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Deutscher Bundestag — 2. Sitzung. Bonn, Montag, den 12.

September 1949 9

Ich darf Sie fragen, Herr Bundespräsident, ob


Sie den Wunsch haben, an die Versammlung eine
Ansprache zu richten.
Bundespräsident Dr. Heuss: Ja, ich habe den
Wunsch.
Präsident Dr. Köhler: Ich erteile dem Herrn
Bundespräsidenten das Wort.
Bundespräsident Dr. Heuss: Verehrte Mitglieder
des Bundestags, des Bundesrats und der Bundes-
versammlung! Niemand wird — so hoffe ich —
mißdeuten, und mancher wird, denke ich, verste-
hen, wenn ich in dieser mich sehr bewegenden
Stunde, die mein Leben verwandelt, zunächst sehr

2. Sitzung.
persönliche Dinge ausspreche und zweier Männer
gedenke: meines früh verstorbenen Vaters, der in
die Seelen seiner jungen Söhne die Legenden des
Bonn, Montag, den 12. September 1949. Jahres 48 gegossen hat, die mit der Familien-
geschichte verbunden sind, und der uns einen Be-
Eidesleistung des Bundespräsidenten . . . 9A griff davon gab, daß die Worte Demokratie und
Ansprache des Bundespräsidenten Dr. Heuss 9C Freiheit nicht bloß Worte, sondern lebengestal-
tende Werte sind; und Friedrich Naumanns, des
Schlußworte des Präsidenten Dr. Köhler . 11D Mannes, der das wachsende Leben gestaltet hat,
ohne den ich nicht das wäre, was ich bin, dem ich
Die Sitzung wird um 19 Uhr 18 Minuten durch das Wissen zumal verdanke, das als Erbe in mir
den Präsidenten Dr. Köhler eröffnet. geblieben ist, daß die Nation nur leben kann,
wenn sie von der Liebe der Massen des Volkes
Präsident Dr. Köhler: Meine Damen und Her- getragen wird, von dem ich gelernt habe, daß die
ren! Ich eröffne die 2. Sitzung des Bundestags. soziale Sicherung mit die Voraussetzung der poli-
Nach unserer Tagesordnung haben wir nunmehr tischen Sicherung ist. Er hat uns das Wort in die
zur Seele geschrieben: „Das Bekenntnis zur Nationali-
tät und zur Menschwerdung der Masse sind für
Eidesleistung des Herrn Bundespräsidenten uns nur die zwei Seiten einer und derselben
Sache."
zu schreiten. Nach Artikel 56 des Grundgesetzes Ich darf an dieser Stelle mit aller Gelassenheit
leistet der Herr Bundespräsident bei seinem aussprechen: dieses Amt wurde von mir nicht in
Amtsantritt vor den versammelten Mitgliedern des einem unruhigen Ehrgeiz erstrebt. Es ist für mich
Bundestags und des Bundesrats seinen Eid. mit persönlicher Resignation verbunden; denn
Ich stelle fest, daß auf Grund des Namensauf- manche Pläne wissenschaftlicher und literarischer
rufs die Mitglieder des Bundestags versammelt Natur entfliehen mit ihm. Aber ich darf sagen,
sind. Ich darf Sie, Herr Präsident des Bundesrats, daß ich noch nie einer Aufgabe ausgewichen bin,
fragen, ob im Sinne des Artikels 56 der Bundesrat wenn die Pflicht es verlangte. Ich möchte in der
versammelt ist. Berufung in dieses Amt die Deutung so sehen
dürfen, daß sie eine Anerkennung darstellt für die
Arnold, Präsident des Bundesrats: Der Bundes- Mittleraufgabe, die mir im Verlaufe des letzten
rat ist versammelt, Herr Präsident. Winters und Frühjahrs in Bonn zugewachsen war,
als wir das Grundgesetz zu bilden hatten.
Präsident Dr. Köhler: Ich danke für diese Er- Noch ein persönliches Wort! In den Zeitungen
klärung. Ich stelle damit fest, daß die Mitglieder habe ich in diesen letzten Tagen allerhand selt-
des Bundestags und des Bundesrats versammelt same Dinge von mir lesen können — nette Sa-
sind. chen —, aber daß mir die „Ellbogenkraft" fehle,
Ich darf Sie nunmehr bitten, Herr Bundesprä- die zum Politiker gehöre. Ich selber habe das
sident, sich zu mir heraufzubegeben. — Gefühl: von der Ellbogenpolitik haben wir reich-
lich genug gehabt. Ich betrachte es persönlich als
Ich lege das Original des Grundgesetzes der einen Gewinn meines Lebens im öffentlichen Sein,
Bundesrepublik Deutschland auf diesen Tisch. daß ich, um die Worte von ehedem zu gebrauchen,
Herr Bundespräsident, ich darf Sie bitten, mir auf der Rechten wie auf der Linken persönliche
nun den Eid nachzusprechen, den ich mir erlau- Freundschaften und Vertrauensverhältnisse besaß
ben werde Ihnen vorzusprechen: und heute besitze; das wird so bleiben. Es mag
einer auch darin einen Mangel sehen; aber mir
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle scheint, daß dieses Amt, in das ich gestellt bin,
des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen keine Ellbogenveranstaltung ist, sondern daß es
mehren, Schaden von ihm wenden, das den Sinn hat, über den Kämpfen, die kommen,
Grundgesetz und die Gesetze des Bundes die nötig sind, die ein Stück des politischen Le-
wahren und verteidigen, meine Pflichten ge- bens darstellen, nun als ausgleichende Kraft vor-
wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen handen zu sein.
jedermann üben werde. So wahr mir Gott
helfe. Was ist denn das Amt des Präsidenten der Deut-
schen Bundesrepublik? Es ist bis jetzt ein Para-
(Der Bundespräsident leistet diesen Eid.) graphengespinst gewesen. Es ist von dieser Stunde
Meine Damen und Herren, der Herr Bundesprä- an ein Amt, das mit einem Menschentum gefüllt
sident hat den Eid geleistet. ist. Und die Frage ist nun, wie wir, wir alle zu-
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(Bundespräsident Dr. Heuss)
asammen, aus diesem Amt etwas wie eine Tradi- sen, was die Selbstverwaltung in Deutschland,
tion, etwas wie eine Kraft schaffen, die Maß und seitdem sie der Freiherr vom Stein geschaffen
Gewicht besitzen und im politischen Kräftespiel hat, aus diesem deutschen Volk in den konkreten
sich selber darstellen will. Aufgaben gemacht hat. Und so begreife ich
Es ist nicht meine Aufgabe und kann nicht — wenn wir das Zentralistische, Befehlsmäßige ab-
meine Vermessenheit sein, in dieser Stunde so lehnen — die Gliederung, in der wir leben, als die
etwas wie ein Regierungsprogramm Ihnen vorzu- großen Schulungsmöglichkeiten und als die Vor-
tragen. Das ist nicht meines Amts. Aber Sie haben aussetzungen zu dem, was ich eine lebendige De-
einen Anspruch darauf, Auffassungen von mir mokratie nennen möchte. Eine lebendige Demo-
kennenzulernen. kratie!
Wir sind eine Bundesrepublik. Und nun die Es ist — davon ist neuerlich nicht viel zu sa-
Frage: Sind wir zusammengefügt aus Staaten, gen — das geschichtliche Leid der Deutschen, daß
oder sind wir auseinandergegliedert in Staaten? die Demokratie von ihnen nicht erkämpft wurde,
Wenn man sich das plastisch vorstellt, so spürt sondern als letzte, als einzige Möglichkeit der Le-
man gleich, daß hier zwei Geschichtsauffassungen, gitimierung eines Gesamtlebens kam, wenn der
die gleichzeitig politisch aktuellen Charakter ha- Staat in Katastrophen und Kriegen zusammenge-
ben, nebeneinandertreten. Wir stehen in der dau- brochen war. Dies ist die Last, in der der Beginn
ernden Auseinandersetzung mit unserer Ge- nach 1918, in der der Beginn heute mit uns steht,
schichte. In dem Bundestag kommt dies zum das Fertigwerden mit den Vergangenheiten. Diese
Ausdruck, daß das deutsche Volk in diesen letz- Aufgabe war 1918 da. Damals dynastische Emp-
ten acht Jahrzehnten eine historische Rechtsper- findungen, die weitergingen, von denen nicht ge-
sönlichkeit eigenen Ranges geworden ist und nicht ring zu sprechen ist; heute das Problem, vom
bloß eine Addition von Landsmannschaften dar- Ausland stärker gesehen und groß gemacht, wie-
stellt. weit die nahe Vergangenheit, die hinter uns liegt,
(Sehr richtig!) noch seelisch zwischen uns vorhanden.
Aber indem wir das sagen, bejahen wir doch die Es ist eine Gnade des Schicksals beim Einzel-
Landsmannschaft. Die Schwierigkeiten, die in die- menschen, daß er vergessen kann. Wie könn
ser Frage stecken, sind jedem, der im öffentlichen ten wir als einzelne leben, wenn all das, was uns
Leben gewirkt hat, offenkundig genug. Nach dem an Leid, Enttäuschungen und Trauer im Leben
ungeheuren Vorgang, in dem wir heute drinste- begegnet ist, uns immer gegenwärtig sein würde.
hen, dieser furchtbaren Binnenwanderung von Und auch für die Völker ist es eine Gnade, ver-
Millionen Heimatloser, die eine neue Heimat fin- gessen zu können. Aber meine Sorge ist, daß
den sollen, finden müssen, ist der Begriff der manche Leute in Deutschland mit dieser Gnade
Landsmannschaft in mancher Wandlung mitbe- Mißbrauch treiben und zu rasch vergessen wollen.
griffen. Wir müssen das im Spürgefühl behalten, was uns
dorthin geführt hat, wo wir heute sind. Das soll
Aber die Länder als Staatsfiguren sind Elemente kein Wort der Rachegefühle, des Hasses sein. Ich
unseres staatlichen Lebens, und hier die große - hoffe, daß wir dazu kommen werden, nun aus die-
Schwierigkeit: sie stehen in den Paragraphen glei- ser Verwirrung der Seelen im Volk eine Einheit
chen Rechts und gleicher Art nebeneinander, aber zu schaffen. Aber wir dürfen es uns nicht so
sie haben eine verschiedene Geschichtsträchtigkeit, leicht machen, nun das vergessen zu haben, was
und an dieser Frage werden sich sehr große die Hitlerzeit uns gebracht hat.
Schwierigkeiten entwickeln. Wir sind uns dieser Die Bundesrepublik Deutschland umfaßt nur
Reibungen bewußt. Wir wissen dies: in Deutsch- einen Teil unseres Volkes. Ich darf von den
land wird in den einzelnen Ländern nicht nur Deutschen im Osten sprechen. Ich muß von Berlin
sprachlich, sondern auch politisch ein verschiede- sprechen. Mehr als die Hälfte meines Lebens
ner Dialekt gesprochen. Das schadet nichts. Es — verzeihen Sie das persönliche Wort — habe ich
ist nur zu wünschen, daß die, die diese verschie- in dieser Stadt gelebt. Ich habe jahrelang als Be-
denen Dialekte sprechen, der gemeinsamen Grund- zirks- und Stadtverordneter mit in ihr gewaltet. Es
sprache sich je und je bewußt bleiben. ist mir eine Herzenssache und nicht bloß ratio-
Wir hatten in den Verhandlungen über das nale Überlegung, dies auszusprechen: Berlin ist
Grundgesetz — und wir werden das hier wieder be- heute an das Schicksal Westdeutschlands gebun
kommen — die Problematik des Verhältnisses der den; aber das Schicksal von Gesamtdeutschland
einzelnen Länder zu dem Bund. Dazu ein per- bleibt an Berlin gebunden. Dessen müssen wir
sönliches Wort: wir wollen keinen Zentralismus uns bewußt bleiben.
in Deutschland haben. Wir haben die Lehre der Und dann das andere. Ich habe selber, als wir
Nationalsozialisten hinter uns, die uns gezeigt ha- das Grundgesetz berieten, den Antrag gestellt, daß
ben, wohin es führt, wenn der deutsche Mensch wir uns als „stellvertretend" empfinden für die
genormt werden soll. Wir wollen nicht den ge- deutschen Brüder, die an dieser Aufgabe nicht
normten Deutschen! Wir wollen dies so ausspre- mitwirken konnten. Wir wissen gut genug, daß
chen: die Länder sollen ihr Eigenleben führen, das Herausarbeiten aus unserer Quasi-Souveräni-
aber nicht ihr Sonderleben, sondern im Verband tät, in der wir stecken, nicht bloß von uns geleistet
des Gemeinen. Man möge das nicht falsch ver- wird, daß hier eine Weltproblematik vorliegt, daß
stehen, wenn ich sie begreifen will als die hohen wir in dem Mächteschicksal der anderen mit ge-
Entfaltungen — gleichviel wie die psychologisch- bunden sind. Aber wir sprechen dies aus: Es ist
historischen Voraussetzungen sind — der Selbst- mir in den politischen Erörterungen der vergange-
verwaltung. nen Jahre manchmal begegnet, daß man von dem
Man hat von den Deutschen oft geredet, daß sie Ackerboden, von den Kartoffelfeldern, von dem
ein „unpolitisches Volk" seien. Das will ich jetzt Kalorienvorrat sprach. Es ist ganz gut, wenn wir
nicht vertiefen, es geht ja durch unsere eigene den anderen etwas davon erzählen, was es für die
Kritik hindurch. Aber dies möchte ich sagen dür- Ernährung Deutschlands bedeutet, daß diese Basis
fen: die Legende von dem unpolitischen Volk der entrückt ist. Aber der deutsche Osten ist nicht
Deutschen ist falsch, wenn wir etwas davon wis- bloß Getreideacker und Kartoffelfeld; er ist die
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(Bundespräsident Dr. Heuss)
Heimat deutscher Menschen. Dessen sollen wir steckenbleiben in dem Ressentiment, in das das
uns in diesen Auseinandersetzungen im Innern Unglück des Staates viele gestürzt hat, und daß
wie nach außen hin immer bewußt bleiben. Seit wir nicht ausweichen in hochfahrende Hybris, wie
die großen 'Wanderungen des späten Mittelalters es ja nun bei den Deutschen oft genug der Fall
zu Ende kamen und sich festigten, ist dort deut- war. Seltsames deutsches Volk, voll der größten
sches Land, das wir nicht vergessen können, weil Spannungen, wo das Subalterne neben dem genial
es in unserem Geschichtsgefühl und in dem Wissen spekulativ Schweifenden, das Spießerhafte neben
um das Schicksal von Millionen deutscher Men- der großen Romantik steht. Wir haben die Auf-
schen bleibt. Dessen sollen auch die anderen gabe im politischen Raum, uns zum Maß, zum Ge-
innewerden und innebleiben. mäßen zurückzufinden und in ihm unsere Würde
neu zu bilden, die wir im Innern der Seele nie
Der Bundesrat und der Bundestag werden vor verloren.
schier unzählige Aufgaben gestellt sein: die Ver-
einheitlichung des Rechts, das in den Ländern und Darf ich den Zufall der Zeit und des Ortes als
in den Zonen auseinandergelaufen ist, die Fragen Symbol nehmen, daß wir in diesem Jahre 1949
des Lastenausgleichs, Finanzprobleme, die Fragen den 200. Geburtstag von Goethe begangen haben
des Wohnungsbaus, der Kriegsbeschädigten, der und daß wir hier in der Geburtsstadt von Beet-
Kriegshinterbliebenen, die Sorge für die Vertrie- hoven weilen. Es steht uns nicht an, aus diesen
benen, die Eingliederung Deutschlands in die beiden Namen, aus diesen beiden großen Erschei-
Weltwirtschaft, ohne die wir nicht leben können. nungen etwas zu machen wie Reklameartikel und
Die Frage aber ist die erste im Sinne des Rangs, Propagandageschäfte. Es steht uns auch nicht an,
nicht im Sinne des Morgen-damit-fertig-Werdens. wohlwollend auf ihre Schultern zu klopfen. Aber
Wann wird es möglich sein, die vornehmste Auf- wir spüren dies: daß in diesen beiden Männern
gabe hier mit zu lösen, daß wir die staatliche aus dem deutschen Mutterboden Weltwerte gewor-
Selbständigkeit für unser Volk und unseren wer- den sind, vor denen wir selber stolz und beschei-
denden Staat zurückgewinnen? den stehen. Sie mögen uns in der Zerschlagenheit
Wir wissen, daß eine Gesamtwende der Frage- der Zeit Festigung und Trost bedeuten.
Verehrte Mitglieder des Bundestags, des Bundes-
stellungen gegenüber den historischen Vorstel-
lungen und Gegebenheiten von nationalstaatlicher rats und der Bundesversammlung! Im Bewußtsein
meiner Verantwortung vor Gott trete ich dieses
Bindung im Werden ist und daß die europäische
Gesamtstaatlichkeit nun nicht mehr bloß Traum Amt an. Indem ich es übernehme, stelle ich die-
oder Wunschbild von Idealisten oder Geschichts- ses Amt und unsere gemeinsame Arbeit unter das
-

konstrukteuren ist, sondern daß sie als realistische Wort des Psalmisten: „Gerechtigkeit erhöhet ein
Aufgabe vor uns steht. Volk."
(Langanhaltender lebhafter Beifall.)
Deutschland braucht Europa, aber Europa
braucht auch Deutschland. Wir wissen es im Gei- Präsident Dr. Köhler (dem Bundespräsidenten
stigen: wir sind in der Hitlerzeit ärmer gewor- die Hand reichend): Möge Ihre Wahl dem deut-
den, als uns die Macht des Staates von dem Leben schen Volke zum Segen und zum Wohle gereichen!
der Völker absperrte. Aber wir wissen auch dies:
die anderen würden ärmer werden ohne das, was Wir werden nunmehr den Herrn Bundespräsi-
Deutschland bedeutet. Wir stehen vor der großen denten hinausgeleiten.
Aufgabe, ein neues Nationalgefühl zu bilden. Ich schließe die Sitzung.
Eine sehr schwere erzieherische und erlebnis-
mäßige Aufgabe, daß wir nicht versinken und (Schluß der Sitzung: 19 Uhr 43 Minuten.)

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