.P.-Fraktion der Meinung,
würdig. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. wir wollen ein Verfahren, in dem natürlich auch der
Antrag der SPD beraten wird, aber dann alle Anträge
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gemeinsam beraten werden.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt im
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Kollegin Andrea
Bundesrat. Wenn meine Informationen richtig sind,
Fischer, bitte.
soll sich heute der Ausschuß für Arbeit und Sozial-
politik des Bundesrates darüber verständigen. Bis
Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 3. Mai ist die Frist. Ich bin von der Fraktion beauf-
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! tragt zu sagen: Wir sind sehr daran interessiert, hier
Mit Verlaub, Herr Kollege Hörster, es handelt sich so schnell wie möglich eine Lösung im Interesse der
zweifelsohne um eine außerordentlich komplizierte Betroffenen herbeizubringen, aber nicht eine zusätz-
Materie. Allerdings ist mir neu, daß in diesem Parla- liche Debatte zu führen, wo die Argumente längst
ment die Komplexität eines Problems ein Grund da- ausgetauscht sind. Vielmehr sollten wir diese De-
für ist, es nicht zu debattieren. batte dann abschließend führen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Deshalb stimmt die F.D.P.-Fraktion heute der Auf-
bei der SPD und der PDS) setzung nicht zu, weil es ein unnötiger Aufwand und
dieses Hohen Hauses nicht würdig ist.
Das war letztlich die Aussage, mit der Sie hier gerade
herangegangen sind. Gerade wenn es kompliziert (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
ist, gerade wenn es eine Lösung braucht, sollten wir
es hier im Parlament beraten. Deswegen stimmt
meine Fraktion dem Antrag der SPD-Fraktion auf Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzte in der
Aufsetzung dieses Gesetzentwurfes zu. Geschäftsordnungsdebatte spricht Kollegin Petra
Bläss.
Sie haben außerdem, Kollege Hörster, gerade an-
geführt, daß Uneinigkeit in der SPD-Fraktion herr-
sche. Ich bin auch überrascht über die Fürsorglich- Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
keit seitens der Koalitionsfraktionen, daß Ihnen Pro- ginnen und Kollegen! Soviel Vehemenz, Energie und
bleme bereitet, was es innerhalb der SPD an Diffe- guten Willen, wie jetzt bekundet worden ist, hätte
renzen gibt. Auch das, Kollege Hörster, kann kein ich mir bei den inhaltlichen Beratungen gewünscht.
Grund sein, eine Frage nicht zu debattieren, sondern Die PDS unterstützt das Begehren der SPD, heute
das wäre dann gegebenenfalls ein Problem, das die abschließend über ihren Gesetzentwurf über eine
SPD zu lösen hätte. Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes zu bera-
(Beifall bei der SPD) ten. Noch mehr Vehemenz hätte unsere Unterstüt-
zung allerdings, wenn bei der SPD mehr Engage-
Bei all dem, was Sie jetzt hier an fadenscheinigen ment zu spüren gewesen wäre, breite Zustimmung in
Argumenten für die Nichtaufsetzung angeführt ha- diesem Hause für ihren Gesetzentwurf zu suchen.
ben, bleibt eigentlich nur das, was Sie selbst schon Vielleicht hätte sich tatsächlich eine Mehrheit aus al-
zugegeben haben, nämlich daß sich der Gesetzent- len Oppositionsabgeordneten mit einigen gewillten
wurf der Bundesregierung in einem mühseligen Ver- Ostabgeordneten der Koalitionsfraktionen herstellen
fahren dahinquält und daß Sie nicht wollen, daß dies lassen. Aber bereits die 15minütige Abstimmungs-
heute hier zutage tritt, wenn wir es nämlich auf der maschinerie am 7. Februar im Ausschuß für alle hier
Tagesordnung hätten. vorliegenden Anträge und Gesetzentwürfe zeigte
doch, daß es darum gar nicht ging. Nein, es sollte nur
Wir sind der Auffassung, daß dieses Thema lange Platz gemacht werden für den Gesetzentwurf der
genug debattiert wurde, daß es dringend einer Lö- Bundesregierung. Und warum kommt eben der nicht
sung bedarf und daß wir es deswegen hier endlich in die Parlamentarische Beratung hier in den Bun-
beraten sollten. destag?
Aus diesem Grund werden wir dafürstimmen, das (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Weil er im
heute auf die Tagesordnung zu setzen. Bundesrat ist!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ursache für die momentane Verweigerung der
bei der SPD und der PDS) Koalitionsfraktionen, sich hier im Bundestag über-
haupt mit der Rentenüberleitung zu beschäftigen, ist
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zur Tagesordnung die Rentenpolitik insgesamt. Es macht sich ja
der Kollege Uwe Lühr. schlecht, seitens der Regierung eine Idee nach der
anderen zum Sparen in den Rentenkassen zu entwik-
keln und dann eine wie auch immer gea rtete Korrek-
Uwe Lühr (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine sehr tur der Rentenüberleitung Ost zu beschließen, die
verehrten Damen und Herren! Es ist in der Tat, Herr natürlich Geld kostet.
Hörster, ein kompliziertes Problem, über das wir hier
heute reden sollen. Aber wir haben über dieses Pro- Wie oft hat Herr Minister Blüm die Opposition be-
blem schon mehrfach in diesem Hohen Hause gere- zichtigt, sie würde die Rentnerinnen und Rentner
det, und es hat den Betroffenen nichts genützt. verunsichern! Aber was Sie jetzt tun, ist der Gipfel.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8655
Petra Bläss
Sie schnüren ein Paket der sozialen Grausamkeiten, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und
streuen diverse Vorschläge, dementieren sie wieder, Herren, wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt
für den Aufsetzungsantrag der SPD? - Wer stimmt
(Zuruf von der F.D.P.: Das ist eine Ge- dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Aufset-
schäftsordnungsdebatte!) zungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der
legen am nächsten Tag noch etwas drauf und sagen F.D.P. gegen die Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/
dann: Regt euch nicht auf! Wartet doch ab, bis das Die Grünen und der PDS abgelehnt.
Paket vorliegt!
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 j und
(Zurufe von der CDU/CSU: Zur Geschäfts- die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
ordnung!)
3. Frauenpolitische Debatte
- Das ist schon sehr wohl zur Geschäftsordnung,
meine Damen und Herren. - Sie treiben mit älteren a) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Menschen auf diese Weise ein unerträgliches Spiel. Berichts des Ausschusses für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuß)
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne-
ten der SPD) - zu dem Antrag der Abgeordneten Wal-
traud Schoppe und der Fraktion BÜND-
Die Meldungen der letzten Tage zeigen: Nicht ein- NIS 90/DIE GRÜNEN
mal Grundlagen des sozialen Konsenses sind Ihnen
heilig. Wie oft haben Sie, Herr Blüm, uns in den ver- Forum der Nichtregierungsorganisatio-
gangenen Jahren bei Verbesserungswünschen für nen (NGO-Forum) auf der VN-Weltfrau-
Rentenleistungen belehrt, enkonferenz in Peking
(Jörg van Essen [F.D.P.]: Das ist nicht zur - zu dem Antrag der Abgeordneten
Geschäftsordnung!) Dr. Edith Niehuis, Christel Hanewinckel,
Friedhelm Julius Beucher, weiterer Abge-
für Veränderungen im Rentenrecht würde in der ordneter und der Fraktion der SPD
Bundesrepublik immer ein großer, breiter Konsens
gesucht! Nun zerpflücken Sie diesen Konsens mit je- Vierte Weltfrauenkonferenz der Verein-
der Kabinettsberatung. ten Nationen vom 4. bis 15. September
1995 in Peking
Natürlich haben Sie in Sachen Rentenüberleitung
eine Begründung dafür - - zu dem Antrag der Abgeordneten Wal-
traud Schoppe, Rita Grießhaber, Irmin-
grad Schewe-Gerigk, weiterer Abgeord-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Bläss, zur Ge- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
schäftsordnung! GRÜNEN
Menschenrechte und Demokratie für
Petra Bläss (PDS): - ich spreche zur Geschäftsord- Frauen verwirklichen
nung -, daß sich das Umsetzen der ewigen Verspre-
chen verzögert: Der Bundesrat muß nämlich erst - Drucksachen 13/1427, 13/1441, 13/1551,
noch befinden. Sie inszenieren ein zeitaufschieben- 13/4042 -
des Zwischenspiel. Im Mai sollen dort der Regie-
Berichterstattung:
rungsentwurf und der Entwurf des Berliner Senats
Abgeordnete Bärbel Sothmann
sogar konkurrierend behandelt werden. Das nährt
Hanna Wolf (München)
bei den Betroffenen natürlich wieder Hoffnungen,
Rita Grießhaber
daß der Regierungsentwurf mit seinem Prinzip „Teile
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
und herrsche!" nicht das letzte Wort sein muß.
Petra Bläss
So wird zum Beispiel auch die neue Berliner CDU- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sozialsenatorin wie andere den Berliner Senatsent- Ulla Schmidt (Aachen), Dr. Edith Niehuis,
wurf unterstützen. Der sächsische Sozialminister hin- Verena Wohlleben, weiterer Abgeordneter
gegen kündigt nicht nur die Unterstützung, sondern und der Fraktion der SPD
gar noch eine Verschärfung des Regierungsentwurfs
an. Frauenrechte weltweit stärken - Reform
des Auswärtigen Dienstes
(Jörg van Essen [F.D.P.]: Was hat denn das
mit der Geschäftsordnung des Bundestages - Drucksache 13/3151 -
zu tun?) Überweisungsvorschlag:
Es zeichnet sich also jetzt schon ab, daß die Län- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(federführend)
dervertreterinnen und -vertreter sich mächtig raufen - Auswärtiger Ausschuß
werden. Wer wird hier also der oder die lachende Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
Dritte sein? Ich hoffe, nicht diejenigen, die gar nichts wicklung
ändern wollen.
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
(Beifall bei der PDS) Waltraud Schoppe, Rita Grießhaber, Marie-
8656 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Fami li e, Senioren, Frauen und Jugend (feder-
Ausschuß für Fami li e, Senioren, Frauen und Jugend
führend)
(federführend)
Auswärtiger Ausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
ZP3 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Härtefallregelung für ein eigenständiges Auf-
Dr. Edith Niehuis, Christel Hanewinckel, enthaltsrecht ausländischer Ehegatten
Bri gitte Adler, weiterer Abgeordneter und - Drucksache 13/4364 -
der Fraktion der SPD
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die
Nachbereitung der Vierten Weltfrauen- Aussprache über einen Antrag der Fraktion der SPD
konferenz in Peking 1995 namentlich abstimmen werden.
- Drucksache 13/4366 - (Unruhe)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8657
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
- Das Thema ist keine Aufforderung, den Saal zu ver- renzierung der Programm- und Projektarbeit zum
lassen. Ausdruck kommen. Ich habe in Peking ein 40-Millio-
nen-US-Dollar-Programm zur Sozial- und Rechtsbe-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind ratung angekündigt. Wir haben für das laufende Jahr
für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorge- bereits drei Projekte vereinbart.
sehen. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir ver-
fahren entsprechend. Meine Damen und Herren, Demokratie ist auf eine
breite Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger an-
Ich eröffne die Aussprache und bitte das Plenum,
gewiesen. Es wird in der Deklaration der 4. Welt-
Bedingungen herzustellen, die es ermöglichen, daß
frauenkonferenz ganz deutlich betont, daß nicht nur
wir beginnen können. die Regierungen für die Durchsetzung der Gleichbe-
(Anhaltende Unruhe) rechtigung verantwortlich sind, sondern auch alle an-
deren gesellschaftlichen Gruppen, Institutionen, Ver-
- Ich bin nicht bereit, unter diesen Bedingungen an- bände, Tarifpartner, letztendlich jeder einzelne.
zufangen. Darf ich diejenigen, die nicht hierbleiben
wollen, bitten, ihre Gespräche außerhalb des Saales Aus diesem Grunde habe ich vor einigen Wochen
fortzuführen! in Bonn die Nachbereitungskonferenz durchgeführt,
zu der ich neben Vertreterinnen aus zahlreichen
Das Wort hat die Bundesministerin Frau Claudia Frauen- und anderen Nichtregierungsorganisationen
Nolte. Verantwortliche aus allen Bereichen von Wirtschaft,
Politik und Gesellschaft eingeladen habe. Ich denke,
Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio-
- diese Konferenz war ein wichtiger Baustein für den
ren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin! Meine Umsetzungsprozeß hier in Deutschland.
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Ich freue mich, daß wir heute im (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutschen Bundestag erneut über Frauenpolitik dis- Ich will die gute Zusammenarbeit und den kon-
kutieren. Denn es bietet doch die Möglichkeit, auf- struktiven Dialog fortführen, der sich zwischen den
bauend auf bisher Erreichtes darüber zu sprechen, deutschen Nichtregierungsorganisationen und der
wo unsere nächsten Schwerpunkte liegen. Bundesregierung sowohl im Vorfeld in China selber
Nicht erst seit der Vierten Weltfrauenkonferenz in als auch im Nachgang entwickelt hat. Die NGOs wa-
Peking machen wir aktive Frauenpolitik. Aber sie hat ren auch bei der Vorbereitung der Nachbereitungs-
uns wertvolle Impulse gegeben. Nun kommt es dar- konferenz beteiligt und haben aktiv mitgewirkt. Ich
auf an, die Aktionsplattform, die wir gemeinsam mit möchte von dieser Stelle aus diesen Verbänden, die
erarbeitet und beschlossen haben, auch umzusetzen. auch vor Ort unendlich viel gute Arbeit leisten, ganz
herzlich für ihr Engagement danken.
Mit der Deklaration von Peking und der Aktions-
plattform liegt erstmals ein in sich geschlossenes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Konzept zur Gleichberechtigung vor, auf das sich die ordneten der SPD und der F.D.P.)
Frauen weltweit berufen können - was vor dem Hin- Mit der Nachbereitungskonferenz haben wir den
tergrund der Befürchtungen vor Beginn der Konfe- Austausch darüber vorangebracht, was wir in unse-
renz längst nicht zu erwarten gewesen wäre. rem Land noch leisten müssen und welche Wege zur
Ohne die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen Umsetzung erforderlich sind. Sie hat dazu beigetra-
an allen Ressourcen sowie an den politischen Ent- gen, bereits vorhandene Vorstellungen zu bündeln
scheidungen können zentrale Zukunftsprobleme und zusammenzuführen. Mein Ziel ist es, daß wir am
nicht gelöst werden. Auf der Konferenz wurde deut- Ende dieses Jahres die Aufstellung nationaler Strate-
lich, daß die Teilhabe an Entwicklung und Macht, gien beendet haben. Sie werden den Handlungsrah-
Armutsbekämpfung, Sicherung des Friedens und die men für die nächsten Jahre aufzeigen, indem wir die
Achtung der Menschenrechte die Themen von Maßnahmen der Aktionsplattform umsetzen wollen.
Frauen auf allen Kontinenten sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen in
Von den 1,2 Milliarden armen Menschen in der Deutschland vor großen Aufgaben.
Welt sind 70 Prozent Frauen. Ihnen ist der Zugang zu (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das
Bildung, Eigentum an Boden und Kapital, zu Be- mußte endlich mal gesagt werden!)
schäftigung und wirtschaftlicher Unabhängigkeit
verwehrt, und oft ist Ursache und Folge gleicherma- Allein die Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen zeigt es
ßen die Armut. am deutlichsten. Gerade die Menschen in den neuen
Bundesländern stehen vor großen Umstrukturie-
Diesen Teufelskreis müssen wir durchbrechen. rungsprozessen, von denen Frauen wieder in beson-
Deshalb berücksichtigen wir gerade im Rahmen un- derem Maße betroffen sind.
serer Entwicklungszusammenarbeit die spezifischen
Belange von Frauen. Unsere Konzeption zur Förde- In ganz Deutschland wollen Frauen heute in aller
rung von Frauen in Entwicklungsländern hat sich bei Regel erwerbstätig sein. Sie wollen Familie und Er-
allen Schwierigkeiten, die es auch heute noch gibt, werbsarbeit miteinander verbinden. Sie bekommen
bewährt. Wir werden auf der Basis der Aktionsplatt- allerdings den Druck auf dem Arbeitsmarkt in beson-
form dieses Konzept in diesem Jahr fortschreiben derem Maße zu spüren. Deshalb waren sich die Teil-
und dafür sorgen, daß die Interessen der Frauen in nehmerinnen und Teilnehmer der Nachbereitungs-
einer noch stärkeren geschlechtsspezifischen Diffe- konferenz darüber einig, daß wir im Bereich der akti-
8658 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wo rt hat jetzt diesem Land das Schneckentempo bei der politi-
die Kollegin Rita Grießhaber. schen Vertretung ihrer Interessen gründlich satt.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SES 90/DIE GRÜNEN)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Frauenrechte sind Menschenrechte. Das war Um diesen Prozeß in -Gang zu bringen, wäre die na-
eines der Hauptthemen auf der Weltfrauenkonfe- tionale Nachbereitungskonferenz der richtige Ort ge-
renz, und die Frauen haben weltweit die Menschen- wesen. Aber von do rt ging doch alles andere als eine
rechtsfrage aus ihrer Sicht neu aufgeworfen. Sie ha- Aufbruchstimmung aus.
ben das in China getan, und sie haben damit China
selbst zum Thema gemacht. Ihr Konzept, Frau Nolte, Verantwortungsträger aus
Politik, Forschung, Medien und Wirtschaft zu dieser
Leider, Frau Nolte, findet Ihr mutiges Eintreten für Konferenz einzuladen, war richtig. Nur wurden Sie
die Menschenrechte in China keine Entsprechung in dabei doch im Stich gelassen. Der Medienvertreter,
der China-Politik der Bundesregierung. WDR-Intendant Pleitgen, sagte ebenso ab wie der
Chef des Arbeitgeberverbandes Murmann oder die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellvertretende DGB-Vorsitzende Engelen-Kefer.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ganz ohne Verantwortung tragende Prominenz
Diese beeindruckt noch nicht einmal der UN-Be ri cht mußten wir allerdings nicht auskommen. Immerhin
über die Folter in China. Wo vermeintlich riesige kam der Vertreter der Deutschen Forschungsgemein-
-
Märkte winken, verstummt die Kritik an der massi- schaft Frühwald. Was hätten wir nicht gerne alles
ven Verletzung der Menschenrechte. von ihm erfahren! Die Deutsche Forschungsgemein-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schaft als größte Einrichtung staatlicher Forschungs-
förderung hat nur wenige weibliche Mitglieder in
Die Aktionsplattform von Peking bekräftigt, daß den Ausschüssen, die über verschiedene Förderpro-
Frauenrechte ein integraler Bestandteil der univer- gramme beschließen. 5,4 Prozent der bewilligten
sellen Menschenrechte sind. Die Bundesregierung Anträge in den Naturwissenschaften und ganze
hat diese Aktionsplattform mit unterzeichnet und 1,8 Prozent in den Ingenieurwissenschaften betrafen
trägt Verantwortung für ihre Umsetzung. Es ist auch in den letzten vier Jahren Frauen. Kein Wunder, daß
kein Zufall, wenn in einer Zeit der kriegerischen Herr Frühwald es angesichts dieser Zahlen vorzog,
Auseinandersetzungen, wo Konflikte eskalieren, in über Geschlechtsrollentausch-Phantasien in der
der Plattform gefordert wird, daß Frauen an allen Frauenliteratur der 70er Jahre zu referieren, statt sich
Formen, auf allen Ebenen an Friedensaktivitäten be- der politischen Realität der 90er Jahre zu stellen.
teiligt werden müssen.
Frau Nolte, nicht nur von ihm hätten wir an diesem
Das gilt auch für die schwierige Wiederaufbauar- Tag gerne mehr und Konkreteres gehört. Ich ver-
beit im ehemaligen Jugoslawien. Frauen haben dort stehe, daß Sie angesichts der gigantischen Haus-
als Kritikerinnen des Krieges eine besonders aktive haltslöcher Ihres Kabinettskollegen Waigel nicht mit
Rolle gespielt. Sie müssen am dortigen Friedenspro- Stellenversprechungen aufwarten konnten, aber
zeß angemessen beteiligt und dazu motiviert wer- auch die Fragen der Nichtregierungsorganisationen
den, Ämter und Mandate zu übernehmen. Frauen ließen Sie ins Leere laufen. Von Ihnen kam keine Ge-
haben als Teil der Zivilbevölkerung viel Leid in die- ste, nicht die kleinste. Wo ist Ihr nationales Umset-
sem Krieg getragen. Sie wurden vertrieben, verge- zungskonzept? Auf allen UN-Konferenzen der letz-
waltigt und in Zwangsbordelle entführt. Vergewalti- ten Jahre wurde gefordert, die Nichtregierungsorga-
gungen, meine Damen und Herren, waren immer Be- nisationen einzubeziehen. Einbeziehen heißt aber
standteil bewaffneter Konflikte, und gleichzeitig wa- nicht, ihr Fachwissen in Anspruch zu nehmen, ihnen
ren und sind sie das am wenigsten geächtete Kriegs- mit warmen Worten zu danken und es dabei zu be-
verbrechen. lassen.
Die ersten Anklagen des Chefanklägers des UN- Das vierte Europäische Förderprogramm wurde
Kriegsverbrechertribunals lassen hoffen, daß der auf Grund Ihrer Initiative, also der Initiative der Re-
Verfolgung dieser Verbrechen jetzt mehr Aufmerk- gierung, um die Hälfte gekürzt. Sie haben sich dabei
samkeit gewidmet wird. Hier muß sich in den Köpfen auf das Subsidiaritätsprinzip berufen, das heißt: Für
viel bewegen. Polizisten und Soldaten, die in Kon- Dinge, die wir auf nationaler Ebene selbst erledigen
fliktgebiete entsandt werden, wissen oft nicht, wie können, brauchen wir keine EU-Kompetenz. — Dann
sie Opfern von Vergewaltigung oder traumatisierten zeigen Sie doch, daß Sie Ihren Ansprüchen an das
Personen begegnen sollen. Wir wollen, daß die deut- Subsidiaritätsprinzip gerecht werden! Stellen Sie die
schen Truppen, die sich gegenwärtig im ehemaligen gekürzten Mittel für die nationale Ebene zur Verfü-
Jugoslawien befinden, ein ihrer Aufgabe angemesse- gung und betreiben Sie Frauenförderpolitik so, daß
nes Gender-Training erhalten. europäische Programme wirklich unnötig werden!
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
SES 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der PDS)
Die Beschlüsse von Peking müssen auf nationaler Statt dessen betreiben Sie hier eine frauenpolitische
Ebene zügigst umgesetzt werden. Frauen haben in Politik, die uns zum europäischen Schlußlicht wer-
8664 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Rita Grießhaber
den läßt. Das belegen die Zahlen leider eindrucks- Ziel sein - der Umsetzung all dessen, was im Rahmen
voll. der Vereinten Nationen für Frauen in den verschie-
denen Dokumenten niedergelegt worden ist. Die
Die politischen Entscheidungen, die Sie hier tref- Plattform der Frauenkonferenz in Peking, das Ergeb-
fen, sind überwiegend in Männerrunden getroffene nis der Bevölkerungskonferenz in Kairo, das Ergeb-
Entscheidungen. Die Aktionsplattform von Peking nis der Menschenrechtskonferenz in Wien - all die-
aber forde rt die Beteiligung von Frauen als Maßstab ses, liebe Kolleginnen und Kollegen, muß dazu füh-
für alle Ebenen. Das ist ein Erfolg für die Frauen ren, Strategien für geteilte Verantwortung zwischen
weltweit. Nur wir hier haben bei der nationalen Um- Männern und Frauen und geteilte Macht zwischen
setzung Stillstand bis Rückschritt: Stillstand beim ei- Männern und Frauen zu entwickeln.
genständigen Aufenthaltsrecht für ausländische Ehe-
frauen, die trotz Mißhandlung und Gewalt nicht hier- (Beifall bei der F.D.P.)
bleiben dürfen - wo sind Ihre Anträge, um hier heute
Hier sollte eigentlich die Debatte heute ansetzen:
darüber abzustimmen, daß dies geändert wird? -,
weniger an der Vergangenheitsbewältigung - da ist
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sicherlich nicht alles ideal gelaufen -, sondern daran,
SES 90/DIE GRÜNEN) welche Strategien und welche Instrumente wir zur
Umsetzung der vielen guten Forderungen haben, die
Rückschritt beim Vorhaben der bayerischen Landes- in diesen Dokumenten nicht nur für die Frauen in
regierung, die bei der Umsetzung des Abtreibungs- den industrialisierten Ländern, sondern auch für die
rechts die Inquisition wiederaufleben lassen will. Das Frauen weltweit aufgestellt worden sind.
ist eine Ohrfeige in das Gesicht aller Frauen in die-
-
sem Land und ein eklatanter Verstoß gegen die bun- Frau Nolte, ich begrüße es nachdrücklich, daß Sie
desdeutsche Regelung. Das werden wir nicht hin- eine Nachbereitungskonferenz einberufen haben
nehmen. und daß auch eine im wesentlichen gut gelungene -
im wesentlichen; kleine Einschränkungen gibt es im-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mer - erste Diskussionsrunde stattgefunden hat.
bei der SPD und der PDS) Aber ich wünsche mir natürlich, daß für eine offene
Das Schöne an einer Rede innerhalb der Kernzeit Diskussion all dessen, was in Deutschland notwen-
des Parlaments ist, daß etwas mehr Entscheidungs- dig ist, auch Vorschläge vom Frauenministerium
träger im Plenum sitzen als normalerweise bei Frau- kommen, die dann diskutiert werden können. Politik
endebatten. muß auch eine Leitfunktion haben, was die Strate-
gien zur Umsetzung einer gleichberechtigten Teil-
(Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll- habe von Frauen in der Gesellschaft, in der Politik
mer) und in der Wirtschaft anbetrifft.
Wir wissen, Papier wie die Aktionsplattform von Innenpolitisch hat die Frauenpolitik gerade in den
Peking ist geduldig. Deswegen mein Appell an Sie letzten Jahren eine neue Richtung bekommen. Die
alle: Lassen Sie endlich und schnell Taten folgen. nächste Frauengeneration geht mit sehr viel mehr
Worte haben wir genug gewechselt. Selbstbewußtsein, als das etwa vor einer Generation
bemerkbar war, in die Auseinandersetzung um Ver-
Vielen Dank. antwortung und Macht. Die jungen Frauen wissen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN daß sie Leistung bringen, sie wissen, daß sie in vielen
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Fällen bessere Abschlüsse als die Männer haben und
PDS) daß sie deswegen besser prädestiniert sind, auch
Verantwortung und die damit verbundene Macht zu
übernehmen. Sie lassen sich deshalb nicht bevor-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat munden, sondern sie nehmen ihre freie Entschei-
jetzt die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer. dung wahr: Diese kann ausschließlich für die Familie
ausfallen, diese kann ausschließlich für den Beruf
Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Frau Präsidentin! ausfallen, aber in den meisten Fällen findet eine Ver-
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern berichtete knüpfung von Familie und Beruf statt. Deswegen
im Unterausschuß Menschenrechte und humanitäre bleibt nach wie vor die Umsetzung folgender Forde-
Hilfe ein Kollege über eine Reise in ein afrikanisches rung wichtig: Garantie des Kindergartenplatzes für
Land. Es wird mir sicherlich unvergeßlich bleiben, alle Kinder ab dem dritten Lebensjahr - eine Forde-
mit welcher Begeisterung er davon sprach, do rt gese- rung, deren Umsetzung durch die Tatsache, daß Län-
hen zu haben, wie Frauen das Überleben der Fami- der und Gemeinden zu lange geglaubt haben, sie
lien in der überwiegenden Zeit des Jahres garantier- könnten sie immer wieder wegdrücken und weg-
ten, daß sie die besseren Kreditnehmer seien und schieben, nicht schnell genug vorangekommen ist,
daß sie die Aufgabe der Krisenbewältigung hätten. die aber jetzt in der beschlossenen Form verwirklicht
werden muß.
Ich wünsche mir, daß noch viele Kollegen in dieser
Welt herumreisen, um wirklich wahrzunehmen, wie Was zu beobachten ist, ist eine Verbürokratisie-
die Stellung und die Aufgaben von Frauen in der rung der Frauenförderpolitik.
Welt aussehen: viel Verantwortung für das Überle- (Beifall bei der F.D.P.)
ben der Familie; die entscheidende Verantwortung in
der Krise; aber wenig Macht, ihre eigene Position Arbeitsgemeinschaften von Gleichberechtigungsstel
durchzusetzen. Das aber ist das Ziel - das muß das len auf Länder- und Bundesebene, die Abstimmung
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8665
Dr. Irmgard Schwaetzer
von Frauenförderplänen, die möglicherweise gesetz- treffen, die im Interesse der Frauen bessere Einstel-
liche Normierung von Frauenförderplänen - all die- lungsmöglichkeiten garantieren.
ses muß doch zu den Fragen verleiten, was wir sinn-
vollerweise in bezug auf Frauenförderung tun und (Beifall bei der F.D.P. - Peter Dreßen [SPD]:
welche staatlichen Institutionen wir sinnvollerweise Bei der F.D.P. heißt das immer: Abbau von
errichten können, an die sich Frauen wenden kön- Rechten!)
nen, wenn sie sich in ihren Rechten eingeschränkt - Bei der SPD heißt das: Alles so beibehalten wie bis-
fühlen. Aber mit Sicherheit liegt die Lösung nicht in her und sich nicht um diejenigen kümmern, die drau-
dieser Art von Verbürokratisierung der professionel- ßen stehen.
len Frauenpolitik, die nach meiner Erfahrung in vie-
len Fällen an dem Bewußtsein und den Bedürfnissen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
gerade junger Frauen völlig vorbeigeht. ten der CDU/CSU)
(Beifall bei der F.D.P.) Sie kümmern sich doch immer nur um die, die „drin"
sind - die wollen Sie maximal schützen -, aber nicht
um die, die draußen stehen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, (Widerspruch bei der SPD und der PDS)
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Rita Grießhaber? Lassen Sie uns weiter darüber streiten, wie wir
bessere Chancen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt
schaffen.
-
Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Bitte schön. Ich appelliere nachdrücklich an Herrn Waigel und
die Bundesregierung, den Haushalt als Arbeitsplatz
für Männer und Frauen nicht durch unrealistische
Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zahlen kaputtzurechnen.
Frau Kollegin Schwaetzer, glauben Sie nicht auch,
daß wir diese verbürokratisierte Frauenpolitik, wie (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Wolf
Sie es nennen, gar nicht bräuchten, wenn die Frauen gang Zöller [CDU/CSU])
andere Teilhabechancen hätten und einfach die Stel- Das, was da an Steuerausfällen im Finanzministe-
len bekämen, wie das in anderen Ländern der Fall rium berechnet wird, kann doch nur dem einen Ziel
ist, in denen sie - nehmen Sie Frankreich oder die dienen: alles so zu belassen, wie es bisher war, weil
südeuropäischen Länder - einen größeren Teil der es für die Finanzpolitiker so bequem gewesen ist. Da-
Beschäftigten in der Wi rtschaft und in der Politik stel-
mit können wir uns nicht einverstanden erklären.
len? Es gibt do rt einen höheren Frauenanteil. Wenn
die Frauen selbstverständlich „drin" sind, dann (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
braucht man auch keine bürokratischen Mittel, um
zu versuchen, sie hineinzubekommen. Können Sie In einem Punkt wird meiner Meinung nach in wei-
da zustimmen? ten Bereichen an dem, was in Deutschland Realität
ist, vorbeidiskutiert - und das bet rifft die 590-DM-Ar-
beitsplätze. Für sehr viele Frauen ist dies eine ge-
Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Nein, dem kann wünschte und in vielen Fällen auch notwendige A rt
ich natürlich nicht zustimmen, weil ich sehe, daß die desZuvrint.WeAbsplätzu-
Verbürokratisierung den Frauen nicht dient. Ich will lich mit Abgaben belastet, wird dafür sorgen, daß sie
ja genau wie Sie, daß da endlich viel mehr Frauen als verschwinden.
heute zum Zuge kommen. Nur, die Instrumente, so (Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Dag
wie sie jetzt eingeführt sind und sich „eingebürgert" mar Wöhrl [CDU/CSU])
haben, tragen nach meiner Beobachtung nun gerade
nicht mehr dazu bei. Deswegen lassen Sie uns ge- Das kann nicht im Interesse der Frauen sein. - Daß es
meinsam im Ausschuß überlegen, wie man das viel- da auch Fehlentwicklungen gibt, wird überhaupt
leicht verbessern kann. nicht bestritten. - Unterhalten Sie sich doch mal mit
denjenigen, die sich aus ganz unterschiedlichen
Ein ganz wichtiger Punkt in bezug auf bessere Gründen weige rn, einen voll sozialversicherungs-
Chancen für Frauen auch auf dem Arbeitsmarkt ist pflichtigen Arbeitsplatz anzunehmen, darüber, was
natürlich die Überprüfung des Arbeitsrechts. Ich sie von Ihren Plänen halten, die 590-DM-Arbeit ka-
weiß, daß wir uns hier immer auf einem sehr schma- puttzumachen!
len Grat bewegen: Was ist notwendiger Schutz für
(Peter Dreßen [SPD]: Sie sind unsozial!)
Frauen, auch in ihrer Funktion und bei ihrem Auf-
trag als Erzieherinnen? Wo dient er nur dazu, Frauen Letzte Bemerkung, meine Damen und Herren: Ge-
von wirklich interessanten Positionen fernzuhalten? walt gegen Frauen. Frauen leiden ganz besonders
Die Mechanismen und Methoden, die dabei ange- unter Gewalt. Frauen sind mit ihren Kindern die
wendet werden, sind durch Gesetze überhaupt nicht ganz besonders Betroffenen im Krieg. Deswegen
mehr zu kontrollieren. Deswegen lassen Sie uns, müssen wir einen Schutz vor Vergewaltigung auf-
meine Kolleginnen und Kollegen, auch bei der jetzt bauen. Ich wünsche mir, daß sich die Koalition in die-
notwendigen Überprüfung des Arbeitsrechts im Zu- ser Woche endlich zusammenreißt, damit wir in der
sammenhang mit der Diskussion über den schlanken nächsten Woche das Gesetz zur Strafbarkeit der Ver-
Staat tabufrei diskutieren und auch Entscheidungen gewaltigung in der Ehe verabschieden können. Es
8666 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Petra Bläss
lenden Bericht zu erarbeiten. Damit ein solches Gre- Wenn wir von Gleichstellung sprechen, meinen
mium keine Alibiinstitution wird, müssen seine wir nicht, die Frau gleiche dem Manne. Wir fin-
Rechte und Pflichten in einem Gesetzentwurf fixiert den sie von gleichem Wert.
werden, der Mindeststandards enthalten soll, die den
erforderlichen Rahmen für seine Arbeit schaffen. Diese Worte wurden nicht für die Weltfrauenkonfe-
Nicht zuletzt die im Kapitel „Institutionelle Vorkeh- renz 1995 in Peking verfaßt, sondern bereits im Jahre
rungen" festgeschriebenen Handlungsanweisungen 1900 von einer französischen Frauenrechtlerin.
für die nationale Ebene bestätigen uns in diesem An- Nach einer Reihe von Weltgipfeln und -konferen-
liegen. zen - Rio, Kairo, Kopenhagen - war Peking für die
Einige Worte noch zum PDS-Antrag „Beobachter- Frauen aus der ganzen Welt die wichtigste Konfe-
status des Vatikans bei den Vereinten Nationen": Wir renz. Peking war ein Erfolg. Es ist gelungen, die
haben hier übrigens eine alte Forderung von NGOs Weltöffentlichkeit auf die Belange der Frauen auf-
aus allen Erdteilen aufgenommen. Es gab und gibt merksam zu machen, und es ist in einzelnen Punkten
eine internationale Kampagne, eine Petition, in der gelungen, über das, was in früheren Frauenkonfe-
die UNO aufgerufen wird, den Status des Vatikans renzen erreicht wurde, hinauszugehen.
zu überdenken. Wir fordern in unserem Antrag die Es reicht jedoch nicht aus, daß diese Konferenz in
Bundesregierung auf, in der Generalversammlung die Geschichte eingeht. Für uns kommt es darauf an,
der Vereinten Nationen eine Resolution einzubrin- was wir in Deutschland aus den Ergebnissen ma-
gen, mit der die auf dem Beobachterstatus beruhen- chen. Der Antrag, den wir heute einbringen, enthält
den Mitwirkungsrechte des Heiligen Stuhls inner- dazu für uns wichtige Forderungen und Feststellun-
halb der Vereinten Nationen künftig auf die ihn di--
gen.
rekt betreffenden Angelegenheiten zurückgeführt
werden. Wir fordern, daß bei allen internationalen Der Druck der Frauen auf die Politik wächst. Ge-
Aktivitäten der Vereinten Nationen, die sich explizit meinsam ist es uns Frauen gelungen, das Grundge-
mit dem Geschlechterverhältnis befassen, dem Heili- setz in Art. 3 zu ergänzen und so den Gleichberechti-
gen Stuhl auf Grund der durch ihn praktizierten Ge- gungsgrundsatz der Verfassung deutlicher zu akzen-
schlechterapartheid solche Mitwirkungsrechte entzo- tuieren. Auch scheinbare Rückschläge auf Grund
gen werden. von Gerichtsurteilen werden daran nichts ändern.
(Beifall bei der PDS) (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Gestatten Sie mir abschließend noch kurz ein Wort Laut Verfassung genießen Frauen die gleichen
zur Zusammenarbeit mit den NGOs im Follow up -
Rechte wie Männer. Wie aber sieht die Lebenswirk-
Prozeß. Die Koalitionsparteien fordern begrüßens- lichkeit von Frauen aus? Frauen sind überproportio-
werterweise in ihrem Antrag, „alle gesellschaftlichen nal von Arbeitslosigkeit betroffen. Die beruflichen
Gruppen, die in der Aktionsplattform angesprochen Chancen von Frauen sind trotz guter Bildungsab-
werden, " schlüsse weitaus schlechter als die der Männer. In
Führungsetagen sind Frauen eindeutig in der Min-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, derheit.
die Zeit ist weit überschritten. Wir müssen die Kluft zwischen Verfassung und ge-
sellschaftlicher Wirklichkeit überwinden. Frauenpoli-
Petra Bläss (PDS): - „in den Prozeß der Ausarbei- tik ist Politik für gleiche Lebenschancen von Frauen
tung nationaler Strategien oder Aktionspläne einzu- und Männern, das heißt für gleiche Arbeitsmarkt-
binden". chancen, für gleiche Aufstiegsmöglichkeiten, für
gleichen Einfluß in Politik und Gesellschaft und für
Lassen Sie mich mit einem Zitat des NRO-Frauen- Aufgabenteilung in der Familie.
forums, eines entwicklungspolitischen Frauennetz-
werkes, enden: Mit über 4 Millionen Arbeitslosen stehen wir in
Deutschland vor großen Herausforderungen. Unsere
Wünscht die Regierung ernsthaft einen Dialog Anstrengungen werden in den nächsten Wochen
mit zivilgesellschaftlichen Kräften, dann muß der darauf gerichtet sein, einen Anreiz für neue Investi-
Umgang zwischen Ministerien und NRO selbst- tionen und für neue Arbeitsplätze zu schaffen.
verständlicher werden.... Voraussetzung dafür
sind Transparenz und Informationsarbeit seitens (Beifall bei der CDU/CSU)
der Regierung, regelmäßige Treffen und eine
Verbesserung der strukturellen und finanziellen In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist es besonders
Arbeitsbedingungen einiger NRO. wichtig, die Ausgangschancen von Frauen zu ver-
bessern. Diesem Ziel diente die 1992 beschlossene
(Beifall bei der PDS) Änderung des § 2 Nr. 5 des Arbeitsförderungsgeset-
zes. Die Regelung „Frauen sollen entsprechend ih-
rem Anteil an den Arbeitslosen gefördert werden"
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
hat sich bewährt und muß beibehalten werden. Die
jetzt die Kollegin Maria Eichhorn.
Eckpunkte zur Reform des AFG liegen vor. Dabei set-
zen wir uns dafür ein, daß die Frauenförderung als
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! eigenständiges Recht verankert wird. Verbesserun-
Meine sehr geehrten Damen und Herren! gen für Berufsrückkehrerinnen sind sowohl bei den
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8669
Maria Eichhorn
Eingliederungszuschüssen als auch beim Leistungs- Angebot. Bestehende Hemmnisse müssen abgebaut
bezug vorgesehen. werden. Deswegen ist die Teilzeitoffensive der Bun-
desregierung von so großer Bedeutung. Es geht um
Der Wandel in der Wirtschaftsstruktur hat enorme
qualifizierte Mobilzeitarbeitsplätze für Frauen und
Folgen für den Arbeitskräftebedarf. Gerade in wirt-
Männer.
schaftlich schwierigen Zeiten hat Frauenpolitik die
Aufgabe, dafür zu sorgen, daß Frauen nicht aus dem (Dr. Edith Niehuis [SPD]: Dann müssen Sie
Arbeitsmarkt gedrängt werden, sondern neue Chan- die entsprechenden Anträge nicht immer
cen nutzen können. Diese werden zum Beispiel im ablehnen!)
Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der regionalen Wirtschaftsstruktur" geboten, wo ins- Beruflicher Aufstieg und Weiterbildung müssen für
besondere solche Investitionen gefördert werden, die Mobilzeitkräfte genauso selbstverständlich sein wie
Arbeits- und Ausbildungsplätze für Frauen und Ju- für Vollzeitkräfte.
gendliche schaffen.
Ich stelle klar heraus: Unter Teilzeitarbeitsplätzen
Neue Arbeitsplätze sind in Zukunft vor allem im verstehe ich sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
Dienstleistungsbereich zu erwarten. Denken wir nur gungsverhältnisse. 590-DM-Jobs fallen nicht darun-
an den großen Bereich der Telekommunikation. Hier ter. Auf geringfügige Beschäftigungsverhältnisse
eröffnen sich völlig neue Chancen. Frauen müssen werden wir in Zukunft zwar nicht ganz verzichten
den Mut haben, das gesamte Spektrum der Berufe zu können; der Mißbrauch muß aber entschieden be-
nutzen. kämpft werden.
In Privathaushalten können viele sozialversiche- Betriebliche Personalpolitik muß den Frauen glei-
rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaf- che Karrierechancen eröffnen wie Männern. Zwar
fen werden. Voraussetzung dafür sind steuerliche Be- sind Frauen auf der Führungsebene im Vormarsch;
günstigungen doch muß man sie im Topmanagement immer noch
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU mit der Lupe suchen. Nicht einmal 1 Prozent Frauen
und der F.D.P.) sind dort zu finden. Im Mittelmanagement sind es ge-
rade 5 Prozent. Das berufliche Fortkommen von
und administrative Erleichterungen. Wir werden das Frauen ist immer noch von Vorurteilen geprägt. Des-
Konzept dazu in den nächsten Wochen vorlegen. wegen brauchen wir Gleichberechtigungsgesetze
und Frauenförderprogramme.
Meine Damen und Herren, die Politik hat schon
viel für die Verbesserung der Erwerbstätigkeit von (Beifall bei der CDU/CSU)
Frauen getan. Chancengleichheit werden wir jedoch
erst dann erreichen, wenn die Maßnahmen zur Ver- Nach allen Vorhersagen benötigt die Wi rtschaft in
einbarkeit von Familie und Beruf nicht nur von den Zukunft ein quantitativ größeres und qualitativ ande-
Frauen, sondern auch von den Männern akzeptiert res Potential an Führungskräften. Zunehmend ge-
und mitgetragen werden. Wir werden unsere Ziele wünschte Eigenschaften wie Kreativität, Kommuni-
konsequent weiterverfolgen. Das gilt auch in Zeiten kationsfähigkeit, Flexibilität und Orientierung an
schwieriger Haushaltslage. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kommen den
Frauen entgegen. Mit dem Bundesgremienbeset-
Für neue Wege brauchen wir verstärkt die Unter- zungsgesetz werden wir die Frauenrepräsentanz in
stützung der Wirtschaft und der Tarifpartner. Ich be- Gremien des Bundes erhöhen.
grüße sehr, daß in den letzten Jahren zunehmend
mehr Unternehmen Eltern die Möglichkeit eröffnen, Aber in diesem Zusammenhang muß selbstver-
zusätzlich zum gesetzlichen Elternurlaub einen wei- ständlich auch gefragt werden: Wie steht es denn mit
teren Urlaub mit Beschäftigungsgarantie in An- der Beteiligung von Frauen, wenn wichtige Füh-
spruch zu nehmen. Fortschrittliche Unternehmen sor- rungsgremien der Arbeitgeber und Arbeitnehmer,
gen dafür, daß während des Elternurlaubs der Be- der Handwerkskammern und der Banken zusam-
triebskontakt zum Beispiel durch Urlaubsvertretun- mentreten? Wie viele Frauen sind denn an der Ausar-
gen und durch berufliche Weiterbildung aufrechter- beitung von Tarifverträgen beteiligt, wenn es um die
halten wird. Das ist der richtige Weg, der sich sowohl Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Mobilzeit geht?
auch für die Unternehmen lohnt, da qualifizierte Ar-
beitskräfte jederzeit wieder einsatzfähig sind. Meine Damen und Herren, Frauenpolitik ist Politik
für Chancengleichheit, die von Frauen und Männern
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU gestaltet werden muß. Sie kommt allen zugute:
und der F.D.P.) Frauen, Männern und Kindern. Das Schlüsselwort in
Nicht zuletzt um Qualifikationsverluste durch Ar- der Frauenpolitik heißt Pa rtnerschaft. Pa rtnerschaft
beitsunterbrechungen zu vermeiden, streben immer heißt gegenseitige Anerkennung und gegenseitigen
mehr Frauen Teilzeitarbeit an. Dadurch kann vor- Respekt, heißt Teilung von Verantwortung, heißt
handene Arbeit besser verteilt und gleichzeitig die Aufgabenteilung in der Familie, in der Wirtschaft
Zahl der Arbeitskräfte erhöht werden. Mehr als zwei und in der Politik.
Drittel der Stellen sind nach einer Untersuchung teil- Meine Damen und Herren, es gibt noch viel zu tun.
zeitfähig, ohne daß Unternehmen wirtschaftliche
Nachteile hätten. Gegenwärtig ist die Nachfrage (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
nach Teilzeitplätzen jedoch wesentlich größer als das Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)
8670 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bevor ich der teiligt werden. Die Statistiken bestätigen dieses auch
nächsten Rednerin das Wort gebe, bitte ich die Da- den Männern, die es wissen wollen.
men und Herren Geschäftsführer zu mir, da wir hier
Glauben Sie wirklich, Frau Nolte, daß sich Männer
oben den Eindruck haben, daß es mit der Präsenz im
und Manager, denen der Gleichberechtigungsge-
Saal etwas schlecht steht. Ich bitte Sie, zu mir zu
danke fremd ist, von einem Faltblatt auf Hochglanz-
kommen. -
papier beeinflussen lassen? Nein, was wir brauchen,
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ch ristel Hane- sind wirklich konkrete Maßnahmen zur Beseitigung
winckel. nationaler und internationaler Mißstände in Sachen
Gleichberechtigung.
Christel Hanewinckel (SPD): Frau Präsidentin! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Frau Ministe rin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nur jeder zweite Mensch auf dieser Welt ist eine und der PDS)
Frau. Aber trotzdem sind die Frauen verdächtig, mit Im Vorfeld der Weltfrauenkonferenz hat die Inter-
ihren Leistungen in das Guinness-Buch der Rekorde nationale Arbeitsorganisation, ILO, festgestellt, daß
zu kommen. in keinem Land dieser Erde Frauen gleichberechtigt
(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) sind, auch nicht in den Ländern, die Gleichberechti-
gung in Verfassungen oder in Gesetzen festgeschrie-
- Das stimmt wirklich; Sie können gerne nachrech- ben haben. Frauen haben also weltweit die gleichen
nen. strukturellen Probleme. Ihnen gehört nicht mehr als
- das, was Mao den Chinesinnen schon versprach,
Frauen leisten nämlich weltweit die meiste Arbeit, nämlich die Hälfte des Himmels. Die Hälfte der
und zwar 65 Prozent. Frauen werden weltweit am Chancen, der Rechte, der Macht und des Wohlstands
schlechtesten bezahlt. Frauen sind die billigsten Ar- auf Erden gehört ihnen immer noch nicht.
beitskräfte; denn sie haben nur ein Zehntel des welt-
weiten Einkommens. Frauen sind am großzügigsten; Was genauso folgenreich ist: Frauen haben nicht
denn sie überlassen den Männern 99 Prozent des Ei- die Möglichkeit, ihre spezifischen Erfahrungen, ihre
gentums dieser Welt. Frauen sind die treuesten Sichtweisen und Problemlösungsvarianten einzu-
Kirchgängerinnen; aber in manchen Kirchen sind sie bringen; denn auf den entsprechenden Entschei-
als Priesterinnen mit null Prozent vertreten. dungsebenen sind sie nicht vertreten.
Ich denke, das sind alles Punkte, die es wirklich Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Bericht der
wert wären, in das Guinness-Buch der Rekorde auf- Regierung zur Weltfrauenkonferenz ist der Artikel 31
genommen zu werden. Mit nur etwas Phantasie und des Einigungsvertrages erwähnt. Dieser Artikel 31
Realitätskenntnis fallen Ihnen sicherlich noch andere verpflichtet die Bundesregierung - ich zitiere -, „die
rekordverdächtige Beispiele ein. Gesetzgebung zur Gleichberechtigung zwischen
Männern und Frauen weiterzuentwickeln" und „die
Sieben Monate sind seit der Weltfrauenkonferenz Rechtslage unter dem Gesichtspunkt der Vereinbar-
in Peking vergangen, und nun endlich findet die De- keit von Familie und Beruf zu gestalten".
batte im Deutschen Bundestag statt. Die Gründe für
die unendliche Verschiebung sind nicht einleuch- Wenn ich mir auf diesen Text hin die Realität vor
tend, und manche Frau wird sich fragen, was denn allen Dingen im Osten Deutschlands angucke, dann
der Ministerin an der Konferenz der Vereinten Natio- kann ich nur sagen: Liebe Bundesregierung, vor al-
nen liegt, wenn so viel Zeit vergehen muß, um eine lem liebe Frau Ministerin, da haben Sie noch unsäg-
nationale Nachbereitungskonferenz und eine De- lich viel zu tun. Es geht nicht an, obwohl Sie in der
batte im Deutschen Bundestag durchzuführen. Pflicht sind, immer wieder nur festzustellen und mit-
zuteilen, daß die Politik - sprich: die Bundesregie-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- rung - ja schon genügend getan habe. Frau Ministe-
ten der PDS) rin, Sie führen immer wieder Ihr Gleichberechti-
gungsgesetz an. Dies reicht aber hinten und vorne
Frau Ministerin, Sie haben in Ihrer Rede anläßlich nicht aus. Die Situation der Frauen und Kinder im
der Nachbereitungskonferenz zur Weltfrauenkonfe- Osten Deutschlands macht das mehr als deutlich.
renz vor fünf Wochen angekündigt, Ende dieses Jah-
res würden Sie die nationalen Strategien bekanntge- (Beifall bei der SPD)
ben, wie die auf der Konferenz aufgestellten Forde- Der Bericht der Bundesregierung zeichnet sich
rungen umgesetzt werden sollen. Warum denn erst durch etwas anderes aus, und zwar durch ihren Un-
so spät? Bis dahin sind schon 15 Monate seit Peking willen, eine wirklich realistische Bilanz der Gleich-
vergangen; Zeit ist verstrichen. Ich frage mich natür- stellung von Frauen und Männern in Deutschland zu
lich: Gibt es denn nichts anderes Konkretes als die ziehen.
auf fünf Jahre verteilten 40 Millionen Dollar des Pro-
gramms für Sozial- und Rechtsberatung in der Drit- Vor zwei Tagen erst, Frau Ministe rin, haben Sie
ten Welt? Haben Sie nichts anderes Konkretes als die eine Studie zum Stand der Gleichberechtigung in
Ankündigung Ihrer Kampagne „Gleichberechti- Deutschland vorgestellt. Diese Studie kommt zu dem
gung, Teilhabe und Partnerschaft" ? Diese Kampagne Ergebnis, daß sich die Mehrheit der Deutschen mehr
halte ich allerdings für rausgeschmissenes Geld, das Gleichberechtigung wünscht. Das ist zum einen er-
an anderer Stelle wirksamer verwendet werden freulich, weil auch ein großer Teil der Männer diese
kann. Denn Frauen wissen auch so, daß sie benach- Auffassung vertritt. Das ist zum anderen aber auch
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8671
Christel Hanewinckel
alarmierend; denn wenn sich die Menschen mehr dergeldes für 1997. An dieser Stelle kann ich nur sa-
Gleichberechtigung wünschen, dann heißt das doch gen: Wenn es nur Verhandlungsmasse sein sollte,
nur, daß der erreichte Stand der gesellschaftlichen dann ist dieses Spielen mit dem Vertrauen der Bevöl-
Entwicklung absolut unbefriedigend ist. kerung wirklich unzulässig und ein Zündeln an der
Demokratie in diesem Lande.
Sie sagen, die Politik habe bereits wichtige Schritte
getan, und sind dann wieder beim Gleichberechti- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
gungsgesetz. Sie wissen genauso gut wie ich, daß ten der PDS)
nur ein wirkliches Gleichstellungsgesetz, das in allen
ökonomischen und politischen Bereichen, in allen Frauen und ihre Kinder sind von Arbeitslosigkeit
Arbeitsbereichen Gültigkeit hat, die Position von und Armut am meisten betroffen, und nun fällt Ihnen
Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft verändern wieder nichts anderes ein, als just bei diesen Grup-
kann. pen den Rotstift anzusetzen. Und die Frauenministe-
rin stellt fest: Die Politik hat in Sachen Gleichberech-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- tigung bereits wichtige Schritte getan.
ten der PDS)
Sie nehmen diese Studie als erfreulichen Beweis Im vereinten Deutschland liegt noch vieles im ar-
dafür, daß sich die beiden unterschiedlich entwickel- gen. Aber statt die Realitäten und die Schwierigkei-
ten Gesellschaften in Ost und West aufeinander zu- ten des Umbruchs, die ja vorhanden sind, aufzutun
bewegt hätten und angeglichen seien. Ich kann Ihre und Folgerungen zu ziehen, reden Sie, Frau Ministe-
Freude darüber nicht teilen, im Gegenteil, ich finde rin, schön.
-
das zynisch. Wie kann man sich denn darüber Wir haben daneben eine Verpflichtung, das, was
freuen, daß nun die Unzufriedenheit über den Stand wir hier in Deutschland erfahren und gelernt haben,
der Gleichberechtigung auch im Osten so hoch ist auch in grenzüberschreitende Diskussionen und Ge-
wie im Westen? Das heißt doch nicht nur, daß sich die spräche einzubringen, so daß unsere Erfahrungen
Frauen in Ostdeutschland ihrer Benachteiligungen mit der Gleichberechtigung zwischen Ost und West
bewußt geworden sind und daß sie gemerkt haben, in Deutschland auch wichtig sein können für die Um-
daß diese Benachteiligungen nicht aus eigener Unfä- setzung von Gleichberechtigung zwischen Deutsch-
higkeit entstanden, sondern es bedeutet auch, daß land und Osteuropa - um nur eine Blickrichtung zu
diese Benachteiligungen strukturelle und gesell-
nennen.
schaftliche Ursachen haben. Diese strukturellen Ur-
sachen können Sie weder durch Umfragen noch Natürlich ist es in Ordnung, darüber zu diskutie-
durch Appelle beseitigen. ren, welche osteuropäischen Länder der NATO bei-
Wenn in Ost und West nahezu alle Befragten die treten könnten. Aber wenn es um die Gleichberechti-
Auffassung vertreten, daß auch verheiratete Frauen gung geht, fällt Ihnen nichts weiter ein, als vorrangig
wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen sollen, dann dafür zu sorgen, daß die Prostitution an den Grenzen
schaffen Sie endlich die Voraussetzungen dafür! entsprechend verfolgt wird. Aus welchem Grund
Frauen sich und damit auch ihre Familien prostituie-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ren, bleibt Ihnen offenbar verborgen.
ten der PDS)
Es gäbe noch viele Bereiche, die ich hier anspre-
Statt dessen aber ist die Bundesregierung dabei, ein chen müßte; das werden meine Kolleginnen hier
Sparpaket zu schnüren, das wieder einmal vor allem noch tun. So müssen wir beispielsweise mit Sicher-
Frauen betrifft. Ich nenne hier nur zwei Punkte: Sie heit in diesem Lande weiterhin über die Gerechtig-
wollen einen späteren Renteneintritt von Frauen. keit gegenüber Frauen diskutieren, die aus anderen
Das würde Hunderttausende von Frauen betreffen, Ländern hierher nach Deutschland kommen.
die sich auf Gesetze in diesem Lande verlassen ha-
ben. Das wird es mit der SPD hier in diesem Hause Ich möchte mit einem Satz noch auf unseren An-
nicht geben. trag zu sprechen kommen, über den heute ebenfalls
abgestimmt werden wird. Wir sind mit der Regie-
(Beifall bei der SPD)
rungskoalition einer Meinung, wenn es darum geht,
Ich bitte Sie, Frau Süssmuth - als Vorsitzende der daß Frauen im Sport weltweit nicht diskriminiert
Frauenunion haben Sie sich dazu deutlich geäußert -, werden dürfen, sondern daß auch hier gleiche Teil-
in diesem Hause eine deutliche Erklärung dazu ab- habe gewährleistet sein muß.
zugeben, daß es nicht bei einer Absichtserklärung
bleibt, das zu verhindern, sondern daß Sie in diesem (Beifall bei der SPD)
Hause auch tatsächlich so handeln. Denn die Mini-
Frauen haben in Deutschland und weltweit ihre
sterin ist uns diese Aussage schuldig geblieben.
Pflichten übererfüllt. Ihre Rechte dürfen nicht länger
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- hinterherhinken. Dafür ist die Bundesregierung mit
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN verantwortlich.
und der PDS)
Vielen Dank.
Ein zweiter Punkt, den es mit uns nicht geben
wird, der aber für dieses Sparpaket vorgesehen ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
und der wiederum vor allen Dingen Frauen bet rifft, ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
ist die Kürzung des gerade erst verabschiedeten Kin- und der PDS)
8672 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Das ist nicht nur rechtswidrig; das ist auch ein Rück-
jetzt die Abgeordnete Kerstin Müller. fall ins frauenpolitische Mittelalter. Zudem ist es eine
Verhöhnung dieses Hohen Hauses und all derer, die
sich um eine Reform bemüht haben. Das können wir
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht zulassen.
NEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Mehr als ein halbes Jahr nach der Welt- Ich finde es bedauerlich, daß wir heute keine na-
frauenkonferenz in Peking führen wir heute diese mentliche Abstimmung zu diesem Antrag machen
Debatte, eigentlich viel zu spät; einige haben es können. Ich hoffe allerdings, meine Damen und Her-
schon gesagt. Dabei müßte es vor allen Dingen um ren von der Koalition, daß Sie unseren Antrag inhalt-
die Perspektiven für die Frauen in diesem Land ge- lich voll unterstützen werden.
hen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie kön-
nen wir über Perspektiven reden, wenn wir uns im- (Zuruf von der SPD: Stimmt! Werden sie
mer wieder mit alten, längst erledigten Kamellen be- aber nicht tun!)
schäftigen müssen?
Meine Damen und Herren von der Koalition und
Ich muß hier leider auf eine alte Kamelle eingehen; der SPD, Peking war wichtig. Aber während wir hier
es ist nämlich wirklich ein Skandal sondergleichen. heute über die Konsequenzen der Weltfrauenkonfe-
Jetzt will die Bayerische Landesregierung ein eige- renz diskutieren, gehen die eigentlichen gesell-
nes Abtreibungsrecht schaffen. Frau Eichhorn, ich schaftlichen Debatten an den Frauen vorbei. Frau
finde es sehr bedauerlich, daß Sie das hier nicht an- Nolte, Sie haben in Peking das Jahr 1996 zum Jahr
gesprochen haben. - der Gleichberechtigung ausgerufen. Heute war da-
von leider nicht mehr die Rede.
Frauen sollen nach dem Gesetzentwurf des bayeri-
schen Kabinetts, der gestern im Kabinett verabschie- Ich frage vor allem: Wo sind beim „Bündnis für Ar-
det wurde, im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht beit" die Frauen? Wie steht es hier mit der Gleichbe-
beim Beratungsgespräch verpflichtet werden, ihre rechtigung? Warum fehlen in der Kanzlerrunde die
Gründe für einen Abbruch darzulegen. Die Bera- Frauen? Frau Ministe ri n, da spielt die Musik. Jetzt ist
tungsbescheinigung kann ihnen sogar verweigert diese Runde ein Bündnis der alten Männer. Aber ich
werden. Meine Damen und Herren, das ist ein ekla- meine, die Fraueninteressen müßten gerade in dieser
tanter Verstoß gegen das Gesetz, das wir in diesem Runde vertreten werden.
Haus verabschiedet haben.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
sowie bei Abgeordneten der SPD, der F.D.P.
Auch hier in Deutschland sind Frauen von einer
und der PDS) Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt noch weit ent-
Es ist eine völlig unverträgliche, neue Bevormun- fernt, und zwar egal, ob es um den Berufseinstieg,
dung der Frauen. um berufliche Aufstiegschancen oder um eine eigen-
ständige Alterssicherung geht; Frauen sind überall
Schon in den Beratungen um die Reform des § 218 benachteiligt.
ist es vor allem den Damen und Herren aus Bayern
darum gegangen, den Lebensschutz in den Vorder- Dabei verdanken die westdeutschen Frauen eine
grund zu stellen; ich bin bei den Beratungen dabei- Zunahme von Arbeitsplätzen vor allem einem Mehr
gewesen. Immer wieder wurde den Frauen damit das an Teilzeitarbeit und ungeschützten Beschäftigungs-
Mißtrauen ausgesprochen, selbst entscheiden zu verhältnissen. Im Osten haben heute sogar weniger
können, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Frauen als vor der Vereinigung eine Beschäftigung.
Wir wissen doch alle: Es war der Druck aus Bayern, Frau Nolte, wenn 1996 das Jahr der Gleichberech-
und es war der Druck der Lebensschützer, der jahre- tigung werden soll, dann müssen wir diese Nachteile
lang eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts ver- endlich beseitigen.
hindert hat. Dieser Druck führte schließlich dazu, daß (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
das Beratungsziel im Strafgesetzbuch vor allen Din- SES 90/DIE GRÜNEN)
gen den Lebensschutz im Auge hat. Wir, meine Frak-
tion und ich, haben vor allen Dingen wegen dieser Wir müssen Arbeit zugunsten der Frauen umvertei-
Lebensschutzgeschichte dem sogenannten Jahrhun- len und Arbeitszeitverkürzungen auf allen Ebenen
dertkompromiß nicht zugestimmt. Wie ein Damokles- und in allen Bereichen umsetzen. Das wird neue Ar-
schwert hat eine mögliche Klage aus Bayern die beitsplätze schaffen.
ganze Zeit über diesen Beratungen gehangen; das
wissen auch Sie, sehr geehrte Damen von der SPD. Wir brauchen veränderte Arbeitsstrukturen; wir
müssen Erwerbsarbeit und Haus- und Betreuungsar-
Jetzt gibt es zwar keine Klage; dafür schafft Bayern beiten im Sinne der Gleichberechtigung der Ge-
aber ein eigenes Landesabtreibungsrecht. Das kön- schlechter neu organisieren. Frauen müssen einen
nen wir nicht zulassen. besseren Zugang zur Erwerbsarbeit bekommen, und
Männer sollen sich mehr um Kinder kümmern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Meine Fraktion hat dazu schon zahlreiche Vor-
PDS) schläge gemacht. Wir haben einen Antrag in den
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ri l 1996 8673
Kerstin Müller (Köln)
Deutschen Bundestag eingebracht, der für Beschäf- eine Politik von gestern. Ich bin davon überzeugt,
tigte mit Kindern einen Anspruch auf Freistellung in daß er damit nicht ankommen wird.
Form eines Zeitkontos festschreibt. Wir fordern schon
seit langem umfassende Freistellungsansprüche für Danke schön.
die Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
aber auch zur beruflichen und allgemeinpolitischen sowie bei Abgeordneten der SPD)
Bildung. Auch das - dazu gibt es Untersuchungen -
wird neue Arbeitsplätze schaffen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt hat
In Peking und auch heute wieder haben Sie, Frau jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenber-
Ministerin Nolte, eine positive Bilanz der Situation ger.
deutscher Frauen gezogen. Ich teile hier Ihre Ein-
schätzung nicht. Trotz der Deklaration von Peking ist
der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.):
längst noch nicht verwirklicht. Immer noch stehen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Sehr
Frauen am unteren Ende der Lohnskala. Sie verdie- geehrte Herren! Es ist ja schön, daß die Bevölkerung
nen bei gleicher Arbeit durchschnittlich rund ein nach einer Repräsentativumfrage - trotz gewisser
Drittel weniger als ihre männlichen Kollegen. Ich Vorbehalte gegen Umfragen auf Grund jüngster Er-
finde, das ist ein Armutszeugnis für die BRD, eines fahrungen - die Gleichberechtigung wirklich als ein
der wohlhabendsten Länder der Erde. wesentliches Thema ansieht und daß wir deshalb
heute Gott sei Dank in der Kernzeit debattieren und
Frau Nolte, Sie haben heute und auf der nationa- nicht abends um 20, um 21 oder um 22 Uhr, wobei
len Nachbereitungskonferenz im März angekündigt, dann häufig noch darum gebeten wurde, die Ausfüh-
dem Mißbrauch von 590-DM-Jobs entgegenzutreten. rungen zu Protokoll zu geben.
Ich fordere Sie auf: Handeln Sie doch endlich! Ma-
chen Sie die geringfügige Beschäftigung sozialversi- (Beifall der Abg. Anke Eymer [CDU/CSU])
cherungspflichtig, und schieben Sie das nicht immer
wieder auf die Tarifpartner! Ich möchte hier einiges deutlich sagen; denn ich
bin der Meinung, daß in manchen Bereichen, in de-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen wir Fortschritte erreicht hatten, der Trend auf
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rückschritt steht.
der PDS)
Ich möchte an das anknüpfen, was Sie, Frau Mül-
Aber zur Zeit führen wir genau die umgekehrte ler, ausgeführt haben, nämlich an die Überlegungen,
Diskussion. Es geht doch nicht mehr darum, diejeni- die die Bayerische Staatsregierung bei der Schwan-
gen, die heute schon aus den sozialen Sicherungssy- gerenberatung anstellt und die heute der Presse zu
stemen herausfallen, vor Armut zu schützen. Nein, entnehmen sind. Wir haben in der letzten Legislatur-
die Frage lautet - und damit werden wir uns in den periode um einen komplizierten Kompromiß in einer
nächsten Wochen leider zu beschäftigen haben -, sehr, sehr schwierigen Gewissensfrage gerungen,
wer in Zukunft noch ausgegrenzt werden soll. Wir und wir haben uns hier nach langem Ringen auf die
werden in den nächsten Wochen die Debatte über verpflichtende Beratung verständigt. Gerade die For-
das Sparpaket der Bundesregierung führen, und die- mulierung in dem Bundesgesetz, es werde erwartet,
ses wird vor allen Dingen zu Lasten der Frauen ge- daß die schwangere Frau die Gründe mitteilt, um de-
hen. Das wird meine Fraktion nicht zulassen. retwillen sie einen Abbruch der Schwangerschaft er-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wägt, war Ergebnis dieses Ringens um einen wichti-
gen Kompromiß unter Berücksichtigung der beiden
Zum Beispiel schlägt Herr Blüm in der Rentende- Gesichtspunkte, einerseits des Schutzes des ungebo-
batte vor, das Rentenzugangsalter für Frauen von 60 renen Lebens und andererseits genauso der Selbst-
auf 63 Jahre heraufzusetzen. Wer später in den Ruhe- bestimmung und Entscheidungsfreiheit der Frau;
stand geht, zahlt länger Beiträge und bezieht kürzere denn sie hat ja die Verantwortung zu tragen, und sie
Zeit eine Rente. Ich finde, das ist ein ziemlich absur- trifft diese Entscheidung nicht leichtfertig und setzt
der Vorschlag. Auf der einen Seite diskutieren wir sich nicht leichtfertig über wirklich gute Gründe hin-
über Teilrente und Frühverrentung, und bei den weg. Sie ist vielmehr in einer schwierigen Drucksi-
Frauen denken wir an eine Verlängerung der Le- tuation.
bensarbeitszeit. Das ist doch absurd; das bringt uns
doch keinen Schritt vorwärts.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gestatten Sie dazu eine Zwischenfrage der Kollegin
SES 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Grießhaber?
Zuruf von der F.D.P.: Was bringt denn vor-
wärts?)
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.): Ja.
Ich denke, es ist klar, hier soll auf Kosten der Frauen
und zu Lasten der jüngeren Generation gespart wer-
den. Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, sind Sie
Lassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen: nicht auch der Meinung, daß es für uns alle in der
Ich glaube, wer heute - egal, wie die Haushaltslage frauenpolitischen Debatte außerordentlich wichtig
ist - eine Politik gegen die Frauen macht, der macht ist, daß Frauenministerin Nolte, die dabei war, als
8674 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Rita Grießhaber
hier über den § 218 verhandelt wurde, zu dieser An- rade nicht erzwungen werden soll, die Gründe auch
gelegenheit in Bayern Stellung bezieht? ausdrücklich mitzuteilen und davon die Ausstellung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Beratungsbescheinigung abhängig zu machen.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Ich glaube, es geht darum, wie die politische Bewer-
PDS) tung vorgenommen wird, und sie ist, glaube ich, aus
meinen Worten eindeutig hervorgegangen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.): Ich Da ich aber nur noch zwei Minuten Redezeit habe,
glaube, es ist heute nicht Gegenstand der Debatte, bitte ich um Verständnis, daß ich ganz kurz wenig-
daß sich eine Bundesministerin oder ein Bundesmini- stens zu zwei anderen Punkten etwas sagen möchte.
ster zu Handlungen einer Landesregierung äußert. Es liegt - auch das ist ein innenpolitisches Thema -
ein Antrag vor, der sich mit dem selbständigen Auf-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - enthaltsrecht ausländischer Ehegatten beschäftigt.
Widerspruch bei der SPD - Zuruf des Abg. Ich möchte für die F.D.P.-Bundestagsfraktion ganz
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ deutlich sagen, daß wir schon seit langem auf eine
DIE GRÜNEN]) Änderung der Härtefallregelung in § 19 des Auslän-
Hier ist der richtige Ort, daß Parlamentarier und Par- dergesetzes drängen und erreicht haben, daß es im
lamentarierinnen, gerade auch, wenn sie aus Bayern Rahmen eines Pakets von Änderungen ausländer-
kommen, ihre Meinung deutlich kundtun. Deshalb rechtlicher Vorschriften auch hier zu einer Verbesse-
mache ich das. rung kommen wird. Das wird im Paket vorgelegt und
- behandelt werden. Ich finde, es ist richtig, daß wir sa-
(Beifall bei der F.D.P.) gen, daß ein Aufenthalt von einem Jahr in Deutsch-
Deshalb werden ich und auch die F.D.P.-Bundes- land dann die Grundlage auch für Härtefallregelun-
tagsfraktion Ihren Antrag nicht unterstützen, einer gen ist. Wir wollen nicht, daß es bei den drei Jahren,
Landesregierung eine Mißbilligung auszusprechen. wie es jetzt in § 19 des Ausländergesetzes steht,
Sonst könnten wir das jede Sitzungswoche tun. Es bleibt.
wird immer ein Verhalten einer Landesregierung ge- (Beifall bei der F.D.P.)
ben, von dem wir sagen könnten, es gefiele uns
nicht. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen - lei-
der geht es in fünf Minuten alles nur sehr kursorisch -,
(Zurufe von der SPD und der PDS) nämlich die Beschäftigungssituation von Frauen.
- Da ist, ohne daß ich auf die Sache eingehe, nicht Natürlich ist sie verbesserungsbedürftig. Bei der Teil-
das Verhalten mißbilligt worden. Vielmehr hat man zeitbeschäftigung brauchen wir natürlich eine Offen-
sich mit einer verfassungsrechtlichen Frage beschäf- sive und vor allen Dingen auch eine sehr viel größere
tigt. Bereitschaft des öffentlichen Dienstes. Dort müssen
Tabus fallen, daß ab einer bestimmten Ebene Teil-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- zeitbeschäftigung nicht mehr möglich sei. Natürlich
ten der CDU/CSU) ist sie möglich, und sie ist auch ohne zusätzlichen
Verwaltungsaufwand zu bewerkstelligen. Ich spre-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, che mich aber gegen spezielle Gesetzesänderungen
gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle- oder Teilzeitbeihilfen aus, was wiederum Verwal-
gin Wolf? Ich halte die Zeit an. tungskontrolle und Verwaltungsbestimmungen er-
fordern würde. Deshalb teile ich das, was uns als An-
trag vorgelegt worden ist, nicht. Denn es ist kontra-
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.): Ja. produktiv, es führt wieder nur zu mehr Verwaltung,
zu mehr Bürokratie, zu Regulierung. Im Zweifel führt
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. es aber nicht zu mehr Beschäftigung für Frauen und
zu mehr Teilzeitbeschäftigung.
Hanna Wolf (München) (SPD): Frau Kollegin, wür- An die Stelle der Teilzeitbeschäftigung soll und
den Sie mit dabeisein - ich habe dem Beifall gerade darf natürlich nicht die Beschäftigung in geringfügi-
entnommen, daß auch Sie gegen diese bayerische gen Beschäftigungsverhältnissen treten. Aber ich
Absicht protestieren -, daß wir vom Parlament aus wehre mich dagegen, diese Diskussion nur unter
dies als die Nichterfüllung eines Bundesgesetzes zu- dem Gesichtspunkt des Mißbrauchs zu führen.
rückweisen? Bayern darf nicht denken, einfach ma-
chen zu können, was es will. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
ten der CDU/CSU)
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.): Ich Für viele Bereiche ist es unverzichtbar, daß es die
bin sehr wohl bereit, ganz deutlich zu sagen, daß ich 590-DM-Arbeitsverhältnisse gibt. Ich finde, wir soll-
von diesem Gesetzesvorstoß in Bayern überhaupt ten nicht die Erwartungen wecken, daß es, wenn sie
nichts halte, alle versicherungspflichtig wären, zu mehr Arbeits-
(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND- plätzen führen würde; im Gegenteil, es würden viele
NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) wegfallen. Wir müssen auch sagen, daß natürlich
nicht annähernd das an Altersversorgung erreicht
daß er hinter das Bundesgesetz, das wir gemeinsam würde, was sich Frauen, die davon betroffen wären,
verabschiedet haben, zurückgeht und daß eben ge erhoffen. Eine Versicherungspflicht bei einen 590-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8675
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
DM-Vertrag würde in der Rentenversicherung eine mich dem anschließen, was die Kollegin Müller ge-
Anwartschaft von letztendlich nur einigen Mark be- sagt hat. Wir fordern die F.D.P. auf, einen Antrag ein-
gründen. Das sind zirka 13 DM jährlich. zubringen, um das Anliegen der bayerischen Staats-
regierung zurückzuweisen. Sie hätten dafür die Un-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
terstützung der SPD-Fraktion; denn das Bundesge-
ten der CDU/CSU) setz ist mit viel Mühe und in Solidarität zu den
Deshalb sollten wir diese Diskussion nicht aus- Frauen entstanden.
schließlich unter dem Gesichtspunkt des Mißbrauchs
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
und der Abschaffung von geringfügigen Beschäfti- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
gungsverhältnissen führen. Wir brauchen diese Be-
PDS)
schäftigungsverhältnisse. Wir sind da, wo es sich
wirklich um Mißbrauch handelt, bereit, Änderungen
mitzutragen. Aber das Ganze ist keine Mißbrauchs- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es antwortet die
-diskussion an sich, um die Abschaffung der 590-DM Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger.
Arbeitsplätze zu erreichen.
Viele Rednerinnen haben heute schon gesagt: Es Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.): Die
gibt viel zu tun. Es gibt wirklich viel zu tun, um über- Meinungsbildung und die Äußerungen in diesem
flüssige und bürokratische Regelungen in diesem Be- Parlament sind ja wohl eindeutig, gerade das, was
reich zu verhindern. Denn das ist nicht Frauenpolitik auf Bayern abzielt.
des Jahres 1996. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Vielen Dank. DIE GRÜNEN]: Was sagt denn Frau Nolte?)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Der Antrag, der vom Bündnis 90/Die Grünen vor-
gelegt worden ist, wird in die Ausschüsse überwie-
sen und dort behandelt werden. Vielleicht beschließt
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu ei- dann eine große Mehrheit einen Antrag, wie auch
ner Kurzintervention erhält jetzt die Kollegin Kerstin immer er aussieht. Die Botschaft heute aus weiten
Müller. Kreisen des Hauses ist eindeutig. Das ist das Ent-
scheidende, was aus dieser Debatte hervorgehen
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- muß.
NEN): Erstens. Frau Leutheusser-Schnarrenberger,
(Beifall bei der F.D.P. - Joseph Fischer
ich freue mich sehr, daß auch Sie hier klar zum Aus- [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
druck gebracht haben, daß Sie das Verhalten der
Was sagt denn Frau Nolte?)
Bayerischen Staatsregierung mißbilligen. Wir hän-
gen nicht an den Formulierungen unseres Antrags.
Aber es ist doch völlig klar: Dieses Parlament hat jah- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
relang darum gerungen, die Reform des Abtrei- jetzt die Kollegin Bärbel Sothmann.
bungsrechts umzusetzen. Wenn Sie hier einen An- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
trag vorlegen, haben wir keine Probleme, ihm zuzu- DIE GRÜNEN]: Frau Nolte schweigt! -
stimmen. Ich bin der Meinung: Dieses Parlament Gegenruf des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/
muß sich zu dem Verhalten der Bayerischen Staatsre- CSU]: Und Fischer schreit!)
gierung äußern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bärbel Sothmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
bei der SPD und der PDS) Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Frauen
Zweitens. Es geht hier um Bundesgesetze. Die wissen, was sie wollen", das war das Motto des dies-
Bundesregierung ist verpflichtet, darauf zu achten, jährigen Internationalen Frauentages, und es war,
daß Bundesgesetze umgesetzt werden. Deshalb for- finde ich, sehr passend. Spätestens seit der Vierten
dere ich Sie, Frau Ministerin Nolte, auf, daß Sie zu Weltfrauenkonferenz wissen Frauen auch, wie sie
dem Verhalten der Bayerischen Staatsregierung Stel- ihre Ziele erreichen wollen. Die Aktionsplattform
lung beziehen, sich hier klar äußern und den Abge- von Peking gibt den Teilnehmerstaaten hierzu kon-
ordneten Ihre Meinung zur Kenntnis geben. krete Vorgaben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Peking war ein Erfolg; denn es wurde ganz klar
bei der SPD und der PDS) festgestellt: Frauenrechte sind Menschenrechte. Ge-
walt gegen Frauen ist Menschenrechtsverletzung.
Sie ist in jeglicher Form zu verurteilen. Klargeworden
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ebenfalls zu ei- ist auch: Die Probleme von Frauen sind in allen Län-
ner Kurzintervention erteile ich der Kollegin Wolf das dern gleich; sie unterscheiden sich nur in ihrem Aus-
Wort. maß. Und: Die Zukunft der Menschheit ist abhängig
von der Zukunft der Frauen.
Hanna Wolf (München) (SPD): Liebe F.D.P.-Kolle-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ginnen, liebe Frau Kollegin Leutheusser-Schnarren-
berger, Sie haben hier heute das zum Ausdruck ge- Durch die Verabschiedung der Aktionsplattform
bracht, was wir als langjährige Mitkämpferinnen für haben alle Teilnehmerstaaten - dies überhaupt zum
eine Reform des § 218 gesagt haben. Ich möchte erstenmal in der Geschichte der Menschheit - diese
8676 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1996
Bärbel Sothmann
fundamentalen Wahrheiten anerkannt und sich ver- gewaltigte Frauen aus Scham und Angst, daß man
pflichtet, die Gleichberechtigung von Mann und ihnen nicht glauben könnte, vor einer Anzeige zu-
Frau weltweit durchzusetzen. rückschrecken.
Meine Damen und Herren, dieser Verhandlungser- Meine Damen und Herren, auch international muß
folg ist die Basis, auf der wir aufbauen. Mit der natio- die Bundesrepublik ihren Einfluß geltend machen,
nalen Nachbereitungskonferenz hat unsere Bundes- um die Menschenrechtssituation von Frauen zu ver-
ministerin Claudia Nolte die Umsetzung der Aktions- bessern. Wir fordern, daß das Mandat für die UN-
plattform von Peking bei uns in die Wege geleitet. Sonderberichterstatterin für die Frage der Gewalt ge-
Selbst in Deutschland ist die tatsächliche Gleichbe- gen Frauen verlängert, aktualisiert und ausgebaut
rechtigung von Frauen noch immer nicht erreicht - wird.
das wissen wir alle -, auch wenn es bereits sehr
große Fortschritte gibt. Die internationale Zusammenarbeit im Kampf ge-
gen Menschenhändlerringe, Sextourismus und Sex-
Handlungsbedarf in Sachen Gleichberechtigung handel muß verstärkt werden. Die Vergewaltigung
haben wir besonders in den Bereichen Frauen und von Frauen als Mittel der Kriegsführung und ethni-
Arbeit, Frauen und Macht, Frauen und Gewalt. Denn schen Säuberung - jüngstes schreckliches Beispiel
nach wie vor haben Frauen bei uns mehr Probleme hierfür sind die Massenvergewaltigungen im ehema-
auf dem Arbeitsmarkt und erhalten im Durchschnitt ligen Jugoslawien - muß konsequent geahndet wer-
weniger Lohn als die Männer. Wir haben dies heute den. In diesem Zusammenhang begrüße ich die For-
mehrfach gehört. Ihre Aufstiegschancen in Entschei- derung von Außenminister Kinkel nach Einrichtung
dungspositionen sind trotz guter Ausbildung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofes.
schlecht. Meine Vorrednerinnen sind auf dies alles
bereits eingegangen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der F.D.P.)
Gewalt gegen Frauen ist noch immer ein großes
Tabuthema. Jahr für Jahr sind bei uns Millionen von Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
Frauen seelischer und körperlicher Gewalt ausge- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nie-
setzt. Pro Jahr suchen rund 40 000 Frauen mit ihren huis?
Kindern verzweifelt Zuflucht in Frauenhäusern.
Meine Damen und Herren, neben der Beseitigung
der Diskriminierung müssen wir daher auf die Be- Bärbel Sothmann (CDU/CSU): Nein, ich habe zu-
kämpfung der Gewalt gegen Frauen unser Haupt- wenig Zeit.
augenmerk richten. Das möchte ich heute hier tun.
Vergewaltigung in der Ehe ist kein Kavaliersde- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Natürlich halte
likt. Sie muß genauso hart bestraft werden wie die ich die Zeit an.
Vergewaltigung durch einen Fremden. Ich bin zuver-
sichtlich, daß die entsprechende Änderung des Straf- Bärbel Sothmann (CDU/CSU): Na gut.
gesetzbuches noch vor der Sommerpause verab-
schiedet wird.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
Dr. Edith Niehuis [SPD]: Das hören wir doch Dr. Edith Niehuis (SPD): Es freut mich, daß Sie Ver-
seit Jahren!) trauen in meine Frage haben.
Auch der Mißstand, daß ausländische Ehegatten -
in der Regel sind dies Frauen -, allzuoft Mißhandlun- Bärbel Sothmann (CDU/CSU): Das ist noch die
gen ihres Partners erdulden, um nicht abgeschoben Frage.
zu werden, muß beseitigt werden. Die derzeitige ge-
setzliche Regelung wird der Problematik nicht ge-
Dr. Edith Niehuis (SPD): Es zeigt zumindest, daß
recht.
Sie neugierig geworden sind.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
In der Diskussion um eine sachgerechtere Härte- Bärbel Sothmann (CDU/CSU): Das sind wir im-
fallregelung zeichnet sich nun auch eine Änderung mer!
hinsichtlich einer wesentlichen Verkürzung der Frist
ab. Eine völlige Streichung der Frist für Härtefälle, Dr. Edith Niehuis (SPD): Frau Sothmann, Sie haben
wie Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sie völlig zu Recht gesagt, daß wir etwas gegen Frauen-
in Ihrem Antrag fordern, lehnen wir allerdings ab, handel, Sextourismus und dergleichen tun müssen.
weil wir einen Schutz vor Mißbrauch haben müssen. Das hat natürlich sehr viel mit unserem § 19 zu tun.
(Dr. Edith Niehuis [SPD]: Was für Miß- Wir wollen, daß diese Scheinehen, die als Instrument
brauch?) des Frauenhandels genutzt werden, bei uns nicht
mehr vorkommen. Daß in diesen Scheinehen Frauen
Wichtig sind auch zusätzliche Ausbildungspro- mißhandelt werden, passiert aber innerhalb des er-
gramme für Polizei und Justiz, um diese für das Pro- sten Jahres, nachdem sie in die Bundesrepublik
blem der Gewalt gegen Frauen zu sensibilisieren. Es Deutschland gekommen sind, weil der Handel und
ist nämlich nicht hinnehmbar, daß zum Beispiel ver- der Mißbrauch der Frau Sinn dieser Ehe ist. Insofern
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8677
Dr. Edith Niehuis
muß ich Sie dringend fragen, ob Sie sich nicht vor- überall da einmischen, wo Menschenrechte verletzt
stellen können, daß die Gefahr des Mißbrauchs aus- werden. Menschenrechtspolitik ist Weltinnenpolitik.
ländischer Ehefrauen bei Bestehen einer Frist sehr Auf europäischer Ebene brauchen wir ähnlich wie in
viel größer ist, als wenn diese nicht besteht. Art. 3 unseres Grundgesetzes die rechtliche Veran-
kerung von Gleichberechtigung und Chancen-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gleichheit von Männern und Frauen. Bei den anste-
henden Verhandlungen zu Maast ri cht II werden wir
Bärbel Sothmann (CDU/CSU): Frau Niehuis, darin uns dafür einsetzen.
sind wir uns nicht einig. Wir sehen es genau umge-
kehrt. Wir sehen, daß ein Mißbrauch durchaus ein-
treten kann, und deswegen wollen wir nicht die völ- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
lige Streichung der Frist in dieser Härteklausel. es gibt zwei Wünsche nach Zwischenfragen. Gestat-
ten Sie zunächst eine Zwischenfrage der Kollegin
Die internationale Zusammenarbeit, meine Damen Holzhüter?
und Herren, im Kampf gegen Menschenhändler
ringe, Sextourismus und Sexhandel muß verstärkt
werden. Ich habe es gerade schon gesagt. Die Verge- Bärbel Sothmann (CDU/CSU): Nein, ich möchte
waltigung von Frauen als Mittel der Kriegsführung das zu Ende bringen. Meine Damen und Herren,
und ethnischen Säuberung - das schreckliche Bei- Voraussetzung für den Erfolg aller Bemühungen zur
spiel war Ex-Jugoslawien; ich möchte es noch einmal Verbesserung der Gleichberechtigung und zum Ab-
wiederholen - muß konsequent geahndet werden. - bau der Gewalt gegen Frauen sind aber nicht nur
Aktionspläne und Gesetze. Wir brauchen auch einen
Meine Damen und Herren, auch der Ausschluß durchgreifenden Bewußtseinswandel hinsichtlich
von Frauen vom Sport bedeutet eine Verletzung der Rolle der Frau in Gesellschaft, in Beruf und Poli-
ihrer Menschenrechte, die nicht akzeptabel ist. tik. Dazu müssen Männer und Frauen an einem
Strang ziehen. Bei diesem Umdenken sind jeder Bür-
(Beifall des Abg. Wolfgang Dehnel [CDU/ ger, jede Bürgerin, alle gesellschaftlichen Gruppen,
CSU]) die Politik, die Verbände, die Tarifpartner, die Bil-
Bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona trat dungseinrichtungen, Kirchen und Medien gefordert,
jede fünfte Nation mit einer reinen Männermann- aber auch wir, meine Damen und Herren Kollegen.
schaft an. Dies hatte nicht nur sportliche Gründe,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
denn in der Mehrzahl dieser Länder ist Frauen das
Sporttreiben verboten, oder ihre Möglichkeiten,
Sport zu treiben, sind durch Kleidervorschriften oder Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt zu ei-
massive Bedrohungen so stark eingeschränkt, daß ner Kurzintervention erhält die Kollegin Holzhüter.
eine olympische Qualifikation für sie nicht erreichbar
ist.
Ingrid Holzhüter (SPD): Sind Sie nicht mit mir der
Nicht zuletzt stellt die Aktionsplattform von Peking Meinung, daß wir auch Herrn Kinkel auffordern
fest, daß Menschenrechte weder durch religiöse müßten, in seinem sogenannten kritischen Dialog
noch durch kulturelle Traditionen eingeschränkt mit dem Iran dieses Thema einmal einzuführen, und
werden dürfen. Auch die Olympische Charta verbie- daß man sich nicht immer dahinter zurückziehen
tet jede Form der Diskriminierung, auch die Diskri- kann, daß man aus wirtschaftlichen Gründen das
minierung auf Grund des Geschlechts. Südafrika war Klima nicht vergiften möchte? Die sozusagen nicht
wegen seiner Apartheidpolitik jahrzehntelang von mögliche Teilnahme an den Olympischen Spielen ist
den Olympischen Spielen ausgeschlossen. Frauen- nur ein Ausdruck von massiver Unterdrückung der
apa rt heid ist nicht weniger menschenrechtsverlet- Fraueninteressen, was sich aus dem Koran über-
zend als Rassenapartheid. haupt nicht ableiten läßt. Wenn ich höre, daß man
jetzt darüber nachdenkt, wegen der Ereignisse in Is-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. rael diesen kritischen Dialog zu verstärken, so würde
sowie bei Abgeordneten der SPD und des
ich sehr herzlich darum bitten, dieses Frauenthema
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
dort mit einzufordern. Sie als Regierung möchte ich
Die Gruppe der Frauen der CDU/CSU-Bundes- herzlich auffordern, dieses mit Ihren Stimmen zu ver-
tagsfraktion hat daher das Nationale Olympische Ko- stärken. Gehen Sie darin mit mir einig?
mitee aufgefordert, sich beim IOC dafür einzusetzen,
daß die Verletzung der Olympischen Charta entspre-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Antworten,
chend sanktioniert wird. Gerade die olympische Be- bitte.
wegung, die zu den größten internationalen Zusam-
menschlüssen zählt, muß ihren Beitrag zur Wahrung
der Menschenrechte und der Chancengleichheit von Bärbel Sothmann (CDU/CSU): Ich gehe darin mit
Frauen leisten. Ihnen einig. Wir sind auch mit Herrn Kinkel im Ge-
spräch.
Meine Damen und Herren, die nationale Nachfol-
gekonferenz zu Peking hat gezeigt, daß viele Einzel-
maßnahmen notwendig sind, um die Aktionsplatt- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wo rt eben-
form von Peking in Deutschland umzusetzen. Dar- falls zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin
über hinaus muß sich die Bundesregierung weltweit Schwaetzer.
8678 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Frau Präsidentin! Zwar haben das „Jahrzehnt der Frau" von 1975 bis
Liebe Kollegen! Selbstverständlich ist die Frage der 1985 und die 1979 verabschiedete Konvention zur
Menschenrechtsverletzungen an Frauen und die Un- Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der
teilbarkeit der Menschenrechte auch in dem soge- Frau der Schlüsselrolle von Frauen im Entwicklungs-
nannten kritischen Dialog mit dem Iran ein ständiges prozeß und ihren Rechten weltweite Öffentlichkeit
Thema. Dazu gehört natürlich, daß bei der Diskrimi- verschafft und gleichzeitig eine Neuorientierung in-
nierung von Frauen religiöse Gründe nicht vorge- ternationaler Frauenpolitik eingeleitet, doch sind
schoben werden dürfen. Das passiert dort. Da sind trotz der zahlreichen internationalen Fortschritte im
wir uns völlig einig, auch mit dem Außenminister. Bereich der formalen Gesetzgebung die politischen
Auseinandersetzungen um den Rechtsstatus der
Wir sind vom Unterausschuß „Menschenrechte Frau keinesfalls abgeschlossen. Die Diskussionen auf
und humanitäre Hilfe" in der vergangenen Woche in der Pekinger Weltkonferenz haben dies erneut ver-
Genf gewesen, wo die Menschenrechtskonferenz deutlicht.
derzeit tagt. Dort ist uns vom Delegationsleiter Baum
nachdrücklich bestätigt worden, daß von der Bun- Allgemeine Aussagen über Zusammenhänge von
desregierung auch in Genf dieses Thema immer wie- gesellschaftlicher Entwicklung und der Situation von
der angesprochen wird. Frauen sind schwierig, da die politischen, wirtschaft-
lichen, kulturellen und religiösen Rahmenbedingun-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort erhält gen sehr unterschiedlich sind. Dennoch erweist sich
jetzt die Kollegin Adelheid Tröscher. Frauendiskriminierung in den meisten traditionellen
- wie auch modernen Gesellschaften als Strukturmerk-
mal. Immer noch ergeben sich die unterschiedlichen
Adelheid Tröscher (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Lebenslagen und -chancen zwischen Mann und Frau
Kolleginnen und Kollegen! Ich muß es doch noch ein- aus den ungleichen Zugangsmöglichkeiten zu Be-
mal sagen: Es ist außerordentlich bedauerlich, daß schäftigung, Einkommen, wirtschaftlichen Ressour-
die parlamentarische Nachbereitung der Vierten cen, Gesundheitsversorgung, Ernährung, Erziehung
Weltfrauenkonferenz erst heute stattfindet. Die Zeit und vor allen Dingen Ausbildung.
drängt. Wenn wir Frauen uns nicht ernst nehmen,
was können wir da noch von Männern erwarten? Soziale Entwicklungen wie grundlegende Verän-
derungen in traditionellen Familien- und Gesell-
(Beifall des Abg. Bernd Reuter [SPD]) schaftsstrukturen, Migration, Urbanisierung, der
Frau Ministerin Nolte, Sie setzen Ihre negative Bi- Kontrast zwischen traditioneller und moderner Le-
lanz in Sachen Frauenpolitik fort. Der Vorbereitungs- bensweise sowie oft ungünstige wirtschaftliche Ent-
prozeß zur Weltfrauenkonferenz war gespickt mit wicklungen für die Mehrheit der Bevölkerung beein-
Pannen und Peinlichkeiten, der Nachbereitungspro- flussen in starkem Maße die Rolle der Frau in den
zeß wurde einfach nicht ernstgenommen. Frauenthe- verschiedenen Ländern der Dritten Welt.
men und entwicklungspolitische Themen sind außer- Fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung in den
dem Manövriermasse. Sie können geschoben wer- Ländern des Südens lebt in existenzbedrohender Ar-
den, und wir nehmen das dann auch noch hin. Heute mut, der überwiegende Teil hiervon sind Frauen mit
ist also endlich der große Tag für diese so wichtigen ihren Kindern. Das Erscheinungsbild von weiblicher
zukunftsweisenden Politikfelder. Armut hat unterschiedliche Facetten: Einkommens-
Nach der Verabschiedung der Aktionsplattform armut, geringes Alphabetisierungsniveau, fehlende
gibt es kein Zurück mehr hinter die Beschlüsse der Berufsausbildung und Altersarmut. Frauen sind auch
Menschenrechtskonferenz von Wien und der Bevöl- weiterhin nur ungenügend in den politischen und
kerungskonferenz von Kairo. gesellschaftlichen Prozeß vieler Länder der Dritten
Welt integriert. Doch eröffnen Umbruchprozesse in
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) diesen Ländern auch neue Chancen für Frauenpoli-
tik, zum einen, weil das Ausmaß der Benachteiligung
Dennoch bleibt es in der Wirklichkeit bei der schon und Unterdrückung zutage tritt, zum anderen, weil
1980 von den Vereinten Nationen der Weltöffentlich- sie die Betätigungsfelder für Frauen erweitert haben.
keit vorgelegten Statistik, die ich schon einmal hier Das, was von vielen Entwicklungsorganisationen
erwähnt habe, auf die aber einfach noch einmal hin- und -agenturen heute gepredigt wird, daß nämlich
gewiesen werden muß, weil sie in die Köpfe hinein die Frauen der Schlüssel zu mehr und besserer Ent-
muß: Frauen erzeugen 80 Prozent der Weltnahrungs- wicklung in Dritte-Welt-Ländern sind, muß sich nun
mittel - Frauen verrichten zwei Drittel der Weltar- auch endlich einmal in der Politik der Bundesregie-
beitsstunden - Frauen erhalten ein Zehntel des Welt- rung ausdrücken.
einkommens - Frauen besitzen ein Prozent des Ei-
gentums - Frauen stellen zwei Drittel aller Analpha- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
beten der Welt. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Hinter diesen statistischen Angaben verbergen Es ist nur zu begrüßen, daß der Präsident der Welt-
sich vielfältige Formen der Benachteiligung und bank, James D. Wolfensohn, diesen Zusammenhang
Diskriminierung von Frauen: die ungerechte Lasten- erkannt hat und in seiner Rede in Peking die Ausbil-
verteilung in der Familie, ihre wirtschaftliche Aus- dung von Mädchen und Frauen als Schlüssel für eine
beutung, der Verlust ihrer Kontrolle über Ressourcen bessere Zukunft erklärt hat. Wenn schon der Präsi-
und schließlich die ungleiche Bewertung von bezahl- dent der Weltbank, einer so wichtigen Institution, die
ter und unbezahlter Arbeit. Rolle der Frauen so beschreibt, dann muß es doch je-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ri l 1996 8679
Adelheid Tröscher
dem Mann klar sein, daß nachhaltige Entwicklung, bald Initiativen zur Umsetzung der Beschlüsse der
ökonomischer Fortschritt und soziale Gerechtigkeit Aktionsplattform vorzulegen.
von Frauen abhängig sind.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich weise auf unseren Antrag hin, den ich jetzt hier
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute nicht mehr ausführlich wiedergeben möchte, aber
über die Ergebnisse der Weltfrauenkonferenz und Sie haben das Papier ja alle vor sich.
damit auch über Frauenförderung in der Entwick- Es bleibt dabei: Frauen sind der Schlüssel für eine
lungszusammenarbeit diskutieren, dann müssen wir bessere und nachhaltigere Entwicklung. Unser kurz-
feststellen, daß Frauenförderung leider ein Randbe- fristiges Denken muß endlich durch eine Konzeption
reich geblieben ist. Frauenförderung wird zu oft nur abgelöst werden, die auch ins nächste Jahrtausend
punktuell und unverbunden durchgeführt. Um so reicht. Es darf in der Frauenpolitik nicht zu der Ge-
wichtiger wäre es, Frauenförderung als konsistentes fahr kommen, daß man nach dem Motto handelt: Die
Element zu verstehen, sprich: daß alle entwicklungs- Teilhabe von Frauen an Entscheidungsstrukturen ist
politischen Maßnahmen sich positiv auf Frauen aus- ein Luxus für die Industrieländer, während Frauen-
wirken. Es geht nicht nur darum, daß Frauen verbes- politik in den Entwicklungsländern sich ganz auf die
serte Möglichkeiten zur Teilhabe an der Entwicklung Beseitigung von Armut und mangelnder Bildung so-
ihrer Länder erlangen, sondern auch darum, daß sie wie auf Gesundheitsfürsorge konzentriert.
selbst von dieser Entwicklung profitieren.
Eine Verfechterin von Frauenrechten aus Namibia
Frauenförderung darf sich nicht mehr nur auf - eine Abgeordnete - sagte einmal:
frauenspezifische Projekte beschränken, denn mit je-
der Veränderung im Interesse von Frauen muß auch Frauen sind diejenige Hälfte der Bevölkerung,
eine Veränderung der Männerrolle einhergehen. Es die das Himmelszelt halten. Um das auch weiter-
muß zum selbstverständlichen Prinzip unserer Arbeit hin erfolgreich zu tun, müssen unsere Arme trai-
werden, Männer in frauenfördernde Maßnahmen als niert werden.
Zielgruppe einzubeziehen. Das heißt konkret: Es geht um Maßnahmen für eine
Beteiligung der Frauen an politischen, ökonomischen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) und gesellschaftlichen Entscheidungsstrukturen.
Frauen sind der Schlüssel zu einer nachhaltigen und
Das gilt auch für uns hier. Denn eine nachhaltige
vor allen Dingen f riedlichen Entwicklung. Die Staa-
Verbesserung zugunsten der Situation von Frauen
ten, die die Aktionsplattform von Peking unterschrie-
impliziert, daß die bestehenden Machtverhältnisse
ben haben, werden sich in Zukunft daran messen
verändert werden, und das tut weh. Letztendlich
lassen. Endlich zählt auch bei uns: Handlung, nicht
geht es nämlich um mehr Macht und Entscheidungs-
Lippenbekenntnis.
befugnisse für Frauen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Daher müssen wir uns, wenn wir über nationale GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Umsetzungspläne reden, an drei Zielen orientieren: F.D.P. und der PDS)
an dem schon erwähnten „empowerment", also dem
Machtzugewinn durch Verfügung über Ressourcen
und Möglichkeiten, über gesellschaftliche Entwick- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
lung mitzuentscheiden und diese mitzugestalten, an jetzt die Abgeordnete Anke Eymer.
der Einlösung von Menschenrechten und an der Be-
seitigung von Armut. Anke Eymer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine
Wie konkret Armutsbekämpfung und Überlebens- sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen
sicherung durch Frauenförderung aussehen kann, und Kolleginnen! Wir wissen doch alle, daß eine Kon-
ferenz, auch eine Weltkonferenz, nur Impulse geben
zeigt etwa die Arbeit des Marie-Schlei-Vereins, der
kann. Das hat auch die Weltfrauenkonferenz in Pe-
Grameen Bank oder die Women's World Banking mit
king getan.
Sitz in New York. Hier gibt es wunderbare Beispiele
von Kleinkrediten, die an Frauen vergeben werden, Ich möchte darauf verzichten, hier ein persönliches
damit sie einen Handwerksbetrieb oder eine land- Resümee zu ziehen, denn dies haben meine Kolle-
wirtschaftliche Produktion aufbauen können. In vie- ginnen schon getan. Ich meine allerdings, daß wir in
len Ländern haben Frauen gar keinen Zugang zu Deutschland erkennen und respektieren müssen,
Krediten, sie dürfen noch nicht einmal eine Bank be- daß Frauen in anderen Ländern, aber auch bei uns,
treten. ihre Lebenssituation und ihre Lebensschwerpunkte
selbst definieren und unter Chancengleichheit, Men-
Ich muß ein bißchen kürzen, sonst komme ich nicht schenrechten und auch Gleichberechtigung von
hin. Frauen manchmal etwas anderes verstehen als man-
che von uns.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach der Welt-
frauenkonferenz stellt sich für uns die Frage, welche Meine Kolleginnen der Opposition, ich stelle mir
Perspektiven und Forde rungen der entwicklungspo- vor, daß in einem anderen Teil der Erde Frauen diese
litischen Frauenförderung erarbeitet werden müssen. Debatte im Deutschen Bundestag sehen werden.
Meine Fraktion fordert die Bundesregierung auf, als- Welchen Eindruck müssen sie von unserem Land ha-
8680 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Anke Eymer
ben? Ich höre teilweise einfach zuviel Gejaule und Doppelbelastung vieler Frauen beigetragen werden,
keine konstruktiven Vorschläge. denn eine Hilfe im Haushalt entlastet auch die Frau.
Erforderlich ist neben der steuerlichen Absetzbarkeit
Ich wünschte mir, Frau Kollegin Niehuis und auch
allerdings, daß der private Haushalt als Arbeitgeber
andere, Sie hätten einmal ein kleines Wort der Aner-
von möglichst vielen bürokratischen Aufgaben entla-
kennung für die großen sozialen Leistungen in unse-
stet wird. Schließlich und endlich trägt auch die An-
rem Staat und einen kleinen Dank an unsere Bundes-
erkennung des Haushalts als Arbeitsplatz zur Auf-
regierung für die familienpolitischen Leistungen aus-
wertung der Hausarbeit bei, die schon seit langem
gesprochen. von vielen Verbänden gefordert wird.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
und der F.D.P. - Widerspruch bei der SPD)
Ein weiterer Bereich für die Schaffung von Arbeits-
- Sie haben Kritik zu üben; das ist Ihr gutes Recht, plätzen ist der Dienstleistungssektor. Wir müssen
auch als Opposition. Ich hätte mir aber gewünscht,
aufhören mit dem Märchen, daß hier nur Niedrig-
daß auch von Ihnen ein kleiner Dank an unsere Mi-
lohnarbeitsplätze entstünden. Es gibt nämlich nicht
nisterin Claudia Nolte gekommen wäre.
nur schlecht bezahlte Stellen im Schnellimbiß oder
(Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] Aushilfsstellen im Einzelhandel.
- Lachen bei der SPD) Zum Dienstleistungsbereich gehören auch der Me-
Claudia Nolte hat durchgesetzt, daß der Familienlei- dien- und Unterhaltungsbereich, der Finanzsektor
stungsausgleich verbessert wird. Wenn Sie ihr nicht und der gesamte Bereich der Informationsbeschaf-
gedankt haben, möchte ich das an Ihrer Stelle tun fung.
und für uns sprechen: Herzlichen Dank, Claudia Ein Blick nach Amerika zeigt, daß von den knapp
Nolte! 20 Millionen Arbeitsplätzen, die dort in zehn Jahren
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - geschaffen wurden, 80 Prozent im Dienstleistungs-
Zurufe von der SPD - Dr. Irmgard Schwaet- sektor entstanden sind. Lediglich ein Viertel dieser
zer [F.D.P.]: Sie soll auch hart bleiben!) Arbeitsplätze sind Arbeitsplätze mit Niedriglöhnen.
Meine Damen und Herren, liebe Kollegen und Kol- Wir müssen in unserem Land unser Verständnis
leginnen, ich weiß sehr wohl, daß es bei uns in von Dienstleistung gründlich überdenken und än-
Deutschland noch eine ganze Menge zu tun gibt. Ich dern.
meine allerdings auch, daß wir über den Tellerrand (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
hinwegschauen müssen. Wir müssen noch bessere
Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Fami- Dazu gehört auch, daß wir die Überreglementierung
lien- und Erwerbsarbeit schaffen. Es gibt verschie- abschaffen, denn Dienstleistungen werden nicht nur
dene Ansätze, Erwerbsarbeit neben der Familienar- von 9 bis 17 Uhr und auch nicht nur von montags bis
beit zu ermöglichen. Für mich gehören hierzu auch freitags nachgefragt. Flexible Strukturen sind gerade
die Veränderung der Ladenöffnungszeiten sowie die für Frauen, die Familien- und Erwerbsarbeit verein-
Anerkennung des Haushalts als Arbeitsplatz. baren möchten, eine große Hilfe.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Zum Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf
ordneten der F.D.P. - Lachen und Wider- gehört auch, darüber nachzudenken, welche Mög-
spruch bei der SPD - Ul rich Heinrich lichkeiten es außerhalb finanzieller und staatlicher
[F.D.P.]: Das schafft Arbeitsplätze!) Hilfen gibt. Hier ist heute nicht der Ort - die Zeit ist
zu knapp -, um umfassend Vorschläge unterbreiten
- Ich freue mich, daß mein Beitrag bei Ihnen zumin- zu können. Es bedarf einer ausführlichen Diskussion.
dest Aufmerksamkeit findet. Ich denke aber, daß zum Beispiel im Bereich der
Längere Ladenöffnungszeiten bei gleichzeitiger Nachbarschaftshilfe, der Kinderbetreuung und der
flexibler Arbeitszeit geben Frauen zum Beispiel die stärkeren Unterstützung aus dem Familien-, Bekann-
Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit zu Zeiten nach- ten- und Freundeskreis etwas getan werden kann.
zugehen, in denen die Kinder durch den Mann be- Jeder Schritt ist ein Beitrag zur Verbesserung der
treut werden können. Situation von Frauen. Wir sollten all diese Schritte
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Phantasie- gemeinsam gehen.
lose Besitzstandswahrer!) Ich danke Ihnen.
Wer flexiblere Arbeitszeiten fordert, muß auch flexi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ble Ladenöffnungszeiten fordern. In dem Punkt ist
Deutschland ein echtes Entwicklungsland.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat die
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Kollegin Marliese Dobberthien.
sowie bei der F.D.P.)
Durch die Anerkennung des Haushalts als Ar- Dr. Marliese Dobberthien (SPD): Frau Präsidentin!
beitsplatz können wir neue sozialversicherungs- Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Vierte Welt-
pflichtige Arbeitsplätze schaffen und damit auch ei- frauenkonferenz ist eine Revolution für Frauen", ver-
nen Beitrag zum Abbau der hohen Arbeitslosigkeit kündete Ge rtrude Mongella, die Generalsekretärin
leisten. Dadurch kann außerdem zum Abbau der der Konferenz. Eine Revolution habe ich nicht erlebt,
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8681
Dr. Marliese Dobberthien
eher eine schwere Geburt von allerdings respekta- ben mit winzig kleinen Teilnehmerinnenzahlen
blen Beschlüssen. Diese Beschlüsse bedürfen der durchführen und erschöpft sich im übrigen in voll-
Umsetzung, auch in der Bundesrepublik Deutsch- mundigen Absichtserklärungen, heute wieder ein-
land. mal zur Strafbarkeit der ehelichen Vergewaltigung.
Keineswegs ist bei uns die frauenpolitische Welt in Doch das alles ersetzt keine wirksame Frauenpoli-
Ordnung, wie Frau Nolte uns heute wieder weisma- tik. Ich frage mich: Warum werden eigentlich diese
chen wollte. Absichten nicht endlich in Taten umgesetzt? Wer re-
giert denn dieses Land seit 14 Jahren?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ten der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kritik ist auch kein „Gejaule", werte Kollegin Eymer. und der PDS)
Die Opposition ist für mehr da, als der Regierung
dumpfen Beifall zu zollen, wie zu viele Leute von der Peking hat Frauen sensibilisiert, aber auch die Be-
CDU/CSU es tun. völkerung. Drei Viertel aller Deutschen sind mit dem
Stand der Gleichberechtigung unzufrieden. Gar vier
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Fünftel wollen eine stärkere Frauenförderung für
ten der PDS) den Wiedereinstieg in den Beruf. Vox populi ist eben
Keineswegs kann sich unser Land rühmen, die doch fortschrittlicher als manche Altherren und
volle Gleichberechtigung hergestellt zu haben. Im Jungchauvis in Parlament und Regierung hier auf
Protokoll der Verfassungskommission von 1993 fin- der rechten Seite.
det sich daher der Satz: -
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Frauen leisten zwei Drittel der gesamten Arbeit, DIE GRÜNEN - Ulrich Heinrich [F.D.P.]:
verdienen aber ein Drittel weniger als Männer Und die da drüben?)
und müssen sich mit Renten abfinden, die nur - Nein, nein, die sind viel besser.
halb so hoch sind wie die der Männer.
Sensibilisierung löst auch Unmut, Wut und Zorn
Eine UNO-Studie kommt zu dem Schluß, daß in über verweigerte Gleichberechtigung aus. Es ist em-
keiner Gesellschaft Frauen die gleichen Möglichkei- pörend, wenn wieder einmal wirtschaftliche Pro-
ten haben wie die Männer. Die ILO hat errechnet, bleme stark auf dem Rücken von Frauen ausgetra-
daß es 475 Jahre dauern würde, bis die Gleichheit gen werden. Abgedrängt in ungeschützte Arbeits-
bei der Besetzung von Toppositionen erreicht ist, verhältnisse, als „Gebärrisiko" von Personalabteilun-
würde das jetzige Tempo des Fortschrittes anhalten. gen abgewiesen, auf Chefetagen nur in Vorzimmern
(Zuruf von der SPD: Peinlich! - Dr. Edith akzeptiert, kämpfen Frauen noch immer und wieder
Niehuis [SPD]: Da müssen wir aber alt wer- verzweifelter für Arbeit, Bezahlung und Gleichbe-
den!) rechtigung. Beim Stellen- und Sozialraubbau bläst
Frauen der Wind noch stärker als Männern ins Ge-
- Ja, peinlich! sicht. Wer das Rentenalter für Frauen erhöhen will,
muß auch den Mut haben, öffentlich zuzugeben, daß
Was tut die Bundesregierung angesichts von min-
er damit die Erwerbschancen jüngerer Frauen übel
destens 3 Millionen arbeitslosen Frauen? Nutzt die
mindert.
Frauenministerin nach Peking etwa die Chance einer
Regierungserklärung? Nein! Fehlanzeige! Bringt sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
gar ein Gesetz zur Frauenförderung in der Privatwirt- ten der PDS)
schaft auf den Weg? Fehlanzeige! Dämmt sie die un-
gesicherten Beschäftigungsverhältnisse ein, die Aber ich sage, Herr Blüm - vorhin sah ich ihn hier
Frauen den Sozialversicherungsschutz vorenthalten? noch -: Die soziale Knautschzone für Frauen ist aus-
Fehlanzeige! Kämpft sie gegen die Heraufsetzung geschöpft.
des Rentenalters für Frauen? Nein! Kein Widerstand! (Oh-Rufe bei der CDU/CSU)
Unterstützt sie den Gesetzentwurf des Bundesrates
zur Teilzeitarbeit? Nein. Er wurde gestern im Frauen- - Übel, wer Übles bei dem Begriff der Knautschzone
ausschuß von der Regierungsmehrheit abgelehnt. Im denkt! - Wir Frauen haben es satt, Reservearmee der
Haushaltsausschuß ließen dieselben gestern unseren Wirtschaft zu spielen. Wir wollen auch nicht Armee-
Antrag „Arbeit für Frauen" scheitern. rese rve der Bundeswehr werden.
Sorgt Frau Nolte wenigstens dafür, daß bei den op- (Beifall bei der SPD)
timistisch lächelnden Verhandlungsführern des Eine reaktionäre, überwunden geglaubte frauen-
„Bündnisses für Arbeit" auf der Regierungsseite feindliche Ideologie macht sich wieder breit. Frauen,
auch Frauen sitzen? Nein. Aber auch Arbeitgeber „die sich vorbehaltlos ihrer Familie widmen, die un-
und Gewerkschaften haben sich hier nicht mit Ruhm ter Schmerzen ihre Kinder zur Welt bringen", sind
bekleckert. die wahren „Heldinnen des Alltags" , schwärmte der
(Zurufe von der SPD: Nein!) Papst. Der Chefredakteur des bayerischen „Wirt-
schaftskurier", Günter Spahn, fragte: „Muß jede Ehe-
Es fragt sich, was die Frauenministerin eigentlich frau den krampfhaften Ehrgeiz haben, unbedingt im
für Frauen tut. Gewiß, sie produziert teure Hoch- Arbeitsprozeß der Wirtschaft integriert zu werden?"
glanzbroschüren, läßt wohlformulierte Modellvorha- Der Verwahrlosung der Jugend würde Einhalt gebo-
8682 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
(Zurufe von der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Herr Glos - er ist nicht da -, Herr Hintze, Sie sind und der PDS)
dort , sonst nie um ein derbes Wort verlegen. Wo war
denn hier Ihr Einspruch? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
(Zustimmung bei der SPD) jetzt die Kollegin Dr. Rita Süssmuth.
Auch die Bundesregierung fördert die traditionelle Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Rollenorientierung trotz aller gegenteiligen Be- Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat sind seit
teuerung. Das unbezahlte Ehrenamt statt bezahlter der Vierten Weltfrauenkonferenz Monate vergan-
Arbeit soll Frauen ruhigstellen. „Die Förderung und gen, aber ich stelle auch heute, am Ende dieser De-
Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeit ist einer batte, fest: Es geht nicht um die Monate, sondern um
der Arbeitsschwerpunkte" des Frauenministeriums, die Folgerungen, die wir ziehen, um die Taten, die
heißt es in einem Schreiben vom April 1995. Warum, als Folge dieser Konferenz vollbracht werden und die
so fragt frau, fördert ausgerechnet das Frauen- wir gemeinsam zu befördern haben.
ministerium das Ehrenamt und nicht etwa das für
Sport oder Soziales zuständige Ministerium? - Ich möchte gerade auch unseren männlichen Kol-
legen noch einmal sagen, was die Pekinger Konfe-
(Zustimmung bei der SPD) renz deutlich gemacht hat: Wir sind längst am Ende
einer Betrachtung, bei der Gleichberechtigung ein
Zum großen Arbeitsplatzhit für Frauen avanciert Frauenthema ist, sondern jetzt ist es ein globales Zu-
neuerdings wieder der Haushalt. 870 000 neue Ar- kunftsthema.
beitsplätze lautet das Versprechen. Kunstvoll ver-
schwiegen wird dabei, daß es die Bundesregierung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
bis heute nicht geschafft hat, schwangeren Hausan- Wir reden also nicht nur über die „Global players".
gestellten den gleichen Kündigungsschutz wie allen Ob es in dieser Welt gelingt, eine gleichberechtigte
anderen Arbeitnehmerinnen zuzubilligen. Ein Zukunft für Frauen und Männer zu schaffen, wird
schwaches Bild! entscheidend sein für die Verwirklichung des Unter-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ titels dieser Konferenz: „Gleichheit, Entwicklung
DIE GRÜNEN) und Frieden" .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
Wir alle wissen: Arbeit ist mehr als Geldverdienen. ordneten der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/
Arbeit ist auch Bestätigung und materielle Unabhän- DIE GRÜNEN)
gigkeit. Sie entscheidet letztlich über den Freiheits-
spielraum der und des einzelnen. Bezahlte Arbeit Deswegen gehören die Anträge, die hier einge-
Frauen vorzuenthalten bedeutet daher eine massive bracht worden sind, in einen Zusammenhang.
Diskriminierung. Die Verteilung der bezahlten und
der nichtbezahlten Arbeit ist immer auch ge- Ein weiteres: Ob es Sozialwissenschaftler oder
schlechtsspezifisch und damit ungerecht. Frauen lei- Theologen wie Hans Küng sind oder ob es Hengs-
sten überwiegend die unbezahlte Arbeit, Männer be- bach ist - sie alle betonen, daß sich alle Gesellschaf-
kommen das Geld, stellte das Statistische Bundesamt ten der Welt von den Familien her organisieren. Wir
fest. sollten endlich begreifen, daß dies nicht nur eine Tat-
sache für Frauen ist, sondern für Frauen und Männer
Auch das ist für die Frauenministerin kein Anlaß und für alle, die in diesen Familien leben.
zum Gegensteuern. Nicht einmal wissenschaftlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
fundierte Kritik an Männern löst ministerielles Han- Joachim Günther [Plauen] [F.D.P.])
deln aus. Männer seien in ihrer Einstellung zu
Frauen eine Generation zurückgeblieben, stellte Wir sollten auch begreifen, daß es dabei um Umf el-
jüngst ein Forschungsinstitut fest - und wieder nur der geht. Demokratie ist zunächst lokal, alle Lebens-
intensives Schweigen. bezüge sind lokal, aber dann verändern wir das Lo-
kale bis zum Weltweiten.
Angesichts einer UNO-Studie, derzufolge Frauen-
arbeit um 11 Billionen Dollar - das ist eine 11 mit Wenn wir diesen Tatbeständen Rechnung tragen
zwölf Nullen, wenn ich richtig zähle - unterbewertet wollen, dann kommt es mir für die nächsten Monate
ist, und also angesichts dieser fortwährenden Diskri- und Jahre in der Bundesrepublik darauf an, daß wir
minierung ist ein nationaler Aktionsplan für unser nicht Erreichtes Punkt für Punkt wieder verspielen;
Land unverzichtbar. Wir Frauen brauchen eine politi- denn wir haben einen guten Ausbildungsstand der
sche Chance. Auf die Bremser in der Regierung und Frauen, wir haben mehr Frauen in der Erwerbsbetei-
auf der rechten Kollegenbank können wir gern ver- ligung, als wir je gehabt haben. Das gilt gerade auch
zichten. für Dienstleistungsberufe. Wir haben eine Entwick-
lung, in der wir in bezug auf Ansätze aus den 80er
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jahren - Anerkennung von Erziehungsleistungen
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8683
Dr. Rita Süssmuth
und von Pflegeleistungen - etwas auf den Weg ge- und nicht kleiner wird. Wenn man diesen Weg nicht
bracht haben. geht, ist die Kinderzahl beim Rentenalter zu berück-
sichtigen. Aber eine pauschale Gleichstellung, ohne
Aber wir haben die alten Benachteiligungen nicht
daß wir der Resolution dieses Bundestages entspro-
beseitigt - ob es Lohndiskriminierung ist, ob es die
chen haben, für eine eigenständige Alterssicherung
Anzahl von Frauen in Führungspositionen ist, ob es
zu sorgen, darf nicht sein.
die Anzahl von Frauen in der Politik ist. Wir als
Frauen bestimmen nicht die Politik dieses Landes. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem
Wir würden uns etwas vormachen, wenn wir zu die- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei
ser Einschätzung kämen, sondern nach wie vor ist es Abgeordneten der PDS)
allenfalls so, daß wir inzwischen am Rande Mitgestal-
tende sind, aber nicht gleichberechtigt gestaltende Das ist mein Hauptproblem: Es geht nicht um den
Frauen in allen Lebensbereichen. Kahlschlag bei den 590 DM Beschäftigungsverhält-
- -
Warum sagt die Frauenministerin angesichts der Von daher - das sage ich noch einmal - muß man
Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland nicht klipp und bei diesem Tatbestand ansetzen und nicht pauschal
klar: Mit mir ist eine Erhöhung des Rentenalters bei der Arbeitslosigkeit. Denn arbeitslose Männer
nicht zu machen, weil das den Arbeitsmarkt weiter- gibt es ebenso wie arbeitslose Frauen. Auch hier zu
beschädigt? differenzieren ist für mich keine Lösung. Ein aus-
schlaggebendes Krite rium ist, daß die Benachteili-
(Beifall bei der SPD und der PDS) gungen im Zusammenhang mit Kindern, durch feh-
lende eigenständige soziale Sicherung und die Bela-
Ich sage für die SPD: Mit der SPD wird es keine stung von Arbeitsleben und Kindererziehung auch
Heraufsetzung des Rentenalters geben. Denn das ist beim Rentenalter berücksichtigt werden.
angesichts von 3 Millionen Arbeit suchenden Frauen
gegenüber den jungen Frauen unverantwortlich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -
Zurufe von der SPD: Herausgeredet! -
(Beifall bei der SPD) Keine Antwort gegeben!)
Christina Schenk
men wird als der Schutz von Frauen vor Gewalt. Das Insgesamt muß ich sagen: Jede noch so gut ge-
ist etwas, was ich nicht nachvollziehen kann. meinte Reform des Ausländerrechts muß Flickschu-
sterei bleiben. Die restriktiven Regelungen sind ins-
(Beifall bei der PDS) gesamt diskriminierend und menschenverachtend.
Dennoch ist die Streichung der Dreijahresfrist wenig-
Wird die Beziehung unerträglich oder kommt es zu
stens eine Teillösung. Ich denke, deswegen können
Gewalttätigkeiten in der Ehe, ist eine freie Entschei-
wir dieser guten Gewissens zustimmen.
dung über die Fortsetzung oder Beendigung der ehe-
lichen Gemeinschaft unmöglich, wenn man nicht Danke.
eine Ausweisung in Kauf nehmen will. Von dieser
Regelung sind insbesondere Frauen betroffen. Das (Beifall bei der PDS)
Problem ist, daß geschiedene und getrennt lebende
Frauen in ihren Herkunftsländern - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir kommen
nun zu den Abstimmungen. Zunächst zur Beschluß-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie müssen hier Frauen und Jugend zu den Anträgen der Fraktion
Ihr Abstimmungsverhalten begründen und nicht der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
noch einmal zur Sache sprechen. zur Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen in
Peking und zur Verwirklichung der Menschenrechte
und der Demokratie für Frauen. Das ist die Drucksa-
Christina Schenk (PDS): - das tue ich gerade - mit
che 13/4042 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, die An-
gesellschaftlicher Ächtung und Ausgrenzung rech-
träge auf den Drucksachen 13/1441 und 13/1551 zu-
nen müssen und daher eben nicht ohne weiteres zu-
rückkehren können. § 19 des Ausländergesetzes sammenzufassen und in der Ausschußfassung anzu-
wird zum Machtmittel in der Hand des Ehemannes. nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?
Wenn Frauen ins Frauenhaus flüchten, kommt es so- - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußemp-
fehlung ist einstimmig angenommen worden.
gar zu Situationen, daß Ehemänner die Ausländerbe-
hörde alarmieren und es zu einer verhängnisvollen Zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Fa-
Allianz von gewalttätigen Ehemännern mit der Aus- milie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag
länderbehörde kommt. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Forum der
Nichtregierungsorganisationen auf der Weltfrauen-
Der Antrag der SPD ist geeignet, diese brutale Pra- konferenz in Peking, Drucksache 13/4042 Nr. 2. Der
xis zu stoppen. Deshalb werde ich diesem Antrag zu- Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/
stimmen. Aber nur die Frist in der Härtefallregelung 1427 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
zu streichen ist noch nicht die Lösung. Denn die be- Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
troffenen Frauen bleiben der Willkür der Gerichte gen? - Bei einigen Enthaltungen mit der großen
und der Behörden ausgeliefert. Denn wer entschei- Mehrheit des Hauses angenommen.
det, ob ein Härtefall vorliegt oder ob das nicht der
Fall ist? Die einzige Lösung in der gegenwärtigen Si- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
tuation ist daher die Streichung aller Fristen, das auf den Drucksachen 13/3151, 13/3991, 13/4102, 13/
heißt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht ab Ehe- 4116, 13/4357 und 13/4366 an die in der Tagesord-
schließung. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? Dann sind die Überweisun-
gen so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
zu Ihrem Abstimmungsverhalten sollen Sie reden, Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktion der
nicht noch einmal in der Sache debattieren. SPD „Diskriminierung von Frauen bei der Teilnahme
an Olympischen Spielen" auf Drucksache 13/4092
ab. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! -
Christina Schenk (PDS): Frau Präsidentin, da sich Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
dieser Antrag der SPD wirklich gravierend von unse- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
rem unterscheidet bzw. hinter dem zurückbleibt, was tion abgelehnt worden.
wir hier gefordert haben, ich diesem Antrag aber zu-
stimmen werde und dafür werben möchte, daß die Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen
Mitglieder der Bundestagsgruppe der PDS diesem der CDU/CSU und der F.D.P. „Diskriminierung von
Antrag geschlossen zustimmen, möchte ich das aus- Frauen bei den Olympischen Spielen" auf Druck-
drücklich begründen. Ich bin auch gleich fertig. sache 13/4358 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei
Ich möchte nur noch sagen: Es ist auch zu kritisie- einer Enthaltung angenommen worden.
ren, daß die Eheschließung überhaupt für eine Auf- (Peter Dreßen [SPD]: Ja, so sind wir!)
enthaltsgenehmigung die Voraussetzung ist. Das be-
deutet eine Diskriminierung anderer Lebensformen. Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Aus-
Binationale Paare sind gezwungen zu heiraten, auch schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
wenn sie lieber in einer anderen Form zusammenle- zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
ben möchten. Lesbische Frauen und schwule Män- Die Grünen zu der vereinbarten Debatte zur Frauen-
ner haben überhaupt keine Möglichkeit, mit ihrer förderung in der Europäischen Union auf Drucksa-
Partnerin oder mit ihrem Partner ohne deutsche che 13/4121. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag
Staatsangehörigkeit hier zu leben. auf Drucksache 13/2769 abzulehnen. Wer stimmt für
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8687
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vom-
tungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stim- hundertsätze und Höchstbeträge nach § 21
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Abs. 2
Opposition angenommen worden.
- Drucksache 13/3413 -
Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Überweisungsvorschlag:
Gruppe der PDS zu einem Beobachterstatus des Vati-
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech-
kans bei den Vereinten Nationen auf Drucksache 13/ nologie und Technikfolgenabschätzung (federführend)
4100 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
schüsse vorgeschlagen. Haushaltsausschuß
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen c) Erste Beratung des von der Bundesregie-
„Kein Gesetzesbruch bei der Umsetzung des rung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes" Gesetzes zur Änderung des Hochschulbau-
auf Drucksache 13/4372 soll zur federführenden Be- förderungsgesetzes
ratung an den Ausschuß für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend und zur Mitberatung an den - Drucksache 13/4335 -
Rechtsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit Überweisungsvorschlag:
einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech-
beschlossen. nologie und Technikfolgenabschätzung (federführend)
Ausschuß für Gesundheit
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den An-
- d) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-
trag der SPD zu einer Härtefallregelung für ein ei-
genständiges Aufenthaltsrecht ausländischer Ehe- desregierung
gatten auf Drucksache 13/4364. Die Fraktion der
SPD verlangt namentliche Abstimmung. Bericht der Bundesregierung zur Notwen-
digkeit der Studienabschlußförderung vor
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dem Hintergrund derzeit geplanter Struk-
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle turreformen an Hochschulen
Urnen besetzt? Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung. - - Drucksache 13/3414 —
Überweisungsvorschlag:
(Vorsitz: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth)
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech-
nologie und Technikfolgenabschätzung (federführend)
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ist noch ein Mit- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
glied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des
abgegeben hat? - Das ist offensichtlich nicht der Fall.
Berichts des Ausschusses für Bildung, Wis-
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
senschaft, Forschung, Technologie und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuß)
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
kanntgegeben. ) - zu der Unterrichtung durch die Bundesre-
Wir setzen die Beratung fort. gierung
Verantwortung für die jungen Menschen ernst (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
nimmt. Ich halte es auch für richtig, dies zu tun, denn
ich sehe nicht ein, daß wir uns im Bereich der Stu- Es gibt noch einen weiteren Punkt. Wer sich das
denten anders verhalten, als wir dies im vergange- BAföG genau anschaut, der wird feststellen, daß wir
nen Jahr bei allen anderen Steuerbürgern getan ha- inzwischen eine Regelungswut haben, die kaum
ben, als wir das Existenzminimum zur Grundlage der noch jemand übersieht. Wir haben alleine 400 ver-
Steuergesetze gemacht haben. Mit dem Vorschlag ei- schiedene Vorgaben im jetzigen Gesetz, die sich mit
ner 6prozentigen BAföG-Erhöhung erreichen wir der Frage der Förderungsdauer beschäftigen. 400
diese Beträge in Kombination mit dem Kindergeld verschiedene Regelungen!
und den Ausbildungspauschalen auch für die Stu- (Ul ri ch Heinrich [F.D.P.]: Das gibt es doch
dentinnen und Studenten. nicht!)
Das dritte ist der Versuch, in einem Teilbereich ei-
nen Impuls für die Reform der Hochschulen zu ge- Deshalb ist der Vorschlag, der in diesem Änderungs-
gesetz enthalten ist - ich nenne einmal ein paar
ben. Das Stichwort lautet Neuregelung der Förde-
rungshöchstdauer. Punkte, die in der Diskussion bisher noch nicht so
sehr im Vordergrund gestanden haben -, wichtig,
Es gibt einen Dissens in den Auffassungen. Wir ha- daß wir zu Änderungen kommen, und zwar nicht nur
ben dies hier bereits mehrfach diskutiert. Der Ge- deshalb, damit es bürokratisch weniger aufwendig
danke, daß es notwendig ist, die jungen Menschen wird, sondern auch deshalb, damit die Regelungen
ein Stück weit an ihren Ausbildungskosten zu betei- für diejenigen, die davon betroffen sind, verständli-
ligen, scheint, wenn ich mir die verschiedenen Mo- cher werden.
delle ansehe - sei es das, was in der SPD diskutiert
wird, sei es das, was beim Bündnis 90/Die Grünen (Zustimmung bei der CDU/CSU und der
diskutiert wird, sei es das, was beim Deutschen Stu- F.D.P.)
dentenwerk diskutiert wird -, inzwischen Allgemein- Meine Damen, meine Herren, wir werden im Deut-
gut geworden zu sein. Es ist notwendig, zu einer Be- schen Bundestag mit den Debatten beginnen. Die
teiligung an den Kosten zu kommen. Ministerpräsidenten und der Bundeskanzler haben
Die Frage ist - das scheint mir der Punkt zu sein, eine Arbeitsgruppe beauftragt, miteinander zu spre-
zu dem es unterschiedliche Auffassungen gibt -: chen. Die Gespräche haben begonnen. Ich finde es
Wann soll das ansetzen? Es gibt zum Beispiel den wichtig, daß wir über das Thema reden. Ich möchte
Vorschlag des verehrten Kollegen Glotz. Er ist für zum Ausdruck bringen, daß wir bei den unterschied-
Studiengebühren. Das bedeutet, daß es während des lichsten Auffassungen, die wir haben und die vorge-
Studiums zu einer Kostenerhöhung kommt. Ich bin legt worden sind - zum Beispiel vom Kollegen Glotz,
froh, daß Kollege Glotz, nachdem die Landtagswah- vom Kollegen Berninger und vom DSW -, jetzt versu-
len vorbei sind, wieder über dieses Thema reden chen sollten, eine gemeinsame Lösung zu finden,
darf. Er wird dazu gleich sicherlich Stellung nehmen. weil wir keine Alternative haben.
Ich bin nicht der Auffassung, daß wir Studienge- Es hat einmal den Vorwurf gegeben, ich hätte Pa-
bühren einführen sollten. Wenn wir zu einer Beteili- kete geschnürt und irgendwelche Sachen miteinan-
gung an den Kosten kommen müssen, dann nicht der verbunden, die man nicht miteinander verbinden
während des Studiums, wenn die Studenten das vor- darf. Die Wahrheit ist natürlich immer ganz konkret
handene Geld brauchen, sondern nach dem Stu- und ganz einfach. Die Wahrheit lautet, daß man jede
dium, wenn sie in Brot und Arbeit sind, wenn sie zu Mark nur einmal ausgeben kann.
8690 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Matthias Berninger
dessen akzeptiert sie es, daß beispielsweise junge bensunterhalt von Studierenden, daß dieses Dik-
Familien nach wie vor ganz massiv von Sozialhilfe le- kicht, von dem alle wissen, daß es an vielen Stellen
ben müssen. Sie plant sogar, das, was sie im Rahmen sehr ungerecht ist, dringend der Überprüfung be-
des Familienlastenausgleichs bereits zugesagt hatte, darf. Ich hätte gern von Herrn Rüttgers gehört, daß er
eventuell doch nicht zu machen, weil man beim Kin- das vorhat. Das will er aber natürlich nicht; denn er
dergeld wunderbar viel Geld sparen kann. Diese möchte seinen Vorschlag - wie ein Taschenspieler
politische Haltung ist in der bildungspolitischen das nun mal will - in irgendeiner Form durchbringen.
Landschaft Gift für unser Land.
Meine Damen und Herren, wir haben einen Vor-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlag gemacht, wie wir ein Grundproblem an den
sowie bei Abgeordneten der SPD) deutschen Hochschulen lösen wollen. Ich behaupte -
so lange bin ich da noch nicht weg -, das Hauptpro-
Wir brauchen eine bildungspolitische Debatte. Das blem besteht darin, daß die meisten Studierenden
ist das einzige Verdienst, lieber Kollege Rüttgers, das überhaupt nicht mehr in der Lage sind, Vollzeitstu-
Sie sich letzten Endes an den Hut stecken können. dierende zu sein und sich auf ihr Studium zu konzen-
Wir brauchen diese bildungspolitische Debatte. Sie trieren, sondern letzten Endes viel mehr Zeit damit
haben sie bekommen. verbringen müssen, Geld für ihren Lebensunterhalt
Nirgends haben Sie Zustimmung für Ihren Vor- zu verdienen. Ich glaube, daß das ein zentrales Pro-
schlag bekommen. Das liegt nicht etwa daran, daß blem ist, das eine Ursache dafür ist, daß so viele Men-
andere keinen Mut haben, Einschnitte hinzuneh- schen studieren und daß so viele Menschen so lange
-
men; nein, es liegt daran, daß Sie auf Kosten derer, studieren.
die BAföG empfangen, das Spielgeld für Ihre dürfti- (Zustimmung bei der F.D.P.)
gen hochschulpolitischen Vorstellungen zusammen-
bekommen wollen. Das machen nicht nur die Sozial- Wenn es ein Problem ist, daß so lange studiert wird -
demokraten nicht mit, das macht nicht nur meine was wir alle glauben -, muß man sich Gedanken dar-
Fraktion von den Bündnisgrünen nicht mit, sondern über machen, wie man dieses Problem bewältigen
das machen selbst die Bayern im Bundesrat nicht mit. kann.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein weiteres aus meiner Sicht großes Problem an
sowie bei Abgeordneten der SPD) den deutschen Hochschulen ist die Auslastung. Wir
leisten es uns, die Hochschulen mehrere Monate
Das letzte Mal, als jemand eine solche bildungs- lang leerstehen zu lassen. Wenn man weiß, daß man
politische Bruchlandung im Bundesrat erleiden nicht genug Geld für den Hochschulbau hat, dann
mußte - das war der Kollege Möllemann -, gab es für muß man sich doch überlegen: Wie kann man eine
das vorgeschlagene Hochschulrahmengesetz wenig- Hochschule besser auslasten?
stens noch eine Stimme, nämlich die von den Bayern.
Diesmal, Herr Kollege Rüttgers, gibt es eine 16:0- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist richtig!)
Niederlage. Eine solche Schlappe im Bundesrat sollte Auch darüber sollte man diskutieren. Da kommt na-
Ihnen, Herr Rüttgers, zu denken geben und sollte Ih- türlich die Debatte über Trimester auf.
nen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie-
rung, endlich die Augen öffnen und klarmachen, daß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie mit diesem Vorschlag, das BAföG zu verzinsen, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
wodurch Sie für die BAföG-Empfänger schlechtere des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])
Bedingungen schaffen, um allen ein paar kleine Pro- Aber wie soll man Trimester ermöglichen, wenn klar
grammchen im Hochschulbereich zukommen zu las- ist, daß die Studierenden in diesem Land die meiste
sen, wirklich auf dem Holzweg sind. Zeit damit verbringen müssen, das Geld für ihren Le-
Es gibt noch ein anderes BAföG, nämlich das bensunterhalt durch irgendeinen Job zu beschaffen?
BAföG für Reiche: die Möglichkeit, die Ausbildung Deswegen haben wir einen Vorschlag gemacht, der
von Kindern steuerlich abzusetzen. Nein, lieber Herr in vielen Punkten sicherlich umstritten sein dürfte,
Kollege Rüttgers, das tasten Sie natürlich nicht an. der - so glaube ich - aber der Schlüssel für eine
Sie machen im Grunde keinen Reformvorschlag, son- Hochschulreform sein kann.
dern versuchen mal eben über die Verzinsung ein Wir sagen erstens: Es ist völlig egal, wie die elterli-
bißchen Geld zu verdienen. che Herkunft von Studierenden ist. Wir wollen jedem
Studierenden ermöglichen, im Monat 1 050 DM aus
Ich finde, ein Bildungsminister muß sich, wenn er
einem Fonds, den wir Bundesausbildungsförde-
das ernst meint und keine Krokodilstränen weint wie
rungsfonds nennen, zu erhalten.
Sie, Herr Rüttgers, wirklich Gedanken über Reform-
vorschläge machen. Das ist aber alles andere als ein (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS
Reformvorschlag; das ist soziale Kälte, und das ist SES 90/DIE GRÜNEN)
eine Umverteilung von unten nach oben.
Zweitens. Wir wollen von den Studierenden im
Ich glaube, daß sich die Bildungspolitiker und Rahmen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
auch die in der Bildung tätigen Menschen in diesem verlangen, am Ende ihres Studiums Beiträge in die-
Land sehr viel Gedanken über Alternativvorschläge sen Fonds zurückzufinanzieren. Wir wollen einen
gemacht haben. Einig dürften wir uns darüber sein, neuen Generationenvertrag im Bereich der Bildungs-
daß dieses Dickicht von verschiedenen staatlichen politik. Wir wollen, daß Schluß damit ist, daß immer
Transfers in Richtung Ausbildung, in Richtung Le- gesagt wird, man spare für die kommenden Genera-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ri l 1996 8695
Matthias Berninger
tionen; wobei man aber letzten Endes bleibt, ist Spa- dagegen sind, wenn alle relevanten Gruppen im
ren bei den kommenden Generationen. Hochschulbereich dagegen sind und wenn auch die
guten Argumente der Opposition dagegen sprechen?
Wenn wir nicht in die Bildung investieren, meine
Damen und Herren, werden wir, statt Spielräume in (Günther Bredehorn [F.D.P.]: Es ist die erste
der Zukunft zu schaffen - das wollen wir ja alle, ge- Lesung!)
rade die Kollegen von der F.D.P. sind immer der Mei-
nung, daß das unser Hauptziel ist -, die Finanzspiel- Überdenken Sie Ihre Position, meine Damen und
räume in Zukunft gefährden, aber auch die Möglich- Herren; denn - das weiß auch Herr Rüttgers - sein
keit, in Zukunft überhaupt irgend etwas auf die Vorschlag wird sich langfristig überhaupt nicht rech-
Reihe zu bekommen. nen. Ich muß mir, weil er vorhin von Rechnen gere-
det hat, nur die Zahlen in seinem Haus ansehen, die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) er selber bereitgestellt hat. Langfristig kostet Ihr Vor-
schlag mehr Geld, das heißt, er wird den Haushalt
Wir wollen durch diesen Fonds ermöglichen, daß langfristig nicht entlasten.
sich Studierende auf die Hochschulen konzentrieren,
daß sie sich den ganzen Tag an den Hochschulen (Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose)
aufhalten können und daß die Hochschulen optimal
Sparen Sie nicht auf Kosten der Ärmsten, sondern
ausgelastet sind. Ich sage Ihnen, das hat viele Ef-
haben Sie endlich den Mut, eine vernünftige Hoch-
fekte. Ich nenne ein paar Beispiele.
schulpolitik zu machen. Haben Sie den Mut, einen
Studierende jobben neben ihrem Studium. Wenn Grundstein in die Hochschulreform zu legen. Wir
man das zusammenrechnet, werden etwa 400 000 sind natürlich gern bereit, uns bei einer solchen Dis-
Jobs von Studierenden in Anspruch genommen. Ich kussion sehr konstruktiv zu beteiligen.
gehe davon aus, daß nicht alle aufhören zu jobben
Vielen Dank.
und daß nicht jeder Job ersetzt werden kann. Ich
wage dennoch die Behauptung, daß durch unseren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vorschlag 100 000 Jobs für Leute, die arbeitslos sind, und der SPD sowie bei Abgeordneten der
frei werden. PDS)
Des weiteren wage ich die Behauptung, daß durch
unseren Vorschlag endlich eine Debatte an den Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bevor ich dem
Hochschulen in Gang kommt, die sich nicht mehr nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich das Er-
nur mit Mängelverwaltung beschäftigt, sondern die gebnis der namentlichen Abstimmung über den An-
vielmehr Kreativität für neue Vorschläge freisetzt. trag der Fraktion der SPD Härtefallregelung für ein
Wir werden natürlich in die Finanzierung dieses Vor- eigenständiges Aufenthaltsrecht ausländischer Ehe-
schlages heute investieren müssen. So war das beim gatten auf Drucksache 13/4364 bekannt. Abgege-
alten Bismarck ja auch: Wenn man einen Generatio- bene Stimmen: 617. Mit Ja haben 293, mit Nein ha-
nenvertrag in Gang bringt, muß man zunächst ein- ben 324 Abgeordnete gestimmt. Enthaltungen gab
mal investieren. Wir werden aber durch diesen Vor- es keine. Der Antrag ist also abgelehnt.
schlag langfristig sparen.
Ich glaube, daß die Linie der Bundesregierung, Tilo Braune
Endgültiges Ergebnis
diesen Haushalt nur durch Sozialabbau sanieren zu Dr. Eberhard Brecht
wollen, völlig falsch ist. Ein Unternehmen investiert, Abgegebene Stimmen: 616; Edelgard Bulmahn
wenn es irgend etwas erreichen will, und erhofft sich davon Hans Martin Bury
ein return on investment. Genau das verlange ich im ja: 293
Hans Büttner (Ingolstadt)
Bereich der Haushaltspolitik auch. Marion Caspers-Merk
nein: 323 Wolf-Michael Catenhusen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Deswegen glaube ich, daß unser Vorschlag, der am Ja Christel Deichmann
Anfang vielleicht Geld kostet, so viele positive Ef- Karl Diller
fekte haben wird, daß er in Zukunft tragfähig ist, und Dr. Marliese Dobberthien
SPD Peter Dreßen
daß es ein sehr nachhaltiger Vorschlag ist.
Rudolf Dreßler
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. - Brigitte Adler Ludwig Eich
Gerd Andres Peter Enders
das gilt auch für viele Unionskollegen -, zum Ab-
Robert Antretter Gernot Erler
schluß: Wenn man durch das Land fährt, findet man Hermann Bachmaier Petra Ernstberger
es relativ selten, daß sie sich überhaupt zu solchen Ernst Bahr Annette Faße
Diskussionen trauen, weil bei dem Vorschlag des Doris Barnett Elke Ferner
Herrn Bildungsministers alle unter den Tisch gucken Klaus Barthel Lothar Fischer (Homburg)
und wissen, daß dieser Vorschlag im Grunde eine Ingrid Becker-Inglau Gabriele Fograscher
Unverschämtheit ist. Wolfgang Behrendt Iris Follak
Hans Berger Norbe rt Formanski
Herr Möllemann hat gesagt, er ist gegen diesen Hans-Werner Bertl Dagmar Freitag
Vorschlag. Herr Laermann hat sich so geäußert. Ich Friedhelm Julius Beucher Anke Fuchs (Köln)
habe es auch von Ihnen gehört, Herr Guttmacher. Rudolf Bindig Katrin Fuchs (Verl)
Lilo Blunck Arne Fuhrmann
Warum, meine Damen und Herren, muß dieser Vor- Arne Börnsen (Ritterbude) Monika Ganseforth
schlag das Parlament passieren, wenn alle Länder Anni Brandt-Elsweier Norbe rt Gansel
8696 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege - Maritta Böttcher (PDS): Sehr geehrter Herr Präsi-
Guttmacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des dent! Meine Damen und Herren! Auch wenn solche
Kollegen Dr. Glotz? Nachrichten die Medien dieses Landes mit einer
merkwürdigen Schwerfälligkeit erreichen - bei uns
sind sie gestern schon angekommen, die Meldungen
Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Bitte. nämlich von studentischen Protesten in Berlin und in
Dresden und - wie ich inzwischen weiß - auch an-
derswo im Zusammenhang mit der heutigen Debatte
Dr. Peter Glotz (SPD): Herr Kollege Guttmacher, zur 18. BAföG-Novelle.
darf ich das so verstehen, daß das ein offizieller Vor- Eines wird hier sehr deutlich - ich habe nicht mit-
schlag Ihrer Fraktion ist, den Sie auch antragsmäßig gezählt, aber Herr Rüttgers hat hier gesagt, er könne
verfolgen werden, oder ist das eine unverbindliche rechnen, auch zum neunten Male -: Die Studentin-
Erwägung während einer Rede? nen und Studenten begreifen sehr wohl, auf wessen
Kosten die verfehlte Politik der Bundesregierung auf-
poliert werden soll. Sie verstehen wie viele andere in
Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Lieber Herr diesem Lande das ganze Gedröhn von Wirtschafts-
Glotz, wir sind bei der Einbringung eines Regie- standort, Haushaltskonsolidierung, Staatsquotensen
rungsentwurfs. Wir haben keinen Koalitionsentwurf. kung nur noch als irreführende Vokabeln für das,
Wir haben einen Entwurf vorgelegt bekommen, über was immer und überall dahintersteht: Sozialabbau,
den wir uns alle gleichermaßen unterhalten. Hier Sparen zu Lasten der Schwächsten in dieser Gesell-
bringe ich Vorstellungen der F.D.P. ein, die uns gut schaft. Der heutige Tag wird, glaube ich, wieder ein-
gefallen könnten und die wir mit unserem Koalitions- mal als Tag einer Bankrotterklärung der Bundesre-
partner und mit Ihnen, Herr Glotz, im Bildungsaus- gierung in der Bildungspolitik in die Geschichte ein-
schuß diskutieren können. Wir müssen sehen, wie gehen.
wir die Finanzierung gestalten, die in diesem Antrag
völlig richtig enthalten ist. Bewußt - Herr Rüttgers hat darüber gesprochen -
wird heute gleich ein ganzes Paket aufgemacht. Das
(Tilo Braune [SPD]: Luftschlösser bauen!) könnte gut sein. Nur, Schulabgänger sind in regel-
rechter Verzweiflung, weil sie eine Absage nach der
Die F.D.P. fordert, die Ausbildungsförderung mit- anderen bezüglich eines Ausbildungsplatzes erhal-
telfristig in ein Bürgergeldsystem umzuwandeln, bei ten und weil zusätzlich Totenstille seitens der Bun-
dem die jetzt den Eltern zufließenden Leistungen - desregierung herrscht. Der Verweis auf die Wirt-
Kindergeld, Freibeträge, Ortszuschläge usw. - den schaft ist zwar - das wissen wir alle - völlig berech-
Studenten als Sockelbetrag des BAföG direkt zukom- tigt, nur nützt das jenen, die eine Lehrstelle suchen,
men. ziemlich wenig.
In Brandenburg zum Beispiel gibt es bereits jetzt -
Abschließend möchte ich noch einmal klarstellen, diese Zahlen sind verbrieft - 10,3 Prozent mehr Be-
daß die Koalition in ihrem Entschluß, die BAföG-Re- darf als 1995. Es sind aber konkret 8,9 Prozent weni-
form zu vollenden, fest zusammensteht; denn in Zei- ger Ausbildungsplätze vorhanden. Oder anders aus-
ten allgemeiner massiver Sparzwänge ist der Bil- gedrückt: Momentan fehlen konkret noch 30 000
dungsbereich anders nicht vor Schlimmerem zu Ausbildungsplätze.
schützen.
Was ist aus Bonn zu hören? Nichts? Nein, eine er-
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die neute Gemeinschaftsinitiative für ein ausreichendes
Reihen fest geschlossen!) Ausbildungsplatzangebot wird abgelehnt. Das ist ein
8700 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Maritta Böttcher
Schlag ins Gesicht der jungen Menschen, denen bar, daß das Sozialstaatsgebot dort keinen mehr in-
Ausbildung einfach nicht mehr ermöglicht wird. Da- teressiert.
bei ist es ihnen, glaube ich, ziemlich egal, ob sie sich
Lehrlinge oder Auszubildende nennen dürfen. (Zuruf von der CDU/CSU)
- Es ist so.
Doch das ist längst nicht alles. Es wird laut über die
Einführung von Studiengebühren nachgedacht, weil Chancengleichheit im Bildungswesen wird als poli-
sich die Hochschulen vom Staat im Stich gelassen tisches Ziel prinzipiell aufgegeben. Mit der BAföG-
fühlen. Es soll also ein Teil des Hochschulbaus durch Verzinsung werden eben die auf Unterstützung an-
die Studierenden selbst finanziert werden. Das ist ein gewiesenen Studierenden allein bis 1999 mit
unglaublicher Gedankengang. 1,6 Milliarden DM zur Kasse gebeten, um Finanzlö-
cher im Hochschulwesen zu stopfen. Das ist einfach
Das Bankenfördermodell des Zukunftsministers unglaublich.
reiht sich würdig in die sozialpolitischen Streich-
orgien der Kohl-Regierung ein und ist nichts von Die Ablehnungsfront gegenüber einer solchen
dem, was es zu sein vorgibt. Vor allem aber ist es Politik zeigt sich in den vielfältigen studentischen
kein Beitrag zu einer wirklichen BAföG-Struktur Protestaktionen, die uns seit dem Kabinettsbeschluß
reform. im Dezember begleiten. Ich weiß nicht, Herr Rütt-
gers, wo Sie sich aufgehalten haben. Ich habe sehr
(Beifall bei der PDS) viel vom heißen Herbst an den Universitäten und
Hochschulen mitbekommen, weil ich vor Ort war. Es
Es ist die endgültige Zerstörung des BAföG als So-
- geht weiter über die Hochschulrektorenkonferenz -
zialleistungsgesetz, nachdem die Leistungen des die Ausschußmitglieder oder viele von ihnen waren
Bundes für die Ausbildungsförderung in den letzten dabei -, über die Kultusministerkonferenz, die Ge-
Jahren bereits in beispielloser Weise zurückgefahren werkschaften- und Studierendenvertretungen bis -
worden sind. Wir alle haben das hier anhand des un- auch das wurde heute schon gesagt - in die Reihen
säglichen Gefeilsches um die 17. Novelle bereits mit- der CDU.
erleben können.
Alle haben. für ihre Kritik gute Gründe: bildungs-
Den letzten Sozialerhebungen des Deutschen Stu- und kulturpolitische, sozialpolitische, familienpoliti-
dentenwerkes ist zu entnehmen, daß in den letzten sche, wirtschaftspolitische und nicht zuletzt - auch
10 bis 15 Jahren die Verteilung der Bildungschancen das ist richtig - finanzpolitische.
in weitaus stärkerem Maße als in den 70er Jahren
Alternativvorschläge - und das begrüße ich ganz
wieder eine Variable von Einkommens- und Status-
besonders - werden unterbreitet.
verhältnissen der Elternhäuser sowie der Ge-
schlechtszugehörigkeit geworden ist. Diese Entwick- Es gehört schon eine beachtliche politische Igno-
lung steht im eklatanten Widerspruch zur ursprüngli- ranz dazu, all diese Dinge vom Tisch zu wischen und
chen Zielsetzung des BAföG - ich will noch einmal es nicht für nötig zu halten, gemeinsam mit den Be-
daran erinnern -, einen sozialen Nachteilsausgleich troffenen und den bildungspolitischen Kräften in
zu schaffen und jungen Leuten unabhängig von Ein- Deutschland nach sozialen Alternativen für die Lö-
kommen und Bildungsverhalten der Herkunftsfami- sung der anstehenden Probleme zu suchen.
lie das Grundrecht auf freie Berufswahl zu sichern.
(Beifall bei der PDS)
(Beifall bei der PDS)
Der einzig gangbare Weg - ich hatte bis heute
Inzwischen - ich möchte noch einmal daran erin- wirklich noch ein bißchen Hoffnung - heißt für die
nern - studieren von 100 Beamtenkindern 65, von Regierungskoalition doch BAföG-Verzinsung - und
100 Arbeiterkindern 15, in Ostdeutschland sogar nur fertig. Die PDS lehnt das Zins-BAföG ebenso ab wie
8. Die Zahlen sind uns allen bekannt. Es wird also die im Gesetzentwurf geplanten Einschränkungen
höchste Zeit, die Frage nach studierenden Kindern des Fachrichtungswechsels sowie der Förderung von
von Arbeitslosen in die Statistik einzuführen, um Zusatz-, Ergänzungs- und Aufbaustudiengängen.
vielleicht ein noch realistischeres Bild über das so- Ebenso ist die Förderungshöchstdauer nicht an admi-
ziale Gefälle im Bildungsbereich zu erhalten. nistrativ festgelegten Regelstudienzeiten zu messen,
sondern es ist der enge Zusammenhang von Studien-
Herr Minister, ich bin auch kommunale Abgeord- zeiten und Studienbedingungen zu beachten. Matt-
nete. Wenn der Bund wirklich daran Interesse hätte, hias Berninger vom Bündnis 90/Die Grünen hat das
die Zahlen zu erfahren, könnte er sie bekommen: In hier ja für meine Begriffe sehr anschaulich darge-
den Kommunen liegen diese Zahlen vor; denn in den stellt.
Kommunen spielt sich ab, was ich hier vorher ge- Bildungsfinanzierung ist Investition in die Zukunft
schildert habe. und bleibt als gesellschaftliche Aufgabe grundsätz-
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Das interes- lich Verpflichtung des Staates. Von diesem Stand-
siert ihn aber nicht!) punkt aus sind für uns auch sämtliche Kassenmo-
delle - auch das von den Grünen favorisierte BAFF-
- Das ist klar. Modell - zumindest kritikwürdig, da es sich immer
um Privatisierungsmodelle handelt. Der Staat wird
In diesem Kontext sind die Zins-BAföG-Pläne aus dadurch aus seiner Verantwortung und Pflicht zur
dem Zukunftsministerium für uns nur so interpretier- Bereitstellung gleicher Bildungschancen für alle ent-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8701
Maritta Böttcher
lassen. Damit wird Bildung nicht mehr als gesell- Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Herr Präsident!
schaftliches Gut betrachtet, sondern auf den Aspekt Meine Damen und Herren! Trotz aller harter Mei-
einer gegenleistungspflichtigen individuellen nungsunterschiede besteht, glaube ich, in einem
Chance innerhalb eines p rivaten Finanzierungszy- Konsens unter uns: Das Bildungs- und Ausbildungs-
klus reduziert. system Deutschlands ist einer der Grundpfeiler unse-
res sozialen und wirtschaftlichen Erfolges der letzten
Das Argument, Akademikerinnen und Akademi- Jahrzehnte.
ker seien privilegiert und könnten daher während ih-
res Berufslebens einen Teil ihres Geldes abgeben, (Tilo Braune [SPD]: Warum macht ihr es
macht deutlich, wie eine abstrakte statistische Tatsa- dann kaputt?)
che zu einer politisch falschen Aussage kondensiert
werden kann, an deren Ende wieder die Verschär- Aber wenn dies so bleiben soll, muß dieses System in
fung sozialer Ungleichheit steht. vielen Teilen fortgeschrieben und reformiert werden.
(Beifall bei der PDS) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
Es ist nämlich jedem freigestellt, die Ausbildungs- Das gilt für den beruflichen genau so wie für den
kasse zu nutzen. akademischen Bildungsbereich. Beide sind auf einan-
der angewiesen. Unser Bildungssystem ist ja gerade
Ergo: Diejenigen, die ihr Studium aus Einkommen deshalb so erfolgreich, weil es in seiner Vielfalt den
und Vermögen finanzieren, sind danach schuldenfrei unterschiedlichen Begabungen, Neigungen und Fä-
und müssen keine Sondersteuern für ihr Studium higkeiten der Menschen entgegenkommt.
-
zahlen. Mit Schulden und der Perspektive lebenslan-
ger Zusatzabgaben würden also auch hier nur dieje- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
nigen ins Berufsleben starten, die ohnehin aus ein- ordneten der F.D.P.)
kommensschwachen Verhältnissen stammen.
Die große Herausforderung heute ist, genau diese
Darüber hinaus werden die zunehmenden Risiken Vielfalt bei dem steigenden internationalen Wettbe-
und Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt auch für werbsdruck, dem rasanten technischen Fortschritt
Hochschulabsolventen ignoriert, und letzteres betrifft und den extrem knappen Kassen von Bund, Ländern
- auch das ist für den heutigen Tag besonders aktu- und Gemeinden auf einem erstklassigen Niveau zu
ell - vor allem wieder junge Frauen. halten.
Da wir ohnehin schon genug Steuern zahlen, ist Im Hochschulbereich ist dabei die Diskussion um
die Frage wohl eher in die Richtung zu stellen, wann das BAföG nicht das Kernproblem, auch wenn
endlich der Anteil der Bildungsausgaben am Bun- manchmal in der Öffentlichkeit ein solcher Eindruck
deshaushalt einen der Aufgabe angemessenen Um- erweckt wird. Es ist vielmehr der Umstand, daß un-
fang erreicht und so sozialstaatlich orientierte Refor- sere Hochschulen in ihrer jetzigen Organisationsform
men auch der Studienfinanzierung möglich werden. und Ausstattung zu akademischen Massenabferti-
Ziel der Partei des Demokratischen Sozialismus gungen zu werden drohen, und zwar zum Nachteil
bleibt deshalb die bedarfsgerechte, elternunabhän- aller: des Hochbegabtennachwuchses, der Spitzen-
gige Ausbildungsfinanzierung ohne Rückzahlungs- forschung, der jungen Leute, die möglichst zügig
pflicht. eine fundierte akademische Berufsausbildung an-
streben, aber auch zum Nachteil der Studenten, die
Die Zeit ist reif, über parteipolitische Grenzen hin- jahrelang an den Universitäten strampeln, bis sie
weg die Ausbildungsförderung grundlegend zu re- merken, daß sie in einer anderen Ausbildung viel
formieren, das Grundrecht auf Bildung für alle einzu- glücklicher wären.
fordern, die sozial-, bildungs- und gesellschaftpoliti-
schen Ziele der Bildungsreform der 70er Jahre zu Nun frage ich Sie, Herr Glotz: Wer hat denn in den
verteidigen und sich auf den Weg zu einer zukunfts- letzten eineinhalb Jahren seit Amtsantritt Minister
fähigen und weltoffenen Bildungsreform in ganz Rüttgers genau diese Punkte immer wieder in den
Deutschland zu machen. Mittelpunkt der Diskussion gerückt? Wer versucht
denn seit eineinhalb Jahren, den Dialog mit allen Be-
Damit sollten wir heute anfangen; denn bekannt- teiligten - und es sind viele Beteiligte - zu führen?
lich hat ein bedeutender Mann gesagt: „Wer zu spät Wir können die Hochschulpolitik nicht per Knopf-
kommt, den bestraft das Leben". druck aus Bonn machen. Minister Rüttgers hat in die-
(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: So ist sen eineinhalb Jahren sehr viel erreicht, mehr als
es dann auch gekommen, Frau Kollegin!) viele vor ihm.
Ich glaube, das haben die jungen Menschen in die- (Doris Odendahl [SPD]: Wo denn? Was
sem Land nicht verdient, die weiter nichts als ein or- denn?)
dentliches Studium - sozial abgesichert - absolvieren Wir stehen erst am Anfang dieses Dialogs. Auch die
wollen. Opposition ist aufgefordert, die Länderregierungen,
(Beifall bei der PDS) die von der SPD geführt werden, zu diesem Dialog
etwas stärker, als es bisher geschehen ist, anzuhal-
ten.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der
Kollege Dr. Christian Ruck, CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU)
8702 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Doris Odendahl
sich mit der Lage der Studierenden und der Hoch- Jahren unzureichend an die Steigerung der Lebens-
schulen vergleichen: Es ist schon lange nicht mehr haltungskosten und die Einkommensentwicklung
fünf vor zwölf, sondern schon lange nach zwölf. angepaßt.
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Die sind in Nach der 14. Sozialerhebung des Deutschen Stu-
der Mensa!) dentenwerkes betrug die Quote der Geförderten im
Sommersemester 1994 in Westdeutschland 24 Prozent
- In die Mensa dürfen Sie nicht mehr, Herr Kollege
und in Ostdeutschland 55 Prozent. Ohne regelmä-
Ruck; dazu sind Sie im Alter etwas zu fortgeschritten.
ßige Anpassung schrumpft die Gefördertenquote im-
Bei der Verabschiedung der 17. BAföG-Novelle am mer mehr. Wenn Sie jetzt ankündigen, durch Ihr pri-
1. Juni 1995 hatten wir Sie sehr eindringlich gebeten, vates Zinsmodell steige diese wieder auf 30 Prozent,
mit der 18. Novelle das ständige Flickwerk bei der wobei sich dann die Darlehensschuld ja verdoppelt,
Ausbildungsförderung zu beenden. Was die Bundes- fällt mir nur die Bezeichnung Roßtäuschertrick ein.
regierung heute vorlegt, ist kein Konzept zur Lösung
Hinzu kommt, daß die Verlagerung der BAföG-
der Finanzierungsprobleme der Hochschulen, nicht
Darlehen auf einen Schattenhaushalt, nämlich bei
einmal ein Rettungsanker, an dem Herrn Rüttgers der Lastenausgleichsbank, zunächst zwar finanzpoli-
gelegen wäre, und schon gar kein Reformansatz. Es
tische Spielräume eröffnet; langfristig jedoch werden
ist der klägliche Versuch, den Finanzminister vorm
der Bundeshaushalt und die 16 Länderhaushalte mit
Absaufen zu retten.
erheblichen Zins- und Garantiekosten sowie Darle-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- hensausfällen belastet werden.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) -
Da die geplante Darlehensumstellung langfristig
Die SPD lehnt die Umstellung des BAföG auf ein zum Versiegen der öffentlichen Haushalte aus bishe-
verzinsliches Bankdarlehen ab. Zusammen mit den rigen Darlehensrückflüssen führen würde, ist dieser
weiteren strukturellen Änderungen wie der starken heute vorgelegte Gesetzentwurf auf lange Sicht - zu-
Beschränkung der Förderungshöchstdauer und einer gegeben: auf lange Sicht - auch finanz- und haus-
Einschränkung der Förderung von Zweitstudien so- haltspolitisch ein fataler Irrweg.
wie Ergänzungs- und Aufbaustudiengängen und des Der Bundesrat hat am 1. März 1996 mit breiter
Fachrichtungswechsels übertreffen die Auswirkun- Mehrheit und für Sie schmerzlich die Verzinsung der
gen selbst den BAföG-Kahlschlag von 1983. BAföG-Darlehen und die von der Bundesregierung
Die Umstellung auf ein verzinsliches Bankdarle- geplanten weiteren Einschränkungen abgelehnt.
hen bedeutet, daß Sie sich von der Chancengleich- Die SPD-Fraktion fordert, wie bereits in unserem
heit in der Bildung endgültig verabschieden. Sie ver- Antrag zur 17. Novelle angeführt, die Verlängerung
lagern die Finanzierungsprobleme einseitig auf die der Studienabschlußförderung und die Einführung
bedürftigen Studierenden und muten ihnen eine eines einheitlichen Berechnungszeitraumes für die
glatte Verdoppelung der Rückzahlungsschuld zu. Einkommensanrechnung in Ost- und Westdeutsch
Ist das Ihr Beitrag zu einem längst fälligen Genera- land. Wir halten es wie der Bundesrat für notwendig,
tionenvertrag? Was muten Sie eigentlich diesen jun- daß die von der Bundesregierung in Aussicht genom-
gen Menschen, die wir ohnehin schon bis zur Hals- mene Anhebung der Bedarfssätze und Freibeträge in
krause mit Hypotheken belastet haben, noch alles Höhe von jeweils 6 Prozent losgelöst von einer struk-
zu? Sie bezahlen die von Ihnen verursachte extreme turellen Reform der individuellen Ausbildungsförde-
Staatsverschuldung, sie bezahlen in erhöhtem Maße rung im Herbst 1996 verwirklicht wird.
schon auf Grund der demographischen Entwicklung Die SPD-Fraktion forde rt die Bundesregierung auf,
für unsere Renten, und sie bezahlen eine überhaupt endlich ihre Vogel-friß-oder-stirb-Politik aufzugeben
nicht bezifferbare ökologische Hypothek. Deshalb und sich an der Suche nach einer für alle Beteiligten
haben unsere Generation und eine Regierung, die akzeptablen neuen Konzeption zu beteiligen. Es ist
dafür Verantwortung trägt, die verdammte Pflicht doch ein Armutszeugnis, daß Minister Rüttgers wei-
und Schuldigkeit, die jungen Menschen überhaupt terhin die Mitarbeit an der von der KMK dafür einge-
in die Lage zu versetzen, diese Hypotheken abzutra- setzten Arbeitsgruppe verweigert. Diese will Ende
gen. April einen Zwischenbericht und im Herbst 1996 ei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- nen Abschlußbericht vorlegen, um 1997 eine grund-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) legende Reform der Studienfinanzierung verwirkli-
chen zu können.
Ihr mit der 18. BAföG-Novelle vorgelegter Beitrag
ist kläglich, Herr Zukunftsminister Rüttgers. Die SPD-Vorschläge zu einer solchen Reform lie-
gen vor. Indirekte Förderungen, also Kinder- und
(Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers: Das Ausbildungsfreibeträge und sonstige Steuervorteile,
kann man so nicht sagen! - Heiterkeit) und direkte Förderungen, also Kindergeld und Fi-
- Sie müssen es hinnehmen, ich beurteile es so, und nanzierungen des Familienlastenausgleichs, müssen
viele sehen es so wie ich. zu einem Ausbildungsgeld als einheitliche Sockelfi-
nanzierung zusammengefaßt werden, so daß Fami-
Die individuelle Ausbildungsförderung hat seit vie- lien mit höheren Einkommen bei der Ausbildung ih-
len Jahren überdurchschnittlich zur Konsolidierung rer Kinder nicht länger bevorzugt werden. Das
der öffentlichen Haushalte beitragen müssen. Die BAföG soll auf dem Ausbildungsgeld aufbauen und
Freibeträge und Bedarfssätze wurden in den letzten bedarfsgerecht weiterentwickelt werden.
8706 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Antje Hermenau
worden sind, die eine Beschäftigung als Ungelernte die Versorgung. 1994 waren es 23 Arbeitsamtsbe-
angenommen haben, die in die Warteschleife der So- zirke. Im letzten Jahr waren es 55 Arbeitsamtsbe-
zialhilfe gekommen sind, und Unversorgte, wie man zirke. Wie viele Beweise brauchen Sie denn?
sie nennt, die sich draußen herumdrücken.
Die geschönte Statistik für 1995 - durch die Privati-
Dazu gehören auch die jungen Menschen, die als sierung von Bahn und Post wurden deren Ausbil-
Arbeitslose unter 20 Jahren versuchen, in diesem dungsplätze erstmals in die Kammerverzeichnisse
Land irgendwie unterzukommen. Das sind minde- aufgenommen - verkaufen Sie als Erfolg, Herr Mi-
stens 150 000 Jugendliche, die im letzten Jahr ihren nister. Das ist wirklich nicht in Ordnung.
Wunsch nach Ausbildung auf diese Art und Weise
aufgegeben haben. Sie tauchen in den Statistiken Sie sprechen davon, daß jede Mark nur einmal aus-
nicht mehr auf. Ihnen, Herr Minister, gelingt es mit gegeben werden kann. Ich wäre froh, wenn die Bil-
einer gewissen Chuzpe, von einer ausgeglichenen dungspolitiker die besseren Haushälter wären. Aber
Bilanz auf dem Ausbildungsstellenmarkt 1995 zu re- im Moment sind die Haushälter die besseren Bil-
den, wenn Sie uns hier in Form der Unterrichtung dungspolitiker. Herr Rüttgers, wir versuchen näm-
durch die Bundesregierung davon in Kenntnis setzen lich, in der Studienfinanzierung und in der Berufs-
wollen. Man kann solche und solche Zahlen verwen- ausbildung mittelfristige Konzepte anzustreben. Das
den. Ob das etwas mit Rechnen zu tun hat, wage ich Konzept zur Finanzierung der Berufsausbildung wer-
in Zweifel zu ziehen. Ich bin Haushälterin; ich er- den wir Anfang Mai vorlegen. Mit diesen Konzepten
laube mir diese Bemerkung. soll die Finanzierung der Ausbildung durch Bundes-
mittel mittelfristig enden. Damit wird über die Legis-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN laturperiode hinaus gedacht und nicht nur von einem
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahr zum nächsten gehechelt und sich durchge-
der PDS) wurschtelt.
Ich habe das Herumgewurschtel satt. Wir wursch- Mir ist sehr wohl klar, daß es auch mit Ihnen von
teln uns bei der Ausbildungsplatzsituation hier von der Koalition eine interessante Diskussion geben
Jahr zu Jahr durch. Es gibt Aktionsprogramme, die wird, wenn über die betriebswirtschaftlichen
deutlich machen sollen, wie hektisch, betriebsam Aspekte in dem Spannungsverhältnis zwischen Um-
und wunderbar agil diese Bundesregierung die Pro- lage und Steuervorteilen zu diskutieren sein wird.
bleme anpackt. Aber es wird nichts angepackt, son- Ich bin fest davon überzeugt, daß es nicht geht, im-
dern es ist vielmehr so: Es werden neue Berufsfelder mer nur den kleinen Leuten zu predigen, sie müßten
definiert, die Begabtenförderung wird sichergestellt, Opfer bringen, sondern hier bedarf es einer politi-
und überbetriebliche Ausbildungsphasen werden schen Rahmensetzung für die Wirtschaft. Ich glaube
angestrebt. Aber das alles müssen wir sowieso ma- nicht, daß das Staatswirtschaft ist. Das versuchen Sie
chen. Das hat noch gar nichts damit zu tun, daß wir ja immer wieder zu unterstellen.
eine besondere Situation haben, der wir außerdem
Sie können das an dem Ausbildungsverhalten der
noch begegnen müssen. Das ist Ihre tägliche Arbeit. Großbetriebe ablesen. Die Belegschaftsreduzierung
Die stellen Sie als Aktionsprogramm dar.
auf Grund der Wirtschaftsprüfungen und des Über-
Ich denke, wir müßten das, was die neue Zeit er- gangs zum Aktienmarkt hat in den letzten Jahren
heischt, anpacken. Statt dessen stürmen die Zahlen 10 Prozent betragen; aber die Ausbildungsplatzredu-
sozusagen den Berg hinauf, und der Homo oecono- zierung hat 25 Prozent betragen. Wenn das keine
micus hechelt atemlos hinterher, weil die wirtschaftli- Tendenz ist!
chen Prinzipien die politischen ersetzt haben. Dabei Wir werden parallel zum Berufsbildungsbericht
war das, was jetzt passiert, bereits 1993 deutlich ab- 1996 Anfang Mai in den Geschäftsgang des Bundes-
sehbar. Ich war damals im Landtag von Sachsen und tages einen Antrag einbringen, der sich mit einer
habe mich auch dort mit dem Fachgebiet Berufsbil- mittelfristigen Lösung der Berufsausbildungssitua-
dung befaßt. Schon damals war uns klar, wohin das tion, die vor allen Dingen darauf beruht, daß der
alles führt. Bereits damals haben wir gesehen, daß Bund aus der Finanzierung der betrieblichen Aus-
junge Menschen keine Ausbildung hatten und wie bildung wieder aussteigt, befaßt. Ich wäre Ihnen sehr
der Bodensatz in einer Weinflasche angesammelt dankbar, wenn wir diese Verantwortung für das Ge-
wurden, um die sich niemand kümmert. Und es wer- meinwesen gemeinsam tragen würden.
den jedes Jahr mehr.
Ich bedanke mich.
Da können Sie mir im Berufsbildungsbericht 1995
nicht anbieten, daß die Zahlen der Absolventen an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
allgemeinbildenden Schulen in den fünf neuen Län- bei der SPD und der PDS)
dern ab 1997/98 wahrscheinlich leicht zurückgehen
werden. Das ist eine Daumenpeilung aus Ihrem Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat
Hause. Sie verlangen aber selbst exakte Zahlen. Sie Herr Professor Dr. Laermann, F.D.P.-Fraktion.
wissen ganz genau, daß mindestens bis 2005 die Ab-
solventenzahlen steigen werden, in den fünf neuen
Ländern auf jeden Fall. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (F.D.P.): Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Las-
Sie sagen, Sie wissen nicht, wie Sie die Situation sen Sie mich erst einmal die Frage von Herrn Glotz
beurteilen sollen. 1993 war bereits in zehn Arbeits- beantworten, die er an meinen Kollegen Guttmacher
amtsbezirken klar, daß die Nachfrage größer ist als gestellt hat.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8705
Doris Odendahl
Zusätzliche finanzielle Anstrengungen des Staates im Bildungs- und Wissenschaftsbereich auf die Län-
zur Studienfinanzierung sollen dazu dienen, jungen derhaushalte zum Ziel hat.
Menschen, deren Eltern zu ihrem Studium nicht oder
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
wenig beitragen können, ein Studium zu ermögli-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
chen. Leistungsüberprüfungen als integraler Be-
standteil der jeweiligen Studienordnung werden Die SPD-Fraktion hat zu den Bereichen Hochschul-
beim BAföG berücksichtigt. Neue, zusätzliche Hür- bau und Ausbildungsförderung eine Anhörung be-
den für BAföG-Empfänger und -Empfängerinnen antragt, die am 8. Mai dieses Jahres stattfinden wird.
lehnen wir ab. Nachdem schon heute feststeht, daß der Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zur 18. BAföG-Novelle
Insgesamt soll das BAföG so einfach wie möglich von allen Experten und von allen Ländern einhellig
ausgestaltet werden, um den Verwaltungsaufwand und aus gutem Grund abgelehnt wird, hielten Sie an-
so gering wie möglich zu halten. Das, was Ihnen zum fangs eine Anhörung für überflüssig und unterstell-
Meister-BAföG aus der Feder geflossen ist, ist da ten der Opposition, wir wollten Sie gar vorführen.
wirklich kein leuchtendes Beispiel.
(Werner Lensing [CDU/CSU]: Das ist nicht
(Werner Lensing [CDU/CSU]: Sie haben so!)
doch zugestimmt!)
Nein, meine Damen und Herren von der Regierungs-
- Sehen Sie sich doch einmal die Briefe an, die jetzt koalition, das wollen wir nicht. Wir wollen Sie damit
kommen! Sie haben bisher überhaupt keine Durch- in die Lage versetzen, doch noch die Chance zu er-
führung zustande gebracht. Das ist doch so. -
greifen, um zu der dringend notwendigen Reform
des BAföG zu kommen. Es darf einfach nicht wahr
(Beifall bei der SPD - Werner Lensing
sein, daß sich ausgerechnet der Zukunftsminister als
[CDU/CSU]: Sie waren doch dafür!)
reformunfähig erweist und seine selbst geforderte
- Nein. Wir haben gesagt, das müssen weiter die Ar- Qualifikations- und Innovationsoffensive behindert.
beitsämter regeln. Das Chaos haben doch Sie ange- (Zuruf von der CDU/CSU)
richtet!
- Das tun Sie doch.
(Beifall bei der SPD - Werner Lensing
[CDU/CSU]: Aber Sie haben nachher zuge- Meine Damen und Herren, wir haben heute mor-
stimmt!) gen unserer verstorbenen ehemaligen Kollegin Käte
Strobel gedacht und ihr Lebenswerk gewürdigt. Sie
Für besondere Aufgaben, wie Examensförderung hat die Ausbildungsförderung mit ins Leben gerufen.
bzw. Studienabschlußförderung, sollten Darlehen Es war ihr Werk. Ihr ging es darum, Chancengleich-
vorgesehen werden. Auch hierfür sind zusätzliche fi- heit
nanzielle Anstrengungen notwendig.
(Unruhe bei der CDU/CSU)
Ergänzend zu diesen Überlegungen - da stimme
ich mit Herrn Guttmacher und Herrn Laermann gern - vielleicht können Sie noch einmal zuhören; es wäre
einmal überein - gehört auch ein Konzept zum sehr gut, denn es war auch Ihre Kollegin -
zweckgebundenen steuerbegünstigten Bildungsspa- (Zuruf von der SPD: Das nützt bei denen
ren, das langfristig die Familien darin unterstützen aber nichts!)
soll, Vorsorge für die Ausbildung ihrer Kinder zu tref-
fen, so sie in der Lage sind. unabhängig von der wirtschaftlichen und sozialen
Lage der Auszubildenden und ihrer Familien zu ge-
Es ist erfreulich, daß eine ganze Reihe von Organi- währleisten und alle Begabungen zu fördern. Die
sationen ebenfalls Reformvorschläge erarbeitet ha- SPD hält an diesen bildungspolitischen Forderungen
ben. Dazu zähle ich auch die BAFF-Vorschläge vom fest, heute mehr denn je.
Bündnis 90/Die Grünen. Sie müssen alle auf den
Tisch und unvoreingenommen geprüft werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Es dient der Sache überhaupt nicht, wenn die Bun-
desregierung alle Alternativvorschläge pauschal als Wir dürfen die junge Generation nicht im Stich las-
verfassungswidrig und nicht finanzierbar hinstellt. sen.
Sie lenkt damit von gravierenden Problemen ihrer ei- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
genen Paketlösung ab. Die Bundesregierung gibt GRÜNEN und der PDS)
vor, die bei der Verwirklichung ihrer BAföG-Pläne
freiwerdenden Mittel für den weiteren Hochschul-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die
ausbau, die Aufstiegsfortbildung, die Wissenschafts-
Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen.
förderung und die Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses sowie die Modernisierung der Hoch-
schulen in den neuen Ländern nutzen zu wollen. Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dies alles ist notwendig. Wir lehnen eine solche Pa- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
ketbildung, die allein von den bedürftigen Studieren- Rüttgers, wissen Sie, was der Aktenvermerk „an-
den getragen werden soll, auch deshalb ab, weil sie derweitig verblieben" in Arbeitsämtern bedeutet? -
eine einseitige Verschiebung der Lasten für gemein- Das sind die jungen Menschen, die 1995 im Schulbe-
sam von Bund und Ländern zu tragende Aufgaben reich, wie man unschön ausdrückt, zwischengeparkt
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8707
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
Wir stellen natürlich Überlegungen zu Alternati- über zu beraten, ob das alles wirklich für die Ausbil-
ven an. Wer tut das nicht? Dann wird man doch auch dung im klinischen Universitätsbereich verwandt
einmal den einen oder anderen gedanklichen Ansatz wird oder ob damit nicht auch Kosten der normalen
hier vortragen können. Das heißt noch lange nicht, Krankenversorgung gedeckt werden. Ich glaube,
daß das die Position ist, die eine Gruppe in diesem diese Frage ist berechtigt und muß gestellt werden.
Hohen Hause einnimmt. Wir sind unabhängige Ab- Wie wir das regeln, wird sich dann abzeichnen.
geordnete. Jeder Abgeordnete ist in der Lage, hier
seine Meinung vorzutragen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
(Dr. Peter Glotz [SPD]: Einverstanden!) Zweitens erkläre ich ausdrücklich für meine Frak-
tion, daß wir natürlich nach wie vor - das werden wir
Wir wissen alle, daß wir in dem Feld, in dem wir in den Beratungen einbringen - für die Leasingmo
uns hier bewegen, durchaus Diskussionsbedarf ha- delle sind, für alternative Finanzierungsmodelle.
ben, und zwar auf sachlicher Ebene. Deswegen bin
ich all den Kolleginnen und Kollegen dankbar, die (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
gesagt haben: Wir sehen die Problematik, wir sehen CDU/CSU)
unsere Verantwortung, unsere Verpflichtung. Diese Ich sage ausdrücklich: Auch wenn nicht unmittel-
liegt im übrigen nicht nur beim Bund. Machen wir bar bewiesen ist bzw. in Zweifel gezogen wird, ob
uns doch nichts vor: Wir führen hier als Stellvertreter das Leasing in der Regel kostengünstiger ist, gibt es,
Diskussionen, die in den Ländern geführt werden so glaube ich, schon genügend Beispiele, an denen
müssen. Das, was gesagt wird, gilt in vielen Fällen man belegen kann, daß es kostengünstiger ist, vor al-
für die Länder rundum, unabhängig von deren politi- - lem weil man viel bürokratischen Aufwand sowie
scher Orientierung in den Regierungen. lange Planungs- und Genehmigungszeiten einspa-
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der ren kann und vernünftigerweise auch solide, kosten-
CDU/CSU) günstig - beim Hochschulausbau wird viel Unfug an-
gestellt - und, wie ich aus aktuellem Anlaß hinzu-
Deswegen bin ich dankbar, daß Sie von einer Alli- füge, auch sicher baut.
anz gesprochen haben. Es wird Zeit, daß wir die Irra-
tionalität der Diskussion und der Behauptungen (Beifall des Abg. Josef Hollerith [CDU/
überwinden; alles andere hilft unserer Zukunft und CSU])
den jungen Menschen überhaupt nicht. Zum nächsten Punkt. Wir diskutieren über die Erb-
Ich habe bedauerlicherweise nur wenige Minuten schaftsteuer. Wir wissen, daß in naher Zukunft Ver-
Zeit. Ich hatte mich auf das Thema Hochschulbauför- mögen in Billionenhöhe vererbt werden. Warum be-
derung und diese Novelle konzentriert und bekenne mühen wir uns eigentlich nicht darum, wie es in an-
ausdrücklich, daß ich die Diskussion über dieses deren Ländern Tradition ist, daß vieles von diesem
Thema, das die Struktur und den Ausbau der Hoch- privaten Geld in Stiftungen für den Institutsbau, für
schulen betrifft, von der Diskussion über die Sozial- den Laborbau, für den Bibliotheksbau eingesetzt
hilfe, die das BAföG eigentlich ist, losgelöst sehen wird., ohne daß die Länder einen solchen Stiftungsan-
möchte. teil in ihren eigenen 50prozentigen Anteil zur Hoch-
schulbaufinanzierung einrechnen?
Herr Ruck, eine Bemerkung in eigener Sache kann
ich mir nicht verkneifen: In der Bundesregierung (Dr. Peter Glotz [SPD]: Dann müssen Sie die
wird nicht erst seit anderthalb Jahren Bildungspolitik Steuergesetze ändern!)
gemacht. - Eben. Dann lassen Sie uns dies doch angehen!
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ich weiß (Edelgard Bulmahn [SPD]: Machen Sie es
auch, warum!) doch!)
Ich hoffe, daß ich das anmerken durfte. Oft wird gesagt: Das ist nicht die deutsche Tradi-
tion. - Bei den anderen hat das auch einmal angefan-
Zum vorliegenden Gesetzentwurf: Hier stellt sich
die Frage, die Bagatellgrenzen zu erhöhen. Seit gen. Jede Tradition beginnt einmal. Beginnen wir
doch endlich damit, diese Tradition zu schaffen! - Ich
1970, seit Einführung des Gesetzes, sind diese nicht
halte das für richtig, denn wir müssen uns auch nach
verändert worden. Auf Grund der Vielzahl der Baga-
tellprojekte - das sind letztendlich nur minimale Re- anderen Finanzierungsmöglichkeiten umsehen.
paraturarbeiten; 500 000 DM, was ist das heute im (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU
Hochschulbereich? -, erschien es uns notwendig, die sowie bei Abgeordneten der SPD)
Bagatellgrenzen zu erhöhen, um viel Verwaltungs-
aufwand einzusparen. Das ist Deregulierung, Herr Noch ein Wort zur Frage der beruflichen Bildung.
Glotz; das ist auch Kosteneinsparung. Das will ich Mich bedrückt immer das Argument, daß es sicher-
ausdrücklich sagen. lich diejenigen, die beruflich ausbilden, nicht unbe-
dingt motiviert, mehr Lehrstellen anzubieten, wenn
Ich sage noch ein Weiteres: Wir müssen im Klinik- erwartet wird, daß alle Ausgebildeten am Ende der
bereich mit unseren Kollegen, im Zusammenhang Ausbildung übernommen werden. Es gilt nicht nur
mit der Gesundheitsstrukturreform über das System für die berufliche Bildung, sondern auch für die
reden. Das ist wichtig. 34 Prozent der Mittel der Hochschulausbildung: Man schließt die Ausbildung
Hochschulbauförderung gehen in den klinischen Be- mit 25 Jahren ab, bewirbt sich um eine Erststelle,
reich. Es ist doch wohl angebracht und richtig, dar- und dann wird von einem verlangt, daß man ein Jahr
8708 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
bringung der beiden Gesetzentwürfe, daß sie sich zeigt sich genau das gleiche Bild. Hier wiesen die
aus der finanziellen Mitverantwortung für die För- Länder und Kommunen mit 100,4 Prozent gegenüber
derung von Bildung und Wissenschaft wegstehlen 1982 ebenfalls eine deutlich höhere Zuwachsrate auf
will. Statt in die Köpfe, in die Kreativität und in die als diejenige des Bundes mit 48,3 Prozent. Dement-
qualifizierte Ausbildung der jungen Menschen in un- sprechend trug der Bund 1993 nur noch 54,9 Prozent
serem Lande zu investieren, will sie bei den Einkom- der öffentlichen Forschungs- und Entwicklungsaus-
mensschwächsten unter den Studierenden abkassie- gaben. 1982 waren es noch 62,2 Prozent.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8709
Edelgard Bulmahn
Wie stark diese Bundesregierung sich seit 1982 aus verehrte Frau Kollegin, zwangsläufig zur Folge ha-
der gemeinsamen Wissenschaftsfinanzierung zu- ben, daß der Anteil der staatlichen Mittel, den Sie
rückgezogen hat, wird an einer einfachen Rechnung hier mit Ihrem Laptop berechnet haben, natürlich
deutlich: Hätten die Wissenschaftsaufwendungen sinkt. Sie sollten nicht so tun, als ob das eine Absen-
des Bundes die gleiche Zuwachsrate aufgewiesen kung der Mittel bedeutet, sondern darauf hinweisen,
wie die der Länder und Gemeinden, so müßte der daß es sich um eine Finanzierung aus dem privaten
Bundesanteil 1994 mit 28,1 Milliarden DM um Bereich handelt. Dies hat aber nichts mit der Gesamt-
7,7 Milliarden DM höher gelegen haben, als dies tat- summe zu tun, die für die Studentinnen und Studen-
sächlich der Fall war. Liebe Kolleginnen und Kolle- ten sowie für die Hochschulen zur Verfügung steht.
gen, stellen Sie sich einmal vor, wir hätten in unse- Können Sie mir recht geben, daß diese Betrachtung
rem Haushalt Mittel in Höhe von 7,7 Milliarden DM richtig ist?
mehr zur Verfügung. Dann müßten wir viele Diskus-
sionen nicht führen und könnten eine wesentlich ra-
tionalere und bessere Forschungs-, Bildungs- und Edelgard Bulmahn (SPD): In den Zahlen, die ich
Technologiepolitik betreiben. Was mich wirklich be- jetzt angegeben habe, sind die BAföG-Zahlungen
drückt, ist, daß Sie diese Tatsache einfach nicht zur nicht enthalten, Herr Rüttgers. Von daher trifft Ihr Ar-
Kenntnis nehmen wollen, obwohl sie Ihnen schwarz gument nicht zu, weil die Ausgaben für die Hoch
auf weiß vorliegt, obwohl Sie sie jeden Tag nachlesen schulen - ohne Berücksichtigung des BAföG - in der
können. Sie diskutieren wirklich an der Realität vor- mittelfristigen Finanzplanung des Bundes sinken.
bei. Ich möchte Sie bitten, endlich einmal diese Reali-
tät zur Kenntnis zu nehmen. -
Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Darf ich noch ein-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE mal nachfragen, bitte?
GRÜNEN und der PDS)
Die Bundesregierung behauptet nun zwar, mit den Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Gestatten Sie
hier zur Debatte stehenden Gesetzentwürfen würden eine weitere Zwischenfrage?
neue Finanzspielräume geschaffen. Das ist jedoch
unredlich. Der geltende Finanzplan des Bundes -
auch der neue Finanzplan von 1996 liegt Ihnen vor, Edelgard Bulmahn (SPD): Ja.
zwar nicht aus dem Hause des Bundesbildungs-
ministers, sondern aus dem Hause des Bundesfinanz-
ministers; Sie können ihn selber nachlesen - weist Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
1995 für die Hochschulen Ausgaben in Höhe von
5,4 Milliarden DM aus. 1999 sind allerdings nur noch
4,8 Milliarden DM vorgesehen, also 22,3 Prozent we- Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Wenn ich es rich-
niger. Ist dies, Herr Minister, der neue Finanzspiel- tig im Ohr habe, Frau Kollegin, haben Sie heute eine
raum für die Hochschulen? Oder verstehen Sie es als Zahl von mehr als 5 Milliarden DM zugrunde gelegt.
Stärkung des Forschungsstandortes Deutschland, Das ist die Zahl von
wenn die Investitionen für Forschung und Entwick-
(Edelgard Bulmahn [SPD]: 1995!)
lung außerhalb der Hochschulen in der Finanzpla-
nung des Bundesfinanzministers bis 1999 von 3,2 auf 1995, die in bezug auf ein Jahr im Haushalt steht und
3,0 Milliarden DM, also um 5,2 Prozent, gekürzt wer- die auf unter 5 Milliarden DM absinkt. Diese Zahl
den? muß, da sie sich auf den Bildungsbereich bezieht, die
BAföG-Leistungen beinhalten, weil bei einem Haus-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin halt von 15,7 Milliarden DM eine Zahl in dieser Höhe
Bulmahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab- sonst nicht zur Verfügung stehen könnte. Aber wir
geordneten Rüttgers? können diesen Punkt sicherlich nach dieser Sitzung
klären, wenn Sie einverstanden sind.
Edelgard Bulmahn (SPD): Ja, selbstverständlich.
Edelgard Bulmahn (SPD): Selbstverständlich.
Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Herr Präsident,
mich drängt es, diese Frage zu stellen, weil die Vor- Angesichts dieser Versäumnisse der Vergangen-
sitzende des Ausschusses, die ich aus inzwischen fast heit, die wir von seiten der SPD schon seit Jahren be-
zehnjähriger Zusammenarbeit kenne, mich doch et- klagen, daß die Haushalte der alten Bundesministe-
was schockt, indem sie hier mit einem Taschenspie- rien für Bildung und Wissenschaft und für Forschung
lertrick arbeitet. und Technologie regelrecht ausgeblutet worden sind
- denn dies ist ja keine Neuentwicklung, wie ich
(Widerspruch bei der SPD - Zuruf von der deutlich gemacht habe, sondern eine Entwicklung
F.D.P.: Hört! Hört!) schon seit Jahren -, sollten Sie sich, Herr Rüttgers,
Das ist eine sehr vorsichtige und freundliche Formu- stärker als Anwalt von Bildung und Wissenschaft
lierung, die ich so wähle, weil wir uns lange kennen. verstehen, für Ihre Belange im Kabinett streiten und
bildungspolitische Innovationen anstoßen. Ich bin
Wenn wir ein Modell vorlegen und die Hälfte der der Meinung, daß es die ureigenste Aufgabe des Bil-
Mittel des BAföG-Bereichs aus einer staatlichen in dungsministers ist, sich wirklich als Anwalt - so, wie
eine private Finanzierung umstellen, dann muß dies, der Ausschuß sich ebenfalls versteht - für Bildung
8710 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Edelgard Bulmahn
und Forschung zu begreifen und auch die diesbezüg- Klarstellung sorgen, dann kann man darüber ent-
lichen Interessen im Kabinett offensiv zu vertreten, scheiden, wie man verfährt. Solange diese Klarstel-
lung noch nicht erfolgt ist, kann man keine Entschei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- dung treffen.
ten der PDS)
(Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann [F.D.P.]:
so wie das Ihre Kollegen ja auch für ihre Ressorts tun. Befassen Sie sich einmal mit der Stellung
(Zuruf von der CDU/CSU: Das tut Herr nahme des Wissenschaftsrates!)
Rüttgers auch!) - Das habe ich gerade in dieser Woche noch getan.
So hätten Sie im Hochschulbauförderungsgesetz Herr Minister, ich frage mich wirklich, wie das ei-
für Verwaltungsvereinfachungen sorgen können gentlich geschehen soll: Durch Handauflegen, durch
und die Möglichkeit eröffnen müssen, daß die je- Würfeln, durch Befassung der Gerichte? Das alles ist
weils wirtschaftlichste Form bei einer Vorhabenreali- der falsche Weg. Vielmehr muß am Anfang eine prä-
sierung gewählt werden kann. Diese Punkte, Herr zise Grenzziehung vorgenommen werden.
Minister - das enttäuscht mich wirklich sehr -, pak-
ken Sie jedoch in Ihrem Gesetzentwurf nicht an. Die Nicht akzeptabel ist auch die im Gesetzentwurf
Novelle ist vielmehr ganz einseitig von dem Interesse vorgesehene Vorabfestlegung von Mitteln für be-
bestimmt, sich finanziell zu entlasten und Kosten auf deutsame Ausbauschwerpunkte. Eine solche Rege-
die Länder abzuwälzen. lung birgt meines Erachtens die Gefahr, daß der
Spielraum für die Realisierung der vom Wissen-
Mit der Anhebung der Bagatellgrenze für Bauvor-- schaftsrat positiv begutachteten Vorhaben noch klei-
haben und für Großgeräte, die aus Gründen der Ver- ner wird, sich die Finanzierungsprobleme im Kernbe-
waltungsvereinfachung durchaus zu begrüßen ist, ist reich des HBFG also noch verschärfen werden. Au-
die Konsequenz verbunden, daß auf die Länder jähr- ßerdem ist der Verdacht nicht von der Hand zu wei-
liche Mehrbelastungen in Höhe von knapp sen, daß die Bundesregierung mit einer solchen Re-
200 Millionen DM zukommen. Trotzdem haben die gelung Vorhaben der Forschungsförderung nunmehr
Länder dazu ja gesagt; auch wir halten das für rich- von den Ländern mitfinanzieren lassen will. Schließ-
tig. Demgegenüber wird der Bund - das muß man lich ist auch diese Regelung nicht in Einklang mit
ebenfalls mit berücksichtigen - in der gleichen Höhe Art. 91 a des Grundgesetzes zu bringen. Er gestattet
entlastet. Mit der im Gesetzentwurf vorgesehenen dem Bund nämlich keine strukturgestaltenden Ein-
Einschränkung der Mitfinanzierung der Hochschul- griffe in den Hoheitsbereich der Länder.
kliniken werden weitere Finanzierungslasten in
Höhe von bis zu rund 650 Millionen DM auf die Län- Problematisch, meine Herren und Damen, ist aller-
der verschoben. dings nicht nur das, was in dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung steht, sondern auch das, was nicht
Angesichts der Tatsache, daß die Länder allein im darin zu finden ist. Da, Herr Minister Rüttgers, zeigt
laufenden Jahr Projekte in einem Gesamtumfang sich Ihr eigentliches Versagen. Sie sind zwar fix,
von 2,13 Milliarden DM ohne hälftige Mitfinanzie- wenn es darum geht, den Konflikt mit den Ländern
rung des Bundes durchführen, kann eine weitere so weit zu treiben, daß alles festgefahren ist und gar
Verschiebung der Finanzierungslast auf die Länder nichts mehr geht, was Ihnen zu Recht den Ruf des
von den Länderhaushalten nicht mehr verkraftet Blockade- und Verhinderungsministers eingetragen
werden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hat; im Kabinett sind Sie dann aber hübsch brav und
trägt damit zu einer erheblichen Verschärfung der schweigen lieber, statt sich für tatsächliche Innova-
ohnehin bestehenden Finanzierungsprobleme der tionen einzusetzen.
Gemeinschaftsaufgabe bei und gefährdet mit den
geplanten Einschränkungen bei den Hochschulklini- Innovationen sind mehr als nur technische Innova-
ken die Leistungsfähigkeit der medizinischen For- tionen. Was, Herr Minister Rüttgers, spricht eigent-
schung und letztlich den Bestand der Gemeinschafts- lich dagegen, daß im Rahmen des Hochschulbauför-
aufgabe. Ich würde es für eine Katastrophe halten, derungsgesetzes alternative Planungs-, Ausfüh-
wenn die Gemeinschaftsaufgabe daran zerbräche. rungs- und Finanzierungsverfahren wie das Leasing
genutzt werden können, wenn diese nachweislich
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- wirtschaftlicher als herkömmliche Verfahren sind?
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meines Erachtens ist es nicht nur vertretbar, diese
Möglichkeit zu eröffnen, sondern aus bildungs- und
Die Bundesregierung begründet die im Hinblick finanzpolitischen Gründen sogar dringend geboten.
auf die Hochschulkliniken vorgesehenen Gesetzes- Wenn die Haushaltsmittel knapp sind, kann nicht
änderungen mit dem Hinweis, sie dienten der Klar- nur, sondern muß das wirtschaftlichste Verfahren ge-
stellung. Wo allerdings die Grenze zwischen For- wählt werden, um den allseits beklagten Investitions-
schung und Lehre einerseits und Krankenversorgung stau im Hochschulbau kurzfristig abzumildern.
andererseits genau zu ziehen ist, das weiß der Bun-
deswissenschaftsminister selbst nicht. Vielmehr läßt Ich habe jedenfalls überhaupt kein Verständnis da-
er nach dieser Grenzlinie per Zeitungsanzeige su- für, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn sich die
chen. Der Ausschreibung zufolge dürfte ein entspre- auf Initiative des rheinland-pfälzischen Wissen-
chendes Ergebnis jedoch nicht vor 1998 vorliegen; schaftsministers Professor Dr. Zöllner eingesetzte
gleichwohl wollen Sie, Herr Minister, bereits jetzt für Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Reformierung des
Klarstellung sorgen. Das ist genau der Punkt, Herr HBFG nach intensiver Prüfung auf die Ermöglichung
Laermann, den ich für falsch halte. Erst muß man für von alternativen Planungs-, Ausführungs- und Fi-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8711
Edelgard Bulmahn
nanzierungsverfahren verständigt - was übereinstim- Möglichkeit der notwendigen schnellen Umsetzung
mend von allen gebilligt wird: von dem Finanzaus- bieten.
schuß des Bundesrates, von dem Kulturausschuß des
Bundesrates, von allen 16 Ländern -, der Referenten- Bevor ich den Entwurf der Bundesregierung zur
entwurf diesen Konsens auch aufnimmt, sich im Re- 18. BAföG-Änderung im wesentlichen skizziere und
gierungsentwurf aber nichts davon wiederfindet. auch auf andere Modelle in diesem Zusammenhang
eingehe, gestatten Sie mir zwei Bemerkungen: Zum
einen, denke ich, sollte man unbedingt anerkennen,
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Frau Kollegin,
- daß das Bundesausbildungsförderungsgesetz seit der
schauen Sie mal auf die Uhr. Verabschiedung 1971 durch alle im Bundestag ver-
tretenen Parteien dazu beigetragen hat - wenn auch
Edelgard Bulmahn (SPD): Ich komme zum Schluß. mit unterschiedlichem Wirkungsgrad und unter-
schiedlicher Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung -,
die Chancengleichheit hinsichtlich der Bildungsmög-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Ziemlich schnell
- lichkeiten für Kinder aus allen Bevölkerungsschich-
müssen Sie zum Schluß kommen. ten zu verwirklichen.
Zum anderen möchte ich erwähnen, daß finanz-
Edelgard Bulmahn (SPD): Statt dessen muß ich lei- technische Überlegungen nicht aus dem Blick gera-
der feststellen: Wieder die alte Platte. Erst müsse der ten dürfen, daß der Staat eine Verantwortung gegen-
Umstellung des BAföGs zugestimmt werden, dann über seinem akademischen Nachwuchs, gegenüber
würden auch Brosamen für den Hochschulbau abfal- den Studierenden hat.
len. Dies - bei den einkommensschwächsten Studie-
renden abzukassieren, Einsparungsmöglichkeiten Aber es muß auch ausgesprochen werden dürfen,
und Effizienzgewinne in den öffentlichen Haushal- daß eine Studienförderung keine reine Sozialleistung
ten aber nicht zu nutzen - ist unverantwortlich und darstellt,
nicht hinnehmbar. Bildungs- und Wissenschaftspoli- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
tik ist Politik für die Zukunft. Werden Sie dem end-
lich gerecht! sondern eine Chance eröffnen soll. Sie ist also eine
Verpflichtung, Leistungen unter Beweis zu stellen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Das bedeutet gleichzeitig, daß Stipendien nicht der
GRÜNEN und der PDS) Leistungsnivellierung zu dienen haben.
(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
-
Kollege Roland Richwien, CDU/CSU. Studienförderung soll - unabhängig von der sozialen
Herkunft - eine höhere Bildung ermöglichen und vor
(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt wird es gut! allem sich herauskristallisierende Begabungen sowie
Die Sternstunde heute!) ein hohes Engagement intensiv fördern. Darauf muß
noch stärker orientiert werden. Es kann nicht Ziel
Roland Richwien (CDU/CSU): Herr Präsident! sein, ein Heer von Akademikern auszubilden, das
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bul- von Mittelmaß geprägt ist.
mahn, wer schreit, hat nicht immer recht. Das will ich (Beifall bei der CDU/CSU)
meiner Rede vorausschicken.
Die Folgen sind jedem von uns bekannt. Das wäre
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aus meiner Sicht unsozial und unverantwortlich zu-
Verfolgt man die BAföG-Diskussion, so stellt man gleich.
fest, daß Konsens darüber besteht, die Studienstruk- In diesem Sinne nehme ich Bezug auf den Entwurf
turreform dahin gehend voranzutreiben, daß Stu- der Bundesregierung zur 18. BAföG-Änderung. Es
dienbedingungen verbessert, die Studienzeit ver- ergeben sich drei wesentliche Bereiche: erstens, die
kürzt, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Einführung eines verzinslichen privatrechtlichen
Hochschulen gesichert und neue Technologien in Bankdarlehens in die Studienförderung; zweitens
den Hochschulen umfassend genutzt werden kön- eine massive Anhebung der Bedarfssätze und Frei-
nen. beträge zum Herbst 1996 um 6 Prozent; drittens eine
Auch ist klar, daß eine weitere Anpassung der BA- notwendige Neuordnung der Förderungshöchst-
föG-Leistungen an die Entwicklung der Lebenshal- dauer, Einschränkung der Förderung von Zweitstu-
tungskosten dringend erforderlich ist. Alle ernsthaft dien und Verlängerung der Studienabschlußförde-
rung.
zu diskutierenden Modelle basieren auf dem Grund-
gedanken der Kostenneutralität auf Grund der not- Wichtig ist, daß die im BAföG geregelten Förde-
wendigen Konsolidierung der öffentlichen Haus- rungsbereiche sowie die persönlichen, wirtschaftli-
halte. Das Modell der PDS rechne ich wegen seines chen und sozialen Leistungsvoraussetzungen und
unrealistisch hohen Finanzbedarfs natürlich nicht alle die den Leistungsumfang, die -höhe und -dauer
dazu. beeinflussenden Bestimmungen weiterhin erhalten
bleiben.
Unterschiedlich sind die Vorstellungen über die
Art und Weise der Finanzierung, die aus meiner Immer wieder heftig diskutiert wird das verzinsli-
Sicht aber alle weder kostenneutral sind, noch die che Bankdarlehen. Zu den Modalitäten dieses Bank-
8712 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Roland Richwien
darlehens ist zu sagen - Herr Ruck hat es in seiner steuerlicher Aspekt übersehen worden, nämlich der,
Rede vorhin schon erwähnt -, daß der Studierende daß für Studierende, für die weder Kindergeld/Kin-
erst nach der Förderungszeit plus einer vierjährigen derfreibetrag noch Ausbildungsfreibeträge gewährt
Karenzzeit durch Zinsen an der Finanzierung der werden, Unterhaltszahlungen nach § 33a Abs. 1 Ein-
Förderungsmittel beteiligt ist, also zu einem Zeit- kommensteuergesetz geltend gemacht werden kön-
punkt, in dem er regelmäßig mit Hilfe der Ausbil- nen. Die Steuerausfälle infolge dieser Geltend-
dungsförderung bereits eine berufliche Existenz ge- machung sind somit höher als die Steuereinnahmen
gründet hat. aus dem Wegfall des Kindergeldes/Kinderfreibetra-
ges, der Ausbildungsfreibeträge. Alle vorgeschlage-
Nach meiner Meinung stellt vor allem die vorgese- nen Modelle führen also nach den mit dem Bundesfi-
hene Anhebung der Bedarfssätze und Freibeträge nanzministerium abgestimmten Berechnungen zu
um jeweils 6 Prozent eine spürbare Verbesserung für Steuermindereinnahmen.
mehr Studenten dar. So wird der Förderungshöchst-
satz von 990 DM auf 1 050 DM ansteigen, wobei der Abschließend sei gesagt: Die Bundesregierung ist
Anteil der BAföG-Geförderten von 24 Prozent auf genau wie Sie der Auffassung, daß nur Fähigkeit
30 Prozent steigen wird. Als Förderungshöchstdauer und Eignung über die Aufnahme an einer Universität
sind von der Bundesregierung neun Semester an entscheiden dürfen, nicht der Geldbeutel. Unter die-
Universitäten und sieben bis acht Semester an Fach- sem Aspekt sollten aber auch die Hochschullehrer
hochschulen vorgesehen. bereit sein, ein Stück Verantwortung mitzutragen
und hier zum Beispiel über Aufnahmeverfahren,
Betrachtet man die zur Zeit diskutierten Alternativ- gründliche Studienberatung sowie effektive Stu-
modelle, so wird deutlich, daß der Forderung nach dienorganisation und -gestaltung nachzudenken.
Kostenneutralität und kurzfristiger Realisierbarkeit Studierende bemerken zum Beispiel auf Grund aus-
kein Modell gerecht wird. gesprochener Praxisferne oft erst nach dem Studium,
(Zurufe von der CDU/CSU: Leider!) daß die von ihnen angestrebte Berufsrichtung eigent-
lich überhaupt nicht ihren Vorstellungen entspricht
Grundlage des vom Deutschen Studentenwerk bzw. sie dafür nicht geeignet sind; siehe Lehramts-
vorgeschlagenen Modells ist ein Bedarf von 1 250 studiengänge. Ich sage es noch einmal: Das kann
DM, den der Student nach Sozialerhebungen des sich auf Dauer kein Staat leisten.
DSW für seinen Lebensunterhalt benötigt und der in
drei Stufen gezahlt werden soll. Dem Ganzen liegt Vielen Dank.
eine völlige Umgestaltung des Systems der indivi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
duellen Ausbildungsförderung zugrunde. Das be-
deutet, daß dieses Stufenmodell eine umfassende ge-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu ei-
setzliche Änderung des Steuer- und Kindergeld-
ner Kurzintervention hat die Kollegin Jelena Hoff-
rechts, welches wir erst im Jahressteuergesetz neu
mann, SPD.
geregelt haben, erforderlich macht.
(Dr. Peter Glotz [SPD]: Das ist richtig!) Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD): Herr Kollege
- Ich habe ja nicht gesagt, daß ich etwas Verkehrtes Richwien, Ihre Ausführungen zur Änderung des BA-
sage. föG kann ich nicht unkommentiert lassen. Wir haben
jetzt eine sehr wichtige Debatte: Wir debattieren
Ein ähnliches Problem ergibt sich bei dem zur Zeit über unsere Jugend, über unsere Zukunft. Herr Zu-
oft diskutierten „Daxner Modell" vom Bündnis 90/
- kunftsminister, das, was ich bis jetzt gehört habe, ist
Die Grünen, das auch von einer Abschaffung des für mich eigentlich eine traurige Bilanz Ihrer Bil-
Kindergeldes und der Steuerfreibeträge für Kinder in dungspolitik und besonders Ihrer Hochschulpolitik.
der Ausbildung ausgeht. Anders als beim Drei-Stu-
Ihre Pläne zur Änderung des BAföG waren be-
fen-Modell soll hier das BAföG gestrichen werden.
kannt. Wir haben an der Universität in Chemnitz, in
Nach den Vorstellungen des Modells soll allen Stu-
meinem Wahlkreis, schon im Januar über Ihre Pläne
dierenden eine Ausbildungsförderung im Rahmen ei-
diskutiert. Alle Studenten haben sich dagegen aus-
nes kollektiven Darlehens gewährt werden. Jeder
gesprochen. Herr Rüttgers, ich wiederhole das extra
Student soll elternunabhängig eine Förderung von
für Sie: Ich habe am 6. Februar einen B ri ef an Sie ge-
maximal 1 000 DM monatlich, das sind also 72 000
schrieben, in welchem unter anderem steht:
DM für zwölf Semester insgesamt, erhalten können.
Nach Abschluß des Studiums und Aufnahme der Be- Die StudentInnen haben mir eine Unterschriften-
rufstätigkeit ist vorgesehen, die Förderung durch ei- liste, die sich gegen Ihr Modell ausspricht, und
nen 25jährigen Aufschlag auf die Einkommensteuer viele „Rüttgers-Pfennige" übergeben, verbun-
zwischen 2 und 4 Prozent in einen Bundesausbil- den mit der Aufforderung, diese an Sie weiterzu-
dungsförderungsfonds zurückzuzahlen. Diese Refi- leiten. Der Bitte komme ich gerne nach.
nanzierung soll die Kosten der Anschubfinanzierung,
die zunächst - man höre und staune - auf 18 Mil- Herr Minister, seit über zwei Monaten versuche
liarden DM geschätzt werden, später ausgleichen ich, einen Termin bei Ihnen zu bekommen, auch am
und den Staat entlasten. Rande des Plenums, um Ihnen die Unterschriftenli-
ste und die sogenannten „Rüttgers Pfennige" zu-
Bei den Überlegungen beider Modelle zur Eltern- übergeben. Herr Präsident, ich bitte Sie um Erlaub-
unabhängigkeit und der damit verbundenen Umver- nis, der Aufforderung der Studenten in meinem
teilung von finanziellen Mitteln ist zusätzlich ein Wahlkreis jetzt nachkommen zu können und diese
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8713
Jelena Hoffmann (Chemnitz)
Sachen übergeben zu dürfen. Wenn das nicht der Ferner möchte ich sagen, daß langfristig auf Grund
Fall sein sollte, werde ich veranlassen, daß diese Sa- der Beiträge eine Entlastung des Staatshaushalts
chen sofort in das Büro von Herrn Rüttgers gebracht möglich ist, -
werden.
(Beifall bei der SPD) Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Sie sind bei einer
-
recht.
- Der Minister darf jederzeit das Wort ergreifen.
Bitte, Herr Minister.
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Entschuldigen Sie bitte!
Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung,
Wissenschaft, Forschung und Technologie: Sehr ge-
ehrte Frau Kollegin, ich will nur den anderen Kolle- Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Ich bitte um Ent-
-
gen sagen, daß man mir mitgeteilt hat, daß Sie mit schuldigung.
meinem Büro vereinbart haben, mir die Unterlagen
heute zu überreichen. Ich weiß nicht, was dieser dra- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
matische Auftritt hier soll. Zunächst erkundigen Sie - so daß ich Ihre Äußerungen so nicht unkommen-
sich, ob ich heute hier bin, und lassen durch die Par- tiert stehenlassen wollte.
lamentarische Geschäftsführerin Ihrer Fraktion nach-
fragen, ob ich bis zum Schluß da bin, und tun jetzt so, Des weiteren zum Thema Unterhaltsrecht: Ich
als ob es nicht möglich sei, mir Unterlagen zu über- möchte Sie darauf hinweisen, daß der Kindergeldan-
reichen. spruch, soweit man über ein Einkommen, beispiels-
weise aus der Ausbildung, von über 1 000 DM verfü-
(Zuruf von der SPD) gen kann, entfällt, so daß sicherlich auch dieser Vor-
wurf unser Konzept nicht trifft.
- Entschuldigen Sie bitte! Wenn Sie anrufen und sa-
gen, Sie wollen mit mir am Rande des Plenums spre- Ich bin aber gern bereit, nach der Debatte mit den
chen, dann ist das überhaupt kein Problem; dann Experten auch Ihrer Fraktion Detailfragen zu beant-
kommt man auf den Kollegen zu. Sie sollten hier worten, weil ich für meinen Vorschlag werben will,
nicht so ein Drama inszenieren; das sind ganz billige weil ich ihn für sinnvoll halte. Auch in der Anhörung
Showeffekte. haben wir sicherlich Gelegenheit dazu.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Günter Rixe
- Wir beide sind ja gleich lange in diesem Plenum. - so, wenn man zu den Arbeitsämtern geht. Wir wer-
Ich habe mir bei der Vorbereitung die Rede heraus- den in diesem Jahr - wenn es kein Sonderprogramm
gesucht, die ich vor zehn Jahren gehalten habe. Ihr gibt, was Herr Rüttgers verneint hat - eine erhebli-
werdet es nicht glauben, aber ich hätte heute die che Zahl von jungen Leuten haben, die keinen Aus-
gleiche Rede halten können, und keiner von Ihnen bildungsplatz bekommen können, weil eigentlich al-
hätte gemerkt, daß das eine Rede ist, die 1987 hier les rückläufig ist. Sogar das Handwerk, dem ich
gehalten worden ist. Es hat sich nämlich in der Be- wirklich nahestehe, weil ich in diesem Laden Mit-
rufsausbildung, an der Situation von Auszubilden- glied bin, sagt: Wir können gar nicht mehr Ausbil-
den und Lehrlingen und von wem auch immer seit dungsplätze anbieten, wir leisten schon überpropor-
1987 nichts geändert. Aber die Regierung, die seit tional. - Und dazu sagen wir hier immer: Es bleibt al-
zehn Jahren für diesen Berufsbildungsbericht zu- les normal.
ständig ist, ist immer noch dieselbe.
Der Herr Minister hat eben selber gesagt, die Be-
Da muß ich dieser Regierung doch sagen: Wenn werberzahlen steigen in den nächsten Jahren; bis
sich nichts geändert hat, wenn es immer dramati- zum Jahre 2005 auf 760 000 Bewerber. In diesem
scher geworden ist - - Jahr sind es - wie Sie eben gesagt haben - 620 000.
Herr Jagoda sagt, es sind rund 660 000 junge Leute,
(Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann [F.D.P.]: Es die dieses Jahr einen Ausbildungsplatz bekommen.
hat sich doch nichts geändert!) Dann gibt es nichts anderes von dieser Bundesregie-
Wenn ich meine ganzen Diskussionen hier nachvoll- rung als die Aussage: Wir appellieren an die Wirt-
ziehe, dann ist es nie besser geworden, sondern es ist schaft, und die Wi rt schaft hat in den Kanzlerrunden,
immer schlechter geworden. so im Februar am runden Tisch, zugesagt, sie werde
in den nächsten zwei Jahren 10 Prozent mehr Ausbil-
(Zuruf des Abg. Werner Lensing [CDU/ dungsplätze bereitstellen. - Auch das haben Sie doch
CSU]) im letzten Jahr gemacht.
-Herr Lensing, vorhin hat die Kollegin vom Bündnis 90/ (Werner Lensing [CDU/CSU]: Was schlagen
Die Grünen gesagt, daß in den letzten fünf Jahren Sie denn konkret vor?)
150 000 Personen in den fünf neuen Ländern keinen
Ausbildungsplatz bekommen haben und immer wie- Herr Schoser hat dann öffentlich erklärt, daß sie die
der auf die Warteliste gekommen sind. Wir wissen 10 Prozent nicht eingehalten haben.
doch, daß von den 4,2 Millionen Arbeitslosen 23 bis Es war doch so: Wir hatten nur 573 000 Ausbil-
24 Prozent Jugendliche und junge Erwachsene unter dungsplätze am 1. Oktober 1995 eingetragen. Wir
25 Jahren sind. Das ist eine Riesenzahl. Von diesen haben doch die Zahl von 600 000 Ausbildungsplät-
jungen Erwachsenen unter 25 Jahren sind über zen nur erreicht, Herr Minister, weil Sie das Sonder-
60 Prozent unqualifiziert. Sie haben nie einen Ausbil- programm mit 14 500 neuen Stellen aufgelegt haben.
dungsplatz bekommen. Außer ihrer Schulbildung -
Hauptschule, Realschule oder wie auch immer - ha- (Do ri s Odendahl [SPD]: Natürlich!)
ben sie keinerlei Ausbildung bekommen.
Dieses Jahr haben wir eine viel größere Zahl. Wir le-
Das ist unser Problem, und das ist das Problem der sen doch die Zahlen im April. Natürlich habe auch
Bundesregierung. Deswegen kann ich nicht nach- ich wie der Herr Minister die Hoffnung, daß wir bis
vollziehen, daß sich Herr Rüttgers hier hinstellt und zum 1. August, wenn das Ausbildungsjahr beginnt,
sagt: Das ist alles kein Problem, das haben wir doch noch eine ganze Menge Ausbildungsstellen vermit-
alles im G ri ff! teln werden. Das müssen wir auch. Wir haben doch
zur Zeit gerade einmal 50 Prozent vermittelt. Diese
Herr Jagoda kommt nun in der Tat nicht aus unse- Erklärungen - das muß ich Ihnen sagen - nehme ich
rer Partei. Er hat in seinem letzten Bericht gesagt, Ihnen nicht ab. Das glaube ich Ihnen nicht.
daß ein merklicher Rückgang an Ausbildungsplät-
zen gemeldet wird, im Westen gegenüber dem Vor- (Werner Lensing [CDU/CSU]: Das haben
jahr ein Rückgang von 8 Prozent, aber bei den Be- Sie schon vor zehn Jahren gesagt!)
werbern ein Zuwachs von 7 Prozent. In den fünf
Es wird auch nicht eintreten.
neuen Ländern wurden den Arbeitsämtern 4 Prozent
weniger Ausbildungsplätze gemeldet, aber es sind (Werner Lensing [CDU/CSU]: Sie haben
11 Prozent mehr Bewerber registriert, die einen Aus- zehn Jahre dasselbe gesagt!)
bildungsplatz suchen. 62 Arbeitsämter in der Bun-
- Ich habe nicht zehn Jahre dasselbe gesagt. Ich
desrepublik haben weniger Lehrstellen anzubieten,
hätte zehn Jahre dasselbe sagen können, weil sich
als Bewerber vorhanden sind. Ich frage Sie, Herr Mi-
die Situation nicht verbessert hat. Natürlich akzep-
nister: Inwiefern ist denn auf dem Ausbildungsstel-
tiere ich, daß 1990 die deutsche Einheit kam. Natür-
lenmarkt alles so klar?
lich akzeptiere ich, daß es große Probleme auf dem
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Lehrstellenmarkt in den fünf neuen Ländern gibt.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Natürlich wissen wir das als Sozialdemokraten. Na-
türlich haben wir als Sozialdemokraten jedes Sonder-
In Bielefeld gibt es eine Tageszeitung. Sie schreibt programm für die fünf neuen Länder im Plenum mit
so schwarze Berichte wie der „Bayernkurier". Sie ist unterstützt. Wir haben es nicht abgelehnt.
auch so ähnlich. Sie schreibt ganz demonstrativ auf
der zweiten Seite: „Es bahnt sich auf dem Ausbil- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist
dungsmarkt eine Katastrophe an." In der Tat ist das es!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ri l 1996 8715
Günter Rixe
Wir haben gesagt: Es muß ein Sonderprogramm ge- denn das ist ja zuerst einmal eine Selbstverständlich-
ben. - Herr Päselt, Sie nicken. Das ist vollkommen keit. Es steht ja auch im Gesetz, im Grundgesetz, daß
richtig. Jedes Jahr haben wir zugestimmt. Aber das die Wirtschaft dafür zuständig ist und dafür sorgen
hat auch bedeutet, daß wir heute in den fünf neuen muß, daß jedes junge Mädchen und jeder junge
Ländern 60 Prozent aller Auszubildenden staatlich fi- Mann einen Ausbildungsplatz bekommt. Das ist
nanzieren. Da kann man doch nicht mehr vom dua- doch eine Selbstverständlichkeit. Und wir haben von
len System reden. dieser Stelle aus dem Handwerk zigmal gedankt,
daß es so große Anstrengungen gemacht hat. Aber
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
am Ende jedes Jahres mußten wir Zahlen entgegen-
GRÜNEN und der PDS)
nehmen, die nicht ausreichten. Daß wir gemeinsam
Anstrengungen gemacht haben, will ich überhaupt
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege nicht kritisieren. Die Wirtschaft soll und muß das
Rixe, Sie sind so gut in Fahrt. auch machen. An sie müssen wir immer wieder ap-
pellieren. Ich tue das auch. Ich habe nur dieses Jahr
Günter Rixe (SPD): Ich bin immer in Fahrt. wirklich die Sorge - in den letzten Jahren auch, aber
in diesem Jahr noch mehr -, daß junge Menschen in
der Tat nicht vermittelt werden können.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das weiß ich. Ich
muß Sie aber fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zu- Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Kollege - jetzt
lassen. habe ich glatt den Namen vergessen, obwohl wir vier
Jahre im Bildungsausschuß gesessen haben - -
Günter Rixe (SPD): Ja, sicher. Natürlich.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Meckel-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte schön, Herr burg, Sie müssen noch stehen, denn Herr Rixe ist im-
Kollege Meckelburg. mer noch bei der Antwort.
Günter Rixe (SPD): Ich kann ja zwischendurch et- Günter Rixe (SPD): Herr Meckelburg, wir beide
was trinken. wissen genau, wie die Ausbildungssituation Mitte
der 80er Jahre war. Mitte der 80er Jahre hat es in
(Heiterkeit bei der SPD) Nordrhein-Westfalen in jeder Menge Städte außerbe-
triebliche Ausbildungsstätten gegeben, eine auch in
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Ich wollte Ih- Bielefeld, wo ich Vorsitzender war, weil ich sie ge-
nen eine Pause gönnen, Herr Rixe, damit Sie gleich gründet habe. Ich will Ihnen heute einmal sagen:
engagiert weitermachen können. 1984 haben wir mit 75 Auszubildenden angefangen.
Jedes CDU-Ratsmitglied in Bielefeld hat mir gesagt:
Herr Kollege Rixe, Sie haben gerade darauf ver- Rixe, das machen wir alles mit, aber höchstens zwei
wiesen, daß Sie über diese zehnjährige Erfahrung in bis drei Jahre, dann macht das alles wieder die Wirt-
bezug auf die Berufsbildungsberichte verfügen. Wir schaft.
haben das in der letzten Wahlperiode gemeinsam ge-
macht. Wissen Sie, wieviel Beschäftigte dieser Laden
heute hat? 600, und davon 480 Jugendliche in Erst-
ausbildung und in Umschulung, und alles vom Staat
Günter Rixe (SPD): So ist es.
finanziert, von Jagoda, vom Land Nordrhein-Westfa-
len, von der Bundesregierung, aus dem europäischen
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Würden Sie Sozialfonds, wie auch immer. Das bedeutet doch, daß
denn zugestehen, daß es immer dann, wenn Pro- die Situation auf dem Lehrstellenmarkt nicht besser
bleme entstanden sind - ich denke, zu Beginn der geworden ist, sondern daß sie grundsätzlich immer
80er Jahre, aber auch nach der Wiedervereinigung-, schlechter geworden ist. Ich akzeptiere ja, daß uns
beim Aufbau von vielen betrieblichen Ausbildungs- die deutsche Einheit dazwischengekommen ist, viel-
plätzen unwahrscheinlich hilfreich war, mit allem leicht wäre es sonst nicht so marode geworden, aber
politischen Druck auf die Wirtschaft dafür zu sorgen, es ist in der Tat so. - Jetzt bin ich mit der Antwort fer-
daß zunächst primär in dem Bereich viele neue be- tig.
triebliche Ausbildungsplätze entstehen? Das hat uns
in den 80er Jahren geholfen, aber auch in den neuen (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
Bundesländern, wenn Sie die Zahlen sehen. Würden DIE GRÜNEN)
Sie nicht einfach sagen, daß es das wichtigste Ele- Wenn das so ist und wenn wir wissen, daß die Wirt-
ment ist, dafür zu sorgen, daß in der Wirtschaft, im schaft dies nicht leisten wird - die Zahl der Ausbil-
Handwerk selber zunächst einmal bet ri ebliche Aus- dungsstellen ist in den Metallberufen, in den kauf-
bildungsplätze ohne staatliche Förderung geschaffen männischen Berufen zurückgegangen, die Länder
werden? und Kommunen haben ihre Ausbildungsanstrengun-
(Zustimmung bei der CDU/CSU) gen abgesenkt, jede Menge Gemeinden in diesem
Lande sind nicht mehr bereit, überhaupt noch einen
Günter Rixe (SPD): Herr Kollege, ich kann dazu Auszubildenden einzustellen, weil sie kein Geld
nur ja sagen, mehr haben -, wenn man also dies alles weiß, Herr
Laermann, dann müssen wir doch gemeinsam dar-
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Danke!) über nachdenken, wie wir das duale System retten -
8716 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Günter Rixe
das will doch keiner von uns abschaffen, ich schon tun, haben wir auch nicht mehr das Recht, uns dar-
lange nicht - und wie wir gemeinsam dieses duale über zu beklagen - ich höre das ja immer -, daß
System wieder auf die Beine kriegen und finanzie- junge Leute auf den Straßen sitzen, Alkohol trinken,
ren. Da reicht es eben nicht aus, zu appellieren, son- Drogen nehmen, nicht korrekt angezogen sind und
dern da muß man hier in diesem Hause nachdenken, die Leute in den Einkaufsstraßen belästigen. Wenn
wie man es gemeinsam mit der Wirtschaft finanzie- wir nicht versuchen, jedem jungen Menschen einen
ren kann. Ausbildungs-, einen Arbeitsplatz zu geben, eine
Chance zu bieten, haben wir nicht das Recht, sie zu
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) kritisieren, wenn sie vor Langeweile auf den Straßen
Da machen wir einen neuen Vorschlag. Da gibt es andere Leute ärgern. Daß wir dieses Recht dann
nicht den alten Vorschlag, wer nicht ausbildet, muß nicht mehr haben, sollten wir uns gegenseitig zuge-
zahlen, sondern wir machen einen neuen Vorschlag, stehen.
der belastungsneutral ist - einer hat vorhin von den
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Lohnnebenkosten gesprochen -, der also die Lohn- DIE GRÜNEN)
nebenkosten nicht erhöht: Alle Betriebe, alle - es
kann doch nicht angehen, daß 40 oder 45 Prozent der Ich hätte noch eine ganze Menge zur Struktur sa-
Industriebetriebe und der mittelständischen Betriebe gen können. Aber ich wollte nicht die vorgefertigte
überhaupt nicht mehr ausbilden -, alle Betriebe in Rede ablesen, sondern frei reden. Das macht auch
dieser Republik zahlen einen Satz, der unter einem viel mehr Spaß, Herr Lensing. Jetzt wissen Sie,
Prozent liegen wird, in einen Fonds ein, und ich bin woran Sie sind.
bereit, diesen Fonds bei den Kammern zu installie- -
ren. Die, die nicht ausbilden, zahlen in diesen Fonds (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
ein, und jene, die ausbilden, zahlen auch in diesen GRÜNEN und der PDS)
Fonds ein. Aber wer ausbildet, muß praktisch gar
nicht erst einzahlen, eben weil er ausbildet. Und wer
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wo rt hat der
mehr Jugendliche ausbildet und einstellt, der be-
-
Nimmt man das Vorlesungsverzeichnis einer belie- Die Universitäten sind selbst glänzend ausgestattet,
bigen Universität zur Hand und stellt die Verteilung sie sind selbst in der Lage, mit ihren Verwaltungen,
der Lehrveranstaltungen statistisch dar - ich unter- mit ihren Liegenschaftsabteilungen, mit ihren Haus-
stelle, daß die Veranstaltungen, die am Beginn eines techniken die Ausschreibungen für die Neubauten
Semesters stattfinden, auch noch am Ende eines Se- zu übernehmen und die Reparaturen zu leisten. Da-
mesters existieren -, wird man - so zum Beispiel bei mit entfiele Koordinierungsaufwand. Ich habe Bei-
der Universität München - feststellen, daß eine Häu- spiele - es sind nicht wenige -, daß plötzlich Hand-
fung der Belegung an drei Wochentagen stattfindet, werker anrücken, während im Nachbarraum Vorle-
nämlich am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. An sungen stattfinden, entsprechend behindert werden
den Tagen Montag und Freitag bestehen also erheb- oder ausfallen müssen. Das alles wäre unnötig. Au-
liche Kapazitätsreserven. ßerdem würden wir Geld sparen. Nehmen wir als
Beispiel das Universitätsbauamt Karlsruhe. Allein
Nächster Punkt: Im 25. Rahmenplan, der von 1996 das Vorhalten der Planstellen, die überflüssig sind,
bis 1999 gilt, sind für einen Quadratmeter Haupt- kostet dort im Jahr 6 Millionen DM.
nutzfläche/Verwaltungsgebäude Baukosten in Höhe
von 5 501 DM angegeben. Ich komme auf ein letztes Thema, bei dem Hand-
lungsbedarf besteht, zugegebenermaßen ein sehr
Nun verlange ich nicht von allen, daß sie Bauex- kritisches Thema. Ich habe, angeregt durch diese für
perten sind; aber ich lade Sie ein: Vergleichen Sie da- mich völlig überzogenen Kostenrichtwerte für den
mit die Ihnen bekannten Gebäude hier in Bonn, etwa Quadratmeter Hauptnutzfläche, mir überlegt, daß
das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- das doch nicht stimmen kann, und mich gefragt, was
menarbeit oder die neu errichteten Verwaltungsge- denn da passiert. Sodann habe ich auf Zufall hin
bäude der Bundesverwaltung an der Konrad- beim Polizeipräsidium München angerufen und ge-
Adenauer-Allee. Bei einem Kostenvergleich werden fragt, ob es do rt eine Sonderkommission Submissi-
Sie feststellen, daß dort der Quadratmeter Haupt- onsbetrug gibt und ob vielleicht sogar im Zusam-
nutzfläche etwa nur die Hälfte dessen kostet, was menhang mit Universitätsbauten ermittelt wird. Ich
die Kostenrichtwerte für Verwaltungsgebäude im bin weiterverbunden worden, und siehe da, der dor-
Hochschulbau ausmachen. tige Polizeibeamte hat mir zu meiner Überraschung
und zu meinem Bedauern erklärt, man habe bisher
Nun könnte man natürlich sagen, es handele sich nur das Gewerk Elektro untersucht - jeder weiß, daß
um einen Richtwert, der nie oder nur höchst selten das Gewerk Elektro nur einen geringen Baukosten-
erreicht wird. Meine Nachforschungen haben aber anteil von 2 oder 3 Prozent ausmacht - und habe
ergeben, daß dieser Richtwert nahezu immer erreicht beim Uni-Bauamt und TU-Bauamt Submissionsbe-
wird, ja, in nicht wenigen Fällen überschritten wird trug nachweisen können. Es hätten bereits Prozesse
und es zu Nachgenehmigungen kommen muß. Hier stattgefunden, und es seien jeweils ein Mitarbeiter
ist Handlungsbedarf. des Uni-Bauamts und des TU-Bauamts zu 4 bzw.
(Edelgard Bulmahn [SPD]: Warum tun Sie 4 1/2 Jahren Haft wegen Submissionsbetruges verur-
es dann nicht, Herr Hollerith?) teilt worden.
Josef Hollerith
vorhandenen Mitteln mehr zu bewältigen. In diesem Wir alle wissen, daß die Lehrstellensituation ins-
Sinne lade ich auch Sie von der Opposition ein, mit- gesamt kompliziert ist. Darüber haben wir gespro-
zuwirken. chen. Am 22. März waren wir beim Landesarbeits-
amt in Chemnitz und haben dort gehört, daß die Si-
Herzlichen Dank. tuation noch schwieriger ist als im Vorjahr. Wir haben
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gehört, daß 45 000 Bewerber gemeldet sind, wir aber
nur 16 000 Stellen haben. Wir haben aber ebenso ge-
hört, daß man mit den Zahlen nicht ganz so locker
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
- bilanzieren darf; denn es gibt dabei eine ganze
jetzt der Kollege Dr. Rainer Jork, CDU/CSU-Frak- Menge von Problemen.
tion.
Es gibt auch keine hundertprozentige Erfassung
der Stellen. Der Bewerber ist nicht verpflichtet, die
Dr. Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Präsident!
-
Beratung in Anspruch zu nehmen. Warum soll auch
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Reiz ein Handwerker eine Stelle melden, wenn er bereits
der heutigen Debatte liegt eigentlich darin, daß wir einen Interessenten eingestellt hat? Die Ärzte - so
laut Tagesordnung mehrere Themen auf einmal vor haben wir gehört - haben praktisch keinen Kontakt
uns liegen haben und daß man sie im Verbund disku- zum Arbeitsamt, und die Betriebe entscheiden sich
tieren sollte. Ich halte das auch für überaus erforder- erst sehr, sehr spät. Mein Wunsch wäre, daß genau
lich; denn sektorales Denken und Handeln schafft das in Zukunft besser geht und die Betriebe schnel-
mitunter neue Probleme und löst die vorhandenen ler reagieren, weil sie das gemeinsame Interesse se-
nicht ausreichend. hen.
(Tilo Braune [SPD]: Und deshalb reden wir
Die Defizite an qualifizierten Ausbildungsstellen
über Submissionsbetrug in Bayern?)
sind noch strukturell bedingt; der Minister sagte das.
- Lieber Herr Kollege Braune, ich denke an Zu- Die Betriebe sind auf Grund ihrer wirtschaftlichen
gänge, Durchlässigkeit, Weiterbildung und Berufs- Lage oft ausgesprochen vorsichtig, Lehrlinge einzu-
chancen, und das bei allen Berufswegen. Im übrigen stellen. Wir müssen diesen Bereich daher weiter
gibt es aus meiner Sicht genügend Analysen; es deutlich fördern, allerdings in einem Maße, das die
wurde hier bereits darüber gesprochen. Es geht mir zuerst verantwortlichen Partner nicht aus ihrer Ver-
darum, zu Leistungen, Vorschlägen und möglicher- antwortung entläßt.
weise auch zu Ergebnissen zu kommen.
Der Berufsbildungsbericht, den wir heute zum wie-
Ich will mich auf die Frage der Lehrstellen und vor derholten Male diskutieren - ich erinnere daran, daß
allem auf die Frage „Wie lösen wir die Probleme in wir am 29. Juni des vorigen Jahres bereits darüber
den neuen Bundesländern?" konzentrieren. Die Be- gesprochen haben -, zählt eine Menge von Vorschlä-
dingungen in den neuen Bundesländern sind wegen gen zum Beispiel zu neuen Berufsbildern und zu
struktureller Unterschiede - der Herr Minister hat Ausbildungsverbünden auf. Das Nachdenken und
das angesprochen - oft nicht mit denen vergleichbar, die Diskussion sind fortlaufend wichtig. Ich habe be-
die anderenorts gegeben sind. reits wiederholt gesagt, daß das kein stationärer Pro-
zeß ist.
Herr Rixe, es hat sich tatsächlich sehr viel verän-
dert. In Sachsen haben wir neue Wege beschritten. Ich
habe darüber in der Innovationsdebatte in diesem
(Günter Rixe [SPD]: Ja, selbstverständlich! - Haus am 14. März schon gesprochen. Innovation ist
Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zum
gefragt, übrigens nicht nur bei der Bundesregierung,
Nachteil!) sondern bei uns allen. Es geht bei all diesen Maßnah-
Die Unterschiede liegen bei den Lehrstellen, bei den men darum, regionale Spezifik zu beachten und vor
BAföG-Beziehern - davon gibt es in den neuen Bun- allem Anreize für den betrieblichen Bereich einzu-
desländern viel mehr -, bei der Bausubstanz der bringen.
Hochschulen, bei den Wissenschaftlern, die bisher
im WIP gefördert worden sind und bei denen ein Diese Innovation war aus meiner Sicht bei der
Fortführungsbedarf nicht im Sinne des WIP-Pro- zweiten Ausbildungskonferenz in Dresden, über
gramms besteht, sondern im Sinne innovativer Wis- die ich hier schon berichtet habe, durchaus sicht-
senschaftlergruppen. bar. Die Industrie- und Handelskammer hat diese
Konferenz vorbereitet; es waren Teilnehmer aus der
Ich bitte an dieser Stelle um Verständnis und Ein- Politik, von den Kammern, von den Banken und
verständnis. Uns geht es in den neuen Bundeslän- auch von den Gewerkschaften dabei. Wir haben
dern darum - das müssen wir immer wieder sagen -, dort vor allem Informations- und Erfassungssysteme
durch ein eigenes Aufkommen vom Tropf wegzu- diskutiert, konkrete Maßnahmen für die Lehrstellen
kommen. Wir wollen, daß die Transferleistungen zu- in Sachsen und andere Vorschläge, und daraus ent-
rückgehen, und dafür sollten wir alle gemeinsam et- stand ein Bündnis für Ausbildung in Sachsen. Ich
was tun. Wir wollen Chancengerechtigkeit nicht im habe darüber berichtet; aus Zeitgründen kann ich
Sinne von Gleichmacherei. das nicht untersetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Für mich steht natürlich in der Diskussion zu dem
ordneten der F.D.P.) einen Antrag, der noch zu debattieren ist, die Frage
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8719
Dr.-Ing. Rainer Jork
im Raum: Wo sind denn eigentlich ähnliche Bemü- len walten zu lassen. Dies wird im Endeffekt, wenn
hungen in den von der SPD regierten Ländern zu se- es funktioniert - und das wünsche ich mir sehr -, uns
hen, die wir im Sinne eines Wettbewerbs damit ver- allen zugute kommen.
gleichen könnten, damit wir die Initiative in Sachsen
noch besser umsetzen können? - Das würden wir uns Danke.
eigentlich wünschen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Aus dem, was wir aus dieser Ausbildungsinitiative
abgeleitet haben, werden die CDU-Abgeordneten Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus-
aus dem Osten einen Vorschlag für die neuen Bun- sprache. Wir kommen zu den Abstimmungen.
desländer erarbeiten, eine Konzeption für ein Bünd-
nis für Ausbildung in dem von mir eben angespro- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla-
chenen Sinne. Es geht uns darum, daß wir - bezogen gen auf den Drucksachen 13/4246, 13/3413, 13/4335
auf die neuen Bundesländer - Landes- und Regio- und 13/3414 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
nenspezifik beachten und daß wir auch an die ten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damit
Frauen und Mädchen denken, ein Problem, das wir einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann
aus meiner Sicht selbstverständlich immer mit in Be- sind die Überweisungen so beschlossen.
tracht ziehen müssen.
Die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bil-
Ich bin der Meinung, daß wir dort, wo es nicht dung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und
ohne diese Förderung geht, durch den Bund auf die- Technikfolgenabschätzung zum Berufsbildungsbe-
ser Grundlage hinsichtlich der Förderung von Lehr- richt 1995 auf Drucksache 13/3488 Nr. 1 lautet: Der
stellen weiter aufbauen sollten, aber in enger Ab- Ausschuß empfiehlt, die Unterrichtung durch die
stimmung mit den Betrieben und den Auszubilden- Bundesregierung auf den Drucksachen 13/1300 und
den, den Ländern und den Arbeitsämtern und vor al- 13/1502 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für
lem natürlich auch mit den Betroffenen. Deshalb ha- diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Wer
ben wir vor, eine entsprechende Anhörung im Mai in enthält sich? - Die Beschlußempfehlung ist ange-
den neuen Bundesländern durchzuführen. nommen.
Ich möchte, weil die Zeit fortschreitet, etwas zu Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Aus-
dem „neuen" Entschließungsantrag der SPD sagen. schusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Als ich ihn gestern auf den Tisch bekam, dachte ich Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem
wirklich, jetzt kommt ein Vorschlag; wir haben lange Antrag der Fraktion der SPD zu einer Gemeinschafts-
beraten, und wir bekommen einen Schub. Ich habe initiative Ausbildungsplatzsicherung, Drucksache
den Antrag durchgelesen und dann einmal nachge- 13/3488 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag
sehen, was wir bisher erhalten haben, und mußte mit auf Drucksache 13/1838 abzulehnen. Wer stimmt die-
Enttäuschung feststellen, daß dieser Antrag wort- ser Beschlußempfehlung zu? - Gegenprobe! - Ent-
gleich mit dem in der Bundestagsdrucksache 13/ haltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den
1838 ist, einem entsprechenden Antrag, den wir auch m-Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Sti
schon im Ausschuß diskutiert haben, Liebe Kollegen, men der Opposition angenommen.
wenn wir von Innovation reden, wenn wir den An-
spruch haben, Handlungsvorschläge zu machen, Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Aus-
dann muß deren Inhalt doch neu sein, dann müssen schusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
sie auf die aktuelle Situation Bezug nehmen. Ich muß Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem
mit Bedauern sagen, daß das für mich kein Vorschlag Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/
ist; das ist bestenfalls ein Nachschlag. Ich frage mich: Die Grünen zum Berufsbildungsbericht 1995, Druck-
Wann fängt die SPD an, mit Nachschlägen aufzuhö- sache 13/3488 Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den
ren und statt dessen Vorschläge zu bringen? Entschließungsantrag auf Drucksache 13/1846 abzu-
lehnen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu?
Ich möchte zum Schluß kommen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußemp-
fehlung ist angenommen.
(Zuruf von der SPD: Ja!)
Interfraktionell wird die Überweisung des Berichts
Neue, intelligente und auch unkonventionelle Lö- der Bundesregierung zur Stärkung und Modernisie-
sungen sind in allen Bereichen erforderlich. Wir kön- rung der beruflichen Bildung auf Drucksache 13/
nen aber den Bildungs- und Ausbildungssektor nicht 4213 und des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/
allein reformieren, sondern brauchen dazu die Hilfe Die Grünen auf Drucksache 13/4361 an die in der Ta-
der Schulen, der Hochschulen, der Länder, der Ver- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
bände, der Wirtschaft, vor allem aber - ich sagte es gen. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der
bereits - der Betroffenen, und das in allen Bereichen. Fall. Die Überweisungen sind so beschlossen.
(Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den An-
trag der Fraktion der SPD „Handlungsvorschläge zur
Das Problem ist übergreifend, wie ich eingangs Rettung des dualen Systems der Berufsausbildung",
darzustellen versuchte, und es ist insgesamt zu wich- Drucksache 13/4371. Wer stimmt für diesen Antrag?
tig, die Herausforderung zu groß, um nicht im Sinne - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
der Schüler, der Lehrlinge, der Studenten guten Wil- Stimme? - Der Antrag ist abgelehnt.
8720 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
- Drucksache 13/4025 —
Fortsetzung der konventionellen Abrü-
stung in Europa
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) - Drucksache 13/3987 —
Auswärtiger Ausschuß Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Auswärtiger Ausschuß (federführend)
heit Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech-
nologie und Technikfolgenabschätzung i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Freimut Duve, Gert Weisskirchen (Wies-
d) Erste Beratung des von der Bundesregie- loch), Josef Vosen, weiterer Abgeordneter
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- und der Fraktion der SPD
zes zu dem Europa-Abkommen vom
12. Juni 1995 zur Gründung einer Assozia- Förderung unabhängiger Medien in Bos-
tion zwischen den Europäischen Gemein- nien-Herzegowina
schaften und ihren Mitgliedstaaten einer- - Drucksache 13/4083 —
seits und der Republik Lettland anderer-
Überweisungsvorschlag:
seits
Auswärtiger Ausschuß (federführend)
- Drucksache 13/4026 — Innenausschuß
Überweisungsvorschlag: j) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Freimut Duve, Rudolf Bindig, Robert Antret-
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
ter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- der SPD
heit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- Koordinierung
- der Aufnahme von Kriegs
nologie und Technikfolgenabschätzung und Bürgerkriegsflüchtlingen in der Euro-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8721
Vizepräsident Hans Klein
päischen Union - Schaffung eines Europäi- Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 a auf:
schen Flüchtlingskommissariats
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
- Drucksache 13/4084 — eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Überweisungsvorschlag:
Änderung des Gewerbesteuergesetzes
Auswärtiger Ausschuß (federführend) - Drucksache 13/2835 -
Innenausschuß (Erste Beratung 71. Sitzung)
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen
Union aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Fi
nanzausschusses (7. Ausschuß)
k) Beratung des Antrags des Bundesministeri-
ums der Finanzen - Drucksache 13/4043 -
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bun- Berichterstattung:
deshaushaltsordnung in die Veräußerung Abgeordnete Wolfgang Ilte
der bundeseigenen
- Wohnsiedlung Dr. Gerhard Schulz (Leipzig)
Martin-Luther-King-Village in Mainz
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-
- Drucksache 13/4149 - schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Überweisungsvorschlag: - Drucksache 13/4045 -
Haushaltsausschuß
- Berichterstattung:
1) Beratung des Antrags des Bundesministeri- Abgeordnete Adolf Roth (Gießen)
ums der Finanzen Jürgen Koppelin
Karl Diller
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bun- Kristin Heyne
deshaushaltsordnung in die Veräußerung
der bundeseigenen, bisher von den franzö- Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/
sischen Streitkräften (FFA) genutzten Woh- 4043, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären.
nungen in Freiburg Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Die
- Drucksache 13/4170 — Beschlußempfehlung ist angenommen.
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 b auf:
m) Beratung des Antrags des Bundesministeri- Beratung der Beschlußempfehlung und des
ums der Finanzen Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß)
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bun- zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
deshaushaltsordnung in die Veräußerung rung
eines Grundstücks in Berlin-Steglitz
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur
- Drucksache 13/4218 - Änderung der Richtlinie 76/895/EWG des Ra-
tes vom 23. November 1976 über die Festset-
Überweisungsvorschlag:
zung von Höchstgehalten an Rückständen
Haushaltsausschuß von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf und
n) Beratung des Antrags des Bundesministe- in Obst und Gemüse, der Richtlinie 86/362/
EWG des Rates vom 24. Juli 1986 über die
riums der Finanzen
Festsetzung von Höchstgehalten an Rückstän-
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bun- den von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf
deshaushaltsordnung in die Veräußerung und in Getreide, der Richtlinie 86/363/EWG
eines Grundstücks in Berlin-Charlotten- des Rates vom 24. Juli 1986 über die Festset-
burg zung von Höchstgehalten an Rückständen
von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf und
- Drucksache 13/4256 — in Lebensmitteln tierischen Ursprungs und
Überweisungsvorschlag: der Richtlinie 90/642/EWG des Rates vom
Haushaltsausschuß
27. November 1990 über die Festsetzung von
Höchstgehalten an Rückständen von Schäd-
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen lingsbekämpfungsmitteln auf und in be-
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse stimmten Erzeugnissen pflanzlichen Ur-
zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - sprungs einschließlich Obst und Gemüse
Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Über-
- Drucksachen 13/2306 Nr. 2.103, 13/3379 -
weisungen so beschlossen.
Berichterstattung:
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 17 a Abgeordnete Wilhelm Dietzel
bis 17 f: Susanne Kastner
Dr. Jürgen Rochlitz
Abschließende Beratungen ohne Aussprache Günther Bredehorn
8722 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Das gilt auch für die vorgesehene Regelung der Kern der Kritik war die Regelung, welche sich mit
Anonymisierung und Löschung eigener Daten. Die der Beschränkung der Auskunftsbefugnisse des
einzelnen Unterlagen enthalten in der Regel ein Ge- Bundesbeauftragten nach den §§ 20 und 21 des Ge-
flecht aus Informationen, die sich auf die unter- setzes beschäftigt. Von Geheimpapieren und von ei-
schiedlichsten Personengruppen beziehen. Eine An- ner Amnestie für Stasi-Spitzel war die Rede, vor al-
wendung der Anonymisierungsregelung schon jetzt lem von jener Zeitung, die politische Informationen
wäre sachgerecht nicht möglich. Wir würden vor al- auf fette Überschriften und große Bilder beschränkt.
len Dingen zahlreiche Ermittlungs- und Rehabilitie- Die Telefone liefen heiß, und wie immer in solchen
rungsverfahren unmöglich machen. Deshalb schla- Fällen vermochte die sachliche Information über die
gen wir vor, diese Frist um zwei Jahre hinauszuschie- tatsächliche Regelungsabsicht nur einen Bruchteil
ben. des Schadens zu begleichen, der zuvor aus kommer-
ziellem, publizistischem Interesse verursacht worden
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir ge- ist. Ich will deshalb die Gelegenheit nutzen und zu-
ben heute den Startschuß für hoffentlich sorgfältige nächst noch einmal ausdrücklich sagen, was alles
Ausschußdiskussionen. Möge am Ende unserer Aus- nicht Gegenstand dieser Gesetzesänderung ist.
schußarbeit ein Gesetzesvorschlag stehen, der erneut
von der breiten Mehrheit des Deutschen Bundesta- Erstens. Es geht nicht um eine Amnestie für ehe-
ges getragen wird. Dazu werbe ich um Ihre kritische malige hauptamtliche und Inoffizielle Mitarbeiter des
und konstruktive Mitarbeit. Staatssicherheitsdienstes, die im Rahmen dieser Tä-
tigkeit Straftaten begangen haben und deshalb auch
Herzlichen Dank. weiterhin zur Verantwortung gezogen werden müs-
sen. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz regelt unter ande-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.
rem im § 23 den Zugang der Strafverfolgungsbehör-
sowie bei Abgeordneten der SPD)
den zu den Aktenbeständen des ehemaligen MfS
zum Zwecke der Strafverfolgung. An diesen Bestim-
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- mungen wird sich nichts ändern. Der Gesetzentwurf
lege Rolf Schwanitz. beinhaltet keinerlei Punkte, wonach die Verfolgung
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8725
Rolf Schwanitz
von begangenen Straftaten eingeschränkt oder be- hörde ermessensfrei - regeln. Dies ist unsere Auf-
hindert werden soll. Ich will dies noch einmal aus- gabe.
drücklich klarstellen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Zweitens. Es geht bei den Änderungen des § 19 F.D.P.)
auch nicht um die Rechte der Betroffenen und Drit-
ten, also jener, zu denen der Staatssicherheitsdienst Die einbringenden Fraktionen haben sich dabei
widerrechtlich durch Spitzeltätigkeit oder durch auf zwei Fallkonstellationen beschränkt: zum einen
technische Mittel gezielt Informationen gesammelt auf geringfügige IM-Tätigkeiten ausschließlich wäh-
hat. Alle Rechte dieser Opfer des staatlichen Über- rend des Grundwehrdienstes, ohne daß dabei perso-
wachungs- und Unterdrückungswahns der DDR blei- nenbezogene Informationen weitergegeben worden
ben unverändert bestehen. Sie erhalten auch weiter- sind, und zum anderen auf IM-Verhältnisse, bei de-
hin uneingeschränkten Zugang zu den zu ihrer Per- nen trotz einer Verpflichtung zur Mitarbeit über-
son gesammelten Unterlagen, einschließlich der Of- haupt keine Informationen geliefert worden sind.
fenlegung der Klarnamen jener Personen, die als In- Dies ist der erste Einschränkungsbereich, ein Bereich
offizielle Mitarbeiter auf sie angesetzt worden sind. von IM-Tätigkeit, der eigentlich ohnehin im Ergebnis
Auch hier muß Schluß sein mit den Desinformationen der vorgeschriebenen Einzelfallprüfung beim Arbeit-
einiger Medien, die bei den Betroffenen nur Verunsi- geber nicht zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen füh-
cherung und Ängste produzieren und dabei fröhlich ren kann und deshalb sehr wohl vom Gesetzgeber
gleichzeitig ihr Geschäft machen. direkt im Gesetz geregelt werden müßte.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Der zweite Bereich betrifft den Vorschlag, daß nun-
F.D.P.) mehr eine Stasi-Mitarbeit nicht mehr mitgeteilt wer-
den soll, wenn sich kein Hinweis dafür findet, daß
Drittens. Ebenfalls nicht berührt ist die Nutzung diese Tätigkeit nach dem 31. Dezember 1975 fortge-
der Akten zum Zwecke der Personalüberprüfung in setzt worden ist. Werden Tätigkeiten auch noch nach
den politischen Ebenen. Die Überprüfung von Mit- diesem Stichtag festgestellt, wird auch eine eventuell
gliedern der Bundesregierung und der Landesregie- vorhergehende, frühere Tätigkeit selbstverständlich
rungen, die Überprüfung bei Abgeordneten des Bun- mitgeteilt und beauskunftet.
destages, der Landtage und der Kommunalparla-
mente, die freiwillige Überprüfung der Vorstände Die höchstrichterliche Rechtsprechung im Bereich
von politischen Parteien bis hinunter zur Kreisebene des Dienst- und Arbeitsrechts läßt seit vielen Mona-
bleiben ebenso unverändert wie der gesamte Bereich ten erkennen, daß die Möglichkeit zur außerordentli-
der Sicherheitsüberprüfungen, so wie wir dies in der chen Kündigung im Falle von Personen, deren Tätig-
Vergangenheit bereits kannten. keit für das MfS Jahrzehnte zurückliegt, de facto aus-
geschlossen ist. Der Bundesgesetzgeber muß dieser
Die Sozialdemokraten waren der Auffassung, daß Entwicklung Rechnung tragen. Er darf den Bundes-
es keine zeitliche Begrenzung der Auskunftstätigkeit beauftragten und damit das Stasi-Unterlagen-Gesetz
des Bundesbeauftragten bei diesen sicherheitsrele- selbst nicht in eine Situation stellen, in der Auskünfte
vanten bzw. politisch bedeutsamen Ebenen geben über Personen erteilt werden, die in der Praxis zu
darf. Die Politik darf nicht in den Verdacht der Selbst- keinen arbeitsrechtlichen Konsequenzen mehr füh-
begünstigung kommen. Deshalb auch hier ein Fest- ren können. Hier brauchen wir Mut der politisch
halten an dem alten, seit 1991 bewährten Recht. Handelnden und nicht den bequemen Populismus,
dem viele an dieser Stelle frönen würden.
Meine Damen und Herren, was war nun konkret
der Stein des Anstoßes? Die Sozialdemokraten sind (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
ebenso wie die miteinbringenden Fraktionen der F.D.P.)
CDU/CSU und F.D.P. der Auffassung, daß die Aus-
kunftsmöglichkeiten des Bundesbeauftragten betref- Zum Schluß, meine Damen und Herren, möchte
fend eine Mitarbeit beim Staatssicherheitsdienst, also ich noch ein offenes Wort speziell an die Menschen
die Personalüberprüfungsfragen, für die außerhalb in den neuen Bundesländern richten. Es ist richtig:
der politischen Ebenen stehende Prüfungsperson in Wir erweitern nicht nur die Möglichkeiten des Bun-
zweierlei Hinsicht begrenzt werden müssen. desbeauftragten, sondern wir wollen sie in begrenz-
tem und vertretbarem Umfang auch verringern. Es
Zum einen sollen künftig kraft Gesetzes bestimmte kann aber nicht das Interesse all jener mutigen Men-
Fälle festgelegt werden, in denen wegen Geringfü- schen sein, die 1989 aufgestanden sind und die Ak-
gigkeit der Stasi-Mitarbeit keine Mitteilung mehr tenöffnung gefordert haben, daß das Stasi-Unterla-
erfolgt. Der Bundesbeauftragte soll künftig eine Tä- gen-Gesetz von 1991 unverändert und dogmatisch
tigkeit von geringer Bedeutung nicht mehr mitteilen bleibt, wenn sich die Rechtswirklichkeit schon längst
müssen. Wir haben besonderen Wert darauf gelegt, verändert hat. Eine solche Unbeweglichkeit und Vo-
daß der Bundesbeauftragte dabei nicht zu einer Er- gel-Strauß-Politik spielte letzten Endes jenen in die
messensentscheidung gezwungen wird, bei der er Hände, die das Stasi-Unterlagen-Gesetz mit seiner
nach seinem Empfinden festlegen muß, wann etwas historisch einmaligen Entscheidung der Aktenöff-
geringfügig oder wann etwas von Bedeutung ist. nung von Anfang an und letztendlich bis heute
Dies muß der Gesetzgeber selbst - und für die Be- grundsätzlich abgelehnt haben. Ein solcher nach-
8726 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Rolf Schwanitz
träglicher Sieg der Täter von gestern und der Vertu- Angehörige als Opfer oder Verstrickte unmittelbar
scher von heute wäre politisch unverantwortlich. betroffen waren, hat zunächst einmal vieles ver-
drängt und hat zu kämpfen, sich in den neuen Ver-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem hältnissen einzurichten. Es ist ja unglaublich schwie-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) rig, wenn man sich von einem auf den anderen Tag
in einer völlig neuen Wirtschaftsordnung, neuen
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- Rechtsordnung usw. zurechtfinden muß. Eigentlich
lege Gerald Häfner. ist erst die folgende Generation diejenige, die dann
unter den Teppich schaut und wissen will: Was habt
ihr damals gemacht? Wie sind die Dinge gewesen?
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ver- Auch deshalb ist es wichtig, daß die Akten weiter zu-
ehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- gänglich sind, daß es keinen „Schlußstrich" und da-
gen! Ich möchte einleitend ein paar grundsätzliche mit auch keine Schließung der Akten gibt.
Worte zu dem Gesetz und auch zu dem Tätigkeitsbe-
richt sagen, mit denen wir uns hier beschäftigen. Die Entwicklung in Polen, das uns ja noch vor eini-
ger Zeit von Gräfin Dönhoff als leuchtendes Beispiel
Beim sogenannten Stasi-Unterlagen-Gesetz geht für das Ziehen eines solchen Schlußstriches vorge-
es ja um etwas wirklich Bedeutendes. Der Gesetzge- stellt wurde und wo jetzt laut über eine dem Stasi-
ber hat damit absolutes Neuland betreten. Neben Unterlagen-Gesetz vergleichbare Regelung nachge-
den vielen großen Fehlern, die bei der Herstellung dacht wird, zeigt dies; die Entwicklung in Südafrika,
der deutschen Einheit leider auch gemacht worden in Tschechien und in anderen Ländern deutet eben-
sind, ist das ein wirkliches Schmuckstück, ein wirkli- falls darauf hin.
cher Erfolg. Diesen Erfolg verdanken wir der Bürger-
bewegung, den Menschen, die auf der Straße gegen Ich glaube, mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz ist
das totalitäre Regime gekämpft haben, jenen Men- uns etwas wirklich Großes und Wichtiges gelungen,
schen, die - zum Teil dann auch später im Bündnis 90 ein Stück Demokratiegeschichte aus dem Geist der
im politischen Raum - Freiheit und der Würde des Menschen und auch aus
dem Geist friedlicher und rechtsstaatlicher Bewälti-
(Uwe Lühr [F.D.P.]: Auch in anderen Par- gung von Unrecht und Diktatur.
teien!)
Gerade deshalb aber meine auch ich, daß wir mit
gegen die geplante Schließung und Vernichtung der dem Stasi-Unterlagen-Gesetz außerordentlich vor-
Akten und für den Zugang aller Betroffenen zu den sichtig umgehen müssen. Es ist ein Erbe der Bürger-
Akten gekämpft haben. Den Zugang zu den die ei- bewegung und der friedlichen demokratischen Revo-
gene Person betreffenden Akten sicherzustellen ist lution. Aus diesen Gründen glaube ich, daß Ände-
ein elementares bürgerrechtliches Anliegen. Damit rungen nur dann, wenn sie absolut notwendig sind,
hat man Zugang zu bisher verschlossenen Bereichen vorgenommen werden sollten - und auch dann nur
der eigenen Geschichte und kann die eigene Biogra- äußerst behutsam. Deshalb bin ich gegenüber eini-
phie, aber auch Schuld und Verantwortung anderer gem, was hier vorgeschlagen worden ist, ausgespro-
aufklären. chen skeptisch.
Anders, als das bisher in der Geschichte häufig ge- Ich will nur wenige Worte zu dem PDS-Gesetzent-
wesen ist, wurde nach dem Ende der SED-Diktatur wurf verlieren, der eine ernsthafte Beratung meines
nicht mit der Guillotine, mit dem Strick oder dem Erachtens nicht verdient hat. Die größte Ungeheuer-
elektrischen Stuhl geurteilt. Vielmehr werden Ver- lichkeit ist meiner Meinung nach das Gerede von der
strickungen und Verantwortlichkeiten aufgedeckt, Tendenz zur Herausbildung eines vierten geheim-
ohne daß Köpfe zumindest im wörtlichen Sinn rollen. dienstlichen Apparats. Wer nicht unterscheiden kann
zwischen einem Geheimdienst eines repressiven, to-
Natürlich hat das manchmal unangenehme Folgen talitären Staates, der gegen die Bürger gerichtet ist,
für die Betroffenen; die PDS beklagt dies in ihrem und einer demokratischen, vom Volk erkämpften
Antrag. Aber ich glaube, selten ist mit einer Diktatur
transparenten Einrichtung zur Aufarbeitung dieser
so milde umgegangen worden wie in diesem Fall.
Geschichte, zur Abwicklung dieses Geheimdienstes,
Nicht Rache war das Ziel der Menschen, sondern zur Aufdeckung von Schuld der Mitarbeiter dieser
Rente und demokratischer Wandel. Das haben wir Diktatur gegenüber den Menschen, wer das nicht
erreicht. Darauf können wir alle gemeinsam - das unterscheiden kann und es sogar in dieser Weise
Stasi-Unterlagen-Gesetz war letztendlich ja ein ge- gleichsetzt, begeht wirklich ein geistiges Verbrechen
meinsames Werk dieses Hauses - stolz sein. gegenüber der Wahrhaftigkeit, der eigenen Ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schichte und der politischen Kultur auch dieses Hau-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der ses.
SPD und der F.D.P.) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Es ist ein Modell auch für viele andere Länder ge- bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)
worden. Dabei gehe ich davon aus - das zeigt die Ich finde, das ist ein Vergehen an der Demokratie.
Entwicklung in Polen, in Tschechien, in Ungarn, in Mehr möchte ich zu diesem Entwurf nicht mehr sa-
anderen Ländern und bei uns -, daß die eigentliche gen.
Aufarbeitung, die elementare Auseinandersetzung
mit der eigenen Vergangenheit uns noch bevorsteht. Ich sehe, daß meine kurze Redezeit nicht ausreicht,
Genauso war es nach 1945. Die Generation, deren auf die einzelnen Punkte des anderen, des fraktions-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8727
Gerald Häfner
übergreifenden Entwurfs einzugehen. Wir werden in wie wir durch die Einrichtung einer öffentlich-rechtli-
den Ausschüssen, aber auch in der Enquete-Kom- chen Stiftung zur Unterstützung dieser Aufarbeitung
mission hoffentlich genug Gelegenheit haben, die- die Möglichkeit schaffen können, daß diejenigen, die
sen Entwurf gründlich zu beraten. durch ihre Biographie und ihre Rolle als Dissidenten
Ich will deshalb nur zwei Punkte ganz kurz streifen. in diesem System, unmittelbar Träger dieser Aufar-
beitung sind, jetzt aber oft ohne jede weitere Per-
Erstens. Ich halte es für sinnvoll, im Gesetz künftig spektive im Regen stehen, weiter an dieser Aufarbei-
die Möglichkeit zu schaffen, daß Menschen, die Ein- tung mitwirken und so auch all den Menschen Bera-
sicht in die Akten nehmen wollen, im Falle körperli- tung und Hilfe geben können, die dies nötig haben.
cher Gebrechen Menschen ihres Vertrauens mitneh- Dazu gehört, daß auch deren Aktenbestände und al-
men können; das ist so vorgesehen. Ich halte es aber les, was damit verbunden ist, gesichert werden müs-
nicht für sinnvoll und notwendig, diese Regelung sen.
ausschließlich auf das Vorliegen körperlicher Gebre-
chen zu beschränken. Ich meine, daß - das hat man Das ist unsere Anregung. Auch darüber möchten
mir vielfach berichtet - genauso oft seelischer oder wir mit Ihnen in aller Ruhe und Besonnenheit disku-
moralischer Beistand erforderlich ist. Mir will nicht tieren. Ich hoffe, daß wir dabei zu einer gemeinsa-
einleuchten, warum man diesen ausschließen men Lösung kommen.
möchte. Ich danke für die Großzügigkeit des Präsidenten
Ich möchte kurz noch einen zweiten Punkt anspre- und beende hiermit meine Rede.
chen; das ist der entscheidende: Ich kann die vorge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schlagene Regelung gut verstehen, Tätigkeiten, die und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
vor 1975 lagen, in bestimmten Fällen nicht mehr an- der F.D.P.)
zurechnen. Ich bin aber ausgesprochen skeptisch -
wir werden genug Zeit haben, darüber zu reden - ge-
genüber einer Regelung, die deshalb auf der Seite Vizepräsident Hans Klein: Die war unfreiwillig,
der Auskunftserteilung, also der Information, Ein- Herr Kollege.
schränkungen vornehmen will. Herr Kollege Professor Dr. Rainer Ortleb, Sie haben
Das Problem liegt meines Erachtens auf der ande- das Wort.
ren Seite, bei den Rechtsfolgen, also etwa bei den
Verwendungsrichtlinien für den öffentlichen Dienst. Dr. Rainer Ortleb (F.D.P.): Herr Präsident! Meine
Ich weiß, da sind wir mit der Ländergesetzgebung Damen und Herren! Seit der Erstürmung der Nor-
konfrontiert. Diese ist sehr unterschiedlich. Ich halte mannenstraße und zahlreicher Unterzentralen der
es aber für sinnvoll, bei den Rechtsfolgen, also etwa Stasi gibt es die Möglichkeit der tiefgreifenden Auf-
bei der Zugangsberechtigung anzusetzen, um den klärung der Tätigkeit dieses Apparats.
verschiedenen Fallgestaltungen etwas angemesse-
ner gerecht zu werden und gerade, wenn die Dinge Die erste und letzte demokratische Volkskammer
weit zurückliegen, großzügiger zu sein. Ich halte es der DDR leistete Grundlagenarbeit für spätere Bun-
aber nicht für sinnvoll, die Auskunftserteilung durch desgesetzgebung und versuchte auch eine kritische
die Behörde einzuschränken, wie ich überhaupt jede Personalprüfung in den eigenen Reihen, um nicht
Regelung ablehne, die die Behörde selbst mehr und mit politischen Altschulden in die gemeinsame deut-
mehr zum Schiedsrichter machen möchte. Das kann sche Bundesrepublik einzutreten.
ihre Funktion nicht sein. Der Gesetzgeber hat zu Die mir damals als Partei- und Fraktionschef Ein-
regeln, welche Rechtsfolgen mit dem verbunden zelfälle betreffend zur Kenntnis gebrachten Aktenbe-
sind, was sich Menschen in der Vergangenheit ha- funde und folgend geführte Gespräche haben mir
ben zuschulden kommen lassen. Einblicke ermöglicht, die mich die wahren Tiefen nur
Ich möchte ein letztes ansprechen; das liegt mir am erahnen ließen. Ich möchte der Ordnung halber nur
allermeisten am Herzen. darauf verweisen, daß wir in der Volkskammer auch
große Schwierigkeiten hatten, uns nicht zu Schnell-
schüssen verleiten zu lassen. Ich denke noch mit ei-
Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit ist abge-
nem gewissen Unbehagen an eine der letzten Sitzun-
laufen. gen, wo wir - förmlich übers Knie gebrochen - ver-
suchten, zu Beurteilungen aus damals noch lücken-
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nur haften Kenntnissen zu kommen. Ich kann Ihnen nun
noch ein oder zwei Sätze, wenn Sie erlauben. Es geht nach Jahr und Tag sagen: Auch in meiner Fraktion
mir darum, daß die Aufarbeitung unserer Geschichte gab es eine Fehlbeurteilung. Es ging um einen
nicht nur die Regierungsgeschichte, die Geschichte Mann, der nach drei Monaten eindeutig rehabilitiert
der Behörden, der Apparate einbeziehen kann, son- werden konnte. Daran können Sie die Sensibilität
dern auch die Geschichte von unten. Das ist bislang dieses ganzen Problems sehen. Man muß mit Be-
überhaupt nicht vorgesehen. Was in der Umweltbe- dachtsamkeit und Vorsicht herangehen.
wegung, in der Friedensbewegung, in der Bürger-
rechtsbewegung alles geschehen ist, wird viel zuwe- Als praktizierendem Informatiker kamen mir da-
nig aufgearbeitet. mals die Bilder im Fernsehen, als die Plattenspeicher
des Rechenzentrums des Ministeriums für Staatssi-
Unter anderem deswegen haben wir einen Antrag cherheit vernichtet wurden, ein wenig grausig vor.
vorgelegt. Es ist nötig, daß wir darüber nachdenken, Ich habe im Stillen immer gedacht: Wer wird wohl
8728 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
ren. Darüber wird mit Sicherheit eine leere Akte vor- Damen und Herren! Vielleicht erlauben Sie mir zu-
liegen. Ein heute 60jähriger - um einen anderen nächst einmal, etwas zwischen uns Unstreitiges her-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8729
Dr. Uwe-Jens Heuer
vorzuheben. Unstreitig ist die Notwendigkeit, sich Wohnung wirklich etwas, was man nach wie vor ahn-
der Vergangenheit zu erinnern, sich kritisch mit ihr den muß?
auseinanderzusetzen und aus gemachten Fehlern
und grundlegenden Fehlentscheidungen Lehren zu Wenn das betrachtet würde, würde auch deutlich,
ziehen. Dazu sind die Akten des MfS und die Ein- daß es Gründe gibt, daß im „Sozialreport 1995" auf
sichtnahme in sie zweifellos nützlich. Sicher gibt es der Grundlage entsprechender Meinungsumfragen
auch in Westdeutschland Aktenbestände, die glei- des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums
ches leisten könnten. Unter historische Erinnerungen Berlin-Brandenburg erklärt wurde, nur ein Zehntel
und Diskussionen kann es keinen Schlußstrich ge- der Ostdeutschen habe „volles" oder „viel Vertrauen
ben. Die Möglichkeit von Betroffenen, sich an Hand zu seiner Bundesbehörde", und 20 Prozent bekunde-
der Akten mit der Vergangenheit auseinanderzuset- ten „etwas Vertrauen ".
zen, halten wir ebenfalls nach wie vor für unbedingt
geboten. Falsche oder falsch interpretierte Akteninhalte
der Bundesbehörde verursachen allzu häufig falsche
Das Problem ist für mich eine Instrumentalisie- Entscheidungen. Es gebe im übrigen eine bedenkli-
rung der Aktenauswertung für fragwürdige politi- che „Praxis eines weitgehenden Verzichts auf gebo-
sche Zwecke. Sinn und Zweck des Stasi-Unterlagen- tene Einzelfallprüfungen", schreibt der Anwalt und
Gesetzes sind eigentlich recht klar in § 1 formuliert. CDU-Politiker Peter-Michael Diestel in der „Neuen
Das Verständnis von Herrn Gauck zum Zweck dieses Justiz", 12/1995.
Gesetzes geht allerdings darüber hinaus. Er sieht
nämlich - wie aus dem Zweiten Tätigkeitsbericht, Im übrigen empfinde ich auch die Aussagen im
Seite 8, zu ersehen - in der Tätigkeit seiner Bundes- Zweiten Tätigkeitsbericht der Bundesbehörde über
behörde einen Beitrag zum „Elitewechsel" in Ost- den SPD-Ministerpräsidenten von Brandenburg,
deutschland. „Auftrag, Erfahrung und Kompetenz Manfred Stolpe, als Beleg für eine durch nichts zu er-
des Bundesbeauftragten", so läßt er im Tätigkeitsbe- schütternde Attitüde des Rechthabens der Bundesbe-
richt seine eigene Person würdigen, versetzten ihn in hörde. Daß es einen Untersuchungsausschuß des
die Lage, den Kampf gegen „Relativierung" und Brandenburgischen Landtags gab, der zu einer abge-
„Schönfärberei" zu führen. Herr Gauck bekennt da- wogenen und gerechten Bewertung der Gespräche
mit - das ist für einen der höchsten Beamten der Bun- von Manfred Stolpe mit dem MfS kam, wird gar nicht
desrepublik doch sehr ungewöhnlich - seine persön- zur Kenntnis genommen. „Die Rechercheergebnisse
liche politische Parteilichkeit. zum Komplex ,IM Sekretär'" - so heißt es auf Seite 36
des Tätigkeitsberichtes wörtlich - haben den Nach-
Er räumt in dem Tätigkeitsbericht immerhin ein, weis erbracht, daß es „im Einzelfall möglich ist, sub-
daß es vielfältige Kritik und Vorwürfe an die Adresse stantiierte Aussagen über Natur, Inhalt und Qualität
der von ihm geleiteten Bundesbehörde gebe. Die einer inoffiziellen Mitarbeit auch dann zu machen,
Rede sei, so Herr Gauck, von „unbilligen sozialen wenn die für solche Fälle originär angelegten IM-Ak-
Härten". Es komme der Vorwurf, die Überprüfungs- ten vernichtet oder verbracht worden sind". Die Bun-
praxis schaffe gar neues Unrecht. desbehörde hat eben auch recht, wenn sie nicht
recht hatte.
Liest man dann allerdings im Tätigkeitsbericht wei-
ter, so gesteht Herr Gauck nicht einmal einen Hauch Das meinen wir, wenn wir sagen, es gebe das Pro-
von Inkorrektheit ein. Das Gesetz habe sich „in der blem der Willkür. Rechtsstaatliche Prinzipien wie
Praxis bewährt". Die Kritiker werden treffsicher als Einzelfallprüfung und die strikte Beachtung des
die „um ihren Einfluß gebrachte Machtelite" ausge- Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bleiben oft auf
macht. Ansonsten seien eben derartige Vorwürfe der Strecke. Verjährungsfristen gibt es bisher nicht.
darauf zurückzuführen, „daß verbreitete Unkenntnis Das wird jetzt geändert werden.
darüber besteht, welche Folgen die Mitteilungen des
Bundesbeauftragten tatsächlich haben". Die Über- Herr Büttner hat hier gesagt, man könne das nicht
prüfungspraxis entkräfte das alles. Die anfragenden rechtsstaatlich behandeln. Ich meine, diese rechts-
Stellen, so wird uns versichert, „wägen inzwischen staatliche Behandlung ist notwendig. Herr Schwanitz
sorgfältig ab und treffen Einzelfallentscheidungen". hat angemerkt, daß im Strafrecht fast alles verjähre
und daß man deshalb nicht sagen könne, dies ver-
Wie schön, wenn es denn tatsächlich so wäre. Ich jähre nie. Ich glaube, daß da doch rechtsstatliches
möchte Ihnen einen Fall nennen. Gerade vor drei Denken erforderlich ist.
Wochen wurde in Luckenwalde das Lehrerehepaar
Jura, das 35 Jahre im Schuldienst gearbeitet hat, von Die Vorschläge von CDU/CSU, SPD und F.D.P.
einem Tag zum anderen fristlos entlassen, weil sich sind teilweise ein Fortschritt. Einige Punkte werfen
die Frau vor 20 Jahren damit einverstanden erklärt Probleme auf. Wir haben auch Vorschläge gemacht.
hatte, daß ein Raum des Internats, in dem sich ihre Wir wünschen die Diskussion, und wir sollten ge-
Wohnung befand, vom MfS genutzt werden durfte, meinsam versuchen, das rechtsstaatliche Vorgehen
wobei nur sie und nicht ihr Mann dies unterschrie- und die Herstellung des Rechtsfriedens auf diesem
ben hatte. Derartige Fälle gibt es in großer Zahl und Gebiet zu befördern.
immer wieder, wie gerade vor wenigen Tagen, am
30. März, auf einem Workshop mit Betroffenen und Danke schön.
Rechtsanwälten in Berlin vor Augen geführt wurde.
Ist die Zurverfügungstellung einer konspirativen (Beifall bei der PDS)
8730 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem dazu, auch von dieser Stelle noch einmal ganz herz-
Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesmi- lich an Herrn Gauck und alle seine Mitarbeiterinnen
nister des Innern, Dr. Horst Waffenschmidt. und Mitarbeiter für die Sensibilität und die Arbeit
Dank zu sagen, die sie in diesem schwierigen Aufga-
benfeld geleistet haben.
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister des Innern: Herr Präsident! Meine (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. der
sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ich den Kollegen ganz herzlich danken, die die inter-
fraktionelle Initiative vorbereitet und uns vorgelegt Ich wünsche, daß ihnen dies auch weiterhin so mög-
haben. Ich glaube, das ist ein ganz hervorragendes lich bleiben möge.
Beispiel für parlamentarische Zusammenarbeit in ei- Nun wurde mit Recht immer wieder gefragt: Wie
nem ganz schwierigen Aufgabenfeld. Ganz herzli- wird das akzeptiert? Deshalb möchte ich drei Zahlen
chen Dank auch seitens der Bundesregierung. einbringen, die, glaube ich, mehr als viele Worte
(Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der deutlich machen, wie bis in die jüngste Vergangen-
SPD) heit hinein die Arbeit der Gauck-Behörde von vielen
Hunderttausenden von Bürgern, auch von amtlichen
- Als Mitglied des Hauses, lieber Herr Kollege, darf Stellen, auch von solchen, die in besonderer Weise
ich mich ja mitfreuen, daß die Kollegen so erfolgreich der Kriminalitätsbekämpfung dienen, in Anspruch
gearbeitet haben. genommen worden ist.
Ich bin dankbar, daß alle, die bisher gesprochen - Es sind bis Ende Februar 1996 mehr als drei Millio-
haben, deutlich zum Ausdruck brachten: Vom nen Anträge bei der Gauck-Behörde eingegangen.
Grundsatz her hat sich das Gesetz bewährt. Es soll an Von denen sind insgesamt 2,5 Millionen abgearbei-
einigen Stellen noch verbessert werden. Ich denke - tet. 1995 wurde erstmals erreicht, daß die Zahl der
das sollten wir gemeinsam feststellen -, daß es in ei- Erledigungen größer als die Zahl der neuen Antrags-
nem ganz schwierigen Aufgabenfeld eine gute ge- eingänge ist. Ich will Ihnen aus dem Monat März
setzliche Regelung war, wenn man auf das Ganze dieses Jahres sagen: Allein in diesem Monat sind
und auf die Bewährung bis heute sieht. 17 000 Anträge von Bürgerinnen und Bürgern aus
Mir liegt daran, in diesem Zusammenhang noch unserem Lande eingegangen, nicht von amtlichen
einmal für die Bundesregierung folgendes aufzuneh- Stellen, sondern von Bürgerinnen und Bürgern, die
men und zu sagen: Es ist mehrfach vom Schicksal Auskunft haben wollen. Inzwischen sind es weit über
der Unterlagen gesprochen worden. Angesichts all eine Million Bürgerinnen und Bürger, die sich aus
dessen, was wir erlebt haben, sollten wir als Leitmo- den neuen, aber auch aus den alten Bundesländern
tiv immer vor Augen halten: Denkt an die Opfer, an an die Behörden gewandt haben und um Auskunft
die Menschen, die gelitten haben. An sie wird heute bitten.
oft nicht mehr genug gedacht. Ich meine, wenn man diese Zahlen liest - über drei
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Millionen Anträge, über eine Million allein von ein-
zelnen Bürgern -, dann beweist das, daß diese Arbeit
Deswegen können Akten nicht vorzeitig geschlossen von vielen Bürgern angenommen worden ist und
werden, sondern muß man daran denken, wie Ge- nicht ungerechtfertigte Kritik vorgetragen werden
rechtigkeit erfolgen kann. sollte.
Deshalb sind, Herr Kollege Heuer, die Dinge, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
die PDS vorschlägt, nicht brauchbar. Auch weisen ordneten der SPD, der F.D.P. und des
wir das zurück, was an unqualifizierter Kritik an der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
schwierigen Arbeit der Gauck-Behörde von Ihnen
vorgetragen worden ist. Das war nicht so. Ich will in diesem Zusammenhang sagen, daß wir
es seitens der Bundesregierung sehr begrüßen, daß
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Gauck-Behörde auf vielfältige Weise überlegt
hat: Wie können Verfahrensabläufe schneller erfol-
Ich kann nur wünschen, daß das, was die Kollegen
gen? Wie kann manches noch effektiver bearbeitet
jetzt als Initiative der drei Fraktionen vorgetragen ha-
werden? Ich sprach schon davon, daß wir auch ver-
ben und was wir alle miteinander aus den Fraktionen
waltungsmäßig auf Neuland tätig sind. Dazu haben
tragen, bald ins Gesetzblatt kommt.
gerade in den letzten Monaten unser Bundesbeauf-
Nun will ich mich mit einigen Sätzen noch den Be- tragter Gauck und seine Mitarbeiter eine ganze
richten, besonders dem Zweiten Bericht, der Gauck Menge an guten Neuerungen geleistet. Das wird
Behörde zuwenden. dazu führen, daß die Menschen, die nachfragen,
schneller Antwort bekommen. Das ist zu begrüßen.
Zunächst ist festzustellen: Nicht nur mit dem Stasi-
Unterlagen-Gesetz, sondern auch mit der Gauck Be- - Wenn wir beide Komplexe, die wir heute hier be-
hörde haben wir ganz großes Neuland betreten. Wir handeln, zusammen sehen - die Initiative der drei
haben in einem Feld eine staatliche Tätigkeit aufge- Fraktionen und den Tätigkeitsbericht der Gauck-Be-
baut, in der es keine vergleichbaren Erfahrungen hörde -, dann dürfen wir, glaube ich, ohne Übertrei-
gab. Es ist hier mit Recht gesagt worden, daß andere bung sagen, daß es uns in einer großen demokrati-
Länder heute überlegen, ob sie in vergleichbaren schen Gemeinsamkeit gelungen ist, auf einem
Materien nicht ähnlich handeln. Das bringt mich schwierigen Feld der Aufarbeitung der Vergangen-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8731
Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt
heit im wiedervereinigten Deutschland doch voran- Deutschland richtig gemacht haben, als wir gesagt
zukommen, zum Nutzen der betroffenen Menschen, haben, wir bekennen uns dazu, mit diesen Akten of-
auch im Hinblick auf die besondere Situation vieler fen und mit allen Risiken umzugehen.
Opfer. Ich kann für die Bundesregierung nur wün-
schen, daß diese Gesetzesinitiative bald in Kraft tre- Es ist auch nicht auszuschließen - Herr Heuer, in
ten kann und die Gauck-Behörde im Sinne von Recht diesem Punkt stimme ich Ihnen zu -, daß mit den Er-
und Gerechtigkeit, insbesondere im Hinblick auf die kenntnissen dieser Akten da und dort auch neues
Opfer, die wir noch immer vor Augen haben müssen, Unrecht geschaffen worden ist. Jedes Unrecht ist Un-
weiterarbeiten kann. recht, das es zu kritisieren gilt und wo man auch den
Finger drauflegen muß.
Herzlichen Dank und das Beste für die weitere Ar-
beit! Trotzdem, im Ergebnis war es richtig, unverzicht-
bar richtig und wichtig, daß wir diese Akten geöffnet
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜND- haben, daß wir uns der Geschichte stellen und daß
NISSES 90/DIE GRÜNEN) wir versuchen, den Opfern, aber auch der interessier-
ten Öffentlichkeit so weit wie möglich zu helfen, sich
die Geschichte anzueignen, die in diesem Bereich
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dieter vonstatten gegangen ist.
Wiefelspütz, Sie haben das Wo rt .
Das Stasi-Unterlagen-Gesetz, Herr Heuer, war
Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Präsident! Liebe kein Siegergesetz, sondern das Gesetz eines demo-
Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich auf einige- kratischen Rechtsstaates, der, wie ich fand, die
wenige Anmerkungen zum Bericht des Bundesbe- Pflicht hatte, dieses Gesetz zu machen. Wenn wir es
auftragten beschränken und eingangs einiges zum nicht gemacht hätten, hätten wir, glaube ich, versagt
Stasi-Unterlagen-Gesetz sagen, das wir im Jahre vor den Aufgaben der vereinigten deutschen Staa-
1991 in einer großen Koalition der Vernunft in die- ten.
sem Hause geschaffen haben. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Es ist heute mehrfach daran erinnert worden, und F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜND
ich denke, es ist sinnvoll, daß wir uns heute nachmit- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
tag doch einmal vergegenwärtigen, wie schwierig es
damals war, wie unbekannt und riskant das Terrain Lassen Sie mich noch einige wenige Worte zum
war, auf dem wir uns rechtspolitisch bewegten. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten sagen. Ich
will deswegen so wenig dazu sagen, weil ich meine:
Ich muß Ihnen freimütig sagen, ich war mir damals Wenn man ihn liest, ist das schon fast genug, da muß
nicht sicher - gemeinsam mit den Kolleginnen und man nicht groß darüber reden. Ich empfehle diesen
Kollegen auch der anderen Fraktionen -, ob wir auf Bericht aber zur Lektüre, zur nachhaltigen Lektüre,
diesem Sektor alles richtig machen. wenn man einmal eine Stunde Zeit hat. Man kann
dabei wirklich sehr, sehr viel lernen.
Es ist ja so, bei allen wichtigen Entscheidungen,
die wir hier im Hause und auch anderenorts zu tref- Herr Staatssekretär Waffenschmidt, die SPD hat
fen haben, weiß man mit letzter Sicherheit nicht, ob keinen Grund, die Bundesregierung zu loben.
wir nicht in allerbester Absicht auch grundlegende
Fehleinschätzungen machen. Ich denke, im Jahre (Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffen
1991 ist es uns beim Stasi-Unterlagen-Gesetz gelun- schmidt: Aber das kann man machen!)
gen, vom Grundsatz her die Dinge richtig zu ma-
chen. Wir haben uns dazu bekannt, daß die Akten - Das kann man machen, aber es gibt keine Veran-
des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR nicht lassung aus meiner Sicht. Doch ich will ausdrücklich
geschlossen werden, sondern offenbleiben, daß sie sagen: Wir haben allen Grund, die Arbeit der über
den Menschen zurückgegeben werden, daß dadurch 3 000 Beschäftigten der Behörde des Bundesbeauf-
den Bürgerinnen und Bürgern insbesondere der ehe- tragten nachdrücklich zu loben. Dort wird enga-
maligen DDR ein Teil ihrer Geschichte, ihrer Ge- gierte, qualifizierte Arbeit geleistet mit einer außer-
schichte auch als Opfer, zurückgegeben wird. Es war gewöhnlich niedrigen Fehlerquote. Ich finde das
ganz wichtig und damals gleichsam Konsens, Grün- nach wie vor bewundernswert, wenn eine Behörde,
dungskonsens für dieses Gesetz, daß wir gesagt ha- die sozusagen aus dem Boden gestampft worden ist,
ben: Im Mittelpunkt des Gesetzes stehen die Opfer die innerhalb kürzester Zeit Tausende von Mitarbei-
des Systems dieses Unrechtsstaates DDR. Interessen tern eingestellt hat, auf einem wirklich schwierigen
dieser Opfer sind Maßstab gewesen für dieses Ge- Terrain eine solch qualifizierte Arbeit leistet. Allen
setz. Darauf haben Sie, Herr Waffenschmidt, auch zu Respekt und meine ganz persönliche Hochachtung!
Recht hingewiesen. Ich finde ganz großartig, was dort geleistet worden
ist. Daß eine Behörde nach ihrem Leiter benannt
Der zweite Grundsatz, die Akten zu öffnen, nicht wird - sogar von Ihnen, Herr Waffenschmidt -, ist na-
den Deckel draufzumachen, ist nicht mehr ganz fern. türlich sehr zweifelhaft. Aber es macht deutlich, Herr
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht gut, hier Gauck, welchen besonderen Respekt Sie hier im
besserwisserisch zu urteilen, wie man mit Repressi- Hause, aber auch in der Öffentlichkeit genießen.
onsinstrumentarien wie dem MfS in anderen Staaten
Osteuropas umgegangen ist. Dort hat man andere (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
Diskussionen geführt. Ich glaube, daß wir es hier in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
8732 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Dieter Wiefelspütz
So werden selten Behördenleiter geadelt: daß die Be- darum herumreden. Das gehört sich so in einer
hörde nach ihrem Namen benannt wird. rechtsstaatlichen Demokratie.
Ich möchte aber auch Ihren Stellvertreter in dem (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]: Für alle!)
Berichtszeitraum dieses Tätigkeitsberichtes, Herrn
Geiger, ausdrücklich erwähnen. Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)
Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- Bundeseinheitliche Regelung des unter-
sprache. tägigen Versatzes von Abfällen in Berg-
werken
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla-
gen auf den Drucksachen 13/4356, 13/1750, 13/4359 - Drucksache 13/2758 —
und 13/4353 an die in der Tagesordnung aufgeführ- Überweisungsvorschlag:
ten Ausschüsse vorgeschlagen. Stimmt das Haus Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
dem zu? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind heit (federführend)
die Überweisungen so beschlossen. Ausschuß für Wirtschaft
Steffen Kampeter
ausschuß, bei den Grünen den Eindruck, als würde eine positive Entwicklung, denn die Umsätze der
der Kollege Rochlitz nicht akzeptieren, daß Abfall Entsorgungswirtschaft müssen von den privaten
vermieden wird. Die Praxis sieht ja anders aus. Wenn Haushaltungen und den Unternehmen aufgebracht
Sie sich einmal in den Betrieben umschauen, werden werden. Dort fallen sie als Kosten an. Wenn die Um-
Sie feststellen, daß vor dem Hintergrund sehr teurer sätze der Entsorgungswirtschaft nun nicht so stark
Verwertungs- und Entsorgungswege keine Tonne, steigen wie in den vergangenen Jahren, bedeutet
kein Kilo Abfall zuviel produziert wird. Die betriebli- dies, daß die Kosten der Wirtschaftssubjekte für die
chen Kreisläufe werden optimiert, und das, was letzt- Entsorgung ebenfalls nicht so schnell steigen. Das ist
endlich zur Verwertung oder gar zur Entsorgung üb- ein Prozeß, den wir von der Politik her an sich nur
rigbleibt, ist in den vergangenen Jahren gesunken. positiv bewerten können; denn wir stehen auch in
Der Vermeidungseffekt gerade in der gewerblichen der Verantwortung, Umweltschutz zu möglichst nied-
Wirtschaft muß einmal anerkannt und hervorgeho- rigen Kosten anzubieten.
ben werden.
Deswegen ist es wichtig, daß der Wettbewerb in-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - nerhalb der Entsorgungsbranche weiter intensiviert
Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE wird. Ein gut Teil der Bemühungen der Abfallwirt-
GRÜNEN]: Das ist noch lange nicht Ihr Ver- schaftspolitik in der Entsorgungswirtschaft muß dar-
dienst!) auf abzielen, daß nicht wenige große Monopolisten
entstehen. Es muß eine solide Durchmischung von
Die Produktionsprozesse sind im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Betriebsgrößen geben. Das bedeu-
ökologische Gesamtbewertung einer sehr sorgfälti- tet allerdings nicht, daß do rt nur kleine und mittlere
gen Analyse unterzogen worden. -
Unternehmen tätig werden können. Bestimmte, mit
(Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE hohen Qualitätszielen erforderliche Abfallwirt-
GRÜNEN]: Aber doch nicht von Ihnen!) schaftsmaßnahmen können auch nur von Unterneh-
men mit einem hohen Kapitalbestand umgesetzt wer-
- Gehen Sie doch einmal in die Betriebe, Herr Roch den. Deswegen brauchen wir das Miteinander von
litz, und reden Sie nicht immer nur von den Dingen, Groß und Klein in der Abfallwirtschaft.
die Sie sich in der Praxis noch nie angeschaut haben!
Dies ist nicht nur eine Aufgabe der Bundespolitik,
Die Produktionsprozesse sind vom Input her opti- sondern auch der Kommunen. Die Kommunen sind
miert worden. Die Auswahl der Stoffe erfolgt auch es ja, die die Entsorgungsverträge mit den Unterneh-
unter dem Gesichtspunkt, welche Wiederverwer- men schließen. Jeder Landrat als Leiter einer entsor-
tungsmöglichkeiten dem Produkt innewohnen. Das gungspflichtigen Körperschaft, jede Verwaltungs-
ist ein großartiger Erfolg. Er läßt sich unter der Über- spitze in einer Großstadt hat es in der Hand, mit wem
schrift „Produktverantwortung" beschreiben. Es ist er bzw. sie einen entsprechenden langfristigen oder
das Kernanliegen der Abfallwirtschaftspolitik in den kurzfristigen Entsorgungsvertrag schließt, und hat
vergangenen Jahren, über den gesamten Produktle- damit eine ganz wesentliche Möglichkeit, für einen
benszyklus und die gesamte Produktlebensdauer Wettbewerb zwischen größeren und kleineren Unter-
eine umfassende Verantwortung des Produzenten nehmen zu sorgen.
zu verankern.
Eine große und, wie ich finde, berechtigte Sorge
Auch der betroffenen Umwelttechnikindustrie, der dieser Branche ist, daß zentrale Vorschriften für die
Entsorgungswirtschaft, geht es gut. Vor wenigen Wo- Zukunft der Kreislaufwirtschaft den Bundestag und
chen hat die Umweltschutztechnikmesse Entsorga in den Bundesrat noch nicht passiert haben.
Köln stattgefunden. Do rt konnte sich jeder, der mit
offenen Augen über die Messe ging, davon überzeu- (Marion Caspers-Merk [SPD]: Woran liegt
gen, mit welchem hohen technologischen Anspruch das wohl?)
die Veränderungen in dieser Branche in den vergan-
genen Jahren stattgefunden haben. Es sind einige Deswegen muß unser Anliegen sein, Frau Kollegin
tausend Arbeitsplätze zusätzlich entstanden. Es han- Caspers-Merk, gemeinsam die notwendigen Ent-
delt sich dabei nicht nur um niedrig bezahlte Arbeits- scheidungen zu treffen, die wir brauchen. Ich will ei-
plätze. Wenn Sie eine relativ komplizierte Abfallver- nige anführen.
wertungsanlage betreiben, brauchen Sie gleichwohl Der erste Bereich betrifft das Kreislaufwirtschafts-
qualifizierte Arbeitskräfte. und Abfallgesetz, das SPD, CDU/CSU und F.D.P. vor
In dieser Branche sind enorme Investitionen getä- ungefähr zwei Jahren gemeinsam in diesem Haus
tigt worden. Die Investitionen allein in der Abfall- verabschiedet haben.
wirtschaft im abgelaufenen Jahr werden vom Bun- (Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Das stimmt
desverband der Deutschen Entsorgungswirtschaft zwar nicht!)
auf 3 Milliarden DM beziffert. Bei einem Umsatz von
rund 40 Milliarden DM ist dies, wie ich finde, ein re- Ich habe vor wenigen Tagen eine Presseerklärung
spektabler Investitionsanteil. Wir suchen heute ja In- der sozialdemokratischen Abfallberichterstatterin,
vestoren in Deutschland. Hier wird fleißig investiert. Frau Caspers-Merk, gelesen. Sie hat dieses Gesetz
als einen Meilenstein der Umweltgesetzgebung be-
Die Branche klagt darüber - wie Wirtschaftsbran- zeichnet.
chen in diesen Tagen öfter klagen, daß die Umsätze
nicht mehr so schnell steigen wie in den vergange- (Marion Caspers-Merk [SPD]: Jawohl, das
nen Jahren. Aus Sicht der Politik ist dies allerdings ist auch richtig!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8737
Steffen Kampeter
Das ist einer Ihrer wenigen Sätze, Frau Caspers weil der Verwerter eindeutig darauf hinweisen kann,
Merk, aus den vergangenen Jahren, dem ich unein- daß es nicht dem Geiste des Gesetzes entspricht, ver-
geschränkt zustimmen kann. wertbare Materialien zu entsorgen. Hier wird eine
ganz zentrale Veränderung stattfinden.
(Marion Caspers-Merk [SPD]: Für den Rest
fehlt Ihnen die Sachkunde!) Für das Inkrafttreten des Gesetzes zum Oktober ist
noch die Verabschiedung von Vollzugs- und Detail-
Dieses Gesetz ist gut, und es ist die Grundlage der
vorschriften durch den Bundesrat notwendig. Diese
Entwicklung, die ich gerade beschrieben habe: daß
Vorschriften befinden sich seit einigen Monaten in
Abfälle in Deutschland vermieden und verwertet
der Vorabstimmung, und jetzt gibt es auch einen Re-
werden, wie es die Bürger von uns fordern.
ferentenentwurf. Eine Anhörung der beteiligten
Jetzt geht es aber darum, in den nächsten Wochen Wirtschaftsverbände, der Kommunen und der Länder
und Monaten dieses Gesetz handhabbar zu machen, hat stattgefunden. Ich will auf zwei Punkte, die aus
denn die zentrale Veränderung in der Abfallwirt- der Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wichtig
schaft ist in diesem Gesetz festgelegt: die Eigenver- sind, hinweisen.
antwortung des Erzeugers für seinen Abfall. Wäh-
Das ist zum einen das Deregulierungspotential,
rend früher Abfall etwas war, was man irgendwo ab-
das diesen Verordnungen innewohnt.
geben konnte - in der Kommune oder bei irgendwel-
chen zwielichtigen Unternehmen -, ist heute derje- Frau Caspers-Merk, ich spreche Sie noch einmal
nige, der einen Abfall in den wirtschaftlichen Ver- persönlich an und erinnere an unsere Diskussion im
kehr bringt, umfassend für ihn verantwortlich. Dies Vermittlungsausschuß über das Kreislaufwirtschafts-
-
ist die umfassendste Privatisierungsoption, die in den gesetz. Wir haben uns dort einander versprochen
Kommunen derzeit für große Diskussionen sorgt,
weil sie sich einer etwas veränderten Marktsituation (Lachen bei der SPD - Marion Caspers
gegenübersehen und beispielsweise deutlich ma- Merk [SPD]: Das glaube ich für mich aber
chen können, daß Abfallwirtschaft nicht mehr Staats- nicht! - Wolf-Michael Catenhusen [SPD]:
wirtschaft ist, sondern in den Bereich der Privatwirt- Solange Sie nicht sagen, daß Sie einander
schaft gehört. Hier müssen im übrigen noch Ent- versprochen sind, geht es ja noch! - Ulrich
scheidungen getroffen werden, die die steuerliche Heinrich [F.D.P.]: Nicht übertreiben!)
Gleichbehandlung privater und staatlicher Tätigkeit - ich erinnere heute einmal daran -, nämlich die Koa-
herbeiführen. lition und die Opposition, Bund und Länder, daß wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) beim Vollzug
Wir haben einen neuen weiten Abfallbegriff ein- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Auch das
geführt. Er stößt nicht überall auf Begeisterung; das noch!)
muß man auch einmal sagen. Wir haben - Frau Cas- -des Kreislaufwirtschaftsgesetzes das Deregulierungs
pers-Merk, Sie wissen das - darüber eine sehr kon- und das Erleichterungspotential ausnutzen. Wir ha-
troverse Diskussion geführt, insbesondere darüber, ben gesagt, dies muß bei den untergesetzlichen Vor-
ob es nicht sinnvoller wäre, die Abfälle zur Verwer- schriften, also bei den Vollzugsvorschriften, realisiert
tung als Sekundärrohstoffe zu deklarieren. Bei mir werden. Das war bis vor einigen Monaten der Sach-
melden sich jetzt die ersten Unternehmen, die fest- stand.
stellen, daß sie nach dem alten Abfallrecht bisher
Wirtschaftsgüter gehandelt haben, daß durch das Das Bundesumweltministerium hat - wie ich finde,
neue Recht aber aus diesen Wirtschaftsgütern jetzt zu Recht - dieses Deregulierungspotential auch in er-
Abfälle zur Verwertung werden. Wir müssen diesen sten Vorentwürfen der Vollzugsvorschriften ange-
Unternehmen sagen, daß das neue Abfallrecht für sie sprochen. Dies betrifft insbesondere den Komplex
keine Erschwernis bedeutet, und gleichzeitig deut- der Anzeigepflicht anstelle der Genehmigungsbe-
lich machen, daß Abfall nicht der Müll von gestern dürftigkeit von Abfalltransporten. Ich unterstütze
ist, sondern ein umfassend handelbares, verwertba- das Anliegen - das auch von beteiligten Kreisen der
res und werthaltiges Wirtschaftsgut ist. Dies ist auch Wirtschaft vertreten wird -, auf Grund der strikten
eine zentrale Änderung des Kreislaufwirtschaftsge- Regelungen des Kreislaufwirtschaftsgesetzes auf
setzes. eine Genehmigungsbedürftigkeit zu verzichten.
Ebenfalls im Kreislaufwirtschaftsgesetz haben wir Unser gegenseitiges Versprechen, Frau Caspers
das Vermeidungsgebot festgelegt. Es wird zukünftig Merk, hat aber leider nicht gehalten.
sehr viel schwieriger sein, Produkte oder Abfälle, für (Marion Caspers-Merk [SPD]: Das ist für
die es einen Verwertungsmarkt gibt, einfach auf der Ihre Seite wohl zutreffend, denn Sie haben
Deponie abzuladen. Die Kommunen wollen zur Zeit bislang nichts vorgelegt!)
möglichst viel Abfälle, damit ihre Deponien noch voll
werden, bevor die neuen gesetzlichen Regelungen in - Frau Caspers-Merk, Sie selbst haben doch schon
Kraft treten. Dies führt dazu, daß Materialien, die an eine Presseerklärung darüber abgegeben, was an-
sich verwertbar sind, beispielsweise Altfenster, zu geblich nicht vorgelegt worden ist. Somit kann das
Dumpingpreisen auf Deponien abgelagert werden nicht aus der Luft gegriffen sein.
und der Verwertungsweg verschlossen wird.
Die Länder erklären mit großer Mehrheit, daß sie
Mit dem Inkrafttreten des Kreislaufwirtschaftsge- an der Deregulierung gar nicht mehr so interessiert
setzes wird zumindest dies rechtlich problematisch, sind und daß sie nach dem Motto „Mein Müll gehört
8738 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Steffen Kampeter
mir" die Hand weiterhin auf den Abfalltransporten der gestrigen großen Debatte, einer Sachverständi-
haben möchten. genanhörung, im Umweltausschuß.
Wer die Pressemeldungen verfolgt, der wundert Die Ergebnisse aus Sicht der Koalition lassen sich
sich schon. In Rheinland-Pfalz gibt es eine sehr agile wie folgt zusammenfassen: Es besteht keine Notwen-
Umweltministerin, die vor einigen Monaten einen digkeit, diese, hohe Qualitätsziele für unsere Depo-
tollen Artikel darüber geschrieben hat, was im Im- nien festlegende Vorschrift zu ändern. Wir können es
missionsschutzrecht und bei den Genehmigungsver- nicht verantworten, eine Reaktordeponie einzurich-
fahren alles dereguliert werden müßte. Die gleiche ten, die in 20 oder 25 Jahren zusätzliche umweltpoli-
Umweltministerin, Frau Martini, erklärt heute groß, tische Probleme verursacht. Weil wir umweltpolitisch
Deregulierungen im Abfallrecht gingen nicht, sie verantwortungsvoll handeln, müssen wir sehr sorg-
wolle weiterhin kontrollieren, und stellt dies in einen sam darauf achten, welche Vorbehandlungstechno-
ganz interessanten Zusammenhang. Sie stellt fest, logie hier zugelassen wird. Nach den bisherigen
daß sie in bestimmten Anlagen in Rheinland-Pfalz Qualitätserfordernissen erfüllt nur die Müllverbren-
Auslastungsprobleme hat. Das heißt: Hier wird ver- nung diese hohen umweltpolitischen Qualitätsziele.
sucht, Abfälle im Land zu behalten, damit die Ko- Herr Rochlitz, ich fand es schon beeindruckend,
stenrechnung hinterher stimmt; gleiches gilt im übri- daß sich der von Ihnen benannte Sachverständige in
gen für die nordrhein-westfälische Umweltministerin der Anhörung als entschiedener Befürworter der
Höhn. Abfälle verlassen ein Land aber nur dann, Müllverbrennung dargestellt hat. Selten hat ein von
wenn es anderswo kostengünstigere Entsorgungs- den Grünen benannter Sachverständiger im Umwelt
möglichkeiten gibt. ausschuß so viel Zustimmung von seiten der Koali-
-
tion erhalten.
Die Landesumweltminister wollen also den Bürger
zwingen, teurer zu entsorgen, als es eigentlich ist. Blicken wir doch einfach einmal ins Land: Die Zu-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da wird stimmung zur Müllverbrennung steigt.
nicht dereguliert, zudem bürden diese Länder den
Bürgern zusätzliche Kosten auf. Ich komme aus dem Regierungsbezirk Detmold.
Die dortige erste grüne Regierungspräsidentin, die
Ich kann die Bundesregierung nur nachdrücklich ehemalige Kollegin Vennegerts, hat in der Presse er-
bitten, wenn diese Entwürfe dem Bundesrat zugelei- klärt, sie wolle, daß der gesamte Bezirk seinen Müll
tet werden, an dem ursprünglichen Vorhaben, die zur Müllverbrennung in Bielefeld bringt. Da ich der
Genehmigungsbedürftigkeit fallen zu lassen und grünen Regierungspräsidentin in Bielefeld nicht un-
durch eine Anzeigepflicht zu ersetzen, festzuhalten. terstellen mag, daß sie Wirtschaftsaspekte über Ge-
In den Beratungen des Bundesrates muß sich zeigen, sundheits- und Umweltaspekte stellt - das wäre ja
was die Bundesländer tatsächlich von Deregulierung vermessen -, scheint die Müllverbrennung für die
und Erleichterung für die Wirtschaft in Deutschland grüne Regierungspräsidentin Vennegerts eine ge-
halten oder ob sie nur in Sonntagsreden davon spre- sundheitlich und umweltpolitisch zulässige Option
chen. der Abfallwirtschaftspolitik zu sein.
Ein zweiter wichtiger Aspekt bei diesem unterge- Auch hier im Regierungsbezirk Köln, meine sehr
setzlichen Regelwerk ist die Regelung über den Ent- verehrten Damen und Herren, tobt eine sehr interes-
sorgungsfachbetrieb. Das soll eine Art Gütesiegel sante Auseinandersetzung um den Vollzug einer
für in der Abfallwirtschaft Tätige sein. Hier müssen rechtskräftigen Genehmigung für eine Müllverbren-
wir - das ist mein Appell an die Bundesregierung - nungsanlage. Mit großem Respekt sehe ich, daß der
sehr sorgsam zwischen den umweltpolitisch notwen- derzeitige Kölner Regierungspräsident Antwerpes
digen Auflagen, die wir diesen Unternehmen ma- sagt, für seine Region sei die Müllverbrennung die
chen, und der Gefahr die daraus erwächst, hier zu- Vorbehandlungstechnologie, die verantwortbar sei,
sätzliche Konzentrationen zu realisieren, abwägen. und sich deswegen sehr entschieden, auch gegen
den Widerstand der grünen Umweltministerin, die
In einem Gespräch, das ich vor einigen Wochen hier noch etwas Nachhilfeunterricht verdient, dafür
geführt habe, ist gesagt worden, man müsse jetzt einsetzt.
schon einen Doktortitel haben, um in der Entsor- Deswegen sollten wir gemeinsam unsere hohen
gungswirtschaft tätig werden zu können, wenn diese umweltpolitischen Qualitätsziele nicht verlassen,
Vorschriften gelten. Das kann nicht Ziel unserer Bun- sondern wir sollten weiter daran arbeiten, daß die
desregierung sein. Hier müssen wir sehr sorgfältig Deponien künftig auch vertretbar behandelt werden.
das Nötige und das Mögliche gegeneinander abwä- Das setzt eine gesundheitspolitisch, umweltpolitisch
gen. Dann, Frau Kollegin Caspers-Merk, bin ich zu- und auch wirtschaftlich vertretbare Form der Müll-
versichtlich, daß unsere gemeinsame Zielsetzung, verbrennung voraus.
die Sie vor kurzem in einer Presseerklärung nieder-
gelegt haben, nämlich dieses Gesetz im Oktober in Meine sehr verehrten Damen und Herren, Abfall-
Kraft treten zu lassen, tatsächlich wird realisiert wer- wirtschaft ist in Bewegung. Wir müssen gemeinsam
den können. dafür Sorge tragen, daß sie für den Bürger bezahlbar
ist. Umweltschutz hat seinen Preis. Wir dürfen aus
Lassen Sie mich noch kurz zu einem anderen wirtschaftlichen Erwägungen keinen Discount ge-
Punkt Stellung nehmen, nämlich zur Technischen ben. Dies gilt gerade auch für die Forderung zur No-
Anleitung Siedlungsabfall, die die Deponiestan- vellierung der Technischen Anleitung Siedlungsab-
dards in Deutschland festlegt. Das war Gegenstand fall.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8739
Steffen Kampeter
In diesem Sinne sollten wir an den gesetzlichen Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch der inflatio-
Rahmenbedingungen auch vor dem Hintergrund der näre Fremdwortgebrauch in diesem Satz kann über
Investitionssicherheit für die entsorgungspflichtigen eines nicht hinwegtäuschen: Es geht Ihnen darum,
Körperschaften festhalten. den zentralen Gedanken der Produktverantwor-
tung, den die SPD während ihrer Verhandlung zum
Lassen Sie mich zum Ende kommen, Herr Präsi-
Kreislaufwirtschaftsgesetz verankern und durchset-
dent. Die Abfallwirtschaft befindet sich auf einem
zen konnte, nicht mehr ernstzunehmen. Es ist der
guten Wege. Wir haben keinen Anlaß, Abstand von Kernpunkt unserer Kritik, daß Sie die Chancen, die
unserer erfolgreichen Kreislaufwirtschaftspolitik zu
Ihnen das Kreislaufwirtschaftsgesetz ermöglicht
nehmen.
hätte,
Ich bedanke mich.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Realität
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sieht ganz anders aus, Frau Caspers-Merk!)
So ist in der Antwort auf unsere Große Anfrage zur - Lassen Sie mich meinen Gedanken noch zu Ende
Umsetzung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallge- bringen, dann lasse ich eine Zwischenfrage gerne zu.
setzes schon in der Vorbemerkung zu lesen - ich zi-
tiere wörtlich: Bei Altautos passiert genau dasselbe: jahrelanges
Gezerre. Jetzt wird eine freiwillige Vereinbarung
Durch überhastetes Einführen der Produktver- vorgelegt, die den Namen nicht verdient. Denn sie ist
antwortung in Einzelbereichen könnte die nach eigentlich nur ein Zusatzargument - wenn man näm-
Auffassung der Bundesregierung für die Ent- lich nur ein zwölf Jahre altes Auto abgeben darf - für
wicklung des Wirtschaftsstandortes Deutschland ein weiteres Anwachsen der Verkaufszahlen und hat
wichtige neue Zielsetzung bereits in der Initial- ökologisch überhaupt keinen Sinn. Die Holländer
phase diskreditiert werden. sind da besser; denn sie haben zum 1. Januar 1995
8740 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Marion Caspers-Merk
eine Altautoverordnung vorgelegt, die flächendek- nung und im Dezember letzten Jahres eine Große
kend gilt. Anfrage zur Umsetzung von Kreislaufwirtschafts-
und Abfallgesetz gemacht. Wir haben zum Thema
(Beifall bei der SPD)
Verbringung von Abfällen in Bergwerke - das ist ein
großes Problem, weil hier natürlich ein Ausweg ge-
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Kampeter, sucht wird und immer größere ungeordnete Mengen
bitte, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage. auf diesen Entsorgungspfad geführt werden - bereits
letztes Jahr einiges vorgelegt.
Steffen Kampeter (CDU/CSU): Frau Kollegin Ca- Von Ihnen sind seit dieser Zeit keine Initiativen
spers-Merk, Sie kritisieren, daß die Bundesregierung dazu gekommen. Sie haben noch nicht einmal auf
keine freiwillige Vereinbarung vorgelegt hat. Ist Ih- diese Initiativen reagiert. Schon in der letzten Legis-
nen denn eigentlich nicht klar, daß eine solche frei- laturperiode haben wir Vorschläge für Altauto-, Bat-
willige Vereinbarung erst einmal von der Wirtschaft terie- und Elektronikschrottverordnungen miteinan-
angeboten werden muß - wie dies auch im Bereich der diskutiert und vorgelegt. Von Ihrer Seite ist in
der Automobilverwertung von seiten der Automobil- keinem Punkt darauf reagiert worden. Sie haben die
industrie oder im Bereich des Klimaschutzes von der Zeit von Oktober 1994 bis jetzt nicht genutzt, um in
gesamten deutschen Wirtschaft erfolgt ist -, bevor der Kreislaufwirtschafts- und Abfallpolitik voranzu-
die Bundesregierung tätig werden kann, und daß die kommen und sie zu einem Element der Innovation
Bundesregierung erst dann entsprechende flankie- und des Fortschritts in der Umweltpolitik zu nutzen.
rende Maßnahmen für eine freiwillige Vereinbarung
mit der Industrie vorlegen kann? - Die Spatzen, Herr Kollege Hirche, pfeifen es doch
von den Dächern
(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: So läuft
Politik!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Die
schwarzen!)
Marion Caspers Merk (SPD): Herr Kampeter, ent-
- - die schwarzen Spatzen; richtig -, daß Sie sogar eine
weder Sie sind so naiv oder Sie machen sich naiver, Consulting-Firma einschalten müssen, um in Ihrem
als Sie als Politiker eigentlich sein dürften. Haus überhaupt diese untergesetzlichen Verordnun-
gen rechtzeitig vorlegen zu können, damit das bloße
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
Gesetz überhaupt vollziehbar wird. So nimmt es
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
nicht wunder, daß die Wirtschaftskreise und der
Natürlich hat man das Folterinstrument „Verord- Städtetag eine Verschiebung des Inkrafttretens for-
nung" im Hintergrund, und dann werden die freiwil- dern. Ich habe Verständnis für die Verunsicherung,
ligen Vereinbarungen zunächst angeboten. Wenn weil bislang mit ihnen überhaupt nicht ausführlich
man sich aber fünf Jahre lang wie ein Tanzbär durch diskutiert wurde und weil die Zeit nicht genutzt
die Republik führen läßt, dann braucht man sich wurde. Kein Verständnis habe ich für die gezogene
über die Ergebnisse nicht zu wundern. politische Konsequenz.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die SPD wird jedenfalls das lange Nichtstun nicht
DIE GRÜNEN) zum Anlaß nehmen, Sie aus der Verantwortung für
die Umsetzung eines Gesetzes zu entlassen. Wir for-
Die eigentliche Vetomacht bei diesen Verordnun- dern: Nutzen Sie die Zeit; legen Sie die Verordnun-
gen - das müßten Sie besser wissen als ich - liegt gen vor, vor allen Dingen nicht nur rein technische
beim Bundeswirtschaftsministerium, und die Gestal- Regelwerke, sondern auch die Punkte, die zur inhalt-
tungsmacht liegt bei den betroffenen Verbänden. lichen Ausgestaltung der Produktverantwortung nö-
Diese haben sehr wohl gemerkt, daß, wenn man im- tig sind.
mer wieder Bedenken vorträgt, immer wieder sagt,
es sei noch zu früh, man könne so schnell nicht und Wenn Sie in diesem Haus auf unsere Vorschläge
dies gefährde den Wirtschaftsstandort, Sie überhaupt nicht eingehen, dann ist das sehr, sehr töricht. Denn
nicht in der Lage sind - weil die Bundesumweltmi- Sie brauchen ja unsere Unterstützung im Bundesrat.
nisterin nicht die Kraft hat, dies am Kabinettstisch Sie wissen ganz genau, daß der Bundesrat in sehr
durchzusetzen -, die Verordnung greifen zu lassen, scharfer Form bereits Mitte letzten Jahres die Vor-
wenn sich die freiwillige Vereinbarung nicht durch- lage dieser untergesetzlichen Regelwerke zum Kreis-
setzt. laufwirtschaftsgesetz eingefordert hat und daß er
darauf gedrungen hat, daß man möglichst rechtzeitig
Interessant ist bei dieser heutigen Abfalldebatte, mit gemeinsamen Gesprächen beginnt. Auch diese
daß wir über zahllose Anträge der Opposition disku- Chance ist von Ihnen wiederum nicht genutzt wor-
tieren, aber über keinen einzigen Antrag der Bun- den.
desregierung, über keine einzige Initiative aus den
Regierungsfraktionen. Ich frage mich, wo eigentlich (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt
die Abfallpolitikerinnen und -politiker der F.D.P. und doch nicht! Die Gespräche haben seit dem
der CDU/CSU ihre Vorschläge vorgelegt haben. letzten Jahr stattgefunden! Das wissen Sie
doch!)
Wir haben schon im Oktober letzten Jahres einen
Antrag zur Novellierung der Verpackungsverord- - Die Anhörung hat erst jetzt stattgefunden. Insge
nung vorgelegt, im November letzten Jahres einen samt hat sie das Ergebnis gehabt, daß man auf Vor
Vorschlag zum Erlaß einer Getränkemehrwegverord- schläge gar nicht eingeht. Es genügt ja nicht, nur
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8741
Marion Caspers-Merk
etwas vorzulegen. Wenn man die andere Seite Sie kümmern sich eigentlich nur um die betriebswirt-
braucht, dann muß man sich auf deren Argumente schaftliche Seite des DSD.
zumindest einlassen und in einem konstruktiven Dia-
log versuchen, eine gemeinsame Linie in der Abfall- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wollen Sie
politik zu finden. die betriebswirtschaftliche Seite etwa nicht
ins System bringen?)
Für uns steht im Zentrum der Diskussion - weil das
natürlich die längste Geschichte hat - die Novellie- Die ökologische Seite bleibt bei Ihnen außen vor.
rung der Verpackungsverordnung. Wir haben in un- (Beifall bei der SPD)
serem Antrag die Frage gestellt, wie Verpackungen
zukünftig aussehen müssen, um auf diesem Sektor Wir haben schon in vielen Punkten Kritik angemel-
zu einer nachhaltigen, ressourcenschonenden und det. Ich werde hier nur noch drei Punkte nennen.
Stoffkreisläufe schließenden Entwicklung zu kom-
men. Außerdem haben wir uns die Frage gestellt, mit Erstens. Sie haben die abfallwirtschaftlichen Ziele
welcher Organisationsform wir am vernünftigsten der alten Verordnung aufgeweicht.
unsere abfallpolitischen Ziele umsetzen können, und Zweitens. Sie haben die Möglichkeit der Freistel-
schließlich, wie wir die Akzeptanz der Bürgerinnen lung für das DSD, die bislang automatisch entfiel,
und Bürger, die doch im Moment wegen der Kosten wenn bestimmte Mehrwegquoten nicht eingehalten
des Grünen Punktes und wegen der Undurchsichtig- werden, in eine lockere Kann-Bestimmung umge-
keit des DSD im Sinken begriffen ist, wiedergewin- wandelt.
nen können. Wir haben unsere Vorschläge in einem
Antrag vorgelegt. Drittens. Sie haben entgegen der bisherigen Rege-
lung keine Unterscheidung mehr zwischen stoffli-
Ich nenne nur die fünf oder sechs wichtigsten cher und energetischer Verwertung in Ihrem Entwurf
Punkte. vorgesehen.
Wir wollen erstens, daß die Vermeidung von Ver- Sie haben die qualitativen Anforderungen an Ver-
packungsabfällen oberste Priorität hat und daß dies packungen auf breiter Front zurückgefahren.
auch im Ziel des Gesetzes ausgedrückt wird. Des-
halb haben wir Anforderungen an Verpackungsma- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dann haben
terialien formuliert. Sie es nicht verstanden!)
Zweitens. Die Verantwortlichen für die Umsetzung Die Dosenproblematik wird von Ihrer Seite über-
der Ziele in den Betrieben müssen eindeutig be- haupt nicht angegangen. Es ist schon ein seltsamer
stimmt werden und sich der Verantwortung für ihre Vorgang, daß Sie praktisch wieder ein Gutachten in
Produkte bewußt sein. Auftrag geben, ohne etwas zu tun.
Drittens. Die Packmittel, die Verpackungsmateria- Wir fordern in der Abfallpolitik von Ihrer Seite Ta-
lien müssen als Werkstoff wiederverwertbar sein. ten statt dauernd Entwürfe; denn diese erhöhen nur
den Papierberg und den Wortmüll.
Viertens. Auf dem Verpackungsabfallmarkt muß
mehr Wettbewerb und eine Transparenz der Geld- Vielen Dank.
und Mengenströme gewährleistet werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Fünftens. Der Ausbau und ein wirksamer Schutz DIE GRÜNEN)
von Mehrwegsystemen ist ein wichtiger Baustein für
die Vermeidung von Verpackungsabfällen. Deshalb
fordern wir flankierend zur Novellierung der Verpak- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kolle-
kungsverordnung den Erlaß einer Getränkemehr- gin Birgit Homburger.
wegverordnung.
(Widerspruch der Abgeordneten Birgit
Was haben Sie in dieser Zeit eigentlich getan? In Homburger [F.D.P.] und Ulrich Heinrich
dem von Ihnen vorgelegten Entwurf - wieder einmal [F.D.P.])
ein Entwurf, der nur die Papierberge erhöht und den
- Entschuldigung, die Liste ist geändert worden,
Wortmüll steigert - zur Novellierung der Verpak-
nicht aber das Exemplar, das mir vorliegt. Die Ver-
kungsverordnung ist von Vermeidung, Ressourcen-
einbarung ist offenbar, daß Sie, Herr Kollege
schonung und dem Einstieg in eine echte Kreislauf-
Dr. Jürgen Rochlitz, jetzt das Wort nehmen. Bitte.
wirtschaft überhaupt keine Rede mehr.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stand Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
schon in Ihrer Presseerklärung! Das war Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und
damals schon falsch!) Herren! Nirgendwo sonst wird die defensive und
Ein grundsätzlicher Wandel hin zu mehr Umweltver- farblose Umweltpolitik der Bundesregierung derart
träglichkeit findet eben nicht statt, im Gegenteil. Es zur Schönfärberei gewendet wie in der Abfallpolitik.
werden unter ökologischen Gesichtspunkten Ver-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist
schlechterungen vorgeschlagen. Ziel Ihres Entwurfes
Wortmüll, was Sie da vortragen!)
ist es, einen neuen juristischen Rahmen zu zimmern,
der dem DSD das Leben erleichtert, weil er soge- Während der Vorgänger von Frau Merkel von
nannte Trittbrettfahrer ins System bringt. Das heißt: einer Ankündigung zur nächsten hüpfte, nur um die
8742 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Dem Kreislaufwirtschaftsgesetz fehlt die streng ver- (Birgit Homburger [F.D.P.]: Für was haben
bindliche Prioritätsabfolge. - Herr Kampeter, lesen wir eigentlich die Anhörung am Mittwoch
Sie es einmal genau nach. Sie fehlt dort: Vermeidung gemacht? Das war gestern!)
vor werkstofflicher Verwertung, werkstoffliche Ver--
wertung vor rohstofflicher Verwertung, Nutzung als Nicht nur CDU-Bürgermeister - F.D.P.-Bürgermei-
Ersatzbrennstoff und Beseitigung ganz zum Schluß. ster gibt es ja kaum noch - und CDU-Kreisräte an der
vordersten abfallwirtschaftlichen Front würden es Ih-
Ihm fehlen weiterhin stoffstrombezogene und pro- nen danken
duktbezogene Kreislaufführung. Weder ein Verzicht
auf abfallträchtige Produkte und Produktionen noch (Zuruf der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.])
die Bevorzugung langlebiger Produkte zum Beispiel
in der öffentlichen Verwaltung oder in den Institutio- - auch Ihre, wenn Sie sie hätten, Frau Homburger -,
nen des Bundes noch die Erhöhung der Intensität der wegen der niedrigen Müllgebühren allemal, aber
Produktnutzung wird auch nur ansatzweise berück- auch angesichts der überall sichtbaren unausgelaste-
sichtigt. Ja, schlimmer noch: Dem Gesetz fehlt so- ten Müllöfen.
wohl das Primat der Ökologie als auch jeglicher An-
satz für eine Basis der Nachhaltigkeit. Auch jetzt Aber die Kommunen in Osteuropa können sich
würde die Umweltministerin nur lächeln, wenn sie keine Müllverbrennungsanlage leisten. Ihre Müllver-
hier wäre. brennung ist das Abfackeln auf der Deponie. Fahren
Sie einmal nach Ungarn oder Polen! Auch für sie
Das Gesetz ist ein komplexer Torso geblieben. Die müssen wir durch Forschungs- und Entwicklungsar-
mit Hast zusammengebastelten Verordnungen wer- beiten den ökologischeren und billigeren Weg be-
den weder von den Kommunen noch von den mei- schreiten. Der heißt nun einmal biologisch-mechani-
sten Ländern rechtzeitig umgesetzt werden können. sches Behandeln.
Eine Verschiebung des Inkrafttretens - es wurde
schon davon gesprochen - wird damit unausweich- (Birgit Homburger [F.D.P.]: Altlasten heißt
lich. das!)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Frau Wenn wir nicht in diesem Sinne den Kommunen in
Caspers-Merk ist mit uns der Meinung, im Osteuropa helfen, wird sich die Methode der Müll-
Oktober solle es in Kraft treten!) verbrennungsdeponien dort nicht ändern, dann geht
Statt dazu die Rücknahme- und Verwertungsver- es weiter so.
ordnung für Altautos und Elektronikschrott zu erlas-
sen, werden auch in den Augen des Sachverständi- Herr Staatssekretär, auch das können Sie Ihrer Mi-
genrates völlig unzulängliche freiwillige Vereinba- nisterin ausrichten, und das ist nicht zum Lachen:
rungen getroffen. Lassen Sie sich nicht weiter auf naturwissenschaft-
lich falscher Basis vom Wasser-Boden-Luft-Institut
Wir sehen ein: Die Regierung ist überfordert. Der des Umweltbundesamtes beeinflussen! Die naturwis-
Herr Staatssekretär ist überfordert. Die Frau Ministe- senschaftliche Scharlatanerie, die dort geboten wird,
rin kommt nicht einmal zu dieser Abfalldebatte und haben wir uns im Umweltausschuß anhören können.
ist überfordert. In der Tat, Herr Kampeter, auf unseren Wunsch hin
ist der entsprechende Mann eingeladen worden. Las-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr sen Sie sich nicht weiter weismachen, daß selbst
Rochlitz, wie gut, daß Sie nicht überfordert Hochtemperaturverbrennungen ohne zusätzliche
sind!) fossile Energieträger bewerkstelligt werden könnten!
Daher legen heute wir und nicht Sie, Herr Kampeter, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist
die auch von den sechs Umweltweisen für erforder gestern im Ausschuß noch einmal überlegt
lich gehaltenen Verordnungen für Altautos und Elek- worden!)
8744 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Da werden die
Damen und Herren der Opposition überfor
dert sein!)
Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Homburger, ich nehme an, daß Sie auch ein biß- das Mehrwegsystem muß stabilisiert werden, und die
chen an den Koalitionsgesprächen jetzt in Stuttgart Novellierung der Verpackungsverordnung ist not-
beteiligt sind. Da würde mich interessieren, ob Ihre wendig, um erstens bessere Sanktionen gegen Tritt-
Ausführungen so zu interpretieren sind, daß Sie dort brettfahrer zu schaffen. Da scheint Einigkeit zu herr-
dafür eintreten werden, daß die in Baden-Württem- schen. Es ist ein Skandal, daß die Bundesländer nicht
berg vor einiger Zeit eingeführte Sondermüllabgabe im Traum daran denken, diejenigen, die ohne Li-
abgeschafft wird. zenzentgelt ihre Verpackungen vom Dualen System
entsorgen lassen, zur Rechenschaft zu ziehen. Schon
nach der geltenden Rechtslage sind diese Firmen zur
Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Kollege Rochlitz, Rücknahme ihrer Verpackungen verpflichtet; nur
ich will Ihnen dazu eines sagen: Wenn wir eine Ent- kümmert sich keine Vollzugsbehörde darum. Das ist
wicklung haben, daß die Abfallmengen rückläufig bewußte Verweigerung, und deswegen sage ich: Wir
sind, daß auch die Sonderabfallmengen rückläufig müssen die Jäger zum Jagen tragen.
sind, und wenn wir erreichen wollen, daß eine Ab-
gabe in eine bestimmte Richtung lenkt, und wenn Zweitens ist nach Ansicht der F.D.P. mehr Wettbe-
der Lenkungseffekt eingetreten ist, dann muß man werb in der Entsorgungswirtschaft zu verwirklichen.
sich darüber unterhalten, ob die betreffende Abgabe Wichtige Elemente, wie kürzere Vertragslaufzeiten,
weiter notwendig ist oder nicht. Ausschreibungspflichten und Kostentransparenz
sind ja unter anderem auf Druck der F.D.P. im Ent-
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wurf des Bundesumweltministeriums enthalten. Wir
DIE GRÜNEN) werden jetzt sorgsam prüfen, ob dies ausreicht.
8746 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Birgit Homburger
Im übrigen ist es nicht so, daß erst jetzt eine Anhö- schaft und Behörden kaum Vorbereitungszeit haben.
rung stattgefunden hätte. Das war schon im letzten Das liegt an vielem. Aber ich sage dazu auch: Es
Jahr ein ständiger Kommunikationsprozeß, so daß wäre schneller gegangen, wenn sich die Länder
man also überhaupt nicht sagen kann, daß erst jetzt nicht so heftig gegen die von uns beabsichtigte Ver-
irgend etwas gemacht oder zusammengeschustert fahrensvereinfachung und Entbürokratisierung ge-
worden sei. Vielmehr hat man sehr intensiv mit den wehrt hätten. Sie wollen durch die Genehmigungs-
beteiligten Kreisen diskutiert. pflichten weiterhin die Abfälle in ihre landeseigenen
Anlagen zu Lasten der privatwirtschaftlichen Anla-
Dazu kommt allerdings auch einiges, was man gen und ihren Arbeitsplätzen lenken. Ein Beispiel
noch weiter überprüfen muß. Zum Beispiel geht die habe ich genannt: Baden-Württemberg. Ein anderes
Abgrenzung des Tätigkeitsbereiches des Dualen Sy- Beispiel hierzu wäre Niedersachsen.
stems zu dem gewerblichen Bereich in dem Entwurf
zur Novellierung der Verpackungsverordnung jetzt Besonders dreist ist es, sich dazu gesetzlicher An-
weit über die Definition des Bundeskartellamtes hin- dienungspflichten zu bedienen. Da muß man einfach
aus. Ich sage ganz klar und deutlich: Hier sehe ich ganz klar festhalten: Es ist nicht Aufgabe des Staates,
Nachbesserungsbedarf. Ich sage für die F.D.P., daß der Privatwirtschaft Konkurrenz zu machen.
wir keinerlei Interesse daran haben, das Duale Sy-
stem noch auszudehnen. Wir wollen auch in Zukunft Beim Ausbau der Produktverantwortung sind wir
Märkte für Entsorger außerhalb des Dualen Systems entscheidende Schritte vorangekommen. Eine erste
erhalten. Deswegen ist es wichtig, an der Stelle noch Selbstverpflichtung für die kostenlose Rücknahme
einmal über die Definition zu reden. von Elektronikschrott im Bereich der Bürokommuni-
kationsgeräte liegt vor. Die schlanke Begleitverord-
Die Frage der Quoten ist ein schwieriges Feld. Wer nung ist in Vorbereitung. Ich hoffe sehr, daß für die
dazu im übrigen die sehr nachdenklichen Ausfüh- weiße und braune Ware bald ähnliche Regelungen
rungen des Umweltsachverständigenrats nachliest, gefunden werden.
wird sich vor schnellen Patentrezepten hüten müs-
sen. Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz haben wir Ich muß aber auch sagen: Der von den Grünen vor-
den Vorrang für die ökologisch wertvollere Verwer- gelegte Entwurf einer Elektronikschrott-Verord-
tung gesetzt. An diesem Maßstab müssen sich Quo- nung ist schon ganz wunderbar. Er hat nur einen ein-
ten ausrichten. Deshalb warne ich vor Schnellschüs- zigen Fehler: Die Lösung für alle Produkte funktio-
sen. niert nicht. Man kann eben nicht hergehen und sa-
gen: Wir machen das realpolitisch und schreiben so
Für die F.D.P. steht auch fest: Wo wir mit Quoten ab, wie wir es uns ganz in den Anfängen gedacht ha-
Vertrauenstatbestände geschaffen haben, wo Investi- ben. Man muß schon die Entwicklung mit sehen.
tionen getätigt und Arbeitsplätze geschaffen wur- Dort hat sich ganz klar gezeigt, daß eine Lösung für
den, müssen wir Verläßlichkeit beweisen. Das hat alle Produkte nicht funktioniert. Kurzlebige und
der Kollege Kampeter vorher zu Recht schon ange- langlebige Produkte oder kleine und große, unter-
sprochen. Radikale Forderungen nach Abschaffung schiedliche Hersteller und Vertriebsstrukturen lassen
aller Quoten in der Verpackungsordnung finden da- sich nicht in einen Topf werfen. Das ist doch der
her nicht unsere Zustimmung. Grund für die Verzögerungen. Wer dies ignoriert, hat
schlicht eine ganz grenzenlose wirtschaftliche Naivi-
Nur muß man sagen: Derart differenzierte Betrach- tät.
tungen sind den Grünen wegen ideologischer Scheu-
klappen immer noch nicht zugänglich. Ihre starren
Prioritäten - Sie haben es eben wieder vorgetragen - Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin
lauten: werkstoffliche, rohstoffliche und energetische Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Verwertung ohne Differenzierung nach Materialien. Kollegin Altmann?
Das ist wissenschaftlich in keiner Weise begründet.
Ihr Hauptzeuge, der Umweltsachverständigenrat, Birgit Homburger (F.D.P.): Ja.
plädiert sogar dafür, je nach Rohstoffqualität Verpak-
kungsabfälle in Müllverbrennungsanlagen mit Ab- Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wärmenutzung zu verbrennen. Ich habe allerdings NEN): Gilt Ihre Kritik, die Sie gerade zur Elektronik-
nicht die Hoffnung, daß Sie dies dazu bringt, Ihre Po- schrott-Verordnung vorgebracht haben, auch für den
sitionen einmal zu überdenken. von den Grünen vorgelegten Entwurf zur Altautover-
Hier zeigt sich das Problem der Grünen. Ideologie ordnung?
behindert die Vernunft. Die F.D.P. zieht rationale Um-
weltpolitik vor. Birgit Homburger (F.D.P.): Ich sage Ihnen ganz
deutlich, daß wir bei den Vorlagen, die Sie machen -
(Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten
und das gilt ganz generell, da brauchen Sie nicht nur
der CDU/CSU - Lachen bei der SPD und
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die zwei zu nehmen -, ständig neue Genehmigungs-
verfahren, ständig neue Überwachungen, ständig
Deshalb sehe ich auch keinen Grund, das Inkraft- neue Vorschriften und eine Regulierungsflut ohne
treten des Kreislaufwirtschaftsgesetzes zu verschie- Ende feststellen, die der Umwelt in keiner Weise
ben und es zu novellieren, wie es die Grünen wollen. nützt. Deswegen bleibt im wesentlichen für alle Ihre
Aber ich stimme darin zu, daß die untergesetzlichen Anträge, die Sie hier stellen, festzuhalten, daß Sie im-
Vollzugsregelungen sehr spät kommen, so daß Wirt- mer mehr Staat wollen und immer mehr Regulierung,
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8747
Birgit Homburger
aber letztlich der Umwelt damit nicht besonders nüt- Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
zen. NEN): Frau Homburger, Sie haben dankenswerter-
weise gerade auch ausführlich die Anträge zur Alt-
(Zuruf der Abg. Michaele Hustedt [BÜND- autoverordnung kritisiert. Ich möchte Sie nur davon
NIS 90/DIE GRÜNEN]) in Kenntnis setzen, daß wir wortwörtlich die Altauto-
- Nein, das ist mir schon klar. Ich sage nur, es gilt ge- verordnung der CDU/CSU eingebracht haben. Inso-
nerell. Man kann nachweisen - das habe ich Ihnen in fern kann ich das eigentlich nur als eine Kritik an der
den letzten Debatten, die wir hier geführt haben, an Koalition werten. Ansonsten bleibt mir der Sinn Ihrer
Hand von einzelnen Anträgen immer wieder gezeigt -, Ausführungen verborgen.
daß das unnötig und überbürokratisiert ist. Dabei Wir können eigentlich nur sagen, daß die Verord-
bleibe ich auch, und ich denke, daß das Ihr Kennzei- nung von 1994, die Herr Töpfer damals eingebracht
chen, Ihr Markenzeichen ist und weiter bleibt. hat, aus unserer Sicht richtige Punkte enthält, ein
Schritt in die richtige Richtung ist, und wir bedauern,
Über das, was Sie aktuell vom Umweltministerium
daß dieser Sinneswandel hinsichtlich dieser Kuhhän-
abschreiben, kann man sich im einzelnen noch ein-
del, die sich bei Ihnen dann Selbstverpflichtungen
mal unterhalten. Aber darüber haben wir noch nicht
im einzelnen diskutiert. nennen, stattgefunden hat.
Insofern möchten wir Ihnen gern ein bißchen beim
Es bleibt dabei: Eine Lösung für alle Produkte Regieren helfen und haben die Verordnung einge-
funktioniert schlicht und ergreifend nicht. Das ist ein- bracht. Nun haben wir gehört, daß die F.D.P. inner-
fach eine Feststellung. Deswegen ist das, was Sie halb der Koalition scharfe Kritik daran übt. Jetzt wird
jetzt vorgelegt haben, einfach keine Lösung. es etwas klarer. Ich kann Ihnen nur ankündigen:
Das gleiche gilt für die von der SPD vorgeschla- Über den Bundesrat werden wir hoffentlich zu einer
gene Getränkemehrwegverordnung. Ihr Entwurf ist Altautoverordnung mit dem Gedankengut der CDU
letztlich ein Placebo; denn Sie wissen ganz genau, kommen.
daß dieser Entwurf bei der EG-Kommission keine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Chance hätte. Dies hat sie schon 1991 zu dem dama-
ligen Entwurf von Minister Töpfer klar gesagt, und
das gilt erst recht, nachdem wir eine EG-Verpak- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin
kungsrichtlinie haben. Homburger, Sie können darauf antworten.
Die Gefährdung des Mehrwegsystems durch den Birgit Homburger (F.D.P.): Ich habe Ihnen, Frau
Vormarsch des Dosenbieres nimmt die F.D.P. aller- Kollegin, meine Antwort schon vorher klargemacht:
dings sehr ernst. Mir ist vollkommen bewußt, daß Sie an manchen
(Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch!) Stellen schlicht abschreiben. Aber ich habe auch
deutlich gemacht, daß wir die Altautoverordnung, so
Deshalb suchen wir auch nach einem Instrument, wie sie vorliegt, noch nicht endgültig debattiert ha-
das hilft und das zulässig ist. Mit Illusionen ist den ben, nicht endgültig besprochen haben und daß wir
mittelständischen Brauereien, die einem Verdrän- an der einen oder anderen Stelle auch darüber disku-
gungswettbewerb auch - nicht nur, aber auch - tieren müssen, ob es so bleibt oder nicht.
durch Dumpingpreise für Dosenbier ausgesetzt sind,
Im übrigen hat das mit einem Kuhhandel, wie Sie
nicht geholfen. Das Beispiel Schweden wie auch ein
das nennen, überhaupt nichts zu tun. Wenn wir eine
Sachverständigengutachten zeigen, daß das Pfand
Lösung im Wege der Selbstverpflichtung finden und
nicht hilft, sondern sogar kontraproduktiv wirken
eine zusätzliche Regulierung von Staats wegen nicht
würde.
brauchen, dann ist es erfreulich, daß es einen Sinnes-
Für den Handel, dem hier die Hauptverantwortung wandel derjenigen gibt, die diese Selbstverpflich-
zufällt, wird Einweg mit Pfand vorteilhafter sein. Des- tung anbieten. Es gibt in der Bundesrepublik also of-
halb ist es richtig, über zusätzliche Instrumente nach- fensichtlich Entwicklungen, in deren Zuge sich die
zudenken. Das tun wir auch gerade, das wissen Sie, Produzenten Gedanken über Abfallvermeidung und
das haben wir ja auch schon besprochen. Dies sollten Abfallverwertung machen und Entsprechendes an-
wir allerdings gemeinsam tun, weil wir wissen, daß bieten.
das, was bisher in der Verpackungsverordnung steht, Daß das natürlich nur erfolgt ist, weil wir in der
an dieser Stelle mit Sicherheit nicht reicht. Vergangenheit damit gedroht haben, daß wir anson-
Wir werden diese Debatte im Ausschuß fortsetzen. sten gesetzliche Maßnahmen ergreifen oder Verord-
Dabei wird die F.D.P. weiter für eine rationale Um- nungen erlassen, ist uns völlig klar. Deswegen haben
weltpolitik eintreten, mit der wir erfolgreich waren wir das oft genug angedroht für den Fall, daß nichts
und sind. Ideologie und Hysterie überlassen wir gern kommt. Aber wenn dann eine vernünftige Selbstver-
der grün-roten Opposition. pflichtung eingegangen wird, die unseren Anforde-
rungen entspricht, dann sollte man sie annehmen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Ich halte überhaupt nichts davon - wie Sie das bei
der Elektronikschrott-Verordnung von 1991 gemacht
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- haben -, alte Entwürfe einzubringen, wenn man
intervention erteile ich das Wort der Abgeordneten doch ganz genau weiß, daß eine solche Lösung der-
Gila Altmann. zeit wegen der Komplexität des Problems, wegen der
8748 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Birgit Homburger
unterschiedlichen Vertriebswege, der unterschiedli- Unsicherheit herrscht über den Gesetzesvollzug.
chen Größen, der unterschiedlichen Materialien so Dies wurde hier schon diskutiert. So wird die Gleich-
nicht möglich ist. stellung von stofflicher und energetischer Verwer-
tung von Abfällen in Verbindung mit den Forderun-
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ gen der TA Siedlungsabfall für ein gigantisches
DIE GRÜNEN]: Und wegen der unter- Müllverbrennungsprogramm sorgen. Wesentliche In-
schiedlichen Farben der Autos!) halte des neuen Abfallrechtes wurden nicht im Ge-
- Beim Elektronikschrott; ich bin beim Elektronik- setz verankert, sondern sollen über den Verord-
schrott, Herr Kollege. nungsweg, und zwar am Parlament vorbei, geregelt
werden. So weiß im Moment kaum jemand, was in
Insofern bleibe ich bei den Aussagen, die ich vor- Zukunft abfallrechtlich gehauen und gestochen wird.
her getroffen habe. Das, was die Grünen vorgelegt Ich bin gespannt, wie die Bundesregierung bis Okto-
haben, ist schlicht und ergreifend illusorisch. ber die zahlreichen Verordnungen noch aus dem Bo-
den stampfen will.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun erteile ich Der Umweltrat hat in seinem Jahresgutachten
der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter das Wort. 1996 mehrfach auf die Problematik hingewiesen,
übrigens auch darauf, daß sogar schon seit der
10. Wahlperiode für 17 Regelungsbereiche Verord-
Eva Bulling-Schröter (PDS): Herr Präsident! Liebe nungen zur Ausgestaltung des noch gültigen Abf all
Kolleginnen und Kollegen! Das nunmehr seit einem -gesetzes einer Verabschiedung harren; die modern
Jahr vorliegende Sondergutachten Altlasten macht wahrscheinlich schon. So kann man wohl getrost da-
vor allem eines deutlich: Auch ein wissenschaftlich- von ausgehen, daß für die Wirtschaft empfindliche
technologisch hochstehendes Land wie die Bundes- Bereiche des Abfallrechts auch nach Inkrafttreten
republik kann kaum erahnen, welches ökologische des Kreislaufwirtschaftsgesetzes ungeregelt bleiben.
Erbe es tatsächlich mit sich herumschleppt. Was in
Ost und West während jahrzehntelanger ungetrübter Wie bei den Altlasten ist im übrigen die Datenlage
Wachstumseuphorie nebenbei in die Böden versik- in der Abfallentsorgung weiterhin unbefriedigend.
kerte, was letztlich ins Grundwasser und gegebenen- Herr Kollege Rochlitz hat dazu ja schon einiges ge-
falls wieder in die Nahrungskette gelangte oder ge- sagt. Für mich liegt die Frage nahe, wieviel des offizi-
langen wird, das a ll es ist oft nur sehr vage bekannt. ell 19prozentigen Rückgangs des Abfallaufkommens
der Bundesrepublik von 1990 bis 1993 tatsächlich
Das Sondergutachten spricht von fehlenden soli- Realität ist.
den Daten. Der Umweltrat stellt fest, daß sich das
Ausmaß der Grundwassergefährdung nicht erken- Weiterhin gilt der Versatz von Abfällen unter Tage
nen läßt. Dabei stecke die Erfassung von Altlasten- nicht als Endlagerung von Abfällen, sondern als Ver-
standorten noch in der Anfangsphase. In welcher wertung. So werden letztlich auch Abfallstatistiken
Phase stecken dann die Sicherung von Grundwasser gefälscht. Die Untertageversetzung ist aber nicht nur
und die Reinigung kontaminierter Böden? eine Frage der Statistik. Für die Langzeitsicherheit
der verbrachten Abfälle müssen nämlich nach dem
Bei der Finanzierung von Altlastensanierungen dabei geltenden Bergrecht nicht die strengen Nach-
gibt es immer wieder ein böses Erwachen. Firmen weise des Abfall- und Immissionsschutzrechtes er-
existieren nicht mehr oder sind nicht regreßpflichtig bracht werden. Durch die geringeren Kosten dieser
zu machen. Bezahlen müssen es demzufolge die riskanten Einlagerungen wird zudem der Vermei-
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Ungeachtet dungsgrundsatz unterlaufen.
dessen läßt das lang angekündigte Bodenschutzge-
setz und sein untergesetzliches Regelwerk immer Zur Novellierung der Verpackungsverordnung:
noch auf sich warten. Es wird aber höchste Zeit, daß Auch im Referentenentwurf der Bundesregierung
das Altlastenmanagement endlich eine klare und vermissen wir wie im Kreislaufwirtschaftsgesetz die
bundeseinheitliche gesetzliche Grundlage bekommt. Zielhierarchie Vermeidung vor werkstofflicher Ver-
wertung, diese vor rohstofflicher Verwertung und
Handlungsbedarf besteht laut Umweltrat beispiels- diese vor thermischer Verwertung. Aber das wundert
weise in der Qualitätssicherung, bei der Altlasten- mich nicht mehr, wenn der Kollege Kampeter den
analytik oder bei einheitlichen toxikologischen Krite- Grünen Punkt als die größte Umweltbewegung be-
rien für die Bewertung duldbarer Aufnahmemengen zeichnet.
von Schadstoffen. Der beste Bodenschutz - und da-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Mit Recht,
mit Trinkwasser-, Biotop- und Gesundheitsschutz -
Frau Kollegin Bulling-Schröter!)
ist allerdings die Verhinderung der Verschmutzun-
gen. Dies erfordert unter anderem eine tatsächliche - Wir sind da natürlich anderer Meinung; aber das ist
Kreislaufwirtschaft, die die Vermeidung von Abfällen normal. - Durch die auch hier wieder quasi festge-
und die Vermeidung der Produktion sinnloser oder schriebene Gleichrangigkeit von thermischer und
gefährlicher Produkte in den Mittelpunkt stellt. stofflicher Verwertung werden Vermeidungsanstren-
gungen unterlaufen.
Ein halbes Jahr vor Inkrafttreten des Kreislaufwirt-
schafts und Abfallgesetzes treten dessen offensicht-
- Die im Referentenentwurf enthaltenen Regelun-
liche Mängel deutlich zutage. Der Kreislaufgedanke gen, nach denen die erneute Verwendung oder stoff-
wurde in wesentlichen Teilen den Interessen der Ent- liche Verwertung von den technischen Möglichkei-
sorgungswirtschaft geopfert. ten, der wirtschaftlichen Zumutbarkeit und dem vor-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8749
Eva Bulling-Schröter
handenen Markt abhängig gemacht werden, lassen darüber nachzudenken, ob es nicht eine wirkungs-
die Verordnung an dieser Stelle noch hinter der alten vollere Sanktion ist, diejenigen Getränkeverpackun-
zurückfallen. Bisher existierende Pflichten zur Ver- gen von der Befreiungsoption des Dualen Systems
meidung von Verpackungsvolumina und Verpak- auszuschließen und direkt rücknahmepflichtig zu
kungsgewichten werden durch die schwammige und machen, bei denen die Mehrwegquote im Durch-
beliebig interpretierbare Formulierung „Beschrän- schnitt der vergangenen fünf Jahre den 72-Prozent-
kung auf das unmittelbar notwendige Maß" ersetzt. Anteil unterschreitet.
Die „Verschlimmbesserung", wie sie der BUND Die Diskussion mit den Ländern ist noch nicht ab-
nennt, geht noch weiter: Bei Unterschreitung der geschlossen, aber unser Anliegen - um das noch ein-
Mehrwegquote wird es künftig in den Bundeslän- mal deutlich zu machen - ist die politische Stützung
dern keine verbindlichen Sanktionen mehr geben der Mehrwegsysteme unter der Prämisse, daß die je-
können. Nachdem der Dosenanteil in der letzten Zeit weils ökologisch vorteilhafte Verpackung auch vom
beständig gestiegen war, wird nun zum Sturm auf Konsumenten wirkungsvoll eingesetzt wird.
das Mehrwegsystem geblasen. Augenscheinlich hat
die Dosenlobby in Bonn mit am Referententisch ge- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Bulling
sessen. Das führt dazu, daß sich zum Beispiel der Schröter, Sie können darauf antworten.
bayerische Brauereibund mit dem BUND und seiner
Anti-Dosenkampagne verbündet. Weil Bier aus Do-
sen in Bayern eigentlich eine Sünde ist, sollte sich die Eva Bulling-Schröter (PDS): Herr Kampeter, ich
CSU hier schon ein bißchen einsetzen. bedanke mich für diese Aussage und gehe davon
- aus, daß Sie natürlich etwas gegen die Dosenflut tun
(Heiterkeit und Beifall bei der PDS und dem werden und die Brauereien, egal ob in Bayern oder
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) woanders, vor dem Aussterben schützen werden.
Sie sind doch die Mittelstandsparteien. Dann retten
Sie die bayerischen Brauereien doch endlich! Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
Parlamentarischen Staatssekretär Walter Hirche das
(Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE
Wort.
GRÜNEN]: Sehen Sie, Herr Kampeter, das
sind Ihre Sünden!)
Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
Auch die Senkung der Wiederverwertungsquoten ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
ist eine Referenz an die geringe Leistungsfähigkeit cherheit: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
des dubiosen Dualen Systems. Notwendig wären Ich möchte mich zunächst für die kurze Verspätung
eine Angebotspflicht für Mehrwegverpackungen, ein entschuldigen. Vielleicht ist es auch anderen schon
Verbot umweltschädlicher Verpackungen, verbindli- einmal passiert, daß sie nicht so ganz flüssig durch-
che Mehrwegquoten und ein Zwangspfand für Ver- gekommen sind.
packungen. Diese in einer Mehrwegverordnung zu
regelnden Vorgaben könnten vielleicht auch großen Das Kreislaufwirtschaftsgesetz ist seinerzeit im
Konzernen wie Aldi klarmachen, daß man sein Geld Vermittlungsverfahren zustande gekommen. Ich er-
nicht auf dem Rücken der Umwelt verdienen sollte. innere daran, daß es von diesem Hohen Hause ein-
stimmig angenommen wurde. Wenn ich mir die An-
(Beifall bei der PDS sowie des Abg. träge und Forderungen zu der heutigen Debatte an-
Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE sehe, dann möchte ich sagen: Gott sei Dank. Einige
GRÜNEN]) haben jedoch vergessen, daß diese Einstimmigkeit
bestanden hat.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz-
Ich sage dies, weil ich hoffe und an alle appelliere,
intervention bekommt der Abgeordnete Kampeter
daß der im Vermittlungsausschuß gefundene Grund-
das Wort.
konsens Bestand hat und es nicht noch vor dem In-
krafttreten des Gesetzes zu einer Novellierungsde-
Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Präsident! batte kommt. Das wäre nicht nur unproduktiv, son-
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Vor- dern sogar kontraproduktiv, weil es verhindern
rednerin hat den Eindruck erweckt, es sei politisches würde, daß sich die beteiligten Kreise auf das Inkraft-
Anliegen der Koalition, in irgendeiner Art und Weise treten des Gesetzes und die neue Rechtslage einrich-
das Mehrwegsystem politisch zu zerstören. Ich ten. Nicht das Gesetz an sich, sondern natürlich erst
möchte an dieser Stelle nur noch kurz deutlich ma- seine Umsetzung schafft die Kreisläufe, die wir brau-
chen, daß sowohl im Entwurf der Verpackungsver- chen.
ordnung als auch in den Überlegungen der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion gerade der Schutz des Die Bundesregierung wird in Umsetzung des
Mehrwegsystems ein zentraler Ansatzpunkt ist. Kreislaufwirtschafts und Abfallgesetzes alles dazu
-
Die Bundesregierung ist bemüht, im Sinne einer Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Rochlitz,
allseits geforderten Deregulierung die Nachweisver- Sie können sich so lange hinsetzen. Sie sind noch gar
fahren so weit wie möglich zu entschlacken, ohne nicht an der Reihe.
daß die notwendigen Kontrollaufgaben beeinträch-
tigt werden. Im Prinzip möchten wir in der Tat lieber
Anzeige- als Genehmigungsverfahren. Über diese Marion Caspers-Merk (SPD): Herr Staatssekretär,
Diskussion der Vereinfachung gibt es mit den Län- wenn Sie hier formulieren, daß das Ergebnis der
dern ein intensives Gespräch. Wir sind davon ausge- gestrigen Anhörung eindeutig und die Position der
- Bundesregierung zu TA Siedlungsabfall bestätigt
gangen, daß die Länder ein Interesse daran haben
müssen, angesichts der Situation der öffentlichen Fi- worden sei, sind Sie dann auch bereit, zur Kenntnis
nanzen auch ihre Umweltverwaltungen zu entschlak- zu nehmen, daß das Umweltbundesamt in seiner
ken und auf das Notwendige zu beschränken. Stellungnahme ganz deutlich gemacht hat, daß wei-
terhin an einem Parameter gearbeitet wird, der die
Bei der Verordnung über Entsorgerfachbetriebe kalte Rotte zumindest möglich macht und diesen
und Entsorgergemeinschaften betritt die Bundesre- Innovationspfad nicht verschüttet? Es gibt ja im Mo-
gierung kein völliges Neuland. Auditierung und Zer- ment ein Forschungsprojekt, das mit 14 Millionen
tifizierung finden in vielen Bereichen statt. Hier DM aus Mitteln des BMFT gefördert wird.
kommt es darauf an - Herr Kampeter hat zu Beginn
darauf hingewiesen -, eine ausgewogene Lösung Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
zwischen den für die Entsorgungsbetriebe vorgese- ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
henen Verfahrenserleichterungen und den Anforde- cherheit: Frau Kollegin, es ist sicher richtig und auch
rungen an Fachkunde und Zuverlässigkeit zu finden. guter Brauch, daß es auch dann, wenn eine Sache im
Augenblick auf Grund der Expertenaussagen völlig
Wenn hier heute Anträge gestellt werden, eine klar ist, nicht verboten sein sollte, weiter nachzuden-
Sonderabfallabgabe einzuführen und die Technische ken. Nur so sind ja Entwicklungen insgesamt voran-
Anleitung Siedlungsabfall auszuhebeln, so hoffe ich, gegangen.
daß der Deutsche Bundestag diesen Bestrebungen
eine klare Absage erteilt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Ich bin darüber verwundert - das sage ich in aller
CDU/CSU - Dr. Jürgen Rochlitz [BÜND- Deutlichkeit -, daß angesichts der Aussage aller Ex-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht aushebeln, perten, daß mit der kalten Rotte, so wie sie heute ge-
sondern verbessern, Herr Hirche!) geben ist, umweltmäßig schlechtere Ergebnisse er-
reicht werden und daß in diesem Zusammenhang im
Die gestrige Anhörung im Umweltausschuß hat eine Sinne der Umweltpolitik ein Discount stattfindet,
klare Bestätigung der Position der Bundesregierung Herr Rochlitz sagt - meine Damen und Herren, ich
ergeben, übrigens auch durch den von den Grünen wiederhole noch einmal den Satz -: Geben Sie Ge-
benannten Sachverständigen. Ich betrachte es schon dankenfreiheit, geben Sie Deregulierung! Er vertritt
als ein Stück aus dem Tollhaus, daß Herr Rochlitz also hier die These, es sei völlig uninteressant, wel-
diesem Sachverständigen, einem Mann, der sich hier che inhaltlichen Kriterien angelegt würden, Hauptsa-
nicht wehren kann, Scharlatanerie vorwirft und für che, unser Verfahren kann als Alternativverfahren
sich in Anspruch nimmt, er wisse es ganz genau, ob- durchgeführt werden.
wohl er im Zusammenhang mit den Abfalldaten Meine Damen und Herren, ich möchte einmal se-
deutlich macht, daß er noch nicht einmal weiß, wie hen, an welchem Punkt sich die öffentliche Diskus-
eine Abfallstatistik entsteht und daß die Länder zu- sion befände, wenn die Bundesregierung den Quali-
ständig sind und das Statistische Bundesamt die Er- tätsanspruch im Zusammenhang mit der Festlegung
mittlungen zusammenfaßt. von Grenzwerten oder Verfahren aufgeben würde.
Genau das, Herr Rochlitz, haben Sie hier vor dem
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Hohen Hause getan. Ich finde das unglaublich; es
ten der CDU/CSU) zeigt aber, daß das für Sie nur Manipulationsmasse
ist.
Wer im Kleinen nicht Bescheid weiß, sollte sich zu-
rückhalten, andere zu beschimpfen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8751
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Staatsse- Die Idee ist ja, daß der Abfall selbst die Barriere
kretär, geben Sie dem Abgeordneten Rochlitz nun sein soll - deswegen die Verfahren, die wir vorschla-
die Möglichkeit einer Zwischenfrage? gen, deswegen die Bedenken gegen einen Discount
im Zusammenhang mit den Methoden, die bisher auf
dem Markt sind. Ich will das ausdrücklich sagen,
Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- weil Frau Caspers-Merk darauf hingewiesen hat, daß
ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- weitere Überlegungen im Gange sind. Möglicher-
cherheit: Selbstverständlich. weise kommt das. Ich denke aber, der Bundestag -
der Bundesrat im übrigen auch - wäre schlecht bera-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön. ten, wenn er innerhalb von zwei Jahren mit Bock-
sprüngen zu immer neuen Verfahren kommen
würde. Das ist nicht richtig.
Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Staatssekretär, ich hätte gerne von Ihnen ge- Ich darf im übrigen darauf hinweisen, daß mittler-
wußt, ob Sie sich eigentlich einmal die Mühe ge- weile eine Reihe von Ländern mit fortschrittlichem
macht und die Betriebsdaten und die Betriebsausle- Umweltschutz ebenfalls beschlossen haben, so zu
gungen von modernen Müllverbrennungsanlagen verfahren, wie die Bundesregierung es weiter tut,
angeschaut haben. Wenn Sie das gemacht haben, ist nämlich die Schweiz, die Niederlande, Dänemark
Ihnen dann aufgefallen, daß dabei überall ganz er- und Frankreich. Wir werden deshalb diese Orientie-
hebliche Mengen an Erdgas oder an Heizöl aufge- rung an den Sicherheitsinteressen nicht aufgeben.
führt werden, die nötig sind, um die Bedingungen
- Meine Damen und Herren, auf eine Reihe von An-
des § 4 der 17. BImSchV einzuhalten?
trägen zu abfallwirtschaftlichen Fragestellungen
Des weiteren hätte ich gerne von Ihnen gewußt, ob möchte ich genauer eingehen. Ich glaube aber, wir
Ihnen entgangen ist, daß ich mit meiner Aufforde- sollten uns einig sein: Nicht die Zahl der Anträge ist
rung, Gedankenfreiheit zu geben, gemeint habe, daß das Entscheidende.
endlich eine Öffnung der Bedingungen für Abfallbe-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
handlungsanlagen
ten der CDU/CSU)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ökodis-
count!) „Inflation" ist ein Begriff, der in anderen Bereichen
sogar einen negativen Inhalt hat.
in Richtung auf Müllverbrennung und biologisch-
mechanische Anlagen erfolgen sollte? Da sollte die Mit der Verpackungsverordnung vom 12. Juni
1991 wurde erstmals die abfallwirtschaftliche Pro-
Marktfreiheit stattfinden.
duktverantwortung umfassend umgesetzt. Die darin
festgelegte Verantwortung von Industrie und Handel
Walter Hirche, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- für die Rücknahme und Verwertung von Verpackun-
ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- gen hat dazu geführt, daß seit Inkrafttreten der Ver-
cherheit: Herr Kollege, zum ersten Teil Ihrer Frage. ordnung ein Rückgang des Verpackungsverbrauchs,
Ich habe mich selbstverständlich darüber mit Leuten das heißt Abfallvermeidung an der Quelle, von über
beraten, die von der Sache mehr verstehen als ich 1 Million Tonnen zu verzeichnen ist. Seit 1993 wur-
selbst; denn man ist gut beraten, glaube ich, bei Um- den allein über das Duale System mehr als 13 Mil-
weltfragen nicht nur mit sich selber zu Rate zu ge- lionen Verpackungen einer stofflichen Verwertung
hen. zugeführt, das heißt gerade die Kommunen von Sam-
melkosten und Inanspruchnahme von Beseitigungs-
Ich habe selbstverständlich für das, was ich hier kapazitäten entlastet. Während im Jahr 1990 bei
vorgetragen habe, nicht nur in Gesprächen mit Fach- Kunststoffverpackungen rund 20 000 Tonnen Ver-
leuten aus dem Bundesumweltministerium, sondern wertungskapazitäten in Deutschland vorhanden wa-
zum Beispiel auch mit dem Hamburger Senator Vah- ren, beliefen sich diese 1995 bereits auf rund 270 000
renholt eine absolute Übereinstimmung in der Beur- Tonnen. Gerade in diesem Bereich sind die Innova-
teilung gefunden, sogar mit der zusätzlichen Begrün- tionen und die Investitionen beispielhaft. Mir
dung - Herr Vahrenholt vertritt offen diese These -, scheint, daß diese Fakten in den Ausführungen zu
die energetische Nutzung sei in Koppelung mit dem den Anträgen der Fraktionen der SPD und des Bünd-
Wärmeaspekt ökologisch von vornherein viel besser nisses 90/Die Grünen geflissentlich nicht zur Kennt-
als all das, was sonst hier genannt wird. nis genommen werden. Die Bilanz von fünf Jahren
Ich bin verwundert, daß Sie im zweiten Teil gefragt Verpackungsverordnung kann sich nämlich sehr
haben, ob wir bereit seien, über die Bedingungen zu wohl sehen lassen.
sprechen. Ich glaube, über eine Bedingung können Gleichwohl haben auch wir die Verpackungsver-
wir nicht verhandeln, nämlich darüber, davon auszu- ordnung auf den Prüfstand gestellt und wollen mit
gehen, daß größtmögliche Sicherheit vorhanden sein der im Verordnungsverfahren befindlichen Novelle
soll. die bislang erzielten Effekte zur ökologischen Opti-
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der mierung von Verpackungen sowie zur Vermeidung
CDU/CSU - Steffen Kampeter [CDU/CSU]: und Verwertung von Verpackungsabfällen weiter-
Im Gesundheitsschutz und Umweltschutz!) entwickeln und den Wettbewerb noch stärker för-
dern. Frau Homburger hat darauf hingewiesen. Da-
- Im Gesundheitsschutz und Umweltschutz. bei werden keinesfalls die Verwertungsanforderun-
8752 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
tut. Auch Herr Töpfer hat sich etwas dabei gedacht, kurz zu Ende führen. - § 7 sieht für diesen Fall die
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da habe ich Einführung eines Pflichtpfandes von 50 Pfennig vor.
manchmal meine Zweifel!) Das Abwehrargument, das ständig vorgebracht wird,
ein Zwangspfand würde die Mehrwegflasche nicht
als er vor fast fünf Jahren den Entwurf seiner Verord- stützen, weil dann beides nicht mehr unterscheidbar
nung vorgelegt hat. wäre, ist ein durchsichtiges Ablenkungsmanöver. So,
jetzt höre ich gerne Ihre Position dazu.
(Birgit Homburger [F.D.P.]: Und damals ist
es schon an Europa gescheitert!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun kommt
- Langsam, jetzt bin ich dran, Frau Homburger. - Er die redezeitsparende Frage von Herrn Kampeter.
hat differenzierte Mehrwegquoten für die verschie-
denen Getränkearten vorgesehen. Steffen Kampeter (CDU/CSU): Frau Hartenstein,
sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß überall
In unserem Antrag stehen für Bier, Mineralwasser,
dort, wo pflichtpfandähnliche Lösungen eingesetzt
Erfrischungsgetränke und Wein exakt die von Herrn
worden sind, wie beispielsweise in den Vereinigten
Töpfer vorgeschlagenen Quoten. Wir könnten hier
Staaten, Mehrwegsysteme zerschlagen worden sind
ganz schnell zusammenfinden, wenn Sie ein wenig
und daß wir deswegen in großer Sorge sind, daß die
einsichtsfähiger wären.
Wirkung der Sanktionsmaßnahme Zwangspfand
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Einsichtsfä- nicht dem Ziel der Stützung von Mehrweg dient und
hig sind Sie nicht, Frau Hartenstein!) wir deswegen auf der Suche nach einer alternativen
Sanktion sind?
- Mir wäre besser geholfen, wenn Sie eine Frage
stellten. Dann könnte ich nämlich meine Redezeit (Beifall der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.])
sparen.
Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Zuerst einmal möchte
Da Sie die Europäische Union ansprechen, möchte ich sagen, daß man nicht Unvergleichbares verglei-
ich Sie daran erinnern, daß es ein dänisches Dosen- chen kann. Das amerikanische System ist ein ganz
urteil gibt. Wenn Dänemark das Recht hat, die Men- anderes. Wenn wir darüber reden wollen, dann müs-
gen der Einwegbehälter zu begrenzen, und dies sen wir exakte Unterlagen haben.
durch den Europäischen Gerichtshof bestätigt
wurde, muß es auch der Bundesrepublik zustehen. Das zweite: Was heißt es denn, wenn Sie sagen,
Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Ihr daß Sie in großer Sorge sind? Zunächst geht es mir
Argument ist ein Alibiargument. um den politischen Willen, das heißt darum, ob Sie
überhaupt etwas tun wollen und nicht nur Argu-
(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei mente vorschützen, die eigentlich erst bewiesen wer-
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE den müssen, wenn man es in der Praxis probiert hat.
GRÜNEN) Packen wir die Sache doch an!
Nein, es hilft nicht, in Sonntagsreden die Stützung Beispiel: Wenn Sie tatsächlich ein Pfand von
des Mehrwegsystems zu preisen und dann die 50 Pfennig und für größere Behälter ein Pfand von
Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, bis 1 DM erheben - so steht es in der Verpackungsver-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8755
Dr. Liesel Hartenstein
ordnung - und wenn Sie dadurch erreichen, daß die Grundwasser gelangen oder instabile Hohlräume zu-
Einwegdose plus Pfand mindestens so teuer, aber sammenbrechen.
möglichst teurer wird als die Mehrwegflasche plus
Pfand, dann greift der Kunde - da bin ich ganz si- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
cher - nach dem billigeren Angebot; denn hier funk- DIE GRÜNEN - Steffen Kampeter [CDU/
tioniert der Preismechanismus bestimmt. Sie wollen CSU]: Das ist doch teilweise gar nicht mög
es aber gar nicht prüfen. Im übrigen wäre eine will- lich!)
kommene Nebenwirkung dabei, daß dann auch die Inzwischen übersteigt die Menge der in Bergwer-
Riesenmassen von Einwegdosen aus der Landschaft ken eingelagerten Sonderabfälle diejenigen Men-
zum Teil verschwinden würden. gen, die in die regulären Untertagedeponien gelan-
gen. Das ist eigentlich ein Alarmzeichen. Der Grund
Ein im Auftrag des Umweltbundesamtes angefer- ist übrigens einfach: Es geht ums Geld. Die Ablage-
tigtes Gutachten - Herr Kampeter, ich empfehle Ih- rungen in Untertagedeponien kosten pro Tonne bis
nen, das zu lesen - hat tatsächlich bestätigt, daß die zu 900 DM, in Bergwerken dagegen zwischen 100
in der Verpackungsverordnung vorgesehenen Pf and und 300 DM. Hier klafft eine Lücke zwischen Berg-
-beträgvon50Pfeigbzhunswei1DMzu und Abfallrecht. Diese Lücke muß geschlossen wer-
Rückführungsquoten deutlich über 80 Prozent und den. Ein bloßes Zuwarten ist nicht mehr erlaubt;
mittelfristig um 90 Prozent führen dürften. Schon sonst produzieren wir nämlich die Altlasten von mor-
dies allein wäre einmal den Versuch we rt . Nichts an- gen.
deres wollten übrigens die Umweltminister der
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die SPD in
neuen Länder, die im November letzten Jahres ein--
Thüringen sieht das ein bißchen anders!)
hellig beschlossen haben, man möge doch die Pfand-
pflicht einführen, um der Masse von weggeworfenen - In den neuen Ländern ist das Problem ganz beson-
Dosen Herr zu werden. Die Instrumente liegen also ders virulent. Die Kollegen aus allen Fraktionen kön-
im Kasten. Sie sollten sie nur herausnehmen und nen das sicher bestätigen.
endlich benutzen.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Landes
regierungen sehen das anders als Sie!)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS - Steffen Kampeter Meine Damen und Herren, ich muß zum Schluß
[CDU/CSU]: Kastenpfand schlägt Mehr- kommen. Mit der Umsetzung des Kreislaufwirt-
weg!) schaftsgesetzes könnte ein erster, wenn auch be-
scheidener, aber dennoch wirksamer Schritt zu einer
Noch ein Wort - soweit die Zeit reicht - zu unserem ressourcenschonenden, nachhaltigen Wirtschafts-
Antrag über die Ablagerung von Sonderabfällen. weise getan werden. Ich frage Sie: Warum tun Sie
Davon war bisher kaum die Rede. In offiziellen Stati- diesen Schritt nicht, und zwar entschlossen und kon-
stiken wird ständig der phänomenale Rückgang der sequent? Kreisläufe schließen, Schadstoffe minimie-
Sonderabfälle gerühmt. Hier kann man nur sagen: ren, Ressourcenverbrauch verringern - das sind
Vorsicht! Denn nicht geringe Mengen wandern wei- Schlagworte, die man auch von Ihnen ständig hört.
terhin, als „Wirtschaftsgut" deklariert, über die Wir aber wollen, daß damit endlich Ernst gemacht
Grenzen nicht nur innerhalb der EU, sondern auch wird.
nach Osteuropa. Im Recyclingbereich, in den dort zu erwartenden
Innovationen stecken enorme Chancen, neue Bran-
Es gibt ein weiteres Schlupfloch, nämlich die Abla- chen aufzubauen und neue Arbeitsplätze zu schaf-
gerung von Sonderabfällen als sogenannte Versatz- fen. Deshalb lautet unsere Forderung, daß der ge-
stoffe in stillgelegten Bergwerken. Seit Anfang der setzliche Rahmen endlich gezimmert wird, damit für
90er Jahre werden jährlich 2 Millionen Tonnen berg- alle Betriebe und Gewerbe gleiche Bedingungen be-
baufremder Rückstände in Salz-, Erz- und Steinkoh- stehen. Denn viele Verantwortliche in der Wirtschaft
lenbergwerken als Füll- und Stützmaterial abgela- haben das schon begriffen, andere aber noch nicht.
gert. Dagegen ist so lange nichts einzuwenden, so- Sie können deshalb nicht auf die Verordnungen ver-
lange es sich um geeignete unschädliche Reststoffe zichten. Sie müssen schnell kommen.
handelt.
Wenn die Bundesregierung weiterhin alles schlei-
fen läßt, dann versäumt sie auch Zukunftschancen.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber es sind Das ist unverzeihlich.
doch Salzbergwerke!)
Ich bedanke mich.
Aber darunter befinden sich mehr und mehr schad- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
stoffhaltige Abfälle wie Lackschlämme, Schlacken DIE GRÜNEN)
aus Müllverbrennungsanlagen und Rauchgasreini-
gungen, kontaminierte Böden und anderes mehr.
Dieser Schadstoffmüll müßte eigentlich in dafür ge- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem
eigneten und abgesicherten Untertagedeponien, wie Abgeordneten Dr. Gerhard Fried rich das Wort .
Herfa-Neurode oder Heilbronn, eingelagert werden.
Bei stillgelegten Bergwerken können Zeitbomben Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Herr Präsident!
entstehen, wenn zum Beispiel die Schadstoffe ins Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich höre hier an-
8756 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Verhinderung weiterer Gewässerverunrei-
GRÜNEN und der PDS) nigungen durch das Totalherbizid Diuron
- Drucksachen 13/2518, 13/3940 -
Der Boden muß als Lebensgrundlage und Lebens-
raum für Menschen, Tiere, Pflanzen und Bodenorga- Berichterstattung:
nismen wiederhergestellt sein. Seine Wasser- und Abgeordnete Wilhelm Dietzel
Nährstoffkreisläufe sowie seine Filter-, Puffer- und Dr. Angelica Schwall-Düren
Stoffumwandlungseigenschaften müssen wieder in- Dr. Jürgen Rochlitz
takt sein. Günther Bredehorn
Abschließend möchte ich auf die wichtige Auffor- b) Beratung der Beschlußempfehlung und des
derung des Sachverständigenrates hinweisen, daß Berichts des Ausschusses für Ernährung,
unbedingt das Entstehen zukünftiger Altlasten ver- Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß)
mindert werden soll. Ich meine, daß solche zukünfti- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike
gen Altlasten verhindert werden müssen! Höfken, Steffi Lemke, Dr. Jürgen Rochlitz
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der SPD) NEN
Dazu ist eine konsequente Vorsorgepolitik nötig, Schutz der Gewässer und des Trinkwassers
die vor allem bei den Stoffströmen ansetzt, was im er- vor Pestizidbelastungen in der Europäi-
sten Teil der Debatte eine Rolle gespielt hat. schen Union
Für mich ist der vorsorgende Bodenschutz ganz be- - Drucksachen 13/1544, 13/3307 -
sonders wichtig, der notwendig ist, um zu befürch- Berichterstattung:
tende Allmählichkeitsschäden zu verhindern. Wir Abgeordneter Hans-Ulrich Köhler (Hain
brauchen also nicht nur wegen der optimalen Sanie- spitz)
rung von Altlasten schnell ein Bodenschutzgesetz,
sondern auch, um endlich schädliche Bodenverände- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die
rungen, diffuse Bodenbelastungen, physikalische Bo- gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgese-
8760 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
DIE GRÜNEN]: Was tut sie denn?)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der
Eine weitere Verstärkung der Förderung erscheint
derzeit nicht zweckmäßig. Eine Landwirtschaft, die Abgeordneten Dr. Angelica Schwall Düren das Wo rt .
-
werden. Natürlich wissen Sie das, aber Sie können Meine Damen und Herren! Die Vegetationsperiode
und wollen es nicht zugeben. 1996 hat begonnen. Wir sehen es draußen. Überall
sprießt schönes Grün, zeigen sich aber auch die
Meine Damen und Herren, es ist schon kühn, mit
Gräslein, die ordentliche deutsche Gärtner nicht so
pauschal wiedergegebenen Untersuchungen des
gerne haben. Was tun? Der schnellste, sicherste und
Umweltbundesamtes - und eines in Teilen nachweis- einfachste Weg ist der Griff zur Giftspritze.
lich falschen Berichts von Greenpeace -, die bis 1989
zurückreichen, die Forderung nach Festlegung von Damit sind wir beim Thema der heutigen Debatte:
Grenzwerten für Pestizide im Trinkwasser zu unter- Schutz der Gewässer und des Trinkwassers vor Pesti-
mauern. Sie verschweigen, daß dabei der häufigste zidbelastung und die Frage des Verbotes von Pro-
Fund Atrazin war und nur 0,53 Prozent aller Messun- duktion, Vertrieb und Anwendung von Diuron. Di-
gen eine Überschreitung des Grenzwertes von uron ist das auf versiegelten Flächen meistangewen-
0,1 Mikrogramm je Liter ergaben. dete Unkrautvernichtungsmittel. Die SPD-Fraktion
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8761
Dr. Angelica Schwall-Düren
will erreichen, daß die Biologische Bundesanstalt Darüber dürfen wir uns sicher freuen. Aber damit
eine erneute Zulassung versagt bzw. daß Verkauf ist unser Antrag nicht erledigt. Zwar hat offensicht-
und Anwendung von Totalherbiziden wie Diuron für lich der öffentliche und durch unseren Antrag ausge-
Kleinanwender sowie die Anwendung auf öffentli- löste politische Druck dazu geführt, daß die Firma
chen und gewerblichen, nicht landwirtschaftlich ge- Bayer zu Jahresbeginn erklärt hat, sie wolle inner-
nutzten Freiflächen ohne Ausnahme verboten wer- halb der nächsten Jahre den Wirkstoff Diuron aus
den. den Produkten für Kleinanwender zurückführen.
Über den Verbindlichkeitsgrad dieser Erklärung
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dürften mit Fug und Recht Zweifel angemeldet wer-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der den:
PDS)
Erstens. Die Bayer-Erklärung dient offensichtlich
Hinter dieser Forderung versteckt sich keinesfalls dazu, zu einem Zeitpunkt erhöhter Aufmerksamkeit
Chemiefeindlichkeit, die uns oft unterstellt wird, die Öffentlichkeit zu beruhigen. Niemand weiß, was
oder sogar das unverantwortliche Schüren von Hy- geschieht, wenn diese Aufmerksamkeit erst einmal
sterie. Anlaß für den Antrag waren 1995 vielmehr die wieder nachläßt.
alarmierenden Hinweise zahlreicher staatlicher Um-
weltämter, daß fast alle Abflüsse von Kläranlagen Zweitens. Kein weiterer Diuron-Vertreiber oder
weit überhöhte Diuronwerte aufwiesen. Es wurden - Produzent von Diuron-Mixturen - deren gibt es zahl-
so Ergebnisse im Bereich des staatlichen Umweltam- reiche - braucht sich an die Bayer-Erklärung gebun-
tes Münster - bis zu 13,5 Mikrogramm pro Liter ge- den zu fühlen.
messen bei einem EU-weit festgelegten Trinkwasser-
Drittens. Von Großanwendern ist in der Bayer-Er-
grenzwert von 0,1 Mikrogramm.
klärung keine Rede gewesen.
Ich brauche Ihnen als weitgehend Sachkundigen Man geht also nach dem Motto vor: Geben wir ein
nicht zu erklären, kleines bißchen nach, damit wir den großen Kuchen
(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Doch!) retten können.
daß das Auftauchen der Diuronwerte damit nicht auf Auch die „Aufklärungskampagne", die Bayer
die Oberflächengewässer beschränkt bleibt. Weit durchführt, darf in ihrem Erfolg zu Recht angezwei-
überhöhte Diuronwerte sind auch im Grundwasser felt werden; denn oft werden die Verbraucher große
zu finden. Dies mußte leider auch schon in Wasser- Schwierigkeiten haben, zu erkennen, ob das von ih-
schutzgebieten festgestellt werden. In meinem Wahl- nen ausgewählte Produkt zur Unkrautvertilgung Di-
kreis mußten deshalb wegen bis zu fünffacher Über- uron enthält. Sie müßten dazu komplizierte Auf-
schreitung der Pestizidgrenzwerte bereits Trinkwas- schriften über die spezifische Rezeptur des Herbizids
nachlesen.
serbrunnen stillgelegt werden; denn das betreffende
Wasserwerk verfügte nicht über die teuren und auch Oft fehlt den Anwendern auch die notwendige
nicht unproblematischen Aktivkohlefilter wie andere Sach- und Fachkenntnis, damit sie das Mittel bestim-
in der Region, die gar nicht mehr ohne diese Filter mungsgemäß und sachgerecht anwenden können.
auskommen, weil sie ihr Trinkwasser weitgehend Überhöhte Konzentrationen werden danach häufig
aus Oberflächenwasser gewinnen. die Regel sein - und dies bei einer Anwendung auf
versiegelten Flächen, was darüber hinaus zu einer
Freilich sind Erfolge im Bereich der durch die
raschen Abschwemmung in das Kanalsystem führt.
Landwirtschaft belasteten Gewässer durch freiwil-
lige Kooperationsverträge zustande gebracht wor- Das bedeutet aber, daß die Puffer- und Filterfunk-
den. Aber: Solche Kooperationsverträge wie mit der tion des Bodens gar nicht erst wirksam werden kann.
Landwirtschaft über Nichtanwendung von Diuron Damit spielt eines der wichtigsten Kriterien für die
lassen sich mit den vielen Anwendern und auch be- Zulassung des Mittels durch die Biologische Bundes-
sonders mit den vielen Kleinanwendern von Total- anstalt, nämlich die Adsorptionsmöglichkeit des Bo-
herbiziden auf nichtlandwirtschaftlichen Flächen dens gegenüber dem Wirkstoff, keine Rolle mehr.
nicht vorstellen. Auch eine Kontrolle wäre nicht um-
setzbar. Bis heute konnten die Quellen des Diuron- Die Messungen an den Ausflüssen der Kläranla-
eintrags in die stillgelegten Trinkwasserbrunnen gen zeigen aber andererseits, daß Diuron auch in
nicht ermittelt werden. Kläranlagen nicht abgebaut werden kann. Im Ge-
genteil, wir wissen heute, daß Diuron die zur Reini-
Selbstverständlich sind wir froh, daß inzwischen gungsleistung notwendigen Kleinstlebewesen schä-
ein Teil unseres Antrages erledigt zu sein scheint, in- digt. Das bedeutet, daß erhöhte Diuronkonzentratio-
dem die Deutsche Bahn AG darauf verzichten will, nen in den Abwässern auch die Klärleistungen her-
weiter Diuron auf ihren Anlagen anzuwenden. absetzen.
(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wir hof- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Hört!
fen es!) Hört!)
Hier hat Greenpeace mit seiner Kampagne um die Noch immer aber setzen die Koalitionsfraktionen
Jahreswende einen großen Erfolg erzielt. auf die Selbstverantwortung der Bürger und Bürge-
rinnen in diesem Punkt. Daß die Menschen total
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ überfordert werden, wenn sie persönlich allen Hin-
DIE GRÜNEN) weisen auf Gefährdungspotentiale für Lebensmittel
8762 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Von der Landwirtschaftskammer Rheinland bei- Die Diskussion um den Einsatz des Wirkstoffes Di-
spielsweise habe ich Empfehlungen für den Gemüse- uron macht deutlich, wie sensibel die Bevölkerung
anbau vorliegen, die sich ausdrücklich auf eine auf die Anwendung von Herbiziden reagiert. Sie
Reihe nicht zugelassener Pestizide für bestimmte zeigt aber auch, wie weit sich einzelne von einer ra-
Kulturen beziehen: für Salat, für Porree, für dicke tionalen Betrachtung des Problems entfernen kön-
Bohnen usw. Wenn das die „gute fachliche Praxis" nen. Auch der Antrag der SPD auf Totalverbot der
ist, dann ist das Verfahren spätestens dadurch völlig Anwendung von Diuron auf öffentlichen und ge-
konterkariert. werblich genutzten Flächen ist wenig sachdienlich.
Er ist deshalb im Umweltausschuß mehrheitlich,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch mit den Stimmen der F.D.P., abgelehnt worden.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Grund der Diskussionen um den Wirkstoff Diuron
Wir verlangen auch, nicht nur den Pestizid-Einzel- war der falsche Gebrauch vieler Kleinanwender, die
grenzwert für das Trinkwasser von 0,1 Mikrogramm das Totalherbizid im Haus- und Gartenbereich ein-
beizubehalten, sondern auch den Summenwert. Nur gesetzt und unsachgemäß aufgebracht haben. Ver-
das eine oder das andere beibehalten zu wollen, das siegelte Oberflächen wie zum Beispiel Teerflächen
ist eben ein Verfahren, solche Vorschriften auf euro-
und Verbundpflaster haben dazu geführt, daß mit Di-
päischer Ebene auszuhebeln. Wir halten die Zwei- uron verunreinigtes Wasser in die Kanalisation ge-
gleisigkeit für unwahrscheinlich wichtig. langen konnte.
Die nationalen Zulassungsregelungen müssen im
Pflanzenschutzgesetz selbst getroffen werden und Da die Gefahr der Schädigung des Trinkwassers
nicht, wie die Bundesregierung das vorhat, durch ei- auf Dauer nicht ausgeschlossen werden kann, will
nen Verweis auf die Trinkwasserverordnung und die die Firma Bayer als Hersteller von Diuron das Pro-
Trinkwasserrichtlinie. Ebenso dürfen keine Pflanzen- dukt aus diesem Bereich schrittweise in den näch-
schutzmittel zugelassen werden - auch nicht über sten drei Jahren ersetzen. Wir begrüßen diesen
Schritt.
drei Jahre, wie die Bundesregierung das offensicht-
lich plant -, die noch nicht abschließend untersucht (Beifall bei der F.D.P.)
worden sind.
Damit ist zwar vorerst die Gefahr gebannt; das Pro-
Die Oberflächengewässer müssen in eine ver-
blem ist jedoch nicht von Grund auf gelöst. Es sind
nünftige Regelung einbezogen werden. Das heißt, nur wenige Ersatzwirkstoffe, die zum heutigen Zeit-
sie dürfen auf keinen Fall wie bisher weiter ver- punkt eingesetzt werden können, bekannt; sie wir-
schmutzt werden. Denn dann haben die Wasser- ken nur in weitaus geringerem Umfang und erfor-
werke und die Gebührenzahler hinterher das Pro- dern deshalb eine häufigere Anwendung und Aus-
blem, die verschmutzten Wasserbestände in den bringung. Mit einer zusätzlichen Kostenbelastung
Wassereinzugsgebieten wieder sauberzubekommen. muß gerechnet werden.
Das ist unseres Erachtens nicht der richtige Weg.
Minister Borche rt ist aufgefordert, den Beweis an- Noch gravierender stellt sich das Problem beim
zutreten, daß er sein Versprechen hält, die von der Einsatz von Diuron bei der Deutschen Bahn AG dar.
EU ermöglichte Ausnahmeregelung für grenzwert- Auch wenn wissenschaftliche Ergebnisse aus dem
überschreitende Pestizide - diese Fünfjahresrege- Gutachten, das die Deutsche Bahn AG in Auftrag ge-
lung - in Deutschland nicht zur Anwendung kom- geben hat, noch nicht vorliegen, hat der Auftragge-
men zu lassen. ber schon heute auf die Ausbringung von Diuron ver-
zichtet. Dies ist einerseits sicherlich zu begrüßen,
Vielen Dank. dieser Schritt birgt aber auch finanziellen Spreng-
stoff; denn die Nichtausbringung von Diuron führt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
durch Humusbildung auf den Gleiskörpern zu Schä-
sowie bei Abgeordneten der PDS)
den, die erhebliche Investitionen erfordern. Bahnin-
terne Berechnungen sprechen von Milliarden, die
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das mittelfristig aufgewandt werden müssen, um Schot-
Wo rt dem Abgeordneten Günther Bredehorn. terbetten zu waschen, zu erneuern und zu stopfen.
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Günther Bredehorn
Meine Damen und Herren, zu Recht wehren sich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der
viele Bürgerinnen und Bürger gegen überzogene Abgeordneten Eva Bulling-Schröter das Wort.
und fachlich nicht begründete weitere Verschärfun-
gen des Umweltrechtes und suchen den Ausgleich Eva Bulling-Schröter (PDS): Herr Präsident! Liebe
zwischen ökologisch und ökonomisch verträglichen, Kolleginnen und Kollegen! Heute nachmittag haben
verantwortbaren Lösungen. wir uns schon einmal über Altlasten unterhalten. Wir
Die Landwirtschaft hat dabei eine Schlüsselfunk- sprachen über Böden, die sukzessive Umweltschad-
tion. Der Stoffeintrag auf landwirtschaftlich genutz- stoffe und Gifte akkumulieren, die diese Verbindun-
ten Flächen, der Einsatz von Dünge- und Pflanzen- gen irgendwann in das Grundwasser abgeben und in
schutzmitteln ist längst nicht mehr allein Thema des unsere Nahrungskette einschleusen. Die Vermei-
Berufsstandes, und das ist auch gut so. Er ist auch dung solcher Kontaminationen müßte nach jahrzehn-
nicht mehr nur ein technisches und ökonomisches telanger Erfahrung angesichts vorhandener Altla-
Problem. Vielmehr beherrschen Umweltaspekte die stencocktails eigentlich an erster Stelle stehen.
Diskussion, die zusätzliche Schubkraft durch das (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Ihre Spra
wachsende Umweltbewußtsein der Bevölkerung ge- che ist ja nicht typisch für die neuen Län
winnen. der!)
Mit seiner gutachtlichen Stellungnahme - ich - Ich muß schon wieder sagen: Es gibt auch eine
möchte sie hier ganz bewußt kurz darstellen - zum PDS-West, und die vertrete ich jetzt hauptsächlich.
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Qua- Die redet nicht bloß über die neuen Bundesländer,
lität von Wasser für den menschlichen Verbrauch hat- und es ist auch bekannt, daß ich aus Bayern komme.
der Agrarausschuß des Deutschen Bundestages nach
. (Zuruf von der PDS: Das hört man ja wohl!)
meiner Überzeugung ein gutes Beispiel gegeben.
Oberstes Ziel muß der Erhalt des hohen Schutz- Es ist deshalb unverständlich, daß sich die Bundes-
niveaus von Trink- und Grundwasser bleiben. Aber regierung beim Totalherbizid Diuron so energisch
es muß auf der anderen Seite auch den Belangen der gegen eine konsequente Lösung wehrt. Diese kann
Landwirtschaft Rechnung getragen werden können. nur heißen: Verbot der Produktion und des Einsat-
zes dieses Umweltgiftes.
Dazu gehört auch die flexiblere Handhabung der
Grenzwerte. Deshalb sollte es in Ausnahmefällen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
sehr wohl möglich sein, Einzelgrenzwerte über BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
0,1 Mikrogramm festzulegen Die über 300 Tonnen Pestizide, die die Bahn AG
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- bisher pro Jahr auf ihren Gleisen versprüht hat, ent-
NIS 90/DIE GRÜNEN) hielten den Wirkstoff Diuron. Immer häufiger wird es
in der Nähe von Gleisanlagen und Bahnhöfen nach-
und darüber nachzudenken, ob wir den Summen- gewiesen und bringt dadurch die Brunnen, die der
wert von 0,5 Mikrogramm je Liter, der toxikologisch Wasserversorgung dienen, in Gefahr. „Keine andere
nicht zu begründen ist, nicht entbehren können. Lösung möglich", tönten lange die Bahn und logi-
scherweise auch der Hersteller.
Diese Maßnahmen hätten nach unserer Überzeu-
gung keinesfalls eine Verringerung des Schutz- Die Bayer AG führt darüber hinaus Befunde im
niveaus zur Folge. Trotzdem - das sage ich hier auch Oberflächenwasser auf den falschen Einsatz ihrer
ganz klar - haben sich die Kollegen von der F.D.P. Produkte im Kleingartenbereich zurück. Nächste
und der CDU/CSU im Umweltausschuß für die Ein- Woche findet die Hauptversammlung von Bayer
haltung der bisherigen Werte ausgesprochen. statt, und ich hoffe, daß die kritischen Aktionäre
auch die Frage nach der Selbstverpflichtung stellen
Die Bundesumweltministerin hat anläßlich des Ta- und wir auf diese Frage eine Antwort bekommen.
ges des Wassers im März dieses Jahres auf die Eigen- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne
verantwortlichkeit des einzelnen hingewiesen und ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
damit eine alte F.D.P.-Position aufgegriffen. Wir sind
ihr dafür dankbar, zeigt sie doch, wohin der Weg ei- Nun hat der Sonntagsgärtner sicher nicht nur die
ner zukünftigen Wasserschutzpolitik führen muß: Alternativen, die er vermittelt bekommt. Hier dürften
Einsicht und Erkenntnis des einzelnen bürgen für eindeutig der Produzent und zuallererst der Gesetz-
den verantwortungsvollen Umgang mit Wasser. Spar- geber mit einem Verbot in der Verantwortung ste-
samer Gebrauch von Trinkwasser und die Vermei- hen. Ich gehe übrigens davon aus, daß jemand, der
dung der Gewässerverschmutzung sind unser ge- der Meinung ist, seine Unkräuter einmal im Jahr
meinsames Ziel. ohne viel Schweiß killen zu müssen, das wohl kaum
ausgesprochen fachgerecht und sparsam durchfüh-
Schönen Dank. ren wird. Davon abgesehen haben alternative Me-
thoden der Unkrautbekämpfung gleiche Erfolge.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Die Bahn dagegen wußte natürlich ganz genau,
DIE GRÜNEN]: Was wollten Sie uns sagen? daß es Alternativen gibt. Sowohl in der Schweiz als
Das habe ich nicht verstanden! Welche auch in Österreich werden die Gleise nicht mit Di-
Position haben Sie jetzt eigentlich einge- uron behandelt, Der kürzlich von der Bahn AG er-
nommen?) klärte Verzicht auf den Einsatz kommt spät, ist aber
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Eva Bulling-Schröter
selbstverständlich zu begrüßen. Ich denke, hier hat Wir, die CDU/CSU-Fraktion, nehmen das Problem
sich der Druck der Umweltverbände, beispielsweise dieser möglichen Kontamination des Wassers sehr
die Greenpeace-Kampagne, ausgezahlt. ernst. Es sind laufend Untersuchungen durchgeführt
worden, um das Risiko der Anwendung von Pflan-
Mechanische Maßnahmen wie das Anpflanzen von zenschutzmitteln, auf die wir nicht verzichten kön-
Gräsern, die das Unkrautwachstum verhindern oder nen, zu vermindern. Die jetzt vorliegenden Ergeb-
bremsen, sowie die Behandlung mit Dampf sind Bei- nisse der wissenschaftlichen Untersuchungen zum
spiele alternativer Unkrautvernichtung. Eine Be-
Gleisbereich rechtfertigen durchaus eine Entschei-
handlung mit weniger toxischen Pestiziden, die nur
dung, Diuron 1996 nicht nochmals zeitlich befristet
auf den oberirdischen Teil der Pflanzen einwirken zur Anwendung auf Gleisanlagen zuzulassen.
und in geringeren Mengen aufgebracht werden kön-
nen, wäre das kleinere Übel, wobei wir die Null Für uns gilt auch in Zukunft: Im Zulassungsverfah-
Variante bevorzugen sollten. ren solcher Mittel können und dürfen Opportunitäts-
gesichtspunkte keine Rolle spielen. Anwender und
Was bei den riesigen Flächen der Bahn möglich ist,
Produzenten würden sich mit auf Vermutungen ba-
sollte auch im Garten- und Landschaftsbereich zu
sierenden Zulassungsentscheidungen nicht zufrie-
machen sein.
dengeben, sondern alle Beteiligten erwarten zu
Recht gerichtsfeste Erkenntnisse und Daten, die der
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, Entscheidung über die Zulassung von Pflanzen-
Sie müssen zum Schluß kommen. schutzmitteln zugrunde gelegt werden. Meine Da-
- men und Herren, ein Zulassungsverfahren, das auf
Eva Bulling-Schröter (PDS): Ja. - Das kostet natür- dieser Basis durchgeführt wird, stellt am ehesten si-
cher, daß die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln
lich Geld, und ich denke, wenn wir nicht wollen, daß
nicht zu Belastungen der Gewässer führt.
die Allgemeinheit bezahlt, müssen wir hier etwas än-
dern. Von einem Diuron-Verbot würden alle außer Diuronhaltige Pflanzenschutzmittel werden als To-
der Herstellerfirma Bayer - das ist klar - profitieren. talherbizide zur Unkrautbekämpfung im Obst- und
Weinbau und überwiegend außerhalb der Landwirt-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, schaft, zum Beispiel zum Entkrauten von Hof-, Stra-
Sie müssen zum Schluß kommen. ßen- und Betriebsflächen angewendet. Für die An-
wendung von Pflanzenschutzmitteln auf den letztge-
Eva Bulling-Schröter (PDS): Ja. - Entscheidend nannten Flächen ist nach dem Pflanzenschutzgesetz
bleibt, daß hochwirksame Pflanzengifte mit toxischer eine spezielle Erlaubnis erforderlich, die von den zu-
Langzeitwirkung - ständigen Behörden nur erteilt werden kann, wenn
der angestrebte Zweck nicht auf andere Weise und
mit zumutbarem Aufwand erreicht werden kann.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Mit „Ja" ist das
nicht getan. Die bundeseinheitliche Zulassung stellt daher le-
diglich sicher, daß für die genannten Anwendungs-
Eva Bulling-Schröter (PDS): - nichts mehr in unse- gebiete im Beispielsfall Pflanzenschutzmittel zur Ver-
ren Böden zu suchen haben. fügung stehen, die bei sachgerechter und bestim-
mungsgemäßer Anwendung und unter Einhaltung
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- der in der Gebrauchsanleitung ausgewiesenen Ein-
ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE schränkungen zu keinen schädlichen Auswirkungen
GRÜNEN) auf das Grundwasser oder zu anderen, nach dem
derzeitigen Stand der Erkenntnis unvertretbaren
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem Auswirkungen auf den Naturhaushalt führen.
Abgeordneten Wilhelm Dietzel das Wort. Dennoch ist Diuron in letzter Zeit in Gewässern
und auch im Grundwasser festgestellt worden. Es ist
Wilhelm Dietzel (CDU/CSU): Herr Präsident! zu befürchten, daß viele Anwender nicht über ausrei-
Meine Damen und Herren! Die Anwendung von Di- chende Sachkunde verfügen. Große Bedeutung
uron hat in letzter Zeit heftige Diskussionen ausge- kommt nach wie vor einer verstärkten Aufklärung
löst, aber in der Berichterstattung über die Green- durch Handel und Hersteller zu.
peace-Aktionen zu Diuron oder auch über den Rück-
zug der Bahn kommt in vielen Bereichen die sachli- Wir müssen alle Maßnahmen ergreifen, um Ge-
che Auseinandersetzung zu kurz. wässer vor Einträgen von Pflanzenschutzmitteln zu
schützen. Gewässerschutz ist zugleich auch Trink-
Viele Erkenntnisse weisen durchaus darauf hin,
wasserschutz.
daß Diuron auf Grund unsachgemäßer Anwendung
über die Kanalisation in Gewässer und Flüsse gelan- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
gen kann. Auch beim Einsatz auf Bahnkörpern zur Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
Vegetationskontrolle ist wegen der besonderen Ver- DIE GRÜNEN])
hältnisse in diesem Bereich im Einzelfall eine Verun-
reinigung des Grundwassers nicht auszuschließen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige
Ausführungen zu der Wasserkampagne von Green-
(Zuruf von der SPD: Das wissen wir doch peace machen, die ja offensichtlich beweisen sollte,
schon!) daß in 25 Fällen Nachweise für das Vorhandensein
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Wilhelm Dietzel
von mehr als 0,1 Mikrogramm Diuron pro Liter Beispiel Bahngleisen, Haus- und Kleingärten, Flä-
Grundwasser gegeben seien. chen, bei denen Oberflächenwasser ins Grundwasser
Es gibt aber auch in diesem Bereich zum Teil recht gelangen kann, wird durch Verbote beseitigt. Ich
merkwürdige Verfahren, so zum Beispiel, daß Einzel- denke, daß bei ordnungsgemäßer Anwendung ein
befunde bei Nachbeprobung nicht bestätigt werden Diuron-Eintrag in das Grundwasser mit großer Si-
konnten, daß Fundorte doppelt aufgeführt wurden, cherheit ausgeschlossen werden kann.
daß Fälle unbekannt und nicht aufklärbar waren; Ich bedanke mich.
aber für spektakuläre Aktionen verkaufen sich diese
natürlich gut. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wenn ich nur ein Beispiel anführen kann, meine
Damen und Herren: Im Oberbergischen Kreis gab es Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus-
einen Diuronfund, der den Grenzwert nicht über sprache.
stieg, und trotzdem wurde dieser Kreis von Green-
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß-
peace für pestizidbelastet erklärt. Der Oberkreisdi-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-
rektor hat hierzu angemerkt: methodisch schon sehr
schutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der
merkwürdig. - Dem schließe ich mich an.
Fraktion der SPD zur Verhinderung weiterer Gewäs-
Meine Damen und Herren, bei dieser ganzen Kam- serverunreinigungen durch das Totalherbizid Diuron,
pagne gibt es trotzdem Einrichtungen, die kalte Füße Drucksache 13/3940. Der Ausschuß empfiehlt, den
bekommen. Die Bahn AG will Diuron nicht mehr ein- Antrag auf Drucksache 13/2518 abzulehnen. Wer
setzen. Die Gleisfreihaltung soll umweltfreundlicher
- stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Gegen-
gestaltet werden - so weit, so gut. probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung
Aber ich frage auf der anderen Seite doch etwas ist abgelehnt.
verwundert, weswegen die Bahn denn kurze Zeit (Widerspruch)
später zum ersten erklärt, die chemische Vegetati-
onskontrolle bleibe ihre bestimmende Strategie, und - Entschuldigung, die Beschlußempfehlung ist ange-
zum zweiten fordert, weitere Bodenherbizide zuzu- nommen. Damit ist der Antrag abgelehnt.
lassen. Die dritte Frage, die man in diesem Zusam-
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
menhang natürlich auch stellen muß, ist, ob die Be-
DIE GRÜNEN]: Das wäre auch zu schön
handlung mit bisher einmal Diuron je Jahr zum Bei-
spiel durch Glyphosate ersetzt werden soll, die dann gewesen!)
drei- oder viermal im Jahr ausgebracht werden müß- Die Formulierung „Sind Sie dafür, daß wir dagegen
ten. Ob dies dann umweltfreundlicher ist, frage ich sind?" bringt uns alle gelegentlich ein bißchen ins
natürlich auch. Schlittern.
(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Land-
Meine Damen und Herren, ich möchte eine Diskus- wirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion
sion aus dem Jahr 1994 aus Baden-Württemberg an- Bündnis 90/Die Grünen zum Schutz der Gewässer
sprechen. Dort gab es zahlreiche grenzwertüber- und des Trinkwassers vor Pestizidbelastungen in der
schreitende Diuron-Gehalte. Dies führte dazu, daß Europäischen Union, Drucksache 13/3307. Der Aus-
die Landesregierung mit Verfügung vom 12. April schuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1544
1994 die Anwendung von Diuron in Wasserschutzge- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh-
bieten verboten hat. Alle diese Proben wurden nach- lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
geprobt und testiert. Bei diesen Nachproben stellte schlußempfehlung ist angenommen.
sich heraus, daß in diesem Fall nicht eine Diuron
Probe bestätigt wurde. Dies führte dazu, daß das Land Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tages-
Baden-Württemberg am 2. Dezember 1994 Diuron ordnung um die Beratung des Antrags der Fraktio-
nen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. zu einem Verbot
wieder zugelassen hat. Nun werden Sie fragen, wes-
halb ich dies hier anführe. Soweit ich es in Erinnerung von Anti-Personen-Minen auf Drucksache 13/4380
habe, gab es 1994 in Baden-Württemberg eine Große zu erweitern. Der Antrag soll jetzt gleich aufgerufen
Koalition zwischen CDU und SPD. Ich denke, daß in werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dem ist so.
diesem Bereich der Umgang mit Pflanzenschutzmit- Dann ist das auch beschlossen.
teln entsprechend realistisch gesehen wird.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 und den soeben
(Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) aufgesetzten Zusatzpunkt 14 auf:
Es gibt sicherlich einige Bereiche, die beanstandet
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Vol-
werden müssen, zum Beispiel Anwendungsaus-
ker Kröning, Uta Zapf, Gernot Erler, weiterer
schluß - -
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- Anti-Personen-Minen
zeit ist abgelaufen. Bitte nur noch einen Satz.
- Drucksachen 13/4093 -
Überweisungsvorschlag:
Wilhelm Dietzel (CDU/CSU): Die Anwendung in Auswärtiger Ausschuß (federführend)
Problemfeldern und schwierigen Bereichen wie zum Verteidigungsausschuß
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8767
Vizepräsident Hans Klein
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten ben war, ohne die Weichenstellungen so wichtiger
Dr. Friedbert Pflüger, Hans-Dirk Bierling, Nachbarstaaten wie Österreich und der Schweiz und
Claus-Peter Grotz, Heinrich Lummer, Hans so achtbarer NATO-Staaten wie Belgien, der Nieder-
Raidel, Karl Lamers und der Fraktion der lande, Dänemark und Norwegen und ohne die Be-
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Volker wegung, die in den USA unter dem Eindruck des
Kröning, Uta Zapf, Gernot Erler, Karsten Bosnien-Einsatzes entstanden ist, wären wir nicht so-
D. Voigt (Frankfurt), Dr. Peter Struck, Rudolf weit.
Scharping und der Fraktion der SPD sowie der
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Entscheidend
Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann, Günther
ist aber eine vernünftige Regierung, wie wir
Friedrich Nolting, Ulrich Irmer, Jörg van Es-
sie haben!)
sen, Dr. Helmut Haussmann, Uwe Lühr,
Dr. Rainer Ortleb, Dr. Irmgard Schwaetzer und - Ich mache schon die notwendige Verbeugung.
der Fraktion der F.D.P.
Ich glaube, die Bundesrepublik hat auch ein Zei-
Verbot von Anti Personen Minen
- - chen für das parlamentarische Interesse an der Sache
gesetzt, auch gerade im Zusammenwirken von Koali-
- Drucksache 13/4380 - tion und Opposition.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vor- und der F.D.P.)
gesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Ausspra- Schließlich will ich nicht anstehen, mich für die Zu-
che und erteile dem Kollegen Volker Kröning das sammenarbeit zwischen Parlament und Regierung
Wort. zu bedanken, besonders im Unterausschuß für Abrü-
stung und Rüstungskontrolle, in dem wir regelmäßig
und eingehend unterrichtet worden sind, und für die
Volker Kröning (SPD): Herr Präsident! Meine sehr
Bereitschaft zweier Minister, ihren Verwaltungen
verehrten Damen und Herren! Es ist gut, daß der
neue Vorgaben zu machen. Ich weiß, daß gute Mitar-
Bundestag am Vorabend der Abschlußrunde der VN-
beiter dies auch danken. Dies gilt nicht nur für die
Waffenkonferenz noch einmal Rück- und Vorschau
Juristen des Auswärtigen Amtes, sondern auch für
auf seine Arbeit zu diesem Thema hält. Seit der De-
die Soldaten der Bundeswehr.
batte am 29. Juni 1995 haben wir dreierlei erreicht,
was wir öffentlich vorzeigen können. Doch als Antragsteller der Vorlage auf Drucksache
13/4093, die offenbar den Punkt getroffen hat, will
Erstens. Der deutsche finanzielle Beitrag zu inter- ich nicht in Lobhudelei, schon gar nicht in Selbstlob
nationalen Minenräumaktivitäten ist 1996 erheblich
verfallen. Ich brauche nicht zu wiederholen, was ich
aufgestockt worden. Das wollen wir auch für 1997 si-
in diesem Haus am 1. Februar 1996 gesagt habe. Mit
cherstellen. dem gemeinsamen Antrag, den Koalition und SPD
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Volle Zustim- wie vor einem Jahr erneut stellen und zu dessen
mung der F.D.P.!) Gunsten wir unseren Antrag, der sich gewisserma-
ßen vom Futur zum Perfekt verwandelt hat - perfekt
- Das freut uns. Da haben wir ja schon die Mehrheit. ist die Sache noch nicht -, zurückziehen wollen, len-
Zweitens. Das deutsche Exportmoratorium für ken wir das Augenmerk darauf, welche Überzeu-
Anti-Personen-Minen ist unbefristet verlängert wor- gungs und Durchsetzungsarbeit in den nächsten
-
den. Wir Sozialdemokraten streben weiterhin ein Ex- zwei Wochen in Genf zu leisten ist.
portverbot für alle Landminen an. Ich nenne als Beispiele: Ein Einsatzverbot für nicht
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ detektierbare Minen ist noch nicht erreicht. Es wird
DIE GRÜNEN]: Aber kein Produktionsver- noch immer um lange Übergangsfristen für die Ein-
bot! - Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Ebenfalls führung von Selbstzerstörungs- und Selbstneutrali-
Zustimmung!) sierungsmechanismen und über großzügige Wirk-
zeitbegrenzungen gefeilscht. Die Geltung des Mi-
- Es wäre schön, wenn das auch festgehalten würde. nenprotokolls in innerstaatlichen Konflikten ist noch
nicht gewährleistet, und auch die bisherigen Ergeb-
Drittens. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre
nisse zum Verifikationsmechanismus lassen noch
Verhandlungslinie bei der Waffenkonferenz weiter-
sehr zu wünschen übrig.
entwickelt. Das Verbot und die Abschaffung von
Anti-Personen-Minen werden nunmehr übereinstim- Wir Sozialdemokraten erwarten, daß die Bundesre-
mend innerhalb der Bundesregierung und zwischen publik als Verhandlungsführer der westlichen Staa-
Bundestag und Bundesregierung nicht mehr als tengruppe alles Geschick daransetzt, noch deutliche
langfristiges Ziel verfolgt, das in Genf noch keine Verbesserungen an den Ergebnissen des letzten Vor-
ernstzunehmende Rolle zu spielen hätte, sondern bereitungstreffens zu erzielen. Die Bundesregierung
wird ein Thema dieser Runde. Deutschland geht da- sollte zu verstehen geben, daß diejenigen Staaten,
bei in einer Reihe weiterer Staaten mit gutem Bei- die sich querlegen, mit Rückwirkungen auf die wirt-
spiel voran. schaftliche Zusammenarbeit zu rechnen haben.
Dieser Erfolg hat viele Väter und Mütter. Ohne den Doch wir erwarten auch Transparenz und Schlüs-
Druck der NichtRegierungsorganisationen, meine sigkeit bei der Umsetzung der Entscheidungen der
Damen und Herren, der im In- und Ausland zu erle- Bundesregierung. Es kann nicht angehen, wie
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Volker Kröning
Staatsminister Schäfer neulich erklärt hat, daß von sollte, dem Bundesverteidigungsminister für seine
dem Exportmoratorium Ausnahmen gemacht wer- klare Entscheidung vom 15. April zu danken.
den, die sogar in dem Text nicht erkennbar sind.
(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Und
(Staatsminister Helmut Schäfer: Stimmt dem Außenminister bitte!)
nicht!)
- Ich schließe in den Dank ausdrücklich den Herrn
- Sie haben es zwar gesagt, doch aus der Veröffentli- Bundesaußenminister ein.
chung war dies nicht zu entnehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Es wird ferner im einzelnen zu prüfen sein, welche Es ist die Entscheidung gefallen, auf Anti-Perso-
Definition von Anti-Personen-Minen nach der Ent- nen-Minen zu verzichten und sich für eine weltweite
scheidung des Bundesverteidigungsministers von Ächtung in Genf einzusetzen. Der Bundesverteidi-
der Bundeswehr wirklich zugrunde gelegt wird. gungsminister - das werden Sie mir nachsehen - hat
es am schwersten gehabt, diese Entscheidung zu ver-
Wir bitten den Verteidigungsminister um Vorlage
treten. Er hatte nämlich gegenüber der militärischen
eines ausformulierten Erlasses. Es geht vor allem um Gemeinschaft zu erklären, daß durch diese Entschei-
die Definition von Anti-Personen-Minen im Verhält-
dung Lücken in die bisherige Verteidigungskonzep-
nis zu dem bei der Bundeswehr üblichen Begriff der tion gerissen werden. Von daher sollten wir die Ent-
Schützenabwehrmine. Es geht um die Erfassung mo- scheidung des Bundesverteidigungsministers hier
derner Minentypen, besonders wenn sie für verschie-
wirklich würdigen. Wir, die CDU/CSU-Fraktion,
dene Zwecke benutzt werden können. Es geht auch freuen uns jedenfalls sehr darüber.
um Anti-Personen-Minen, die aus dem Bestand der
NVA stammen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Respekt vor dem
Wenn man, meine Damen und Herren, auf die Er- Verteidigungsminister!)
gebnisse der 26. Internationalen Rotkreuz- und Rot-
halbmondkonferenz, die zwischen dem Anfang und Die Entscheidung von Herrn Rühe bestätigt auf
dem Ende der VN-Konferenz stattgefunden hat, und eindrucksvolle Weise die Vorreiterrolle,
auf den wichtigen Beitrag zurückblickt, den das (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
IKRK erst jüngst mit der Studie „Anti-Personnel
Landmines - Friend or Foe?" geleistet hat, bin ich zu- die die Bundesrepublik Deutschland - hören Sie ru-
versichtlich, daß unsere Verhandlungsführer mit gu- hig zu, Frau Kollegin Beer - in den letzten Jahren in
ten Leitlinien nach Genf ziehen. der Minendebatte auf allen Gebieten gespielt hat.
Ich werde das belegen.
Für uns Sozialdemokraten wird die nächste Bera-
tungsrunde in diesem Hause die Ratifizierung des Erstens. Die Forderung der 48. Generalver-
Waffenübereinkommens und der Protokolle sein. Wir sammlung der Vereinten Nationen hatte ein Export-
bitten schon jetzt darum, den Gesetzentwurf nicht zu verbot von Anti-Personen-Minen vorgesehen. Die
lange auf sich warten zu lassen, und werden uns auf Bundesrepublik Deutschland ist diesem Exportverbot
unser Abstimmungsverhalten sorgfältig vorbereiten. als einer der ersten Staaten nachgekommen. Es hat
im Juni 1994 ein Exportmoratorium zunächst auf drei
Meine Damen und Herren, auch wenn die Äch- Jahre befristet gegeben.
tung von Anti-Personen-Minen in Genf nicht durch-
setzbar sein dürfte, fordern wir, daß das Thema auf Zweitens. Dieses Exportmoratorium ist am
der internationalen Tagesordnung bleibt. Wir wollen 11. Januar durch die Entscheidung des Herrn Bun-
ausschließen, daß Genf eine Station auf dem Wege desaußenministers verlängert worden.
zur Modernisierung von Minen und damit zu einem Drittens. Jetzt haben wir das Moratorium zu einem
neuen Rüstungswettlauf bei dieser Waffenart wird. völligen Verzicht der Bundeswehr auf Anti-Perso-
Das Ergebnis muß sein, der Abschaffung von Anti- nen-Minen ausgeweitet.
Personen-Minen und einer humanitären Kontrolle
über die übrigen Landminen, so schwer es auch fällt, Viertens. Die Bundeswehr vernichtet derzeit
dieses Begriffspaar zu bilden - das gilt aber für alle 491 000 Panzerabwehrminen älterer Bauart,
Waffen -, näherzukommen. 1,27 Millionen Schützenabwehrminen und
1,28 Millionen Minen aus Beständen der ehemaligen
Ich danke Ihnen. NVA. Zusammen sind das über 3 Millionen Minen,
die in den Beständen der Bundeswehr vernichtet
(Beifall bei der SPD, der F.D.P. sowie bei werden. Wir sind also der größte Minenvernichter
Abgeordneten der CDU/CSU) der Welt, und das sollten auch die Grünen und die
PDS zur Kenntnis nehmen.
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Fried- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
bert Pflüger, Sie haben das Wort.
Fünftens. Der Betrag für weltweite Minenräum-
maßnahmen ist im Haushalt 1996 von 3 Millionen auf
Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Herr Präsident! 13 Millionen DM angehoben worden. Gleichzeitig
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich aber gibt, was kaum gewürdigt wird, die Bundes-
glaube, daß der Anlaß, aus dem wir uns heute ver- wehr 40 Millionen DM für die Beschaffung von Sy-
sammeln, uns erst einmal die Gelegenheit bieten stemen betreffend Aufklärung und Räumung von
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8769
Dr. Friedbert Pflüger
Minen aus. Diese 40 Millionen DM, die der Minen- Ich glaube, daß es eine kluge Entscheidung gewe-
räumung dienen, erscheinen in den Statistiken der sen ist. Ich möchte hier im Parlament auch den So-
Grünen immer bei Ausgaben für Minen. Sie dienen zialdemokraten und der F.D.P. herzlich dafür danken,
dem Minenräumen. Es ist eine große Leistung, daß daß Sie diesen Weg mitgegangen sind. Ich weiß, daß
wir trotz der Haushaltszwänge, denen wir uns ge- es von seiten humanitärer und kirchlicher Organisa-
genübersehen, 53 Millionen DM für Minenräumen tionen - zum Beispiel des Roten Kreuzes - einen
im Jahr 1996 ausgeben. Druck gab weiterzugehen. Aber ich glaube, daß es
richtig war, hier eine klare Trennung vorzunehmen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Solange es Panzer gibt, die eine militärische Überle-
Sechstens. Auf der Überprüfungskonferenz in genheit und Bedrohung darstellen, ist auch die Ver-
Genf setzen wir uns auf allen Gebieten als Vorreiter teidigung mit Panzerabwehrminen legitim. Es ist
für eine Verschärfung des Minenprotokolls der Ver- meines Erachtens richtig und notwendig, auch dar-
einten Nationen ein. Wir sind dafür, daß das Minen- auf hinzuweisen. Das gehört zur Wahrheit dazu.
protokoll auch in innerstaatlichen Konflikten gelten Diese Wahrheit hat erst die Chance eröffnet, Anti-
soll. Wir sind dafür, daß es einen Überprüfungsme- Personen-Minen zu ächten.
chanismus geben soll, der auch Möglichkeiten zur
Dennoch müssen wir sehen, daß es nicht nur von
Ahndung von Verstößen gegen dieses Minenproto- seiten der humanitären Organisationen, denen ich
koll eröffnet. Wir sind für ein Verbot aller Minen, die übrigens allen für ihr Engagement und ihre Aufklä-
nicht mit herkömmlichen Minenschutzgeräten auf
rungsarbeit im Namen meiner Fraktion ganz herzlich
spürbar sind. Wir sind für Einsatzbeschränkungen
- danke, Kritik gibt. Wir müssen sehen, daß es auch
für alle Arten von Landminen, die nicht über Selbst-
von seiten mancher Militärs Kritik gibt, die sagt: Es
zerstörungsmechanismen verfügen.
ist jetzt eine große Lücke in unsere Sperrkonzeption
Darin sind wir die Vorreiter, und es sind nicht die gerissen worden.
Bundesrepublik Deutschland, der Außenminister,
der Verteidigungsminister, die das blockieren wür- (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
den. Das ist doch das, was Sie in Ihrem Agitations- NEN]: Das ist doch Quatsch!)
und Propagandamaterial ständig der Öffentlichkeit
Wie sollen wir Objektschutz durchführen, wie sollen
vorhalten und erzählen. Sie vermitteln den Eindruck,
wir in der Lage sein, zum Beispiel Dörfer oder Stel-
als seien hier Leute, die eine Freude daran hätten,
lungen weiterhin gegen einen Angriff durch Infante-
daß Kinder keine Beine mehr hätten und daß ir-
rie zu schützen? Deshalb ist diese Frage völlig legi-
gendwo auf der Welt Minen explodieren. Wir sind
tim. Das ist keine Frage von blutrünstigen Offizieren,
diejenigen, die hier Vorreiter sind. Es sind Länder
sondern eine legitime militärische und sicherheitspo-
wie China, Iran, Pakistan, Indien, Mexiko, die hier
litische Fragestellung.
bremsen, nicht aber die Bundesrepublik Deutsch-
land, Frau Kollegin Beer. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und der F.D.P.)
Kaum jemand weiß davon, daß es ein Minendoku- Um so höher ist zu bewerten, daß sich der Verteidi-
mentationszentrum der Bundeswehr gibt, das seit gungsminister entschlossen hat zu sagen: Der huma-
1993 den Auftrag hat, eine Datenbank mit wesentli- nitäre Schaden dieser Waffe ist größer als der militä-
chen Informationen über alle weltweit vorhandenen rische Nutzen.
Minen und Sprengmittel anzulegen. In dieser Daten-
bank sind 467 verschiedene Minentypen und (Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
43 Minenzünder gespeichert. Diese Erkenntnisse NEN]: Das hat er nicht gesagt! Das ist hin
stellen wir der Weltgemeinschaft, den Vereinten Na- eininterpretiert!)
tionen zur Verfügung. Ich finde, daß auch hier die
Das ist die grundsätzliche Begründung, die auch
Arbeit, die geleistet wird, ganz ausgezeichnet ist.
wir so empfunden haben. Ich kann nur auf eine Er-
Frau Kollegin Beer, wenn wir dem Ratschlag der klärung amerikanischer Generäle verweisen. Eine
Grünen gefolgt wären und als Koalition auf einem Reihe von ihnen, an der Spitze jemand wie Norman
Gesamtverbot aller Landminen bestanden hätten, Schwarzkopf, aber auch John Galvin und andere, ha-
was Sie alle wollen, dann hätten wir nie im Leben die ben in einem Brief an Bill Clinton gesagt: Diese
Entscheidung des Bundesaußenministers und des Landminen sind militärisch nicht mehr wesentlich.
Bundesverteidigungsministers gehabt. Wer glaubt, Es ist deshalb geboten, sie aus humanitären Gründen
wir könnten heute zum Beispiel Anti-Panzer-Minen abzuschaffen. Wir haben heute so viele moderne
von der Welt verbannen, der erhebt eine unrealisti- Waffen, daß wir diese furchtbaren Anti-Personen-Mi-
sche, im übrigen auch eine militärisch nicht verant- nen auch ersetzen können.
wortbare Forderung.
Deshalb können wir meines Erachtens mit gutem
Deshalb war es richtig, diese Trennung vorzuneh- Gewissen sagen: Die Entscheidung der Bundesregie-
men. Das war die Voraussetzung dafür, daß wir einen rung ist nicht nur humanitär wünschenswert gewe-
Beschluß bekommen haben, daß wir die schlimmsten sen, sondern sie ist auch militärisch verantwortbar.
dieser Waffen, nämlich die Anti-Personen-Minen, die Deswegen haben wir das richtig gemacht. Ich
nicht zwischen Zivilisten und Militärs unterscheiden, möchte den Beteiligten in allen Fraktionen und den
jetzt endlich ächten können. humanitären Organisationen danken.
8770 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man sowie des Abg. Steffen Tippach [PDS])
muß natürlich zugeben, daß Verteidigungsminister Aus diesem Grunde halten wir an dem Antrag mei-
Rühe kurz vor der Fortsetzung der Überprüfungskon- ner Fraktion, der in den Ausschüssen zur Beratung
ferenz der VN in der nächsten Woche dieses Anti- liegt, fest und werden ihn demnächst behandeln.
Personen-Minen-Verbot wirklich publikumswirksam
erklärt hat. Dieser Schritt war allerdings längst über- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Leider irreal!)
fällig, um sich selbst innerhalb der NATO nicht zu
isolieren, Kollege Kröning hat aufgezählt, welche Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine Zwi-
Staaten diese Notwendigkeit bereits vorher erkannt schenfrage des Kollegen Nolting?
haben. Die Entscheidung paßt vorzüglich zu der PR-
Strategie der Bundesregierung. Kurz vor dem Exper-
tentreffen im Januar hat das Kabinett das zunächst Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
auf drei Jahre befristete Exportmoratorium für die Kollege Nolting.
Anti-Personen-Minen unbefristet verlängert.
Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege.
Beide Entscheidungen legitimieren in Deutschland
letztlich den bereits begonnenen Einstieg in eine Rü-
stungsgeneration der sogenannten High-Tech-Mi- Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Frau Kollegin,
nen. Deswegen werden Sie von uns nicht dieses ge- können Sie mir, uns und den staunenden Zuschau-
suchte und selbst gegebene Lob hören. Denn der jet- ern dann einmal erklären, warum die Fraktion der
zige Verzicht bringt lediglich die Vernichtung jener Grünen im Verteidigungsausschuß Anträge gestellt
Waffen mit sich, die die Bundeswehr nicht mehr be- hat, nach denen Minensuchgerät und Gerät zur Mi-
nötigt und auch nicht mehr produziert. Das wissen nenvernichtung nicht mehr zu beschaffen ist? Kön-
Sie ganz genau. Das Beharren der Militärs auf der nen Sie das einmal in ein Verhältnis zu dem, was Sie
Anwendung von Anti-Panzer-Minen, insbesondere jetzt hier moralisierend vortragen, setzen?
zukünftig von Flächenverteidigungsminen der Kri-
senreaktionskräfte, führt dazu, daß an der Lüge, es Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
gäbe gute und schlechte Minen, festgehalten wird. mache ich natürlich gerne, Herr Kollege. Sie wissen,
daß wir uns bei diesem Antrag auf einen Prüfbericht
Aber die Vielzahl der Opfer beweist, daß eine
des BMVg beziehen, in dem schriftlich den Verteidi-
Anti-Panzer-Mine - Sie wissen das sehr genau -
gungsexperten dargelegt wurde - auch im Unteraus-
nicht zwischen einem Panzer und einem Schulbus
schuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle übri-
unterscheidet.
gens, dem Sie nicht angehören -, daß der „Keiler"
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keine Fähigkeiten zur humanitären Minenräumung
sowie des Abg. Steffen Tippach [PDS]) hat und auch nicht haben soll, sondern nur der mili-
tärischen Minenräumung dient. Um Ihnen das viel-
Moderne Anti-Panzer-Minen haben einen Räum- leicht erläutern zu dürfen: Der Keiler hat einen Me-
schutz - auch das dürfte bekannt sein -, der die chanismus, der die Minen zur Seite wirft und der
Funktion einer Anti-Personen-Mine hat. Der Verzicht gleichzeitig dadurch, daß er eine Schneise schlägt,
auf Anti-Personen-Minen ist also in erster Linie mili- um die eigene Truppe sicher durchzugeleiten, ein
tärstrategisch begründet. Würde man den Verzicht neues Minenfeld am Rand erzeugt. Das allerdings ei-
ernst nehmen, würde die Bundesregierung die Defi- ner Zivilbevölkerung zuzumuten, die ihre verminten
nition der Europäischen Union übernehmen, so Felder wieder nutzen muß, um überleben zu können,
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8771
Angelika Beer
ist Schlichtweg menschenverachtend. Wir haben dem Sie zumindest die Äußerungen Ihres F.D.P.-Ministers,
entgegengehalten, daß diese Gelder, auch die für die des Außenministers Kinkel, zur Kenntnis genommen
Minenproduktion, für die humanitäre Minenräu- hätten, würden Sie wissen, daß die Anträge, die wir
mung ausgegeben werden sollten. Auch in bezug einbringen, dazu auffordern, die in diesen Äuße-
darauf gibt es Berichte, die Sie durchaus einmal zur rungen enthaltenen Anregungen tatsächlich umzu-
Kenntnis nehmen sollten. Wenn man sich die erfolg- setzen.
reiche Räumung durch die Krohnsche Fräse in Mo-
sambik anschaut, Ich habe die Krohnsche Fräse erwähnt. Außenmi-
nister Kinkel hat in einem Fernsehinterview gesagt,
(Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Gutes Gerät!) daß, wenn dieses Gerät tatsächlich so gut arbeitet,
die ja auch von dem Auswärtigen Amt gefördert eine größere Produktion erfolgen soll, und zwar nicht
wird, dann wird man den Unterschied zwischen hu- zu Lasten eines Privatmannes, der dieses Gerät aus
manitärer und militärischer Räumung begreifen. Wir humanitären Gründen entwickelt hat, sondern zu La-
wollen nicht erst Minen für die Kriegsführung produ- sten des Staates, um zum Beispiel Mosambik von die-
zieren und dann High-Tech-Gerät für deren Räu- ser Plage zu befreien. Dafür werden wir nicht nur die
mung. Vielmehr wollen wir die Menschheit von die- Mittel, die für den militärischen Keiler freigestellt
ser Geißel befreien, einer Geißel, die von Rüstungs- sind, umwidmen, sondern die gesamten Mittel, die
produzenten so definiert wird, daß sie Menschen im Moment im Bereich der Weiterentwicklung, For-
nicht tötet, sondern zerstückelt und verstümmelt, um schung und Produktion von High-Tech-Minen ent-
zu demoralisieren. Das machen wir nicht mit. halten sind. Diesen Antrag gebe ich Ihnen als erstem
gern zur Kenntnis.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen]
PDS) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, sind Sie Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Beer, jetzt
bereit, eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Nol- möchte der Kollege Breuer noch eine Zwischenfrage
ting zu beantworten? stellen. Sind Sie bereit, auch die zu beantworten?
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber
bin gerne bereit, ihm weitere Informationen zuzulei- natürlich, Herr Kollege Breuer.
ten. Das steht allerdings auch in den Drucksachen.
Bitte, Herr Kollege. Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege
Breuer.
Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Ich würde gerne
dazu noch eine weitere Frage stellen, wenn Sie sie
Paul Breuer (CDU/CSU): Frau Kollegin Beer, kön-
zulassen.
nen Sie mir, da Sie diesen seltsamen Unterschied
zwischen militärischem Gerät und humanitärem Ge-
Vizepräsident Hans Klein: Bitte. rät machen, erklären -
Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Frau Kollegin, Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Den
war es nicht in den Beratungen zum Haushaltsplan sollten Sie als Experte kennen.
so, daß Sie ganz konkrete Anträge dazu gestellt ha-
ben, daß Gelder - ich wiederhole das noch einmal,
und wir können das dann gerne noch einmal schrift- Paul Breuer (CDU/CSU): - wie ein militärisch-hu-
lich nachlegen - nicht bewilligt werden sollen, wenn manitärer Einsatz verantwortet werden könnte, bei
sie dazu verwendet werden sollen, Gerät zum Mi- dem es nach Ihrer Definition nicht möglich wäre, hu-
nensuchen und zum Minenräumen zu beschaffen? manitäre Güter in ein Hilfsgebiet hineinzubringen,
Wie erklären Sie es, daß Sie - es gibt leider eine Viel- ohne daß auf den Wegen entsprechende Schneisen
zahl von Minen auf dieser Welt - damit verhindern, geschaffen würden?
daß die Bundesrepublik Deutschland Gerät zur Ver- Können Sie mir des weiteren erklären, wie ein ein-
fügung stellt, um zum Beispiel in Bosnien mit dem ziger Kollege oder eine einzige Kollegin Ihrer Frak-
Keiler Minen entsprechend zu vernichten und aus tion dem Bosnien-Einsatz hätte zustimmen können,
der Welt zu schaffen? Darum geht es. Ich möchte wenn derartiges Gerät nicht vorhanden wäre?
gerne von Ihnen wissen, ob Sie bestätigen, daß Sie
im Verteidigungsausschuß einen entsprechenden
Antrag gestellt haben, daß Gelder nicht mehr zur Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
Verfügung gestellt werden. Darum geht es, und dar- Kollege Breuer, das kann ich Ihnen erklären: Wenn
auf hätte ich gerne eine Antwort. Deutschland während des Ersten Weltkrieges diese
perfide Technologie nicht erfunden hätte, dann gäbe
es diese Minen heute weder in Jugoslawien noch wo-
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie
anders.
brauchen sich gar nicht zu echauffieren. Ich habe Ih-
nen bereits darauf geantwortet. Wir haben diesen (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Gehen
Antrag gestellt; wir werden ihn wieder stellen. Wenn Sie doch auf die konkrete Frage ein!)
8772 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Angelika Beer
Sie halten an einer Ideologie der Minentechnolo- denn er legt am Rand neue Minenfelder -, so unsin-
gie, wie sie von Ihnen verbreitet wird, fest. Sie sind nig ist es natürlich auch, von guten Minen mit einem
nicht fähig, wissenschaftliche Berichte zu unterschei- Selbstzerstörungsmechanismus zu reden - das hat
den. Daher erkläre Ihnen gern, was humanitäre Räu- auch Herr Kollege Pflüger eben erwähnt -, die eine
mung bedeutet: Mit hundertprozentiger Wahrschein- Versagerquote von ebenfalls 10 Prozent haben. Das
lichkeit wird ein Gebiet, das minenverseucht war, heißt, auch diese sogenannten humanitären Minen
der Zivilbevölkerung wieder zur Verfügung gestellt. mit der Quote von 10 Prozent bedeuten eine akute
Militärische Räumung kann dies aber nicht leisten. Gefährdung der Bevölkerung. Man kann Menschen
Ich habe das vorhin schon erwähnt. Auf dieser in ein Gebiet, wo noch 10 Prozent der Minen vorhan-
Grundlage sollten Sie zur Kenntnis nehmen, daß we- den sind, nicht hereinlassen.
der ich noch meine Fraktion dagegen gestimmt hat,
diesen Prototyp „Keiler", der ansonsten ziemlich un- Die Bundesregierung fährt also doppelgleisig und
nütz ist und Unsummen an Geld verschlingt, natür- erhält in beiden Bereichen eine Lügenpropaganda
lich, wenn irgend möglich, in Ex-Jugoslawien einzu- aufrecht, wodurch allerdings deutlich wird - auch
setzen, wenn es darum geht, Versorgungswege frei- das möchte ich hier klar sagen, Herr Kollege Pflüger -,
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, (Zuruf von der CDU/CSU: Peinlich ist das!)
Herr Kollege Tippach.
Ihre Produktion und Entwicklung von Flächenvertei-
Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege. digungsminen wird ebenso eine Geißel für die
Menschheit sein wie die bisherigen Minen, die man
(Zuruf von der CDU/CSU: Herr Tippach, jetzt nicht mehr braucht.
Hände aus der Hose!)
Das Signal, das Sie bei den Verhandlungen in
Steffen Tippach (PDS): Frau Kollegin Beer, würden Genf setzen, besagt nicht, daß die Staaten, die nicht
Sie mir zustimmen, daß es für die Zivilbevölkerung über High-Tech-Minen verfügen, jetzt auch auf die
völlig unsinnig ist, wenn ein minenverseuchtes Ge- einfachen verzichten sollen. Vielmehr ist es ein Si-
lände als nur zu 90 Prozent - also militärisch - ge- gnal an die Rüstungsindustrie, daß sie sich auf die
räumt gilt und die übrigen 10 Prozent weiterhin mi- Zukunftsaufträge freuen kann. Ihr Signal ist ein Si-
nenverseucht sind? Würden Sie mir zustimmen, daß gnal an die internationale Kampagne gegen Land-
es dementsprechend unsinnig ist, Entwicklungsme- minen, die an diesem Samstag bundesweit und auch
chanismen einzusetzen, die militärisch geräumte Flä- international gegen genau die Politik, die Sie hier be-
chen mit Quoten von 90 Prozent erzeugen, daß es treiben, protestiert.
vielmehr sinnvoller wäre, alle Entwicklungsmöglich-
keiten darauf zu konzentrieren, eine zivilsaubere Ich rufe die, die dieser Debatte heute folgen, auf
Räumung, also zu 100 Prozent, zu erzielen? und appelliere an sie: Wenn Sie einzelne, übrigge-
bliebene Schuhe haben, schicken Sie sie symbolisch
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich an Volker Rühe als Bundesminister der Verteidigung.
stimme damit überein. Es gibt viele Organisationen,
zum Beispiel medico, Mines advisory Group aus Eng- (Zuruf von der CDU/CSU: Wie ich gesagt
land und natürlich auch die Krohnsche Projektie- habe: Agitation, nichts anderes ist das!)
rung, die den Anforderungen einer 100prozentigen
Minensäuberung offensichtlich entsprechen. Denn er soll wissen, daß ein Mensch mit nur noch ei-
nem Schuh kein vollständiger Mensch ist -
Um Ihrer Frage eine weitergehende Forderung
entgegenzuhalten bzw. sie zu ergänzen: So unsinnig
es ist, Minenräumgerät zu produzieren und zu finan-
zieren, das nicht einmal eine Räumung von Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Re-
90 Prozent erreicht - das gilt auch für den Keiler, dezeit ist abgelaufen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8773
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): - und scheiterten doch vor allem an China und an Rußland,
daß diese Politik menschenverachtend ist. die nicht bereit waren, stärkere Beschränkungen hin-
zunehmen. Warum sagen Sie das denn nicht deut-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lich?
und bei der PDS - Zurufe von der CDU/
CSU und der F.D.P.: Unglaublich! - Günther Mit dem deutschen Verzicht zeigt die Bundesregie-
Friedrich Nolting [F.D.P.]: Aber Anträge im rung, daß sie unsere gemeinsamen interfraktionellen
Ausschuß stellen, die dem total widerspre- Anträge vom Sommer letzten Jahres konsequent um-
chen!) setzt. Dafür verdient sie Lob und keine mäkelnde
Kritik.
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- Mit unseren Ergebnissen und Forderungen sind
lege Dr. Olaf Feldmann. wir den meisten Staaten weit voraus. Das Landmi-
nenproblem läßt sich nun einmal nicht in nationalen
Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Alleingängen lösen.
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin (Zuruf der Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/
Beer, Sie haben sich total verrannt. DIE GRÜNEN])
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - - Frau Kollegin, warum begrüßen Sie denn nicht, daß
Lachen bei der PDS) sich auch in den USA ein Verzicht auf Anti-Perso-
Für die F.D.P. darf ich feststellen: Der Verzicht der nen-Minen abzeichnet?
-
Bundeswehr auf Anti-Personen-Minen und die Ver- Unser Verzicht ist ein deutliches Signal an die Teil-
nichtung der Bestände sind ein großer Abrüstungser- nehmerstaaten der Genfer Überprüfungskonferenz.
folg. Unser Ziel bleibt die weltweite Ächtung vor allem
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU der Minen, die auch nach den Kampfhandlungen
sowie bei Abgeordneten der SPD) noch jahrelang als tödliche Gefahr im Boden bleiben.
Statt diesen anzuerkennen, kritisieren Sie hier mä- Wir müssen beim Thema Minen neben der huma-
kelnd herum und betreiben reine Agitation. nitären Seite auch die entwicklungspolitische Kom-
ponente sehen. Landminen sind Entwicklungsver-
Die F.D.P. begrüßt, daß der Verteidigungsminister hinderungswaffen.
in dieser Frage der Position von Außenminister Kin-
kel gefolgt ist. Das erste deutliche Signal wurde mit (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
der auf Initiative von Außenminister Kinkel zustande ten der SPD)
gekommenen unbefristeten Verlängerung des Ex- - Minen - vor allem die Anti-Personen-Minen -
portmoratoriums für Anti-Personen-Minen im letzten
Jahr gesetzt. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Sie haben eben Landminen
Wir haben immer wieder betont, daß sich die Mi- gesagt! Das ist ganz richtig!)
nenpolitik der Bundesregierung auf das Machbare
konzentrieren muß. Nur politischer Realismus führt machen in weiten Teilen der Erde Landwirtschaft un-
zu Erfolg. möglich.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Zuruf der Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
Es ist schade, daß sich Grüne und PDS dieser ver-
nünftigen Politik nicht anschließen. Sie wecken mit Die F.D.P. sieht deshalb in einer Verstärkung der Mi-
ihren total überzogenen Forderungen falsche und nenräummaßnahmen eine besonders effektive A rt
unrealistische Hoffnungen. derEntwicklugshf.
(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aber Minen sind nicht nur ein Problem für Ent-
NEN]: Menschlich und christlich sind die, wicklungsländer. Das zeigen die Minenunfälle in
nicht überzogen!) Bosnien. Wenn schon IFOR-Soldaten durch Minen
getötet werden, um wieviel gefährlicher sind Minen
- Frau Beer, grüne Maximalforderungen sind kontra- dann für die Zivilbevölkerung?
produktiv.
(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - NEN]: Das fällt Ihnen erst jetzt auf, nach
Widerspruch des Abg. Albert Schmidt dem 63 Länder verseucht sind?)
[Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Auch die noch in Deutschland lebenden rückkehr-
Die bisherigen Erfolge bei der Abrüstung - die willigen Jugoslawienflüchtlinge werden bei ihrer
werden Sie nicht bestreiten können - haben wir Rückkehr nach Bosnien auf Minen treffen. Warum
durch eine realistische Politik und eine Politik der setzen wir nicht schon in Deutschland mit Aufklä-
Gemeinsamkeit erzielt, nicht durch utopische rungsmaßnahmen ein? Ich appelliere an die zustän-
Träume, denen Sie nachhängen. digen Stellen, sich der hierzu bereits vorliegenden
Konzepte zu bedienen.
Frau Kollegin, die letzte Überprüfungskonferenz
hat doch gezeigt, wie weit auseinander die Interes- Ich stimme den Kollegen Pflüger und Kröning zu:
sen der Staaten liegen. Die bisherigen Konferenzen Das Protokoll von 1980 zum UN-Waffenüberein-
8774 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
men Antrag zu und lehnt den Antrag der Grünen ab. vorzulesen. Von einer Vorreiterrolle Deutschlands
kann dabei überhaupt keine Rede sein. Eher kann
Vielen Dank. schon die Rede davon sein, daß es sich um internatio-
nalen Druck gehandelt hat, der diesen Schritt letzt-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU endlich gefördert hat.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es gibt noch jede Menge andere gute Gründe, die
hier aufkommende interfraktionelle Kulturstunde
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol-
- nicht ausufern zu lassen. Zum Beispiel ist überhaupt
lege Steffen Tippach. nicht die Rede von einem Herstellungsverbot oder ei-
ner Veränderung des deklaratorischen Exportmora-
toriums hin zu einer gesetzlichen Verankerung.
Steffen Tippach (PDS): Herr Präsident! Sehr ge- (Hans Raidel [CDU/CSU]: Eine Million
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Pflü- NVA-Minen müssen wir vernichten!)
ger, ich weiß nicht, ob Ihnen aufgefallen ist, wie zy-
nisch Ihre Argumentation eigentlich ist, - Es ist ja gut. Eine Million NVA-Minen - sagen Sie
das den Leuten, die dafür zuständig und verantwort-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lich sind.
nämlich zu sagen, es sei aus militärischen Gründen (Günther F riedrich Nolting [F.D.P.]: Da sind
wir gerade dabei!)
jetzt nicht mehr nötig, Anti Personen Minen einzu-
- -
setzen, weil wir moderne Waffen hätten, und dann - Es ist ja gut. - Herr Präsident, würden Sie bitte ein-
militärisch unterentwickelten Staaten dies vorzuwer- greifen. Ich komme nicht mehr zum Reden, wenn
fen. Damit dokumentieren Sie eigentlich nur, daß es dieses Geschrei dauernd einsetzt.
Ihnen nicht um humanitäre Waffen geht. Sie sind die-
sen Schritt gegangen, weil Sie den militärischen Vor- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Sie sind
sprung haben. Dabei steht die humanitäre Erwägung doch die Nachfolgeorganisation! Oder wol
hinter der militärischen zurück. len Sie das Erbe ausschlagen? - Heiterkeit
bei der F.D.P.)
(Beifall bei der PDS - Hans Raidel [CDU/ Ich fordere die Bundesregierung auf, ein Herstel
CSU]: Wer hat denn die meisten Minen lungs und Exportverbot für Anti-Personen-Minen
-
Günter Oesinghaus
und den Gesetzentwurf in den entscheidenden Kri- Grenze auf 0,5 Promille. Die Bundesregierung ver-
tikpunkten, die auch die SPD-Bundestagsfraktion schleppt diesen Gesetzentwurf seit der letzten Legis-
teilt, nachgebessert. laturperiode, und auch jetzt schlummert der entspre-
chende Gesetzentwurf schon wieder im Rechtsaus-
(Beifall des Abg. Siegf ried Scheffler [SPD]) schuß still vor sich hin.
Es ist bedauerlich, daß sich die Bundesregierung (Siegfried Scheffler [SPD]: Skandalös!)
wieder einmal den Sachargumenten verschließt; ich
werde auf die einzelnen Punkte noch zurückkom- Gemessen an der Notwendigkeit der Senkung der
men. Der Vorwurf, den sich die Bundesregierung Promillegrenze in bezug auf die Anzahl der Ver-
und insbesondere der Bundesverkehrsminister gef al- kehrsopfer ist die Senkung des Mißbrauchs illegaler
len lassen muß, ist, daß hier wieder einmal der, wie Drogen im Straßenverkehr eben nur zweitrangig.
wir meinen, untaugliche Versuch unternommen
wird, Handlungsfähigkeit im Kampf gegen Drogen Ich möchte Ihnen dies gerne noch einmal mit den
vorzutäuschen, obwohl es auf der Hand liegt, daß der Fakten belegen. Nach Angaben der Deutschen Ver-
vorliegende Gesetzentwurf in der Praxis nicht hand- kehrswacht wurden 1993 bundesweit mindestens
500 durch illegale Drogen verursachte Unfälle mit
habbar ist.
32 Toten und 750 Verletzten gezählt. Im gleichen
Es ist vollkommen unse riös, die entscheidenden Zeitraum lag aber allein im Bundesland Nordrhein-
Fragen nicht zu beantworten, nämlich: wie denn eine Westfalen die Todesrate bei Unfällen unter Alkohol-
flächendeckende Blutprobenkontrolle vorgenommen einfluß nach wissenschaftlichen Erkenntnissen bei
werden soll, wie die Zahl der Institute in den Län- 40 Prozent. Mit anderen Worten: Bei insgesamt
dern aufgestockt werden kann bzw. wie die Polizei 16 116 Verkehrsunfällen war Alkohol im Spiel, wobei
die notwendigen technischen Ausrüstungen erhält 192 Menschen ums Leben kamen.
und wie das Ganze in der Praxis innerhalb von drei
Allein 1 314 Verkehrsunfälle wurden von Fahrern
Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes zu finan-
verursacht, die zwischen 0,5 und 0,79 Promille Alko-
zieren und umzusetzen ist.
hol im Blut hatten. Bei diesen Unfällen kamen
Allein die Erkennung der durch illegale Drogen 23 Menschen ums Leben und wurden 597 verletzt.
beeinflußten Fahrzeugführer durch die Polizei ist Wohlgemerkt: Das sind nur die Zahlen für Nord-
weitaus schwieriger als die Feststellung, daß ein rhein-Westfalen. Allein in diesem Bundesland ist also
Fahrzeugführer Alkohol konsumiert hat. Prüfgeräte, eine ähnlich hohe Zahl von Menschen bei nachge-
die bisher vorgestellt wurden, lassen aus Sicht der wiesenem Alkoholmißbrauch zwischen 0,5 und
Polizei in Handhabung und Technik möglichst war- 0,79 Promille getötet oder verletzt worden, wie dies
tungsfreier Instrumente noch keinen überzeugenden bundesweit bei Mißbrauch von illegalen Drogen im
Einsatz zu. Das wird unter anderem auch von dem Straßenverkehr der Fall ist.
Polizeidirektor in Köln, Herrn Granitzka, bestätigt.
Im Vergleich zu den bundesweit fast 38 000 Unfäl-
Die Erkennung von Fahrten unter Drogeneinfluß len unter Alkoholeinwirkung mit 2 048 Toten wird
muß auch über verbesserte Grundlagenvermittlung die Dimension noch deutlicher. Auf die angenom-
in der Ausbildung der Polizei erreicht werden - wie mene Dunkelziffer von mehr als 4 000 Toten im Zu-
gesagt, alles innerhalb von drei Monaten. sammenhang mit Alkoholeinfluß am Steuer will ich
jetzt gar nicht erst eingehen.
Neben den erworbenen Kenntnissen einschließlich
der Rechtsgrundlagen, Eingriffsbefugnisse und Ar- Ich frage mich, wieso der Bundesverkehrsminister
beitsweisen der Polizei bedarf es einer engen Zusam- bei dem Mißbrauch illegaler Drogen zu Recht Hand-
menarbeit mit den Instituten für Rechtsmedizin, den lungsbedarf erkennt und bei dem Mißbrauch von Al-
Staatsanwälten und Richtern. Vereinzelt werden Er- kohol am Steuer nicht.
mittlungsmethoden erprobt, aber noch längst nicht
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
flächendeckend. Das ist ja das Ziel des Gesetzent-
wurfes. Das kann unmöglich von heute auf morgen GRÜNEN und der PDS)
realisiert und finanziert werden. Hier wird offenbar Meine Fraktion ist jedenfalls nicht bereit, Sie hier aus
nach dem Motto gehandelt: Die Bundesregierung der Verantwortung zu entlassen. Wir wollen die Zahl
macht ein Gesetz, und die Länder zahlen die Zeche. der im Straßenverkehr getöteten und verletzten
So kann es nicht gehen. Menschen insgesamt und nicht allein die Zahl der
durch Mißbrauch illegaler Drogen im Straßenverkehr
(Beifall bei der SPD)
getöteten und verletzten Menschen senken.
Der eigentliche Skandal ist allerdings, daß das
Im einzelnen möchte ich zu den Schwächen des
weitaus größere Drogenproblem völlig außen vor ge-
vorliegenden Gesetzentwurfs folgendes bemerken:
lassen wird, nämlich der Alkoholmißbrauch am
Die seit 20 Jahren unveränderte Höhe der Geldbu-
Steuer.
ßen bei Ordnungswidrigkeiten, die in der Regel bei
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Verstößen im Straßenverkehr bei 500 DM liegen, ist
GRÜNEN und der PDS) viel zu niedrig. Der Bundesrat fordert deshalb zu
Recht eine deutliche Erhöhung der Geldbußen bei
Zur Bekämpfung dieses Massenproblems konnten Ordnungswidrigkeiten bis zu 3 000 DM.
Sie sich bisher nicht in angemessenener Weise ent-
schließen, nämlich endlich die vom Bundesrat und Es ist unverständlich, die Einnahme von Arzneimit-
von der SPD geforderte notwendige Senkung der teln auszuklammern. Nach einer Untersuchung des
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8779
Günter Oesinghaus
TÜV-Rheinland mindert jedes fünfte Medikament durch Drogeneinfluß ums Leben kommen, und Mit-
zum Teil erheblich die psychomotorische Leistung menschen, die durch Autofahrer ums Leben kom-
und kann damit die Verkehrssicherheit beeinträchti- men, die unter Alkoholeinfluß gefahren sind.
gen. Deshalb ist die Privilegierung von ärztlich ver-
schriebenen Arzneimitteln aufzuheben. Die offen- (Albe rt Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
sichtliche Fahruntüchtigkeit, die solche Medika- DIE GRÜNEN]: Es geht nicht ums Aufrech
mente hervorrufen können, sollte durch eine auffäl- nen!)
lige Kennzeichnung dieser Medikamente sichtbar Beide Verkehrsopfer sollten uns mahnen, alles zu
gemacht werden, ähnlich wie der Hinweis auf die tun, um Verkehrsunfälle zu vermeiden.
Gefährlichkeit des Rauchens auf Zigarettenpackun-
gen. Dann aber handelt natürlich auch ordnungswid- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU,
rig, wer sich dennoch nach Einnahme solcher Präpa- der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ
rate hinter das Steuer setzt. NEN und der PDS - Albe rt Schmidt [Hitz
hofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Entsprechend der Regelung im Betäubungsmittel- Genau das hat der Kollege von der SPD
gesetz sollte im Verfahren zur Änderung oder Ergän- gesagt!)
zung der Liste der berauschenden Mittel oder Sub-
stanzen die Anhörung von Sachverständigen vorge- Wenn man das Getöse der soeben gehaltenen
sehen werden, und zwar mit Zustimmung des Bun- Rede wegläßt, gibt es eine ganze Reihe von Ansatz-
desrates. punkten. Eines möchte ich allerdings festhalten: Die
Sozialdemokraten sind nicht gegen den Gesetzent-
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Beschränkung der
- wurf. Der Gesetzentwurf ist die Konsequenz aus ei-
berauschenden Mittel auf Cannabis, Heroin, Mor- nem gesellschaftlichen Phänomen, das wir als Ver-
phin und Kokain. Es ist doch wohl kaum vertretbar, kehrspolitiker aufzunehmen haben. Drogenkonsum
daß ein Amphetamin-Konsument, soweit ihm Aus- und Fahrten unter Drogeneinfluß nehmen ebenso zu
fallerscheinungen nicht nachzuweisen sind, weiter- wie die Zahl der Unfälle unter Drogeneinfluß.
hin ungestraft am Straßenverkehr teilnehmen kann. 150 Tote im Jahr und über 4 000 Schwerverletzte sind
Es sollte ferner ergänzt werden, daß auch der ord- ein Anlaß zum Handeln, und niemand bestreitet das.
nungswidrig handelt, der eine Tat nach Absatz 1 (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
oder 2 fahrlässig begeht. DIE GRÜNEN]: Der Minister hat andere
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch Zahlen genannt!)
eine abschließende Bemerkung zum Gesetzentwurf Um es deutlich zu machen: Bundesregierung und
vornehmen. Wie in der Stellungnahme des Bundesra- Bundesrat sind sich im Grundsatz in dieser Frage ei-
tes fordert auch die SPD-Bundestagsfraktion die nig. Es gibt eigentlich nur zwei Ansatzpunkte, bei
Bundesregierung auf, flankierend zum vorliegenden denen es unterschiedliche Auffassungen gibt: zum
Gesetzentwurf umgehend einer Senkung der Pro- einen in der Frage, welche Rauschmittel auf die Ver-
millegrenze für Autofahrer auf 0,5 Promille Alkohol botsliste gehören,
zuzustimmen.
(Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] GRÜNEN]: Alkohol!)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
und zum anderen in der Frage, ob auch der Medika-
Ein Alkoholspiegel von über 0,5 Promille und die mentenmißbrauch in die Liste aufgenommen werden
Teilnahme am Straßenverkehr bzw. das Führen von soll. Darüber kann man sich unterhalten, darüber
Kraftfahrzeugen vertragen sich ebensowenig wie der kann man auch streiten.
Gebrauch illegaler Drogen in diesem Zusammen-
hang. Ich bin mit meinem Kollegen Roland Sauer, der in
diesem Bereich sehr verdienstvoll tätig gewesen ist,
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE einer Auffassung. Wer Medikamente nimmt und da-
GRÜNEN und der PDS) durch fahruntüchtig wird, der gehört nicht ans
Sie ignorieren gegen besseres Wissen die Möglich- Steuer. Für die Umsetzung dieser Auffassung müs-
keit der weiteren Senkung der Zahl der getöteten sen wir sorgen.
und verletzten Menschen im Straßenverkehr. Han- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
deln Sie endlich im Interesse der Verkehrssicherheit! DIE GRÜNEN]: Warum wird es denn nicht
Danke schön. sanktionie rt?)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Hier geht es um einen Gesetzentwurf, der deutlich
GRÜNEN und der PDS) macht: Wer Stoff nimmt, hat am Steuer nichts zu su-
chen. Dieser Meinung sind wir.
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
lege Wolfgang Börnsen. ordneten der F.D.P.)
Die Problematik des bisherigen Verfahrens be-
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Herr stand darin, daß nicht nachweisbar war, ob es ein Un-
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich fall unter Drogeneinfluß war. Das ist jetzt wissen-
finde, wir sollten nicht aufrechnen: Mitmenschen, die schaftlich nachweisbar. Mit einer Urin- oder Blut-
8780 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Horst Friedrich
Das ist derzeit bei Drogen nicht möglich. Aller- ner Zeit auch untersucht und entsprechend in den
dings ist auch sicher, daß im Gegensatz zum Alkohol Anhang aufgenommen werden sollte, und zwar so-
selbst bei der weichen Droge Cannabis bereits bei bald die entsprechenden Daten dazu vorliegen.
geringen Konzentrationen Leistungseinbußen zu ver-
zeichnen sind, die, ebenfalls im Gegensatz zum Al- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
kohol, mit halluzinatorischen Bewußtseinsverände- ten der CDU/CSU)
rungen einhergehen. Es überrascht nicht, daß die Opposition und der
(Klaus Hasenfratz [SPD]: Bei Medikamenten Bundesrat versucht haben, nun wieder die alte De-
doch auch!) batte um die Promillegrenze vom Zaun zu brechen.
Die will ich hier nicht halten. Sie wird an anderer
Die Rauschzustände bei Heroin, Kokain und anderen Stelle und in anderer Form zu halten sein.
harten Drogen machen eine Verkehrsteilnahme ohne
erhebliches Gefährdungspotential somit nicht mög- Ich möchte zum Schluß noch Herrn Dr. Salger, den
lich. Vizepräsidenten des Bundesgerichthofes und Präsi-
denten des Deutschen Verkehrsgerichtstages, zitie-
Bei den Arzneimitteln ist die Wahrscheinlichkeit ren, der zu einer Entscheidung des Bundesverfas-
so: Wenn überhaupt, dann kann es nur um den Stoff sungsgerichts vom 24. Juni 1993 gesagt hat, daß der
Morphin gehen. Gleichheitsgrundsatz im Unrecht nicht gilt. Er fährt
fort:
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Nein, es geht auch um Psy- Der Konsum legaler Rauschmittel kann gegen-
chopharmaka!) - über dem illegaler Rauschmittel durchaus anders
bewertet werden.
Das ist gekennzeichnet. Im übrigen ist die Dosis bei
Arzneimitteln sehr viel anders, als wenn ich bewußt
Rauschmittel einnehme. Vizepräsident Hans Klein: Die Redezeit!
Wie unterschiedlich so etwas wirken kann, möchte
ich an einer Anekdote darstellen: Drei Männer kom- Horst Friedrich (F.D.P.): Ich habe es gesehen, Herr
men in Persien nach einem langen Tagesmarsch er- Präsident.
müdet vor den bereits geschlossenen Toren einer be- Deswegen als Konsequenz eine Ordnungswidrig-
festigten Stadt an. Der eine war chronischer Alkoho- keit bereits bei Nutzung von Drogen irgendwelcher
liker, der zweite ein Cannabis-User, der dritte ein Art ohne jede Grenzwerte.
Opiumraucher. Die drei berieten nun, was sie ange-
sichts der geschlossenen Tore und der anbrechenden Herzlichen Dank.
Nacht machen sollten. Dabei schlug der Opiumrau-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
cher vor,
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Kollegin
DIE GRÜNEN]: In die Klinik zu gehen!) Dagmar Enkelmann das. Wort.
sich bis zum nächsten Morgen einfach vor der Stadt-
mauer zum Schlafen niederzulegen. Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Herr Präsident!
(Hans Raidel [CDU/CSU]: Sehr vernünftig!) Meine Damen und Herren! Ich erzähle keine orienta-
lischen Märchen.
Der Alkoholiker wollte sofort das Tor aufbrechen, um
noch in das Wirtshaus zu gelangen, und der Canna- Ordnungswidrig handelt, wer unter der Wirkung
bis-User versuchte, seine Kumpanen davon zu über- eines in Anlage 2 genannten berauschenden Mit-
zeugen, durch das Schlüsselloch hinein in die Stadt tels im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt.
zu schlüpfen. So jedenfalls der Entwurf der Bundesregierung.
Das ist keine einfach so dargestellte Anekdote, Als berauschende Mittel kennt die Bundesregie-
sondern stammt aus einem Aufsatz zu einem wissen- rung allerdings nur Cannabis, Heroin, Morphium,
schaftlichen Symposium, durchgeführt von der Bun- Kokain. Und was ist mit der Volksdroge Alkohol? Es
desanstalt für Straßenbau in Aufbereitung der Dro- ist in mehreren Beiträgen heute schon gesagt wor-
gensituation. den: Viel zu viele - auch in diesem Hause - halten
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ doch den Rausch am Steuer für ein Kavaliersdelikt.
DIE GRÜNEN]: Ungeheuer erhellend, die- Es ist ja gerade das Schlimme, daß Alkohol am
ser Beitrag! Da sieht man mal, womit sich Steuer weitgehend toleriert wird, Herr Kollege Wiss-
die Bundesanstalt für Straßenbau befaßt! - mann. Strafrechtlich gehandelt wird erst, wenn et-
Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Etwas was passiert ist. Das Signal an die breite Öffentlich-
lächerlich!) keit ist: 0,8 Promille. Das heißt, es darf getrunken
werden, wenn man ein Fahrzeug benutzt. Insofern
Ich glaube, daraus kann abgeleitet werden, wie un- akzeptieren Sie an dieser Stelle auch einen Grenz-
terschiedlich die Wirkungsweise verschiedener Dro- wert.
gen ist.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz-
Es ist allerdings zu fragen, ob die neue Modedroge entwurf ist halbherzig, ungenau und soll wohl im we-
der Jugendlichen, nämlich Ecstasy, nicht zu gegebe- sentlichen eine Alibifunktion erfüllen. Hier werden
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8783
Dr. Dagmar Enkelmann
Aktivitäten demonstriert, um davon abzulenken, daß Natürlich können diese Ergebnisse nicht für jeden
die Bundesregierung seit über vier Jahren nichts un- einzelnen Autofahrer generalisiert werden. Vieles
ternimmt, um die Promillegrenze im Straßenverkehr wirkt bei dem einzelnen sehr unterschiedlich. Der
abzusenken, wie dies von nahezu allen Expertinnen vorliegende Gesetzentwurf aber - ich denke, daß ist
und Experten und von einer großen Mehrheit der Be- ziemlich klar - ist im hohen Maße Heuchelei.
völkerung gefordert wird. Immerhin waren nur
18 Prozent der Bevölkerung nach einer EMNID-Um- Auch das Problem der Diskrepanz von Wirksam-
frage für eine Beibehaltung der jetzigen Regelung; keits- und Nachweisdauer ist nicht geklärt. So kann
der Rest ist für die Abschaffung. es sein, daß die Substanz zwar im Blut nachgewiesen
werden kann, zu diesem Zeitpunkt aber keine Wir-
(Horst Friedrich [F.D.P.]: Die haben sich kung mehr auf das Verhalten ausübt.
schon öfter getäuscht!)
(Horst Friedrich [F.D.P.]: Das ist falsch!)
Der vorliegende Gesetzentwurf gehört in den Papier- - Natürlich ist das so. Das ist medizinisch nachweis-
korb und sonst nirgendwohin. bar. - Das führt dazu, daß ein Verkehrsteilnehmer zu
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: einer Geldbuße verurteilt wird, obwohl aktuell über-
Die PDS ist absolut dagegen, daß Personen in einem haupt keine Beeinflussung der Fahrtüchtigkeit vor-
Zustand verminderter Reaktions- und Wahrneh- liegt. Was sich die Bundesregierung hier leistet, ist
mungsfähigkeit ein Kraftfahrzeug lenken, und zwar hanebüchen.
unabhängig davon, unter welchen Drogen sie ste- Einem solchen Gesetzentwurf können wir als PDS
hen. -
jedenfalls nicht zustimmen.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Es (Beifall bei der PDS und der SPD sowie des
ist gut, daß Sie das richtigstellen! Bis jetzt Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜND
klang es anders!) NIS 90/DIE GRÜNEN])
Aus diesem Grund haben wir auch vor langer Zeit
einen Antrag auf Einführung einer 0,0-Promille-Re- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus-
gelung vorgelegt. Zu diesem Thema aber schweigt sprache.
die Bundesregierung - die Alkohollobby läßt grüßen.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetz-
Sehen wir uns den zur Debatte stehenden Antrag entwurfes auf Drucksache 13/3764 an die in der Ta-
etwas genauer an: Erstens. In Anlage 2 werden vier gesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es
Mittel und Substanzen aufgezählt. Was ist mit ande- dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
ren Stoffen gleicher Wirkung? Was ist mit Alkohol? Fall: Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Was ist mit Betäubungsmitteln und Medikamenten?
Das alles fehlt in diesem Gesetzentwurf, Kollege Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10a bis 10d so-
Börnsen. Man kann nicht, wie es die Bundesregie- wie Zusatzpunkt 11 auf:
rung macht, willkürlich vier Drogen herausgreifen,
um dann zu suggerieren, man habe etwas Entschei- 10. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
dendes für die Sicherheit im Straßenverkehr getan. Ulla Jelpke, Steffen Tippach und der Grup-
pe der PDS
Zweitens. Die Dosis-Wirkung-Beziehungen sind
völlig unklar. Es gibt keine Erkenntnisse, die bele- Vermittlungsinitiative der Bundesregie-
gen, daß schon der Konsum kleiner Mengen von Dro- rung für eine politische Lösung in Kurdi-
gen wie Cannabis zu Fahruntüchtigkeit führt. Die stan/Türkei
Bundesregierung behauptet einfach, daß sich der - Drucksache 13/4004 -
Genuß von Cannabis generell negativ auf die Fahr-
Überweisungsvorschlag:
tüchtigkeit auswirkt.
Auswärtiger Ausschuß (federführend)
Dem widersprechen aber Ergebnisse einer vierjäh- Innenausschuß
rigen Studie, die vor zwei Jahren an der Universität
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Maastricht abgeschlossen wurde. In Auftrag gege-
Amke Dietert-Scheuer, Angelika Beer, Cem
ben hatte diese das US-amerikanische Verkehrsmini-
Özdemir und der Fraktion BÜNDNIS 90/
sterium, das sich um die vermeintlich steigende Zahl
DIE GRÜNEN
cannabisberauschter Autofahrer sorgte. Das überra-
schende Ergebnis, Kollege F riedrich: Alkohol be- Beitrag der Bundesregierung zur Einlei
wirkt eine riskantere Fahrweise. Der Cannabis-Wirk- tung eines Friedensprozesses in der Türkei
stoff THC jedoch hat eine größere Vorsicht zur Folge.
- Damit will ich jetzt nicht sagen, jeder sollte einen - Drucksache 13/4117 -
Joint nehmen, bevor er ins Auto steigt. Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend)
Ein Vergleich mit der Volksdroge Alkohol ergab, Innenausschuß
daß sich schon bei 0,3 Promille im Stadtverkehr be-
deutende Beeinträchtigungen fanden, Marihuana c) Beratung der Beschlußempfehlung und des
hingegen die durchschnittliche Fahrtüchtigkeit nur Berichts des Auswärtigen Ausschusses
unerheblich beeinflußte. (3. Ausschuß)
8784 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Ich möchte einige wichtige Beispiele anführen: Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kolle-
Rechtzeitig zum Newroz-Fest kündigte Herr Yilmaz gin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.
eine politische Wende in der Kurdenpolitik an. Die
Kurdenfrage erfordere eine neue, humanere Heran-
gehensweise, und zwar nicht mit militärischen, son- Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Herr Präsi-
dern mit friedlichen Mitteln. Gleichzeitig allerdings dent! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich habe mir
bombardierten türkische Flugzeuge die von Kurden in den vergangenen Wochen angesichts der Bilder
bewohnten Regionen in Südkurdistan. von aggressiven und wütenden Protesten sowie ver-
letzten Polizeibeamten selbstkritisch die Frage ge-
Menschenrechtsdelegationen wurden verhaftet stellt, ob wir mit den Anträgen, die wir vor Jahresfrist
und ausgewiesen. Militäroperationen gegen den so- zur Kurdenfrage gestellt haben, im Licht der heuti-
genannten Terrorismus werden durchgeführt. Wäh- gen Erkenntnisse inhaltlich und in der Diktion noch
rend Herr Kinkel diese Politik lobt, versucht die Zivil- richtig liegen. Ich komme zu dem Ergebnis: Ja,
bevölkerung aus Lice und anderen Regionen, sich durchaus; denn nach wie vor ist einleuchtend, was
durch Flucht der Politik der verbrannten Erde zu ent- wir gesagt und gefordert haben. Alle Schutzmaßnah-
ziehen. me n- , die wir für ausreisepflichtige Kurden ange-
mahnt haben, sind schlüssig. Sie standen immer un-
Journalisten und kritische Zeitungen werden wei- ter der Einschränkung: Straftäter werden wie bisher
ter drangsaliert. Ende 1995 wurde Yasar Kemal we- abgeschoben.
gen seines „Spiegel"-Interviews freigesprochen. Als
der Vertrag zur Zollunion unterzeichnet worden war, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wurde er verurteilt. Daran läßt die SPD wirklich keinen Zweifel auf-
Vor diesem Hintergrund der Doppelzüngigkeit kommen: Wer auf Polizeibeamte mit Stangen und
und der Hinauszögerung fordern wir die Bundesre- Knüppeln einprügelt, wer ihnen Dienstpistolen raubt
gierung auf, Ankara nicht länger danach zu bewer- und Streifenwagen demoliert, wer Tankstellen anzu-
ten, was es sagt, sondern danach, was es tut. zünden versucht, der verdient weiß Gott eine harte
Antwort.
Ich möchte einen letzten Aspekt ansprechen: Wir
haben zuerst Waffen geliefert, und dann sind wir zu (Beifall bei der SPD)
Lizenzproduktionen übergegangen. Die türkische Es geht auch nicht an, daß militante Anhänger der
Regierung und die Generale haben vor wenigen Ta- PKK und aufgehetzte Sympathisanten die Bundesre-
gen verkündet, daß innerhalb der nächsten Jahre ein publik sozusagen stellvertretend zum Austragungs-
150-Milliarden-Aufrüstungs-Programm durchgeführt ort ihrer Konflikte machen. Das sage ich in vollem
werden soll, um eine autarke Rüstungsindustrie si- Wissen darüber, daß als tiefere Ursache hinter all
cherzustellen und um im Falle eines internationalen dem die jahrhundertealte Tragödie des kurdischen
Embargos bei weiteren Menschenrechtsverletzun- Volkes steht. Aber wo körperliche Unversehrtheit
gen dem Militär die Möglichkeit zu geben, weiterhin von Menschen und der innere Frieden auf dem Spiel
autonom zu agieren. Das ist die herrschende Außen- stehen, muß der Staat energisch handeln. Wir verur-
und Innenpolitik gegen die eigene Bevölkerung. teilen die Ausschreitungen kurdischer Demonstran-
ten mit aller Schärfe. Wenn die PKK von gewalttäti-
Wir fordern eine klare Antwort; die Antwort muß
gen Aktionen nicht abläßt, kann und wird sie kein
bei dem bevorstehenden Besuch des neuen Regie-
Gesprächspartner sein.
rungschefs Yilmaz hier in Bonn gegeben werden. Wir
fordern die Bundesregierung nicht auf, die Türkei zu Dem Ansehen von Hunderttausenden hier fried-
isolieren; das wäre fatal, auch in bezug auf die Si- lich lebenden Kurdinnen und Kurden ist durch sol-
cherheit im Mittelmeerraum. Aber wir fordern die che Aktionen allerdings massiver Schaden zugefügt
Bundesregierung auf, die Schritte, die möglich sind, worden. Gerade wenn man will, daß sie hier leben
dazu zu nutzen, Druck auszuüben. Sie muß sich für und ihre kulturelle Identität pflegen können - in Ver-
einen Dialog und für einen Friedensprozeß in der einen und Organisationen -, kann man angesichts
Türkei einsetzen. Sie hat die Möglichkeiten, sich da- des Flurschadens nur traurig werden. Es liegt an den
für einzusetzen, daß die Gelder der Zollunion nicht Kurden, sich unmißverständlich von den Gewaltak-
freigegeben werden, solange die neue türkische Re- ten zu distanzieren - das ist zum Teil auch schon ge-
gierung weiter auf dem alten militärischen Eskalati- schehen -; es liegt aber auch an ihren deutschen
onsweg besteht. Wir fordern die Bundesregierung Freunden und Kollegen, nicht zuletzt auch an uns
insbesondere auf, sich innerhalb der NATO dafür Politikern, sauber zu trennen zwischen der großen
einzusetzen, daß das Manöver „Dynamic Mix", das Mehrheit hier lebender friedlicher Kurden und der
8788 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Der Maßnahmenkatalog, den die Bundesregie- Täten wir das, dann wären wir wirklich auf dem Weg
rung unter dem Eindruck der Dortmunder Ereignisse dorthin, wo uns die radikalen PKK-Anhänger schon
verabschiedete, bleibt ein Schnellschuß und ist nicht einsortiert haben, nämlich zu einem Staat, der sich
viel mehr als eine populistische Reaktion, aus meiner zum Handlanger von Unterdrückung und Diskrimi-
Sicht zudem einseitig und den wahren Dimensionen nierung macht. Diesen Gefallen sollten wir der PKK
des Kurdenproblems nicht angemessen. Der Konflikt wirklich nicht tun.
und seine Auswirkungen sind mit ein paar innenpoli-
tischen Gesetzesverschärfungen nun mal nicht zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bewältigen. Die Bundesregierung ist nicht nur innen- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Burkhard
-
politisch, sondern auch außenpolitisch gefordert. Un- Hirsch [F.D.P.])
ser Antrag, den wir heute unter dem Titel „Schritte
Wir hören zu Gesetzesverschärfungen von der
zur politischen Regelung des Kurdenkonflikts" vorle-
Bundesregierung viel, fast nichts aber von ihrer au-
gen, macht das, wie ich meine, sehr deutlich.
ßenpolitischen Rolle im Verhältnis zur Türkei. Des-
Ich bin nach wie vor überzeugt davon, daß die be- wegen verlangen wir endlich das Bekenntnis der
stehenden Gesetze - konsequent angewendet - aus- Bundesregierung dazu, daß sie wirklich energisch
reichen, um auf Gewalttäter angemessen zu reagie- und deutlich ihren Einfluß auf die dortige Regierung
ren. Dennoch setzen wir uns differenziert mit dem geltend machen wird, um die Kurdenfrage mit politi-
Maßnahmenkatalog auseinander. Zum Beispiel kann schen, mit friedlichen Mitteln zu lösen und nicht mit
man darüber reden, ob der besonders schwere Fall militärischen Einsätzen und anderen Formen der Re-
des Landfriedensbruchs in den Katalog der Auswei- pression.
sungsgründe eingefügt werden soll. Gottlob haben
Sie Ihre ursprünglichen Pläne, einen Tatverdächtigen Wenn es heißt, rechtskräftig verurteilte Straftäter
auch ohne Verurteilung aus dem Land zu schicken, sollten abgeschoben werden, dann ist es doch die
zu den Akten gelegt. Es muß die rechtskräftige Ver- dringliche Aufgabe der Bundesregierung, genau zu
urteilung vorangehen. Das ist in Ordnung. überprüfen, ob das am 10. März 1995 geschlossene
Abkommen, das die Zurückkehrenden vor Folter
Andere Gesetzesänderungen halte ich allerdings und Todesstrafe schützen soll, funktioniert und der
für höchst bedenklich, zum Beispiel die Absicht, daß Wirklichkeit standhält. Wir erwarten von der Bundes-
aus einfachem Landfriedensbruch ein besonders regierung, daß sie ihr ganzes politisches Gewicht ein-
schwerer Landfriedensbruch werden soll, wenn es setzt, um einen Dialog zwischen den Konfliktpar-
sich um eine verbotene Demonstration handelt. Ich teien in Gang zu bringen.
halte auch den Plan für höchst bedenklich, die
Hauptverhandlungshaft mal schnell über die Hürden Auch ich finde es begrüßenswert, daß der neu ge-
der parlamentarischen Gesetzgebung zu treiben. wählte türkische Ministerpräsident sich zu einer poli-
tischen Lösung bekannt hat. Aber gleichzeitig gibt es
Meine Damen und Herren, hüten Sie sich davor, wieder Alarmsignale, daß doch wichtige Kräfte des
unter dem Eindruck der jüngsten Ausschreitungen Landes weiterhin auf die militärischen Mittel setzen.
und unter dem Eindruck von Emotionen besonnene Wir sind da in einer Art von Wechselbad; das darf
Konzepte mit purem Aktionismus zu verwechseln man nicht unterschlagen.
und gleichzeitig wesentliche Elemente unserer De-
monstrationsfreiheit zu kassieren. Das, so meine ich, (Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose)
darf nicht passieren.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Of-
Ich bitte Sie außerdem um ehrliche Aufklärung fensive friedlicher Entschlossenheit bei der Lösung
der Bürger über die tatsächlichen Gegebenheiten.
der Kurdenfrage, und zwar von seiten aller mittelbar
Es ist natürlich wohlfeil zu sagen: Wer hier randaliert, oder unmittelbar Beteiligten. Strikte Absage an Ge-
mißbraucht das Gastrecht; er muß raus aus dem walt ist eine Vorbedingung, hier ebenso wie in der
Land, egal, was ihn zu Hause erwartet. Aber die Bun- Türkei.
desrepublik darf den Boden des Rechtsstaates und
internationaler Vereinbarungen nicht verlassen. Da (Beifall der Abg. Cornelia Schmalz-Jacob
gibt es die Menschenrechtskonvention und die sen [F.D.P.])
Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen. Da-
nach genießen auch sogenannte Rädelsführer Ab- Ob wir unseren inneren Frieden gegen Angreifer
schiebungsschutz, wenn ihnen Folter oder Todes- verteidigen können, hängt auch von einer deutlichen
strafe droht. außenpolitischen Handschrift ab. Sonst bleibt alles
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8789
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
nur Stückwerk, und es wird bestenfalls den Stamm- der Kurden in der Türkei aufnimmt, die es dort gibt,
tisch bef riedigen, mehr nicht. die friedlich agieren,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)
die aller Gewalt abgeschworen haben und die auf
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wo rt hat die diese Weise ermutigt werden müssen, weiterhin
Kollegin Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion. friedlich gegen Gewalt und für ihre eigenen Interes-
sen einzutreten.
Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Herr Präsident! Das Fatale an dieser Situation ist, daß die politisch
Meine Damen und Herren! Die militärische und die notwendigen Entscheidungen in der Türkei ganz of-
zivile Gewalt im Südosten der Türkei muß endlich fensichtlich auch Auswirkungen auf das haben, was
beendet werden. Menschen leiden, Unschuldige lei- sich auf Deutschlands Straßen an Gewalt abspielt.
den. Das darf nicht so weitergehen. Natürlich werden und können wir die Verfolgung
von Gewalt und von gewalttätigen PKK-Demonstra-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- tionen in Deutschland - bei denen im übrigen in ei-
ten der CDU/CSU) ner zynischen Weise Kinder als Schilde gegen den
Polizeieinsatz mißbraucht und damit die Menschen-
Gerade die Militäraktionen der türkischen Armee rechte dramatisch verletzt werden -
in der letzten Zeit haben zunehmend deutlich ge-
macht, daß dieser Konflikt nur politisch und nicht mi- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU
litärisch gelöst werden kann. Insofern ist die Regie- sowie bei Abgeordneten der SPD)
rungserklärung von Ministerpräsident Yilmaz schon
ein Schritt in die richtige Richtung. Natürlich haben nicht von den Entscheidungen der Türkei abhängig
alle diejenigen recht - wir stimmen ihnen zu und machen.
werden darauf dringen -, die jetzt die Umsetzung
dessen, was er angekündigt hat, einfordern. Aber wir müssen auch sehen, daß die Kurden, die
friedlich bei uns leben und die sich ganz klar von jeg-
In dieser Haltung haben uns einige Kurdenorgani- licher Gewaltanwendung distanzieren, einen An-
sationen ausdrücklich unterstützt, mit denen wir ge- spruch darauf haben, nicht diskriminiert und nicht in
stern im Unterausschuß für Menschenrechte und hu- einem Atemzug mit den Gewalttätern der PKK ge-
manitäre Hilfe zusammengesessen haben. Sie haben nannt zu werden.
ebenfalls unterstrichen, daß das ein Stück Hoffnung
sein kann, wenn es nicht wieder kaputtgemacht (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der
wird, und daß man die Beteiligten weiter ermutigen SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
muß. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung, aber
auch unsere Aufgabe als deutsches Parlament ge- Deswegen ist es richtig, weiterhin Einzelfallentschei-
genüber dem türkischen Parlament. dungen - auch was die Zulassung oder das Verbot
von Demonstrationen anbetrifft - zu fällen. Es darf
Natürlich sind auch wir der Meinung, daß die Tür- kein generelles Verbot von Demonstrationen geben,
kei nicht isoliert werden darf. Aber die Tatsache, daß
die Zollunion verwirklicht worden ist, hat schon (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
dazu beigetragen, ein Stückchen mehr Offenheit ge- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ul rich Irmer
genüber den Vorstellungen der Partner in der türki- [F.D.P.])
schen Regierung - möglicherweise auch in der türki- auch nicht, wenn es wiederum das Newroz-Fest gibt.
schen Bevölkerung - sichtbar und deutlich zu ma-
chen. Es ist genauso richtig, daß wir uns fragen müssen,
ob wir denn alles tun, was notwendig ist, um die kul-
Ich denke, daß der Antrag, der von den Sozialde- turelle Identität der bei uns lebenden Kurdinnen und
mokraten zu dieser Diskussion eingebracht worden Kurden tatsächlich zu gewährleisten.
ist, eine ganze Reihe richtiger und auch wichtiger
Punkte enthält. Natürlich muß die türkische Regie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rung Meinungs- und Organisationsfreiheit geben.
Sie muß Maßnahmen gegen die Menschenrechtsver- Ich glaube, daß wir hier einen Diskussionsbedarf
letzungen ergreifen, die dort an der Tagesordnung und einen Entscheidungsbedarf unter uns haben, um
sind. Sie muß mit der OSZE zusammenarbeiten, um sicherzustellen, daß diese Kurden, die im Moment
Konfliktlösungsmöglichkeiten herauszufinden. Es zwischen zwei Feuern stehen, nicht in die Arme der
wäre wichtig, daß sie zur Untersuchung der Men- PKK getrieben werden.
schenrechtslage endlich den UN-Sonderberichter-
statter in die Türkei einreisen läßt. (Beifall bei der F.D.P. und der SPD)
(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Dialog ist angesagt - Dialog statt Gewalt. Das
SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kann man nicht erzwingen, auch nicht gegenüber
der türkischen Regierung. Aber es bleibt unsere Auf-
Es wäre genauso wichtig, daß sie ganz entschlossen gabe, in unserem Dialog alles, was wir können, ge-
den Dialog mit den demokratischen Organisationen genüber dieser Regierung zum Tragen zu bringen,
8790 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
In einem uns bekannten Fall - tatsächlich ist es si- Die Bundesregierung hat aber auch durch eine un-
cher nicht der einzige - wurde ein abgeschobener kluge Politik zu einer Eskalation der Gewaltbereit-
Kurde festgehalten und mißhandelt, weil er von ei- schaft beigetragen.
nem zuvor Abgeschobenen in einem dera rtigen Ver-
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das kann man
hör als PKK-Aktivist benannt worden war.
so nicht sagen!)
Im Februar wurde dem türkischen Menschen-
Die Unterbindung legaler politischer Aktionsmög-
rechtsverein die Abschiebung eines Kurden aus
lichkeiten für Kurden, die mit der PKK sympathisie-
Frankfurt angekündigt. Der Generalsekretär und
ren, verhindert keine Gewalt, sondern nur den drin-
Rechtsanwalt Hüsnü Öndül fuhr zum Flughafen An-
gend notwendigen politischen Dialog.
kara. Bei der Grenzpolizei erkundigte er sich, ob ge-
gen die erwartete Person ein Festnahmebefehl be- Eine Abschiebung von Kurden, die hier im Rah-
stehe, und beantragte, im Falle einer Vernehmung men von PKK-Aktivitäten in Erscheinung getreten
als Anwalt zugezogen zu werden. Bei seiner Ankunft sind, ist auf keinen Fall vertretbar. Vielleicht würden
wurde der Abgeschobene von den Grenzbeamten ins sie sogar zunächst - um den Schein zu wahren - in
Gesicht geschlagen und beschimpft: „Wie kommst Übereinstimmung mit der Vereinbarung der Innen-
du dazu, die Türkei schlechtzumachen? Du bist si- minister behandelt werden. Die Gefahr einer späte-
cher von der PKK, wenn sich der Menschenrechts- ren Verfolgung, gegebenenfalls aus konstruierten
verein für dich interessiert." Gründen, und des Verschwindenlassens durch die
vorher genannten inoffiziellen Kräfte ist hier jedoch
Dieser Fall ist noch glimpflich abgelaufen. Sehr
ganz besonders groß.
viel mehr Grund zur Besorgnis gibt der Fall des Mu-
rat Fani. Er wurde nach seiner Abschiebung im März Unmittelbar nach der Demonstration in Dortmund
1994 von der Grenzpolizei freigelassen, anschließend berichtete die türkische Nachrichtenagentur „Ana-
jedoch von Personen in Zivil mit verbundenen Augen dolu", Teilnehmer an PKK-nahen Demonstrationen
an einen unbekannten Ort geschafft und unter Miß- im Ausland würden wegen Mitgliedschaft in der PKK
handlungen nach Kontakten zur PKK befragt. oder deren Unterstützung vor Staatssicherheitsge-
Dies ist ein Beleg für unsere immer wieder geäu- richten angeklagt werden.
ßerte Befürchtung, daß eine Gefährdung von abge- Gewalttäter können vor deutschen Gerichten straf-
schobenen Asylsuchenden in der Türkei nicht nur in rechtlich belangt werden. Es ist jedoch unverant-
Form von drohender strafrechtlicher Verfolgung be- wortlich und ein Bruch internationaler Menschen-
steht. Die viel größere Gefahr geht von inoffiziellen rechtsabkommen, Menschen in ein Land abzuschie-
Nebenstrukturen, wie Kräften der sogenannten Kon- ben, in dem ihnen politische Verfolgung, Folter und
traguerilla, aus. Diese treten vor allem dann in Ak- möglicherweise sogar der Tod drohen.
tion, wenn gegen eine politisch mißliebige Person
nichts juristisch Verwertbares vorliegt. Die zahlrei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
chen Fälle von Verschwindenlassen und Morden und bei der PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8791
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Wahlbürgern versuchen zu verdeutlichen, wenn Sie
Staatsminister Helmut Schäfer. sich mit ihnen auseinandersetzen.
(Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten Die Ansätze von Herrn Yilmaz da haben Sie völ-
-
der CDU/CSU) lig recht - sind gut. Er wird in Kürze in der Bundesre-
publik sein. Wir werden natürlich auch das in den
Nun stimmen wir durchaus überein, Frau Kollegin. Gesprächen mit Herrn Yilmaz behandeln. Es bedarf
Es ist keineswegs so, als wären die Kurden für uns auch der Umsetzung guter Vorsätze. Auch das muß
eine Quantité négligeable, als gäbe es, wie Sie be- seitens der Türkei kommen. Wir sagen Ihnen das im-
hauptet haben, ein Hauruck-Verfahren von Abschie- mer wieder.
bungen. Vielmehr haben wir erlebt, daß die Fürsorge
und die Bemühungen des Deutschen Bundestages Herr Kollege Schmidt, ich bin immer Ihrer Mei-
und aller Parteien seit Jahren schon, sich für die Kur- nung. Wir verstehen uns glänzend. Das muß ich bei
den in der Türkei einzusetzen - das ist nicht neu, dieser Gelegenheit einmal sagen, weil Sie zu denen
auch wenn die Ergebnisse leider nicht so sind, wie gehören, die mit großer Feinfühligkeit und großer
wir sie uns alle hier gewünscht haben -, leider nicht Differenziertheit Außenpolitik betreiben. Auch ich
dazu geführt haben, daß die Kurden in Deutschland wäre der Meinung, gelegentlich einmal an Stelle von
bis zu einem gewissen Grade einmal anfangen, anzu- Herrn Holbrooke vermitteln zu dürfen. Sie haben es
erkennen, daß es kein Parlament in der Welt gibt, mir vorhin angeboten.
daß sich ihrer Sache so angenommen hat wie das
deutsche. Das muß hier einmal gesagt werden. Ich habe das Vergnügen oder vielleicht auch die
Schwierigkeit, morgen nacht in Syrien zu sein. Ange-
(Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten sichts der derzeitigen Situation wird es sicher nicht
der CDU/CSU) ganz einfach sein, die Gespräche am Samstag mit
der syrischen Führung zu führen. Wir werden auch
Im Gegenteil: Sie haben zum Teil ihrer Sache ge- dort sehr Kritisches zu bemerken haben, aber auch
schadet. Es ist völlig richtig, was Sie, Frau Kollegin, einiges zu einem Konflikt zu äußern haben, zu dem
vorhin gesagt haben, daß man differenzieren muß, der Deutsche Bundestag bislang noch gar nichts ge-
daß man nicht einfach von den Kurden, von den Ge- sagt hat und der mich im Augenblick zweifellos mehr
walttätern, von der PKK allein sprechen kann. Natür- bedrückt als einige Fragen, die sich mit der kurdi-
lich tun wir das nicht. Aber genauso, wie es falsch schen Minderheit befassen, so sehr auch ich natür-
wäre, zu sagen: Hauruck-Verfahren zur Abschie- lich dazu neige, den Kurden zu helfen und ihre kul-
bung von Kurden, wäre es falsch, „genereller Ab- turelle Autonomie sicherzustellen. Das wollen wir
schiebestopp" zu sagen, der dazu führen kann, Frau alle. Wir werden in unseren Gesprächen mit der Tür-
Kollegin, daß man sich hier nicht mehr so sehr zu- kei nicht nachlassen, immer wieder darauf zu drän-
rückzuhalten braucht, weil man angesichts der Mild- gen. Das kann ich Ihnen garantieren.
tätigkeit der Beurteilung solcher Vorkommnisse
weiß, daß ihnen in Deutschland gar nicht viel passie- Wir haben jetzt mit der Zollunion eine neue Mög-
ren kann. Auch das müssen Sie allerdings deutschen lichkeit. Es hat sich eine neue Chance eröffnet, daß
8792 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Peter Altmaier
Ebenso bedenklich, Herr Kollege Meyer, ist der nen der Wiederaufnahmegrund Kassation gerade bei
zweite Vorschlag, nämlich der Vorschlag einer Ab- Rechtsfehlern greift, überhaupt nicht gibt?
senkung des Niveaus der Prognoseentscheidung,
wonach es für die Zulässigkeit der Wiederaufnahme (Jörg van Essen [F.D.P.]: Das sind auch nicht
bereits ausreichend sein soll, wenn die bloße Mög- so viele Prozesse wie bei uns!)
lichkeit einer Verbesserung besteht. Meinen Sie nicht, daß man statt privater Prognosen
Dieser Vorschlag ist aus zweierlei Gründen be- besser Erfahrungen in anderen Rechtsstaaten be-
denklich: weil er erstens bei den Angeklagten Hoff- trachten sollte?
nungen weckt, die sich in vielen Fällen nicht erfüllen
lassen, da ihr Antrag in einem späteren Stadium Peter Altmaier (CDU/CSU): Herr Kollege Meyer,
gleichwohl scheitert, und weil er zweitens dazu führt, der Gesetzgeber ist gefordert, bei jeder Neuregelung
daß durch eine Fülle und eine Flut von Wiederauf- eine Prognoseentscheidung über ihre Auswirkungen
nahmeverfahren für die Justiz Kosten entstehen, die zu treffen. Wie ich Ihnen eben gesagt habe, sind Sie
durch nichts zu rechtfertigen sind. Sie haben in Ih- bei Ihrer Kostenprognose ganz offensichtlich von ei-
rem Antrag jedenfalls nicht nachweisen können, daß ner Milchmädchenrechnung ausgegangen,
durch die gegenwärtige Ausgestaltung von Additi-
ons- und Probationsverfahren Verfahren abgelehnt (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Erfahrung!)
werden, die nach Ihrem Vorschlag zum Erfolg führen indem Sie die Einsparungen bei ganzen 8 Prozent
würden. der Fälle den Mehrbelastungen in allen anderen
Beide Vorschläge, meine Damen und Herren, so- Fälle gegenüberstellen.
wohl die Einführung des neuen Wiederaufnahme- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
grundes wie die Absenkung des Niveaus der Progno-
seentscheidung führen in Verbindung mit dem Damit, Herr Kollege Meyer, meine Damen und
neuen Wiederaufnahmeziel einer Einstellung bzw. Herren, komme ich zum letzten und entscheidenden
milderen Strafe im Ergebnis zu einer Flut von Wie- Punkt. Der eigentliche Kern Ihres Vorschlags liegt
deraufnahmeverfahren und zu einer enormen Ko- darin, die Wiederaufnahme zuungunsten des Ange-
stenbelastung für die Justiz. Sie würden dadurch klagten nur noch auf Fälle zu beschränken, in denen
quasi ein neues Rechtsmittel einführen, ohne daß Sie es um Mord und Totschlag geht. Schon nach gelten-
nachgewiesen hätten, daß ein sachlicher Anlaß hier- dem Recht ist die Wiederaufnahme zuungunsten des
für besteht. Dies ist kontraproduktiv. Es wird den Angeklagten nur in wenigen Fällen und nur unter
Druck auf eine weitergehende Justizentlastung ver- sehr restriktiven Bedingungen möglich, wenn es sich
stärken. Deshalb können Sie in dieser Frage mit un- nämlich um ein Urteil - in der Regel Freispruch -
serer Mitwirkung nicht rechnen. handelt, das durch Urkundenfälschung, vorsätzlich
falsche Rechtsanwendung oder vorsätzlich falsche
Es ist auch, Herr Kollege, eine Milchmädchenrech- Zeugenaussagen bzw. wenn der Freigesprochene ein
nung, wenn Sie diesen zusätzlichen Belastungen die Geständnis abgelegt hat ergangen ist. Kollege
Einsparungen gegenüberstellen, die angeblich da- Meyer, was Sie in diesem Punkt vorschlagen, ist
durch entstehen sollen, daß die Wiederaufnahme zu- nichts anderes als eine Entkriminalisierung durch die
ungunsten des Angeklagten drastisch eingeschränkt Hintertür. Wenn Sie vorschlagen, daß in Zukunft
wird. auch dann, wenn die Verurteilung wegen schwer-
wiegender Betrugsfälle, schwerer Körperverletzung,
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Herr Kollege Alt-
-
Totschlags oder Vergewaltigung erfolgt ist, eine Wie-
deraufnahme zuungunsten des Angeklagten selbst
maier, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des
Kollegen Meyer? dann nicht möglich ist, wenn sich herausstellt, daß er
zum Beispiel auf Grund von Urkundenfälschung frei-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: gesprochen wurde, dann prämieren Sie denjenigen,
Können wir die nicht auf 12 Uhr verschie- der es versteht, sich in möglichst geschickter Weise
ben?) einer Verurteilung zu entziehen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Peter Altmaier (CDU/CSU): Ja.
Sie geben dazu einen Anreiz. Das ist Entkriminalisie-
rung durch die Hintertür, und die machen wir nicht
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte schön. mit.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Meyer,
Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Kollege Alt- lassen Sie mich zum Abschluß sagen: Sie haben vor
maier, die befürchtete Flut von Wiederaufnahmean- einigen Tagen Ihren 60. Geburtstag gefeiert und sich
trägen ist eine Prognose, die Sie ganz persönlich stel- nun nachträglich ein kleines Geburtstagsgeschenk
len. Könnten Sie mir zustimmen, daß man sich vor Er- gemacht, indem Sie einen Vorschlag, den Sie in Ihrer
stellung solcher Prognosen die tatsächliche Situation Habilitationsschrift vor vielen Jahren entwickelt ha-
und die Tatsachenforschung in bezug auf geltende ben, fast wortwörtlich im Parlament eingebracht ha-
Wiederaufnahmerechte anderer Rechtsstaaten anse- ben. Wir sind gerne bereit, auch Ihnen ein Geburts-
hen sollte, und ist Ihnen bekannt, daß es eine solche tagsgeschenk zu machen, indem wir diesen Antrag
Flut von Wiederaufnahmeverfahren zum Beispiel in einer seriösen Beratung unterziehen. Wir hoffen al-
den Ländern des französischen Rechtskreises, in de- lerdings bei Ihnen auf eine gewisse Altersweisheit,
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8797
Peter Altmaier
damit Sie diejenigen Vorschläge zurückziehen, die schuß vorliegenden Petition gefordert. Eine solche
weder sachlich gerechtfertigt noch rechtspolitisch Erklärung stünde diesem Hause gut an. Ich finde das
verantwortbar sind, und sich auf das beschränken, nicht zum Lachen, Herr van Essen; denn den von Un-
was auch wir gemeinsam mit Ihnen diskutieren kön- rechtsurteilen Betroffenen muß eine Handhabe gege-
nen, nämlich die Schaffung eines neuen Wiederauf- ben werden, das erlittene Unrecht aus der Welt zu
nahmegrunds bei Urteilen des Europäischen Men- schaffen. Das dient der Wahrheit, der Gerechtigkeit
schenrechtsgerichtshofes und des EuGH. Dies ist an- und somit auch dem Rechtsfrieden.
gemessen, da machen wir mit. Im übrigen kann ich
Ihnen wenig Hoffnung auf einen Erfolg Ihres Antra- Bei der Wiederaufnahme zugunsten des Täters
ges machen. sollte der hohe Rang der Rechtskraft zurücktreten,
wenn die Aufrechterhaltung eines Urteils unter Ge-
Vielen Dank. rechtigkeitsgesichtspunkten unerträglich wäre. Bei
Beruhen des Urteils auf offensichtlichen Rechtsfeh-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
lern ist dies meines Erachtens der Fall. Gleiches gilt,
wenn der Europäische Gerichtshof für Menschen-
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
-
rechte die Konventionswidrigkeit eines Urteils fest-
Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen. gestellt hat. Auch im Falle der festgestellten Men-
schenrechtswidrigkeit von Rechtsnormen, auf die
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): eine Verurteilung gestützt ist, halte ich eine Wieder-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine aufnahme für geboten. Dies sollte gar nach Aufhe-
-
strafrechtliche Verurteilung bedeutet für den Betrof- bung menschenrechtswidriger Normen noch möglich
fenen eine schwere Stigmatisierung. Sie ist das sein. Hier schlage ich eine Nachbesserung des Ent-
schärfste Schwert, das der Staat als Reaktion auf wurfes vor. Die Menschenrechtskonvention darf hier
Rechtsverletzungen vorgesehen hat. Aber auch der nicht zu totem Recht verkümmern.
Justiz unterlaufen im Einzelfall Fehler, grobe Fehler, Zuungunsten des Angeklagten darf eine Wieder-
die nach geltendem Recht aber dauerhaften Bestand aufnahme aus verfassungsrechtlichen Gründen al-
haben können. lenfalls in eingeschränktem Maße zulässig sein. Der
Vielerorts wird beklagt: Die derzeitige Wiederauf- Entwurf ist hier allerdings sehr restriktiv: Er läßt eine
nahmepraxis sieht außerordentlich betrüblich aus. Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten al-
Dieser Zustand ist weder rechtlich noch ethisch ver lein bei Mord und Völkermord zu. Ob dies tatsäch-
antwortbar. Daran ändert auch die Duldung der Pra- lich dem Rechtsfrieden dient, ist fraglich.
xis durch das Bundesverfassungsgericht nichts. So
Für zumindest diskussionswürdig halte ich eine
leiden Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Unzuläng-
Ausweitung auf andere schwere Gewalt- oder Se-
lichkeiten des geltenden Wiederaufnahmerechts
xualverbrechen. Niemand soll sich nach einem Frei-
werden deutlich, wenn man sich die Problematik der
spruch eines schweren Verbrechens rühmen dürfen,
SED-Unrechtsurteile sowie der NS-We hrmachtsur-
ohne Gefahr zu laufen, deswegen bestraft zu wer-
teile vergegenwärtigt.
den. Aber hier zeigen andere Länder, daß es auch an-
Selbst gravierendste Rechtsfehler und die Außer- dere Möglichkeiten gäbe, diesem Rechnung zu tra-
achtlassung minimalster rechtsstaatlicher Standards gen. Wir sind offen für eine Lösung; aber es bedarf
bleiben im Einzelfall unbeanstandet, weil Rechtsf eh einer Lösung, wenn man diesem Entwurf folgt.
ler nach geltendem Recht nun einmal nicht zur Wie-
deraufnahme berechtigen. Auf das sogenannte Abgesehen davon, verdient meines Erachtens das
Ossietzky-Verfahren wurde hier bereits aufmerksam Anliegen des Entwurfs, die aus dem geltenden Recht
gemacht. Auch die noch immer nicht erfolgte Rehabi- entstehenden Gerechtigkeitslücken zu beseitigen,
litierung von Widerstandskämpfern gegen die NS- unsere volle Unterstützung. Ich hoffe, daß es nicht
Diktatur wie Dietrich Bonhoeffer wurde schon er- nur ein Geburtstagsgeschenk an Herrn Meyer, son-
wähnt. dern auch eine Verpflichtung gegenüber dem
Rechtsstaat für uns alle ist, diese Frage ordentlich zu
Daß die Generalstaatsanwaltschaft in Berlin jetzt prüfen und im Rechtsausschuß entsprechend zu dis-
auf Betreiben der Initiative „Gerechtigkeit für Die- kutieren.
trich Bonhoeffer" endlich, 51 Jahre nach Kriegsende,
einen Wiederaufnahmeantrag gestellt hat, ist noch Vielen Dank.
kein Grund zur Beruhigung. Es ist überhaupt noch
nicht abzusehen, welchen Ausgang das Verfahren Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat der
-
Deutschland die Regel ist. Das wird zum Beispiel Kollege Professor Heuer, PDS.
daran deutlich, daß Kleinkriminelle nach einer Ver-
urteilung noch eine rechtliche und tatsächliche
Nachprüfung vor dem Landgericht und dann noch Dr. Uwe Jens Heuer (PDS): Herr Präsident! Meine
-
einmal eine rechtliche Prüfung vor dem Oberlandes- Damen und Herren! Wir haben heute einen Vor-
gericht erreichen können. Dies unterscheidet unser schlag von gleichermaßen politischem und großem
System von vielen anderen. Auch in Zukunft muß es juristischen Gewicht zu diskutieren. Er ist in meinen
bei der Ausnahme bleiben, daß das rechtskräftige Augen eine ziemlich weitgehende Neuerung im bun-
Urteil im Wiederaufnahmeverfahren erneut einer desdeutschen Strafprozeßrecht.
Überprüfung unterzogen wird.
Vielleicht ist allerdings der Begriff „offensichtlicher
(Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Das steht so Rechtsfehler" problematisch.
im Entwurf!)
Handelt es sich nicht im Grunde darum, daß Urteile -
Ich bin deshalb sehr froh, daß das Wiederaufnahme- natürlich nur zugunsten des Verurteilten - aufgeho-
verfahren an strenge Formerfordernisse gebunden ben werden können, weil sich die Rechtsauffassung
ist. grundlegend gewandelt hat, weil sich die Wertung
Im Additionsverfahren scheitert schon die Mehr- früherer Urteile im Verlauf der historischen Entwick-
zahl der Anträge bei der Prüfung der Zulässigkeit, lung unter dem Einfluß vieler Faktoren, vor allem po-
obwohl sie - das muß man hinzufügen - in der Regel litischer, geändert hat? Darauf deutet die Bestim-
von einem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt ge- mung hin, daß die Sicht des Wiederaufnahmege-
stellt worden sind. richts ausschlaggebend ist. Das ist eine bemerkens-
werte Absage an die sonst immer so betonte Konti-
Ich habe mir aber in all den Fällen, in denen ich nuität der Rechtsprechung.
mich mit diesen Wiederaufnahmeanträgen befassen
mußte, sehr sorgfältig die Begründungen ange- Der Rechtswissenschaftler Uwe Wesel würde sa-
schaut, weil es für einen selbst wichtig ist, ob die Ju- gen, es hat sich eine neue herrschende Meinung her-
stiz falsch gehandelt hat. Ich muß sagen: In all diesen ausgebildet, und das kann Konsequenzen für Urteile
Fällen bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß das haben, die der alten herrschenden Meinung verhaf-
Wiederaufnahmeverfahren auch aus sachlichen tet waren. Über den Rang der herrschenden Mei-
Gründen keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Die nung für den „normalen Juristen" hat Uwe Wesel
hohen Hürden, die wir haben, haben die Justiz ganz sarkastisch vermerkt:
wesentlich entlastet.
Im Grunde genügt die Kenntnis von herrschen-
Ich vermag den SPD-Entwurf - da muß ich meinen der Meinung, unerschrockene Autoritätsgläubig-
Vorrednern folgen - insbesondere in einem Punkt keit und ein guter Instinkt.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8799
Dr. Uwe-Jens Heuer
Auch der BGH hat vor kurzem einen Beitrag zu Liebe Kollegen! Die Reform des Wiederaufnahme-
diesem Thema geliefert. Im Urteil vom 16. November rechts in der Strafprozeßordnung ist seit Jahrzehnten
1995 äußerte sich der Gerichtshof kritisch zur eige- Gegenstand einer fachlichen Diskussion, die ihren
nen Rechtsprechung zur Verfolgung des NS-Un- Höhepunkt bereits Anfang der siebziger Jahre er-
rechts, sprich: zu den komplizenhaften Verscho- reichte. Das ist in sympathischer Weise auch schon
nungsurteilen gegenüber Nazi-Richtern und Nazi personalisiert worden. Insbesondere von seiten der
Staatsanwälten. Es sprach von einem „folgenschwe- Anwaltschaft sind immer wieder Klagen laut gewor-
ren Versagen bundesdeutscher Strafjustiz". Er den, die Gerichte handhabten die Wiederaufnahme-
sprach weiter von einer „grundlegend veränderten vorschriften zu restriktiv und die gesetzliche Rege-
Haltung der Rechtsprechung, ohne die eine Verurtei- lung sei zu starr und umständlich.
lung nicht möglich wäre", „Neue Justiz" 3/1996,
Seite 156. Auch der SPD-Entwurf hat bereits seine Ge-
schichte. Es ist völlig zu Recht darauf hingewiesen
Eine grundlegend veränderte Haltung der Recht- worden, daß er schon in der letzten Legislaturperiode
sprechung kann also bei gleichem Recht zu ganz ent- eingebracht wurde, und zwar in einer weitgehend
gegengesetzten Urteilen führen und damit, wie vor- identischen Fassung.
gesehen, zur Aufhebung von Urteilen im Wege der
Wiederaufnahme. Ich meine, daß wir hier keine Lex Dem Entwurf kommt das Verdienst zu - Herr Kol-
Ossietzky und Bonhoeffer vor uns haben und das lege Meyer, das will ich unumwunden sagen -, die
auch nicht so verstehen dürfen. Der Vorschlag hätte Diskussion um die Reform des Wiederaufnahmerech-
die Konsequenz, nachdem die gesetzlichen Möglich- tes weiterzuführen. Ob es ihm allerdings wirklich ge-
-
keiten für die Aufhebung von Urteilen der DDR-Ju- lungen ist, dem Wiederaufnahmerecht klarere und
stiz geschaffen sind, daß nun auch Unrechtsurteile weniger komplizierte Strukturen zu geben, will ich
nicht nur der Nazi-Justiz, sondern auch der Weima- noch nicht abschließend bewerten. Dafür sind die
rer Zeit nicht mehr länger im Jenseits der Unberühr- Ausschußberatungen abzuwarten.
barkeit bleiben. Es handelt sich im Fall von Ossietzky Kritisch werden wir uns in diesen Beratungen die
nicht um ein Nazi-Urteil, sondern um ein Urteil der Frage stellen müssen, ob der Entwurf die Pforten zur
Weimarer Republik. Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Ver-
Ich denke auch an Strafurteile aus politischen fahren zugunsten des Verurteilten nicht zu weit öff-
Gründen in der Bundesrepublik Deutschland zu Zei- net und damit die Rechtskraft der angegriffenen Ent-
ten des Kalten Krieges. Auch damals sind Strafurteile scheidungen zu weitgehend aufweicht. Diese Ten-
gefällt worden, von denen ich meine, daß man die denz läßt sich dem Entwurf meines Erachtens an vie-
Frage „offensichtlicher Rechtsfehler" stellen sollte len Stellen entnehmen. Ich denke an die Vermeh-
und wo sehr viele dieser Entscheidungen bei glei- rung der Wiederaufnahmegründe, die Neuschaffung
chem Recht zehn Jahre später nicht mehr gefällt wor- von Wiederaufnahmezielen und nicht zuletzt die Ab-
den wären. senkung der Prognosewahrscheinlichkeiten im Addi-
tions- und Probationsverfahren.
Aus einem solchen Herangehen - das möchte ich
als Problem aufwerfen - ergibt sich die Konsequenz, Sehr weitgehend erscheint - auch darauf ist schon
daß man Einwände gegen die Vorstellung des Ent- hingewiesen worden - etwa die Aufnahme „offen-
wurfs erheben muß, daß Rechtsfehler nicht mehr gel- sichtlicher Rechtsfehler" oder „offensichtlicher Ver-
tend gemacht werden können, wenn das erstinstanz- letzungen der rechtsstaatlichen Verfahrensgrund-
liche Urteil in der zweiten Instanz bestätigt worden sätze" in den Katalog der Wiederaufnahmegründe.
ist. Das überzeugt mich nicht. Die veränderte Hal- Das Merkmal der „Offensichtlichkeit" ermöglicht
tung der Rechtsprechung oder der herrschenden keine hinreichende Eingrenzung der in Frage kom-
Meinung bezieht sich natürlich auf Urteile aller In- menden Rechtsfehler, wie bereits an Hand der Ent-
stanzen. Dieses Argument soll natürlich der Ein- wurfsbegründung deutlich wird. Ein so unbestimm-
schränkung der Fälle dienen. Diese Ansicht des Au- tes Merkmal stellt geradezu eine Einladung dar, in
tors ist mir schon klar, aber das scheint mir nicht möglichst vielen Fällen wirklicher oder vermeintli-
überzeugend zu sein. Ist es denn im Falle von Os- cher Rechtsfehler Wiederaufnahmeanträge zu stel-
sietzky entscheidend, daß es nur eine Instanz war? len.
Zwei Instanzen hätten möglicherweise ebenso ent-
Das Wiederaufnahmerecht wird damit - Sie selbst
schieden.
haben es ja auch schon, wenn auch rhetorisch, ange-
In meinen Augen wirft also der Vorschlag der SPD sprochen - zu einer Form von Superrevision ausge-
grundsätzliche Fragen auf, die wir im Rechtsaus- weitet, die weder in das bereits gut ausgebaute gel-
schuß zusammen mit den Einzelfragen weiter und tende Rechtsmittelsystem paßt, noch mit dem Wesen
genauer diskutieren müssen. des Wiederaufnahmerechtes vereinbar erscheint. Die
Wiederaufnahme ist ein Ausnahmeinstitut, das zu ei-
(Beifall bei der PDS) nem Ausgleich von Rechtssicherheit und materieller
Gerechtigkeit in eng umgrenzten Fällen führen soll,
Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Das Wort hat
-
in denen die Fehlerhaftigkeit des Urteils ein uner-
Herr Bundesminister Schmidt Jortzig.
-
trägliches Maß erreicht.
Die Konkretisierung eines so unbestimmten Merk-
Dr. Edzard Schmidt Jortzig, Bundesminister der
- mals wie die „Offensichtlichkeit" wird im übrigen -
Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! das soll aber natürlich nicht das entscheidende Argu-
8800 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Ich glaube, es ist sehr richtig - und man kann es Sie müssen gelobt werden dafür, daß Sie zu später
gar nicht häufig genug unterstreichen -: Diese räum- Stunde noch bereit sind, ein Thema von einiger Be-
liche Struktur ist ein ganz wichtiger Standortfaktor deutung zu diskutieren.
für unser Land insgesamt. Deswegen sind manche (Zuruf von der CDU/CSU: Das muß laut
sehr froh, wenn sie in die Bundesrepublik Deutsch- gesagt werden!)
land kommen und das sehen.
Oder ist es vielleicht andersherum richtig: daß die
Wir haben die Möglichkeit einer Vorkonferenz zu Siedlungsentwicklung auf der Welt für uns ein
Istanbul genutzt und vorab nach Berlin eingeladen. Randthema ist,
Es waren Vertreter aus 29 Staaten anwesend, darun-
ter 15 Minister. Ich werde nicht vergessen, daß sich (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!)
8802 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Die entsprechenden Vorbereitungskonferenzen Ich könnte weitere Details des Berichtes aufzeigen.
haben schon gezeigt, daß die Entwicklungsländer Die Bundesregierung zitiert ausdrücklich das Zweite
mit dem Beg ri ff „sustainable development", also Wohnungsbaugesetz mit der Zuständigkeit von
ökologisch nachhaltige Entwicklung, nicht leben Bund, Ländern und Gemeinden. Doch im gleichen
können. Sie verlangen unmißverständlich „sustained Atemzug weist sie die Finanzierung des sozialen
economic growth", also nachhaltiges ökonomisches Wohnungsbaus ausschließlich den Ländern zu.
Wachstum. Die Bundesregierung propagiert auch in diesem
Meine Damen und Herren, ich habe irgendwo ge- für das internationale Publikum gedachten Bericht
lesen, in ganz Afrika gebe es so viele Automobile wie die sogenannte einkommensabhängige Förderung
im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Wenn wir uns des Mietwohnungsbaus, obwohl Herr Töpfer bis
einmal vorstellen, wir würden nur den zehnten Teil heute nicht einmal den Ansatz eines tragfähigen
unseres Lebensstandards nach Afrika exportieren; Konzeptes dafür hat vorlegen können.
wenn wir uns einmal vorstellen, Asien und Latein- In dem Kapitel über die soziale Absicherung des
amerika würden für ihre Menschen auch nur einen Wohnens beschreibt der Bericht der Bundesregie-
zehnten Teil unseres Lebensstandards erwerben wol- rung die Funktion des Wohngeldes, operiert dabei
len - es bedeutete die zunehmende Unbewohnbar mit Zahlen aus dem Jahre 1992 und verschweigt, daß
keit der Erde. die Wirkungen des Wohngeldes durch Nichtanpas-
sung über ein halbes Jahrzehnt an rasant gestiegene
Da stehen wir jetzt mit unserem Nationalbericht. Mieten längst fragwürdig geworden sind. Der „An-
Wir, die wir mit dem Ressourcenverbrauch die Maß- kündigungsminister" Töpfer zeigt sich darin.
stäbe für die Zerstörung der Erde setzen, wir erklä-
ren uns zum Musterländle, in dem nachhaltige Ent- Meine Damen und Herren, diese wenigen Bei-
wicklung eigentlich schon ganz gut funktioniert. - spiele - ich stelle nur Theorie und Wirklichkeit ge-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8803
Volkmar Schultz (Köln)
genüber; das ist ja das Problem: In der Theorie ist der sie endlich selbst Maßnahmen ergreifen, um ihre ei-
Beri cht sehr gut und umfassend, und ich danke allen, gene Produktions- und Lebensweise ökologisch um-
die daran mitgearbeitet haben, insbesondere denen, zugestalten. Hier ist die Bundesregierung gefordert;
die den soweit richtigen Analyseteil bestritten ha- denn solange keine umweltverträgliche Energie-
ben - zeigen, daß die politische Substanz dieses Na- und Verkehrspolitik betrieben wird, solange Wirt-
tionalberichts ungenügend ist. Er analysiert über schafts- und Siedlungspolitik immer mehr natürliche
weite Strecken richtig, zeigt aber nicht die aktuelle Ressourcen vernichten, so lange gefährden wir -
politische Situation. Er zeigt eine heile Welt, statt nicht nur in unserem Land - massiv die Überlebens-
eine kritische Bestandsaufnahme vorzunehmen. chancen unserer Kinder. Den Ländern des Südens
Letzteres hätte uns besser zu Gesicht gestanden. nehmen wir damit die Möglichkeit zu eigenständiger
Entwicklung.
(Beifall bei der SPD)
Daß eine globale Durchsetzung unseres Wachs-
Herr Töpfer hat seine eigene Art, internationale
tumsmodells zum ökologischen Kollaps führen
Konferenzen zu gestalten. Anläßlich der jüngsten
würde, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Zur nach-
Berliner Konferenz hat er beklagt - ich zitiere aus ei-
haltigen Entwicklung gehört aber auch die Sorge um
ner ap-Meldung -, „daß die Vereinigten Staaten und
soziale Gerechtigkeit. Die momentan geplante Politik
andere Länder sich dagegen wehrten, die moralische
des Sozialabbaues durch diese Bundesregierung un-
Verpflichtung zur Bereitstellung menschenwürdiger
terläuft die Zusicherungen, die die Bundesregierung
Unterkünfte zum internationalen Grundrecht zu er-
wahrscheinlich auch auf diesem Weltgipfel wieder
heben." Ich frage mich, wo Herr Töpfer eigentlich
war, vortragen wird, und verkehrt sie ins Gegenteil - und
das in unserem Land!
(Zuruf von der CDU/CSU: An der richtigen
Was das Gastgeberland Türkei angeht, muß die
Stelle!)
Bundesregierung nachdrücklich die Einhaltung ele-
als es darum ging, ein Grundrecht auf Wohnen in das mentarster Menschenrechte und das Ende von Un-
Grundgesetz der Bundesrepublik aufzunehmen. terdrückung und Vertreibung der Kurden einfordern.
(Zuruf von der F.D.P.: Dadurch wird keine Bei uns ist die Einbindung der Betroffenen und
einzige Wohnung geschaffen) der Kommunen von zentraler Bedeutung für eine zu-
kunftsgerechte Siedlungspolitik. Initiativen, die sich
Ganz gewiß war er auch damals auf einer internatio- für eine Verbesserung der sozialen Situation in unse-
nalen Konferenz, vielleicht mit einem anderen ren Städten einsetzen, müssen stärker gestützt wer-
Spruch. den. Die Bevölkerung muß mehr Möglichkeiten der
(Beifall bei der SPD und der PDS - Dr.-Ing. Mitgestaltung in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld
Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Er hat 600 000 umsetzen können.
Wohnungen errichten lassen!) Um lokal einen Schritt hin zur nachhaltigen Ent-
Vielen Dank. wicklung zu gehen, aber auch, um zur Lösung globa-
ler Probleme beitragen zu können, müssen Städte
und Gemeinden bei der Umsetzung der Agenda 21
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die der Rio-Konferenz unterstützt werden. Deshalb
Kollegin Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die sollte sich die Bundesregierung auch auf dieser Kon-
Grünen. ferenz gegenüber der UN-Kommission für nachhal-
tige Entwicklung dafür einsetzen, daß der Zeitrah-
Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE men für die Erarbeitung lokaler Agenden von 1996
GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Her- auf das Jahr 2000 ausgedehnt wird.
ren! Zwei Themen stehen bei der Istanbuler Konfe-
Von seiten des Bundes sollte, wie in der letzten Le-
renz Habitat II im Mittelpunkt: erstens eine angemes-
gislaturperiode schon beschlossen wurde, ein ausrei-
sene Unterkunft für alle Menschen im Norden und
chendes Beratungsangebot zur Verfügung gestellt
Süden, zweitens die Durchsetzung einer nachhalti-
werden, um die Kommunen, die bereits Partnerschaf-
gen Siedlungsentwicklung. Beide Zielsetzungen sind
ten mit Kommunen im Süden haben, bei ihrer Arbeit
im Vorfeld der Konferenz durchaus umstritten gewe-
zu unterstützen und um solche Kommunen zu bera-
sen. Bei der Forderung nach einem Menschenrecht
ten, die eine Kooperation anstreben.
auf Wohnen zeichnet sich zwar ein Kompromiß ab.
Dagegen begegnen aber manche Vertreter des Sü- Die Nichtregierungsorganisationen und die inter-
dens der Verpflichtung zur nachhaltigen Entwick- nationalen Netzwerke sollten bei Projektplanung
lung mit Ablehnung. Sie fordern statt dessen ein und -durchführung im Bereich der nationalen und in-
Recht auf dauerhaftes ökonomisches Wachstum und ternationalen Siedlungsentwicklung viel stärker als
mehr finanzielle Hilfen von den Industrieländern ein. bisher berücksichtigt werden.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, alles zu un- Um mit den riesigen Problemen, die sich in Nord
ternehmen, damit sich alle Teilnehmer in Istanbul und Süd, wenn auch in unterschiedlicher Weise, in
dem Ziel der nachhaltigen Siedlungsentwicklung der Urbanisierungsentwicklung stellen, fertigzuwer-
verpflichten und gleichzeitig wirksame Schritte in den, müssen wir in unserem Land beginnen. Ein
diesem Prozeß eingeleitet werden. Die Forderung Austausch zwischen den Städten in Nord und Süd
nach Nachhaltigkeit ist von seiten der Industrielän- über Problemlösungen im Bereich nicht nur der ma-
der allerdings nur dann glaubhaft zu vertreten, wenn teriellen Infrastruktur, sondern auch der sozialen In-
8804 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Dennoch: Ich wüßte schon sehr gerne, welche Ko- Dem Bericht können wir in der Analyse der be-
sten mit der Erstellung dieses Bandes verbunden wa- stehenden wohnungs- und siedlungspolitischen Si-
ren. Ich fürchte, daß sich unendlich viele Menschen tuation zwar zustimmen, die Situationsdarstellung im
bemüht haben, obwohl ich nicht ausschließen will, Nationalbericht steht jedoch zum Teil im Gegensatz
daß auch ein Team von drei Geographen in der Lage zu den Vorschlägen der Bundesregierung für eine
gewesen wäre, die Daten aus den unendlich vielen künftige Wohnungs- und Siedlungspolitik, sofern
vergleichbaren Werken sehr viel preiswerter zusam- überhaupt konkrete Schlußfolgerungen angeboten
menzutragen. werden.
Peter Götz
Vorbereitung des UN-Städtegipfels intensiv ausein- rung und Bürgernähe sind Grundvoraussetzungen
andersetzen. für eine erfolgreiche Kommunalpolitik.
Die von Ihnen, Herr Minister Dr. Töpfer, initiierte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
internationale Berlin-Konferenz über nachhaltige Die größten Verstädterungsprobleme sind heute
Siedlungsentwicklung vom März dieses Jahres war angesichts von Landflucht und Bevölkerungswachs-
ein gutes Forum zur Förderung des Prozesses in Rich- tum in den Entwicklungsländern zu beobachten.
tung Habitat II und ein ganz wichtiger positiver Dort muß es gelingen, den Teufelskreis von Armut,
Schritt, damit Istanbul auch ein Erfolg werden kann. Hunger, Wohnungsnot, mangelhafter Bildung, feh-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lendem Zugang zu Dienstleistungen und Arbeit, Be-
ordneten der F.D.P.) völkerungswachstum und Umweltzerstörung aufzu-
brechen. Gelingt es nicht, in den Städten der Dritten
Ich danke deshalb für unsere Fraktion der Bundes- Welt die bestehenden sozialen, ökonomischen und
regierung, speziell aber Ihnen Herr Minister, für Ihr ökologischen Probleme bald einer befriedigenden
vielfältiges und beispielhaftes Engagement zur Vor- Lösung zuzuführen, ist mit sozialen Unruhen, Gewalt
bereitung dieser Weltkonferenz. und Bürgerkriegen in den Entwicklungsländern
selbst und mit zusätzlichen Wanderungsbewegun-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gen in die entwickelten Länder, also zu uns, zu rech-
ordneten der F.D.P.) nen. Das bedeutet: Wenn die Armut in den Entwick-
lungsländern zunimmt, wird dies auch zur Belastung
Wir erachten es als richtig und wichtig, daß sich für die Ruhe der reichen Nationen.
nicht nur die Bundesregierung, sondern auch das
deutsche Parlament intensiv mit dem weltweiten Bei allen wichtigen Fragen, die wir vor dem Hinter-
Städtewachstum auseinandersetzt. grund finanzieller Engpässe der öffentlichen Haus-
halte aktuell in diesen Tagen in Deutschland disku-
Wenn wir eine gemeinsame Verantwortung der In- tieren, muß es trotzdem unser ureigentliches Ziel
dustrieländer und der Entwicklungsländer für eine sein, dabei die Probleme der Entwicklungsländer
nachhaltige Siedlungsentwicklung sehen, so erfor- nicht zu vergessen, sondern sie als unsere zu be-
dert dies einen neuen, internationalen Konsens über trachten.
Politiken und Ziele für Wohnraum und für die Zu-
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
kunft menschlicher Siedlungen im 21. Jahrhundert.
Kollegen, zu den wesentlichen Signalen für Istanbul
Wir brauchen ein neues Zeitalter verstärkter Koope-
zählt auch, daß wir uns über den Follow-up-Prozeß
ration.
verständigen. Fragen wie „Was geschieht nach Istan-
Die Istanbul-Konferenz kann dabei helfen, Res- bul?" oder „Wie können wir einen dauerhaften Pro-
sourcen zu mobilisieren und vor allem das internatio- zeß ins Leben rufen, damit Istanbul nicht nur ein
nale Bewußtsein in dieser Frage zu schärfen. wichtiges Treffen großer Persönlichkeiten bleibt?"
sind mindestens genauso wichtig wie die Konferenz
Einige wenige statistische Zahlen und Prognosen selbst.
machen die Herausforderungen, vor denen wir ste-
Deshalb müssen die beiden Konferenzthemen
hen, deutlich.
„Angemessene Unterkunft für alle" und „Nachhal-
Der Minister hat es gesagt: Täglich wächst die tige Siedlungsentwicklung " auch nach Istanbul auf
Weltbevölkerung um 280 000 Bewohner. Das ent- der Tagesordnung einer immer enger zusammen-
spricht der Größe der Stadt Bonn. Seit 1950 hat sich wachsenden Welt bleiben. Dafür wollen wir arbeiten.
die Weltbevölkerung in den Städten verdreifacht, Herzlichen Dank.
und bis zur Jahrtausendwende wird bereits die
Hälfte der Bevölkerung in Städten leben. Und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
schließlich ist in einigen Jahren damit zu rechnen,
daß weltweit etwa 100 Megastädte mit mehr als fünf Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die
Millionen Einwohnern entstanden sein werden. Aussprache.
Das heißt, liebe Kolleginnen und Kollegen, nach- Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage
haltige Entwicklung muß in den Städten beginnen, auf Drucksache 13/3679 an die in der Tagesordnung
wenn sie funktionieren soll. Insofern ist es nur zu be- aufgeführten Ausschüsse vor. Der Entschließungsan-
grüßen, daß sowohl im Deutschen Nationalkomitee trag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/4370
als auch auf der Weltsiedlungskonferenz in Istanbul soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden.
die Städte und Gemeinden eine entscheidende Rolle Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Über-
spielen. Es sind die Städte und Gemeinden, die im weisung so beschlossen.
Rahmen ihrer Selbstverwaltung die in Istanbul zu
treffenden Entscheidungen umsetzen müssen. Des- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13a und 13 b
halb kommt ihnen eine große Verantwortung zu. auf:
Vor diesem Hintergrund müssen wir alle Anstren- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
gungen unternehmen, die Gemeinden zu stärken. Dr. Winfried Wolf, Dr. Dagmar Enkelmann,
Demokratische Strukturen, Delegation von Zustän- Klaus-Jürgen Warnick, weiterer Abgeordneter
digkeiten nach unten, Planungshoheit, Dezentralisie- und der Gruppe der PDS
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8807
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Verkehrsplanung Hauptstadt Berlin und Re- einzelnen Mobilitätsbedürfnisses, in immer mehr
gion Berlin-Brandenburg strukturelle Zwänge zu mehr motorisiertem und
mehr Pkw-Verkehr an Stelle von nichtmotorisiertem
- Drucksache 13/2668 —
und öffentlichem Verkehr.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr (federführend) Es war das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor-
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit schung - Sie sehen: wir bleiben in Berlin -, das Ende
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 1995 vor einem weiteren massiven Anwachsen des
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kfz-Verkehrs in und um Berlin warnte, das dem Ber-
Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Winfried Wolf und liner Senat in Sachen Verkehrsplanung „Konzepti-
der Gruppe der PDS onslosigkeit und Untätigkeit" bescheinigte und das
eine Strukturpolitik mit der „Erhaltung einer attrakti-
Planungsgruppe „Fahrradfreundliches Regie- ven Nähe" forderte.
rungsviertel in Berlin"
Wir sollten - dies als zweiten Programmpunkt - ei-
- Drucksache 13/2282 — nen einzigen Aspekt der Berliner Spaltung als
Überweisungsvorschlag: Chance nutzen: Berlin fraß sich nach dem Zweiten
Ausschuß für Verkehr (federführend) Weltkrieg nicht so ins Umland wie andere westliche
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Großstädte.
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Haushaltsausschuß
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die
Wolf, ich muß Sie einmal einen Augenblick unterbre-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei
chen.
die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich
sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos- Es ist die notwendige Folge einer geringen Prä-
sen. senz, daß die Einzelgespräche immer lauter hörbar
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- werden. Deshalb bitte ich, ein bißchen Rücksicht auf
den Redner zu nehmen.
gen Winfried Wolf, PDS, das Wo rt .
Dr. Winfried Wolf (PDS): Sehr geehrter Herr Präsi- Dr. Winfried Wolf (PDS): Das Zwangskorsett, das
dent! Werte Damen und Herren! Für das Protokoll: Ulbricht und Honecker Berlin verpaßten, verhin-
22.40 Uhr, einziger Punkt ist der der PDS. derte, daß bei der Stadt Berlin sozusagen ein auslau-
fender Pfannkuchen realisiert wurde: Landfraß und
Kurt Tucholsky sagte im Jahr 1930 über seine Zerstörung des Umlands. Hier ist nach 1990 bereits
Stadt Berlin: viel gesündigt und viel künstlicher Verkehr produ-
ziert worden.
,Wie' New York wollen sie sein. Und ,wie' Paris.
Und ,wie' ich weiß nicht was alles - statt erst ein- Das wird so weitergehen, wenn nicht Einhalt gebo-
mal sie selber zu sein, wobei jede Menge zu ge- ten wird. Das DIW sagt zusätzliche Steigerungen des
winnen und wenig zu verlieren wäre. Pkw-Verkehrs um bis zu 50 Prozent bei gleichblei-
bender Bevölkerungszahl voraus. Dort heißt es, daß
Was könnte das heute für die Stadt Berlin heißen,
sich immer mehr „Wege und Fahrten verstärkt nach
„erst einmal sie selber zu sein"? Zunächst einmal
,draußen' orientieren", was „beispielsweise mit der
und als erstes: in der eigenen Stadt die gewachsenen
Abwanderung des Einzelhandels in den ,Speckgür-
Erkenntnisse endlich auch zur Anwendung zu brin-
tel' zusammentreffen und damit Ursache weiterer
gen.
Steigerungen der Verkehrsleistungen werden"
Berlin hat den großen Verkehrsplaner Martin Wag- könne. Hier kommt die allgemeine Politik in die des
ner hervorgebracht, nach dem Ersten Weltkrieg ver- Verkehrs: Das Nein der PDS gegen eine Fusion Ber-
antwortlich für den öffentlichen Verkehr der Stadt. lin/Brandenburg ist erklärtermaßen auch ein Nein
Wagner - er war Jude und Sozialdemokrat - ge- gegen diese Fortsetzung der Zerstörung von Berlins
langte im Exil beim Vergleich der Autostadt New brandenburgischem Umland.
York mit seinem Berlin der 20er Jahre, der Stadt des
öffentlichen Verkehrs, zu folgender Erkenntnis: (Otto Schily [SPD]: Das ist doch Blödsinn!)
Das Verkehrsbedürfnis eines Großstädters westli- Ein dritter Aspekt, wie Berlin Originalität beweisen
cher Zivilisation beläuft sich pro Jahr und Nase könnte: Berlin hat eine große Straßenbahntradition.
auf etwa tausend Zielbewegungen. Oberbürgermeister Ernst Reuter schrieb 1953: „Die
Straßenbahn ist und bleibt das billigste und rentabel-
So war es, und so ist es. Selbst die jüngste bundes- ste Massenverkehrsmittel." Die heutige Verkehrs-
deutsche Statistik sagt, daß sich die Summe der ein- wissenschaft stimmt dem zu und ergänzt: Die Tram
zelnen Berufs-, Einkaufs-, Freizeit-, Ausbildungs- oder Stadtbahn ist umweltverträglich und kann das
und Urlaubswege auf diese rund eintausend Zielbe- komfortabelste und demokratischste, weil so gut wie
wegungen pro Jahr je Bürgerin und Bürger beläuft. niemanden ausschließende Verkehrsmittel sein.
Die gigantischen Verkehrssteigerungen, die un- Nun sind wir in Berlin nach der Vereinigung in der
sere Auto- und Jetmotorisierung brachten, mündeten glücklichen Situation, über ein Straßenbahnnetz im
nicht in allzuviel mehr an Mobilität, sondern vor al- Ostteil und inzwischen auch über ein paar hundert
lem in immer längere Wege zur Realisierung jedes Meter Straßenbahngleise im Westteil zu verfügen.
8808 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996
Wir haben unseren Antrag auch hinsichtlich der - Die unterhalten sich ohne mich auch ganz gut.
Kosten und der Frage der Arbeitsplätze durchge-
rechnet, und wir belegen, daß diese Verkehrswende Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Überwiegend
zugleich Teil eines Kampfs gegen die Massener- hat der Kollege Schmidt das Wort.
werbslosigkeit wäre.
Mit diesem Antrag knüpfen wir an die vorausge- Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
gangenen Umwelt- und Klimakonferenzen in Rio GRÜNEN): Die PDS hat einen umfangreichen Antrag
und Berlin, an die hier zitierte Städtebaukonferenz zur Verkehrsplanung in Berlin und Brandenburg vor-
Habitat II in Istanbul und auch an die Postulate der gelegt. Das ist ein Antrag, in dem vieles von dem,
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags was inhaltlich festgestellt und an Zielen dargestellt
„Schutz der Erdatmosphäre" an. wird, auch grünen Forderungen entspricht. Wir
-
Ach ja, zum Schluß: Tucholsky beendete die zi- freuen uns, daß die PDS in vielen Punkten verkehrs-
tierte Aussage zu Berlin resignierend mit: Doch politisch gewissermaßen bei den Grünen angekom-
„Berlin liegt nicht an der Spree. Es liegt am laufen- men ist.
den Band." Es wäre jammerschade, wenn das pas- Was ich jedoch sehr bedenklich und weniger er-
sierte, was Folge der offiziellen Verkehrspolitik ist: freulich finde, ist folgendes: Dieser Antrag atmet im
daß in Berlin zum xten Mal dieselben Fehler gemacht Ansatz einen zentralistischen Geist alter Manier. Es
werden, daß eine verödete Stadtlandschaft betoniert kommt mir so vor, als ob wie in alten realsozialisti-
wird, Berlin „am laufenden Band liegt" und damit schen Zeiten die Zentrale oder der Große Bruder re-
Mensch, Umwelt und Stadtqualität auf der Strecke geln soll, was vor Ort zu geschehen hat.
bleiben.
Lassen Sie mich das als bayerischer Föderalist sa-
(Beifall bei der PDS) gen: Wenn die Bundesregierung in diesem Antrag
wörtlich aufgefordert wird, „eine Verkehrsrahmen-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der planung für Berlin und den Raum Berlin-Branden-
Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen. burg vorzulegen und umzusetzen", dann ist das
schon ein unverschämter Ang riff auf die Zuständig-
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Erst keiten in einem föderal verfaßten Bundesstaat.
spricht ein Baden-Württemberger, dann ein
Bayer! Was ist das eigentlich für eine Ber- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lin-Debatte?) und bei der SPD)
Das ist schlicht und einfach die falsche Adresse und
Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE ein Demokratieverständnis, das wir so nicht teilen
GRÜNEN): Ja, weil die Bayern Föderalisten sind, wie können.
Sie gleich merken werden, Herr Kollege.
Was wir allerdings richtig finden, ist, daß sich die-
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ses Haus mit den Teilen der Verkehrsplanung - und
Kollegen! Es passiert heute zum wiederholten Male, zwar nachhaltig und durchaus kritisch und kontro-
daß am Abend zu so später Stunde ein oder mehrere vers - beschäftigt, für die der Bund auch zuständig
PDS-Anträge als letzte Punkte auf der Tagesordnung ist. Diese kommen zum Teil in dem Antrag des Kolle-
stehen und dadurch so etwas wie ein gewisser kolle- gen Wolf und anderer vor, so beispielsweise die Berli-
gialer Druck auf die Antragsteller entsteht, möglichst ner Tunnelitis, der Großflughafen und der Transra-
hier auf die Debatte zu verzichten und die Reden zu pid. Genau zu diesen zentralen Punkten haben wir
Protokoll zu geben. Ich möchte hier einfach einmal Anträge eingebracht, die zum Teil im Ausschuß und
festhalten, daß es natürlich nicht die PDS zu verant- im Plenum bereits diskutiert worden sind und zum
worten hat, daß die Reihenfolge auf der Tagesord- Teil noch diskutiert werden. Sich darüber zu unter-
nung hier so aussieht, und daß ich es auch nicht als halten macht Sinn.
fair empfinde, wenn man dann so tut, als wolle man
diese Debatte am liebsten nicht führen, sondern die Ich möchte noch auf ein paar inhaltliche Aspekte
Redebeiträge zu Protokoll geben. Aus Gründen der eingehen. Es wird unter anderem gefordert, man
Fairneß und dieser Art der Kollegialität möchte ich müsse in Berlin die Funktionen Wohnen, Arbeiten,
trotzdem kurz zu diesem Tagesordnungspunkt spre- Einkaufen und Erholung wieder zusammenführen.
chen, obwohl ich eigentlich auch nach Hause gehen Ich glaube, es ist gerade das Tolle an der Berliner Mi-
möchte; das ist doch ganz klar. schung, daß es diese Nähe noch gibt. Wir müssen sie
allenfalls verteidigen, aber nicht erst zustande brin-
(Beifall bei der PDS) gen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8809
Albert Schmidt (Hitzhofen)
Es wird ferner gefordert, einen „modal split", also die von Ihnen angesprochenen Einzelprojekte einge-
eine Verteilung der Verkehrsträger in einem Ver- hen, um für die hier noch Verbliebenen darzustellen,
hältnis von allenfalls 15 Prozent für den motorisierten wie falsch und unrecht Sie in vielen Punkten gearbei-
Individualverkehr und wenigstens 85 Prozent für den tet haben und wie unseriös im Grunde Ihr Antrag ist.
öffentlichen Verkehr anzustreben. Derzeit haben wir
etwa ein Verhältnis von 58 Prozent zu 42 Prozent. So Ich beginne mit dem Antrag auf Einsetzung einer
ähnlich sagt es auch der Senat; er spricht von einer Planungsgruppe „Fahrradfreundliches Regierungs-
Verteilung von 20 Prozent zu 80 Prozent. Diese Zah- viertel" . Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu, daß wir
lenangaben sind schön und gut, aber was wir viel- -alles tun sollten, um bei der Planung der Regierungs
mehr bräuchten, wäre ein Stufenmodell, bei dem von und Parlamentsbauten in Berlin darauf zu achten,
Jahr zu Jahr operationalisiert überprüft werden daß möglichst viele Wege ungefährdet mit dem Fahr-
kann, wo wir jeweils in der Umsetzung stehen. Das rad erledigt werden können.
wäre sinnvoll. Aber der Antrag der PDS ist, wie ich festgestellt
Stichwort: U-Bahn. Da drückt sich die PDS um eine habe, in weiten Teilen wortgleich aus dem Anforde-
klare Aussage herum. Es heißt zwar, U-Bahn-Strek- rungskatalog des ADFC abgeschrieben. Dieser Kata-
ken sollen nur noch als Lückenschlüsse gebaut wer- log wurde allen Bundestagsfraktionen und auch Ih-
den. Das Problem ist aber, daß alle U-Bahn-Projekte rer Gruppe im letzten Sommer zugeschickt.
in Berlin als Lückenschlüsse deklariert und verkauft
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/
werden. Das betrifft sowohl die U 5 vom Lehrter
DIE GRÜNEN]: Das ist doch nichts Schlim
Bahnhof bis zum Alex als auch die U 2 von der Vine-
- mes! - Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang
tastraße nach Pankow, die U 1 von der Krummen
Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Aber auch nicht
Lanke zum Mexikoplatz ebenso wie die U 15 von der
sehr einfallsreich!)
Uhlandstraße zur Adenauerstraße. All diese Projekte
werden als Lückenschlüsse verkauft. Für meine Fraktion hat Peter Conradi seinerzeit
Hintergrund ist, daß es eine PDS-Bürgerinitiative den Vorstoß begrüßt und im Namen der SPD-Frak-
tion seine Unterstützung zugesagt. Als Obmann der
in Pankow gibt, die die Verlängerung der U 2, die ich
genannt habe, will, während die PDS mehrheitlich SPD in der Baukommission führte er unter anderem
im Land das genau nicht will. Deshalb drücken Sie aus - ich zitiere -,
sich mit solch schwammigen Aussagen um eine klare daß bei der Ausschreibung des Wettbewerbs für
Position herum. die Außenanlagen im Parlamentsviertel Ihre An-
forderungen an ein fahrradfreundliches Regie-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege, Sie rungsviertel berücksichtigt werden.
achten auf die Zeit.
Außerdem hat er angeregt, daß der ADFC zu die-
sem Thema eine Anhörung in Berlin veranstaltet.
Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE Diese Anhörung ist jetzt nach der Sommerpause ge-
GRÜNEN): Solange nicht die vorhandenen - da sind plant. Ich denke, im Prinzip sind die Forderungen
wir vielleicht wieder beieinander - S-Bahn-Linien des ADFC unstrittig.
wiederhergestellt, das Straßenbahnnetz im Ostteil
wieder modernisiert und in den Westteil verlängert Worum es dem ADFC aktuell geht, sind aber auch
ist, ist für uns der U-Bahn-Neubau prinzipiell nicht Fragen wie beispielsweise die, ob Fahrradwege auf
zu verantworten. Das sage ich auch an die Adresse der Straße markiert werden. Nun soll sich der Bun-
der SPD. destag vom Grunde her nicht mit der Markierung
von Fahrradwegen beschäftigen,
Ich möchte es für heute mit dem Wunsch bewen-
den lassen, im Ausschuß über die Punkte zu diskutie- (Beifall bei der SPD und der F.D.P.)
ren, für die wir zuständig sind, und das andere im Se-
aber da das Ihr Antrag nun einmal beinhaltet,
nat von Berlin und im Landtag von Brandenburg
möchte ich auch kurz darauf eingehen. Ich verstehe
oder vielleicht im Landtag von Berlin/Brandenburg
als gelernter Straßenbauer in Zeiten wie diesen, wo
zu diskutieren.
wir wirklich sparen müssen - da gebe ich Ihnen
Vielen Dank. recht -, manche Ansätze nicht. Es ist doch viel billi-
ger, zum Beispiel einen Fahrradweg auf der Straße
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abzumarkieren, als gesonderte Radwege anzulegen.
sowie bei Abgeordneten der PDS) Im übrigen treten führende Verkehrsplaner für die-
ses Konzept ein. Auch die Verkehrssicherheit gerät
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der dadurch nicht in Gefahr. Der Bundesminister für Ver-
Kollege Siegfried Scheffler, SPD. kehr - Herr Staatssekretär, Sie sind ja noch anwe-
send - sollte insofern endlich verbindliche Richt-
linien für den Bau innerstädtischer Radwege erlas-
Siegfried Scheffler (SPD): Herr Präsident! Meine sen.
sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege
Wolf, da Sie konkret und sachlich nicht auf Ihren An- Allerdings - darauf muß ich auch hinweisen, wenn
trag eingegangen sind, möchte ich das nachholen. ich den PDS-Antrag betrachte - kann der Bund wirk-
Auch wenn die Adresse vielleicht falsch ist, möchte lich nicht für alle Maßnahmen in Anspruch genom-
ich als Berliner auf die Berliner Verkehrspolitik und men werden, auch nicht für die, die im zentralen Be-
8810 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1996
Siegfried Scheffler
reich Berlins zur Verbesserung des Fahrradverkehrs denburg bereits seit 1990 von Berlin und Branden-
beitragen würden. burg gemeinsam erarbeitet.
Wir müssen da schon unterscheiden. Zum Beispiel Der heute zur Debatte stehende Antrag wird sei-
muß der Bund auf Grund gesetzlicher Vorschriften nem selbsterklärten Anspruch eines ganzheitlichen
entlang von Bundesstraßen für entsprechende Rad- Ansatzes der Verkehrsplanung übrigens auch nicht
wege sorgen. Das betrifft beispielsweise die Anlage gerecht. Die 18 Zielsetzungen, an denen sich nach
eines oberirdischen Fahrradweges durch die Berliner dem Willen der PDS eine von der Bundesregierung
Mitte entlang dem Streckenverlauf der B 96, die geforderte Verkehrsrahmenplanung orientieren soll,
künftig den Tiergarten in einem Tunnel unterqueren sind relativ willkürlich aneinandergefügt, basieren
wird. Ich denke, Sie kennen das Urteil, das letztend- zum Teil auf falschen Annahmen, verlieren sich in
lich ergangen ist, weil wir Tatsachen vorfinden, wo Detailfragen, die zum Beispiel vor Ort nicht nur beim
nach der Stopp des Tiergartentunnels rechtlich nicht Berliner Senat, sondern sogar in den Bezirksämtern
mehr möglich ist. und Tiefbauämtern zu klären sind. Sie können mei-
nes Erachtens auch nicht als seriös betrachtet wer-
Zweitens besteht die Forderung des Berliner Se- den.
nats an den Bund, dafür Sorge zu tragen, daß der
durch seine Regierungs- und Parlamentstätigkeit im Aber - auch wenn nur bedingt zuständig - reden
zentralen Bereich induzierte Verkehr mit einem wir ruhig über einige Detailpunkte. Der Senat plant -
„modal split" von 80 zu 20 zugunsten des öffentli- Sie wissen das; die Baukommission des Ältestenrates
chen Verkehrs bewältigt wird. Ich sage deutlich: Das fordert das ebenfalls - einen „modal split" von 80 zu
Fahrrad wird den Berlinerinnen und Berlinern wie 20 zugunsten des öffentlichen Verkehrs im Berliner
auch uns dabei helfen. Stadtzentrum. Dies wird durchgesetzt. Dies ist auch
Bestandteil der Koalitionsvereinbarung. Dafür ist es
Aber letztendlich muß das Land Berlin seine Kon- meines Erachtens vordringlich, das Angebot an öf-
zepte für die Verkehrsinfrastruktur im zentralen Be- fentlichem Verkehr zu verbessern. In S-, U- und Stra-
reich durchsetzen. Dazu gibt es Verabredungen, ßenbahn sehe auch ich persönlich das geeignete
dazu gibt es auch eine entsprechende Koalitionsver- Transportmittel. Die grundsätzliche Forderung, Stra-
einbarung. Ich habe noch einmal nachgefragt. Die ßenbahnen gegenüber U-Bahnen immer den Vorzug
Senatsverwaltung für Verkehr hat mir dazu eine Pro- zu geben, kann ich allerdings nicht nachvollziehen.
tokollnotiz zugefaxt, in der es heißt - ich zitiere -,
.(Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS] meldet sich
daß der Radverkehr insbesondere im Bereich des zu einer Zwischenfrage)
Parlaments- und Regierungsviertels zu fördern
und mit einer entsprechenden Infrastruktur aus-
zurüsten ist. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
Scheffler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Um diese unterschiedlichen Aspekte zu klären, um
den Bedarf für weitere Maßnahmen festzustellen und Siegfried Scheffler (SPD): Nein. Wenn wir schon so
um alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen, halte
kollegial waren und hier wirklich die Debatte so
ich es tatsächlich für erforderlich, wenn wir zunächst lange, ich sage einmal - -
die vom ADFC geplante Anhörung in Berlin abwar-
ten.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie brauchen das
Minister Töpfer als Umzugsminister hat sich bereit nicht zu begründen. „Nein" genügt.
erklärt, dafür die Schirmherrschaft zu übernehmen,
wie Ihnen vielleicht bekannt ist. Selbstverständlich
wird die SPD-Fraktion nach wie vor, auch wenn Sie Siegfried Scheffler (SPD): Ich möchte jetzt weiter-
jetzt den Antrag abgeschrieben haben, diese Forde- machen, damit wir zum Schluß kommen. Sie können
rung nach einem fahrradfreundlichen Regierungs- hinterher Ihre Kurzintervention machen.
viertel unterstützen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die
(Beifall bei der SPD) macht er sowieso!)
Die grundsätzliche Forderung, Straßenbahnen ge-
Lassen Sie mich jetzt zum zweiten Antrag kom-
genüber U-Bahnen immer den Vorzug zu geben,
men. Dieser Antrag fordert von der Bundesregierung
eine Verkehrsrahmenplanung für Berlin und den kann ich nicht nachvollziehen. Es gibt Strecken, wo
wir aus städtebaulichen und verkehrstechnischen
Raum Berlin-Brandenburg. Dazu noch einmal eine
Gründen zur Bewältigung zukünftiger Verkehrsmen-
Vorbemerkung - auch Kollege Schmidt hat dazu
gen besser eine U-Bahn planen oder aber uns als Op-
schon etwas gesagt -: Ich könnte es mir einfach ma-
tion für die Zukunft offenhalten.
chen und erklären, der Antrag trägt die falsche
Adresse. Für die Verkehrsentwicklungsplanung der Zur Zeit wird von der Senatsverwaltung der Berli-
Region Berlin-Brandenburg und die Stadt Berlin ist ner Stadtentwicklungsplan Verkehr überarbeitet.
nun wirklich Berlin bzw. sind die beiden Bundeslän- Der erste Entwurf zeigte meines Erachtens nicht ge-
der zuständig. So sollte es in einem föderativen Staat nügend auf, wie die verkehrs- und umweltpoliti-
auch wirklich bleiben, es sei denn, man will - ich schen Ziele durch Restriktionen gegenüber dem Au-
möchte Ihnen das nicht vordergründig unterstellen - toverkehr und durch entsprechende Fördermaßnah-
diesen Föderalismus abschaffen. Im übrigen wird die men für den ÖPNV umgesetzt werden können. Auch
Verkehrsrahmenplanung für die Region Berlin-Bran- das Abgeordnetenhaus von Berlin fordert, diese Defi-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1996 8811
Siegfried Scheffler
zite zu beseitigen. Diese Forderungen sind übrigens Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
auch Bestandteil der Überarbeitung, die alle Par- Scheffler, Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.
teien, Ihre, die SPD, die CDU, gefordert haben.
Über den Straßen- und Schienentunnel durch den Siegfried Scheffler (SPD): Sie haben die Fusion an-
Tiergarten haben wir bereits gestern im Verkehrs- gesprochen. Als ich den Satz dazu in Ihrem Antrag
ausschuß debattiert. Auch wenn Sie es anders sehen, gelesen habe, war mir klar, wieso Sie eine Rahmen-
der Straßentunnel unter dem Tiergarten ist eine un- verkehrsplanung durch die Bundesregierung for-
ter die Erde verlegte vorhandene Straße, um das Re- dern. Sie, die Sie die Fusion der beiden Länder so ve-
gierungsviertel vom Durchgangsverkehr freizuhal- hement bekämpfen, können natürlich nicht einräu-
ten. Die vom Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagene men, daß eine abgestimmte Raumordnungs- und
Nutzung des Straßenzuges über den „Großen Stern" Verkehrspolitik von einem vereinten Bundesland
bei gleichzeitigem ersatzlosem Rückbau der Entla- Berlin-Brandenburg besser geleistet werden kann.
stungsstraße ist nicht möglich, da dieser Straßenzug
- Kollege Schmidt, das wollen wir alle - auch den zu- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege
künftig reduzierten Kfz-Verkehr nicht aufnehmen Scheffler, das muß Ihr letzter Satz gewesen sein. Es
kann. Andere mögliche Trassen sind eben nicht aus- tut mir leid, Sie müssen schon auf meine Hinweise
baufähig, oder sie führen durch sensible Stadtge- achten. Das ist zu lang.
biete, die vor Durchgangsverkehr geschützt werden
müssen. Siegfried Sche ff ler (SPD): Ich danke allen hier
Falsch dargestellt ist ebenfalls das Eisenbahnkon- noch Ausharrenden für ihre Aufmerksamkeit.
zept Berlins. Der behauptete Nachteil dieses Kon- (Beifall bei der SPD)
zepts wird gerade dadurch vermieden, daß das Pilz-
konzept mit einem dezentralen Bahnhofskonzept
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Der Kollege
kombiniert ist. So werden alle Intercity- und ICE- Dr. Wolf, PDS, hat sich zu einer Kurzintervention ge-
Züge, also auch die, die in Berlin enden, künftig an
meldet.
drei oder vier Fernbahnhöfen zusätzlich zum Lehrter
Bahnhof halten.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Als Antwort auf meine
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Bitte nach einer Zwischenfrage ist gesagt worden, es
DIE GRÜNEN]: Mit ICE-Anschluß?) sei schon kollegial, daß der Punkt diskutiert werde.
Ich möchte darauf hinweisen, daß dies in dieser Wo-
Der Lehrter Bahnhof hat also nicht die Rolle eines che der einzige Punkt der PDS ist, und er wird don-
Zentralbahnhofs, sondern er ist Verknüpfungspunkt. nerstags nachts behandelt. Da müßte es doch norma-
Da die Züge dort nicht enden, benötigt die Eisen- lerweise nicht als Entgegenkommen verstanden wer-
bahn relativ wenig Fläche. So kommt der Lehrter den, daß er verhandelt wird, sondern es müßte ge-
Bahnhof, was den Fernverkehr betrifft, mit weniger sagt werden: Natürlich werden wir dann anwesend
als der Hälfte der Bahnsteige des Bahnhofs Cottbus sein, und wir diskutieren.
aus.
(Beifall des Abg. Albe rt Schmidt [Hitzhofen]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Achten Sie bitte
auf die Zeit, Herr Kollege Scheffler. Deswegen kurz drei Punkte: Erstens. Natürlich
entspricht der Antrag dem Text des ADFC. Wir ha-
ben ihm auch mitgeteilt, daß wir den Text so einbrin-
Siegfried Scheffler (SPD): Auch die Bedeutung des gen, Was daran schlimm sein soll, habe ich nicht ka-
Umsteigeverkehrs in Berlin ist falsch dargestellt. piert.
Berlin bildet bereits heute im Interregio- bzw. Inter-
Zweitens zur Rahmenplanung. Wir wollen für das
city-Verkehr eine wichtige Drehscheibe zwischen
Land Berlin und für das Umland, was zum Teil in
den Städten Hamburg, Schwerin, Rostock, Stralsund
Brandenburg ist, eine Rahmenplanung machen. Das
einerseits und Görlitz, Dresden, Prag, Chemnitz und
heißt nicht, den Föderalismus aufzuheben. Aber es
Leipzig andererseits.
heißt, Richtwerte anzugeben, wie sie im Grunde
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: auch von der Umzugskommission für das, was im Re-
Und der Transrapid kommt noch dazu!) gierungsviertel geplant ist, real konkretisiert werden.
Diese Funktion wird sich mit dem Anschluß Osteuro- Wir werden die gleichen Anträge in Brandenburg
pas noch verstärken. und in Berlin durch die jeweilige PDS am Ort einbrin-
gen und dort im Rahmen des Föderalismus konkreti-
Auf den Transrapid möchte ich nicht näher einge- sieren.
hen.
Drittens. Herr Scheffler, Sie sagen, der Senat plane
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Da den „modal split" 80 zu 20. Ich bitte Sie, zur Kenntnis
versteht die SPD ja nur Bahnhof!) zu nehmen, daß auch das Deutsche Institut für Wirt-
schaftsforschung diese Planung zitiert, aber im Blatt
Beim Transrapid sind wir Oppositionsparteien uns ei- 9/95 sagt, es herrsche völlige Konzeptionslosigkeit,
nig: Den können wir generell ablehnen, noch dazu der Trend gehe in die total entgegengesetzte Rich-
bei einem Haushaltsdefizit von 50 Milliarden DM. tung.
8812 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 98. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1996
Anlage 1 Anlage 2
wird der Durchgangsverkehr flüssiger gestaltet, Während die erwähnte Konzeption sich bereits mit-
während gleichzeitig der Bereich des Spreebogens ten in der Durchführung befindet, wird mit dem An-
davon freigehalten wird. Daß eine aus baulichen und trag anhand theoretischer, unrealer oder nachteiliger
Stabilitätsgründen vom Schienentunnel getrennte Verkehrsvorschläge zumindest eine Zeitverzögerung
Bauausführung hierfür zu unterschiedlicher pla- versucht. Ein besseres Konzept für die Bewohner der
nungsrechtlicher Betrachtung führen mußte, wie im Stadt und die Nutzer der Verkehrsträger ist für mich
Antrag bemerkt, scheint mir ein nutzloser formaler nicht erkennbar. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt daher
Strohhalm zur Unterbindung dieses Projektes, wie den Antrag der PDS ab.
ja auch bereits der beantragte Baustopp durch
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts abge- Gestatten Sie eine kurze Bemerkung zum Antrag
lehnt wurde. Eine Verhinderung des Tunnelbaues „Planungsgruppe fahrradfreundliches Regierungs-
bei gleichzeitiger Schließung der B 96 würde übri- viertel in Berlin". Bessere und mehr Radwege, insbe-
gens nur zu einer Verlagerung des Autoverkehrs in sondere auf diesem flachen Gelände, sind durchaus
die umliegenden Wohngebiete führen. Die erhöhte wünschenswert. Aber dazu braucht man keine ei-
Belastung wäre auch nicht mit den geforderten gene Planung, schon gar nicht eine Planungsgruppe
30 km/h zu beheben, im Gegenteil: Die Abgaspro- der Bundesregierung. Die Verkehrsplanungen wer-
duktion des Kraftfahrzeuges ist in diesem Bereich hö- den durch das Land Berlin vorgenommen, und zur
her als bei 50 km/h, auch das muß einmal gesagt Einordnung der Radwege in die normale Verkehrsin-
werden. Daher ist ein flüssiger Durchgangsverkehr frastruktur gibt es Maßstäbe, die von den Fachleuten
die wichtigste Maßnahme, denn mit allen theoreti- berücksichtigt werden. Außerdem halte ich zum Bei-
schen Überlegungen zur Gestaltung von Wohnen, spiel Angaben wie „knotenfreie" Verbindungen der
Arbeiten, Versorgen, Erholen auf engstem Raum ist Radwege, was ja Brücken oder Unterführungen be-
zumindest bei gewachsenen Stadtstrukturen kein deuten würde, bereits aus der Finanzlage heraus für
einziges Auto von der Straße zu bringen. überzogen. Auch diesen Antrag lehnen wir ab.