Sie sind auf Seite 1von 8

D eutscher Bundestag

1. Sitzung
Bonn, den 20. Oktober i 969

Inhalt:

Eröffnung der Sitzung durch den Alters-


präsidenten 1A

Namensaufruf der Abgeordneten und Wahl


des Präsidenten
Alterspräsident Borm 3D
Schriftführer Berger 3D
Dr. Barzel (CDU/CSU) 4A
von Hassel (CDU/CSU) 5A

Amtsübernahme durch den Präsidenten


von Hassel 5A

Nächste Sitzungen 6C
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 1. Sitzung. Bonn, Montag, den 20. Oktober 1969 1

1. Sitzung

Bonn, den 20. Oktober 1969

Stenographischer Bericht Das ist in erster Linie natürlich eine Frage des Le-
bensalters. Darüber hinaus aber glaube ich doch,
daß dieser Tatsache eine gewisse symbolische Be-
Beginn: 16.01 Uhr
deutung innewohnen kann. Ich will an dieser Stelle
nicht den fatalen ,,Frontstadt"-Mythos erneut be-
Alterspräsident Borm: Meine Damen und Her- schwören; dennoch will ich in aller Deutlichkeit und
ren! Nach der Übung des Hohen Hauses und einem sehr scharf zum Ausdruck bringen, daß nach dem
alten Brauch entsprechend wird das Parlament von Willen aller Berliner im freien Teil dieser Stadt
dem jeweils ältesten Abgeordneten des Deutschen wir unverbrüchlich dem Regierungssystem der Bun-
Bundestages eröffnet. Ich bin am 7. Juli 1895 ge- desrepublik Deutschland angehören.
boren und richte an Sie, um jeden Irrtum auszu-
(Beifall.)
schließen, die Frage, ob ein älteres Mitglied im
Hause anwesend ist. — Das ist offenbar nicht der Für uns gibt es dazu keine Alternative. Wir Ber-
Fall. Dann eröffne ich die erste Sitzung des Deut- liner Abgeordneten nehmen vollberechtigt unseren
schen Bundestages der 6. Wahlperiode. Platz im Bundestag ein, wo nicht die unausweich-
liche Einsicht in politische Notwendigkeiten ge-
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen be- wisse Einschränkungen erfordert. Wir hoffen, daß
kanntzugeben, daß auf Grund einer interfraktionel- der Ausgleich zwischen Ost und West in absehba-
len Vereinbarung festgestellt worden ist: Die am rer Zeit die volle Integration ermöglichen wird. Daß
1. Oktober 1969 in Kraft getretene geänderte Ge- bis dahin durch die unveränderte Übernahme der
schäftsordnung des Deutschen Bundestages gilt auch Gesetze, welche von diesem Hohen Hause beschlos-
für die 6. Wahlperiode. Auf gemeinsamen Vorschlag sen worden sind, Berlin im politischen Geschehen
der Fraktionen der SPD und der FDP sollen davon dem System der Bundesrepublik angeglichen ist,
§ 7 Abs. 3 und 4 und § 67 der Geschäftsordnung aus- sichert die Zusammengehörigkeit.
genommen werden. Die CDU/CSU-Fraktion hat mich
Unseren Verbündeten — das muß auch hier ge-
wissen lassen, daß sie dem zustimme. Es besteht
Einvernehmen zwischen allen Fraktionen darüber, sagt werden — danken wir Berliner, daß infolge
ihres Schutzes und ihrer tatkräftigen Hilfe bis heute,
daß damit keine materielle Vorentscheidung über
und zwar 25 Jahre, weder durch die nackte Gewalt
den Inhalt dieser beiden Paragraphen verbunden
noch durch Drohung mit ihr noch durch die Mittel
ist. Ich stelle fest, daß das Haus von diesen inter-
raffinierten Nervenkriegs das freie Berlin dem to-
fraktionellen Vereinbarungen Kenntnis genommen
talitären System der geographischen Umwelt hat
hat. — Es ist so beschlossen.
botmäßig gemacht werden können.
Nach einer weiteren interfraktionellen Verein- Dieser überzeugende äußere Schutz hätte natur-
barung sollen die wiedergewählten Schriftführer der gemäß wirkungslos bleiben müssen, wenn nicht die
5. Wahlperiode mir als vorläufige Schriftführer zur Bundesrepublik ihrerseits getreu der von ihr über-
Seite stehen. Ich bitte daher die Abgeordneten Ber- nommenen Verpflichtung durch wirtschaftliche, fi-
ger, Frau Geisendörfer, Frau Griesinger, Josten, Ruf, nanzielle, kulturelle und soziale großzügige Hilfe
Varelmann, Berlin, Folger, Frau Krappe, Lange, das materielle und geistige Leben in der Haupt-
Marquardt, Frau Meermann und Dr. Rutschke, die- stadt der Deutschen gesichert hätte. Sie wird es auch
ses Amt zu übernehmen. Ich darf die Abgeordneten weiterhin tun.
Berger und Frau Krappe bitten, neben mir Platz zu
Dieser Erfolg darf uns dennoch nicht zu der An-
nehmen.
nahme verleiten, daß die aufgezwungene und span-
Meine Damen und Herren! Bevor wir zur Wahl nungsgeladene Situation ein statischer Endzustand
des Präsidenten dieses Hohen Hauses kommen, sein könne. Angesichts der Kräfteverteilung und
darf ich darauf hinweisen, daß zum vierten Male in der Waffensysteme in der Welt können auch ant-
der Geschichte des Deutschen Bundestages ein Ab- agonostische Positionen heute nicht mehr durch Ge-
geordneter aus Berlin die Ehre hat, die erste Sit- walt geklärt werden, sondern — als klare Alter-
zung eines neu gewählten Parlaments zu eröffnen. native zur gegenseitigen Vernichtung — nur durch
geduldige Versuche der Annäherung. Das ist schon
(Beifall.) ein dornenreicher Weg, und nur allzu leicht bringt
2 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 1. Sitzung. Bonn, Montag, den 20. Oktober 1969

Alterspräsident Borm
er den Vorwurf ein, daß er in immer neue Sackgas- nationalen Politik schrittweise Entkrampfung durch
sen führen müsse. Hier mag die Erfahrung eines zunächst atmosphärische Verbesserung unseres Ver-
langen Lebens eine gewisse hilfreiche Parallele hältnisses zur DDR, so wenig, meine Damen und
bieten. In meiner Jugend ging das Wort um von Herren, uns die Machthaber dort angenehm sind.
der „Erbfeindschaft" zwischen dem Deutschen Reich Der Weg zum notwendigen — ich betone: zum
und seinem Nachbarn Frankreich. Nichts mehr ist notwendigen — Erfolg ist schmal. Er ist voller Un-
davon geblieben als für die Älteren eine verblas- sicherheiten und Gefahren. Das Gelände muß sorg-
sende, aber immer noch lehrreiche Erinnerung und fältig und sehr vorsichtig sondiert werden, wobei
für die Jungen das Unverständnis dafür, daß es nicht außer acht gelassen werden darf, daß die deut-
jemals so etwas habe geben können. Da liegt doch sche Frage unlösbar mit der politischen Gesamt-
sicherlich der Schluß nahe, daß, was im Westen entwicklung auf der Welt verbunden ist.
möglich war, im Osten nicht unbedingt ausgeschlos-
sen werden kann. Der große Dialog zwischen Ost und West ist ein-
geleitet, und er wird notgedrungen, wenn auch
Meine Damen und Herren! Wir haben einen be- zähflüssig weitergehen. Wir Deutschen in der Bun-
wegten und den vielleicht politischsten Wahlkampf desrepublik und in der DDR dürfen dabei nicht ab-
der Nachkriegszeit hinter uns. Er hatte seine Licht- seits stehen, denn es geht mittelbar oder unmittel-
und .er hatte seine Schattenseiten. Neben teilweise bar stets um uns selber mit. Auch die DDR wird
an Diffamierung grenzender Polemik und neben den auf die Dauer nicht abseits stehen können. Ich bin
Fällen, in denen 'v on der Polizei — der wir dafür sicher, daß die Äußerungen aus Ostberlin bei uns
ausdrücklich Dank zu sagen haben — Saal- und sorgfältige Beachtung finden werden, und das mag
Straßenschlachten verhindert wurden, auch für die orakelhaften jüngsten Verlautbarungen
(Beifall) gelten.
erlebten wir erfreulich oft sachliche Argumentation Diese großen außenpolitischen und gesamtdeut-
und offene Diskussion mit den Bürgern. schen Aufgaben dürfen uns aber nicht von den unge-
Am ersten Sitzungstage des neuen Bundestages lösten Problemen in unserer eigenen Gesellschaft
haben wir den Wunsch, dem Wähler dafür zu dan- ablenken. In erster Linie ist unsere ständige funda-
ken, daß er allen extremen Kräften eine Absage mentale Aufgabe die Durchführung überfälliger
erteilt hat. Reformen im Bildungs- und im Ausbildungswesen.
(Beifall.) Hier geht es um die Schaffung unumgänglicher Vor-
aussetzungen für das Mündigwerden aller unserer
Das gilt sowohl für die reaktionären Kräfte von Menschen als Grundlage der Demokratie. Die gei-
rechts wie auch für die Neuauflagen abgestandener stigen Abhängigkeiten von überkommenen An-
I Ideologien von links. Die Demokratie in der Bun- schauungen und Institutionen müssen zugunsten
desrepublik hat eine weitere Probe bestanden. eigener Urteilsfähigkeit abgebaut werden. Sie sind
Nun wird gerätselt, meine Damen und Herren, mit der modernen pluralistischen Gesellschaft unver-
welcher Extremismus wohl der gefährlichere sei, einbar. Anders sind auch die neuen und ungewohn-
der von rechts oder der von links. Sie sind beide ten Probleme einer sogenannten Wohlstandsgesell-
gefährlich, denn sie bedeuten beide die Diktatur. schaft nicht zu lösen.
Derzeit allerdings ist der rechte Extremismus be- Ein Weiteres, meine Damen und Herren! Unsere
drohlicher, denn er tarnt sich geschickter und ist in wirtschaftliche Bedeutung und unsere geographische
seiner Propaganda skrupelloser; außerdem wird er Lage gestatten keine politische Abstinenz. Wir sind
nicht belastet durch das abschreckende Beispiel der vielmehr gezwungen, unser Verhältnis auch zur
totalitären Herrschaftsform in der DDR. eigenen Geschichte endlich zu bereinigen. Daß be-
(Unruhe.) reits wiederum einer skrupellosen Agitation nach
berüchtigtem Muster ein gewisser Erfolg möglich
Verbote allein reichen in der Auseinandersetzung wurde, ist bedenklich, und wir haben uns zu fragen,
mit dem Extremismus aber nicht aus. Eine starke, ob wir vielleicht irgend etwas falsch gemacht haben.
selbstbewußte Demokratie sollte ihrer auch nicht be-
dürfen, es sei denn zur Abwehr krimineller und Es bleibt die gemeinsame Aufgabe aller Frak-
grundgesetzwidriger Handlungen. Die Gefahr ist tionen in diesem Hohen Hause — Regierung wie
erst überwunden, wenn die Propaganda der Extre- Opposition —, unser Volk, unsere Gesellschaft zu
men täglich überzeugend durch die politische Arbeit einem bewußt engagierten und realistischen Ver-
sichtbar widerlegt wird. Das Mittel dafür: dieser hältnis zur Politik und zur Geschichte zu führen. Es
Bundestag hat zu beweisen, daß unser parlamentari- ist einfach ein Unding, daß in unserem Lande der
sches Regierungssystem auch und gerade heute Politiker in der Rangordnung der Wertschätzung
reformwillig und leistungsfähig ist. Extreme Par- von Berufen im unteren Drittel rangiert. Es ist
teien werden dann nur noch ein Kümmerdasein am ebenso ein Unding, daß von unserem Volke noch
Rande führen, und das ist die für sie angemessene immer die jeweilige Regierung höher bewertet wird
Position in jeder gesunden Demokratie. als die Opposition. Auch totalitäre Staaten haben
ihre Regierungen. Die Opposition und ihre gewähr-
Große Aufgaben erwarten uns im nächsten Jahr-
leisteten Möglichkeiten sind das Kriterium wahrer
zehnt, die dringend der Lösung bedürfen: in der
Demokratie.
Außenpolitik die weitere Ausgestaltung unserer
Verflechtung mit dem Westen, Versöhnung, Aus- (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei
gleich auch mit den Völkern im Osten; in unserer Abgeordneten der CDU/CSU.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 1. Sitzung. Bonn, Montag, den 20. Oktober 1969 3

Alterspräsident Borm
Hier aufklärend mitzuwirken, ist eine verantwor- primär notwendig für das Wohlergehen unseres
tungsvolle Aufgabe, die unserer Publizistik gestellt Volkes, ja für dessen Bestand? Der Herr Bundesprä-
bleibt. Allen, die darin tätig sind, möchte ich von sident hat es genannt und sich allein schon dadurch
hier aus ausdrücklich für die hohe Aufmerksamkeit ein bleibendes Verdienst erworben: Es ist die
danken, mit der sie über den abgelaufenen Wahl- Sicherung des Friedens als unser aller Aufgabe, als
kampf und andere politische Dinge berichtet haben. umfassende gesellschaftspolitische Aufgabe. Nicht
Endlich, meine Damen und Herren, ist es ein das „Gleichgewicht des Schreckens" sichert uns den
Unding, daß kontinuierlich Parteien und Einzelper- Frieden auf Dauer, sondern vorzüglich die wissen-
sonen, deren demokratische Zuverlässigkeit über schaftlich fundierten Einsichten in die Bedingungen
jeden Zweifel erhaben ist, mit der Behauptung diffa- des Friedens, seien sie ökonomischer, soziologischer,
miert werden, daß sie die Interessen unseres Vater- psychologischer oder politischer Natur, und dann
landes verrieten, daß sie den Untergang herbei- natürlich auch die Anwendung des daraus resultie-
führen würden, daß sie Verzichtpolitik betrieben renden Instrumentariums. Und da bedeutet es —
— und sattsam Bekanntes mehr. wir sollten alle sehr darüber nachdenken — eine
unerträgliche Gewichtsverschiebung, daß in unserem
(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Verteidigungsetat, dessen Notwendigkeit unumstrit-
Abgeordneten der CDU/CSU.) ten ist, 20 Milliarden DM stehen, während für die
Die davon Betroffenen mögen es mit Martin Luther Erforschung der Grundlagen von Frieden und Kon-
King halten: „Kühl planen, tapfer handeln und sich flikten zur Zeit noch keine einzige D-Mark bereit-
auf einiges gefaßt machen!" gestellt worden ist.
(Heiterkeit bei der SPD und der FDP.) (Unruhe.)
Ein Wort an die junge Generation sei mir noch Wenn wir im Lichte solcher Erkenntnisse und sol-
gestattet. Denken Sie, meine jungen Mitbürger, cher Präferenzen unsere Aufgabe angehen, habe
daran, daß Ihnen die bitteren Erfahrungen der mitt- ich keinen Zweifel, daß der 6. Deutsche Bundestag
leren und der älteren Generationen erspart geblie- vor der Nation bestehen wird.
ben sind! Dies mag mit erklären, daß wir nicht sel- Lassen Sie uns, meine Damen und Herren, nun
ten aneinander vorbeireden. Achten Sie auf Ihren an die Arbeit gehen!
politischen Stil! Form und Inhalt sind in der Politik
nun einmal nicht zu trennen. Denken Sie praktisch (Beifall bei SPD und FDP sowie bei Abge-
und erschöpfen Sie sich nicht nur in Theorien! Ge- ordneten der CDU/CSU.)
rade für eine Politik der permanenten Reform benö-
Ich komme nunmehr zu Punkt 2 der Tagesord-
tigen wir konstruktive Phantasie und praktischen
nung:
Reformeifer. Und endlich: Bleiben Sie weiterhin
jeglicher behaupteten — von ihr selbst behaupte- Namensaufruf der Abgeordneten.
ten — Autorität und Obrigkeit gegenüber kritisch Ich empfehle zur Vereinfachung des Geschäfts-
und mißtrauisch! Die Dynamik, die Sie dadurch in ganges, diesen Punkt der Tagesordnung mit dem
unsere Nachkriegsgesellschaft eingebracht haben, ist Punkt 3 zu verbinden:
ihr bemerkenswertes Aktivum geworden.
Meine Damen und Herren, ich habe während des Wahl des Präsidenten.
Wahlkampfes wiederholt an unser Grundgesetz Das Haus ist damit einverstanden? — Ich höre
denken müssen, besonders an die Bestimmungen keinen Widerspruch.
über die Aufgaben der Parteien und über die Pflich-
ten der Abgeordneten, weil ich landauf, landab die Ich lasse zunächst die Namen der beurlaubten
politische Wirklichkeit beobachten konnte. Nichts Abgeordneten bekanntgeben. Ich bitte den Herrn
widerspricht mehr dem Willen des Grundgesetzes Schriftführer zu meiner Rechten, die Namen zu ver-
als das Bestreben, die eigene Partei mit dem Staat lesen.
gleichzusetzen!
(Beifall.) Berger, Schriftführer: Wegen Krankheit ist ent-
Da sollte doch wohl die Erinnerung an die unheil- schuldigt Abgeordneter Lücke (Bensberg).
volle Zeit der Diktatur von 1933 bis 1945 einen
überzeugenden Anschauungsunterricht geliefert ha- Alterspräsident Borm: Die Wahl des Präsiden-
ben, ebenso wie die kongruente totalitäre Partei- ten und seiner Stellvertreter ist in § 2 unserer Ge-
herrschaft im anderen Teil unserer Nation. schäftsordnung geregelt. Diese bestimmt erstens,
Der Herr Bundeskanzler und die Herren Bundes- daß die Wahl des Präsidenten mit verdeckten
minister leisten den feierlichen Eid, daß sie dem Stimmzetteln durchzuführen ist, und zweitens, daß
Wohle des Volkes dienen werden. Das bedeutet bei gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der
unvermeidlichen Interessenkollisionen den Vorrang Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Das
des Staatswohls vor den Interessen irgendeiner Par- sind derzeit mindestens 260 Stimmen.
tei. Sinngemäß gilt das mit gleicher Eindringlichkeit § 54 a der Geschäftsordnung bestimmt ergänzend
für jeden von uns, für jedes Mitglied dieses Hohen dazu, daß in diesem Falle die Wahl geheim statt-
Hauses, obgleich wir den Eid nicht ausdrücklich lei- findet. Er bestimmt weiter, daß die Stimmzettel erst
sten. vor Betreten der Wahlzelle ausgehändigt werden.
Meine Damen und Herren, was ist nun unter den Die auf beiden Seiten aufgestellten Wahlzellen sind
heutigen Voraussetzungen unabdingbar, und was ist bei der Stimmabgabe zu benutzen. Die gekennzeich-
4 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 1. Sitzung. Bonn, Montag, den 20. Oktober 1969

Alterspräsident Borm
neten Stimmzettel sind in einem Wahlumschlag in Von der Wahlzelle begeben Sie sich dann bitte
die dafür vorgesehene Wahlurne zu legen. zur Wahlurne und werfen dort nach Aufruf Ihres
Namens Ihre Stimmkarte hinein. Ich mache aus-
§ 52 Abs. 6 Buchstabe a der Bundeswahlordnung drücklich darauf aufmerksam, daß die Kennzeich-
gilt entsprechend, d. h. ein Abgeordneter muß zu- nung Ihres Namens in der Namensliste durch den
rückgewiesen werden — das bitte ich sehr zu be- neben der Urne sitzenden Schriftführer an die Stelle
achten, um Zeit einzusparen —, wenn er seinen der Eintragung in die sonst übliche Anwesenheits-
Stimmzettel außerhalb der Wahlzelle gekennzeich- liste tritt und daß damit gleichzeitig ein urkund-
net oder ihn außerhalb der Wahlzelle in den Wahl- licher Nachweis für die Beteiligung an dieser Wahl
umschlag eingelegt hat. stattfindet.
Die Berliner Abgeordneten sind — das ist mir eine Die Schriftführer zu meiner Rechten und zu mei-
besondere Freude — heute stimmberechtigt; im ner Linken werden nunmehr die Namen aller Ab-
Saal ist daher nur eine Urne aufgestellt. geordneten nach dem Alphabet aufrufen. Ich bitte
Meine Damen und Herren, ich bitte jetzt um Vor- Sie, den Namensaufruf an Hand der Ihnen vor-
schläge zur Wahl des Präsidenten dieses Hohen liegenden Mitgliederliste zu verfolgen und sich
Hauses. — Herr Abgeordneter Dr. Barzel! rechtzeitig zur Entgegennahme Ihrer Stimmkarte
nach vorn zu begeben. Die diensttuenden Schrift-
führer bitte ich, ihre Stimme zum Schluß abzugeben. -
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Ich selbst werde als letzter ebenfalls abstimmen.
Damen und Herren! Wir schlagen vor, Herrn Kai
Uwe von Hassel zum Präsidenten des 6. Deutschen Nunmehr bitte ich die Schriftführer, die den Dienst
Bundestages zu wählen. an der Wahlurne und an den Wahlzellen übernom-
men haben, ihren Platz einzunehmen. — Sind alle
(Beifall.)
Plätze besetzt? — Das ist der Fall.
Dann eröffne ich hiermit die Wahl, und ich bitte,
Alterspräsident Borm: Meine Damen und Her-
mit dem Aufruf der Namen zu beginnen.
ren, Sie haben den Vorschlag des Herrn Abgeord-
neten Dr. Barzel gehört. Ich frage Sie, ob weitere (Namensaufruf und Wahl.)
Vorschläge gemacht werden. — Das ist nicht der
Fall. Meine Damen und Herren, der Namensaufruf ist
beendet.
Meine Damen und Herren, Sie erhalten, nachdem
Herr Abgeordneter von Hassel vorgeschlagen wor- Ich bitte jetzt den Abgeordneten Varelmann, für
den ist, die Stimmkarten an den zu meiner Rechten kurze Zeit meinen Platz, und die eingeteilten Her-
und meiner Linken vor den Wahlkabinen stehenden ren Schriftführer, die Plätze neben mir einzunehmen.
Tischen. Im Interesse einer gleichmäßigen Inan- Wir werden jetzt unserer Wahlpflicht genügen. —
spruchnahme der Wahlzellen bitte ich die Damen
und Herren, sich zu den ihnen am nächsten gelege- Meine Damen und Herren, ich frage, ob noch ein
nen Wahlzellen zu begeben, d. h. die Damen und Mitglied im Saale ist, das seine Stimme nicht abge-
Herren, die, von hier aus gesehen, links vom Mit- geben hat. — Offenbar ist das nicht der Fall.
telgang sitzen, begeben sich zu den links, und die-
jenigen, die rechts von mir sitzen, begeben sich zu Darf ich fragen, ob alle Damen und Herren
den rechts befindlichen Wahlzellen. Schriftführer ihre Stimmkarte abgegeben haben. —
Auch das ist der Fall. Ich selbst habe ebenfalls
Ich darf Sie bitten, meine Damen und Herren, als- gewählt.
dann in die Wahlzellen zu gehen und dort, falls Sie
den vorgeschlagenen Kandidaten wählen wollen, Dann erkläre ich hiermit die Wahl für geschlos-
„ja", im anderen Fall das Wort „nein" auf die sen. Ich bitte die Schriftführer, die Stimmen aus-
Stimmkarte zu schreiben und sie in den Wahl- zuzählen.
umschlag zu legen. Wer sich der Stimme enthalten Ich erlaube mir, Ihnen den Vorschlag zu ma-
will, kann dies dadurch zum Ausdruck bringen, daß chen, meine Damen und Herren, daß wir die Sit-
er eine unbeschriebene Karte abgibt. zung für 20 Minuten unterbrechen. Ich darf aber
Ich darf nochmals darauf aufmerksam machen, bitten, daß von jeder Fraktion einige Damen und
meine Damen und Herren, daß die Kennzeichnung Herren hier bleiben, um die Öffentlichkeit der
der Stimmkarten und das Einlegen in den Wahl- Auszählung zu gewährleisten.
umschlag nicht außerhalb der Wahlzelle erfolgen Ich unterbreche die Sitzung bis zehn Minuten vor
dürfen und daß dies zur Zurückweisung des Abge- sechs Uhr.
ordneten führen muß. Allerdings verliert dieser
dann nicht das Recht zur Ausübung der Wahl, son- (Unterbrechung der Sitzung von 17.31 bis
dern er muß darauf noch einmal formgerecht seinen 17.52 Uhr.)
Gang zur Wahlurne antreten. Dagegen macht die
Verwendung anderer als der amtlichen Stimmkarten Meine Damen und Herren, ich eröffne die Sit-
die Stimme unweigerlich ungültig. Das gleiche gilt, zung wieder und gebe Ihnen das Ergebnis der
wenn eine Stimmkarte den Namen eines nicht vor- Abstimmung bekannt. Es wurden 517 Stimmen ab-
geschlagenen Kandidaten oder irgendeinen sonsti- gegeben. Damit ist die Beschlußfähigkeit des Hau-
gen Zusatz enthält. ses bestätigt.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 1. Sitzung. Bonn, Montag, den 20. Oktober 1969 5

Alterspräsident Borm
Der vorgeschlagene Kandidat, Herr von Hassel, Meine Damen und Herren, eine große Zahl von
erhielt 411 Stimmen. Abgeordneten gehört dem 6. Bundestag nicht mehr
an. Viele von ihnen waren Frauen und Männer der
(Beifall bei der CDU/CSU, FDP und bei
ersten Stunde, die seitdem in zwei Jahrzehnten in
Abgeordneten der SPD.)
diesem Hause ihre Pflicht getan und ihr Bestes ge-
Es wurden 72 Nein-Stimmen abgegeben. Der geben haben. Unmittelbar nach dem Zusammen-
Stimme enthalten haben sich 34 Abgeordnete. bruch waren sie bereit, politische Verantwortung
Ungültige Stimmen wurden keine abgegeben. Erfor- zu übernehmen. Die parlamentarische Arbeit, die
derlich zur Wahl im ersten Wahlgang sind minde- in diesen zwei Jahrzehnten beschlossen liegt, ist
stens 260 Stimmen. ein lebendiges Stück deutscher Geschichte. Dafür
Ich stelle hiermit fest, daß der Abgeordnete von gebührt ihnen, die ausgeschieden sind, unser Dank.
Hassel die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder (Beifall.)
dieses Hauses auf sich vereinigt hat und somit zum
Präsidenten des Deutschen Bundestages gewählt Wir beginnen heute unsere Arbeit in einem im-
worden ist. mer noch geteilten Deutschland, in einem geteilten
Europa, in einer Welt, die unruhig ist und deshalb
Herr Abgeordneter von Hassel, ich frage Sie: damit fertig werden muß, Krisen zu bewältigen und
Nehmen Sie die Wahl an? Gegensätze zu überwinden. Am Anfang seiner 6.
Legislaturperiode bekennt darum der Deutsche Bun-
von Hassel (CDU/CSU) : Ich nehme die Wahl an. destag, daß er sich auch weiterhin in den Dienst
(Beifall bei der CDU/CSU, FDP und bei eines sozialen und gerechten Friedens für alle
Abgeordneten der SPD.) Völker stellt. Wir wollen aktiv dazu beitragen, daß
Hunger, Not, Elend und Rechtlosigkeit in der Welt
überwunden werden. Wir bleiben unruhig darüber,
Alterspräsident Borm: Herr Präsident, ich daß unser Land bald ein Vierteljahrhundert wider-
übermittle Ihnen die Wünsche des Hauses und natürlich und gegen den Willen aller Deutschen ge-
bitte Sie, Ihren Platz einzunehmen. teilt ist. Wir werden uns weiter um die Unterstüt-
(Beifall bei der CDU/CSU, FDP und bei nzung der ganzen Welt für das Recht aller Deutsche
Abgeordneten der SPD.) auf Selbstbestimmung bemühen. Dort aber, wo wir
eigene Möglichkeiten erkennen, werden wir unsere
Pflicht nicht vernachlässigen, um vernünftige und
Präsident von Hassel: Meine Damen und Her- für alle Völker Europas gerechte Lösungen zu rin-
ren! Mit der soeben vollzogenen Wahl zum Präsi- gen. Unser ganzes Volk erhofft sich von unserer
denten des 6. Deutschen Bundestages haben Sie mir Arbeit Fortschritt in der Bewältigung eines euro-
ein großes Vertrauen bewiesen. Ich danke Ihnen päischen Zustandes, der noch gegen alle Vernunft
mit dem Versprechen, daß ich mich nach besten von Barrieren, von Minenfeldern und Stacheldraht
Kräften bemühen will, es zu rechtfertigen. diktiert wird. Diese Ziele gehören zu den gemein-
samen Grundpositionen, die auch im 6. Deutschen
Nicht nur, weil es vielleicht zur Übung geworden
Bundestag unbestritten sind. Kein Ort und keine
ist, der ein Gewählter entsprechen muß, bitte ich
Stunde ist geeigneter, um unserem Volk dafür zu
insbesondere auch diejenigen, die mich nicht ge-
danken, daß wir als der respektierte Partner für
wählt haben, um ihre Unterstützung und um die
diese Ziele weiterhin in der Welt wirken können.
Mitwirkung, auf die jeder Präsident dieses Hauses
angewiesen ist. Sie sollen wissen, daß ich mich be- In freier und demokratischer Entscheidung ist am
mühen werde, für jeden von Ihnen dazusein, ganz 28. September rechts- und linkradikalen Kräften der
unabhängig davon, wie er sich heute entschieden Weg in dieses Haus verlegt worden. Unser Land
hat. hat eine Bewährungsprobe bestanden; unsere par-
lamentarische Demokratie hat an Selbstbewußtsein
Meine Damen und Herren, ich spreche sicherlich
und innerer Kraft gewonnen. Dieses darf uns aber
in Ihrer aller Namen, wenn ich zunächst Ihnen,
nicht in Selbstzufriedenheit dazu verleiten, den
Herr Alterspräsident Borm, ein herzliches Wort des
Konflikten in unserer Gesellschaft auszuweichen. Im
Dankes dafür sage, daß Sie die Sitzung heute glei-
Gegenteil: der Auftrag zu ständiger Erneuerung, zu
chermaßen souverän, würdig und der politischen
Reformen und zur Festigung unseres sozialen und
Bedeutung dieser Stunde entsprechend eröffnet
freien Rechtsstaates ist uns mit auf den Weg ge-
haben.
geben. Daß es im Ringen um die besten Lösungen
(Allgemeiner Beifall.)
im 6. Deutschen Bundestag wieder lebhafter und
Mit Ihnen begrüßt der ganze Deutsche Bundestag oft kontrovers zugehen wird, spürt sicher jeder
in großer und selbstverständlicher Verbundenheit von uns. Dieses aber ist es gerade, was unserer
unsere Kollegen aus Berlin, deren besonderer Sta- Demokratie guttun wird. Wenn wir uns dabei stär-
tus uns an den schmerzlichen Widersinn der Teilung ker nach außen offen zeigen, wenn wir zudem durch
Berlins und der Teilung Deutschlands erinnert. die energische Fortführung der Parlamentsreform
Ebenso herzlich begrüßen wir aber auch die 155 Mit- zu zeitgerechteren, verständlicheren Formen der
glieder des Hauses, die erstmalig in unserer Mitte Willensbildung und des Entscheidungsprozesses bei-
sind und denen wir eine wirksame, erfolgreiche tragen, können wir den Rang des Deutschen Bun-
Arbeit wünschen. destages weiter festigen und rechtfertigen. Keiner
(Beifall.) von uns kann sich diesem Auftrage entziehen, der
6 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 1. Sitzung. Bonn, Montag, den 20. Oktober 1969

Präsident von Hassel


vor allem durch kritische, drängende Fragen unse- präsidenten soll unmittelbar vor der Abgabe der
rer jungen Generation immer wieder erneuert wird. Regierungserklärung stattfinden.
Ihr müssen wir einen modernen, offenen Parlamen- Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesord-
tarismus anbieten. Nur dann wird diese Generation nung. Ich gebe Ihnen noch folgendes bekannt: Die
bereit sein, sich in der Mitarbeit zu engagieren. Un- nächste Sitzung des Deutschen Bundestages berufe
sere Demokratie wäre erkennbar in Gefahr, wenn ich ein auf Dienstag, morgen also, den 21. Oktober
wir diese Pflicht vernachlässigen würden. Wir brau-
1969, 10 Uhr. Einziger Punkt der Tagesordnung:
chen aber auch die Unterstützung von Presse, Fern-
Wahl des Bundeskanzlers. Wie Ihnen in einem
sehen und Rundfunk. Wir erbitten sie, weil wir Rundschreiben mitgeteilt wurde, sind folgende wei-
darauf angewiesen sind, damit das Für und Wider tere Sitzungen vorgesehen: am 21. Oktober —
unserer Entscheidungen deutlich wird und besser morgen —, am Nachmittag um 16 Uhr zur Eides-
verstanden werden kann. leistung des Bundeskanzlers, am Tage darauf, am
22. Oktober, um 10 Uhr zur Bekanntgabe der Bil-
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns nun an dung der Bundesregierung und zur Eidesleistung der
die Arbeit gehen für den Frieden, für die Gerechtig- Bundesminister und am 28. Oktober 1969 um 10 Uhr
keit und für die Wohlfahrt unserer Bürger!
zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
und, wie ich bereits angekündigt habe, zur Wahl der
(Allseitiger Beifall.)
Vizepräsidenten vor Abgabe der Regierungserklä-
Meine Damen und Herren, auf Grund einer inter- rung. Präzenspflicht besteht in dieser Woche nur
fraktionellen Vereinbarung soll Punkt 5 der heuti- heute und am 21. sowie am 22. Oktober 1969.
gen Tagesordnung, Wahl der Stellvertreter des Prä- Die erste Sitzung des 6. Deutschen Bundestages
sidenten, abgesetzt werden — Ich sehe, daß das ist geschlossen.
Haus damit einverstanden ist. Die Wahl der Vize- (Schluß der Sitzung: 18.03 Uhr.)

Das könnte Ihnen auch gefallen