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D eutscher Bundestag

59. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Inhalt:

Begrüßung des Präsidenten des indischen Brandt, Bundeskanzler . 3215 C, 3244 C


Unterhauses . . . 3215 A
Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 3219 B

Amtliche Mitteilungen . . . . . . . 3215 A Wienand (SPD) 3226 C


Borm (FDP) 3230 D
Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU Scheel, Bundesminister . 3235 D, 3268 A
betr. Deutschland-, Ost- und Europapoli- Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) . . . 3240 B,
tik (Drucksachen VI /691, VI /757) in Ver- 3248 C
bindung mit
Dr. Barzel (CDU/CSU) . . 3245 A, 3275 D
Entwurf eines Gesetzes zu dem Beschluß Dr. Apel (SPD) 3248 D
des Rates der Europäischen Gemeinschaf- Dr. Ehmke, Bundesminister 3250 A, 3272 B
ten vom 21. April 1970 über die Erset-
zung der Finanzbeiträge der Mitglied- Dr. Rutschke (FDP) 3252 B
staaten durch eigene Mittel der Gemein- Baron von Wrangel (CDU/CSU) 3254 D
schaften (Drucksache VI /880) — Erste Be-
ratung — und mit Behrendt (SPD) . . . . . . . 3256 C
Strauß (CDU/CSU) 3261 B
Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag Mischnick (FDP) 3273 D
vom 22. Arpil 1970 zur Änderung be-
stimmter Haushaltsvorschriften der Ver- Nächste Sitzung 3276 D
träge zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaften und des Vertrags zur
Einsetzung eines gemeinsamen Rates und
einer gemeinsamen Kommission der Anlage
Europäischen Gemeinschaften (Druck-
sache VI /879) — Erste Beratung — Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 3277
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3215

59. Sitzung

Bonn, den 17. Juni 1970

Stenographischer Bericht c) Erste Beratung des von der Bundesregierung


eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 22. April 1970 zur Ände-
Beginn: 9.00 Uhr rung bestimmter Haushaltsvorschriften der
Verträge zur Gründung der Europäischen Ge-
Präsident von Hassel: Die Sitzung ist eröffnet. meinschaften und des Vertrags zur Einset-
zung eines gemeinsamen Rates und einer ge-
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, be- meinsamen Kommission der Europäischen
grüße ich den auf der Diplomatentribüne anwesen- Gemeinschaften
den Präsidenten des indischen Unterhauses, Mr.
— Drucksache VI /879 —
Dhillon. Ich heiße Sie bei uns im Deutschen Bundes-
tag sehr herzlich willkommen. Zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der
(Beifall.) Herr Bundeskanzler das Wort.

Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden


ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht Brandt, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine
aufgenommen: Damen und Herren! Der Bundestag führt heute seine
Der Bundesminister für Verkehr hat am 12. Juni 1970 die
außenpolitische Debatte weiter und wird sich dabei
Kleine Anfrage der Abgeordneten Bremer, Rollmann, Frau Tüb- vor allem den Fragen der westeuropäischen Eini-
ler, Schröder (Sellstedt) und Genossen betr. Tiefwasserhäfen ---
Drucksache VI 734 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Druck- gung zuwenden. Zur westeuropäischen Zusammen-
sache V1/944 verteilt. arbeit und Integration wird der Herr Außenminister
Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat am
16. Juni 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Preiß,
ausführlicher Stellung nehmen. Ich möchte an diesem
Josten, Springorum und Genossen betr. Kapitalhilfe-Projekt Bou Tage einige grundsätzliche Fragen aufwerfen und
Heurtma, Tunesien — Drucksache VI/898 — beantwortet. Sein
Schreiben wird als Drucksache VI/954 verteilt. nach Möglichkeit beantworten.
Der Bundesminister der Verteidigung hat am 16. Juni 1970 die
Kleine Anfrage der Abgeordneten Strauß, Stücklen, Wagner Die schmerzliche Erinnerung an den 17. Juni 1953
(Günzburg) und Genossen betr. Manöver der Bundeswehr —
Drucksache VI /895 — beantwortet. Sein Schreiben wird als verdient aus verschiedenen Gründen wachgehalten
Drucksache VI 955 verteilt. zu werden. Sie verdient auch von dem sonst Um-
Die Stellungnahme des Bundesrates zum
strittenen ausgenommen zu werden. Über die Jahre
Entwurf eines Gesetzes zu dem Beschluß des Rates der Euro-
hinweg haben wir gerade an diesem Tage den
päischen Gemeinschaften vom 21. April 1970 über die Er- Willen unseres Volkes zur Einheit und zur Freiheit
setzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene
Mittel der Gemeinschaften bekundet. Es besteht keine Veranlassung, dies heute
wird als zu Drucksache VI /880 verteilt. nicht oder weniger nachdrücklich zu tun. Worüber
immer wir sonst streiten mögen, die friedliche Ziel-
Meine Damen und Herren, wir treten in die Ta- setzung, wie sie in der Präambel zum Grundgesetz
gesordnung ein. Ich rufe Punkt 16 der Tagesord- niedergelegt wurde, kann nicht zur Diskussion
nung auf: stehen, noch kann sie zur Disposition gestellt wer-
den.
a) Fortsetzung der Beratung der Großen An-
frage der Fraktion der CDU/CSU Siebzehn Jahre sind vergangen. Die Menschen
in Ostberlin — un d nicht nur dort — hatten sich mit
betr. Deutschland-, Ost- und Europapolitik ihremVlangcfiWhesoungtüm
— Drucksachen VI /691/ VI /757 — zu Wort gemeldet, daß das Regime allein dem nicht
gewachsen war. Alle Versuche der Uminterpretie-
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung rung haben nichts daran ändern können: Der Wunsch
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu nach freien Wahlen war damals mit dem Wunsch
dem Beschluß des Rates der Europäischen nach Einheit gleichzusetzen. Bei uns allen, in den
Gemeinschaften vom 21. April 1970 über die Parteien, die in diesem Hause vertreten sind, domi-
Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitglied- nierte die Hoffnung, daß es den Siegermächten doch
staaten durch eigene Mittel der Gemein- noch gelingen werde, den Weg zur staatlichen Ein-
schaf ten heit Deutschlands freizugeben, und daß freie Wah-
— Drucksache VI /880 — len der Schlüssel sein würden, mit dem wir, die
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Bundeskanzler Brandt
Deutschen hüben und drüben, das Tor zum gemein- Heute vor drei Jahren hat der Kanzler der Großen
samen Haus aufschließen könnten. Aber die elektri- Koalition hier zur Deutschland- und Ostpolitik ge-
sierende Wirkung, die von dem Aufbegehren unse- sprochen. Er hat damals festgestellt: „Die Einigung
rer Landsleute ausging, mischte sich schon damals, unseres Volkes kann, so wie die Dinge liegen, ge-
wenn wir uns recht erinnern, mit einem Gefühl der genwärtig nicht durch Gespräche zwischen Vertre-
Ohnmacht. Das war hier im deutschen Westen nicht tern der Bundesrepublik und den Verantwortlichen
anders als in Westberlin. An unserer Seite als Zu- im anderen Teil Deutschlands herbeigeführt wer-
schauer standen die Drei Mächte mit ihren beson- den." Er hat weiter gesagt, daß gleichwohl Verein-
deren Rechten und Pflichten für Deutschland als barungen mit den Verantwortlichen im anderen Teil
Ganzes und für Berlin. Das heißt unbeschadet aller Deutschlands möglich seien. Die innere Entgiftung
Bekundungen der Sympathie oder der Empörung könne, zusätzlich zu Gesprächen mit der Sowjet-
rangierte die Erhaltung des Friedens schon damals union einer europäischen Friedensordnung dienen.
höher als der Wunsch der Deutschen nach nationaler Dann fuhr Dr. Kiesinger fort: „Eine rein defensive
Einheit. Politik würde uns von Jahr zu Jahr in größere Be-
drängnis führen. Sie könnte uns auch das gar nicht
Viele Jahre sind seitdem vergangen. Der Erinne- bewahren, was sie bewahren will, denn die Zeit
rung an den 17. Juni 1953 haben sich andere, ähn- wirkt nicht für uns."
liche Erfahrungen hinzugesellt, nicht zuletzt die Er-
fahrung des 13. August 1961, als man begann, mitten Dies ist auch nicht die erste Bundesregierung, die
durch Berlin die Mauer zu bauen. Spätestens damals Verständnis dafür hat, daß das polnische Volk in ge-
ist vielen klargeworden, daß ein Wendepunkt er- sicherten Grenzen leben will. Allerdings gebe ich zu,
reicht war, nicht in dem Sinne, daß deswegen Über- daß wir in dieser schwierigen Frage über eher vage
zeugungen falsch geworden wären, weil sie an die Formulierungen früherer Jahre hinausgegangen
Grenze harter Machtpolitik stießen, gewiß aber so, sind. Ich will, meine Damen und Herren, keine
daß das ursprüngliche Konzept — Wiedervereini- künstliche Kontinuität behaupten. Aber ich möchte
gung durch freie Wahlen, freigegeben durch eine doch gemeinsame Ausgangspunkte deutlich machen.
Übereinkunft der Siegermächte des zweiten Welt- Diese Bundesregierung erinnert heute noch einmal
krieges — in den harten Gegebenheiten keinen an die Grundsätze, die sie in der Regierungserklä-
rechten Anhaltspunkt mehr fand. rung vom 28. Oktober 1969 und in dem Bericht zur
Lage der Nation vom 14. Januar 1970 dargelegt hat.
Rückschauend, so meine ich, erkennen wir eine Hierauf basieren auch die 20 Punkte, die ich der
Linie, die sich immer mehr verfestigt hat und die DDR-Regierung in Kassel als Verhandlungsgrund-
gleichwohl, auf das politische Kräftespiel bezogen, lage vorgeschlagen habe. Sie liegen auf dem Tisch.
von beiden Seiten respektiert wurde, die Linie, die
mitten durch unser Land geht, die mitten durch Wenn wir wollen, daß die Grenzen in Europa im
Berlin führt, die unseren Kontinent geteilt hat. Es Laufe eines historischen Prozesses ihre die Menschen
ist eine Linie, die in den siebzehn Jahren, von denen und die Völker trennende Funktion einbüßen, müs-
ich spreche, auch dort, wo sie nicht betoniert wurde, sen wir zunächst einmal die bestehenden Grenzen
immer tiefer in den Boden markiert worden ist und zur Kenntnis nehmen, tatsächlich und politisch. Wenn
die politisch zementiert wurde durch die Garantien wir bessere Beziehungen zwischen den beiden staat-
zweier Paktsysteme und das dahinterstehende lichen Ordnungen in Deutschland wollen, müssen
Potential zweier Supermächte. Man hat erkennen wir wissen, mit wem wir darüber zu verhandeln
müssen, drüben und hüben, daß es unmöglich ist, haben. Und wenn wir einen Erfolg solcher Verhand-
aus dem jeweils anderen Gebiet oder Schutzbereich lungen anstreben, müssen wir ausgehen von dem
etwas herauszubrechen, daß es höchstens möglich Grundsatz der Nichtdiskriminierung und der Gleich-
ist, durch allgemeine Veränderungen im Ost-West berechtigung im Sinne der rechtlichen Gleichwertig-
Verhältnis und durch die schrittweise Verwirk- keit, nicht der politischen Gleichartigkeit. Einige nen-
lichung einer europäischen Friedensordnung auch nen dies „Anerkennungskurs". Ich nenne es eine
der Einheit der Nation näherzukommen. Politik der Vernunft; denn nur so können wir zu
besseren Beziehungen im geteilten Deutschland kom-
Im Laufe der zurückliegenden Jahre haben wir — men, nur so können wir zusätzlich einen Beitrag
nicht erst diese Regierung — begonnen, aus dieser leisten, um die Lage in und um Berlin zu verbessern.
Erkenntnis Schlußfolgerungen zu ziehen. Es ist nicht
verwunderlich, daß wir dabei nicht immer zu den (Beifall bei den Regierungsparteien.)
gleichen Ergebnissen gekommen sind. Ich denke Gelegentlich ist die Meinung verbreitet worden,
aber, daß wir alle von dem auszugehen haben, was
dieser Regierung liege nichts an der innenpolitischen
ist. Politische Aktion beginnt mit dem Aussprechen Zusammenarbeit in den außenpolitischen Lebens-
dessen, was ist; politische Kleingeisterei besteht im fragen der Nation. Diese Meinung ist irrig. Die Be-
Bemänteln dessen, was ist. Aber die Bereitschaft zur reitschaft auch zur Konsultation, nicht nur zur In-
Anerkennung der Realitäten dieser Welt darf und formation, aller Seiten in diesem Hause ist vor-
wird natürlich nicht bedeuten, daß wir von uns ver- handen, allerdings nicht die Bereitschaft, das
langen ließen oder daß wir selbst bereit wären, Un- blockieren zu lassen, was man selber politisch für
recht nicht länger Unrecht zu nennen. Diese Bundes- notwendig hält.
-
regierung denkt nicht daran, Unrecht anzuerkennen.
Dies gilt für die Vertreibung ebenso wie für die (Erneuter Beifall bei den Regierungs
Spaltung. parteien.)
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Bundeskanzler Brandt
1 Es geht uns, meine Damen und Herren, um den zuschreiten. Indem wir dies gemeinsam miteinander
ernsten Versuch, im Einvernehmen mit den west- tun, arbeiten wir ja gemeinsam mit anderen zu-
lichen Nachbarn und Verbündeten die Lage in gleich an der Organisierung des Friedens.
Mitteleuropa zu entspannen, auf möglichst vielen
Meine Damen und Herren, deutsche Politik ist
Gebieten Zusammenarbeit an die Stelle der Kon-
diesen Jahren nicht leichter geworden. Seit dem
frontation zu setzen und den Frieden damit sicherer
ersten Abkommen 1964, in dem vom grenzüber-
zu machen. Für diese Politik, deren Ansätze wir nicht
schreitenden Verkehr zwischen uns und der DDR
erfunden, aber die wir nach unserer Überzeugung
gesprochen wurde, seit dem Freundschaftsvertrag
gestaltet haben, trägt die Regierung die Verant-
zwischen der Sowjetunion und der DDR, seit dieser
wortung, die ihr nach der Verfasssung niemand ab-
zweite Staat auf deutschem Boden Partner inter-
nehmen kann. Sie hat die für notwendig gehalte-
nationaler Verträge geworden ist, wurde der Ab-
nen Verhandlungen vorzubereiten, sie zu führen
stand zwischen Wunsch und Wirklichkeit tiefer und
und sie, wenn möglich, abzuschließen. So ist das
weiter. Wir wurden vor die Frage gestellt, was zu
nicht nur bei uns. Die Ergebnisse hat die Regierung
geschehen habe, um die Wirklichkeit nicht zu ver-
dem Parlament vorzulegen. Sie wird, wie es das
passen und den Grundsätzen doch nicht untreu zu
Grundgesetz vorschreibt, vorbereitete Verträge und
werden.
Abmachungen diesem Hohen Hause in dessen Ver-
antwortung übergeben. Um dies gleich hinzuzu- Schon die vorige Bundesregierung hat deshalb
fügen: sie wird nur solche Verträge und Abmachun- erklärt, daß sie keinerlei Gebietsansprüche erhebe.
gen unterbeiten, die verfassungskonform sind und Nicht erst diese Regierung geht aus von der Un-
nach unserer festen Überzeugung den deutschen verletzlichkeit der Grenzen in Europa, selbstver-
Interessen dienen. ständlich auch der unseren. Zusammen mit den drei
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Westmächten haben auch frühere Bundesregierun-
gen die Grenzen — auch die innerdeutschen — zu
Mit anderen Worten: Die Regierung hat nicht nur respektieren gehabt. So war es schon im Juni 1953,
das Recht, sondern die Pflicht zum verantwortlichen so war es wieder, als im August 1961 die Mauer
Handeln. Sie hat sie unabhängig von der Größe errichtet wurde.
der Mehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften.
Ich sage heute zum wiederholten Male: die poli-
Aber sie hat dieses Recht und diese Pflicht natürlich
nur im Rahmen der Verfassung und der völkerrecht- tischen und rechtlichen Begrenzungen, die sich un-
serer Politik setzen — ich meine, für jede Bundes-
lichen Verträge, die von früheren Regierungen ab-
regierung —, ergeben sich aus der Verfassung und
geschlossen wurden. Hieran sollte es keinen Zweifel
den Verträgen, die zwischen uns und den drei
geben.
Westmächten gelten nämlich:
Bei unseren Verbündeten gibt es solche Zweifel
1. Das Ziel der staatlichen Einheit in einer euro-
nicht. Sie haben uns ausdrücklich ermutigt, auf dem
päischen Friedensordnung auf der Basis des Selbst-
begonnenen Wege voranzugehen. Die letzte Tagung
bestimmungsrechts bleibt unverändert.
des NATO-Ministerrats hat deutlich gemacht, daß
und wie stark unsere Bemühungen eingebettet sind 2. Die obersten Rechte der Vier Mächte für
in die allgemeine Politik des atlantischen Bünd- Deutschland als Ganzes und Berlin bleiben unbe-
nisses. rührt.
Jede objektive Betrachtung wird auch zu dem Das heißt 3., eine völkerrechtliche Anerkennung
Ergebnis führen — davon wird im Laufe des heu- der Teilung Deutschlands ist nicht möglich.
tigen Tages ja noch im einzelnen die Rede sein —, Niemand darf , die großen Gefahren verkennen
daß diese Regierung in wenig mehr als einem — ich denke dabei nicht nur an die Krisen im Na-
halben Jahr wesentlich dazu beitragen konnte, die hen Osten —, die den Frieden auch in Europa im-
westeuropäische Zusammenarbeit und Einigung vor- mer noch bedrohen. Die Weltlage bleibt gekenn-
anzubringen. Wir haben unseren nicht geringen zeichnet durch eine Ambivalenz der Tendenzen von
Beitrag dazu geleistet, daß die Stagnation der EWG Spannung und Entspannung, des Wunsches zum
überwunden wurde. Wir haben mit dafür gesorgt, Frieden und der Bereitschaft zum Konflikt. Der
daß die Verhandlungen über die Erweiterung der Druck auf Westberlin dauert, wenn auch in ver-
EWG in diesem Monat beginnen. Wir nehmen aktiv änderter Form, an, die Schüsse an der Mauer und
teil an den Bemühungen, die umfassende Wirt- an der innerdeutschen Grenze bleiben für uns un-
schafts- und Währungsunion in diesem Jahrzehnt erträglich. Die Bundesrepublik Deutschland kann
Wirklichkeit werden zu lassen. Unser Ziel bleibt die sich in einer solchen Situation nur behaupten, wenn
politische Union. Auf dem Weg dorthin sind die sie erstens die Europäische Gemeinschaft und das
seit Jahren festgefahrenen Bemühungen um eine atlantische Bündnis stärkt, zweitens ihre nationalen
engere politische Zusammenarbeit wieder in Gang Interessen so vertritt, daß ein Ausgleich mit all
gekommen. Das ist nicht alles, aber es ist das, was ihren Nachbarn möglich wird, und deshalb drittens
jetzt möglich ist. entschlossen an einer Politik der Entspannung und
Um auch dies gleich hinzuzufügen: Kein wie der Festigung des Friedens festhält.
immer gearteter Vertrag, durch den wir die Un- Gestern, bei einer Zusammenkunft mit dem Prä-
verletzlichkeit der in Europa bestehenden Grenzen sidium des Kuratoriums Unteilbares Deutschland,
bestätigen, wird uns und andere daran hindern, auf ist mir von Mitgliedern dieses Hohen Hauses gesagt
dem Weg der westeuropäischen Integration voran- worden, sie fühlten sich dadurch beschwert, daß
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diese Regierung ihre Außenpolitik durchweg als Mitverantwortung. Wir denken nicht daran, hiervon
Friedenspolitik qualifiziere, als ob sie dies von etwas abzugeben. Wir sind bestrebt, auch unsere
früheren Regierungen unterscheide. Da sowieso ge- östlichen Gesprächspartner davon zu überzeugen,
nügend übrigbleibt, worüber wir zu streiten haben, daß die gewachsenen Bindungen zwischen West-
möchte ich sagen: dies war und ist keine polemi- berlin und der Bundesrepublik Deutschland ein Teil
sche Abgrenzung. Diese Regierung zieht selbstver- jener Realitäten sind, von denen es auszugehen gilt.
ständlich nicht in Zweifel, daß auch ihre Vorgänge-
Die Politik des Gewaltverzichts ist, wie schon das
rinnen bestrebt gewesen sind, dem Frieden zu
Wort es sagt, nicht der Verzicht auf Ziele, die uns
dienen. Worum es heute geht, ist jedoch, in einer
die Verfassung und unsere Überzeugung setzen,
veränderten Weltlage — die allein und nicht er-
setzbar durch uns, die Bundesrepublik Deutschland, sondern der Verzicht darauf, sie mit Gewalt durch-
mögliche Aktion: im Bündnis — im Bündnis! —, setzen zu wollen. Es ist eine Politik, die in Ost und
in der europäischen Gemeinschaft, in den Ost-West West die Sicherheit geben soll, daß weiter be-
Beziehungen. Diese Aktion, illusionslos und be- stehende Differenzen, auch fundamentale Meinungs-
harrlich vorangetragen, stärkt die Bundesrepublik verschiedenheiten nicht zusätzlich gefährlich ver-
Deutschland. Sie liegt auch im gemeinsamen Inter- schärft werden durch territoriale Fragen, die nie-
esse des Westens. mand lösen kann, heute nicht, nicht in der nächsten
Legislaturperiode und nicht in der übernächsten.
Unsere Politik der Friedenssicherung ruht auf
zwei Pfeilern — und muß auf ihnen ruhen —: auf Die Linien, am Ende des zweiten Weltkrieges ge-
der Verteidigungskraft des atlantischen Bündnisses zogen, haben sich in 25 Jahren zu dem verfestigt,
und auf eine Außenpolitik, die zur Entspannung was sie heute sind: Grenzen, die — wie die Erinne-
beiträgt. Beides gehört zusammen. Es gibt keinen rung zeigt — längst unverletzlich und unantastbar
Widerspruch zwischen unserer Westpolitik und un- geworden sind. Gewaltverzicht stellt alle Beteilig-
serer Ostpolitik. Gewaltverzichtsverträge, wenn es ten, auch die Machthaber auf der anderen Seite der
zu ihnen kommt, können friedensvertragliche Re- Linie, vor die Frage, ob die ungelösten Probleme
gelungen weder ersetzen noch ihnen vorgreifen. Sie der Hinterlassenschaft Hitlers und des zweiten
können allerdings, wie die Erfahrung zeigt, nur Weltkrieges die Atmosphäre in Europa auch heute
dann einen Fortschritt in den Beziehungen bringen, noch, 25 Jahre danach, unerträglich belasten und es
wenn sie auf die konkreten Bedingungen abgestellt den Staaten unmöglich machen sollen, friedlich
sind, mit denen wir es in Europa zu tun haben. nebeneinander zu leben, ihre Streitigkeiten und
Daraus ergibt sich die Haltung der Bundesregie- Kontroversen ohne Gewalt auszutragen und vor
rung, daß zusammen mit dem Verzicht auf Ge- allem zusammenzuarbeiten, sei es auf dem Gebiet
walt -- in beiden Richtungen — die territoriale In- der Wirtschaft, sei es auf dem Gebiet der Kultur,
tegrität der Vertragspartner und die Unverletzlich- sei es auf anderen Gebieten.
keit der Grenzen zu achten sind, ebenfalls in beiden
Das Ja oder Nein zum Gewaltverzicht verlangt
Richtungen. Art. 2 der Charta der Vereinten Na-
von uns nicht die Entscheidung, den Zielen abzu-
tionen muß zur Grundlage unserer Beziehungen
nach allen Seiten werden. schwören; es verlangt von uns die Entscheidung, ja
oder nein zu sagen zu dem Versuch, eine friedliche
Ich wiederhole, Gewaltverzichtsverträge dürfen Zukunft zu bauen zwischen den Staaten in Europa,
die Lösung unserer nationalen Frage natürlich nicht dort, wo sie heute sind, eine Zukunft, in der die
verbauen. Sie dürfen die Westmächte nicht aus Sicherheit durch Abschreckung ergänzt wird um die
ihren Rechten und Pflichten entlassen. Die sowje- Sicherheit durch Verständigung. Wir können gegen
tische Regierung kennt auch diesen Teil unserer jene Linie, von der ich sprach, nicht mit Gewalt an-
Geschäftsgrundlage. Daß sie zur Sache andere Vor- rennen, und niemand will das. Und wenn wir mit
stellungen hat als wir, wissen wir seit vielen Jah- Worten gegen sie anrennen, so ändert sie sich doch
ren. Daran würde sich übrigens auch nichts ändern, nicht; sie verhärtet sich seit Jahren.
wenn wir keinen Vertrag zustande brächten.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Auch die bestehenden Verpflichtungen der West-
mächte nach dem Deutschland-Vertrag haben an Der Zusammenhang unserer Gespräche mit Mos-
dieser Realität bisher nichts ändern können. Die kau, mit Warschau, mit Ostberlin — wahrscheinlich
Bundesregierung nimmt dennoch die Tatsache des auch mit Prag — ist nicht zufällig, sondern absicht-
Bestehens dieser Rechtspflichten sehr ernst, ebenso lich; er ist nicht künstlich, sondern natürlich. Wir
wie die Verantwortung der Vier Mächte für Deutsch- streben im Rahmen des Möglichen konkrete Ent-
land als Ganzes und für Berlin. Wenn wir zu Ge- spannung in Mitteleuropa an mit allen, gegen kei-
waltverzichtsverträgen kommen, werden sie aus- nen. Dies erfordert zweiseitige Gespräche mit den
drücklich die Feststellung enthalten, daß beste- jeweils unmittelbar Verantwortlichen, also mit den
hende Verträge und Vereinbarungen der Ver- Regierungen in Moskau, Warschau, Prag und Ost-
tragspartner unberührt bleiben. Dies schließt den berlin.
Deutschland-Vertrag voll ein, und dies gilt auch Die Bundesregierung hat von Anfang an betont,
und nicht zuletzt für Westberlin. daß sie nicht garantieren kann, ihre Bemühungen
Hierzu will ich noch einmal sagen: die Sicherheit würden Erfolg haben. Aber sie bleibt dabei, daß sie
- sich und andere diesem Test des guten Willens
dieser Stadt und ihrer Zufahrtswege liegt in der
Verantwortung der Drei Mächte. Für die Lebens- unterziehen wird. Und dabei, in der Tat, sind wir.
fähigkeit der Stadt tragen wir ein hohes Maß an Das geht übrigens nicht so schnell, wie manche
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Bundeskanzler Brandt
glaubten oder jetzt fürchten, aber es ist immerhin willkürlichen Spaltung unseres Landes und unseres
ein Prozeß in Gang gekommen, den ich als ermuti- Volkes abzufinden."
gend empfinde. (Beifall bei der CDU CSU.)
Wer überzeugt ist, auf einem Wege zu sein, der So haben Sie, Herr Bundeskanzler, — und die Frak-
den Interessen des eigenen Volkes dient und sich tion der CDU/CSU gibt dazu Beifall -- sich als
von den Wünschen anderer Völker nach Frieden Abgeordneter dieses Hauses am 1. Juli 1953 be-
unterstützt weiß, der muß diesen Weg gehen, ohne kannt. Und Sie haben hinzugefügt: „Sie sind gewiß
Hast, aber auch ohne Zaudern. Er muß bereit sein, nicht für die Einheit unter bolschewistischem Vor-
für diese Überzeugung jede Konsequenz zu tragen, zeichen, aber mit ganzer Leidenschaft und mit
und dazu ist diese Regierung entschlossen. letzter Hingabe für die Einheit unter freiheitlichem
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Vorzeichen." Dies, Herr Bundeskanzler, aus Ihrem
Munde am 1. Juli 1953.
Mit dem kühlen Blick für die Grenzen unserer
Möglichkeiten und mit dem festen Willen, das Be- Jetzt, meine Damen und Herren, etwa um diese
gonnene im Einvernehmen mit unseren Verbünde- Stunde am Vormittag, vor 17 Jahren, lief der Aufrut
ten zu vollenden, werden wir, so meine ich, heute zum Streik und dann zum Generalstreik durch ganz
auch am besten dem gerecht, was einem „Tag der Ostberlin. Er sprang über auf tausend Orte in der
deutschen Einheit" Inhalt geben kann. Sowjetzone. Zehntausende von Arbeitern marschier-
ten eben um diese Zeit von den Außenbezirken in
(Anhaltender lebhafter Beifall bei den Re-
strömendem Regen in die noch weithin zertrüm-
gierungsparteien.)
merte Innenstadt.
Wir sollten heute nicht vergessen, daß sie damals
Präsident von Hassel: Meine Damen und Her- blumengeschückte schwarzrotgoldene Fahnen mit
ren, ich eröffne die Aussprache und mache auf fol- sich trugen. Und wir sollten nicht vergessen, daß
gendes aufmerksam. Der Altestenrat hat sich mit sich damals im alten Lustgarten dem jetzigen
dem Ablauf der Debatte beschäftigt und ist der Marx-Engels-Platz — weit über 50 000 Deutsche
Meinung, daß zunächst ein Durchgang aller Frak- trafen, die menschenwürdige Arbeitsbedingungen
tionen vorgesehen werden sollte und daß daran an- verlangten und dann nach Freiheit riefen. Weil
schließend der Herr Außenminister das Wort be- ihnen beides genommen war!
kommen sollte.
Zwei Stunden später, etwa um die Mittagszeit,
Nun liegen von der vorigen Sitzung am 27. Mai griffen die Panzer zweier eilig zusammengezogener
noch insgesamt acht Wortmeldungen vor, und ich sowjetischer Divisionen ein. Der Ausnahmezustand
darf im Auftrage des Ältestenrats bitten, daß die wurde verkündet; die brutale Gewalt der Sowjets
Betreffenden, die sich damals meldeten, das berück- entschied gegen die deutsche Freiheit. Die SED-
sichtigen. Oder sind diese Wortmeldungen ganz Prominenz flüchtete — zum Teil in verschlossenen
gestrichen? Panzerspähwagen --- in die sichere Obhut ihrer
(Abg. Rasner: Erledigt!) sowjetischen Auftraggeber.
– Die CDU/CSU streicht ihre Wortmeldungen. Von Man muß auch daran erinnern, daß damals junge
Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD und Arbeiter vom Brandenburger Tor die rote Fahne
FDP, hören wir noch, was Sie tun. herunterrissen,
Das Wort hat nun in der Aussprache Herr Dr. (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
Marx. Für ihn sind seitens seiner Fraktion, der
CDU/CSU, 45 Minuten Redezeit angemeldet. daß von ihnen die Berliner Fahne mit. dem Bären
unter Maschinengewehrfeuer, vom Dache des Hotels
„Adlon" gegen das Brandenburger Tor gerichtet,
Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) : Herr Prä- aufgezogen wurde; aber in diesem Maschinen-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! gewehrfeuer blieb sie auf Halbmast hängen. Heute,
Dieser Tag ist kein Tag wie jeder andere. Er er- Herr Bundeskanzler, gibt Ihre Regierung dem Justiz-
innert uns daran, daß am 17. Juni 1953 Widerstand minister den Auftrag, drei junge Männer, die in
und Empörung gegen die Gewaltpolitik einer Kassel die Spalterfahne abgeschnitten haben, zu
fremden Macht und ihrer deutschen Handlanger sich verfolgen. Am 1. Juli 1953 aber haben Sie, Herr
spontan und elementar Ausdruck verschafften. Die- Bundeskanzler, von diesel Steile Hier das Her-
ser Tag fordert von uns, daß das Opfer, das damals unterholen der roten Fahne in Berlin mit folgenden
Arbeiter, Jugendliche und Deutsche aller Stände Worten kommentiert -- ich zitiere—:
brachten, nicht nur als geschichtliche und daher ver-
gangene Tatsache gesehen wird, sondern als eine Die Arbeiter haben vorn Brandenburger Tor
Verpflichtung, den Wunsch und den Willen nach nicht die rote Fahne, sie haben d i e rote Fahne
Freiheit der Deutschen in Mitteldeutschland leben- als d a s Symbol der Unterdrückung herunter-
dig zu halten. geholt.

„Das Geschehen um den 17. Juni — das kann Wir stimmten und stimmen dieser Wertung der
heute und hier nicht stark genug unterstrichen wer- Vorgänge zu.
den -- hat den unerschütterlichen Willen der brei- Wir sehen, daß nach immer nur kurzen Perioden
ten, tragenden Schichten unseres Volkes zum Aus- taktischen Tauwetters die sowjetische Politik sich
druck gebracht, sich nicht auf die Dauer mit der immer neu im Innern und nach außen verhärtet und
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Dr. Marx (Kaiserslautern)


daß der feste Griff, den sie um Ostmitteleuropa legt, dieser Ihrer jüngsten Anmerkungen wohl jener an-
sich niemals wirklich und auf Dauer gelockert hat. dere Satz in der Regierungserklärung bedeuten, der
Gegenüber jenem ungerechten und geschichtswidri- lautet:
gen Wort, wonach es die Politik der bisherigen Die Regierung kann in der Demokratie nur er-
Bundesregierung gewesen sei, die die Spaltung folgreich wirken, wenn sie getragen wird vom
Europas immer weiter vertieft habe, sage ich: es demokratischen Engagement der Bürger.
führt nach dem Willen Moskaus ein gerader Weg
von diesem 17. Juni 1953, von den Schüssen bei Wir fragen: Zeigen diese Wahlergebnisse kein de-
der ersten internationalen Messe in Posen im Juni mokratisches Engagement? Sie selbst, Herr Bundes-
1956 zum Frühling im polnischen Oktober, zur Zer- kanzler, haben doch einmal unsere Frage, was sich
stampfung des ungarischen Aufstandes und zur denn bei Ihnen geändert habe, mit der damals we-
Liquidation des „Sozialismus mit menschlichem An- nig angebrachten, heute aber wohl nachdenkens-
gesicht" in der CSSR. werten Bemerkung beantwortet, mittlerweile seien
Wahlen gewesen. Ja, Herr Bundeskanzler, mittler-
(Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) weile, am Sonntag, waren Wahlen.
Die Sowjetunion setzt ihre imperiale Macht rück- (Beifall bei der CDU/CSU.)
sichtslos dort ein, wo Menschen ein Stück mehr Frei-
heit und ein Stück mehr Recht verlangen. Meine Damen und Herren, ich sagte, wir haben
hier viele Debatten zur Ost- und Deutschlandpolitik
Wir haben, meine Damen und Herren, in den Mo- gehabt. Wir legen nachdrücklichen Wert auf eine
naten seit der Regierungserklärung eine große An- Diskussion der großen europäischen Fragen am heu-
zahl von Debatten zur Ost- und Deutschlandpolitik tigen Tage, und so verzichte ich darauf, noch einmal
in diesem Hause geführt. Unsere Argumente sind auf die vielen Argumente und Probleme, die mit
deutlich, jedermann kennt sie. Die Ergebnisse bei der Ostpolitik dieser Regierung verbunden sind, er-
den Wahlen am 14. Juni zeigten, daß unsere tiefen neut im Detail einzugehen. Aber einige Anmerkun-
Sorgen gegenüber dem Kurs Ihrer Regierung, Herr gen sind wohl vonnöten, um manches klarzustellen
Bundeskanzler, von der Bevölkerung verstanden und zurechtzurücken, um manche Behauptung und
und von der Mehrheit geteilt werden. Unterstellung zurückzuweisen.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Da ist z. B. die etwas stupide und stereotype Be-
Man hat, Herr Bundeskanzler, diese Wahl eine Test- hauptung, die CDU/CSU appelliere an nationalisti-
wahl genannt. Man schaue sich das Ergebnis nach sche Instinkte.
siebeneinhalb Monaten Ihrer Koalition an, und man (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD.)
prüfe das Ergebnis, aus dem keinerlei fingerfertige
Propaganda einen Erfolg für Regierung und Ost- Dieser Vorwurf ist Gift, Herr Bundeskanzler!
politik hinaufstilisieren kann! (Beifall bei der CDU/CSU.)
(Beifall bei der CDU/CSU.) Dieser Vorwurf ist, so scheint uns, ein gezielter
Versuch, den politischen Gegner, nämlich uns, im
Man prüfe, Herr Bundeskanzler, die Richtigkeit Ihrer Inland und — meine Damen und Herren, man merkt
Behauptung, daß ,die Zustimmung zu Ihrer Politik in es schon — im Ausland zu verketzern.
der Bevölkerung breiter sei als in diesem Deutschen
Bundestag! (Abg. Rasner: Natürlich! — Beifall bei der
(Beifall bei der CDU/CSU.) CDU/CSU.)

Ich glaube, von dieser spezifischen Form psycholo- Eine solche Behauptung schafft Moskau und Ost-
gischer Verfremdung politischer Tatsachen ist nichts berlin die dort sehr willkommene Möglichkeit, der
mehr übrig. seit Jahren laufenden absurden Agitation gegen das,
was man dort die nationalistischen Kräfte in der Bun-
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) desrepublik nennt, durch Urteile, die Demokra-
Herr Bundeskanzler, nach dem, was Sie gestern in ten über Demokraten gefällt haben, demokratischen
Ihrer Fraktion ausführten: rechnen Sie bitte einmal Nährstoff zuzuführen.
die Ergebnisse der drei Landtagswahlen hoch! Rech- (Beifall bei der CDU/CSU.)
nen Sie sie einmal auf das ganze Bundesgebiet! Herr Bundeskanzler, Sie sollten Ihren Versuch, uns
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.) des Schulterschlusses mit der radikalen, nationa-
listischen und faschistischen Ecke zu zeihen, wenn
Wir fügen hinzu, Herr Bundeskanzler, daß wir Sie — und manches in Ihrem Ton schien mir eben
sehr hoffen, daß Sie Wahlentscheidungen ernst darauf hinzudeuten — Wert auf die Rückkehr zu
nehmen und nicht auf Ihrer dem Wählerwillen ent- einer sachgerechten Auseinandersetzung legen, zu-
gegenstehenden Stellungnahme beharren, die Sie rücknehmen.
noch in der Wahlnacht abgaben und nach der Sie das (Beifall bei der CDU/CSU.)
Ergebnis in den drei Landtagswahlen „nicht beirren"
werde und Sie diese Politik fortsetzen wollten. Es Denn, Herr Bundeskanzler, wir wissen, daß im
sollte Ihnen eigentlich, Herr Bundeskanzler, in den Wahlkampf mitunter härtere Worte fallen. Wir
Ohren klingen, was Sie selbst in Ihrer vorhin auch werden auf die Frage Bielefeld ohnehin noch zu-
hier zitierten Regierungserklärung vom 28. Oktober rückkommen.
vorgetragen haben. Sie sagten: „Wir sind keine Er- Aber wir haben Anzeigen von Ihrer Partei gele-
wählten, wir sind Gewählte." Und was soll im Lichte sen, für die, wie ich annehme, Sie als Parteivorsit-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3221
Dr. Marx (Kaiserslautern)
zender und der verehrte Kollege Wischnewski, der Irregeleitete versuchen wir — und dies ist eine poli-
sich offenbar als Nachrichtendienstfunktionär seiner tische Pflicht — zu überzeugen. Wir bekämpfen den
Partei besonders bewährt hat, Kommunismus, obwohl dies auch Rechtsradikale
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) tun. Wir bekämpfen Rechtsradikale, obwohl dies
auch Kommunisten tun. Wir bekämpfen Kommun
verantwortlich waren. nisten und Faschisten, weil wir für die Freiheit sind.
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe (Beifall bei der CDU/CSU.)
von der SPD.)
Meine Damen und Herren von der Koalition, auch Sie
Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen sagen, sind doch gegen Kommunisten und Faschisten, weil
daß solche Anzeigen — ich werde jetzt zwei Sätze auch Sie für die Freiheit sind. Dies streitet niemand
zitieren — auch das Maß dessen, was in einem ab. Aber warum reklamieren Sie dann für sich einen
Wahlkampf als verständlich angesehen werden mag, Maßstab, den Sie bei uns anzulegen sich weigern?
bei weitem überschreiten.
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von
der SPD und der FDP.) Wer für die Einheit seines Volkes steht, wer für
Dort steht, daß die Regierung für Verhandlungen die Freiheit aller Deutschen eintritt, wer für die
mit der Sowjetunion, mit Polen und für Gespräche Selbstbestimmung seiner Mitbürger haftet, wer sich
mit der DDR sei; sie brauche dazu die „Rücken- dagegen verwahrt, Unterdrückung auf deutschem
deckung". Und dann heißt es weiter — Herr Ollesch, Boden respektieren zu sollen, der ist ein deutscher
das werden Sie nicht decken können —: „Denn die Patriot und kein Nationalist.
CDU/CSU-Opposition ist abgesprungen. Sie geht (Beifall bei der CDU/CSU.)
auf Gegenkurs, um Rechtswähler einzufangen."
Wer sich dagegen wehrt, daß die durch sowjetischen
(Zuruf von der SPD: Genau! — Weitere Willen geschaffene Teilung unseres Landes festge-
Zurufe und Beifall hei der SPD.) schrieben wird, wer nicht bereit ist, unter dem wohl-
Meine Damen und Herren, daß Sie trotz der Be- klingenden Etikett eines Gewaltverzichtvertrages
lehrungen — auch Sie, Herr Apel ; denn Sie haben endgültig die deutsche Spaltung zuzulassen, der ist
ja eine „Rückendeckung" verlangt —, die Sie darauf- kein Nationalist, sondern ein deutscher Demokrat.
hin am vergangenen Sonntag bekommen haben, (Beifall bei der CDU/CSU.)
immer noch klatschen, macht deutlich, daß Sie offen-
bar nicht in der Lage sind, die Konsequenzen aus Herr Bundeskanzler, ich habe mit Freude gehört,
) den entsprechenden politischen Vorgängen zu zie- daß Sie dem, was ich jetzt im nächsten Satz sage,
hen. eigentlich völlig zustimmen; denn: wer Unrecht Un-
(Abg. Dr. Apel: Niedersachsen! — Weitere recht nennt und nicht vor jenen zurückweicht, die 17
Zurufe von der SPD.) Millionen Deutschen ihre Freiheitsrechte vorenthal-
ten, der ist und da sind wir hoffentlich alle einig
— Und wenn „Niedersachsen" dazwischengerufen
— kein Nationalist. Er steht für das Menschenrecht,
wird, dann sollten Sie sich doch die Ergebnisse so
auch in Deutschland.
ansehen, wie sie wirklich sind,
(weitere Zurufe von der SPD) Wer, wie wir, die CDU/CSU, seit Bestehen der
Bundesrepublik es getan haben, Vertrauen in der
z. B. den Zuwachs, den die Christlich-Demokratische Welt für die deutsche Demokratie, wer Freunde und
Union — und darauf sind wir stolz —
Verbündete geschaffen hat, wer wirkliche Friedens-
(erneute Zurufe von der SPD — Gegenruf politik betreibt, indem er das Lager der Freiheit und
des Abg. Kiep) die Kräfte für die Freiheit gestärkt hat, wer alle
in Niedersachsen erhalten hat. seine Kräfte auf das schwierige Werk konzentriert,
Europa aus nationalstaatlicher Zersplitterung zu
Wer sagt, wir seien auf Gegenkurs gegangen —
einer handlungsfähigen politischen Einheit hinzu-
Herr Kollege Kiep, es rentiert sich manches hier
führen, den kann und darf niemand — schon gar
nicht, beantwortet zu werden —, der versucht die
nicht solche, die zunächst geglaubt haben, unseren
unbestreitbare Tatsache zu verhüllen, daß seit einer
europäischen Kurs als Verrat an der Nation bezeich-
Reihe von Erklärungen des Herrn Kollegen Wehner,
nen zu müssen — einen Nationalisten schimpfen.
die ich noch zitieren werde, die Sozialdemokratische
Partei die in der Regierung der Großen Koalition (Beifall bei der CDU/CSU.)
gemeinsam vereinbarten und getragenen Grund-
Unsere Vorstellungen von einer verantwortbaren
lagen verlassen hat und nicht die CDU.
Friedens- und Ostpolitik hat man — wie oft! — her-
(Beifall bei der CDU/CSU.) abgesetzt und dabei die Motive unseres Handelns
Die CDU/CSU hat, seit sie als neue, moderne und verdreht und verbogen.
alle Volksschichten umfassende politische Kraft an- Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren
getreten ist, ihr bedingungsloses Nein zu allen Fein- der Koalition, Sie wissen genau, daß wir für Ge-
den der Demokratie gesagt, spräche, Kontakte, Verhandlungen und Vereinba-
(Abg. Windelen: Zu allen!) rungen mit den politischen Führern des europäischen
- Ostens und für Verständigung und Friedenssiche-
zu Kommunisten und Faschisten, in gleicher Weise. rung mit den dortigen Völkern sind. Sie wissen
(Beifall bei der CDU/CSU.) auch, daß wir diese Kontakte trotz aller Schwierig-
3222 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Dr. Marx (Kaiserslautern)


keiten und Belastungen angeknüpft, ausgebaut und Weise zu verhandeln — ich spreche gewisse Metho-
erweitert haben. Ich gehöre selbst zu denen, die sich den an, die man in Verhandlungen gepflogen hat —,
in den letzten Jahren immer wieder in Ost- und die direkt oder idirekt als eine Bestätigung der
Südosteuropa darum bemüht haben, Verständnis völkerrechtswidrigen Breschnew-Doktrin bei den be-
für die Lage unseres Volkes zu wecken, und immer troffenen Völkern jenseits der Demarkationslinie
ein offenes Ohr für die Argumente der anderen verstanden werden kann.
Seite gehabt haben. Viele Kollegen aus meiner
Fraktion haben dort Gespräche geführt, Gedanken (Beifall bei der CDU/CSU.)
und Meinungen ausgetauscht. Aber wir haben dabei Meine Damen und Herren, wenn wir mit den Ver-
nie geglaubt, daß durch bloße Gespräche mit Kom- antwortlichen in Moskau sprechen, dann in ihrer
munisten und schon gar nicht durch einseitiges Ein- Eigenschaft als sowjetische Regierung, nicht aber,
gehen auf ihre Forderungen der Frieden befestigt um sie sozusagen als Treuhänder der Polen und
und kurzfristig Lösungen zur Überwindung der Tschechen, der Ungarn und Slowaken, der Bulgaren
schlimmen Spaltung gefunden werden könnten. und Rumänen zu bestätigen.
(Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.)
Was unsere Politik von der Ihrigen, Herr Bundes- In der kommunistischen Welt, in dem von der So-
kanzler, unterscheidet, sind vor allem zwei Dinge: wjetunion organisierten, im Pferch der ideologi-
erstens haben wir uns gehütet, voreilige Hoffnungen schen, ökonomischen und militärischen Zwänge fest-
zu wecken, und wir haben zweitens nie geglaubt, gehaltenen Osteuropa, wird eine andere Sprache
daß sich Vorauszahlungen oder Vorausleistungen geprochen. Dort herrschen im vollen Sinn des Wor-
dem Osten gegenüber lohnen könnten. tes andere Gesetze. Dort bestimmt eine brutale
(Beifall bei der CDU/CSU.) Macht das Geschick jener Völker, die schweigen und
gehorchen müssen.
Wir haben das Parallelogramm der Kräfte nie nach
Hoffnungen, sondern nach den harten Tatsachen ge- Wer, meine Damen und Herren, in Osteuropa
zeichnet. Wir wehren uns dagegen — insoweit bin Gespräche führt, darf nie das den Völkern dort auf-
ich dankbar, Herr Bundeskanzler, daß Sie soeben gezwungene Gesetz der sowjetischen Ordnung aus
in Ihrer Darlegung eine Klarstellung angebracht den Augen verlieren. Wer ausgezogen ist, mitzu-
haben; trotzdem gehe ich darauf ein, weil es bis zum helfen, diese heutige Wirklichkeit Osteuropas in
heutigen Morgen immer so schien —, wir wehren eine Friedensordnung zu überführen, der muß diese
uns dagegen, daß die Politik dieser Regierung pole- Wirklichkeit zunächst erkennen. Es ist falsch so zu
t misch als eine Friedenspolitik bezeichnet wird und tun, als handle es sich bei kommunistischen Poli-
man in der Art, in der man das vorträgt, den Ein- tikern um Leute, deren Wertvorstellungen, deren
druck erweckt, als sei unsere Politik weniger von ethische und politische Normen, deren Begriffs-
dem Wunsch nach Frieden getragen. inhalte den unseren nahe verwandt seien. Es ist
irrig, zu glauben, daß dort in adäquaten Denkkate-
(Beifall bei der CDU/CSU.) gorien argumentiert werde. Meine Damen und Her-
Bitte, Herr Bundeskanzler, nehmen Sie ein für alle- ren, Logik und Ratio, wie wir sie kennen, und
mal zur Kenntnis: wir, die Union, nehmen den Frie- leninistische Dialektik sind zwei in der Anlage und
den genauso ernst wie Sie. Aber mir scheint, daß im Denkzweck tief verschiedene Methoden.
wir über den Inhalt dessen, was der Begriff „Friede" (Beifall bei der CDU/CSU.)
aussagt, nicht in allem einig sind.
Guter Wille — Herr Bundeskanzler, das ist hier oft
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.) gesagt worden: niemand streitet Ihnen guten Willen
ab — einer Seite allein genügt nicht. Im Kraftfeld
Fragen Sie doch, Herr Bundeskanzler, gerade heute,
der West-Ost-Politik treffen sich viele Absichten und
da der 17. Juni uns gemahnt, die Menschen in Mit-
Vorstellungen. Politik, meine Damen und Herren,
teldeuschland! Die werden Ihnen sagen, daß Frieden
mehr ist als das Schweigen der Waffen. die diesen Namen verdient, wird erst dann möglich
sein, wenn beide Seiten aufeinander zugehen, vom
(Beifall bei der CDU/CSU.) beiderseitigen Willen zum Ausgleich, zum Geben
Wir wollen die Freiheit unseres Landes bewahren und Nehmen, erfüllt.
und seine rechtsstaatliche Ordnung ausbauen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU.)
wollen alles in unserer Macht Stehende tun, um im Entspannung, Herr Bundeskanzler, wollen wir
anderen Teil unseres gequälten Landes mehr alle.
Menschlichkeit zu erreichen. Wir werden nie an (Zuruf des Abg. Dr. Schäfer [Tübingen].)
einer Politik mitwirken, die uns schuldig macht,
praktisch — praktisch! — die Selbstbestimmung — Herr Schäfer, Entspannung wollen wir alle.
drüben zu verbauen. Wir sind deshalb nicht bereit (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Ja!)
- ich sage: wir können es nicht —, eine sogenannte
Grenze quer durch Deutschland vertraglich zu re- Das heißt doch, wenn dieses Wort einen politischen
spektieren, die in Wahrheit — und, Herr Bundes- Sinn hat, daß wir uns mühen, Spannungen zu min-
kanzler, ich nehme wieder einen Satz von Ihnen auf, dern,
cien Sie soeben sagten — Mauer, Minenfelder und (Zuruf von der SPD: Aha!)
Maschinengewehrtürme heißt. Keine deutsche Regie- die Ursachen der Spannungen, meine Damen und
rung hat ein Recht, mit der Sowjetunion in einer Herren — da liegt offenbar der Konflikt zwischen
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3223
Dr. Marx (Kaiserslautern)
Ihnen und uns dem Aufspüren der Ursachen der heute bereit, auch nur einen Fußbreit entgegenzu-
Spannungen —, kommen? Sagen Sie es uns! Wo ist Ostberlin be-
(Abg. Frau Griesinger: Sehr gut! Genau!) reit — ich erinnere an die letzte Debatte —, auch
nur „einen Millimeter" einzulenken? Müssen Sie
Stück um Stück zu beseitigen. Entspannung heißt, nicht heute zugeben, Herr Bundeskanzler, daß auch
einen Beitrag zum Frieden leisten. Dazu waren wir Sie die schmerzliche Erfahrung machen mußten, daß
und dazu sind wir bereit. sich Vorausleistungen gegenüber totalitären Regi-
Aber können Sie uns sagen, ob sich die sowjeti- men nicht lohnen?
sche Seite dort, wo es um deutsche Probleme geht, (Beifall bei der CDU/CSU.)
dort auch, wo z. B. von gleichzeitiger und vergleich-
barer Abrüstung denken Sie an die Konferenz Sie haben bei der Unterschrift unter den Atom-
in Rom: vergleichbare Truppenreduzierungen im Ab- waffensperrvertrag, bei der Vorbereitung der Be-
schnitt Europa Mitte gesprochen wird, bisher auch gegnungen von Erfurt und Kassel, bei der Einlei-
nur um ein Quant bereit gezeigt hat, ihren Beitrag tung der Gespräche in Moskau und Warschau eine
zu leisten? Entspannung, meine Damen und Herren, positive Entwicklung mit dem Hinweis vorausge-
ist nur möglich, wenn beide Seiten sie wollen. sagt, daß damit der Friede sicherer gemacht werde.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Sagen Sie uns nun: Was haben Sie bei der Sowjet-
union mit dieser unserer Auffassung nach übereilten
Wenn nur die eine Seite entspannt, die andere nicht, Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertag
entstehen neue Spannungen. eigentlich bewegt? Was bedeutet die Übernahme
(Abg. Frau Griesinger: Sehr richtig!) eines Begriffes aus der Wetterkunde „Verbesserung
des Klimas" in diesen politischen Bereich? Jetzt,
Wer glaubt, durch einseitige Aktionen entspannen
nach dem Kasseler Treffen, rufen Sie, Herr Bundes-
zu können, der gefährdet in Wahrheit den Frieden.
kanzler, aus, man dürfe keine Illusionen haben.
Wo nur die eine Seite, also die unsere, gibt, die an- Wen meinen Sie? Wen rufen Sie zur Geduld?
dere nur nimmt und ihre Forderungen steigert, dort
wird nur ein Zyniker von Entspannung oder gar von (Beifall bei der CDU/CSU.)
Normalisierung reden können. Uns, die CDU/CSU?!
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Verehrter Kollege Mischnick, Sie haben nach dem
Schließlich, meine Damen und Herren, lassen Sie Kasseler Treffen ja auch — ich habe das mit Inter-
mich auf folgendes hinweisen. Das Bild des Men- esse gelesen — wiederholt in Ihren Einlassungen im
schen in seiner Würde und in seinen unveräußer- Rundfunk gesagt: Keine Illusionen! Ich habe mich
lichen Rechten, auch das Bild von Inhalt und Ziel damals immer gefragt: Wen mag er nur meinen?
der Geschichte sind drüben und hier tatsächlich Uns sicher nicht.
grundverschieden. Wer also Gespräche führt, wer
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)
sie mit dem Ziel führt, Verträge, die über Schicksal
entscheiden, zu formulieren und zu unterzeichnen, Herr Bundeskanzler, wir fürchten auch — ich sage
muß zuvor prüfen, mit wem er es zu tun hat. Er das sehr offen —, daß Ihr Emissär in Moskau den
muß erkennen, wer sein Gegenüber ist. Er muß die Eindruck hinterlassen hat ,man müsse nur unnach-
Triebkräfte kennen, die diesen leiten, und er muß giebig bleiben, dann werde sich die westliche Ner-
wissen, was jener will. Herr Bundeskanzler, ich vosität auszahlen; anders gesagt, die Bundesregie-
fürchte, daß Ihre Analyse von Denken, Absicht, Or- rung werde dann Schritt um Schritt jenen Forderun-
ganisation und Methode kommunistischer Gesprächs- gen entgegenkommen, die wir kennen,
partner nicht der Realität entspricht, von der Sie so
gerne reden. (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
(Beifall bei der CDU/CSU.) und dadurch tatsächlich „Wandel durch Annäherung"
Deshalb fragen wir: Sie wollen den Frieden sicherer schaffen.
machen — gut ; aber mit welchen Mitteln? Deshalb (Beifall bei der CDU/CSU.)
fragen wir: Sie wollen etwas bewegen. — Wohin Meine Damen und Herren, wir haben in unserer
wollen Sie bewegen? Großen Anfrage die Sorge geäußert, Sie, Herr Bun-
(Beifall bei der CDU/CSU.) deskanzler, wollten eine Wende in der Politik her-
beiführen. Wir fühlen uns in dieser Sorge durch das,
Sie wollen Spannungen abbauen. Gut, aber mit wel-
was in den letzten Tagen in den Zeitungen zu lesen
chen Methoden, so fragen wir.
war, bestätigt. Wir haben Ihnen von dieser Stelle
Ich füge noch eines hinzu. Sie und Ihre Regierung, aus sehr oft angeboten, für die Ost- und Deutsch-
Herr Bundeskanzler, haben sich unserer Auffassung landpolitik eine breite Mehrheit in diesem Haus und
nach ohne Not unter Zugzwang gesetzt. Sie haben in der Bevölkerung unseres Landes zu schaffen. Wir
zu spektakulär agiert. haben uns angeboten, nicht nur als gelegentliche
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) Gesprächspartner, denen man partielle und ausge-
wählte Informationen übermittelt, sondern als Mit-
Sie haben Hoffnungen erweckt, daß es bald zu wirkende und Mitverantwortende, weil wir sehr
guten, einvernehmlichen Übereinkünften mit kom- wohl wissen, daß Vereinbarungen mit den Staaten
munistischen Staaten kommen könne. Ich frage er- Osteuropas, Lösungen der bestehenden großen Fra-
neut: Wo, Herr Bundeskanzler, ist die Sowjetunion gen nur dann dauerhaft sein können, wenn sie von
3224 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Dr. Marx (Kaiserslautern)


einer großen Mehrheit unseres Volkes und dessen Ich erinnere daran, daß am 25. Februar dieses
Repräsentanten in diesem Hause gemeinsam getra- Jahres der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion,
gen werden. Herr Dr. Barzel, auf die ungenutzten Möglichkeiten
(Beifall bei der CDU/CSU.) zur Kooperation mit der Opposition hingewiesen
und festgestellt hat: wenn Sie, Herr Bundeskanzler,
Aber -- wir beklagen das, man hat diese Ange- eines Tages zu der Erkenntnis kommen sollten, daß
bote — ich muß es so sagen, auch heute, an einem Sie „eine Chance für die deutsche Politik nicht
Tag, wo man vielleicht sagen sollte: verwende die- genügend haben wahrnehmen können, dann würde
sen Satz nicht, aber wir sind verpflichtet, die Wahr- diese verpaßte Chance im Geschichtsbuch der deut-
heit zu sagen —, Herr Bundeskanzler, Sie haben schen Politik mit Ihrem Namen überschrieben sein".
unsere Angebote mit einer Mischung von Selbst-
überschätzungdAoabehlt. Kooperation in Lebensfragen unseres Volkes ver-
langt Information. Herr Kollege Barzel hat auch
(Beifall bei der CDU/CSU.) am 25. Februar — angeboten, weil, wie er sagte,
Sie haben uns von der Verantwortung willentlich Deutschlandpolitik nicht kurzfristige „klimatische
ausgeschlossen. Erfolge", sondern langfristig wirkende und haltbare
Lösungen im Interesse der Menschen, der Völker
(Beifall bei der CDU/CSU.) und einer besseren europäischen Ordnung brauche,
Ihre Weigerung, Herr Kollege Wehner, da Sie ge- „ernsthaft, offen und geduldig miteinander" zu
rade lachen, sprechen. Wir fordern Sie auf, Herr Bundeskanzler,
(Zuruf von der SPD) in allem Ernst, diesen Hinweis nicht wieder in den
Wind zu schlagen.
mit uns zusammen die Resolution vom September
1968 zu wiederholen, diese Weigerung war ein (Beifall bei der CDU/CSU.)
Signal. Sie zeigte die Veränderung in Ihrer Politik. Heute aber würden wir unsere Pflicht vernach-
Man diskreditierte unseren Wunsch zur Gemein- lässigen, wenn wir nicht von der Regierung Aus-
samkeit und dieses Motiv ist eben in einem Ne- kunft auch über jene Punkte verlangten, die Schick-
bensatz des Bundeskanzlers wieder aufgetaucht; salsfragen dieser Nation betreffen und die nach
aber, Herr Bundeskanzler, dies ist falsch --, man be- Darstellung einiger „Vertragstexte" sind, über die
zeichnete unseren Wunsch nach Gemeinsamkeit als die Herren Bahr und Gromyko übereingekommen
einen Versuch, der Bundesregierung Fesseln über- sind, die nach der Interpretation des Außenministers
zuwerfen. Man sprach davon, daß man über die lediglich „Protokollnotizen" sind.
Opposition hinweg, die man ja gar nicht brauche,
Herr Bundeskanzler, wenn Sie hier nicht ant-
(Hört! Hört! bei der CDU/CSU -- Zuruf von worten wollen, sollten Sie es zumindest im Aus-
der CDU/CSU: Herr Wehner!) wärtigen Ausschuß tun; wir haben heute ja dort
noch eine Sitzung. Aber wir bestehen darauf — denn
der Regierung den Weg freikämpfen wolle. Dies
dieses Parlament geht jetzt in die Ferien —, auf die
alles, Herr Kollege Wehner, sind Sätze aus Ihrem
jetzt gestellten Fragen noch vor den Ferien eine
Munde. Sie, Herr Wehner, waren es, der die Emis-
klare und eindeutige Antwort zu erhalten.
säre der Bundesregierung mit der — entschuldigen
Sie -- leichtfertigen Formulierung in die Verhand- (Beifall bei der CDU/CSU.)
lungen schickte, ein Scheitern der Verhandlungen Die Presse, meine Damen und Herren, hat diese
werde es nicht geben. Punkte zitiert. Sie sind in der Öffentlichkeit. Sie
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) werden dort diskutiert und kommentiert. Dies hier
aber ist das frei gewählte deutsche Parlament. Seine
Wie soll, meine Damen und Herren, wenn man sich Mitglieder sind ihrem Gewissen verpflichtet. Dieses
so festlegt, noch ein geduldiges Ringen am Ver- Gewissen zwingt uns, zu fordern, daß das Parlament
handlungstisch, ein prüfendes Abwägen möglich voll über das informiert werde, was, Herr Bundes-
sein, wie soll ein vielleicht. notwendiger Rückweg kanzler, Ihr Unterhändler aus Moskau mitgebracht
betreten werden können? hat. Denn wir wollen keineswegs schlechtergestellt
Sollten Sie, Herr Bundeskanzler, sich heute nicht werden als jene Mitglieder kommunistischer Zen-
fragen, heute, da die in Moskau ausgehandelten tralkomitees, die, wie wir verläßlich wissen, seit
Texte offenbar nicht überall, selbst nicht in den vielen Wochen ausführlich über die Moskauer Pa-
Reihen ihrer eigenen Koalition, auf Zustimmung piere und die in Moskau vorgetragenen Absichten
stoßen, ob Ihr Unterhändler in Moskau zuviel ver- und Interpretationen des Staatssekretärs Bahr de-
sprochen hat? battieren.
(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)
(Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)
Wir fragen daher:
Wenn es nun zu negativen sowjetischen Reaktionen
Erstens. Entsprechen die in der Presse wieder-
kommen sollte, müßten Sie, Herr Bundeskanzler,
gegebenen vier Punkte den Moskauer Verein-
sich dann nicht sagen, daß dies deshalb geschieht,
barungen?
weil Sie die Lage falsch eingeschätzt haben,
Zweitens. Sind diese Formulierungen mit dem
(Beifall bei der CDU/CSU)
von der sowjetischen Regierung autorisierten
sicher nicht deshalb, weil wir, die Union, unsere Außenministers Gromyko so fixiert, daß sie kaum
Positionen verändert hätten? oder gar nicht mehr geändert werden können?
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode -- 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3225
Dr. Marx (Kaiserslautern)
Drittens — und auch das ist wichtig —: Handelt Ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß der
es sich hier um den ganzen Text, oder gibt es noch Komplex der Art. 53 und 107 in zukünftige Ver-
weitere Übereinkünfte, etwa über eine Aufnahme handlungen mit der Sowjetunion hineingescho-
dessen, was man heute „die zwei Staaten auf deut- ben wird, die nicht mit dem NV-Vertrag in Ver-
schem Boden" nennt, in die Vereinten Nationen? bindung stehen.
Wo sind die Vereinbarungen über die Rolle West- Das letzte Zitat. Herr Bundeskanzler, Sie haben
berlins? Wie soll das Selbstbestimmungsrecht am 14. Januar im Bericht über die Lage der Nation
zweifelsfrei verankert werden? Oder gibt es da etwa im gespaltenen Deutschland —
gar keine Vereinbarungen, sondern vielleicht nur
ein einseitiges deutsches Papier und demgegenüber (Glocke des Präsidenten.)
eine sowjetische Weigerung in der Sache? Welche — Herr Präsident, ich brauche noch drei Minuten.
Vereinbarung — so fragen wir — ist mit der
Sowjetunion über das Münchener Abkommen ge-
troffen worden? Doch nicht etwa die gleiche, welche Präsident von Hassel: Einverstanden, wenn es
die Sowjetunion mit der CSSR am 6. Mai in Ziffer 6 bei den drei Minuten bleibt.
ihres Vertrages abgeschlossen hat, nach welcher
das Münchener Abkommen von Anfang an mit allen
Rechtsfolgen ungültig sei? Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) : Aber,
Herr Bundeskanzler, da muß ich die Gelegenheit
(Abg. Rasner: Was heißt das?) doch noch ergreifen und Sie fragen: Wo ist denn nun
eigentlich der vorgelegte zweite Teil des Berichts
Wir fragen viertens: Wie wollen Sie den sowje- zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland?
tischen Gewaltvorbehalt nach den Art. 53 und 107
der UN-Charta wirklich und tatsächlich ausschalten? (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)
Glauben Sie wirklich, daß die Betonung — Sie
Am 25. Februar sind Sie von unserer Fraktion wie-
haben es hier wiederholt und haben gesagt, Herr
derholt gemahnt worden, ihn endlich auf den Tisch
Bundeskanzler, dieser Artikel gilt gegenüber allen;
zu legen. Heute, am 17. Juni, war nach meiner
einverstanden des Art. 2 der UN-Satzung in dem
Überzeugung der Tag, so lange Versäumtes gut
Vertragstext ausreicht? Denn ich füge hinzu: Es ist
nachzuholen.
einfach nicht wahr, daß auch die Westmächte uns
(Beifall bei der CDU/ CSU.)
zu diesen Punkten nicht mehr und nichts anderes
erklärt hätten; sie haben vielmehr eindeutig er- Sie hatten damals gesagt — ich zitiere — „Also
klärt, daß es kein einseitiges Interventionsrecht kann das Ziel der deutschen Politik in diesem Zu-
gegen die Bundesrepublik Deutschland gebe. sammenhang ... was die Sowjetunion angeht, nur
sein, uns gegenüber einen ähnlichen Stand zu er-
(Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
reichen, wie wir ihn durch die Interpretationen und
Wo ist, Herr Bundeskanzler, die eindeutige, zwei- Zusicherungen seitens der Westmächte erreicht ha-
felsfreie Erklärung zu dieser Sache von seiten der ben. Sie haben nämlich diese Artikel der Charta
Sowjetunion? der Vereinten Nationen für obsolet erklärt". Wir
(Beifall bei der CDU/CSU.) fragen: Erhalten Sie das noch aufrecht? Wenn ja,
in welcher Weise? In welcher für beide Seiten ver-
Herr Außenminister, Sie haben in einer der ersten bindlichen Form? Wenn nein, warum nicht? Was,
Ausschußsitzungen, in der wir über diese Frage im Herr Bundeskanzler, hat sich geändert?
Zusammenhang mit der Bahr-Mission diskutiert
haben, gesagt, es sei Ihr Ziel, ein Abkommen über Erklärt nun — das ist unsere nächste Frage —
Gewaltverzicht ohne Gewaltvorbehalt abzuschließen. auch die Sowjetunion, daß unsere Forderungen nach
Wir fragen: Gilt das noch? Oder hat sich der Staats- friedlicher Verwirklichung des Selbstbestimmungs-
sekretär im Bundeskanzleramt auch in dieser Sache rechts keine Gewaltpolitik seien, gegen die sie mit
auf Formeln eingelassen, die von unseren Über- Gewalt intervenieren können, so wie sie dies bis-
zeugungen abweichen? Ich erinnere in diesem Zu- her immer behauptet hat?
samenhang an die Versicherungen, die der Bundes- (Abg. Dr. Barzel: Sehr wichtig!)
kanzler in der Beantwortung unserer Großen An-
frage zum Atomwaffensperrvertrag am 12. Novem- Und überhaupt, Herr Bundeskanzler — ich komme
ber in diesem Hause abgab. Er sagte — ich zitiere —: noch einmal darauf zurück, weil uns dies bedrückt,
weil uns dies tiefe Sorge macht —, was verstehen
.. die sich aus den Art. 53 und 107 ergebende wir zusammen nun eigentlich unter Gewaltver-
Problematik, von der diese Regierung meint ..., zichtsvertrag? Können wir uns hier nicht auf eine
daß darüber abschließend im Zusammenhang klare Erklärung, Interpretation, Ausdeutung, die
mit dem Gewaltverzicht und nicht im Zusam- für uns alle verbindlich ist, einigen? Bleibt das
menhang mit dieser Materie gesprochen werden Etikett „Gewaltverzicht", obwohl es nun doch die
sollte." Spatzen von allen Dächern pfeifen, daß es sich offen-
Herr Bundeskanzler, Sie sagten „abschließend": Ich bar um einen sogenannten Gewaltverzicht mit auf-
frage: was ist abgeschlossen? rechterhaltenem Gewaltvorbehalt handelt, um die
weitestgehende Übernahme jener Formel der so-
Ich erinnere auch an die an diesem Tage durch wjetischen Deutschlandpolitik uns gegenüber, die
den Herrn Außenminister uns gegebene Erklärung. Sie, Herr Kiesinger, als Bundeskanzler immer abge-
Er sagte wörtlich: lehnt haben?
3226 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Dr. Marx (Kaiserslautern)


Fünftens. Ist unsere Befürchtung etwa richtig, daß verse Situation, die wir, wenn wir ehrlich zuein-
Sie im Grunde der Sowjetunion ein Angebot ander sind, nicht zukleistern, sondern offen disku-
machen, den Status quo des geteilten Europa zu tieren müssen mit dem Willen, darüber hinaus dann,
akzeptieren, um dafür eine gewisse Sicherung der wenn es möglich ist und Sie bereit sind, gemein-
Wege nach Westberlin zu bekommen, dabei aber same Ufer zu erreichen.
die Bundespräsenz in Westberlin zum Handelsobjekt (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
machen? Wir, die CDU/CSU, erklären, daß zu den
gewachsenen Beziehungen Berlins zur Bundesrepu-
blik Deutschland selbstverständlich und ohne Ein- Präsident von Hassel: Meine Damen und Her-
schränkung die bisherige Präsenz der Bundesorgane ren, das Wort hat nunmehr für die Fraktion der SPD
gehört. der Abgeordnete Wienand. Es sind für ihn 30 Minu-
(Beifall bei der CDU/CSU.) ten angemeldet. Bitte schön, Herr Abgeordneter
Wienand.
Wer Westberlin sichern will, darf d a rüber nicht
handeln.
Wienand (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
Sechstens. Sagen Sie uns bitte eindeutig, was die und Herren! Der Kollege Dr. Marx schloß mit den
Sowjetunion darunter versteht, wenn wir „heute Worten, die Stunde heute sei genutzt worden. Ich
und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als frage mich, ob sie wirklich der Regierungserklärung
unverletzlich" bezeichnen sollen. Versteht Sie dar- des Bundeskanzlers und dem heutigen Tage ange-
unter nur den Ausschluß von Gewalt? Hat sie dies messen genutzt worden ist. Denn mir schien, hätte
so gesagt? Und ist sie bereit, dies auch so in den man nicht zuviel herbeigeholt, sondern mehr auf das
Vertrag zu schreiben? Sagen sie uns auch, ob die hin argumentiert — auch wenn man eine kontro-
Formel, daß die gegenwärtigen Grenzen uneinge- verse Auffassung hat —, was der Bundeskanzler hier
schränkt zu achten seien, von der Sowjetunion etwa vorgetragen hat, wäre die Stunde besser genutzt
als ein Instrument der Intervention in unserer euro- worden.
päischen Integrationspolitik mißbraucht werden (Beifall bei den Regierungsparteien.)
kann.
Ich möchte deshalb nicht in die Art verfallen wie
(Beifall bei der CDU/CSU.)
mein Vorredner, der vieles zusammenziehend in
Siebtens. Von welcher Grenzvorstellung — das einem Bild darzustellen versuchte, das dem Tag und
wüßten wir gern; denn, Herr Bundeskanzler, Sie der Politik, die betrieben werden muß, nicht gerecht
vergleichen oft den Ausgleich mit Polen mit dem wird.
Ausgleich mit Frankreich — geht Ihre Regierung (Zuruf von der CDU/CSU: Na, na!)
aus? Von derjenigen, die die sowjetische oder die An einem solchen Tag wie dem heutigen erscheint
polnische Seite will, also einer verhärteten, national- es mir angebracht, an einen Gedanken anzuknüpfen,
staatlich verkrusteten, ins 19. Jahrhundert verwei- den der damalige Bundeskanzler Dr. Kiesinger heute
senden, reaktionären Auffassung vom Charakter vor drei Jahren während eines Staatsaktes in diesem
einer Grenze oder von jenem Verständnis, das uns Plenarsaal ausführte. Herr Kollege Dr. Kiesinger, Sie
in Westeuropa während der beiden letzten Jahr- wehrten sich damals als Bundeskanzler gegen eine
zehnte geleitet hat? rein defensive Politik der Bundesrepublik mit dem
Meine Damen und Herren, ich schließe. Die Union Argument, eine solche Politik würde uns keinen
will Freiheit und Sicherheit wahren. Die Union will Schritt weiterbringen;
den Frieden erhalten und festigen. Sie will das ge- (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Richtig!)
sicherte Bündnis stärken und das politisch geeinte
sie könne uns auch nicht bewahren, was sie bewah-
freie Europa mitbauen. Die Union sucht Verständi-
gung mit allen Staaten und Völkern, die dazu part- ren wolle. Sie führten dann wörtlich aus: „Denn die
Zeit wirkt nicht für uns." Herr Kiesinger fuhr dann
nerschaftlich bereit sind. Sie will eine Politik, in
fort und ich darf das zitieren —:
der die Begriffe und deren Inhalte stimmen. Sie ist
für Verträge, die klar sind, von beiden Seiten frei Darum hat sich diese Regierung
und verantwortlich ausgehandelt und tragfähig für
— also die der damaligen Großen Koalition —
friedliche Zukunft. Die Union wird einer Politik der
Halbheiten, der verwaschenen Formeln und der Öff- zu einer neuen, beweglicheren Politik gegen-
nung für neue Pressionen entschieden widerstehen. über dem Osten entschlossen: sowohl gegen-
über unseren östlichen Nachbarn wie im inner-
(Beifall bei der CDU/CSU.) deutschen Verhältnis gegenüber den Verant-
Um dies darzulegen, meine Damen und Herren, wortlichen im anderen Teil Deutschlands. Beides
und um noch einmal klar und deutlich zu machen, sind Aspekte einer politischen Konzeption, wel-
wie die Position der Christlich-Demokratischen und che auf der Prämisse beruht, daß Europa nicht
der Christlich-Sozialen Union ist, haben wir diese darauf verzichten kann, eine seine politische
Stunde genutzt. Herr Bundeskanzler, Sie haben in Spaltung überwindende zukünftige Friedens-
Ihrer Erklärung für meine Begriffe — ich sage das ordnung zu entwerfen, in welcher auch die deut-
jetzt für mich — neue Töne und in manchen Inhalten sche Frage ihre gerechte Lösung finden kann.
eine veränderte Position angedeutet. Darauf wird -
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das war der ent
v-
sicher der Vorsitzende unserer Faktion eingehen. scheidende Punkt! Abg. Leicht: „Ge
Was ich deutlich machen wollte, war jene kontro- rechte Lösung" !)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3227
Wienand
Wer das utopisch findet, der sollte bedenken, Verbündeten, unserer Partner, unserer Alliierten
was es bedeuten würde, auf einen solchen Ent- tut, dann benimmt man sich nicht als Patriot, son-
wurf zu verzichten. dern man betreibt andere Geschäfte!
Ich will aus demselben Grunde wie Sie, Herr Dr. (Beifall bei den Regierungsparteien. —Abg.
Kiesinger damals vor drei Jahren, keinen geschicht- Dr. Marx [Kaiserslautern] : Herr Wienand,
lichen Rückblick auf die Ereignisse seit jenem Tag sind die Alliierten auch so unterrichtet wie
geben, an den wir uns alle heute erinnern. Ich ge- der Bundestag?)
statte mir nur, um Anknüpfungspunkte an die Er-
Übrigens finde ich in diesen sechs Punkten eine
fordernisse unserer Zeit und der aus dieser Sicht
Grundeinstellung, wie sie sich auch Präsident Nixon
zu betreibenden Politik zu finden, auf eine Passage
in seiner „neuen Friedensstrategie" der amerika-
aus einer Rede zu verweisen, die unser Kollege
nischen Außenpolitik für die siebziger Jahre am
Herbert Wehner am 1. Juli 1953 vor diesem Hohen
18. Februar dieses Jahres zu eigen gemacht hat.
Hause hielt. Es hieß dort:
Nixon führte dort aus — ich darf zitieren —:
Wir meinen, heute kann man weniger denn je
mit Entschließungen, mit Bekundungen und mit Wir werden keinerlei Prinzipien für bloße Ver-
symbolischen Gesten etwas erreichen ... Es sprechungen, keine lebenswichtigen Interessen
kommt nicht nur auf uns, sondern es kommt ge- nur für eine bessere Atmosphäre eintauschen.
schichtlich auf konkrete Schritte an. Wir werden immer bereit sein, über die Schaf-
fung eines dauerhaften Friedens ernsthaft und
Diese Betrachtung von Herbert Wehner hat heute zielbewußt zu sprechen.
nach wie vor ihre Gültigkeit. Wir sind jetzt in
Deutschland, in Europa, ja in aller Welt in ein Sta-
dium eingetreten, in dem eine Politik der konkre- Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi-
ten Schritte mehr denn je als Notwendigkeit er- schenfrage des Abgeordneten Kiep?
kannt wurde und in der gestenreicher Verbalismus
früherer Jahre als politisch unfruchtbar erkannt
Wienand (SPD) : Nein, ich möchte dies genauso
worden ist und erkannt wird.
wie alle anderen Redner im Zusamenhang zu Ende
Die Bemühungen der Bundesregierung, Schritte zu bringen.
unternehmen, wie sie etwa Bundeskanzler Kiesin- (Beifall bei der SPD.)
ger vor drei Jahren als richtig erkannte, können
nicht als isolierte Maßnahmen betrachtet werden. Die Unterstützung der Politik der gegenwärtigen
Sie sind ein Teil weltweiter Anstrengungen zur Bundesregierung durch die Verbündeten ist ein
Überwindung eines Spannungsverhältnisses. Meine nicht zu unterschätzender Faktor für den weite-
Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten ren Fortgang der Bemühungen dieser Regierung.
doch endlich einmal erkennen und nicht an der Tat- Ich darf deshalb noch einmal auf die entscheiden-
sache vorbeiargumentieren, daß das ein weltweites den Sätze des Punktes 8 aus dem Schlußkommuni-
Bedürfnis ist und daß sich hier die Bundesregierung qué der Ministerkonferenz des Nordatlantischen
und die sie tragenden Parteien in einem Konsensus Rates von Ende Mai dieses Jahres in Rom verweisen,
mit unseren westlichen Alliierten und mit der über- denn dort steht wörtlich:
wiegenden Weltmeinung befinden. Mit Unterstützung und Verständnis ihrer Ver-
Denken Sie daran, daß der amerikanische Präsi- bündeten hat die Bundesrepublik Deutschland
dent Nixon in diesem Frühjahr unsere gemeinsame Gespräche mit der Sowjetunion, Polen und der
Situation als eine Phase des Übergangs gekenn- DDR aufgenommen, um die Lage in Mittel-
zeichnet hat. Wir bewegen uns, so führte er bei europa zu verbessern. Die Bündnispartner er-
Gelegenheit aus, in einem weltpolitischen Ausmaß achten dies als ermutigend. Sie geben der Hoff-
Ära
vonderAaKftionzur der Koope- nung Ausdruck, daß diese Gespräche zu Ergeb-
ration. Diese Entwicklung war bei manchem un- nissen führen und nicht durch unannehmbare
serer Verbündeten schon in den sechziger Jahren Forderungen beeinträchtigt werden.
zu spüren und in ihren Grundlagen angelegt. Sie, (Abg. Dr. Heck: Um die Ergebnisse geht es
die Verbündeten, mußten noch vor einigen Jahren doch gerade!)
mit Ungeduld vermerken, daß die Vorstellungen
der damaligen Mehrheit in diesem Hause mit ihren — Zu Ergebnissen führen! Herr Kollege Heck,
eigenen oft nicht in Einklang gebracht werden Sie sind ein erwachsener Mann
konnten. (Zurufe von der CDU/CSU)
Heute kann die Bundesregierung mit Befriedi- und wissen doch auch, daß man am Beginn nicht
gung feststellen — ich beziehe mich hier auf den schon die Ergebnisse aufzeigen kann, sondern daß
letzten der sechs Punkte, welche die Bundesregie- man sich hier, wie es auch von seiten Ihrer Fraktion
rung auf ihrer Sitzung am 6. Juni 1970 erarbeitet einmal gesagt wurde, millimeterweise vorarbeiten
hat —, daß ihre Politik von den drei Westmächten, muß.
den Mitgliedstaaten der WEU und des atlantischen (Zustimmung des Abg. Wehner.)
Bündnisses voll gebilligt und unterstützt wird. Man
sollte hier auch nicht etwas anderes hineininterpre- Wir erleben es ja sogar in diesem Hause, wie sehr
tieren; denn, Herr Kollege Dr. Marx, wenn man das von verschiedenen Standpunkten aus aneinander
ungeachtet der eindeutigen Stellungnahme unserer vorbeigeredet wird und wieviel Zeit wir brauchen,
3228 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Wienand
um dies auszuräumen, damit ein Konsensus zu- Wienand (SPD) : In dieser Situation erleben wir,
stande kommt. wie die zur Verhandlung anstehenden Probleme
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. seit Wochen in beinahe epischer Breite in diesem
Dr. Heck: Wir diskutieren hier doch über Parlament zur Diskussion stehen. Wir mußten auch
Ergebnisse, die nicht bekannt geworden erleben, daß Teile von bisherigen Gesprächsergeb-
sind!) nissen durch eine verantwortungslose Indiskretion
und in unzureichender Weise an die Öffentlichkeit
Die Bundesregierung befindet sich in schwierigen gelangten. Soweit ich sehen kann, ist die Art der
Sondierungsgesprächen mit der Sowjetunion, mit Behandlung der Bemühungen der deutschen Bundes-
Polen und mit der DDR; ich betone: in schwierigen regierung in der Deutschland- und Ostpolitik in
Sondierungsgesprächen. Weitere Sondierungsge- diesem Parlament ein einmaliger Vorgang im Ver
spräche werden folgen. Ein Übergang in das Stadium gleich zur Behandlung ähnlich wichtiger Beratungs-
von Verhandlungen kündigt sich hier und da be- gegenstände in anderen demokratisch regierten
reits an. Staaten und im Vergleich dazu, wie es in der Ver-
Hier darf ich etwas zu den Fragen einschieben, gangenheit hier in diesem Parlament gehandhabt
die der Oppositionsredner vorhin wieder an die worden ist.
Bundesregierung vorgebracht hat. Ich kann mich
nicht erinnern, daß jemals von der Bundesregierung (Beifall bei den Regierungsparteien.)
oder von der Koalition her gesagt worden ist, wir Ich frage mich mit Ernst und voll Sorge, ob eine
stünden am Abschluß von Verhandlungen mit solche Behandlung noch mit den erklärten Zielen
Moskau, mit Warschau oder mit irgendeinem an- einer Politik in Einklang gebracht werden kann,
deren Staat. I die vorher auch im Grundsätzlichen vom Sprecher
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das habe der Opposition beschworen wurde. Ich frage mich
ich auch nicht gesagt!) aber auch, ob durch diese Art und Weise nicht der
Ich kann mich immer nur daran erinnern -- und ich Verdacht aufkommen muß, daß diejenigen, die mög-
bitte um Nachhilfe, wenn ich das falsch sehe —, daß lichst alles sofort ans öffentliche Licht zerren wollen,
von exploratorischen Gesprächen, daß von vor- im Grunde bereit sind, auf der Stelle zu treten und
bereitenden Gesprächen, die zu den Verhandlungen nicht jene notwendige Bewegung in die deutsche
und zum endgültigen Aushandeln von Vertrags- Politik zu bringen, von der Herr Dr. Kiesinger in
texten führen sollen, die Rede war. dem eingangs zitierten Absatz seiner Rede vor drei
Jahren gesprochen hat.
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Lesen Sie
nach, was Herr Ahlers gesagt hat!) Meine Damen und Herren von der Opposition,
ich nehme doch an, daß Sie immer noch die Absicht
Ich kann mich daran erinnern, daß das im Aus-
haben, bei sich bietender Gelegenheit die Regie-
wärtigen Ausschuß in extenso dargelegt worden ist;
rungsverantwortung in diesem Lande erneut zu
ich kann mich daran erinnern, daß darüber in ver-
übernehmen.
traulichen Gesprächen viel gesagt worden ist, und
ich kann mich auch daran erinnern, daß darüber hier (Zustimmung bei der CDU/CSU.)
im Hause nie Uneinigkeit bestanden hat. Warum
Haben Sie wirklich einmal gründlich darüber nach-
versuchen Sie dann jetzt immer wieder, meine Da-
gedacht, ob Sie nicht in den letzten Wochen und
men und Herren von der Opposition,
Monaten durch Ihre Äußerungen vor diesem Hause
(Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal]: Weil das sowie auf Veranstaltungen und in Artikeln und
unsere Aufgabe ist!) Interviews draußen im Lande etwas zerschlagen
so zu tun, als sei schon wer weiß was vorweg- haben, was Sie selbst noch einmal benutzen müs-
genommen, als hätten diese Verhandlungen schon sen? Ist Ihnen, so möchte ich fragen, klar geworden,
stattgefunden, als seien Sie getäuscht worden und daß Sie durch allzu forsches Auftreten jene ersten
als sei irgendwo schon etwas anerkannt, ausverkauft zarten Pflanzen zertreten könnten, die Sie doch
oder durch Unterschrift besiegelt worden? Sie nach Aussage Ihrer Politiker pflegen wollen?
wissen doch ganz genau, daß dies nicht der Fall ist! (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Herr Wie
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. nand, sind Sie dabei, eine Legende zu
Dr. Marx [Kaiserslautern] : Herr Wienand, machen? — Abg. Rösing: Wollen Sie uns
ich habe zwei Interpretationen zitiert, nichts die Schuld zuschieben? — Weitere Zurufe
anderes!) von der CDU/CSU.)
— Ich stelle diese Frage. Erregen Sie sich doch nicht,
Präsident von Hassel: Herr Kollege Wienand, Herr Kollege Rösing! Sie haben ja am wenigsten zu
gestatten Sie eine Zwischenfrage? den Dingen gesagt.
Ich habe Verständnis dafür, daß Sie dieser Regie-
Wienand (SPD) : Nein. rung und im besonderen meiner Partei Schwierig-
keiten bereiten wollen. Haben Sie in Ihre Berech-
Präsident von Hassel: Also keine Zwischen- nungen aber auch einbezogen, daß möglicherweise
fragen. über diesem Schwierigkeiten-Bereiten das notwen-
-
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sie woll- dige Augenmaß verlorengeht und unheilvolle
ten doch, wie Sie sagten, eines Besseren Allianzen zustande kommen, Allianzen, die teils
belehrt werden!) durch Verbalismus heraufbeschworen, teils dann
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3229
Wienand
) nicht mehr zurückgedrängt oder ungeschehen ge- gelegt. Von einer quasi universellen Geltung des
macht werden können, wenn es so dargestellt wird, Gewaltverbots zu sprechen ist daher keine Über-
wie es vorhin der Redner der Opposition getan hat? treibung und ziemt sich gerade für Deutsche in die-
ser Stunde, wenn wir uns zu diesem Thema äußern.
Mir liegt nicht daran, in dieser Stunde das noch
einmal Revue passieren zu lassen, was in den letz- Wir wissen aber auch, daß Normen nicht ohne
ten Wochen und Monaten an „Verzicht" und „Aus- weiteres eingehalten werden, nur weil sie da sind.
verkauf" und ähnlichen Vokabeln in die öffentliche Um sie durchzusetzen, ihre Ausnahmen einzugren-
Diskussion hineingebracht worden ist. Mir liegt nicht zen, kommt es darauf an, die Zahl der Übertretun-
daran, Restbestände einer politischen Auseinander- gen zu verringern, die Völkergemeinschaft vor nach-
setzung der fünfziger Jahre hier erneut zu beleben. haltigen Verletzungen der Verhaltensnormen zu
Aber ich möchte in diesem Zusammenhang noch schützen. Dazu bedarf es weiterer Vorklärungen
einmal nachdrücklich die sechs Punkte der Bundes- nach einer beharrlichen, oft von Mißerfolgen be-
regierung in Erinnerung rufen, von denen ich einen gleiteten Anstrengung. Ich sehe gerade die vorhin
vorhin zitiert habe, und ich möchte auf eine Reihe erwähnten Gespräche des Staatssekretärs Bahr als
von Gesichtspunkten — man kann bei der zur Ver- einen wertvollen, nicht zu unterschätzenden Beitrag
fügung stehenden Zeit nicht alle anführen — hin- auf diesem Wege an.
weisen dürfen, die für jede Politik und vor allem
für die Politik, die diese Bundesregierung betreibt, Im Art. 26 des Grundgesetzes wird sehr deutlich
von hoher Relevanz sind. festgelegt, daß darüber hinaus Handlungen, die ge-
eignet sind und in der Absicht vorgenommen wer-
Hier war immer wieder die Rede von der Frage: den, Angriffskriege vorzubereiten oder das Zusam-
Was heißt denn Gewaltverzichtsverträge, was er- menleben der Völker zu stören, verfassungswidrig
reicht man zusätzlich damit? Lassen Sie mich aus sind und unter den Strafanspruch des Staates ge-
meiner Sicht etwas dazu sagen. Den Frieden erhal- stellt werden. Wir haben dies ausdrücklich nicht nur
ten heißt, Gewaltanwendung und Gewaltdrohung in unserem Grundgesetz, sondern auch zum Aus-
aus den Beziehungen zwischen den Völkern zu ver- druck gebracht, als wir dem Nordatlantikpakt bei-
bannen. Immer mehr, so meine ich, müssen strittige getreten sind; ich verweise auf Art. 1 dieses Ver-
Fragen aus dem Zusammenleben, aus dem Nebenein- trages.
ander der Völker herausgenommen und auf den
Weg des Rechts verwiesen werden. Für den Erfolg der auf Friedenserhaltung und
Entspannung gerichteten Politik ist es wesentlich,
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr richtig!)
daß keine Gewalt angewendet wird, aber auch, daß
Friede und Nichtgebrauch von Gewalt hängen aufs nicht mit Gewalt gedroht wird. Gewalt vernichtet
engste zusammen. Wer den Frieden bricht, ist auch den Frieden, Drohung mit Gewalt, gleichviel von
Rechtsbrecher; denn das Verbot von Gewaltanwen- welcher Seite sie vorgenommen wird, zerstört jede
dung und Gewaltdrohung ist Gegenstand einer Entspannung, die Mitvoraussetzung zur Erhaltung
Rechtsnorm, nicht nur in der Charta der Vereinten des Friedens ist. Trennend zwischen Ost und West,
Nationen, sondern auch in unserem Grundgesetz. zwischen den Völkern stehen bedauerlicherweise
Die bloße Existenz dieser Norm erfüllt bereits eine immer noch Doktrinen, die einen bestimmten Ge-
Funktion für den Frieden. brauch von Gewalt und der Androhung von Gewalt
als gerechtfertigt hinzustellen trachten.
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Gut!)
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Oft mehr
Aber ihre Geltungskraft zu mehren und zu ver-
als Doktrin, oft Ideologie, Herr Wienand!)
festigen ist Sache einer jeden aktiven Friedens-
politik. Da bedarf es keiner Abgrenzung, auch wenn — Von mir aus auch Ideologie. —
sie der Bundeskanzler vorgenommen hat; denn ich
halte eine deutsche Politik, ob nach außen oder (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das ist
innen, nur gezielt als Friedenspolitik für eine ver- schlimmer!)
nünftige Politik. Wir sollten das außerhalb der Dis- Wenn wir aber von dieser grundsätzlichen Einstel-
kussion halten. lung, wie ich sie hier dargetan habe, an diese Dinge
(Beifall bei der SPD.) herangingen und wenn wir zur Verwirklichung der
Das Verbot der Gewaltanwendung und der Gewalt- deutschen Vorschläge mit Moskau, mit Polen, mit
drohung ist jedenfalls einer der Grundsätze der Ver- der DDR Gewaltverzichtserklärungen austauschten,
einten Nationen, auf die die Weltorganisation und würde dies zwischen diesen Partnern zu einer In-
ihre Mitglieder die Verwirklichung ihrer Ziele grün- dividualisierung der Gewaltsverbotsnorm führen —
den. und wer wollte sich dem entgegenstellen, wenn das
erreichbar wäre?
In diesem Zusammenhang spielt der Art. 2 der
Satzung der Vereinten Nationen eine entscheidende Speziell gesagt — das muß eingeräumt werden —,
Rolle. Für die Erhaltung des Friedens kommt es fügt der Gewaltverzicht der allgemeinen Gewalt-
darauf an, daß die Gewaltverbotsnorm allseitig Gel- verzichtsnorm nichts hinzu. Immerhin stellt die An-
tung hat und bekommt. Die Mitglieder der Verein- wendung, die Verpflichtung aus der Norm, einen
ten Nationen sind auf die Charta und deren Grund- neuen Rechtsgrund, den der vertraglichen Verpflich-
sätze schon durch ihren Beitritt verpflichtet, aber tung, zusätzlich dar. Er schafft dadurch mehr, als
auch die Nichtmitglieder haben sich auf die Charta, vorhanden war. Er knüpft eine zusätzliche Bindung,
jedenfalls auf die Beachtung ihrer Grundsätze, fest- wenngleich in derselben Sache, aber doch unter Ein-
3230 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Wienand
räumung eines speziellen Berufungsrechts an den einander und erst recht nicht gegenüber einer Regie-
Kontrahenten. rung ins Gespräch gebracht wird, wenn wir dies tun
Politisch gesehen geht die Bedeutung über die mit dem nötigen Anstand und dem Patriotismus, von
dem Sie, Herr Dr. Marx, vorhin gesprochen haben,
Schaffung eines neuen Rechtsgrundes der Verpflich-
dann stärken wir die Bundesregierung, zu der wir
tung weit hinaus. Der Gewaltverzicht ist ein Mittel
zur Entschärfung einer bestimmten Spannungslage, Vertrauen haben, für diese schwierigen Verhandlun-
gen, und dann kommt es zu Verhandlungen, über
zur Bestätigung des politischen Willens, in einem
die wir als Parlament im Abschluß zu befinden
bestimmten Streitfall oder gegenüber bestimmten
haben. Da würde ich nicht diese oder jene Wahl,
Partnern eine Politik ohne Gewalt zu betreiben. Ich
diese oder jene Äußerung als ein Plebiszit auf dem
empfinde, daß ein großer Dissens in der Auseinan-
Wege zu diesem Ziel hin betrachten
dersetzung hier bei uns, aber auch von uns nach
draußen hin mit darauf zurückzuführen ist, daß innen (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das stand
bona fide -- das unterstelle ich —, von außen nicht aber in Ihren Anzeigen!)
immer bona fide uns etwas unterstellt wird, was wir
bewußt ausgeräumt haben, was wir aber durch sol- — man muß doch die Zuspitzung und die Situation
che Verhandlungen und durch ständiges Bemühen sehen, in der dann Antworten erfolgten —, sondern
auch gegenüber der Weltöffentlichkeit außerhalb der da würde ich in ständigem Bemühen um des Patrio-
Diskussion stellen müssen, wie wir das nach langen tischen willen und in der Erinnerung an den Tag,
leidvollen Erfahrungen endlich bei uns außerhalb den wir heute als Arbeitstag begehen, mit dem
der Diskussion gestellt haben. Blick auf diese Arbeit hin zu Gemeinsamkeiten auf-
rufen, die nicht darin zu liegen haben, daß wir hier
(Beifall bei den Regierungsparteien.) und nach außen hin Einigkeit in allem demonstrie-
So gesehen nimmt Gewaltverzicht geradezu den ren, sondern die darin liegen, daß keiner in diesem
Charakter eines Streitmoratoriums, eines Aufschubs Hause und erst recht nicht die Bundesregierung be-
der Lösungen an. Andererseits besteht die Lösungs- reit ist, Freiheit und Frieden aufs Spiel zu setzen.
bedürftigkeit des Konfliktstoffs grundsätzlich weiter. Aber es wird so oft von Freiheit, von Frieden und
Die programmatische Forderung, den Streit friedlich von Wiedervereinigung gesprochen, und das als eine
zu lösen, impliziert --- auch das ist hier schon her- Formel, die gängig geworden ist. Können wir es
ausgestellt worden die Feststellung, daß ein un- nicht einmal etwas anders formulieren, ohne damit
erledigter Konfliktstoff vorliegt, ohne dessen Lösung etwas preiszugeben: wir haben aus Gründen, die
eine Befriedung nicht eintreten wird, bei dessen allen bekannt sind, Frieden, der weiter gesichert
Fortbestand auch die Friedlosigkeit fortdauert. Poli- werden muß, und wir haben eine Freiheit für uns
tik bedeutet doch, überzeugend klarzumachen, daß hier, die weiter ausgebaut werden muß. Wir kön-
es auf den Fortbestand des Friedens ankommt und nen beides aber nur erreichen, wenn wir — in der
daß man deshalb an die Fragen herankommen muß, Reihenfolge — Frieden erhalten, mit den adäquaten
auch wenn am Anfang die Mißverständnisse so groß Mitteln für die Freiheit eintreten und darüber hin-
erscheinen, daß der eine oder andere Gespräche aus dann das überwinden, was heute trennend zwi-
schlechthin für sinnlos halten mag. Ungeachtet des- schen uns steht, und damit den Auftrag erfüllen, der
sen muß der Versuch unternommen, muß gerade auf uns mit diesem Tag gegeben ist.
dieser Ebene weitergearbeitet werden.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Darüber hinaus muß man dann natürlich bereit
sein, über alle anderen anstehenden Fragen zu re-
den, wenn man will, daß der Partner, mit dem man Präsident von Hassel: Das Wort hat für die
spricht und mit dem man um der Voraussetzungen FDP-Fraktion der Abgeordnete Borm. Für ihn sind
willen im Gespräch bleiben muß, auch die Themata 30 Minuten angemeldet.
mitbehandelt, die unsere Herzensanliegen sind, und
die auf den Gesprächstisch bringen und sich darüber
unterhalten bedeutet nicht etwas preisgeben, bedeu- Borm (FDP) : Herr Präsident! Meine Damen und
tet nicht etwas billig verkaufen, sondern bedeutet Herren! Es ist zu begrüßen, daß der Bundestag mit
das ständige Ringen, die mühevolle Millimeter- gutem Beispiel vorangeht und diesen Tag der deut-
arbeit, um diese Konfliktstoffe einzuengen und schen Trauer als Arbeitstag begeht. Es ist in der
immer wieder gegenüber der Weltöffentlichkeit un- Tat kein Grund zum Feiern, und ich glaube, wir
mißverständlich zu betonen, daß wir es sind, die werden uns der Aufgabe unterziehen müssen, auch
nicht von Moral und von Gesinnung reden, sondern für unser gesamtes Volk einen anderen Stil dieses
die von der Verantwortungsethik getragen an diese tragischen Tages zu finden. Aber es ist ein Tag des
Probleme herangehen, und daß, wenn es schon Gedenkens, ein Tag des Gedenkens an die Opfer
Schwarze Peter in diesem Spiel gibt, sie sichtbar bei der Gewalt, wo immer Diktatur und Gewalt ange-
den anderen stecken und nicht uns zugesteckt wer- wendet wird, überall auf der Welt, und nicht nur ein
den können. Tag des Gedenkens an jene 21 Todesopfer des
(Beifall bei der SPD.) 17. Juni 1953, die unserem Herzen naturgemäß am
nächsten liegen.
gierung betreibt, unterstützt wird, wenn intern und
auch in öffentlicher Fragestellung und in der Klar- Es ist aber auch ein Tag des Nachdenkens über
stellung der eigenen Standpunkte kein Dolus gegen- unsere Pflicht, über die Pflicht, die einem Vertreter
Wenn so gesehen die Politik, die die Bundesre- des deutschen Volkes jetzt, 17 Jahre nachher, ob-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3231
Borm
liegt. Ich habe den 17. Juni 1953 unter anderen Um- Die Niederschlagung dieses spontanen Aufstandes
ständen erlebt als jeder von Ihnen. hatte Rückwirkungen in der Bevölkerung, und diese
wirken nach in der Resignation. Man hatte aus dem
(Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
Zusammengehörigkeitsgefühl heraus natürlich er-
Ich habe die Opfer dieses Tages vier Wochen später wartet, daß wir uns und der gesamte Westen, sich
hinter den Mauern erlebt, welche mich seinerzeit des Schicksals der Menschen in der DDR annehmen
umschlossen haben. Ich habe den unmittelbaren würden. Man hatte natürlich nicht bedacht, daß das
Eindruck, und aus dieser Erinnerung heraus, meine Krieg bedeutet hätte. Das führte zunächst zur Ent-
Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir doch täuschung und dann nach einigem Nachdenken zur
einige Bemerkungen. Ernüchterung bei der Einschätzung der wirklichen
Situation. Wer sich in den Klauen eines totalen
Wir sollten diesen Tag der deutschen Trauer und Regimes befindet, lebt unter anderen Bedingungen
der deutschen Schmach als das sehen, was er ist.
als Menschen, deren Lebensstil Demokratie und
Wir sollten ihn nicht glorifizieren. Das würde seine Freiheit sind,
Bedeutung herabmindern. Es war kein organisiertes
Aufbegehren. Es war ein spontaner Aufstand, (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sehr wahr!)
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Sehr wahr!) und er muß sich mit dieser seiner Situation aus-
einandersetzen.
weil das Maß voll war. Was war geschehen? Die
Verantwortlichen drüben, die die Macht in Händen Heute, meine Damen und Herren, dürfen wir fest-
haben, haben die Lage verkannt. Sie glaubten, daß stellen — wir müssen dies sogar feststellen, wenn
sie mit den Menschen umspringen könnten, wie es wir uns keinen Trugschlüssen hingeben wollen —,
die jeweilige ökonomische oder politische Ratio daß es eine Wiederholung des 17. Juni 1953 in der
eines Diktatursystems ihnen gerade gut erscheinen damaligen Form nicht geben wird. Die Methoden
ließ. Sie versuchten, die Arbeitsnormen heraufzu- sind verfeinert; sie sind raffinierter und nicht un-
setzen. Sie versuchten, die arbeitenden Menschen bewährt. Bei der Anwendung der Methoden arbeitet
zu erhöhter Leistung und damit zu relativ geringe- man zwar ohne sichtbar eingesetzte Gewalt. Sie
rem Lohn anzuspornen. Das wäre an sich, wenn so basieren aber nach wir vor nicht darauf, daß man
etwas bei uns möglich wäre, natürlich ein Anlaß, sich des freien Willens der Unterdrückten versichern
dagegen auf der Straße zu protestieren. Diese Pro- will, sondern nur darauf, daß die Gewalt verdeckt
testmärsche haben auch stattgefunden. Sie haben ist, obwohl sie immer vorhanden bleibt. Meine
auch dort stattgefunden, worum das deutsche Schick- Damen und Herren, dessen sind sich die Menschen
sal am intensivsten gerungen wurde und gerungen drüben bewußt.
wird: in Berlin; denn dort ist der Brennpunkt des Ferner ist nicht abzuleugnen — auch das müssen
deutschen Geschehens. Aber diese an sich erklär- wir in Rechnung setzen --, daß unzweifelhaft ein
liche Auseinandersetzung über Arbeitsbedingungen ökonomischer Erfolg gegenüber der Zeit von 1953
stieß auf eine geistige Bereitschaft - das ist das eingetreten ist. Das hat zur Folge, daß die Men-
Aktivum dieses Tages — zum offenen Protest. Das schen, welche diesen Erfolg unter wesentlich schwe-
deutsche Volk in der DDR war nicht länger gewillt, reren Bedingungen als wir und trotz aller ihnen
die Faust in der Tasche zu ballen. Die Bevölkerung auferlegten Hemmnisse errungen haben, einen ge-
hatte die Diskrepanz zwischen der Propaganda, dem wissen berechtigten Stolz auf diese ihre Leistung
Versprechen einer nebelhaften glücklichen Zukunft zur Schau tragen. Wir sollten sehr wohl bedenken,
und der rauhen, der realen Wirklichkeit erkannt. daß so manche unserer Äußerungen dort drüben als
Das Volk sah täglich die sichtliche ökonomische überheblich angesehen wird und von unserer Seite
Überlegenheit unseres Wirtschaftssystems, und es aus keinen guten Beitrag zu dem Werk des — zu-
gab, was das Wichtigste ist, ein lebendiges Zusam- nächst — gegenseitigen Verständnisses der beiden
mengehörigkeitsgefühl der Menschen in beiden Teile Deutschlands darstellt.
deutschen Staaten, das zum Ausdruck kommen ließ,
daß alles, was bei uns geschieht und geschah, deren Meine Damen und Herren, schließlich ist noch
Schicksal war, wie ebenfalls bei uns dieses Zu- der Faktor der Gewöhnung zu nennen. Er ist nicht
sammengehörigkeitsgefühl festzustellen war. Es war gering zu veranschlagen. 25 Jahre gehen an einem
eine Auflehnung des Freiheitswillens gegen den Volk nicht ohne Spuren vorüber. Die nachwach-
manipulierten totalen Zwang. sende Jugend hat keine Vergleichsmöglichkeiten.
Sie tritt unter anderen Voraussetzungen in das
Das, meine Damen und Herren, waren die Gründe, politische Leben ein, als wir sie hier erlebt haben.
und das waren die Erscheinungsformen. Ich selbst Ich glaube, dieses Beispiel wird auch uns selbst oft
kann Ihnen die unmittelbare Wirkung an jenem genug vor Augen geführt. Über die Erfahrungen,
Tage nennen: eine Ratlosigkeit beim Aufsichtsperso- die wir in zwei Weltkriegen, in einem Weltkrieg
nal, eine Ratlosigkeit bei den unteren Rängen der oder in der Zeit nach dem Weltkrieg gesammelt
dortigen Hierarchie. Und was war das Ende: Das ge- haben, verfügt unsere Jugend nicht. Dasselbe ist
wohnte Mittel der Gewalt, wie wir sie in Polen, in drüben festzustellen. Diesen Faktor müssen wir
Ungarn, in der DDR und in der Tschechoslowakei er- ständig im Auge haben, wenn wir uns des richtigen
lebt haben. Das, meine Damen und Herren, ist das Mittels bedienen wollen, um glaubwürdige Ein-
Resümee eines Systems, das vorgibt, dem Menschen wirkungsmöglichkeiten ohne List und Hinterlist auf
dienen zu wollen, dessen Mittel aber der Unter- den anderen Teil Deutschlands zu finden. Man kann
drückung des Menschen dienen. eben nicht 25 Jahre in einer inneren Emigration
3232 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Borm
leben. Man kann nicht lebenslang ohne Hoffnungs- naler, und wir scheuen uns nicht, dieses Wort in den
schimmer im Gegensatz zu einem nicht erwünschten Mund zu nehmen. Nur Heloten nehmen eine Spal-
System, dessen Wirkung man täglich ablehnt, leben. tung ihres Landes widerspruchslos in Kauf.
Man muß sich irgendwie arrangieren, besonders
dann, wenn man weiß, daß wirkliche Hilfe, wenn sie (Beifall bei allen Fraktionen.)
in der Art gegeben werden sollte, wie man drüben Der Weg ist aber auch — und das unterscheidet
vielleicht hoffte, kriegerische Verwicklungen nicht unsere jetzige Position von der Position des deut-
ausschließen könnte. Das bedeutet natürlich nicht, schen Bismarckschen Reiches und auch des Reiches
daß die Menschen ihren Frieden mit dem System von Weimar — international begründet. Erstmalig
gemacht haben. Aber das Denken ist nicht mehr nur
in der Geschichte sind unsere nationalen Interessen
ein Schwarzweißdenken; es ist differenziert und gleichlaufend mit den internationalen Interessen
nuanciert. Wir würden uns täuschen, wenn wir des Friedens, der Verständigung, der Aussöhnung,
glaubten, daß alles das, was 1953 Selbstverständ- weil die Welt unteilbar geworden ist und weil
lichkeit war, heute noch vorausgesetzt werden unsere Position imperialistische —
könnte. Ebenso ist in der Stadt, aus der ich komme,
in Berlin, heute ein anderes Denken festzustellen (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Die Welt ist
als zur Zeit der äußeren Bedrückung, zur Zeit der geteilt!)
Blockade. Die Gefahr ist die gleiche geblieben. Die — Unteilbar geworden ist, Herr Kollege Dr. Kie-
Mittel, deren sich die andere Seite bedient, haben singer! Sie ist sicherlich noch geteilt, und trotzdem
sich geändert und infolgedessen auch die Bewußt- ist sie unteilbar, oder sie geht zugrunde.
seinlage.
(Zustimmung bei den Regierungsparteien.
Ein Letztes. Unsere Propaganda, die wir nach — Erneuter Zuruf des Abg. Dr. h. c. Kie
drüben leiten, ist nicht immer zweckentsprechend. singer. — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] :
Sie ist nicht immer überzeugend. Sie ist auch des- Das sind populär-philosophische Umdeutun
wegen nicht überzeugend, weil sie die berechtigte gen von Teilhard de Chardin! Mehr ist das
Kritik, die an den Zuständen bei uns geübt werden nicht!)
kann und muß, unterdrückt und sich scheut, be-
stehende Fehler zuzugeben. Wir haben unbestritten — Gut, aber ich glaube, Herr Kollege Marx, daß
Sie ohne Erkenntnis der wirklichen grundlegenden
den besseren Lebensstandard. Wir haben einen
Zusammenhänge sicherlich nicht immer den rich-
freiheitlichen Lebensstil. Wer aber glaubt, die Über-
tigen Kompaß haben; wenn man sich nur von Ta-
legenheit unseres Systems allein auf die ökono-
gesereignissen bestimmen läßt, wohl nicht.
mische Überlegenheit des Lebensstandards gründen
zu können, verkennt die Vielfalt des Lebens und die (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Aber Herr
geistigen Elemente, die diesem Leben zugeordnet Borm, das quält uns doch, daß die eine
sind. Welt so tief geteilt ist!)
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
— Ich freue mich, Sie so verstehen zu dürfen. Diese
Meine Damen und Herren, was ist nun objektiv Qual tragen wir gemeinsam.
geblieben, und was ist die Ausgangsposition, die
wir stets im Auge behalten müssen, wenn wir die Deutschland hat eine besondere Verantwortung.
notwendige Auseinandersetzung mit dem System Es liegt geographisch inmitten desjenigen Erdteiles,
drüben und dabei meine ich mit „drüben" nicht der noch immer eine entscheidende Rolle in den
nur die DDR —, mit dem totalen kommunistischen Geschicken der Welt spielt. Gerade die Bundesre-
System suchen, weil wir sie suchen müssen? Es ist publik, aber auch die DDR, trägt wegen ihrer wirt-
geblieben die eingeschränkte Freiheit, es ist geblie- schaftlichen Leistungsfähigkeit eine weitere zusätz-
ben für die DDR die menschliche Belastung durch liche Verantwortung. Sie haben, beide zusammen
die zerrissenen Bande der Familie und der Freund- und jeder für sich, die Schlüsselstellung für Europa,
schaft, es ist geblieben die Unvereinbarkeit der so wie Berlin die Schlüsselstellung für Deutschland
Systeme, die Unvereinbarkeit politisch, ökonomisch hat. Deswegen gibt es sicherlich keinen Zweifel im
und gesellschaftlich. Es ist bei uns geblieben — und ganzen Haus: Wer Berlin aufgibt oder aufgeben
das ist der erfreuliche Ansatz, der hoffentlich einmal will, versündigt sich an Deutschland, und wer
jene schädlichen und unnützen Polemiken um der Deutschland und seine Zukunft aufgeben will, ver-
Polemik willen beendet — die gemeinsame Zielset- sündigt sich an Europa.
zung, über eine Milderung der Spaltung zu deren (Beifall bei allen Fraktionen.)
Überwindung zu gelangen.
Das, meine Damen und Herren, ist das, was uns ver-
Der Grund, der die Regierung und die Regierungs- bindet.
parteien veranlaßt, die mühselige gefährliche Arbeit
zu verrichten, nach 20 Jahren den Versuch eines Nun zu den Methoden! Ich habe sehr aufmerksam
anderen Weges zu machen, nachdem der — sicher- heute die Einlassungen unseres Kollegen Marx ge-
lich individuell redlich gemeinte — frühere Weg hört. Sie waren nicht ermutigend. Das kann ein per-
nicht zum Erfolg geführt hat, ist zunächst ein sönlicher Eindruck sein. Ich vergleiche mit diesen
menschlicher, individueller, denn dieses mensch- - Ausführungen ein Papier mit neun Thesen, das
liche Leid zu beenden ist die Aufgabe eines jeden, gestern bei der Präsidiumssitzung des Kuratoriums
der sich über die Ökonomie hinaus den mensch- Unteilbares Deutschland von unserem Kollegen Dr.
lichen Dingen zuwendet. Er ist aber auch ein natio- Gradl überreicht worden ist. Ich habe diese Thesen
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3233
Borm
mehrmals gelesen. Ich würde Ihnen, meine Kol- haltung, die letzte Debatte sein, die wir über die
legen von der CDU / CSU, empfehlen, sich diese The- deutschen Schicksalsfragen miteinander zu führen
sen einmal anzusehen. In ihnen ist so vieles an haben. Aber wir sollten zum Schluß feststellen, wel-
Gemeinsamkeiten enthalten sicherlich auch noch che Lehren wir Freie Demokraten aus dem 17. Juni
an Zweifelsfragen —, daß auf einer solchen Basis 1953 ziehen und — ich möchte noch etwas einschie-
sehr wohl jene notwendige — da folge ich Ihnen ben — welche Lehren wir glauben ziehen zu müs-
sehr -- und erstrebenswerte größtmögliche Breite sen aus dem wenig ermutigenden Stil des Wahl-
in der Vertretung unserer deutschen Interessen ge- kampfes, den hier fortzusetzen wir uns scheuen
genüber den östlichen totalitären Systemen zu fin- sollten, weil das der sicherste Weg wäre, nicht zu-
den ist. einander-, sondern auseinanderzukommen.
Jene Feststellung, die Sie zitiert haben — auch (Beifall bei den Regierungsparteien.)
der Herr Bundeskanzler hat sie zitiert, Herr Kol- Herr Kollege Marx hat einige Beispiele angeführt,
lege Wienand hat sie zitiert — aus der Rede des die ihn verletzt haben, die ihm Schwierigkeiten be-
früheren Bundeskanzlers Dr. Kiesinger, jene Fest- reiten. Gestatten Sie mir, nur eines zu sagen. Wir
stellung, daß die Zeit nicht für uns arbeitet — und glauben nicht, daß es dem Verständnis der Frak-
wenn sie nicht für uns arbeitet, muß sie natürlich tionen untereinander dienlich ist, wenn vor 14 Ta-
gegen uns arbeiten —, wird auch von uns geteilt. gen in Niedersachsen in einer Tagung der Landes-
Sie ist ein Motiv gewesen, endlich daraus die nach politiker der CDU meine Partei, die Freien Demo-
unserer Meinung richtigen Konsequenzen zu ziehen. kraten, als „Krebsgeschwür der deutschen Demo-
Wir werden Gelegenheit haben, Herr Kollege Marx kratie" bezeichnet worden ist.
— wir kennen uns ja nicht erst seit heute —, Ihre
Rede sehr aufmerksam zu lesen. Aber mein erster (Pfui!-Rufe bei den Regierungsparteien.)
Eindruck ist nicht so ermutigend wie der Eindruck, Meine Damen und Herren, solche Töne sollte man
den mir die Lektüre des Papiers von Herrn Di. unterlassen. Ich glaube, ich brauche nichts weiter
Gradl gegeben hat. hinzuzusetzen; das wird wohl die Billigung keines
Wir sind nach 20 Jahren — wenn ich nun sagte: der Kollegen, die in diesem Saale sind, finden. Wir
Mißerfolg, würden Sie das als eine Wertung an- werden uns bemühen, solche Töne herauszuhalten.
sehen —, wir sind nach 20 Jahren Mühen, welche (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
ohne Erfolg geblieben sind, sehr realistisch gewor- Dr. Barzel: Wie ist das mit dem Krieg, Herr
den. Wir haben den Mut gehabt, auf vier Ebenen Borm?)
gleichzeitig anzupacken, und wir hörten heute aus
— Auf das mit dem Krieg habe ich Ihnen geantwor-
dem Munde des Herrn Bundeskanzlers, daß eine
tet. Lesen Sie es bitte nach. Ich glaube, meine Ant-
fünfte Ebene — die der Gespräche mit der Tschecho-
wort ist klar. Lesen Sie die FDK!
slowakei — in Aussicht genommen ist. Wir gehen
also das Problem in der Gesamtheit an. Es ist müh- Unsere Lehren aus dem 17. Juni! Wir können es
selig. Wir suchen noch nicht — so weit sind wir uns, da die Zeit gegen uns arbeitet, nicht mehr
noch nicht — nach der Möglichkeit eines Do ut des, leisten, abseits zu stehen. Wir müssen uns in den
sondern wir suchen zunächst einmal, insonderheit weltweiten Kampf um Ausgleich und Frieden ein-
in unserer Unterhaltung mit den Machthabern in reihen, und haben uns darin eingereiht. Dazu gibt
der DDR, alle jene Punkte, in denen im deutschen, es nur eine Alternative: die gegenseitige Vernich-
im internationalen Interesse wenigstens noch ein tung. Der Schwerpunkt unserer Bemühungen ist,
Funke von Gemeinsamkeit festzustellen sein sollte, auch wenn wir jetzt auf vier, später auf fünf Ebenen
wenn auch nur in Dingen wie Verkehr, Kultur oder verhandeln, unsere eigene, unsere deutsche Nation.
sonst etwas. Wir haben glücklicherweise festzustellen — ich sagte
Wir haben uns daran erinnert, daß es einmal eine es bereits —, daß wir uns im Gleichlauf befinden
Zeit gab, in welcher die Sowjetunion ständig er- mit den europäischen Interessen, die auf Frieden ge-
klärte, Deutsche müßten sich an einen Tisch setzen, richtet sind, ebenfalls weil es eine andere Alter-
native nicht gibt.
und sie müßten und sollten miteinander reden, weil
das die einzige Möglichkeit sei, zur Lösung der Der heutige 17. Juni sollte uns und wird uns
deutschen Probleme zu kommen. Wir werden die Freien Demokraten ein Anlaß sein, diese unsere
Sowjetunion daran erinnern, auch wenn ihre Inter- nationale, unsere menschliche und unsere euro-
essenlage heute eine andere ist. Sie möge uns dazu päische Pflicht noch zielbewußter zu verfolgen als
helfen durch Einwirkung auf die DDR, daß diese bisher.
ihren erkennbaren Widerstand — ihre Gründe brau- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
chen hier nicht untersucht zu werden — endlich auf-
gibt und auf das offene, ehrliche Gespräch ein- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

geht, das wir ihr angeboten haben. Wenn die So- Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr
wjetunion das tut, so dient sie zunächst ihren eige- Bundesaußenminister.
nen Interessen, wenigstens so, wie sie sie in ihrer
Propaganda darstellt. Sie dient aber auch dem Frie-
Scheel , Bundesminister des Auswärtigen: Herr
,
den und damit Europa.
Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Nun, meine Damen und Herren, wir wären ver- Herren! Gestatten Sie mir, daß ich, bevor ich zu dem
sucht, heute über viele Einzelheiten zu reden. Es Thema der heutigen Aussprache komme, ein Wort
ist nicht die erste, es wird nicht die letzte Unter- zu dem uns allen beglückenden Ereignis sage, daß
3234 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Borm
der seit Tagen von Entführern festgehaltene Bot- wir das in der Regierungserklärung versprochen
schafter der Bundesrepublik Deutschland Ehrenfried haben.
von Holleben wieder bei seiner Familie ist. (Beifall bei den Regierungsparteien.)
(Beifall bei allen Fraktionen.) Auch das werden Sie mir nicht bestreiten, Herr
Kollege Marx: daß es einer Regierung schwerfällt,
Meine Damen und Herren, ich möchte der brasilia-
ein noch stärkeres Maß an Zusammenarbeit mit der
nischen Regierung für die Zusammenarbeit in diesem
Opposition zu entwickeln, wenn sie feststellen muß,
Fall danken.
daß ein großer Teil der Information aus diesem so
(Beifall bei allen Fraktionen.) heiklen Bereich Gegenstand polemischer Wahl-
Sie hat Gesichtspunkte der Innenpolitik gegenüber kampfäußerungen geworden ist.
der Sorge um das Leben eines Diplomaten zurückge-
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
stellt. Sie hat das Völkerrecht vor das nationale
Marx [Kaiserslautern] : Das gilt dann sicher,
Recht gestellt. Ich glaube, dafür sollten wir der bra-
Herr Bundesaußenminister, für alle Seiten!
silianischen Regierung danken.
Würden Sie das bitte hinzufügen!)
(Beifall bei allen Fraktionen.)
Natürlich gilt das für alle Seiten. Ich habe mich
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ehe ich jetzt auf dieses Thema beschränkt und gesagt: Wir
zur Großen Anfrage der Opposition zur Europapoli- sind aber nach wie vor bereit. Ich habe diese Zu-
tik der Bundesregierung Stellung nehme, möchte ich, sammenarbeit immer gesucht, nicht nur im Plenum,
wie das der Bundeskanzler heute morgen auch getan sondern auch in den Ausschüssen und in anderen
hat, noch einmal auf die Osteuropapolitik eingehen, Kreisen. Das bleibt auch so. Ich bin sogar der Mei-
einmal weil heute der 17. Juni ist, aber auch weil nung: wir müssen unsere Methoden noch etwas
ich die Stellungnahmen der Opposition zu unseren verfeinern; das werden wir möglicherweise heute
Entspannungsbemühungen, die in den letzten Wo- nachmittag noch besprechen.
chen bekanntgeworden sind, nicht unbeantwortet
(Zuruf des Abg. Dr. Burgbacher.)
lassen möchte.
In der innenpolitischen Diskussion außenpoliti- — Ich wende mich doch immer an die Kollegen des
scher Fragen ist eine Zuspitzung entstanden, die Hauses.
vom Wahlkampf her begreiflich, aber in ihren Aus- Ich möchte noch eine allgemeine Bemerkung zu
wirkungen und in ihrem Ausmaß im Interesse der dem machen, was Herr Marx heute morgen hier zu
Sache unnötig, bedauerlich und auch schädlich ist. Ich den Wahlen ausführte. Er ist ja, wie ich sagen muß,
) hoffe, daß es gelingt, meine Damen und Herren, zu rhetorisch außergewöhnlich gekonnt vom 17. Juni
einer sachlichen Behandlung der Probleme im Parla- nahezu ohne Übergang auf die Landtagswahlen
ment und in der Öffentlichkeit zurückzufinden. Die zu sprechen gekommen.
Bundesregierung wird hierzu ihren Beitrag leisten.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Nun hat heute morgen Herr Kollege Marx von
sich aus gesagt, daß auch die Opposition den Wunsch Er hat sich beklagt, daß der Bundeskanzler aus den
nach Gemeinsamkeiten immer zum Ausdruck ge- Landtagswahlen den Schluß gezogen hat, die Regie-
bracht habe, daß aber keine Antwort erfolgt sei, daß rungspolitik fortzusetzen. Ich habe im Zusammen-
vor allein die Art der Zusammenarbeit mit der hang mit den Landtagswahlen vorher und auch nach-
Opposition unbefriedigend geblieben sei. Herr Kol- her gesagt, daß Landtagswahlen keine Testwahlen
lege Marx, Sie werden mir nicht widersprechen, für die Bundespolitik sind.
wenn ich hier behaupte, daß die Information der Ab- (Lachen bei der CDU/CSU.)
geordneten der Opposition, die dafür verantwort-
lich in ihren Fraktionen arbeiten, sehr dicht ist. Sie — Warten Sie doch ab! Ich habe aber immer hin-
werden mir nicht widersprechen, daß die Diskussion zugefügt, daß das Ergebnis von Landtagswahlen
in dem dafür zuständigen Ausschuß unter Beteili- ganz ohne Zweifel einen Einfluß auf das Verhalten
gung der Opposition außerordentlich umfangreich der Parteien in der Bundespolitik haben wird. Ich
ist. kann Ihnen sagen, daß der Einfluß, den das Ergebnis
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Aber nicht der letzten Landtagswahlen hat, der ist, daß wir
sehr gehaltvoll!) das Regierungsprogramm, das wir der deutschen
Öffentlichkeit unterbreitet und das zu erfüllen wir
Sie werden mir auch nicht widersprechen, wenn ich zugesagt haben, mit verstärkter Energie erfüllen
behaupte, daß aus dieser Diskussion die Bundesre- werden.
gierung für ihre eigene außenpolitischen Definition
Nutzen zieht. Das soll ja wohl der Sinn solcher Zu- (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar
sammenarbeit sein. teien. — Zurufe von der CDU/CSU.)
Was nicht sein kann, das wäre etwa, daß wir Herr Marx hat in seinen Darlegungen heute
unsere Außenpolitik, die in unserer Regierungs- morgen eine ganze Anzahl von Unterstellungen
erklärung definiert ist, aus Rücksichtnahme auf gebracht. Dies geschah in Weiterführung einer
eine Opposition, die anderer Meinung in der Ziel- Praxis, die auch die Zusammenarbeit auf dem Ge-
-
setzung sein könnte, aufgeben. Das beabsichtigen biet der Außenpolitik ungewöhnlich erschwert, näm-
wir nicht. Wir wollen nicht zurück, sondern wir lich der Praxis, der Regierung Ziele und Methoden
wollen die Außenpolitik vorwärtsentwickeln, so wie zu unterstellen, die die Regierung hier zum wieder-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3235
Borm
holten Male bestritten und korrigiert hat. Aber Sie Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ich
kommen immer wieder mit denselben Unterstel- will hier nur feststellen — es wird Sie vielleicht
lungen! beruhigen, Herr Dr. Marx, wenn ich das fest-
stelle —: Die Bundesregierung verhandelt mit der
(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg:
Sowjetunion über Fragen, die die Sowjetunion und
Welche Unterstellungen?)
die Bundesrepublik angehen.
Das eben erschwert die Zusammenarbeit.
(Abg. Dr. Barzel: Und die Polen angehen! --
Man muß sich auch einmal darüber einigen kön- Abg. Kiep: Wie kann man in einer Regie
nen, daß das, was man gemeinsam will, in der Tat rungserklärung Mitglieder des Hauses
gemeinsam geschehen kann. Man kann nicht immer kritisieren? Das gibt es doch nicht!)
aus Gründen parteipolitischer Vorteile die Gemein- — Einen Augenblick! Ich verstehe, Herr Kiep, was
samkeiten, deren Bestehen sich erwiesen hat, wie- Sie sagen.
der in Frage stellen. Das will ich damit sagen. Ich
komme gleich mit einigen Beispielen. Aber hier ist —

(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das ist
doch keine Regierungserklärung! — Zuruf
Herr Marx hat gesagt — ich wiederhole das jetzt von der CDU/CSU: Herr Scheel, Sie haben
dem Sinn nach, weil ich das Protokoll noch nicht es nicht begriffen! Das ist das Ganze!
vorliegen habe —, es sei die CDU, die nicht zu- Zuruf des Abg. Freiherr von und zu Gutten-
lassen werde, daß Verträge abgeschlossen würden, berg. — Weitere Zurufe von der CDU / CSU.)
die die endgültige Spaltung Deutschlands zuließen.
Damit insinuiert er doch, daß die Regierung das
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
zulassen wollte oder zulassen würde. Das wird die
Meine Damen und Herren! Ich bitte um Verständ-
Regierung genauso wenig zulassen wie Sie, meine
nis, wenn ich Ihnen folgendes sage. Es ist eine Re-
Damen und Herren!
gierungserklärung zur Europapolitik angemeldet.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
(Zurufe von der CDU, CSU.)
Herr Marx hat eben festgestellt, er wolle für Der Herr Bundesaußenminister hat gesagt, daß er
die CDU zum Ausdruck bringen, daß ein Frieden, dieser Erklärung ein paar einleitende Sätze voraus-
den wir mit der Friedenspolitik erreichen wollen, schicken will. Ich gehe davon aus, daß die Ge-
mehr sei als Schweigen der Waffen. Damit will schäftsordnung —
er doch den Eindruck erwecken, als sei die Regie-
rung anderer Meinung. (Abg. Dr. Barzel: Mit dieser Art von
Regierung!)
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ich habe
— Herr Dr. Barzel, ich gehe davon aus, daß ich nach
gesagt: Fragen Sie die Bevölkerung in der der Geschäftsordnung richtig verfahre, wenn ich
Zone; die wird Ihnen zu antworten haben!) Zwischenfragen nicht zulasse. Wir haben uns im
— Herr Marx, hier ist eine der Gemeinsamkeiten. Präsidium über die Frage unterhalten, ob man die
Wir sollten auch einmal anerkennen und feststel- Richtlinien für Zwischenfragen gegebenenfalls
len, daß wir hier völlig einer Meinung sind. ändert. Solange aber die Richtlinien so sind, werde
ich danach verfahren.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Herr Marx hat ausgeführt, er habe den Verdacht,
daß die Bundesregierung, wenn sie mit der UdSSR
verhandele, dem Gedanken Vorschub leisten könnte, Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Lassen
sie täte das, weil sie sozusagen die UdSSR als Treu- Sie mich ein Wort dazu sagen. Ich glaube, wir soll-
händer anderer osteuropäischer Staaten betrachte. ten uns doch in diesem Kreise über den Stil der
Debatten einig werden können. Eine Regierungs-
(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Das erklärung, die abgegeben wird, nachdem die Frak-
hat er doch gar nicht gesagt! Zuhören, Herr tionen zu dem Problem gesprochen haben, würde ja
Scheel!) nun in diesem Kreise wirklich steril wirken, wenn
sie nicht die Gedanken aufgriffe, die von den Frak-
— Er hat gesagt, die Methode der Verhandlungen — tionen zum Ausdruck gebracht worden sind.
so war es — läßt diesen Verdacht aufkommen.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
(Zurufe von der SPD: Jawohl! — Genau
das hat er gesagt! — Abg. Dr. Marx [Kai- Soll ich denn hier etwa völlig sterile Weisheiten
serslautern] meldet sich zu einer Zwischen- bringen und nicht zu dem etwas sagen, was an
frage.) interessantem Stoff schon vorgetragen worden ist?
Sie können sich bei mir immer darauf verlassen, daß
ich das in einer Form tue, die dann trotzdem noch
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
- die Bezeichnung „Regierungserklärung" verdient.
Nach den Gepflogenheiten dieses Hauses, Herr Darauf können Sie sich verlassen.
Abgeordneter Dr. Marx, sind Zwischenfragen bei - (Beifall bei Abgeordneten der Regierungs
Regierungserklärungen nicht zugelassen. parteien. — Abg. Mick: Dann muß man
(Beifall bei der SPD.) Fragen stellen können!)
3236 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Bundesminister Scheel
— Ja, Herr Kollege, ich habe nicht abgelehnt, eine noch ersetzt. Die Frage, ob wir einen solcherart
Frage zu beantworten, sondern auch ich habe mich definierten Modus vivendi mit der Sowjetunion ver-
nur der Geschäftsordnung gebeugt. Hier liegt ein einbaren sollen, hat wesentlich damit zu tun, ob
Konflikt vor, den wir vielleicht später einmal in wir unsere Beziehungen zu den osteuropäischen Län-
irgendeiner Form geschäftsordnungsmäßig disku- dern, allen voran zur Sowjetunion, konstruktiv ge-
tieren müssen. Ich habe Verständnis für die Schwie- stalten wollen, ob wir etwas nachholen wollen, was
rigkeit und werde sie jetzt dadurch zu überwinden seit 1955, seit der Aufnahme diplomatischer Be-
versuchen, daß ich meine Erwägungen zu dem, was ziehungen, nicht gelungen ist, ob wir eine neue
Herr Marx gesagt hat, sehr kurz halten werden. Es Basis legen wollen für ein in die Zukunft weisendes
wäre noch eine Anzahl von Bemerkungen dazu zu Verhältnis zwischen der Sowjetunion und der Bun-
machen; ich will mir das aufsparen, denn vielleicht desrepublik. Das ist die Frage. Wir halten dieses
wird nachher die Debatte Gelegenheit geben, das Ziel und seine Verwirklichung für eine realistische
noch zu tun. Politik, und diese Einschätzung findet ihre Recht-
Ich darf abschließend sagen, daß ich an diesem fertigung in der internationalen Lage, aber auch in
Tage, an dem ich doch das Gefühl habe, daß auf Verlauf und Ergebnis unserer bisherigen Sondie-
beiden Seiten Bereitschaft zur Zusammenarbeit be- rungsgespräche in Moskau.
steht, ganz generell darum bitte, daß man auch an Ich verrate hier kein Geheimnis, wenn ich sage,
das, was der andere will, nicht mit übertriebenem daß die sowjetische Seite zu Beginn der Gespräche
Mißtrauen herangeht, sondern wirklich auch das, mit kategorischer Härte immer wieder das Wort
was er erklärt, zu akzeptieren sich bereitfindet. von der Anerkennung ins Spiel gebracht hat. Wir
Damit will ich das einmal bewenden lassen. haben demgegenüber klarmachen müssen, aus wel-
(Beifall bei Abgeordneten der Regierungs- chen Gründen wir uns auf diesen Boden nicht stellen
parteien. — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : können. Die Tatsache, daß die sowjetische Regie-
Auch dies gilt für beide Seiten!) rung im Laufe der mehr als dreißigstündigen Aus-
sprache Verständnis für die Grenzen unserer Mög-
Meine Damen und Herren, wir sind uns darüber lichkeiten aufgebracht hat, beweist ihr Interesse an
im klaren, daß aus Gründen, die ich hier nicht näher dem Abschluß eines Gewaltverzichtsvertrages mit
zu erläutern brauche, der Abschluß von Verein- uns.
barungen politischen Inhalts mit dem Osten schwie- Durch de Veröffentlichung eines angeblichen Ver-
riger ist als der Abschluß von Verträgen mit tragstextentwurfs in der Presse ist nicht nur in der
unseren westlichen Partnern. deutschen Öffentlichkeit Unruhe geschaffen, son-
(Abg. Dr. Barzel: Art. 79 GG!) dern es sind auch unsere Bemühungen um eine
Verständigungsbasis mit der Sowjetunion erschwert
Aber das entbidet uns nicht von der Verpflichtung,
worden. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen.
auf dem schmalen Grat der Möglichkeit nach einer
Verständigungsbasis zu suchen und diese auch ver- (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Wer hat das
bindlich zu definieren. denn herausgegeben?)
Wie steht es nun um diese Bemühung? Wir sind — Ich komme dazu. Eine Macht wie die Sowjetunion
zur Zeit im Begriff, eine Definition im Hinblick auf verhandelt verständlicherweise lieber mit Partnern,
einen möglichen Gewaltverzichtsvertrag mit der die die in solchen schwierigen Verhandlungen not-
Sowjetunion vorzunehmen. Der Gedanke eines Ge- wendige Diskretion zu wahren wissen.
waltsverzichts ist nicht neu. Schon frühere Bundes- (Abg. Dr. Barzel: Deshalb macht man sicht
regierungen haben diesen Gedanken aufgegriffen. bare Geheimdiplomatie?!)
Was man damals angestrebt hat, war ein — lassen
Sie mich das einmal so ausdrücken — abstrakter Ge- — Herr Kollege Barzel, wir haben uns schon Mühe
waltverzicht. gegeben, herauszufinden, wo hier eine undichte
Stelle gewesen sein kann. Ich darf sagen, es ist
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Nein, ein kon- schwer, das genau herauszufinden. Eines kann ich
kreter! Das ist der Unterschied!) sagen: die Kollegen der Opposition, die von uns
Die bereits in der UNO-Charta ausgeprochenen informiert worden sind, können es nicht gewesen
Grundsätze der Nichtanwendung und der Nichtan- sein nach der Natur der Dinge. Das will ich einmal
drohung von Gewalt sollten in einem Vertrag wie- ganz offen sagen.
derholt werden. Ein solcher Gewaltverzicht wäre (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.)
sicherlich nicht ohne Wert gewesen. Niemand hat
das je bestritten. Es haben ja viele Kollegen hier Aber es ist sehr schwer, das herauszufinden.
daran mitgearbeitet. Aber die politische Substanz, Ich will nur sagen, diejenigen aber, die ihre In-
nämlich das Verhältnis der Länder zueinander zu formationen in Form von Vertragsartikeln veröffent-
verändern, hätte ihm gefehlt. licht haben, was sie nicht sind, die sollten nicht über-
Das Ziel dieser Bundesregierung ist es, einen sehen, daß sie eine große Verantwortung tragen.
qualifizierten Gewaltverzicht zu erreichen. Er geht Denn es unterliegt ja keinem Zweifel, daß solche
aus von der Lage, wie sie ist. Er schreibt sie aber Veröffentlichungen, die erstens nicht vollständig
nicht fest. Er ist mit anderen Worten die verbind- sind, zweitens nicht die begleitenden Umstände ken-
-
liche Definition eines Modus vivendi. Das bedeutet, nen oder erwähnen können oder wollen, zu einem
beide Seiten gehen davon aus, daß der Gerwaltver- unvollständigen, falschen, ja, zu einem verzerrten
zicht einen Friedensvertrag weder vorwegnimmt Bild führen müssen, vor allem dann, wenn sie auch
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3237
Bundesminister Scheel
noch in die aufgeheizte Atmosphäre eines Wahl- — Das kann ich sehr gern sagen, die Regierung
kampfes hineingebracht werden. hat das immer gesagt: Dies ist kein Vertragsent-
wurf.
(Abg. Blumenfeld: Dann wäre mehr Klarheit
(Abg. Kiep: Aber wieso ist er dann laut
von Ihrer Seite besser gewesen!)
Regierungssprecher nicht mehr abzuän
Ich wünsche mir eigentlich — ich will das einmal dern?)
ganz offen sagen —, daß in einem solchen Fall die — Habe ich das jemals gesagt?
Verantwortlichen ein Gespräch führen über das, was
sie tun wollen, tun müssen oder tun zu müssen (Abg. Kiep: Der Regierungssprecher hat
glauben. Das ist ein Problem, über das wir in einer es gesagt!)
Phase, in der wir genau wie in den frühen fünfziger — Meine verehrten Kollegen, es handelt sich —
Jahren schwierige Verträge zu verhandeln, zu Ende ich will das noch einmal sagen — bei dem, was Herr
zu führen haben, eine gemeinsame Auffassung ent- Bahr in Moskau besprochen hat, um das Ergebnis
wickeln müssen und bei dem wir uns als Parlamen- dreißigstündiger Gespräche über eine Fülle von
tarier, die in der Veranwortung für das ganze Volk Fragen, in denen man sich bemüht hat, zu einzelnen
stehen, gegenseitig unterstützen müssen. Fragen — nicht nur zu dem, was dort in der Zeitung
gestanden hat — gemeinsame Auffassungen zu ent-
Im Verlauf der Diskussion im Parlament und in wickeln, die man zur Grundlage von Vereinbarun-
der Öffentlichkeit sind eine Reihe von Einwänden gen machen könnte. Einige dieser gemeinsamen
gegenüber dieser Politik vorgebracht worden. Die Auffassungen, allerdings nicht unbedingt in der
Bundesregierung hat sie sorgfältig geprüft, auch die veröffentlichten Textform, würden Gegenstand und
Leitsätze, die Herr Bahr in Moskau besprochen hat. Grundlage eines Gewaltverzichtsvertrages sein
Die Bundesregierung ist zu dem Ergebnis gelangt, können, der aber nur abgeschlossen werden kann,
daß der Aufnahme von Verhandlungen mit der So- wenn darumherum noch eine ganze Menge anderes
wjetunion auf der Grundlage der Moskauer Son- entsteht. Genau das ist die augenblickliche Situation,
dierungen keine verfassungsrechtlichen Bedenken und nichts anderes ist jemals gesagt worden.
entgegenstehen.
(Abg. Kiep: Der Regierungssprecher hat
Herr Marx hat heute morgen eine ganze Anzahl doch gesagt, dieser Entwurf sei nicht mehr
von Fragen zu den Vertragstexten, so wie er sie wesentlich zu verändern!)
aus Veröffentlichungen sieht, gestellt. Ich darf ihm — Aber es ist gar kein Vertragsentwurf, es sind
sagen, daß diese Fragen, die er heute gestellt hat, einige Punkte diskutiert worden.
in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses behan-
det werden können, wie wir das auch mit anderen (Abg. Kiep: Der Regierungssprecher!)
Komplexen getan haben. Die Kollegen werden Ver- — Herr Kollege, wenn in einer langen Arbeit in
ständnis dafür haben, daß ich mich hier noch nicht einzelnen Punkten, und zwar in wichtigen Punk-
einmal zu der Richtigkeit der Veröffentlichungen ten — —
äußern kann, die in irgendwelchen Zeitungen er-
(Abg. Dr. Barzel: Ich bin sehr erfreut, zu
schienen sind. Ich kann mich nicht dazu äußern,
hören, daß es nicht einmal ein Entwurf sei!)
ich will das auch nicht tun.
— Es ist kein Vertragsentwurf und kann es ja nicht
(Abg. Dr. Barzel: Aber vor der Presse haben
sein, weil die Entwicklung eines Vertrages sich
Sie sich geäußert; Sie können doch hier
nur auf einige Punkte der erarbeiteten Formulie-
nicht weniger tun als vor der Presse, Herr
rung beziehen wird.
Scheel!— Zurufe des Abg. Kiep.)
(Zuruf von der CDU/CSU: Auf diese
— Ich habe mich vor der Presse in genau dem Punkte kommt es an!)
gleichen Sinn geäußert wie jetzt, ganz präzis, Herr
Dr. Barzel. Aber ich will das jetzt nicht vertiefen,

(Abg. Blumfeld: Wozu dann diese Geheim- (Abg. Rasner: Der Nebel bleibt, Herr
nistuerei!) Scheel!)

— Es handelt sich hier nicht um Geheimnistuerei, es sondern ich will das in den Ausschuß hineinbrin-
handelt sich einfach um eine Verhaltensweise in gen, was ich soeben angekündigt habe.
dem normalen diplomatischen Verkehr bei der Vor- (Beifall bei den Regierungsparteien. —
bereitung von Verträgen, wie sie in der ganzen Abg. Rasner: Nebelwerfer!)
tATelt üblich ist.
— Herr Kollege Rasner, ich weiß ja, daß Sie den
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Nebel aufrechterhalten wollen; wenn Sie ihn nicht
Ich will Herrn Marx nur diese Ankündigung machen, aufrechterhalten, wer denn sonst? Aber wir wollen
weil er die Fragen gestellt hat und weil nicht der schon mit Ihnen diskutieren. Allerdings muß dazu
Eindruck entstehen soll, wir wollten diese Fragen bei Ihnen die Bereitschaft vorhanden sein.
nicht beantworten. Zusammenfassend möchte ich sagen: Wer aus
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ich habe dem einen oder anderen Grunde den politischen
auch vorgeschlagen: im Ausschuß! — Abg. - Auftrag der Stunde versäumt, der muß natürlich
Kiep: Sie können doch hier sagen, ob ein auch den Mut haben, die Folgen einer solchen
Vertragsentwurf vorliegt oder nicht!) Politik zu verantworten. Die wahrscheinliche Folge,
3238 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Bundesminister Scheel
jetzt nicht zu handeln, wäre, daß die Entwicklung Herr Kollege Marx, eben den Eindruck erwecken
über uns hinweggeht und daß wir in die Isolie- wollen, als sei das nicht so. Meine Antwort lautet
rung gegenüber West und Ost geraten. Das kann folgendermaßen: Sie werden doch nicht erwarten,
niemand von uns wollen. Wenn ich sage: jetzt daß die Sowjetunion nach der Veröffentlichung der
handeln, dann meine ich: handeln nach sorgfältiger NATO sich den schwierigsten Punkt, der im Kom-
und solider Überlegung. Das versteht sich von muniqué enthalten ist, herausgreift, um dort Ent-
selbst; das dürfen Sie im übrigen bei einer Regie- gegenkommen zu deklarieren, bevor sie den Ge-
rung voraussetzen, die ja nicht etwa ohne die samtkomplex behandelt, der auch in ihrem Interesse
üblichen Sorgfaltspflichten, die Regierungen haben, gewisse positive Ansatzpunkte zeigt.
in diesem Punkte ihr Handeln vorbereitet. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sie meinen
(Zustimmung bei der SPD.) die Sicherheitskonferenz!)
Wir betreiben keine Alleingänge. Unser Vor- Ich meine jetzt die Konferenz über europäische
gehen ist sorgfältig mit unseren Partnern und unse- Sicherheit.
ren Verbündeten abgestimmt. Bei der NATO-Kon- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Lesen
ferenz in Rom im Mai haben unsere Freunde und Sie die „Prawda" !)
Partner in der Allianz im Abschlußkommuniqué
erklärt, daß sie mit unserer Ostpolitik übereinstim- Aber die Tatsache, daß die Sowjetunion auch bereit
men. Dort heißt es -- ich will es wörtlich zitieren, ist, über Fragen der Truppenreduktion und damit
damit nicht wieder gesagt wird, das stimme aber auch der Rüstungsreduktion zu verhandeln, ist doch
nicht —: dadurch bewiesen, daß sie im Bereich der nuklearen
Rüstung mit den Vereinigten Staaten seit Wochen
Mit Unterstützung und Verständnis ihrer Ver- und Monaten Gespräche führt und Verhandlungen
bündeten hat die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet hat, die von den Vereinigten Staaten
Gespräche mit der Sowjetunion, Polen und der als befriedigend bezeichnet werden, von denen die
DDR aufgenommen, um die Lage in Mittel- Vereinigten Staaten sagen, daß Fortschritte all-
europa zu verbessern. Die Bündnispartner mählich sichtbar werden.
erachten dies als ermutigend. Sie geben der
Hoffnung Ausdruck, daß diese Gespräche zu (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Meinen
Ergebnissen führen und nicht durch unannehm- Sie die Wiener Gespräche?)
bare Forderungen beeinträchtigt werden. Ich meine die SALT-Gespräche.
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ein sehr (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Das ist doch
wichtiger Satz!) nicht Truppenreduktion in Europa!)
3) Unannehmbare Forderungen von allen Seiten. —

— Aber das ist der gleiche Komplex, Herr Kol-
Die Bemühungen um die Lösung offener Pro- lege. -- Man muß die Geduld aufbringen, in diesen
bleme und um einen Modus vivendi in Deutsch- schwierigen Fragen einmal die Eröffnung von Ver-
land, der den besonderen Verhältnissen der handlungen abzuwarten, und man muß sie mit
deutschen Lage Rechnung tragen würde, stellen Härte und Festigkeit und mit Zähigkeit immer wie-
einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit und zur der vertreten und fordern.
Zusammenarbeit in Europa dar. (Beifall bei den Regierungsparteien.
Soweit das Zitat. Zuruf des Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern].)
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ziffer 4 bitte noch Lassen Sie mich zu diesem Komplex, der hier nur
hinzusetzen!) angereichert wurde durch die Verwertung der von
Herrn Marx vorgetragenen Gesichtspunkte, ab-
Herr Kollege Marx — wenn ich das hier ein-
schließend folgendes sagen: Es hat bisher keine
schalten darf — hat soeben erklärt, das Verhalten
deutsche Regierung für ihre Ostpolitik eine so klare
der Sowjetunion zu den Problemen der ausgewo-
und einhellige Unterstützung im Westen gefunden.
genen beiderseitigen Truppenreduzierungen im Daß dies so ist, erklärt sich aus der seit Bestehen
Anschluß an die Sitzung der NATO in Rom habe der Bundesrepublik kontinuierlich verfolgten
bewiesen, daß die Sowjetunion diese Politik, so wie
Europa- und Bündnispolitik, die von dieser Regie-
sie von der NATO definiert worden sei, nicht mit- rung energisch fortgesetzt wird; das ist ja die
zumachen bereit sei. Kontinuität unserer Politik. Dieser Zusammenhang
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das ist zwischen Osteuropapolitik und Bündnis- und
unrichtig, Herr Außenminister! Lesen Sie Europapolitik wird von denen nicht gesehen, die
das Protokoll!) meinen, unsere Ostpolitik gehe zu Lasten unserer
Westpolitik. Genau das Gegenteil ist der Fall.
— Kein Entgegenkommen in diesem Punkt gezeigt
habe. (Sehr wahr! bei der SPD.)
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ich habe Diese Bundesregierung hat in der europäischen Eini-
gefragt, oh Sie uns sagen können, ob die gung von Anfang an eine vordringliche Aufgabe
Sowjetunion uns nur ein Quant entgegen- gesehen und nie Zweifel daran gelassen, daß der
kommt!) Fortschritt auf diesem Wege zugleich eine Voraus-
-- So ist es, gut. -- Ich will das so beantworten. Sie setzung für eine aktive Politik gegenüber unseren
haben gefragt, und Sie haben durch diese Frage, östlichen Nachbarn ist. Sie hat in ihrer Europa-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode -- 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3239
Bundesminister Scheel
politik Erfolge erzielt, die man sich noch vor einem Es hat sich also gezeigt, daß man den Erfolg des
Jahr nicht hätte träumen lassen. Dabei will ich hier europäischen Einigungswerks gefährdet, wenn man
einschalten — der intellektuellen Redlichkeit hal- das Unerreichbare zum Projekt macht. Dessen muß
ber ---, daß diese Erfolge nicht nur auf die Aktivität man sich gerade jetzt bewußt sein, in einer Zeit, in
der Bundesregierung zurückzuführen sind, sondern der sich die Europapolitik endlich wieder anschickt,
auch darauf, daß bei unseren Partnern Verände- sich von den Rückschlägen der letzten fünfziger und
rungen vor sich gegangen sind. Wer in diesem der ersten sechziger Jahre zu erholen. Diese Tat-
Hohen Hause hatte damals zu hoffen gewagt, daß sache berücksichtigend, sind wir gemeinsam mit un-
wir uns heute mitten in konkreten Beratungen über seren Partnern den Weg des Pragmatismus und des
den Aufbau einer Wirtschafts- und Währungsunion Realismus gegangen, den Weg des Ausgleichs, der
befinden würden und daß am 30. Juni dieses Jahres, zum Teil sehr unterschiedlichen Interessen, mit dem
d. h. in zwei Wochen, die Beitrittsverhandlungen festen Willen, das Ziel eines geeinten Europas mit
mit Großbritannien, Dänemark, Norwegen und Ir- Geduld, aber unbeirrbar weiterzuverfolgen, in jedem
land eröffnet würden. Das ist aber noch nicht alles. Augenblick das jeweils Mögliche anzupacken und es
Wir haben auch auf dem so wichtigen Gebiet der energisch vorwärtszutreiben.
politischen Zusammenarbeit einen neuen Beginn ge-
Bei den Arbeiten, die gegenwärtig unter den Sechs
setzt und substantielle Fortschritte gemacht.
im Gange sind, handelt es sich darum, zunächst einen
wirkungsvollen Mechanismus für qualifizierte Kon-
Welche sind nun unsere Ziele und welche sind
sultationen zu erarbeiten, die über die gegenseitige
unsere Methoden? Das Ziel ist die Politische Union
Berücksichtigung, Abstimmung und Annäherung der
Europas.
Standpunkte bis zur Formulierung gemeinsamer Auf-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) fassungen und schließlich zum gemeinsamen Han-
deln führen. Diese politische Zusammenarbeit soll
Die wirtschaftliche Einigung allein — diese Auffas- entwicklungsfähig sein im Sinne einer sich stufen-
sung ist von allen Bundesregierungen bisher kon- weise verdichtenden Einigung. Bei dem Verfahren,
tinuierlich vertreten worden — ist für eine dauer- das wir im Auge haben, wird bewußt darauf ver-
hafte Einigung Europas nicht ausreichend. Sie be- zichtet, die weiteren Etappen heute schon im ein-
darf der Ergänzung im politischen Bereich, und zwar zelnen festzulegen. Wir sehen die europäische Eini-
aus einem doppelten Grund. Einmal ist das Ziel, das gung als einen dynamischen Entwicklungsprozeß, der
wir mit der europäischen Integration anstreben, ein ständiger Gegenstand des politischen Gesprächs
nicht etwa ein wirtschaftlicher Intressenverband, unter den Beteiligten sein muß. Das politische Eu-
sondern die politische Einheit Europas. Zum ande- ropa wird damit, um den Außenminister eines be-
ren ist es kaum vorstellbar, daß die wirtschaftliche nachbarten Landes einmal zu zitieren, zur „création
Integration, wenn sie, wie wir hoffen, an Intensität continue, zum Gegenstand einer ständigen schöpfe-
zunimmt, ohne zukunftsweisende und langfristig an- rischen Aktion.
gelegte politische Entscheidungen der Regierungen Meine Damen und Herren, ich will hier nicht vor-
auskommt. Aus diesen Gründen duldet der Beginn tragen, was in der Beantwortung der Großen An-
der politischen Zusammenarbeit keinen Aufschub. frage schon gesagt ist. Ich will nur noch ein paar
Wir dürfen jedoch die Augen auch nicht vor der Bemerkungen zur Westeuropapolitik machen und sie
Wirklichkeit verschließen. Aus den enttäuschenden in folgende Thesen fassen.
Erfahrungen der Vergangenheit haben wir lernen
Erstens. Was wir in Europa bis jetzt geschaffen
müssen, daß wir die Probleme Europas der siebzi-
ger Jahre nüchtern und realistisch anfassen müssen, haben, ist viel, ist sogar einzigartig. Nirgends sonst.
wenn wir die von uns allen gleichermaßen ange- in der Welt gibt es ein solches Ausmaß an Zusam-
strebten Fortschritte im europäischen Einigungs- menarbeit und Integration. Die Wirtschafts- und
Währungsunion wird die Gemeinschaftsstaaten noch
werk erreichen wollen.
enger zusammenwachsen lassen. Im gesamten Wirt-
schaftsbereich werden dann Entscheidungen Sache
In den zurückliegenden Jahren haben wir eine der Gemeinschaft sein, auch auf Gebieten, auf denen
Reihe von Plänen und Projekten erlebt, die an den uns allen heute noch die nationale Zuständigkeit als
europäischen Realitäten gescheitert sind. Ich nenne selbstverständlich erscheint.
vor allem die Projekte der Europäischen Verteidi-
gungsgemeinschaft, der Europäischen Politischen Zweitens. Auch die Wirtschafts- und Währungs-
Gemeinschaft und der Europäischen Union, d. h. des union ist kein Ziel für sich. Darüber hinausgreifend
sogenannten Fouchet-Plans. Heute läßt sich wohl müssen wir ein umfassendes Programm des inneren
objektiv feststellen, daß diese Pläne zu ihrer Zeit Aufbaus der Gemeinschaft entwickeln und verwirk-
sehr ehrgeizig waren. So wünschenswert ihre Ver- lichen, durch das Europa zu einer vorbildlichen Zone
wirklichung auch war: Europa war damals, wie uns des Fortschritts wird.
die Erfahrung gelehrt hat, dafür einfach noch nicht Drittens. Europa darf aber nicht nur im Innern, es
reif. Die erforderliche Einstimmigkeit für die Ver- muß auch nach außen wachsen. Gerade in der heuti-
wirklichung all dieser Pläne war nicht zu haben. Ein gen unruhigen und friedlosen Zeit muß es mit
Insistieren auf idealen Lösungen war und ist zum einer Stimme sprechen, und dazu bedarf es der
Scheitern veurteilt. Jeder dieser Fehlschläge aber Mitwirkung Großbritanniens und der anderen bei-
war zugleich ein Rückschlag für Europa und kostete trittswilligen Staaten am Werk der europäischen
einen hohen Preis an verlorener Dynamik, Zuver- Einigung.
sicht und vor allem Zeit. (Beifall bei den Regierungsparteien.)
3240 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Bundesminister Scheel
Viertens. Die Entwicklung politischer Solidarität aus jener Rede herausgeholt, die den Irrtum er-
ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Weiter- wecken könnten, als ob die gegenwärtige Politik
führung des europäischen Einigungswerkes und da- in der Tat nur eine Fortsetzung dessen sei, was wir
für, daß Europa in der Welt den ihm zukommenden damals gemeinsam getragen haben. Lassen Sie mich
Platz einnehmen und seiner Verantwortung gerecht deswegen, ohne daß ich mich im weiteren dabei
werden kann. aufhalten will, mich selbst zu zitieren, wenigstens
zwei Kernsätze aus jener Rede des 17. Juni in die
Fünftens. Unsere Europapolitik folgt dem Prinzip
Erinnerung rufen, die deutlich machen, wo die
demokratischer Willensbildung und ist ohne parla-
mentarische Mitwirkung nicht denkbar. Die institu- Unterschiede liegen.
tionelle Stellung des Europäischen Parlaments muß Der eine Satz heißt:
sorgfältig auf den jeweiligen Stand der entwickel- Entspannung darf nicht auf eine resignierende
ten Zusammenarbeit abgestimmt werden. In diesen Hinnahme oder gar auf eine Besiegelung des
Rahmen gehören auch allgemeine, direkte Wahlen Status quo hinauslaufen.
zum Europäischen Parlament, für welche sich die
(Abg. Baron von Wrangel: Sehr richtig!)
Bundesregierung wie bisher einsetzen wird.
Wo immer in der Welt bei widerstreitenden
Sechstens. Europa ist nicht zuletzt eine Herausfor-
Lebensinteressen der betroffenen Völker der
derung an die Jugend. Was wir jetzt erarbeiten, soll
Status quo als dauerhafte Befriedung mißver-
sie fortführen. Diese Jugend ist vielleicht nüchter-
standen würde, schafft man einen Krankheits-
ner, sie ist jedenfalls kritischer, als wir es gewesen
herd, der jeden Augenblick epidemisch werden
sind. Sie wird Europa nur akzeptieren und seine
kann.
Einheit vollenden, wenn es mehr wird als ein tech-
nokratisches Unternehmen. (Abg. Baron von Wrangel: Sehr richtig!)
(Abg. Dr. Barzel: Ein guter Satz!) Und weiter:
Ich wiederhole, daß wir uns auf Scheinver-
Sie fordert -- und wir mit ihr — eine breit ange-
handlungen nicht einlassen werden, die nur der
legte Demokratisierung, die sich nicht in der Über-
bisher von der freien Welt verweigerten inter-
tragung größerer Befugnisse auf das Europäische
nationalen Anerkennung Ostberlins dienen
Parlament allein erschöpft. Wir müssen deshalb an
einem Europa, das über unsere Generationen hin- sollen.
ausweist, bauen, an einem Europa, in dem gerade Herr Bundeskanzler, ich wäre der letzte, der
auch die Jugend ihre Hoffnungen und Erwartungen gerade an diesem Tag, am 17. Juni, das zarte
verwirklichen und mit dem sie sich identifizieren Pflänzchen, das allenfalls noch vorhanden sein
kann. könnte, einer größeren Übereinstimmung in Sachen
der Außenpolitik zertreten würde. Aber es geht
Lassen Sie mich zum Abschluß folgendes sagen.
einfach nicht an — und die Rede des Herrn Außen-
Die Europäische Gemeinschaft versteht sich als eine
ministers soeben hat es mir wieder ganz deutlich
Ordnung in diesem Teil Europas und zugleich als
gezeigt —, daß wir aneinander vorbeireden. Aber,
Baustein einer neuen friedlichen und stabilen Ord-
Herr Außenminister, wir reden nicht an Ihnen,
nung Gesamteuropas. In diesem Sinne sind die nach
sondern Sie reden an uns vorbei.
Osten und Westen gerichteten Bemühungen der
Bundesregierung Elemente einer einzigen, in sich (Beifall bei der CDU/CSU.)
geschlossenen deutschen Außenpolitik. Sie strebt Ein Satz des Herrn Kollegen Borm heute vor-
ein befriedetes Europa an, in dem auch Deutschland mittag hat mich geradezu erschreckt. Da hieß es, die
seinen Platz finden wird. Lage sei nun einmal so, daß man sich „irgendwie
(Beifall bei den Regierungsparteien.) arrangieren" müsse. Herr Bundeskanzler, ich hoffe,
daß Sie nicht bereit sind, diesen Satz als die Parole
Ihrer Ost- und Deutschlandpolitik zu akzeptieren.
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU.)
CSU hat gebeten, die für die Beantwortung der Irgendwie arrangieren, meine Damen und Herren,
Erklärung des Herrn Bundesaußenministers von ihr mußten und müssen sich leider unsere Landsleute
angemeldete Redezeit von 60 Minuten auf zwei drüben. Wie sollten sie denn sonst leben können?
gleiche Beiträge zur Debatte aufteilen zu dürfen. Wir aber sind freie Menschen, freie Deutsche, und
Zunächst spricht der Herr Abgeordnete Dr. Kie- als solche verantwortlich für das Schicksal drüben.
singer. Wir müssen uns nicht „irgendwie arrangieren", son-
dern wir haben das Recht und die Pflicht, nach einer
Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Herr Präsident! gerechten und dauernden Lösung des Friedens in
Meine Damen und Herren! Ich bin in dieser Debatte Europa zu suchen,
von verschiedenen Rednern auf meine eigene Poli- (Beifall bei der CDU/CSU)
tik in der Zeit der Großen Koalition und insbeson-
die auch die Lösung der deutschen Frage einschließt.
dere auf die in der Tat präziseste Formulierung
dieser Politik, dieser Deutschland- und Ostpolitik Das war auch der Grundtenor meiner damaligen
während der Zeit der Großen Koalition in meiner Rede zum 17. Juni, und ich wünschte, wir stünden
Rede vom 17. Juni 1967 angesprochen worden. Ich noch auf derselben gemeinsamen Grundlage wie
bin daher gezwungen, in einer kurzen Intervention damals;
darauf einzugehen. In diesen Zitaten wurden Sätze (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3241
Dr. h. c. Kiesinger
denn, Herr Bundeskanzler, nicht wir, sondern Sie andersetzung mit der Sowjetunion geradezu selbst-
sind ja von der gemeinsamen Grundlage abgesprun- mörderisch.
gen. Und warum diese verschleiernde Sprache? Soll sie
(Beifall bei der CDU/CSU.) dazu dienen, den übermächtigen Partner, mit dem
Ich will nicht weitschweifig sein. Unsere Bevölke- wir es zu tun haben, bereit zu machen, sich auf .
rung versteht ja vielfach die juristischen Ausein- irgendeinen Vertragstext einzulassen? Sie sprechen
andersetzungen nicht, die wir leider zu führen ge- von den „Realitäten" und übernehmen unbesehen
zwungen sind; aber juristische Auseinandersetzun- die Forderung der Sowjetunion, daß man diese Re-
gen, Herr Bundeskanzler, sind kein Formelkram. alitäten anerkennen soll. Der Herr Außenminister
Vor allem werden sie nicht als Formelkram von hat soeben gesagt, die Sowjetunion habe darauf
jener Macht behandelt und behandelt werden, die bestanden, daß man das Wort „Anerkennung"
damit souverän umzugehen versteht, wenn es gilt, akzeptiere. Sie selber sagen, daß man die reale
juristische Formulierungen in ihrem Sinne in poli- Lage „anerkennen" müsse. Nein, Herr Bundeskanz-
tische Praxis umzusetzen. ler: Wir haben die reale Lage zwar zu erkennen, sie
(Beifall bei der CDU/CSU.) aber nicht rechtlich und politisch anzuerkennen, son-
dern, von der realen Lage ausgehend, diese im Inter-
Lassen Sie mich einen Aspekt aufnehmen, in dem esse des deutschen Volkes zu verbessern.
ich Ihnen im Prinzip zustimme. Sie haben gesagt,
was auch mich als Bundeskanzler umgetrieben hat: (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Was ist der von uns für den europäischen Frieden
Sie mögen mir einwenden: Wie wollen Sie das
zu leistende Beitrag, und zwar unser eigener und,
tun, wie wollen Sie das zustande bringen? Heute
wie Sie sagten, unersetzbarer Beitrag. Jawohl,
früh war hier in einem Beitrag die Rede davon, daß
darum geht es, das ist die Kernfrage der Deutsch-
man eben Millimeter um Millimeter vorwärtskom-
land- und Ostpolitik, und das ist auch die Kernfrage,
men müsse. Meine Damen und Herren, wir haben
zwischen uns.
viel mehr die Sorge, daß die Sowjetunion es ist,
Welches ist dieser unser eigener, dieser unersetz- die nicht nur Millimeter um Millimeter, sondern
liche, durch keine andere Nation, durch kein ande- Meter um Meter in solchen Verhandlungen vor-
res Land zu ersetzende Beitrag, den wir leisten wärtskommen würde.
können? Hier fängt es an, zwischen uns wolkig zu
werden. Wann immer wir versuchen, Sie zu einer (Erneuter lebhafter Beifall bei der CDU/
präzisen Aussage zu bringen, weichen Sie in das CSU.)
Abstrakte aus. Wir sagen Ihnen: Wir wollen auch Ich habe mit großem Interesse das Weißbuch des
— und wir haben ja damit begonnen, es zu wol- Herrn Verteidigungsministers gelesen. Darin stehen
len — einen Gewaltverzicht mit der Sowjetunion. sehr beherzigenswerte Sätze über die wirkliche
Sie nennen aber ganz offenbar einen Vertrag mit der Lage Europas. Der Herr Verteidigungsminister hat
Sowjetunion einen Gewaltverzichtsvertrag, dessen Belaubt, sich an mir reiben zu müssen, weil ich im
eigentliche Substanz, dessen eigentlicher Inhalt Saarland angeblich unverantwortliches Zeug geredet
etwas ganz anderes ist, nämlich, wie wir fürchten hätte.
müssen, die Annahme aller wesentlichen Bedingun- (Zuruf von der SPD: Wie immer!)
gen der Sowjetunion, die wir seit Jahren kennen.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole klipp und
(Beifall bei der CDU/ CSU.)
klar das, was ich dort gesagt habe: Mein Ziel als
Sie sagten und das klingt schön : Gewalt- Bundeskanzler ist es gewesen, zu wirklichen Ver-
verzichtsverträge dürften die Lösung unserer natio- handlungen mit dem Osten zu kommen, sowohl
nalen Frage nicht verbauen. Und Sie fügten hinzu, mit der Sowjetunion als auch mit den Verantwort-
die Sowjetunion habe andere Vorstellungen als wir. lichen im anderen Teil Deutschlands, als auch mit
Gut, das wissen wir gemeinsam. Dann aber kommt Polen. Verhandeln aber heißt, sich entgegenkom-
der gefährliche Satz: Die Sowjetunion kennt auch men, verhandeln heißt, daß nicht der eine Teil vom
diesen Teil unserer Geschäftsgrundlage. Herr Bun- anderen, wie dies bisher ganz offensichtlich ge-
deskanzler, für jeden Juristen ist klar, was „Ge- schieht, verlangt, daß er sich den Bedingungen
schäftsgrundlage" heißt. Geschäftsgrundlage ist beugt. Deswegen habe ich gesagt — und ich sage es
nicht ein einseitiger Vorbehalt eines der beiden wieder hart und klar —: Ich wollte verhandeln, aber
Partner eines Vertrages, sondern ist der zwar im ich wollte nicht zum Befehlsempfang erscheinen,
Vertragstext nicht enthaltene, aber als Fundament (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von
genommene Teil der Verhandlungen, von dem der SPD.)
beide Partner übereinstimmend ausgehen.
Sie sprachen davon, Herr Bundeskanzler, daß man
(Beifall bei der CDU/CSU.)
die Realitäten erkennen und anerkennen müsse, die
Wir haben bei allen Ihren Formulierungen die Bemäntelung der Realitäten dagegen sei kleinlich.
schwere Sorge, daß Sie genau das tun, was Ihr Wir fragen uns: Wer bemäntelt die Realitäten? Ich
Außenminister in sehr deutlichen Worten abgelehnt habe bei anderer Gelegenheit in diesem Hause ge-
hat: daß Sie bereit sein könnten, Vertragstexte, sagt — und im übrigen stelle ich fest, daß auch der
Entwürfe für Vertragstexte zu akzeptieren, in denen Herr Verteidigungsminister ähnlicher Auffassung
beide Parteien jeweils von ihrer einseitigen Voraus- ist --, daß die wirkliche Realität in Europa die ist,
setzung ausgehen. Das aber wäre in der Ausein- daß die Sowjetunion erstens festhalten will, was sie
3242 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode -- 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Dr. h. c. Kiesinger
hat, daß sie das, was sie hat, durch unsere Unter- einem nichtdefensiven Verhalten eben auch kein
schrift und die Zustimmung vieler anderer besie- resignierendes Verhalten, keinen Willen zum„ Sich-
geln will, daß sie darüber hinaus ihren Einfluß auf irgendwie-Arrangieren”, wie es heute Herr Kollege
Westeuropa bis zur Küste des Atlantik ausdehnen Borm ausgedrückt hat.
will und dies zu erreichen versucht durch die Schwä- (Beifall bei der CDU/CSU.)
chung oder gar die Zerstörung des atlantischen
Bündnisses, durch die Verdrängung der amerikani- Im übrigen, wenn wir geschichtliche Überlegun-
schen Truppen vom europäischen Kontinent und gen anstellen: ich bezweifle ganz einfach, Herr Bun-
durch die Verhinderung der westeuropäischen wirt- deskanzler, daß man feststellen kann, es sei alles
schaftlichen und politischen Einigung. Ich glaube immer schlimmer, immer härter geworden. Meine
nicht, daß irgend jemand in diesem Haus, der einen Grundüberzeugung ist es seit langem, daß dort, wo
klaren Blick für die Realitäten in Europa hat, diese der sowjetrussische Soldat in Europa haltgemacht
Zielsetzungen der Sowjetunion leugnen kann. hat — und bedenken wir, das ist nicht nur in Ost-
europa und nicht nur in Mitteleuropa, sondern in
(Beifall bei der CDU/CSU.) Westeuropa; denn die Wartburg liegt in West-
Deswegen wiederhole ich, daß es dieselben Ziel- europa , von Anfang an nach dem Willen der
setzungen sind, die die Sowjetunion auch bei den sowjetrussischen Machthaber auch die neuen Gren-
Verhandlungen mit Ihrer Regierung in Moskau ver- zen ihres Imperiums liegen sollten. Das ist eine
folgt, Herr Bundeskanzler. These, die man natürlich aus allen möglichen Kon-
ferenzverhandlungen bestreiten könnte. Aber einem
Deswegen kann man uns nicht entgegenhalten: tiefer dringenden Blick in die geschichtliche Wirk-
Ihr dürft die Stunde nicht verpassen! Was ist das lichkeit, in die Realitäten, die Krieg und Nachkrieg
für eine Stunde, die wir verpassen könnten? Sie geschaffen haben, kann sich dieser sowjetrussische
reden davon, daß sich die westliche Welt anschicke, imperale Wille, der von Anfang an vorhanden war,
ihre Beziehungen mit dem Osten zu ordnen, zu nicht entziehen.
normalisieren, oder daß sie diese Beziehungen nor-
malisiert habe. Herr Bundeskanzler, diese westliche Herr Bundeskanzler, Sie sagen: Schon andere
Welt ist in einer anderen Situation als wir. Ich wie- Regierungen mußten Grenzen respektieren, schon
derhole, was mein Freund von Guttenberg von andere Regierungen haben erklärt, daß sie keine
dieser Stelle aus gesagt hat: Die westliche Welt hat Gebietsansprüche erhöben. Bitte reden wir doch
die großen Probleme nicht, die zwischen uns und klar und deutlich miteinander! Wollen Sie damit
der Sowjetunion stehen: die deutsche Teilung. Von sagen, daß Sie mit uns wie früher der Meinung sind,
einer Normalisierung unserer Beziehungen, von daß der Ausdruck „Grenzen respektieren" eine
einem Beginn der Normalisierung unserer Bezie- fundamental andere Bedeutung hat als der Aus-
hungen mit der Sowjetunion kann doch wahrlich druck „Grenzen anerkennen"?
erst die Rede sein, wenn es ein Zeichen dafür gibt, (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)
daß sie bereit ist, mit uns gemeinsam einen Weg
WenSisagwol,„Grenzspkti"
zu bahnen, der eine gerechte Lösung der deutschen
oder „Respektierung der territorialen Integrität",
Frage herbeiführt.
das sei der Gewaltverzicht, das bedeutet nur, daß
(Beifall bei der CDU/CSU.) wir bei der Verfolgung unserer nationalen Ziele auf
Dafür haben wir bis jetzt leider nicht das geringste Gewalt verzichten, — Sie brauchen nur dieses er-
Anzeichen. Ich fürchte, Sie selber werden nicht mit lösende Wort zu sprechen, Herr Bundeskanzler, und
allzugroßen Hoffnungen in diese Verhandlungen Sie haben dafür die Zustimmung der Opposition in
gehen können. diesem Hause.
Es ist nun einmal eine Binsenwahrheit, die ich (Beifall bei der CDU/CSU.)
kürzlich mit einem Bismarck-Wort zitiert habe, daß Warum sprechen Sie dieses erlösende Wort nicht?
man in der Politik seine Uhren nicht vorstellen Deswegen, weil Sie glauben, daß man dann in
könne, um die Zeit herbeizuzaubern, in der Handeln Moskau mimosenhaft zurückzucken wird und nicht
möglich ist. 20 Jahre sind eine lange Zeit. Wir haben mehr bereit sein wird, einen Text zu vereinbaren?
in diesen 20 Jahren immer wieder hören müssen, Diesen schillernden Text habe ich nicht veröffent-
wir seien nicht weitergekommen. Meine Damen licht, Herr Bundeskanzler, und auch seine Veröffent-
und Herren, es geht gar nicht so sehr darum, daß lichung nicht veranlaßt, --- um es Ihnen bei dieser
wir in diesem Augenblick weiterkommen, es geht Gelegenheit deutlich zu sagen. Aber er ist uns in-
vielmehr darum, daß wir nicht durch eine falsche zwischen durch den Sprecher der Bundesregierung
Politik weiter zurückfallen. als im großen und ganzen richtig bestätigt worden.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Das sei kein Entwurf, sagt der Herr Außenminister.
Was ist es denn? 40 Stunden lang hat Herr Egon
In meiner Rede zum 17. Juni habe ich gesagt, Bahr mit einem der höchsten Verantwortungsträger
eine rein defensive Politik genüge nicht. Ich stehe der Sowjetunion verhandelt. Glauben Sie denn wirk-
heute noch zu diesem Satz wie zu jedem Satz in lich, daß die Sowjetunion das als ein bloß provi-
jener Rede. sorisches Stückchen Papier ansehen wird? Sie wissen
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.) selbst, daß es anders ist. Sie wissen, daß die Sowjet-
Ich war damals glücklich, mich in der Koalition union auf diesem Text insistiert, wenn es überhaupt
einig zu wissen, daß dies die Grundlage unserer zu einer Abmachung kommen soll. Oder ist es
gemeinsamen Politik sei. Aber ich verstehe unter nicht so? Wenn es nicht so ist, wenn Sie glauben,
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode -- 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3243
Dr. h. c. Kiesinger
daß die Sowjetunion bereit ist, sich zu einer Ände- Nun zur angeblichen Schwächung der Verhand-
rung dieses Textes in unserem Sinne bereit zu fin- lungsposition. Sie haben gesagt, die Regierung sei
den, dann allerdings wäre auch das wieder ein er- verpflichtet, das von ihr als notwendig Erkannte ohne
lösendes Wort. Rücksicht auf die schwache Mehrheit hier im Parla-
ment durchzuführen. Vielleicht haben Sie in Gedan-
Der Außenminister hat hier die Zustimmung der
ken hinzugesetzt: auch ohne Rücksicht auf das
Verbündeten im Schlußkommuniqué von Rom vor-
Votum, das die Bevölkerung von drei Ländern der
gelesen. Sie können diese Zustimmung Wort für
Bundesrepublik am vergangenen Sonntag gefällt
Wort von uns haben, Herr Bundeskanzler. Denn
hat.
selbstverständlich sind wir für Gespräche mit dem
(Zuruf des Abg. Wehner.)
Osten zur Herbeiführung einer Besserung der Lage
in Europa. Die Frage ist: Zu welchen konkreten Herr Bundeskanzler, wenn in einer so säkularen
Maßnahmen, zu welcher konkreten Politik haben Frage wie der Lösung des deutschen Problems und
diese Verbündeten ihre Zustimmung erteilt? der Anbahnung einer europäischen Friedensordnung
(Beifall bei der CDU/CSU.) von irgendeiner Regierung Erfolge erzielt werden
sollen — Sie sind sich doch im klaren darüber, daß
Was wissen sie im einzelnen von den Verhandlun- das auch in Moskau so gedacht wird dann kann
,

gen, die Herr Egon Bahr in Moskau geführt hat? das nur geschehen, wenn sie diese ihre Politik auf
Haben Sie ihnen das gesagt? Was haben Sie dazu eine breite Zustimmung des deutschen Volkes stüt-
gesagt? Wir haben ia auch Ohren in den Haupt- zen kann. Herr Wehner hat kürzlich — einige an-
städten der Welt, und manches spricht sich herum, dere Ihrer Parteifreunde haben es auch getan —
ohne das man Schnüffelei betreiben muß. geglaubt sagen zu können, es gebe zwar in diesem
(Beifall bei der CDU/CSU.) Hause nur eine schwache Mehrheit für Ihre Politik,
inzwischen habe sich aber im deutschen Volk eine
Es hätte dem Herrn Bundesaußenminister wohl an- viel breitere Zustimmung zu dieser Politik ge-
gestanden, wenn er auch Ziffer 4 des Schlußkommu- funden. Herr Bundeskanzler, der vergangene Sonn-
niqués der NATO-Ministerkonferenz vorgelesen tag hat eindeutig das Gegenteil erwiesen!
hätte; denn sie ist untrennbar verbunden mit jener
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
Ziffer 8, in der die allgemeine Zustimmung zu sol-
Ihre Hetze hat Ihnen nicht viel einge
chen, auf den Frieden und auf Entspannung zielen-
bracht! — Weitere Zurufe.)
den Gesprächen ausgedrückt wird. Dort steht näm-
lich der lapidare Satz: Ich will jetzt nicht sagen, was angesichts der An-
schuldigungen notwendig wäre, die auch Sie, Herr
Die Minister bekräftigten, daß der Friede, um
Bundeskanzler, gegen uns erhoben haben.
dauerhaft zu sein, ... auf der Respektierung
des Rechts der europäischen Völker beruhen (Abg. Wehner: Ihre Hetze hat Ihnen nicht
muß, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, ohne viel eingebracht!)
daß sie von außen mit Intervention, Zwang oder Was uns politische nationale,
Nötigung bedroht werden.
(Abg. Wehner: Ja, ja!)
(Beifall bei der CDU/CSU.)
nicht nationalistische Sorge ist, wird uns diffamie-
Herr Bundeskanzler, Sie wollen die Realitäten — das rend als „Nationalismus" vorgeworfen.
war Ihr Wort -- nicht nur erkennen, sondern an-
(Erneuter Zuruf des Abg. Wehner. — Wei
erkennen; Sie wollen zugleich das Unrecht nicht
tere Zurufe von der SPD. — Gegenrufe
anerkennen. Erklären Sie mir den Widerspruch in
von der CDU/CSU.)
diesen beiden Aussagen!
Meine Damen und Herren, ich spreche für jeden
Die Sowjetunion fordert von uns ohne jeden
einzelnen meiner Parteifreunde hier in diesem
Zweifel die Anerkennung, jetzt und in Zukunft, der
Hause
in Europa bestehenden Lage und der bestehenden
Grenzen, auch der zwischen uns und der DDR (Abg. Wehner: Ach! — Weitere Zurufe
sowie der Oder-Neiße-Linie. Die Sowjetunion ver- von der SPD)
tritt die Breschnew-Doktrin — wie oft müssen wir und in unserem ganzen Lande, wenn ich sage: Die
es sagen? —, eine Doktrin, die die Bevölkerungen CDU/CSU hat sich in diesen vergangenen Jahren
des kommunistischen Imperiums dort in ewiger Ge- und Jahrzehnten, seit der Gründung der Bundes-
fangenschaft hält, die ausdrücklich das Selbstbestim- republik, von niemandem, aber auch von gar nie-
mungsrecht im Sinne eines eigenen sowjetisch- mandem darin übertreffen lassen, die Verantwor-
imperialen Völkerrechts einengt. tung für den Frieden und die Freiheit in Europa
voll und ganz wahrzunehmen. Wir wissen, es gibt
Wie wollen Sie sich mit dieser Theorie, mit die-
für dieses deutsche Volk keine Zukunft, es sei denn,
sem Handlungsprinzip der Sowjetunion auseinander-
eine europäische. Das war der Inhalt der ersten
setzen, das sie ja in der Tschechoslowakei so ein-
Rede, die ich Ende 1949 von diesem Platze aus ge-
drucksvoll praktiziert hat? Wie wollen Sie Ihr all-
halten habe, und ich habe daran kein Wort zu
gemeines Credo zum Selbstbestimmungsrecht gegen-
über dieser glasklaren Haltung eines Partners auf-- ändern.
rechterhalten, dessen Ziele wir kennen und über Nun zu dem, was von draußen in der Welt —
dessen Ziele auch Sie sich keine Illusionen machen ich meine jetzt nicht das NATO-Schlußkommuniqué,
können und dürfen? das wir völlig billigen — Ihnen an Zustimmung
3244 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970
Dr. h. c. Kiesinger
entgegenklingen mag: herr Bundeskanzler, Sie sel- lich! Man braucht nur bescheiden anzufangen. Man
ber wissen, daß eine lästige und schwere Frage, die kann sehr wohl
irgendein Volk in die Gemeinschaft der freien Völ- (anhaltende Zurufe von der SPD)
ker einbringt, natürlich oft von den anderen -- und
da schlagen wir bitte auch an unsere eingene einen gemeinsamen Rat von hochrangigen Exper-
Brust — beiseite geschoben wird und oft ein skan- ten der europäischen Staaten zusammenbringen, der
dalon ist, etwas, was man gerne loswerden möchte. in Permanenz tagt und berät und der die Verhand-
lungen der Außenminister gründlich vorbereitet.
Eine große englische Zeitung hat dieser Tage Das allein schon wäre ein hoffnungsvoller Schritt.
geschrieben, nun werde Bundeskanzler Brandt daran
Wie anders wollen Sie denn die Mahnung des
gehindert, die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges
amerikanischen Präsidenten verstehen, der uns erst
zu besiegeln. So werden Sie draußen vielfach ver-
vor kurzem sagte: Dieser Gemeinsame Markt schafft
standen und ich hoffe: mißverstanden —, Herr
für Amerika schwere Probleme, und je größer er
Bundeskanzler. Sie gewinnen die Zustimmung
manches Leitartiklers, manches Kommentators wird, desto schwerer. Wir sind bereit, sagte er, die-
sen Preis zu zahlen, aber dann doch mit der Erwar-
draußen. Das war in den vergangenen Jahren nicht
anders. Lassen Sie mich an eine interessante Be- tung, daß es den Europäern gelingt, eine politische
gebenheit erinnern. Nach dem Wahlsieg der CDU Union zu begründen. Der amerikanische Präsident
hat sicher nicht gehofft, daß uns das in etwa zwan-
1953 hatten wir eine große Debatte in der Beraten-
den Versammlung des Europarats. Da brach es noch zig Jahren gelinge; er hat sicher wie wir gemeint,
einmal auf: das Mißtrauen, der Verdacht, der Arg- daß wir jetzt und hier damit beginnen.
wohn, die Feindschaft. Alles richtete sich gegen (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/
Konrad Adenauer, den Bundeskanzler. CSU.)
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ge-
steuert!) Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.


Er wurde damals als der Vertreter alter, restaura-
liver nationalistischer Kräfte angeklagt und an- Brandt, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine
geprangert. Ich hatte die Ehre, darauf zu antworten. Damen und Herren! Ich weiß nicht, was es mit den
-- Das muß man auch einmal vorübergehend aus- Landtagswahlen auf sich hat.
halten: mißverstanden zu werden.
(Lachen und Zurufe von der CDU, CSU.)
Uns kommt es auf zwei Dinge an, erstens, daß wir
B) eine Politik treiben, die wirklich im Interesse unse- Herr Kollege Kiesinger, wollen Sie bestreiten, daß
die Parteien, die diese Regierung tragen, mehr
res Volkes liegt, und zweitens darauf, daß wir zei-
Stimmen bekommen haben als Ihre Partei?
gen, wo die möglichen Lösungen liegen. Entgegen
Ihrem Pessimismus sind wir der Meinung, daß die (Beifall bei den Regierungsparteien. —
große Lösung in Europa liegt und daß nicht — wie Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)
der Herr Außenminister heute wieder gesagt hat Da können Sie sagen, was Sie wollen, ich habe nichts
und wie auch Sie meinten — im nächsten Jahrzehnt abzustreichen von dem Satz, daß das, worum diese
die wirtschaftliche Einigung komme und dann ir- Regierung sich zumal in der Außenpolitik bemüht,
gendwann einmal in ferner Zukunft die politische. Zustimmung über den Kreis derjenigen hinaus fin-
Der Zeiger steht auf fünf Minuten vor zwölf, Herr det, die diese Parteien wählen. Viele Ihrer Wähler
Bundeskanzler. werden Ihnen auf dem Weg, vor dem hier heute
(Lachen und Zurufe von der SPD.) von Ihnen die Rede ist, in den kommenden Jahren
nicht folgen.
Fünf Minuten vor zwölf, meine Herren!
(Beifall bei den Regierungsparteien. —
(Beifall bei der CDU/CSU. — Erneute Zu- Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Im Gegenteil! Wir
rufe von der SPD.) sprechen uns im Winter wieder! Abg.
Haase [Kassel] : Mut der Verzweiflung! —
Ich hoffe nicht, Sie in wenigen Jahren an diesen Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)
Satz erinnern zu müssen.
Ich hatte schon bei Herrn Marx den Eindruck, daß
(Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : Ja, Sie den- wir heute nicht weit kommen würden.
ken, daß wir in fünf Minuten machen kön-
nen, was Sie in 20 Jahren nicht schaffen!) (Zurufe von der CDU/CSU: Neuwahlen!)
Denn, meine Damen und Herren, was hat es für
Nicht erst spätere Generationen haben die Aufgabe,
einen Sinn, wenn die Opposition sich nach dem
ein politisches Europa — nicht nur zweimalige Kon-
Motto jenes Berliners verhält, der sagt: „nicht mal
sultationen der Außenminister im Jahr — zu schaf-
ingnorieren!" Die Opposition nimmt einfach nicht
fen. Jetzt müssen wir anfangen, Institutionen einzu-
zur Kenntnis, was der Bundeskanzler, was der Bun-
richten!
desaußenminister hier heute vormittag vorgetragen
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von haben.
der SPD.) - (Zurufe von der CDU/CSU.)
Sie sagen, das sei nicht möglich. Herr Bundeskanz Außerdem, verehrter Herr Kiesinger, wie soll
ler und Herr Außenminister, das ist sehr wohl mög- man sich mit jemand verständigen, der in bezug auf
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode --- 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3245

Bundeskanzler Brandt
den innenpolitischen Partner, den Nachfolger, die Kanzler und den Bundesaußenminister hier heute
demokratische Regierung dieses Landes, suggerie- sagt. Dazu wollen wir uns dann gleich einlassen,
ren will, er könne sich zum Befehlsempfänger ande- Herr Bundeskanzler. Zunächst erlauben Sie mir, auf
rer machen wollen? Ich muß das mit Empörung zu- zwei Punkte, die Herr Kollege Scheel hier angeführt
rückweisen. hat, einzugehen.
(Lebhafter Beifall bei den Regierungspar- Herr Kollege Scheel, wenn Sie das, was, wie Herr
teien. — Einzelne Pfui-Rufe bei der SPD. — Kollege Kiesinger hier eben vorgetragen hat, in vie-
Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Wenn man len mühsamen Stunden der Außenminister der Welt-
sich mißverstehen will, muß man es so macht Sowjetunion mit dem persönlichen Bevoll-
machen!) mächtigten und Staatssekretär des Bundeskanzlers
ausgemacht hat, hier nun wechselweise als vertrags-
Damit wir uns hier klar verstehen: es gibt keine
reif, als Notizen oder, wie es heute hieß, nicht ein-
Gemeinsamkeit mit denjenigen, die offen oder ver-
mal als Entwurf bezeichnen, dann wollen wir dies
steckt Volksverrat und Landesverrat rufen lassen,
hier festhalten; denn ich glaube, das ist kein seriö-
wo Leute sich um den Frieden und um eine gute
ser Umgang mit einer Weltmacht, von der Frieden
Zukunft für Deutschland bemühen.
und Schicksal des ganzen deutschen Volkes mit ah-
(Anhaltender lebhafter Beifall bei den hängen, meine Damen und Herren.
Regierungsparteien.)
(Beifall bei der CDU/CSU. — Oh-Rufe bei
den Regierungsparteien.)
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
Und wie können Sie, Herr Bundeskanzler, eigentlich
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel. zugleich erklären lassen — und Ihre Herren im
Presseamt tun mir langsam wirklich leid, was die so
Dr. Barzel (CDU/ CSU): Herr Präsident! Meine alles erklären müssen und dürfen —, dieser Ent-
Damen und Herren! ich glaube, Herr Bundeskanzler, wurf sei verfassungskonform, wenn der Außenmini-
daß das, was Sie hier eben geboten haben, eine Ent- ster sagt, es gebe nicht einmal einen Entwurf?
gleisung gegenüber Ihrem Herrn Vorgänger war. Das zweite. Herr Außenminister, Sie haben den
(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von Kollegen Marx an einer Stelle sicherlich — sagen
der SPD: Unverschämt! — Weitere Zurufe wir einmal — falsch verstanden. Ich will es deshalb
von der SPD.) noch einmal wiederholen, weil es ein Argument ist,
das wir in vielen Debatten dieser Regierung nahe
Wir weisen dies zurück. zubringen versucht haben. Herr Kollege Marx hat
(Zuruf von der SPD: Schulmeisterei! -- versucht, darzutun, daß es ein großer Unterschied
Weitere Zurufe von der SPD.) ist, ob man die Dinge, die bilateral -- falls über-
haupt — mit der DDR, mit Polen, mit der Tschecho-
Wir weisen dies zurück, meine Damen und Herren.
slowakei, mit der Sowjetunion zu regeln sind, in
(Anhaltende Zurufe von der SPD. — Glocke diesen bilateralen Verträgen regelt oder ob man
des Präsidenten.) solche Punkte — und dies haben Sie ja nicht be-
Wir weisen dies zurück, meine Damen und Herren. stritten -- auch zum Gegenstand eines Vertrages
mit der Macht macht, die nach der Breschnew-Dok-
Ich kann allerdings verstehen, daß dem Herrn trin die Hegemonie ausübt. Um es ganz konkret zu
Bundeskanzler der erste Hinweis — und das war sagen: glauben Sie in der Tat, daß der Hinweis auf
ja der seine — auf Landtagswahlen nicht so ganz die Oder-Neiße-Linie in den Vertrag mit der So-
gut bekommen ist. Herr Bundeskanzler, woher Sie wjetunion gehört, oder glauben Sie, daß dies eine
die Kühnheit nehmen, die Stimmen der FDP gleich Frage ist, die mit Polen zu beprechen ist?
bei sich dazuzurechnen, das wird die FDP mit Ihnen
abmachen. (Beifall bei der CDU/CSU.)
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) Das war das, was Marx meinte, und das kann man
eigentlich nicht mißverstehen.
Ich möchte Sie doch einladen, Herr Bundeskanzler,
das zu tun, was in solchen Fällen wohl alle große Herr Bundeskanzler, ich möchte nun gern zur
Parteien machen, nämlich eine Hochrechnung auf das Kenntnis nehmen, daß sich nicht nur ihre erste, die
ganze Bundesgebiet anzustellen. Nach einer Hoch- vorbereitete Einlassung in Ton und Inhalt von
rechnung dieser drei Landtagswahlen ergibt sich — ihrer zweiten unterschied,
ich wollte darüber gar nicht sprechen, aber es ist (Zurufe von den Regierungsparteien: Schul
nun notwendig, Ihnen zu erwidern — eine absolute meister! Oberlehrer!)
Majorität der Sitze in diesem Hause für die CDU,
CSU. sondern unmißverständlich ist, daß der Bun deskanz-
(Beifall bei der CDU/CSU. — Widerspruch ler doch Pflöcke zurückgesetzt hat.
und Lachen bei den Regierungsparteien.) Ich will auf Ihren Vorsatz, den Sie hier erneut
Meine Damen und Herren, ich möchte dann gern bekundet haben, zur Zusammenarbeit mit allen
zu dem Vorwurf Stellung nehmen — und das war- Kräften des Hauses — und Sie haben das Wort von
ja der einzige Versuch zu einem sachlichen Beitrag Konsultationen wohl auch wieder gebraucht — aus-
seitens des Herrn Bundeskanzlers —, wir nähmen drücklich eingehen. Wir freuen uns, so etwas zu
nicht zur Kenntnis, was die Regierung durch den hören, und bleiben natürlich dazu bereit. Sie kön-
3246 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, cien 17. Juni 1970

Dr. Barzel
nen aber nicht erwarten, daß wir auf Grund eines Herr Bundeskanzler, doch zurückweisen, weil ich
solchen Wortes nun etwa eine veränderte Situation glaube. so sollte man mit Freunden und Alliierten
in den sachlichen Kontroversen hier annehmen kön- nicht umgehen.
nen; denn dies ist ein Wort, das wir nun oft aus (Unruhe bei der SPD.)
Ihrem Munde gehört haben und dem sieben Monate
lang ganz andere Fakten entgegenstehen. Sie haben im Zusammenhang mit dem 17. Juni
— dann haben Sie von ähnlichen Erfahrungen am
(Abg. Rasner: Und Wir kennen Herrn
13. August 1961 gesprochen — gesagt: An unserer
Wehner!)
Seite standen als Zuschauer die Drei Mächte. Als
Wir wollen sehen, was diesmal aus dem Wort wird, Zuschauer!
und sind offen, das dann zur Kenntnis zu nehmen (Zuruf des Abg. Mattick.)
und entsprechend zu handeln.
— Herr Mattick, ganz vorsichtig in dieser Frage,
Herr Bundeskanzler, Sie haben ein paar Grund- weil es eine ganz wichtige Frage ist!
sätze aufgestellt, die zum Teil unsere Freunde ge-
funden haben. Ihre verehrte Parlamentarische Zunächst war damals der 'Regierende Bürgermei-
Staatssekretärin hat heute, wie das Bulletin gerade ster von Berlin Willy Brandt. Hat der damals die
mitteilt, in New York in einigen Punkten etwas an- Alliierten zu etwas anderem ermuntert? Oder ist es
deres gesagt. Nun ja! Wir freuen uns, daß Sie wie- nicht vielmehr so, wie mein Vorgänger Heinrich
der von der Wiedervereinigung sprechen, von der Krone, wie ich mich erinnere, in der Debatte nach
nicht mehr zu sprechen Sie in amerikanischen Zei- dem Bau der Mauer, nach dieser Grenzziehung
tungen vorher erklärt haben. Das alles mag gut durch Berlin, gesagt hat: Ohne diese westlichen
sein. Nur: Sie können vielleicht verbal aus jedem Freunde wären die Panzer durchs Brandenburger
Entweder-Oder ein Sowohl-Als-auch machen. Aber Tor hindurchgerollt?
wenn es um die Fakten und um die Vertragstexte (Beifall bei der CDU/CSU.)
geht, dan gibt es ein Entweder-Oder,
Das sind nicht nur Zuschauer; das sind Menschen,
(Abg Dr. h. c. Kiesinger: Sehr richtig!)
die unsere und Berlins Freiheit sichern, und sie
und wenn das gilt, was Sie hier heute gesagt haben sollte man nicht als „Zuschauer" bezeichnen.
und was in den sechs Punkten Ihrer Regierungs- (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)
erklärung steht, dann können Sie gleich das Nein
zu dem in der Presse veröffentlichten Text des Ab- Ich möchte ein paar andere Ausführungen gleich
kommens mitliefern. Beides zugleich geht nämlich anschließen. Sie gehörten eigentlich an den Schluß
nicht. Das muß hier klar sein. und sollten erst kommen, wenn ich unseren Antrag
hier einbringe. Mit dem Blick darauf, daß dieses
(Beifall bei der CDU/CSU.) Haus in 48 Stunden seine Sommerpause beginnt und
Der Bundeskanzler sagt vorher in seiner Erklä- sich auf den September vertagt — bei einem norma-
rung, wir müßten die bestehenden Grenzen zur len Ablauf, ohne den Eintritt von besonderen Ereig-
Kenntnis nehmen. Ich glaube, gegen diesen Satz nissen —, möchte ich doch einiges sagen, damit Sie
hat niemand etwas. Nur: was ist die Wirklichkeit? — ich denke daran an Ihre auf Zusammenarbeit ge-
Nach dem unbestrittenen Text, den die Presse ver- richteten Sätze, Herr Bundeskanzler, und Ihre Töne,
öffentlicht hat, dem Text über einen Vertrag mit die vielleicht darauf gerichtet waren, doch eine brei-
der Sowjetunion — einen Generalvertrag, muß man tere Mehrheit zu finden; wir haben sie natürlich
wohl sagen —, sieht sie anders aus. Da ,steht na- positiv gehört — sich ungefähr auf das einrichten
türlich ganz etwas anderes. Da steht nicht „zur können, was nach unserer Auffassung zu den ver-
Kenntnis nehmen", da steht auch nicht nur „auf- schiedenen Punkten zu sagen ist, die sich während
schreiben, daß man es zur Kenntnis nimmt", son- der Ferien, wo ja die Politik weitergeht, entwickeln
dern da steht, daß man sie achte und auch künftig könnten.
achten werde. Das ist doch eine Verpflichtung, Ich habe hier einen Punkt in die Debatte einzu-
(Zurufe von der SPD — Abg. Rasner: Vor- führen, Herr Bundeskanzler, der vielleicht zunächst
friedensvertrag!) spröde klingt; aber es ist um so brisanter in der
Wirkung, was ich hier dazu zu sagen habe. Diese
die weit über alles das hinausgeht, was den Deutsch- Außenpolitik, meine Damen und Herren, hat, wenn
landvertrag — ich komme darauf noch zu sprechen ich es richtig sehe, weder hier im Hause noch
— und ähnliches betrifft. draußen in der Bevölkerung — so wie sie angelegt
Herr Bundeskanzler, auf einen Punkt Ihrer schrift- ist und geführt wird — eine Mehrheit. Mit der
lichen Erklärung muß ich noch einmal zurückkom- Außenpolitik „sichtbarer Geheimdiplomatie" —
men, weil Sie neulich schon einmal hier in einem Herr Kollege Scheel, da haben wir uns mißverstan-
freien, etwas explosiveren Debattenbeitrag darge- den — habe ich nicht die Indiskretionen gemeint,
tan haben, wo eigentlich der Urgrund eines Stückes sondern die tägliche Mitteilung, daß man Geheimdi-
Ihrer Politik liegt. Sie sagten nämlich, Sie hätten plomatie mache, ohne mitzuteilen, worüber man
plötzlich in Berlin dagestanden und der Vorhang spricht. Das erweckt natürlich alle möglichen Ge-
sei weggewesen. Damals konnte man ahnen, was schichten. Ich meine das „mit der Stoppuhr in der
Sie wirklich veranlaßt, in diesem Tempo und in die- Hand", während man gleichzeitig bei der westlichen
ser Art diese Ostpolitik zu machen. Sie haben das politischen Vereinigung auf die Bremse tritt, wie das
heute noch deutlicher gemacht, und das möchte ich, eben Herr Kollege Kiesinger ja dargetan hat. Diese
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3247
Dr. Barzel
Außenpolitik ohne Gegenleistungen hat hier und im späterer, nämlich friedensvertraglicher Bestätigung
deutschen Volk keine Mehrheit. enthält,
(Zuruf von der SPD: Das glaubst du!) (Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Sehr
wahr!)
Deshalb möchte ich gerne, daß sich diese Regierung
bedarf einer Zweidrittelmehrheit.
die Peinlichkeit und, ich füge hinzu, uns allen das
Risiko erspart, das darin liegen könnte, unter der (Beifall bei der CDU/CSU.)
Überschrift „Gewaltverzichtsvertrag" mit der So-
Wir sagen dies heute so rechtzeitig, damit jeder-
wjetunion etwas auszumachen, was dann hier nicht
mann weiß, in was er sich einläßt, wenn er in die
mehrheitsfähig wäre. Das wäre ein großes Risiko,
Verhandlungen geht, und für den Fall, daß es hier
das diese Regierung einginge.
zu einem Ratifikationsverfahren kommen sollte,
Deshalb möchte ich heute sagen, damit es recht- auch weiß, daß wir hier oder im Auswärtigen Aus-
zeitig gesagt ist — es wäre nicht fair, es später zu schuß die Offenlegung aller verfügbaren Doku-
sagen, sowohl dieser Regierung gegenüber wie mente, Texte, Notizen, Protokollaufzeichnungen ver-
gegenüber den Gesprächspartnern in Ost und langen werden, die etwa bei dem einen oder ande-
West —, daß wir der Meinung sind, daß der Art. 79 ren Verhandlungspartner den Eindruck erweckt ha-
des Grundgesetzes hier in die Betrachtung einzube- ben könnten, jetzt gehe es um materielle Re-
ziehen ist, der Artikel, der bekanntlich vorsieht, daß gelungen, und der Vorbehalt betreffe nur noch spä-
man zweier Drittel der Stimmen des Bundestages tere formelle Bestätigung.
und des Bundesrates für solche völkerrechtlichen Meine Damen und Herren, das ist ein spröder
Verträge bedarf, die entweder eine Friedensrege- Punkt. Aber das ist ein Punkt, der wichtig genug
lung oder die Vorbereitung einer Friedensregelung ist, um ihn jetzt zu nennen. Denn wenn man hier
zum Gegenstand haben. anders verführe, bliebe die deutsche Frage in der
(Abg. Dr. Arndt [Hamburg] : Das steht da Substanz nicht offen. Dann würde von den Rechten
nicht drin! — Abg. Dr. Marx [Kaiserslau- der Alliierten — das gilt für alle vier — nicht einmal
tern] : Dann nehmen Sie mal das Grund- mehr das übrigbleiben, was auf dem Papier steht,
gesetz unter den Arm!) und das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Vol-
kes würde übergangen. Das, meine Damen und
Wir gehen davon aus, daß eine Prüfung der in der Herren, mußte heute hier gesagt werden.
Presse verlautbarten Texte bereits zwingt, Art. 79
zu prüfen und mit heranzuziehen; ich bin sehr vor- Ich freue mich, Herr Bundeskanzler, daß Sie und,
sichtig in dieser Äußerung. falls ich es richtig in Erinnerung habe, Herr Wie-
nand und auch die anderen Sprecher nicht noch ein-
Aber das wird noch erhärtet für den Fall, daß in mal die polemische Frage nach der Alternative ge-
irgendwelchen Texten etwa wirklich das enthalten stellt haben. Herr Kollege Kiesinger hat diese Frage
sein sollte, was Herr Kollege Apel gestern mit dan- sehr deutlich beantwortet. Nicht wir sind irgend-
kenswerter Offenheit in einem Aufsatz, den seine wohin abgesprungen, sondern diese Regierung
Fraktion veröffentlicht hat, so formuliert hat — er macht eine andere Politik. Sie macht eine andere
sagt —: „Die Kombattanten wissen vielmehr, daß Politik,
mit diesen Verhandlungen Abmachungen anvisiert
werden, die spätere Regelungen wenigstens teil- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sehr wahr!)
weise vorformen." Diesen Satz werden unsere west- als sie der Außenminister der Großen Koalition mit
lichen Partner, die Partner des Deutschlandvertra- seinem Namen bis zum Wahltag für richtig gehalten
ges, und die für Berlin Zuständigen sicher im Hin- und mit formuliert hat.
blick auf die Ziffer 4 der publizierten Texte mit be-
sonderer Aufmerksamkeit studieren. Sie werden (Beifall bei der CDU/CSU.)
dabei sicher merken, daß dieser Hinweis, Herr Apel, Wir legen deshalb diesen Antrag vor, um dessen
beweist, daß diesen Rechten unserer Freunde immer Abstimmung wir nicht heute bitten. Wir bitten viel-
weniger Substanz gelassen wird, mehr um das normale Verfahren, also Überweisung
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Leider ist an und Beratung dieses Antrags im Ausschuß, weil
das wahr!) wir hoffen, daß sich ihm in diesen Fragen viele
Kollegen dort anschließen werden.
obwohl diese Rechte weder zur Disposition der deut
Herr Bundeskanzler, ich brauche noch nicht einmal
schen Politik noch zur Disposition des deutschen
auf Ihre Anzeige zurückzukommen, in der Sie sich
Gesetzgebers stehen. Das ist eine Frage, der West-
nun wirklich wider besseres Wissen selbst Lügen
mächte; die werden das schon beachten. Für uns
strafen. Wir verteidigen eine Position, die Sie bis
bedeutet „spätere Regelungen vorformen" : Frie-
zum Wahltag für richtig gehalten und den Wählern
densregelungen vorbereiten, und das zwingt dann,
gegenüber bezogen haben. Wenn Sie das jetzt als
Herr Apel, nach Ihrer Aussage, zur vollen Konse-
Nationalismus, als Rückschritt und Rechtskurs be-
quenz des Art. 79.
zeichnen, sprechen Sie nicht nur wider besseres Wis-
Herr Bundeskanzler, lassen Sie mich hierzu fol- sen, sondern gegen sich selbst, und das ist kein Bei-
genden Satz sagen, damit man von vornherein weiß, trag, um Ihre Glaubwürdigkeit hier oder sonstwo
woran man ist: eine Politik, welche inhaltliche Rege- zu erhöhen.
lungen trifft und nur noch den formellen Vorbehalt (Beifall bei der CDU/CSU.)
3248 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode •— 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Dr. Barzel
Ich möchte gern zum Abschluß völlig klar formu- Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Herr Präsident!
lieren, meine Damen und Herren, was mit unserer Meine Damen und Herren! Ich will jetzt keine Rede
Zustimmung und was nicht mit unserer Zustimmung halten, sondern nur wenige Sätze sagen. Herr Bun-
rechnen kann. deskanzler, Sie haben sich zu Unrecht verletzt ge-
(Zurufe von der SPD.) fühlt. Sie meinten, ich hätte Sie oder diese Regie-
rung beschuldigt, zum Befehlsempfang nach Moskau
— Doch, das bin ich dem Kanzler schuldig, der eine
gehen zu wollen.
Frage an uns gerichtet hat.
(Abg. Wehner: Das haben Sie getan! Mit
(Weitere Zurufe von der SPD.)
einer Unverfrorenheit haben Sie das ge
Meine Damen und Herren, mit unserer Zustim- sagt! — Gegenrufe von der CDU/CSU.)
mung kann eine Politik rechnen, welche erstens das
— Herr Kollege Wehner, es mag sein, daß Sie sich
Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes nicht
wünschen, ich hätte es gesagt, aber ich habe es nun
behindert, sondern den Weg zu seiner Verwirk-
einmal nicht gesagt.
lichung geht; zweitens die politische Einigung des
freien Europa in dieser Generation erstrebt; (Beifall bei der CDU/CSU.)
drittens das Bündnis pflegt und die unter Verbün- Ich habe im Saarland gesagt, meine Erfahrungen bei
deten selbstverständliche Rücksicht nimmt, — ich unseren Verhandlungen mit der Sowjetunion, bei
denke, es ist offenkundig, was hiermit gemeint ist. dem umfangreichen Austausch von Memoranden
(Zuruf.) und Noten, den wir hatten, seien die gewesen, daß
die Sowjetunion als Bedingung für Verhandlungen
— Das kann ich mir nicht vorstellen, daß den Dele- die absolute Unterwerfung unter ihre Forderungen
gierten von Saarbrücken das nicht ganz klar ist, verlangte. Sie wissen, daß das so war und daß Herr
meine Damen und Herren. Gromyko sogar unser friedliches Bemühen um das
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes und
um die Überwindung der Grenzen als einen Verstoß
Viertens ist notwendig, daß v o r allen Unter-
gegen den Gewaltverzicht bezeichnet hat. Ich habe
schriften, nicht vor der Ratifikation, Herr Bundes-
gesagt, bei der Prüfung dieser Situation sei ich zu
kanzler — ich beziehe mich auf die Debatte vom
folgendem Ergebnis gekommen: ich sei zwar bereit
4. Juni —, das freie Berlin gefestigt wird;
zu verhandeln, aber nicht bereit, zum Befehlsemp-
(Beifall bei der CDU/CSU) fang nach Moskau zu gehen.
fünftens eine Politik, die Gewaltverzichtsverträge (Zustimung bei der CDU/CSU. — Zurufe
zustande bringt und unmißverständlich auch ange von der SPD.)
maßte einseitige Gewaltvorbehalte beseitigt; sech-
Mir ist die Sache, um die es hier geht, viel zu ernst,
stens ist notwendig, daß man mit Polen Lösungen,
als daß ich es irgend jemandem erlauben möchte,
nicht aber Formeln findet, und zwar Lösungen,
uns dessen zu bezichtigen, was leider gelegentlich
denen beide Völker zustimmen können;
im anderen Lager geschieht: daß wir nämlich den
(Zurufe von der SPD: Welche Lösungen?) politischen Gegner zu diffamieren versuchen.
siebentens mit den Verantwortlichen in Ostberlin im Das einzige, was ich hinzusetzen kann, ist dies:
Gespräch bleibt und konkrete Ergebnisse für die Herr Bundeskanzler, ich spreche Ihnen die Redlich-
Menschen erreicht; achtens Grenzen für Menschen, keit des politischen Wollens nicht ab, aber ich
Informationen und Meinungen durchlässiger macht; warne Sie: begeben Sie sich nicht in eine Situation,
neuntens auf Gegenleistungen, Vertragstreue und in der Sie sich unversehens wie ein Befehlsempfän-
unzweideutige Abmachungen besteht und zehntens ger behandelt fühlen müßten.
die deutsche Frage in der Substanz offenhält, und
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
zwar nicht nur als einen Bestandteil des Status quo,
sondern als ein Bauelement für eine europäische
Friedensordnung. Das, Herr Bundeskanzler, ist die Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Antwort auf die Frage, die Sie gestellt haben. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Apel.

Wir bedauern, daß Sie heute bei Ihrer zweiten


Dr. Apel (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
Intervention in dieser Art gesprochen haben, in
und Herren! Wir sind dank der Intervention des
einer Art, die leider in der Linie Ihrer Unwahrhei-
Herrn Kollegen Kiesinger und dank der Worte von
ten von Bielefeld liegt.
Herrn Dr. Barzel unversehens doch wieder in eine
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Debatte hineingeraten, die nach meiner Auffassung
Arndt [Hamburg] : Das sind keine Unwahr- nach dem gestrigen Gespräch im Kreise des Kura-
heiten! — Weitere Zurufe von der SPD.) toriums „Unteilbares Deutschland" eigentlich zu
Herr Bundeskanzler, ich möchte Sie von dieser Ende sein sollte.
Stelle aus noch einmal auffordern, das zurückzuneh- (Zuruf des Abg. Dr. h. c. Kiesinger.)
men, um das Klima hier im Hause zu verbessern.
Herr Dr. Kiesinger und Herr Kollege Barzel, bitte
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) erklären Sie mir, was das Wahlergebnis vom ver-
- gangenen Sonntag mit den Mehrheiten in diesem
Bundestag zu tun hat.
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kiesinger. (Zuruf von der CDU/CSU: Warten Sie mal ab!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3249
Dr. Apel
Bitte erklären Sie mir, womit Sie die Aussage be- Es ist doch so, Herr Kollege Barzel, daß in diesem
gründen, daß es in diesem Lande eine Mehrheit für Papier von Herrn Bahr ausdrücklich festgehalten ist,
Ihre Ostpolitik gab. Wissen Sie nicht auch, daß im daß bestehende Verträge davon nicht betroffen sind,
Herbst 1973 in unserem Lande Bilanz gemacht wird daß also juristische Vorbehalte gegeben sind, wenn
und darüber entschieden wird, ob diese Koalition sie auch — das will ich für meine Person hinzufü-
eine gute, eine weniger gute oder eine schlechte gen — politisch keine Relevanz haben können,
Politik gemacht hat? wenn wir vor uns ehrlich sein wollen.
(Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal] : Bundestag Der Kanzler hat sich in den vergangenen Monaten
auflösen!) immer wieder bemüht — und wir sind ihm dafür
Wir lassen uns wenigstens von dieser Art von sehr dankbar —, sich außerhalb der Emotionen und
Argumentation, die Ihnen im Bundesrat — das ist der Polemik zu halten. Aber, meine Damen und Her-
ja wohl entscheidend für die Bundespolitik — keine ren, wir müssen von der Opposition erwarten, wenn
stärkere Position als bisher gebracht hat, nicht be- wir in ruhigere Fahrwasser hineinkommen wollen,
einflussen. daß Sie sich auch einen anderen Ton angewöhnen,
daß Sie intellektuell redlicher argumentieren und
(Abg. Blumenfeld: Wer forderte denn Neu- daß Sie endlich Fakten und politische Aussagen zur
wahlen?) Kenntnis nehmen, damit man nicht immer wieder
Herr Kollege Kiesinger, es fällt schwer, nachdem das sagen muß, was schon zehnmal gesagt worden
Sie diesen Stil und diesen Ton in die Debatte ge- ist.
bracht haben, noch an die Gemeinsamheit zu glau- (Beifall bei den Regierungsparteien. —
ben. Abg. Lemmrich: Sie hätten doch eigentlich
(Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Jetzt kommt Schullehrer werden sollen!)
noch einmal der Schulmeister! — Weitere Herr Kollege Barzel, Sie sind ja von Haus aus
Zurufe von der CDU/CSU.) Jurist. Insofern hat es mich eigentlich sehr gewun-
Sie haben das ja eben hier noch einmal zugespitzt dert, daß Sie die Bedeutung des Art. 79 des Grund-
und haben gesagt: Na, gut, Landesverräter seid ihr gesetzes unzureichend zur Kenntnis genommen ha-
zwar nicht, aber ihr seid so dumm, daß ihr welche ben; denn dieser Artikel sagt, daß nur dann die
werden könntet. Das war zugespitzt ihre Argumen- Zweidrittelmehrheit sein muß, wenn das, was man
tation. an vertraglichen Regelungen anstrebt, die auf dem
(Lebhafter Beifall bei den Regierungs Wege zu einem Friedensvertrag liegen könnten,
parteien.) dem Grundgesetz widerspricht. Das ist der entschei-
dende Punkt. Wir haben doch durch unsere Stel-
Und da muß ich Sie fragen: Halten Sie das für an-
lungnahmen hier immer wieder deutlich gemacht,
ständig? Halten Sie das für würdig? Halten Sie es,
und das ist auch im Bahr-Papier deutlich, daß eben
Ihrem Ansehen in unserer Nation für angemessen,
nach unserer Überzeugung das, was dort fixiert
hier so zu sprechen?
wird, nicht dem Auftrag des Grundgesetzes wider-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) spricht. Das habe ich auch in dem freundlichst zi-
Und dann sagen Sie noch, wir diffamierten Sie! Herr tierten Artikel von mir, der heute oder morgen in
Kollege Barzel, warten wir doch hinsichtlich Biele- „Publik" erscheint, sehr deutlich gemacht, daß eine
feld einmal ab. Wir haben ja einen Gerichtstermin. völkerrechtliche Anerkennung der DDR in unserer
Warten war doch einmal ab; seien Sie nicht zu Politik laut Aussage der Regierungserklärung nicht
selbstsicher. in Frage kommt.
(Zurufe von der CDU/CSU.) Eigentlich hatten wir uns vorgenommen, heute über
Einige Bemerkungen zur Sache selbst. Herr Kol- Europa zu reden, und wir sollten auch zeitlich deut-
lege Barzel, wir haben doch immer wieder deutlich lich machen, daß uns diese Europapolitik sehr am
gemacht, um was es bei dem sogenannten Bahr- Herzen liegt.
Papier geht: ein sehr wichtiges Dokument, das in Lassen Sie mich abschließen. Ich erkläre im Na-
vielstündiger Arbeit zustande gekommen ist, das men meiner Fraktion heute am 17. Juni: wir sind
Ergebnisse und Gesprächsgrundlagen darstellt und uns der Verantwortung für unser Volk bewußt. Wir
insofern in der Tat politisch bedeutsam ist. Aber fordern deswegen die Regierung auf, die sich stets
die Bundesregierung hat doch immer wieder mit dieser Verantwortung bewußt gezeigt hat, ihre
Nachdruck erklärt — nehmen Sie das doch bitte zur Verhandlungen mit der Sowjetunion, mit Polen und
Kenntnis; selbst die Sowjetunion hat das deutlich mit anderen osteuropäischen Ländern fortzusetzen.
gemacht —, daß auf dieser Grundlage Verhandlun- Sie soll die Politik, die unsere Billigung findet, nicht
gen beginnen werden, so wichtig dieses Papier ist. durch diese Debatte beeinträchtigt sehen. Sie wird
Herr Kollege Barzel, Sie sagen, Sie wollten die eines Tages vor diesen Bundestag treten, und dann
Grenzen zur Kenntnis nehmen, und werfen uns vor, werden wir zu entscheiden haben, ob etwas dabei
daß wir in diesem Papier sagen, wir wollten die herausgekommen ist oder nicht.
Grenzen achten und auch künftig achten. Wollen (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Sie denn die Grenzen künftig nicht achten, Herr Kol-
lege Barzel? Das ist doch die Frage, die ich Ihnen - Es ist selbstverständlich, daß die von Herrn Barzel
stellen muß. genannten zehn Punkte dabei beachtet werden kön-
(Beifall hei den Regierungsparteien.) nen.
3250 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Dr. Apel
Lassen Sie uns also, meine Damen und Herren, wie Karlsruhe entscheiden werde sind darin
—:

in Zukunft sachbezogener argumentieren, und las- Verfassungsänderungen enthalten? Man hat gesagt:
sen wir die Emotionen draußen, Herr Kiesinger, las- Für den Fall, daß welche enthalten sind, daß also
sen Sie uns damit aufhören, so wie Sie hart an der der Vertrag die Verfassung durchbricht, soll das im
Grenze der Beleidigung zu argumentieren, sonst Text klargestellt werden.
kommen wir mit Sicherheit nicht zu der Gemeinsam- (Abg. Rasner meldet sich zu einer Zwischen
keit, die durchaus im Interesse dieses Landes ist. frage.)
(Beifall bei den Regierungsparteien. — — Herr Rasner, im Augenblick nicht.
Abg. Lemmrich: Wollen Sie das einmal
Herrn Wehner sagen!) Art. 79 Abs. 1 ist also überhaupt nicht herauszu-
ziehen für die Frage, wann eine Verfassungsände-
rung erforderlich ist. Ich warne davor, so manipu-
Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat
lativ mit Verfassungsargumenten umzugehen. Im
Herr Bundesminister Ehmke.
übrigen hat Herbert Wehner Ihnen schon einmal
gesagt: Gute Reise nach Karlsruhe! Ich halte es
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- nur für unverantwortlich, in dieser Weise eine
gaben: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Situation heraufzubeschwören — das gilt ja auf
Ich bedaure, daß der Kollege Barzel jetzt draußen längere Zeit auch für Sie —, in der man dieses
ist, weil ich mich zunächst zu seinen juristischen Land — das ist, glaube ich, eine der großen Ge-
Ausführungen äußern wollte. Ich weiß zwar, daß fahren Ihrer Politik, wobei ich weiß, daß es unter
Herr Kollege Barzel seine juristische Ausbildung Ihnen sehr verschiedene Meinungen und Nuancen
nicht vollendet hat, gibt; ich mache ein Schwarzweißmalen nicht mit;
(Oho-Rufe von der CDU/CSU) (Abg. Rasner: Denkste! Möchteste!)
trotzdem schmerzt es mich immer Herr Rasner, es sind nicht alle so schlimm wie Sie,
(Abg. Rasner: Herr Brandt auch nicht!) ganz bestimmt nicht —,

— ja, beruhigen Sie sich erst einmal ein bißchen —, (Beifall bei der SPD.)
mit welcher Billigkeit von ihm juristische Argu- in der man diesen Staat praktisch handlungsunfähig
mente gebracht werden, die auch nicht dadurch macht, indem man erklärt: Für diese Dinge, die von
richtiger werden, daß er sie in der glatten Art vor- Ihnen so lange hinausgeschoben worden sind,
bringt, die ihn uns allen so sympatisch macht. braucht man eine Zweidrittelmehrheit.
(Heiterkeit und lebhafter Beifall bei den Ich bin der Meinung, da Sie sich auf Wahlen be-
Regierungsparteien.) rufen — ich verstehe Ihre Freude; herzlichen Glück-
Ich erinnere mich daran, daß der Kollege Barzel wunsch! —, sollten Sie auch die Mehrheit in diesem
bei der Diskussion über den Nichtverbreitungs- Hause respektieren. Auch eine knappe Mehrheit
vertrag anfing, Sohm- „Institutionen" zu zitieren. hat das zu tun, was sie für das Wohl unseres Lan-
Die hatte er wohl aus dem ersten Semester. Ich des für erforderlich hält.
habe mich freundschaftlich mit ihm darüber unter- Nun wäre ich über diese Juristerei schon un-
unterhalten. Er zitierte dort etwas über „error in glücklich genug. Ich muß aber sagen, ich bedauere
objecto" bei Kaufverträgen. Die Klammer, die er die rabulistische Art, mit der Herr Kollege Barzel
in dem Satz weggelassen hat, brachte als ein Bei- auch politische Argumente hier hin- und her- und
spiel, daß man einen Sklaven kauft, es sich aber umgedreht hat.
in Wirklichkeit um eine Sklavin handelt. Das
brachte er als Beispiel für den Fall, daß zwei Partner (Beifall bei den Regierungsparteien.)
einen völkerrechtlichen Vertrag unterschiedlich Der Herr Bundeskanzler hat gesagt,
interpretieren. Ich war damals der Meinung, es sei
(Abg. Lemmrich: Wenn man selber ein Ra
unter dem Niveau, darauf zu antworten, zumal wir
bulistiker ist wie Sie, Herr Ehmke, sollte
das doch eigentlich noch ganz gut auseinander-
man dies nicht anderen andichten!)
halten können.
damals hätten die Alliierten dabeigestanden. Da
(Heiterkeit bei der SPD.)
haben wir alle dabeigestanden, auch die CDU. Un-
Ich sage heute, daß die Berufung auf Art. 79 Abs. 1 ter CDU-Kanzlern ist der fortschreitende Prozeß der
des Grundgesetzes nicht die Spur von Seriosität Teilung Deutschlands hingenommen und respektiert
haben kann. Sie wissen doch, das ist eine Form- worden. Es blieb uns ja gar nichts anderes übrig.
vorschrift. Was macht Herr Barzel daraus? — Er spielt sich auf
(Zurufe von der CDU/CSU.) als die Schutzmacht der Alliierten
— Herr Lenz und Herr Benda, Sie wissen doch, (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs
(Abg. Rasner: Sind Sie der Verfasser des parteien)
Grundgesetzes?) und tut so, als wisse der frühere Regierende Bür-
wie diese Vorschrift in das Grundgesetz hinein- germeister von Berlin nicht, was wir den Alliierten
- in Berlin zu verdanken haben. Das ist Rabulistik.
gekommen ist. Sie kam hinein, als man einen Ver-
trag hatte, von dem man nicht wußte — oder von (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar
dem Sie jedenfalls sagten, man wisse nicht genau, teien.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3251
Bundesminister Dr. Ehmke
Damit kann man keine Politik machen. Und wenn historischen Prozeß, auf den Sie sich sonst immer
wir in diesem Hause dazu kommen, daß wir nicht berufen, hier ignorieren können. Das Problem ist
zur Gemeinsamkeit hinfinden, wird die Überschrift doch dies —
über diesem Kapitel Rainer Barzel heißen.
(Abg. Dr. Wörner: Welches ist denn die
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Schlußfolgerung, die Sie daraus ziehen?)
Abg. Rasner: Wehner heißen!)
— Das sage ich Ihnen gleich; das ist sehr einfach,
Damit komme ich zu der Reaktion, mit der Kol- Herr Wörner. Wenn gute Resolutionen beschlossen
lege Barzel heute morgen auf den Versuch des Bun- würden, dann würden wir sie auch gemeinsam be-
deskanzlers geantwortet hat, die Fronten zu Lok- schließen. Aber was Sie machen, ist doch praktisch
kern. Daß das alles schwierige Probleme sind, daß dies: Sie haben eine Fahne, darauf steht „Menschen-
man verschiedener Meinung sein kann, wissen wir. rechte", darauf stehen Ihre Wünsche, darauf steht
Was macht Herr Barzel? Er geht hier herauf „Selbstbestimmungsrecht". Damit marschieren Sie
und sagt dazu, sehr von oben herab: Das wäre an der Grenzlinie auf und ab und haben dabei ein
zu loben. Dann kommt aber sofort: Na bitte, er gutes Gefühl.
zieht ja schon zurück; jetzt muß er auf unsere (Beifall bei der SPD.)
Position einschwenken. — Stellen Sie sich das als
Wir sind in den Grundsätzen nicht verschiedener
Gemeinsamkeit vor, jeden Versuch, in ein Gespräch
Meinung, Herr Benda. Wir sind vielmehr der Mei-
zu kommen und gemeinsame Positionen zu behal-
nung, es reicht nicht aus, das eigene Gewissen zu be-
ten, so zu beantworten?! — Sie haben gleich groß-
ruhigen, indem man stereotyp Grundsätze wieder-
sprecherisch gesagt: er steckt die Pflöcke zurück. —
holt, ohne seit Jahrzehnten Mittel zu finden, diese
Wir haben nichts zurückzustecken,
Grundsätze zur Anwendung zu bringen.
(Beifall bei den Regierungsparteien)
(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der
weil wir ja doch im Ernst nicht zulassen können, daß CDU/CSU.)
Sie noch einmal 20 Jahre in der Deutschland-Politik
Wir sind der Meinung, daß man dann in die Arena
nichts tun. heruntersteigen und das „schmutzige" und schwie-
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Oho- rige Geschäft machen muß, den Leuten wirklich zu
Rufe von der CDU/CSU.) mehr Rechten zu verhelfen.
(Beifall bei der SPD.)
Ich ziehe aus den Wahlen eine ganz andere Fol-
gerung. Wir haben uns viel zu lange damit aufgehal- Daß das immer und immer wieder zitiert wurde, hat
ten - so fürchte ich, wie der Kollege Barzel, ich keinen Menschen drüben genützt, und das wird auch
rede nur zu ihm, argumentiert hat --, den Versuch in Zukunft nicht nützen.
zu machen, breitere Mehrheiten zu finden. Sie wol-
len nicht. Sie hören nicht unsere Argumente. Wenn (Zuruf von der CDU/CSU.)
der Kanzler den Versuch macht, wird er erst gelobt. Ich greife das Wort von der Alternative auf. Ich
Dann kommt der Tritt und es wird gesagt: Na ja, habe nichts gegen die Grundsätze, die Sie prokla-
jetzt muß er zurück; da ist ja auch nichts hinter. - mieren, wenn Sie dabei nur sagen würden, wie Sie
Da muß sich Ihre Fraktion entscheiden. Wenn Sie denn im Gegensatz zu allem, was wir hinter uns
das so machen wollen, ist klar, daß es keine Gemein- haben, praktisch vorwärtskommen wollen.
samkeit gibt.
(Beifall bei der SPD.) Ich will wie Sie, Herr Dr. Kiesinger, kein Prophet
Wir werden dann die Verantwortung, die uns der sein. Ich sage nur eines, es ist meine persönliche
Wähler und die uns das Amt auferlegt, allein zu Beurteilung: Wenn die Chance, die sich im Augen-
tragen haben. Ich bin der Meinung, daß wir das blick im Rahmen und gewissermaßen auch unter
der Decke der amerikanisch-sowjetischen Gespräche
auch mit sehr gutem politischen Gewissen tun kön-
abzeichnet, verpaßt wird und wir wieder in die
nen, weil mir, Herr Dr. Kiesinger, nämlich einer der
Positionen zurückfallen, die wir als unsere eigenen
großen Unterschiede in der Art, wie an die ostpoliti-
Prinzipien deklarieren und betonen, ohne irgend
schen Fragen herangegangen wird, der zu sein
etwas in der Welt zu ändern, dann werden wir, Herr
scheint, daß die CDU/CSU sich, obgleich man kon-
ser v ativ en Parteien eigentlich eine größere Wirk- Dr. Kiesinger, genau zu dem kommen, was Sie ver-
meiden wollten, nämlich zu einer defensiven Politik.
lichkeitsbezogenheit nachsagt, rein in Deklamatio-
Ich kann Ihnen voraussagen, daß wir dann nach
nen und Formeln bewegen. Ich nenne die wunder-
fünf oder sechs Jahren in der deutschen Politik
barste Formel — Herr Barzel findet sie so schön,
stehen und sagen werden: Hätten wir damals zu-
daß er sie gleich dreimal gesagt hat —: Die deut-
gegriffen und das gemacht, was als Regelung mög-
sche Frage „muß in der Substanz offen bleiben". Sie
lich war. Das sage ich Ihnen als meine Meinung.
glauben doch nicht, Sie könnten, wenn Sie in der
Jedenfalls können mich die 20 Jahre, die wir
Ostpolitik nichts tun, sondern nur Resolutionen auf
hinter uns haben, nicht überzeugen, daß nichts zu
Parteitagen verabschieden, die Probleme so lösen,
tun und immer nur die hehren Prinzipien zu zitieren
daß die Frage „in der Substanz offen bleibt". Sie ist
irgend etwas besser macht.
in den letzten 20 Jahren nicht offen geblieben. Die
Jugend dieser beiden Teile Deutschlands kennt sich (Beifall bei den Regierungsparteien. —
kaum noch. Sie glauben doch nicht, daß Sie den Zurufe von der CDU/CSU.)
3252 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Bundesminister Dr. Ehmke


— Ich würde gern ihre Frage beantworten, aber ich wieder von vorn anzufangen und sich gegen diese
verstehe sie nicht. Gebetsmühlen zu wehren.
(Abg. Blumenfeld: Wohin und wo zuge- Herr Barzel leider ist er nicht hier — gefällt
griffen?) sich dann in rabulistischen Darstellungen, indem er
sagt, die CDU/CSU sei einverstanden, die Grenzen
Auch dort ist doch das Problem: Wir sind uns
zu achten, aber das sei etwas völlig anderes, als
einig, es soll Gewaltverzichtsverträge geben, wir
wenn der Bundeskanzler sage, daß er die Grenzen
wollen zu einer Regelung in Mitteleuropa kommen.
achten werde und sie künftig als unverletzlich an-
Wir wissen, es gilt nach Osten, genauso wie es für
sehe. Meinen Sie denn, wenn Sie sagen, daß Sie
Adenauer nach Westen gegolten hat, daß kein
die Grenzen achten wollen, daß das nur eine Mo-
deutscher Bundeskanzler nachträglich den zweiten
mentaufnahme ist, und wollen Sie gleichzeitig da-
Weltkrieg gewinnen kann. Davon haben wir aus-
mit sagen, daß Sie in Zukunft nicht bereit sind,
zugehen.
diese Aussage weiterhin aufrechtzuerhalten? — Ja,
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Herr Kiesinger, das ist doch aber die logische Folge
Man kann dann auch nicht sagen: Das meinen wir daraus. Das ist doch die eine reine Rabulistik, was
im Prinzip, und, wenn man dann mit einem harten hier getrieben wird, was Herr Barzel hier tut.
Gegner zu verhandeln hat — und ich kann nur
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sagen Sie doch
sagen, es ist in Moskau gut verhandelt worden —,
sagen: Ja, aber hier weichen wir von unseren Prinzi- klar, Sie wollen die Grenzen achten, aber
pien ab. Entweder meint man das ernst — dann muß nicht anerkennen! Dann wissen wir es!
Sagen Sie das Wort!)
man sich klar sein, daß die eigenen Prinzipien nicht
voll durchzusetzen sind —, oder man sollte ganz — Aber verzeihen Sie, die Grenzen achten heißt,
glatt sagen: Wir tun lieber gar nichts, weil wir der daß ich die Grenzen als bestehend sehe. Oder nicht?
Meinung sind, uns mit denen einzulassen führt nur (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Wollen Sie sie
dazu, daß die uns zurückdrücken. Diese Klarheit auch anerkennen?)
müssen wir auch einmal von Ihnen haben. Sonst
haben wir hier viele Stunden lang und mit viel Und wenn ich sage, daß ich diese Grenzen auch künf-
Kraft versucht, Gemeinsamkeiten zu finden, wäh- tig unverletzlich halte, dann bezieht sich das doch
rend ich jetzt nach der Intervention von Kollegen auf Gewalt.
Barzel den Eindruck habe, daß Sie gar nicht daran (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr gut!)
denken, sie zu suchen und uns zu begleiten. Denn verletzen kann man doch nur durch Gewalt.
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Also!
Abg. Rasner: Respekt! Ein treuer Diener (Beifall bei den Regierungsparteien. -- Abg.
seines Herrn! Das kann man nicht anders Dr. h. c. Kiesinger: Sehr gut! Das Wort
sagen!) hätte ich nur gern von dem Herrn Außen
minister selbst gehört!)
Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat — Dann müssen Sie zuhören, Herr Kiesinger! Nur
der Abgeordnete Dr. Rutschke. so ist es aufzufassen: Sie wollen eben in einer Form
Unterschiede konstruieren, die letzten Endes in der
Dr. Rutschke (FDP) : Frau Präsident! Meine sehr Sache überhaupt nicht weiterführen.
verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Barzel Ich hatte mir an sich vorgenommen, hier zur
hat vorhin seine Ausführungen damit geschlossen, Europapolitik zu sprechen. Ich glaube, daß das
daß er bestrebt sei, Erleichterungen des Klimas in zweckmäßiger sein wird; denn ich habe das Gefühl,
diesem Bundeshaus zwischen der Opposition und daß das andere sinnlos ist. Man überzeugt nieman-
den Koalitionsparteien zu erreichen. Auch ich kann den, weil niemand überzeugt werden will. Das ist
nur, wie es eben schon geschehen ist, die Feststel- wirklich schlimm.
lung treffen, daß er genau das Gegenteil dessen (Beifall bei den Regierungsparteien.)
getan hat. Die Polemik, die seit einiger Zeit in ver-
stärktem Maße in dieses Haus eingezogen ist, führt Anlaß für die heutige Debatte sind Vorlagen, die
uns doch nicht weiter. Ich glaube, meine sehr ver- zeigen, daß wir auf dem Weg nach Europa ein ent-
ehrten Damen und Herren, daß wir damit dem An- scheidendes Stück vorwärtsgekommen sind. Wir
sehen dieses Bundestages in der Öff entlichkeit kei- Freien Demokraten sind über diesen Fortschritt be-
nen Gefallen tun, sonders befriedigt; denn hier zeigen sich Früchte
einer Politik, die wir seit langem betrieben und maß-
(Beifall bei den Regierungsparteien) geblich mitgestaltet haben. Es ist seit jeher unsere
sondern daß wir dem Parlament durch diese unsach- Überzeugung, daß die politische Zukunft unseres
liche Polemik schaden. Landes mitbestimmt wird von dem Fortgang der
europäischen Einigungsbewegung.
Die Regierung gibt Antworten auf Fragen, die
von der Opposition gestellt werden. Es hört aber Diese europäische Bindung bedeutet für uns die
von der Opposition offensichtlich niemand zu; denn feste Verankerung unseres Landes mit dem freiheit-
man kommt drei Minuten später mit denselben Fra- lichen und rechtsstaatlichen System des Westens.
-
gen, mit denselben Behauptungen, mit denselben Nur mit dieser Verankerung sehen wir uns in der
Unterstellungen. Dann ist es natürlich sehr schwie- Lage, unsere Blicke auch auf jenen anderen Teil
rig für die Regierung und die Koalitionsparteien, Europas zu richten, der nach dem Krieg in einer für
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3253
Dr. Rutschke
das deutsche Volk besonders schmerzlichen und Die deutschen Interessen lassen sich einfacher
tragischen Weise von uns getrennt worden ist. umschreiben und darstellen: Deutschland mußte
Wenn wir uns heute der Hoffnung hingeben, daß sicherstellen, daß seine finanziellen Belastungen in
es uns gelingen kann, neue Brücken nach Osten zu Grenzen gehalten und die Haushaltsbefugnisse des
schlagen, die unser Verhältnis zu Sowjetrußland Europäischen Parlaments gestärkt wurden. Denn
und den anderen Staaten des östlichen Europas ver- dies letztere ist nach unserer Meinung von besonde-
bessern, wenn wir vielleicht auch einen Hoffnungs- rer Bedeutung für die Entwicklung der Gemein-
schimmer sehen, daß es uns gelingen kann, das Ver- schaft, für ihre politische Selbständigkeit, für ihre
hältnis zum anderen Teil Deutschlands zu normali- Handlungsfähigkeit und für das Eigengewicht, das
sieren — in einem schweren und sicher sehr lang- ihr zunehmend wird zukommen müssen.
wierigen Prozeß, an dessen Beginn wir eben erst
Es ging auch diesmal nicht ohne Marathonver-
stehen —, so war Voraussetzung für dieses Bemü-
handlungen ab. Unseren Unterhändlern — und ich
hen die Zuversicht, daß gleichzeitig das Ineinander
möchte hier neben dem Bundesaußenminister den
wachsen im freien Teil Europas und besonders in-
Bundeslandwirtschaftsminister, aber auch den
nerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
Staatssekretär des Bundesministeriums der Finan-
fortschreiten werde. Diese Symmetrie in der Ent-
zen nennen — sind wir besonderen Dank schuldig.
wicklung unserer Beziehungen nach beiden Seiten
Sie haben Unermüdlichkeit und Verhandlungsge-
ist für die FDP ein kardinaler Punkt ihres politi-
schick bewiesen, womit sie entscheidend zu einem
schen Konzepts.
ausgewogenen und auch für die Bundesrepublik be-
Wie war die Lage im Herbst 1969, als wir mit der friedigenden Ergebnis beigetragen haben.
SPD die Koalition eingingen und diese Regierung
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
bildeten? Die europäische Einigungsbewegung war
festgefahren. Der europäische Gedanke schien er- Ich glaube, es ist kein Zufall, daß mit den Genannten
stickt in bürokratischem Tauziehen um technische drei Freie Demokraten in vorderster Linie diese
Details, um Marktordnungen, von denen der Nor- Schlacht für Europa geschlagen haben.
malbürger dieses Landes wenig oder nichts ver-
steht, von einem kleinlichen Feilschen um Zuge- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
ständnisse und Vorteile. Der große politische Besonders hervorheben möchte ich die folgenden
Schwung schien nach der Krise durch den zeitweili- Punkte: Erstens. Mit der Übertragung der eigenen
gen Auszug Frankreichs aus dem Ministerrat ver- Einnahmen wird die Grundlage für eine neue euro-
loren. Es war offen, ob der europäische Gedanke päische Finanzverfassung geschaffen. Ab 1. Januar
noch eine Zukunft hätte, ob wir jemals aus der Zer- 1971 werden die Matrikularbeiträge an die Gemein-
strittenheit herausfinden würden. schaft mit unbeschränkter Nachschußpflicht abgelöst
Es ist dieser Bundesregierung und ihrer Initiative durch ein ausgewogenes Finanzierungssystem, in
zu danken, wenn wir heute wieder hoffnungsfroher dem zugleich die Lasten begrenzt werden. Dieser
auf das kommende Europa blicken können. Gesichtspunkt scheint mir für den deutschen Steuer-
zahler von besonderem Interesse zu sein. In den
(Beifall bei den Regierungsparteien.) früheren Diskussionen war dieser Gedanke nicht
Schon fünf Wochen nach dem Regierungswechsel oder allenfalls nur in Andeutungen zu finden.
haben Bundeskanzler und Außenminister entschei- Zweitens. Verbunden hiermit ist es gelungen, den
dend zu einem neuen Durchbruch für den europä- Gedanken einer mehrjährigen Finanzplanung im eu-
ischen Gedanken auf der Haager Gipfelkonferenz ropäischen Bereich durchzusetzen. Kernstück dieser
beigetragen. Es ist ihnen gelungen, Frankreich aus Regelung ist eine dreijährige Finanzplanung. Dies
seiner schwankenden Haltung mitzureißen. Daß es bedeutet nicht nur mehr Vorausschaubarkeit und
nicht bei einem Lippenbekenntnis geblieben ist, mehr Sicherheit für die Entwicklung in Europa. Es
haben die Verhandlungen im EWG-Ministerrat gibt auch den Partnerländern und vor allem uns
während des letzten Winters gezeigt. Es ging dar- selbst eine Grundlage für unsere eigenen Haushalts-
um, die Gemeinschaft zu vervollständigen und zu und Finanzplanungen. Das Damoklesschwert der un-
vertiefen, um den Weg für die Erweiterung frei- vorhersehbar und ins Ungemessene wachsenden
zumachen. Es galt, ein Bündel von Interessen in Nachschußpflichten an europäische Fonds ist besei-
einen ausgewogenen Kompromiß aufzulösen. Die tigt worden.
schwersten Brocken, die dabei aus dem Weg ge-
räumt werden mußten, waren die Beschlußfassungen Drittens. Mit der Übertragung eigener Einnahmen
über die Agrarmarktordnungen für Tabak und und der Verstärkung der Haushaltsbefugnisse des
Wein, auf die Italien auf Grund eines Ratsbeschlus- Europäischen Parlaments wird endlich auch im euro-
ses vom Mai 1960 einen Anspruch erhob. päischen Bereich das originärste parlamentarische
Recht, das Budgetrecht, mit einem ersten Schritt
Gleichzeitig mußte die endgültige Finanzierungs-
eingeführt.
regelung für den Agrarmarkt im ganzen gefunden
(Beifall bei der FDP.)
werden, auf der Frankreich bestand, bevor über die
Erweiterung • der Gemeinschaft verhandelt werden Ich brauche hier nicht zu unterstreichen, was das
konnte. Auch Frankreich konnte sich auf eine bedeutet, denn in der geschichtlichen Entwicklung
Grundsatzregelung in Art. 2 der bekannten Finanz-- des Parlamentarismus spielt das Haushaltsrecht eine
verordnung Nr. 25 berufen, die im Jahre 1962 vom überragende Rolle. Und ,ich bin sicher, daß das in
Ministerrat verabschiedet worden war. Zukunft nicht anders sein wird.
3254 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970
Dr. Rutschke
In der Interimszeit, also vom 1. Januar 1971 bis berechtigten Interessen nachdrücklich zu vertreten.
31. Dezember 1974, hat noch der Ministerrat das Wir haben die Zuversicht, daß 'dies bei dem Ver-
letzte Wort beim Europäischen Parlament Eine handlungsgeschick, da's unsere Unterhändler bei den
weitergehende Befugnis für das Europäische Parla- Verhandlungen im letzten halben Jahr bewiesen
ment wäre wünschenswert. Sie ließ sich aber ange- haben,gliwrd.
sichts des Widerstandes der anderen Mitgliedstaa-
ten noch nicht durchsetzen. Ich möchte an dieser Der Vorteil Europas für den europäischen Ver-
Stelle die Bundesregierung auffordern, diesem braucher darf nicht durch untragbare Belastungen
Punkt ihre besondere Aufmerksamkeit zu widmen für den europäischen Steuerzahler erkauft werden.
und bei günstiger Gelegenheit neue Vorstöße zu Andererseits wissen wir aber auch, daß die euro-
päische Einigung ihren Preis hat und einen Preis
unternehmen, damit wir in diesem kardinalen
Punkt baldmöglichst weitere Fortschritte verzeich- wert ist.
nen können. Um eines ganz klar zu sagen: die Erweiterung
und Vollendung der Europäischen Wirtschaftsge-
Viertens. Mit den Marktordnungen für Tabak und meinschaft ist nur vordergründig eine vorwiegend
Wein ist der Agrarsektor in dieser europäischen wirtschaftliche Frage. Sie ist ihrem Kern nach eine
Verhandlungsrunde weitgehend bereinigt worden. politische Frage, und zwar eine politische Existenz-
Besonders bedeutsam waren die Verordnungen auf frage dieses Kontinents. Die Freien Demokraten
dem Tabaksektor, denn hier verknüpfen sich Markt- begrüßen die Gesetzesvorlage und werden ihr zu-
ordnungsprobleme mit großen Steuerproblemen. stimmen. Wir sehen darin eine Ermutigung und
Wir haben verhindern können, daß wir uns dem Ermunterung. Wir werden fortfahren, auf der
Diktat anderen Verbrauchergeschmacks unterwer- Grundlage der fortschreitenden europäischen Eini-
fen müssen, und wir haben sichergestellt, daß un- gung zur Entspannung in Europa — und ich meine
sere Handelsbeziehungen zu dritten Ländern nicht hier ganz Europa — entscheidend beizutragen. So
gestört werden. verstehen wir europäische Politik und deutsche Poli-
Bei der Verabschiedung der Weinmarktordnung tik, denn deutsche Politik muß immer Europapolitik
hat es äußerst schwieriger und zäher Verhandlun- sein.
gen von Minister Ertl bedurft, um sowohl die Inter- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
essen der deutschen Verbraucher als auch die Inter-
essen der deutschen Weinanbauer zu wahren. Der
deutsche Wein hat in der Welt 'seine Qualitätsgel- Vizepräsident Frau Funcke: Meine Damen
und Herren, der Ältestenrat war für 14 Uhr einberu-
tung, und er wird sie unter den neuen Marktord-
nungen behalten und sogar noch ausbauen können. fen. Er tritt zusammen, sobald das Plenum zu Ende
ist. Wir haben noch neun Redner, mehrere mit ver-
Diesen Teil der Einigungsfortschritte im Bereich längerter Redezeit; es wird sich also wohl noch eine
der Agrarmarktordnungen, der von diesem Hausse Weile hinziehen.
nicht ratifiziert zu werden braucht, muß man ken- Das Wort hat der Herr Abgeordnete von Wran-
nen, wenn man , das Gesamtwerk würdigen will, von gel.
dem hier ein entscheidender Teil auf dem Tisch
liegt.
Baron von Wrangel (CDU/CSU) : Frau Präsi-
Meine Damen und Herren, so begrüßenswert dentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte es be-
diese Fortschritte für den Gemeinsamen Markt der grüßt, wenn wir diese Debatte dazu benutzen könn-
Sechs sind, wesentlich bedeutsamer ist noch, daß ten, die europäischen Probleme jetzt hier zu vertie-
damit der Schlüssel für das Tor gefunden ist, durch fen.
das weitere Länder Eingang in die Gemeinschaft (Zurufe von der SPD: Das hätten wir auch
finden können und sollen. Die Freien Demokraten begrüßt!)
begrüßen es in ganz besonderer Weise, daß in die-
sem Sommer endlich ein neuer Anlauf unternom- Aber, meine Damen und Herren von der SPD, nach
men wird. Wir hoffen sehr, daß nun der Beitritt der Rede, die Herr Professor Ehmke hier gehalten
Großbritanniens und der anderen beitrittswilligen hat, sind wir gezwungen, diesen Teil der Debatte
Länder, Dänemark, Norwegen und Irland, gelingen fortzusetzen; denn dies war eine Rede nach dem
möge. Wir möchten den Herrn Bundeskanzler und Motto „Haltet den Dieb!", es war ein billiger Ver-
den Herrn Außenminister insbesondere darum bit- such, so zu tun, als sei die Gemeinsamkeit in die-
ten, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, diesen sem Hause von der CDU/CSU aufgekündigt worden.
Erfolg herbeizuführen. Wir wissen, daß die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Herms
handlungen schwierig sein werden. Wir wissen, daß dorf [Cuxhaven]: Es ist auch so!)
viele technische, im einzelnen äußerst schwierige
Probleme gelöst werden .müssen. Es war ein billiger Versuch, Herr Kollege Wehner,
Herrn Barzel als Popanz aufzubauen, obwohl Sie es
Wir wissen 'aber auch, daß es gilt, entscheidende doch gewesen sind, der die Gemeinsamkeit in die-
berechtigte 'deutsche Interessen zu wahren, und daß sem Hause mit Ihren letzten Reden aufgekündigt
wir uns auch hier wieder mit einer gewissen Ge- hat.
duld wappnen müssen. Die neu eröffnete Chance, - (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
die Gemeinschaft auf ein größeres Europa zu erwei- Davon verstehen Sie nichts! — Abg. Ras
tern, darf nicht verspielt werden. Dieser Zwang darf ner: Der Wähler hat es quittiert! — Abg.
uns aber andererseits nicht davon abhalten, unsere Dr. Apel: Warten Sie doch einmal ab!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3255
Baron von Wrangel
Ich muß darüber hinaus feststellen, daß auch trastprogramm zu jener monotonen Hetze ist, wie
heute weder der Herr Bundeskanzler noch der wir sie drüben erleben.
Herr Bundesaußenminister auf die zehn Punkte ein- (Zurufe von der SPD.)
gegangen sind, die hier vom Vorsitzenden der
CDU/ CSU-Bundestagsfraktion nicht zum erstenmal Ich brauche Herrn Dr. Kiesinger nicht noch einmal
genannt worden sind. Und, Herr Kollege Wehner, zu interpretieren. Festzuhalten bleibt, daß Dr. Kie-
wenn Sie sagen, davon verstünde ich nichts, so kann singer die Streitfragen, von denen wir wissen, daß
ich nur wiederholen: Sie sind nach Ihren Reden be- sie im Augenblick leider nicht gelöst werden kön-
stimmt nicht mein Lehrmeister, und ich werde mir nen, einem Friedensvertrag vorbehalten lassen
von Ihnen auch nicht diese Maßstäbe setzen lassen. wollte und will. Sie wollen sich möglicherweise aber
Sie befinden nicht darüber, wovon ich etwas ver- schon in eine Verhandlungsphase begeben, in der —
stehe und wovon nicht. jedenfalls nach dem, was wir vom Bahr-Papier wis-
sen — nun eben doch so etwas wie ein Minifriedens-
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Apel: vertrag paraphiert wird. Es ist doch die Pflicht der
Das ist auch hoffnungslos!) Bundesregierung, den Nachweis zu erbringen — ich
will mich hier gar nicht weiter mit der juristischen
Meine Damen und Herren, nach dem Versuch von
Auslegung des Art. 79 beschäftigen —, daß das, was
Herrn Ehmke, in einer Mischung von professoraler
wir von den sogenannten Bahr-Papieren wissen, in
Arroganz und vordergründiger Polemik mit uns her-
der Substanz falsch ist. Wenn es richtig ist, befinden
umzurechten,
wir uns in einer Situation, in der dies alles — ich
(Lachen und Zuruf von der SPD: Das macht will mich vorsichtig ausdrücken — involviert sein
Herr Barzel!) könnte.
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
kann man nur feststellen: ich habe gerade heute
wieder den Eindruck bekommen, als handle diese Ich will jetzt nicht die Märchenstunden wieder-
Regierung nach dein Motto „Maxi-Deklamationen holen, die. hier andere über die Politik der Vergan-
und Mini-Aussagen" von sich zu geben. genheit immer wieder inszenieren, vielleicht um sich
(Zurufe von der SPD: Ha, ha!) ein tagespolitisches Alibi zu verschaffen, sondern
ich will nur eins sagen. Herr Professor Ehmke hat
Wir haben heute morgen erlebt, daß der Bundes- hier erklärt: Wenn wir die Gelegenheit heute nicht
kanzler wieder einmal von der Kontinuität und von ergreifen, wird vielleicht morgen oder übermorgen
der Gemeinsamkeit und der Notwendigkeit einer oder in fünf Jahren wieder die Rede von verpaßten
Gemeinsamkeit gesprochen hat. Ich glaube doch, Chancen sein. -- Meine Damen und Herren, wo
daß es gut gewesen wäre, wenn der Bundeskanzler sind denn die Chancen? Wo ist es denn gelungen,
von sich aus gesagt hätte, was er denn nun genau etwas für die Menschen zu erreichen? Wir bedau-
unter dieser Gemeinsamkeit versteht. Er ist auch ern es mit Ihnen, daß es nicht gelungen ist. Aber
in seiner kurzen polemischen Intervention die not- tun Sie doch nicht so, als würde es Ihnen trotzdem
wendigen klaren Antworten schuldig geblieben. Ich gelingen!
frage mich außerdem gerade nach dieser Rede des
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Rutschke:
Bundeskanzlers und — wenn man so will — auch
Warten Sie doch mal ab!)
gerade nach dem, was hier vom Kollegen Marx,
von Herrn Dr. Kiesinger, von Herrn Dr. Barzel ge- Das ist doch eine Irreführung der öffentlichen Mei-
sagt worden ist, warum diese Regierung und diese nung.
Koalition nicht bereit sind, wenn sie die Gemein- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Es gibt
samkeit wollen, mit uns z. B. eine gemeinsame Reso- manche Leute, für die ist nichts sicherer als
lution zu verabschieden, eine Resolution auf der die Zukunft und nichts ungewisser als die
Grundlage der Politik der letzten zwanzig Jahre. Vergangenheit!)
Diese Weigerung muß doch einen Grund haben. Wir sind der Meinung, daß gerade in Fragen, die
(Zurufe von der SPD.) das Selbstbestimmungsrecht unseres Volkes betref-
fen, es eben auch in verbalen Einlassungen nicht
— Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie so etwas wie eine Resignation geben darf. Wenn
es als Pamphlet bezeichnen, dann denke ich z. B. an eines Tages die Resignation in diesem Lande trium-
die Resolution vom 26. September 1968, die ja Ihre phiert, sind doch die ersten Zeichen gesetzt, mög-
Zustimmung gefunden hat. Wenn das heute ein licherweise eben auch die Zeichen für eine Begren-
Pamphlet ist, dann fällt es auf Sie selber zurück. zung und Beschränkung der Freiheit in der Bundes-
republik selbst.
Wir haben heute über den 17. Juni gesprochen,
und es wäre vielleicht Anlaß, hier auch einmal zu Abschließend möchte ich vier Kriterien nennen,
erwähnen, daß wir als Opposition in diesem Hause von denen ich glaube, daß man sie beachten sollte.
eine Kontrollfunktion wahrzunehmen haben, um so Erstens. Herr Außenminister, was nützt und was
mehr, als sich große Teile der Koalition offenbar nur schadet diese Politik, in der Sie z. B. — das muß
noch als Hilfstruppe der Regierung betrachten. man hier noch einmal deutlich sagen — in diploma-
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) tischen Verhandlungen das Selbstbestimmungsrecht
verschweigen und hier im Hause postulieren? Was
lch würde dann sagen, daß auch eine solche kontro- soll diese Politik dem Selbstbestimmungsrecht des
verse Diskussion durchaus ein demokratisches Kon- deutschen Volkes nützen? Durch diese Politik wer-
3256 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Baron von Wrangel


den doch Erwartungen geweckt, deren Erfüllung zur Behrendt (SPD) : Frau Präsidentin! Meine Damen
Demontage des Selbstbestimmungsrechts führen und Herren! Ich hatte allerdings den Eindruck, daß
würde. Erfüllen Sie diese Erwartungen aber nicht, wir vereinbart hatten, heute überwiegend über die
dann leiten Sie sicherlich eine neue Phase des kalten Europapolitik sprechen zu wollen.
Krieges ein. Eines von beiden ist aber nur möglich.
(Sehr gut! hei der SPD. — Zurufe von der
Zweites Kriterium: was nützt und was schadet CDU/CSU.)
eine solche Politik den Menschen? Doch gewiß nicht
eine Politik, deren Verhandlungsmethode so ange- Ich hoffe nicht, sage ich sehr vorsichtig, daß man
legt ist, daß die andere Seite mögliche Opfer kennt daraus Rückschlüsse ziehen muß in bezug auf Ihren
und genau weiß, daß diese Bundesregierung eben Willen, die westeuropäische Integration voranzu-
vielleicht doch bereit ist, diese Barrieren anzuerken- treiben. Ich hoffe das nicht.
nen, die das Fundament für eine unmenschliche Poli- Lassen Sie mich daher zum Thema kommen. Als
tik sind. die Koalitionsfraktionen beantragt hatten, heute am
Drittes Kriterium: was nützt und was schadet diese 17. Juni eine Debatte über die Europapolitik zu
Politik dem Status von Berlin? Die Festschreibung führen, geschah das nicht ohne Grund. Wir wollten
von Grenzen, so wie sie in den Bahr-Papieren steht, und wir wollen den für uns selbstverständlichen
bedeutet doch in jedem Fall, daß Berlin juristisch Zusammenhang zwischen der westeuropäischen
und politisch einen Status quo minus erhält. Integration und den Bemühungen um engere Be-
ziehen zu dem anderen Teil Deutschlands und zu
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Und be- den osteuropäischen Völkern gerade dadurch de-
deutet, daß Ostberlin die Hauptstadt der monstrieren, daß wir die Europapolitik gerade an
DDR ist!) dem Tag zur Diskussion stellen, an dem die Einheit
der deutschen Nation zum Ausdruck kommt.
Deshalb sagen wir ganz deutlich, man müsse zu-
nächst einmal die Sondierungen der Alliierten ab- Bei der Opposition hatten zur zunächst einige
warten. Schwierigkeiten zu überwinden. Später hat sie es
dann als ganz glücklich empfunden, daß sie heute
Wir fragen viertens: was schadet und was nützt
Gelegenheit fand, die Debatte über die Große An-
diese Politik der Bundesrepublik Deutschland selbst?
frage zur Außen-, Ost- und Deutschlandpolitik fort-
Wenn wir uns in dieser Weise in die Defensive be- zusetzen. Bei der Behandlung der Großen Anfrage
geben, dann muß doch eine Situation eintreten, in hat die Opposition Wert darauf gelegt, daß keine
der der Bundesrepublik Deutschland im Wettkampf Trennung zwischen den einzelnen Komplexen dieser
der Systeme das notwendige Instrumentarium ge Anfrage vorgenommen, sondern daß sie alle ge-
nommen wird, um diesen Wettkampf friedlich zu ge- meinsam diskutiert werden. Der bisherige Verlauf
winnen. der Diskussion allerdings hat deutlich gemacht, daß
(Zurufe des Abg. Mattick.) die CDU/CSU keineswegs die Auffassung der Regie-
Und weiter: die Festschreibung der Grenzen — es rung oder auch der Koalition loben wollte, die
wurde schon angedeutet -- bedeutet ja doch, Herr Bemühungen um engere Beziehungen zwischen den
Kollege Mattick, daß möglicherweise bei der ideolo- beiden Teilen Deutschlands und um die westeuro-
gisch-aggressiven Struktur der Sowjetunion es mög- päische Integration in einem engen Zusammenhang
lich sein könnte, daß man versuchen will, die euro- zu sehen. Im Gegenteil: die CDU/CSU hat sich be-
päische Politik einem sowjetischen Veto auszuset- müht, einen Gegensatz zwischen der Deutschland-
zen. Dies will und wird die CDU/CSU nicht mit- und Ostpolitik einerseits und der Europapolitik an-
machen. dererseits zu konstruieren. Wir halten die Konstruk-
(Beifall bei der CDU/CSU.) tioneslchGgatzfürsch.

Wir vertreten eine Politik des vernünftigen Aus- Eine aktive Politik mit dem Ziel der Verbesse-
gleichs, und wir sind auch hier bereit zu kooperie- rung unseres Verhältnisses sowohl zum anderen
ren. Wir wollen eine Politik der klaren Bekennt- Teil Deutschlands als auch zu den osteuropäischen
nisse. Wir wollen eine Politik, die der Bundesrepu- Staaten ist nur möglich, wenn sie eingebettet ist
blik Deutschland mindestens Chancengleichheit er- in eine aktive Politik um die Festigung der Euro-
hält. Wir wollen eine Politik weiterentwickeln, die päischen Gemeinschaft. Aber auch umgekehrt gilt:
in Jahrzehnten zu den gemeinsamen Grundsätzen Fortschritte in der friedlichen Entwicklung West-
dieses Hohen Hauses gehört hat. Wir wollen eine europas erfordern eine Politik der Entspannung und
Politik der Klarheit. Dies ist doch die Alternative des Ausgleichs gegenüber dem Osten.
der CDU/CSU. Die Bundesregierung, Herr Bundes- Das Rezept der heutigen Opposition hat Jahre
kanzler, muß hier die Rückkehr antreten, wenn die hindurch darin bestanden, daß es immer nur eine
Bundesrepublik als Ganzes eine glaubwürdige Poli- Betonung der Westpolitik gegeben hat, während
tik betreiben will. jahrelang — vieleicht durch die politischen Um-
(Beifall bei der CDU/CSU.) stände begünstig oder mitbestimmt — die Politik
gegenüber dem Osten vernachlässigt worden ist.
Erst in der Amtszeit des Außenministers Dr. Schrö-
-
Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der gab es erste Anzeichen einer Änderung. In der
der Abgeordnete Behrendt. Es sind 40 Minuten Rede- Zeit der Großen Koalition ist dann durch das Wir-
zeit beantragt. ken des damaligen Außenministers und heutigen
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode - 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3257

Behrendt
Bundeskanzlers Willy Brandt das Klima merklich Aufgabe die Erweiterung der Gemeinschaft und ihr
verbessert worden. innerer Ausbau vor uns. Dieses Ziel kann aber
nicht, wie die Opposition vorträgt, durch eine Po-
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ach so!)
litik der Maximalforderungen, des Alles oder Nichts
— Wir setzen — Herr Kiesinger, ich komme gleich erreicht werden. Es kann auch nicht erreicht werden,
noch zu Ihnen — heute die vom damaligen Außen- wenn man sich durch ein verbindliches Aktions- und
minister begonnene Politik unter seiner Kanzler- Zeitprogramm selbst die Hände bindet. Das sollte
schaft konsequent fort. eigentlich niemand besser wissen als die heutige
Opposition, die bis vor kurzem — noch vor einem
Dabei ist es nicht so, als hätte die Bundesregie-
halben Jahr — Regierungspartei gewesen ist. Wie
rung Mühe, unsere Partnerstaaten von der Richtig-
oft hat man doch über Plänen gebrütet und ver-
keit dieser Politik zu überzeugen, oder wie dies
bindliche Programme auszuarbeiten versucht. Wie
von Unionspolitikern aus Zweckmäßigkeitsgründen
oft ist man dabei gescheitert, und wie lief war die
ohne Nennung von Beweisen immer wieder aus-
Enttäuschung! Diese Politik hat schließlich in eine
gestreut wird -- als gäbe es gegen unsere Ost-
lange Phase der Stagnation geführt.
politik Bedenken. Im Gegenteil: lange vor der
Bundesrepublik Deutschland haben unsere west- Ich verstehe eigentlich nicht recht, wie sich gerade
europäischen Partnerländer von sich aus eine Ver- die CDU/CSU mit anklagender Geste gegen die
besserung der politischen Beziehungen zu den Ost- Bundesregierung wenden kann, nachdem sie selbst
blockländern angestrebt. Ich muß wohl nicht beson- als Regierungspartei die enttäuschende Stagnation
ders daran erinnern, daß es der von Ihnen, meine nicht hat überwinden können.
Damen und Herren von der CDU/CSU, immer sehr (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Sehr richtig!)
kochgeschätzte frühere französische Staatspräsident
Charles de Gaulle war, der als erster und am inten- Es war ja schließlich diese Bundesregierung, die die
sivsten um eine solche Verbesserung der Beziehun- Stagnation weitgehend durch ihre Aktivität über-
gen bemüht gewesen ist. Mangelnde politische winden konnte. Es war schließlich diese Bundesre-
Aktivität auf diesem Felde hätte uns nicht Beifall, gierung, deren Politik die Gipfelkonferenz von Den
sondern Isolierung eingetragen. Haag zu einem Erfolg hat werden lassen, wie wir
ihn in den 60er Jahren unter der politischen Füh-
Unsere Politik hat zum Ziel, eines Tages alle
rung der Unionsparteien vergeblich herbeige-
historisch und kulturell zusammengehörenden euro-
wünscht haben. Ich erinnere — wie der Bundes-
päischen Völker in einer neuen, die nationalen
außenminister — an die Verhandlungen im Fou-
Gegensätze überwindenden Struktur zusammenzu-
chet-Ausschuß. Ich erinnere an das gescheiterte
führen. Die Verantwortung für die gemeinsame
Projekt der Europäischen Politischen Gemeinschaft.
3) Zukunft unseres Kontinents muß von allen euro-
Man sollte daraus gelernt haben. Wer sich über-
päischen Völkern getragen werden, und wir be-
nimmt, der scheitert, und wer von einem anderen
grüßen es, daß dieser Begriff einer gemeinsamen
verlangt, er solle sich übernehmen, setzt sich dem
Verantwortung in der jüngsten Vergangenheit auch
Verdacht aus, erneut ein Scheitern heraufbeschwö-
von osteuropäischen Staatsmännern verwendet
ren zu wollen. Nur die reale Einschätzung des Mög-
worden ist. Dieses Ziel kann aber nur auf dem ge-
lichen bringt uns voran. Hieran zeigt sich, wie
sicherten Grund der fortgesetzten und intensivierten
unbegründet die Unterstellungen sind, die im Zu-
europäischen Integration angestrebt werden. Es ist
sammenhang mit den Äußerungen des Bundes-
deshalb auch selbstverständlich, ja fast schon banal,
kanzlers über die der kommenden Generation noch
wenn die Bundesregierung in der Antwort auf
verbleibenden Aufgaben gemacht wurden. Herr
Frage 7 der CDU/CSU-Fraktion feststellt, der Zu-
Kollege Kiesinger sprach vorhin auch davon. Wir
sammenhang zwischen Ost- und Westpolitik sei für
sind uns doch alle bewußt, daß der Weg bis zur
sie kein Verhandlungsgegenstand und würde auch
Bildung eines europäischen Bundesstaates lang und
in Zukunft nicht aufgegeben oder eingeschränkt
schwierig ist. Warum wollen Sie die Öffentlichkeit
werden.
das Gegenteil glauben machen, nachdem Sie, so-
Der Bundeskanzler hat am 2. Juni 1970 in seiner lange Sie Regierungspartei waren und Regierungs-
Ansprache auf der Kundgebung des Deutschen verantwortung trugen, in gleicher Weise einen
Groß- und Außenhandels auch noch auf einen an- langdauernden Prozeß unterstellt haben?
deren Zusammenhang hingewiesen. Wenn wir uns
Es ist eine Binsenwahrheit, daß jeder Fortschritt
die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung zu-
auf dein Wege zum inneren Ausbau der Gemein-
nutze machen wollen, muß es zu einer Kooperation
schaft von der Zustimmung aller Mitglieder ab-
zwischen den wirtschaftlichen Gemeinschaften in
hängig ist. Und es ist kein Geheimnis — das wissen
Ost und West kommen. Wirtschaftliche Zusammen-
Sie doch —, daß wenigstens einige Mitglieder sich
arbeit bedingt aber nicht notwendigerweise poli-
dagegen sperren, die politische Zusammenarbeit zu
tische Institutionen. Sie kann jedoch nur zustande
forcieren, solange Großbritannien nicht Mitglied der
kommen, wenn eine entsprechende Atmosphäre
Gemeinschaft ist. Heute ist mit dem Beitritt Groß-
herrscht. Wer die Westintegration will, darf die britanniens ernsthafter zu rechnen als noch vor
ostpolitische Variante nicht aus den Augen ver-
einigen Jahren. Gleichzeitig ist die Gefahr ge-
lieren. schwunden, daß es statt bei der politischen Einheit
Mit der Vollendung der Zollunion und der Rege- bei der politischen Kooperation bleibt. Dabei ist
lung der Agrarfragen ist vertragsgemäß das Ende der Weg also vorgezeichnet. Die politische Koope-
der Übergangszeit erreicht. Jetzt steht als zentrale ration wird soweit wie möglich vorgetrieben, und
3258 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Behrendt
mit den Verhandlungen über den Beitritt Großbri- Mehrwertsteuer ist gefallen. Es liegt in der Logik
tanniens und der anderen beitrittswilligen Länder der zukünftigen eigenen Einnnahmen der Gemein-
wird eine Voraussetzung für die spätere Verwirk- schaft, daß wir auch ein einheitliches Mehrwert-
lichung der politischen Union geschaffen. steuersystem anstreben. Nur dann werden wir näm-
lich die einheitliche Bemessungsgrundlage besitzen,
Etwas merkwürdig berührt uns die Frage der
die wir im Zusammenhang mit dem zukünftigen
Opposition, ob die Bundesregierung unzweideutig Haushalt der Gemeinschaft benötigen.
erklären wolle, daß der Beitritt zur EWG die Be-
jahung des politischen Endzieles voraussetze; denn Größte Vordringlichkeit kommt in den Augen der
alle beitrittswilligen Länder bejahen dieses Endziel. sozialdemokratischen Bundestagsfraktion der Erar-
Es ergibt sich aus dem Vertrag und wird von ihnen beitung einer gemeinsamen Sozialpolitik zu. Bun-
auch gar nicht anders verstanden. Alle anderen deskanzler Brandt hat in Saarbrücken die Forderung
Länder aber, die an einer Verbindung zur EWG erhoben, daß die Gemeinschaft zum sozial fort-
interessiert sind, entscheiden selbst in eigener Zu- schrittlichsten Raum der Welt werden sollte. Die
ständigkeit, welche Form der Zusammenarbeit für Bundesregierung sollte diese Ankündigung nun-
sie gegeben ist. Für die sozialdemokratische Bundes- mehr verwirklichen helfen. Der bisherige Sozial-
tagsfraktion erkläre ich hier, daß für sie der Grund- fonds reicht dazu nicht aus. Wir fordern deshalb,
satz gilt: Die EWG darf ihres politischen Charakters daß er in seiner Zielsetzung erweitert und in sei-
nicht entkleidet werden. ner finanziellen Ausstattung verstärkt wird.
Lassen Sie mich nun zu einigen aktuellen Pro-
Es bedarf des weiteren der Initiative der Bundes-
blemen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft regierung, um die enge Zusammenarbeit der Mit-
Stellung nehmen, die deren inneren Ausbau betref- gliedstaaten auf sozialpolitischem Gebiet zu fördern
fen, und jene Voraussetzungen aufzeigen, die die
und so zu einer Harmonisierung zu gelangen. Das
sozialdemokratische Bundestagsfraktion für ein wei- gilt insbesondere für den Bereich der Sozialversiche-
teres gutes Funktionieren des Gemeinsamen Mark- rung, in dem ein dem deutschen Sozialbudget ver-
tes für unerläßlich hält. Ich sagte eingangs meiner
gleichbares Instrument auf europäischer Ebene die
Ausführungen, daß die Zollunion und der gemein- Möglichkeiten und Folgen einer Harmonisierung
same Agrarmarkt nur der erste Schritt auf dem darstellen könnte.
Wege zum Gemeinsamen Markt seien. Nach dem
Vertrag fehlt unter anderem aber auch noch die Für den weiteren Ausbau der Gemeinschaft hier-
Regelung einer gemeinsamen Verkehrs-, Sozial- und über hinaus nenne ich die Harmonisierung der tech-
Handelspolitik. Wir wissen heute, daß eine ge- nischen Normen und Rechts- und Verwaltungsvor-
meinsame Energie- und Industriepolitik hinzukom- schriften, nach denen sich die in den Mitgliedstaaten
men muß. Die Regionalpolitik wird zumindest nach Arbeitenden zu richten haben, die Schaffung eines
gemeinschaftlichen Konzeptionen ausgerichtet sein europäischen Handels- und Gesellschaftsrechts, ein
müssen. In Zeiten internationaler Kooperation und europäisches Patentrecht, ein europäisches Ge-
Arbeitsteilung kann das bisher Erreichte also nur schmacksmuster- und Warenzeichenrecht.
Ausgangsbasis für die vom EWG-Vertrag als näch- Einiges nun zu unserer Haltung zur Stärkung der
stes Ziel zu sehende Wirtschaftsunion sein. institutionellen Struktur! Nationale Parlamente und
Das aber ist wesentlich mehr, und hierzu gehören Regierungen dürfen nur dann Schritt für Schritt aus
zunächst die von mir soeben erwähnten gemein- der Beherrschung wirtschaftlicher Vorgänge ausge-
samen Politiken, vor allen Dingen aber eine gemein- schaltet werden, wenn gleichzeitig neue, d. h. supra-
same Wirtschafts- und Währungspolitik. Daher be- nationale Strukturen an ihre Stelle treten. Hier ist
grüßen wir es, daß auf Grund des Werner-Berichtes der Punkt, an dem die Regierung ihren politischen
die Finanz- und Wirtschaftsminister der EWG in Willen manifestieren kann, handlungsfähige euro-
Venedig grundsätzlich oder doch in wichtigen Punk- päische Organe zu schaffen. Kommission und Euro-
ten die Gegensätze zwischen Ökonomisten und Mo- päisches Parlament müssen voll und ganz an die
netaristen abgebaut haben. Wir bejahen die Eini- Stelle der nationalen Regierungen und der natio-
gung auf die parallele Entwicklung von Wirtschafts- nalen Parlamente treten. Folgen Regelungen nach
und Währungsunion, doch unsererseits sei betont Art. 235, dann dürfte das Europäische Parlament
gesagt, daß für alle Maßnahmen monetärer Art wie nicht nur konsultiert werden. Wir fordern daher die
Wechselkursänderungen und Währungsreserven Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, daß das
vordringlich die Konjunktur-, Wirtschafts- und Haus- Europäische Parlament dann als Ratifikationsorgan
haltspolitik in Gleichklang zu bringen ist, falls nicht anzusehen ist, und zwar deshalb, weil die nationa-
für einige Staaten bedeutende Risiken mit hohen len Parlamente nach Art. 235 nicht eingeschaltet
finanziellen Belastungen entstehen sollen. werden. Für die Durchführungsvorschriften sollte
Lassen Sie mich einen Bereich besonders heraus- der Rat dem Europäischen Parlament dann die vol-
greifen, jenen der Steuerharmonisierung. Er hat eine len legislativen Befugnisse übertragen.
zentrale Bedeutung für die Herstellung binnen- Die Bundesregierung spricht in ihrer Antwort auf
marktähnlicher Verhältnisse, denn von der Steuer- die Große Anfrage von dem vertragsmäßigen Zu-
harmonisierung werden Einflüsse auf alle Bereiche sammenspiel der Organe und davon, daß die Mög-
der Wirtschafts- und Währungspolitik ausgehen. lichkeiten zur Verstärkung der Institutionen noch
lier wie im übrigen auch in anderen Bereichen nicht voll ausgeschöpft sind. Wir bekräftigen die
erwarten wir neue entscheidende Initiativen der Auffasung der Bundesregierung und möchten sie
Bundesregierung. Die Entscheidung zugunsten der ermutigen, praktische Vorschläge durchzusetzen. Es
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3259
Behrendt
seien hier unter anderem genannt: Mehrheitsent- nicht Legislative und Exekutive zugleich sein. Nach
scheidungen des Rates als Regel. Die gegenteilige Art. 228 ist des Verfahren auch so geregelt: Ver-
Absprache von Luxemburg, die ja im übrigen die handlungsbefugnisse liegen bei der Kommission,
eigentlichen Probleme offenließ, ist rechtlich irrele- Abschlußgewalt liegt beim Rat.
vant. Wir meinen: Keine Einigung mehr auf den Mit großer Befriedigung nimmt die sozialdemo-
kleinsten gemeinsamen Nenner, die überholte kratische Bundestagsfraktion zur Kenntnis, daß sich
Strukturen eher konserviert und deshalb nicht im die Bundesregierung für die Übertragung gesetzge-
europäischen und nationalen Interesse ist. Wir wis- berischer Befugnisse an das Europäische Parlament
sen doch alle: Einstimmigkeit verstärkt den Einfluß ausspricht. Hierzu könnten baldigst die bereits er-
einer noch so kleinen nationalen Lobby. wähnten Rechte für das Europäische Parlament bei
Hier habe ich allerdings eine Frage an die Oppo- der Schaffung der Europäischen Handelsgesellschaft
sition: Warum haben Sie die Forderung auf Mehr- sowie bei der Schaffung neuen Rechts nach Art. 235
heitsentscheidungen nicht erhoben? Die Kommission gewährt werden.
sollte als Exekutivorgan ihre unzähligen Verwal- Ich muß hier noch einmal auf den großen Umfang
tungsentscheidungen allein treffen können, natür- der Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungs-
lich kontrolliert vom Europäischen Parlament und vorschriften zu sprechen kommen. Die Maschinerie
vom Europäischen Gerichtshof, aber ohne Mitwir- des Rats ist viel zu langsam. Nationale Experten
kung nationaler Beamter im Verwaltungs- und beschleunigen sie beileibe nicht. Deshalb kommen
Ständigen Ausschuß. so gut wie gar keine Ergebnisse aus der schwerfälli-
Voll ausgeschöpft werden können z. B. folgende gen Gesetzesmaschinerie des Rates heraus. Lassen
Möglichkeiten: Sie mich nur ein Beispiel nennen: Die europäische
Erstens. Zum passiven Gesandtschaftsrecht — zur Lastkraftwagenindustrie kann sich z. B. immer noch
Zeit gibt es 81 diplomatische Vertretungen bei der nicht auf einheitliche Abmessungen — Lastzuglänge
Europäischen Wirtchaftsgemeinschaft — könnte das 16 oder 18 m, Achsdruck 10 oder 13 t — einstellen,
aktive Gesandtschaftsrecht kommen: Die Gemein- obwohl hierzu seit sieben Jahren Vorschläge ant
schaft entsendet diplomatische Missionen z. B. in dem Ratstisch liegen. Wir dürfen uns nicht wun-
assoziierte Staaten — Türkei und afrikanische Staa- dern, wenn japanische oder amerikanische Konkur-
ten als Anfang. renten auf unseren Märkten vordringen.

Zweitens. Vor der Einsetzung einer neuen Kom- Es wäre deshalb nur zu begrüßen, wenn beim
mission und der Wahl neuer Richter bzw. General- Rat insgesamt die Einsicht wachsen und die Bundes-
anwälte nach Art. 158 und 167 können die Regie- regierung mit Nachdruck dafür eintreten würde, daß
rungen das Europäische Parlament um seinen Vor- solche notwendigen Harmonisierungen der unzähli-
schlag bitten und dieses Recht allmählich ausbauen. gen Rechts- und Verwaltungsvorschriften letztlich
vom Europäischen Parlament beschlossen würden.
Drittens. Immer dann, wenn, wie schon erwähnt, Es tagt öffentlich und kennt nicht das Hemmnis der
über Art. 235 neues Recht geschaffen wird, sollte Einstimmigkeit.
das Europäische Parlament Ratifikationsorgan wer-
den, weil die nationalen Parlamente nicht einge- Auch in institutionellen Fragen könnten dem
schaltet werden. Das heißt, bei Ablehnung durch das Europäischen Parlament mehr Rechte gegeben wer-
Europäische Parlament muß ein neuer Vorschlag den. Zum Recht, der Kommission das Mißtrauen
gemacht werden. Wenn über Art. 235 überhaupt auszusprechen, kann schrittweise das Recht zur Ein-
neue Verfahren eingeführt werden, dann könnten setzung der Kommission und der Richter und der
dem Europäischen Parlament für die Durchführungs- Generalanwälte am Gerichtshof kommen. Das wäre
verordnung volle Legislativbefugnisse gegeben wer- in Etappen vom unverbindlichen Vorschlagsrecht bis
den. hin zur Wahl durch das Europäische Parlament zu
erreichen.
Nun zum Problem einer gemeinsamen Verhand-
lungsbasis für den Beitritt neuer Mitglieder. Wir Im ganzen möchte iich hierzu nochmals betonen,
beglückwünschen zunächst die Bundesregierung da- daß wir die Haltung der Bundesregierung begrüßen,
zu, daß es unter ihrem Einfluß am 20./21. April und dem Europäischen Parlament mehr und mehr Ge-
jetzt endgültig am 8. und 9. Juni dieses Jahres setzgebungsbefugnisse geben zu wollen. Sie deckt
zu der entscheidenden Übereinstimmung im Themen- sich im übrigen auch mit der Auffassung des Euro-
katalog gekommen ist. Wir halten es für einen gro- päischen Parlaments, und zwar entsprechend der
ßen Fortschritt, daß die Verhandlungen nicht von Ziffer 8 der Entschließung des Berichts von Herrn
Mitgliedsstaaten, sondern von der Gemeinschaft ge- Spénale im Dokument 42 vom 12. Mai 1970. Wir er-
führt werden. Wir möchten hier jedoch vermerken, suchen die Bundesregierung mit allem Nachdruck,
sich hierfür verstärkt einzusetzen; sonst kann die
daß für die Beitrittsverhandlungen die Verhand-
lungskompetenzen der Kommission vom Rat zu weit Vorstellung der Bundesregierung nicht realisiert
eingeschränkt worden sind. Zunächst sollte die werden, die da heißt: kein institutionelles Gleich-
Delegation der Mitgliedstaaten auf den Rat, bei den gewicht wird erreicht werden, solange nicht Haus-
Verhandlungen über die Gemeinschaftspolitiken auf halts- und Gesetzgebungsbefugnisse des Europä-
die Kommission übertragen werden. Wir meinen ischen Parlaments ausgewogen sind.
nämlich, ein Völkerrechtssubjekt wie die Europä- An dieser Stelle nun ein Wort zu den heute hier
ische Wirtschaftsgemeinschaft sollte von der Exe- eingebrachten Ratifizerungsgesetzen. Hier handelt
kutive nach außen vertreten werden. Der Rat kann es sich um bedeutsame Meilensteine 'in der Entwick-
3260 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970
Behrendt
lung der europäischen Integration. Sosehr wir die entspannte Politik des Ausgleichs mit dem Osten zu
ersten Schritte in bezug auf die Regelungen der eige- führen. Dazu wird es auch nötig sein, daß insbe-
nen Einnahmen und der Gewährung von Haushalts- sondere die Sowjetunion ihre bisherige Einstel-
rechten an das Europäische Parlament begrüßen, so lung zur westlichen Integration überprüft. Es ist
halten wir insbesondere im letzteren Falle die Re- zu hoffen, daß sie eines Tages dazu kommt, diese
gelungen für unzureichend. Integration nicht nur anzuerkennen, sondern als
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist einen der wesentlichen Ordnungsfaktoren in Europa
der Überzeugung, daß das Recht des Europäischen zu begreifen. Die Gemeinschaft ihrerseits könnte zu
Parlaments, in letzter Instanz den gesamten Entwurf derartigen Prozessen beitragen, wenn sie klarer als
des Haushaltsplans anzunehmen oder abzulehnen, bisher zu erkennen gäbe, daß sie sich auf solche
einen Bestandteil des parlamentarischen Haushalts- Fragestellungen vorbereitet. Von dieser Erkenntnis
rechts bilden sollte. Daher richten wir unser Augen- aus hat die neue Bundesregierung die europäische
merk besonders auf die Ratsentschließung vom Integrationspolitik vorangetrieben und hat parallel
22. April 1970, wonach die Kommission spätestens zu den ostpolitischen Bemühungen Stück für Stück
innerhalb von zwei Jahren bezüglich der Haus- entscheidend an wichtigen Fortschritten in der
haltsrechte des Europäischen Parlaments dem Rat europäischen Integration mitgewirkt. Ich nenne hier
Vorschläge zu unterbreiten hat, ,der — ich zitiere folgende.
die Ratsentschließung — Erstens. Die Konferenz von Den Haag fand etwa
diese Vorschläge nach dem Verfahren des sechs Wochen nach Regierungsantritt statt. Sie be-
Art. 236 des Vertrages im Lichte der in den reinigte die Atmosphäre und überwand vornehm-
Parlamenten der Mitgliedstaaten bis dahin ge- lich durch den Einsatz von Bundeskanzler Brandt
führten Aussprachen, die vorhandene Stagnation.
— wie das heute hier geschieht — (Beifall bei der SPD.)
der Entwicklung der europäischen Lage und der
Zweitens. Am 20./21. April dieses Jahres wurde
im Zusammenhang mit der Erweiterung der
das umfangreiche Paket der Agrarfinanzierung, der
Gemeinschaft auftretenden institutionellen Pro- eigenen Mittel der Gemeinschaft, der Haushalts-
bleme rechte für das Europäische Parlament sowie der
prüfen wird. Wir möchten heute schon erklären, daß Weinmarktordnung unter Dach und Fach gebracht.
die jetzt unzureichenden Haushaltsbefugnisse des Wenn hier auch eine Reihe von Schönheitsfehlern
Europäischen Parlaments dann progressiv fortent- zu finden sind, so haben diese Beschlüsse doch den
wickelt werden müssen. Weg für die Aufnahme von Verhandlungen mit
Obwohl wir nicht voll befriedigt von den vorge- Großbritannien und den anderen beitrittswilligen
sehenen Regelungen der vorliegenden Ratifizie- Ländern endgültig frei gemacht. Hier möchte ich
dem Außenminister, dem Minister Ertl und den
rungsgesetze sind, erkläre ich namens der sozial-
Staatssekretären der Bundesregierung für diesen
demokratischen Bundestagsfraktion: Wir werden
durchbrechenden Erfolg, den sie dort für die euro-
den Ratifizierungsgesetzen unsere Zustimmung ge-
päische Integration erreicht haben, im Namen der
ben, weil durch sie erstmals in Europa die Regelung
sozialdemokratischen Bundestagsfraktion in aller
von Eigeneinnahmen und ein erster Schritt zur Über-
Form Dank und Anerkennung aussprechen.
tragung von Haushaltsrechten einem supranationa-
len Organ übertragen werden, nämlich dem Euro- (Beifall bei der SPD.)
päischen Parliament.
Drittens. Ende Mai ist eine regelmäßige Beratung
Abschließend eine kurze Wertung der bisherigen der Außenminister in Viterbo beschlossen worden.
Westpolitik der Bundesregierung in bezug auf die Das war Herrn Kiesinger zu wenig. Sie wird sicher-
EWG. In ihrer Frage 7 unterstellt die Opposition in lich zunächst aus jährlich zwei Treffen der Außen-
ihren angeblichen Befürchtungen der Bundesregie- minister oder auch Treffen der Staats- bzw. Regie-
rung und den sie tragenden Koalitionsparteien, sie rungschefs bestehen, die durch Zusammenkünfte
meinten es nicht ernst mit der ,europäischen Inte- der politischen Direktoren so vorbereitet werden,
gration. Wie ich schon einleitend erwähnte, dreht es daß die Formulierung gemeinsamer außenpolitischer
sich keineswegs darum, entweder Ostpolitik oder Zielsetzungen und auch Aktionen daraus resultiert.
Westpolitik zu machen, sondern darum die West-. Dabei ist es für uns selbstverständlich, daß auch die
politik kräftig vonanzutreiben und gleichzeitig da- außenpolitischen Aspekte der Verteidigungspolitik,
hin zu orientieren, daß sie als Instrument einer ja die Sicherheitspolitik des vereinten Europas, mit
wohlverstandenen gesamteuropäischen Politik die- einbezogen werden. Sicherlich ist dies nur ein erster
nen kann. Bei unseren westlichen Partnern rennen Schritt, aber in unseren Augen ein vielversprechen-
wir mit solchen Befürchtungen offene Türen ein. Es der Schritt. Diesem Anfang können sodann weitere
ist bekannt, daß die Geistesart, die aus der Frage- Schritte im Sinne eines Stufenplans zur politischen
stellung zu erkennen ist, bei unseren westlichen Union folgen.
Nachbarn schon seit langem als dogmatischer Aus-
Viertens. Ende Mai haben sich in Venedig die
fluß einer Haltung betrachtet wird, die längst über-
Finanz- und Wirtschaftsminister der EWG darauf
holt ist.
festgelegt, innerhalb von neun Jahren die Wäh-
Nur eine gestärkte, erweiterte und mit mehr poli- rungsunion zu schaffen, was ohne gleichzeitige Er-
tischem Gehalt ausgestattete westliche Gemeinschaft richtung der Wirtschaftsunion nicht möglich sein
wird in der Lage sein, eine langfristige, ruhige und wird.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode -- 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3261
Behrendt
Fünftens. Schon am 30. Juni werden in Luxem- bleiben, daß keine wie auch immer g eartete K on-
burg die Verhandlungen mit den vier beitrittswilli- zeption einer echten oder vermeintlichen euro-
gen Ländern feierlich eröffnet. Nicht mehr die Mit- päischen Friedensordnung der politischen Integra-
gliedsländer werden diese Verhandlungen führen, tion der freien Völker Westeuropas im Wege ste-
sondern die Gemeinschaft als Völkerrechtssubjekt. hen darf.
Hierin ist ein beträchtlicher Fortschritt gegenüber (Beifall bei der CDU/CSU.)
1961/62 zu sehen. Wir wollen nämlich in diesem Zusammenhang ein-
Sechstens. Fristgerecht und rechtzeitig für diese mal wissen, wie man sich die großeuropäische Lö-
Verhandlungen haben die Regierungen eine neue sung vorstellt. Glaubt man, daß eine europäische
Kommission bestellt und zahlenmäßig bereits die Friedensordnung, mit der ja sehr verschiedene Be-
Erweiterung um Großbritannien, Irland, Dänemark griffe verbunden werden, die nur mit Zustimmung
und Norwegen in Rechnung gestellt. Dies ist ein er- der Sowjetunion erstellt werden kann, auch deren
mutigendes Zeichen für diese Regierungen nach jah- Zustimmung zur Schaffung einer politischen Union
relangen Enttäuschungen und zum Teil sogar harter Westeuropas einschließt? Ist man bereit, hier zu
Demütigung. sagen, wo die Prioritäten sind?
(Beifall bei der SPD.) (Beifall bei der CDU/CSU.)
Mit der erheblichen Verjüngung der neuen Kommis- Oder werden wir eines Tages hören, daß leider
sion wollen die Regierungen sicherlich die Voraus- die Realitäten erzwingen, daß man dieses Ziel zu-
setzung dafür schaffen, daß die großen Probleme gunsten des höheren Zieles, das man dann als
und die Zukunft der Gemeinschaft gemeistert wer- „Frieden" ausgibt, zurückstellen müßte? Das ist die
den können. entscheidende politische Frage, um die es hier bei
Siebtens. Frankreich hat am 5./6. Juni hier in Bonn dieser Europa-Debatte geht.
erstmalig wieder an den WEU-Beratungen teilge- (Beifall bei der CDU/CSU.)
nommen.
Aber erlauben Sie mir, hier mit wenigen Bemer-
Für acht Monate Regierungszeit ist das eine statt-
kungen auf den etwas eigenartigen Beitrag des
liche Bilanz. Die aktive Ostpolitik hat diese Fort-
ersten Mitarbeiters des Herrn Bundeskanzlers, des
schritte nicht behindert; im Gegenteil, sie hat sie ge-
Herrn Professors Ehmke, einzugehen. Manchmal
fördert. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion
habe ich ja Zweifel, wer hier Mitarbeiter von wem
fordert den Bundeskanzler und seine Regierung auf,
ist,
die europäische Integration im Geiste der Beschlüsse
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU CSU)
von Den Haag fortzuführen, um allen Bürgern in
der Bundesrepublik, vor allem aber unserer Jugend, weil sich da einige Widersprüche ergeben. Ich
wieder jenen Elan zu vermitteln, dessen wir für das glaube, Herr Kollege Professor Dr. Ehmke, daß der
große Werk der Einigung Europas so dringend be- Abschluß der juristischen Ausbildung noch lange
dürfen. keine politische Qualifikation beinhaltet.
(Beifall bei der SPD.) (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Rösing:
Mit dem Dank und der Anerkennung für die erfolg- Professoreneitelkeit! Zurufe von der
reiche Integrationspolitik versichern wir dem Bun- SPD.)
deskanzler und seiner gesamten Regierung, daß die Ich würde z. B. die juristische Substanz von Aus-
sozialdemokratische Bundestagsfraktion diese Poli- führungen des Herrn Vizepräsidenten Schmitt-
tik weiterhin unterstützen wird. Vockenhausen, der meines Wissens den juristischen
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Doktor gemacht hat, nicht unter Hinweis darauf,
daß er nicht auch das Assessor-Examen abgelegt
Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der habe, in ihrem Werte anzweifeln.
Abgeordnete Strauß. Es sind 45 Minuten Redezeit (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. h. c.
beantragt. Kiesinger: Zumal für einen Professor das
(Abg. Dr. Apel: Jetzt das Catcherzelt!) Assessor-Examen sowieso nichts bedeutet!)
Ich habe keinen Minderwertigkeitskomplex gegen-
Strauß (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! Meine sehr über Professoren, aber ich habe schon erlebt, daß
verehrten Damen und Herren! Ich würde gerne in professorale Prognosen, mit großem Pathos ver-
einigen Bemerkungen an die Ausführungen meines kündet, sich hernach als ein Luftballon erwiesen
Vorredners anknüpfen und ihm — abgesehen von haben, der sehr schnell geplatzt ist.
der Feststellung, daß ein großer Teil seiner zehn (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)
Punkte routinemäßige Abläufe beschrieb — meine
Zustimmung und, ich glaube, auch die Zustimmung Vielleicht darf ich mit Herrn Professor Ehmke
der gesamten Fraktion der CDU/CSU dazu bekun- noch ein weiteres Wort von hier aus wechseln. Er
den, daß die EWG ihres politischen Charakters nicht wirft weiterhin dem Fraktionsvorsitzenden der
entkleidet werden darf. CDU/CSU vor, daß eines Tages über dem Kapitel
„Zerbrechen der Gemeinsamkeit in lebenswichtigen
(Beifall bei der CDU/CSU.) Fragen" die Überschrift „Rainer Barzel" stehen
Ich würde ihn ferner bitten, auch in unbegrenzter werde. Das ist eine dialektische Umdrehung der
Zukunft bei der zwischen den beiden großen Frak- Tatsachen.
tionen des Hauses bestehenden Gemeinsamkeit zu (Beifall bei der CDU/CSU.)
3262 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Strauß
Denn wir haben uns von den Positionen, die in der zipien und Rechten stur, statisch und stationär sei?
Großen Koalition formuliert, von Bundeskanzler Darauf wollen wir eine Antwort haben.
Kiesinger und von dem heutigen Bundeskanzler mit (Beifall der CDU/CSU.)
erarbeitet worden sind, nicht entfernt. Wir sind auf
dem gleichen Kurs geblieben. Herr Kollege Ehmke hat davon gesprochen, daß
die CDU/CSU die Frage des Selbstbestimmungs-
Wer, unter hektischem Erfolgszwang stehend, rechts und der Menschenrechte nur herausstelle,
Außenpolitik mit Fernsehprogramm verwechselnd, ohne das schmutzige Geschäft zu betreiben, cien
sich selbst unter Zeitdruck und Zugzwang gesetzt Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen.
hat, ist die heutige Bundesregierung. (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Das hat er
(Beifall bei der CDU/CSU.) nicht gesagt!)
- So ist es festgehalten worden. Ich meine damit
Ich habe meines Wissens mindestens einmal, wahr-
nicht, Herr Professor Ehmke, daß Sie eine Tätigkeit,
scheinlich mehrmals, von dieser Stelle aus erklärt,
die den Menschen zu ihrem Recht verhelfen will,
daß die Bundesregierung sich dem Punkte nähert, und
als schmutziges Geschäft bezeichnen wollen. Das
bald den Punkt erreicht haben wird, wo sie ent-
meine ich ausdrücklich nicht.
weder umkehren muß, weil sie es mit ihren früheren
Versicherungen und Verpflichtungen nicht verein- (Zurufe von der SPD.)
baren kann, noch weiterzugehen — dann sei die — Es steht ja im Protokoll und im Raum. Aber so
Spannung zwischen uns und Moskau größer, als sie läppisch diskutiere ich nicht.
ie gewesen sei , oder wo sie, um so zu tun, als
ob es ein Erfolg sei, einen glatten Mißerfolg unter- (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Sie sind doch
schreiben muß. ein intelligenter Mensch ; also müssen Sie
Ehmke auch richtig verstanden haben!)
Niemand verlangt vom heutigen Bundeskanzler,
daß er den zweiten Weltkrieg noch mal gewinnt; — Lassen Sie mich doch bitte weiterreden. Bloß, sehr
diese Rolle hat ihm noch niemand zugeschrieben. geehrter Herr Ehmke, worin besteht denn diese Ihre
Tätigkeit, den Menschen zu ihrem Recht zu ver-
(Beifall bei der CDU/CSU.) helfen?
(Abg. Dr. Wörner: Sehr gut!)
Wir wollen nur nicht, daß wir, nachdem wir 25 Jahre
den Preis für den zweiten Weltkrieg gezahlt haben, Ich habe einmal eine Fernsehäußerung von Ihnen
nun abermals einen zweiten Preis zu zahlen haben. zitiert, in der Sie sinngemäß sagten — ich gebrauche
genau dasselbe Bild —: Wir wollten in Kassel drei
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Millimeter vorwärtskommen; wir haben nur einen
Wir hätten statt dessen erwartet, Herr Professor Millimeter geschafft. Ich habe Sie damals gefragt:
Ehmke, daß Sie uns einmal erläutert hätten, war- Worin besteht denn Ihr Millimeter? — Wenn ich
um die Bundesregierung und die hinter ihr stehen- so ironisch redete wie Sie hier heute, würde ich
den Fraktionen dieser Koalition heute nicht mehr sagen, daß in Zukunft in der Terminologie der phy-
bereit sind, die gemeinsame Resolution vom Sep- sikalischen Begriffe der Ehmke-Millimeter als Um-
tember 1968 als Basis und Grenze gemeinsamer deut- schreibung für „nichts" Verwendung finden wird.
scher Politik abermals unveränderlich zu verkün- (Heiterkeit. — Beifall bei der CDU/CSU.)
den. Was ist in Ihnen seit der Zeit vorgegangen?
Ich darf auch von Ihnen, Herr Professor Ehmke,
Ich habe in der letzten Aussprache die Frage an gerade weil Sie eine scharfe juristische Diktion
Sie gerichtet, Herr Bundeskanzler: was ist denn die haben, erwarten, daß Sie präziser, für uns verständ-
Ratio, was ist denn die Denkgrundlage Ihrer Poli- licher und griffiger formulieren.
tik? Ich weiß, daß Sie diese Antwort nicht in der
(Zuruf von der SPD: Wie Sie!)
Öffentlichkeit geben würden. Ich hoffe, daß Sie in
der Lage sind, uns eine Antwort darauf in kleinerem - Da haben Sie ausnahmweise recht!
Kreise zu geben. Es ist die Frage: glauben Sie, daß (Heiterkeit. - Beifall bei der CDU/CSU.)
die Sowjetunion damit rechnet, auf die Dauer das
Vorfeld ihres Imperiums nicht aufrechterhalten zu Wenn Sie sagen, wir hätten den Teilungsprozeß
können, und daß man deshalb durch diese Ihre Poli- ja hingenommen und respektiert, dann ist das wie-
tik es ihr erleichtern könne, ohne Sicherheitsrisiko, der dieses schauerliche Spiel mit mehr oder minder
ohne Gesichtsverlust sozusagen den Ablauf der inhaltlosen Begriffen. Wir haben immer erklärt
Weltgeschichte zu beschleunigen? Sind Sie der Mei- - das war ja unsere Gemeinsamkeit in Sachen Ge-
nung, die Amerikaner gehen so oder so; also müs- waltverzicht — , daß wir bestehende Zustände, die
sen wir mit der anderen Seite abschließen? Sind Sie wir damit nicht für Rechtens erklären oder mit
der Meinung, daß eine Serie von Aktionen und De- denen wir uns nicht abfinden wollen, trotzdem nicht
monstrationen des guten Willens zum Schluß eine durch Gewalt, weder jetzt, noch in Zukunft — das
Initialzündung des gleichen guten Willens auf gilt unabänderlich für alle Zukunft —, verändern
der anderen Seite erzeugt? Sind Sie der Meinung, wollen.
daß Verhandeln, auch wenn in der Substanz der Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Unrecht
Verhandlungen nichts enthalten ist außer gefähr- als solches bezeichnet, ob man alle politischen Mittel
lichen Festschreibungen, schon eine dynamische, - im Sinne von nicht gewaltsamen Mitteln—, ob
flexible Politik ist, während das Festhalten an Prin- man alle diplomatischen, wirtschaftlichen und son-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3263
Strauß
sä gen Möglichkeiten einsetzt, um in einem lang- das Pakt- und Bündnissystem dies nicht zuläßt. - -
fristigen Prozeß der historischen Umstrukturierung Das ist schlechterdings unwahr, Herr Bundeskanzler.
zu einer Änderung der Architektur und der Zu- Wenn die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutsch-
stände zu kommen, oder ob man als Pseudoreal- land heute in einer freien und geheimen Wahl einer
politiker sagt: Weil es jetzt mit der Gewalt der kommunistischen Partei mit ihren Vorstellungen die
Bajonette und der Panzer so ist, unterschreiben wir Mehrheit geben würde, dann würde die Bundes-
es und verpflichten uns, in Zukunft auch keine republik innerhalb kürzester Zeit aus der NATO
Ansprüche mehr auf Änderung zu stellen. ausscheiden, sie würde dem anderen Lager angehö-
ren. Der Unterschied ist nur, daß wir es können,
(Beifall hei der CDU/CSU.)
aber aus freier Überzeugung nicht tun werden, und
Hier ist ein ganz klarer Unterschied der Stand- daß die drüben das Gegenteil tun wollen, aber nicht
punkte. Teilen Sie unseren Standpunkt oder teilen dürfen.
Sie ihn nicht? Teilen Sie unseren Standpunkt, daß (Zurufe von der SPD. — Sehr richtig! und
wir weiterhin als Unrecht bezeichnen, was Unrecht lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
ist, daß wir weiterhin erklären werden: Wir werden
mit allen politischen Möglichkeiten darum kämpfen, Wir haben uns, Herr Bundeskanzler, schon bei
daß diese Zustände geändert werden? Oder sind Ihrer Regierungserklärung, ferner bei Ihrem Bericht
Sie — ich möchte es sehr vorsichtig sagen — der zur Lage der Nation, zweite Fassung mit vollem
leichtfertig fahrlässigen Meinung, daß man durch Recht und mit allem Nachdruck gegen diese unzu-
Hinnahme und Unterschreiben sowjetischer Aner- lässige Gleichstellung staatlicher Ordnungen und
kennungs -und Teilungsformeln von doppeldeutiger bündnissystematischer Wertungen gewendet und
Auslegungsmöglichkeit etwa auf dem Schleichweg tun das heute wieder.
eine Änderung der Zustände erreichen könne?
Wenn heute die Dinge so sind, wie sie sind, dann
Man unterschätzt die Sowjetunion und ihren doch nicht deshalb. weil hier die Amerikaner ihren
Außenminister ganz gewaltig, wenn man glaubt, auf Besitzstand festhalten und ihn mit denselben Mit-
diesem Wege der Verwendung gleicher verbaler teln verteidigen,
Begriffe bei verschiedener Deutung zum Schluß die
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr gut!)
eigene Deutung durchsetzen zu können. Diese Frage
ist schon des öfteren gestellt worden; wir haben notfalls mit dein Einmasch amerikanischer Panzer in
darauf keine Antwort bekommen. Bonn wie dem der russischen in Prag, sondern weil
Herr Professor Ehmke, auf die Bemerkung des die Amerikaner für uns eine Schutzmacht sind, die
Kollegen Barzel, daß der Bundeskanzler heute zur Erhaltung der Freiheit in diesem Teil Europas
einiges an Pflöcken zurückgesteckt habe, sagen Sie, leider unentbehrlich ist. Ich bin immer ein Anhänger
Sie hätten nichts zurückzustecken. — Einmal kommt einer Politik gewesen, die gerne etwas mehr Ent-
das Ende einer für politische Zwecke mißbrauchten behrlichkeit der Amerikaner herbeigeführt hätte, um
Philologie. mehr innere europäische Selbständigkeit und nicht
so sehr Abhängigkeit von anderen zu haben, womit,
(Zuruf des Abg. Dr. Schäfer [Tübingen].) was ich ausdrücklich betone, kein Ende des Bünd-
Einmal kann man nicht mehr vom „Sowohl-Als- nisses gemeint war, sondern eine bessere Verteilung
auch" sprechen, während es in Wirklichkeit nur das der Lasten und eine gerechtere Organisation dieses
„Entweder-Oder" gibt. Bündnisses.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Aber drüben liegen die Dinge ganz anders. War-
Diesem Punkt nähern Sie sich. Ich werde Ihnen das um haben wir denn Spannung in Europa? Warum
heute noch mit ein paar Sätzen beweisen. Einmal haben haben wir denn diese Frage, um die Sie rin-
muß so oder so Farbe bekannt werden. gen? Wir haben sie deshalb, weil eine Macht — man
darf es beinahe kaum noch sagen — wider das Völ-
Ich darf aus Ihrer heutigen Erklärung, Herr Bun- kerrecht, wider die UN-Charta, wider alles Recht
deskanzler, einige Sätze herausgreifen; es sind und die Prinzipien göttlicher und menschlicher Ge-
andere als jene, die Herr Kollege Barzel zitiert hat. setze den Nationen das Selbstbestimmungsrecht und
Auf Seite 3 des uns übergebenen Textes heißt es: den einzelnen Menschen eine freie und lebenswür-
Es ist eine Linie, die in den siebzehn Jahren dige Menschenhaltung mit Gewalt verweigert.
... immer tiefer in den Boden markiert worden
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
ist. Und die politisch zementiert wurde durch die
Garantien zweier Paktsysteme und das dahinter- Darum haben Sie eine Selbsthinrichtung voll-
stehende Potential zweier Supermächte. Man zogen, Herr Bundeskanzler, wenn Sie im folgenden
hat erkennen müssen — drüben und hüben —, Teil Ihrer Rede sagten: „Politische Aktion beginnt
daß es unmöglich ist, aus dem jeweils anderen mit dem Aussprechen dessen, was ist." Leider haben
Gebiet oder Schutzbereich etwas herauszubre- Sie nicht ausgesprochen, was ist.
chen.
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)
Das ist eine unzulässige Darstellung der Wirklich-
keit. Hier werden die zwei Bündnissysteme auf ein Es geht dann weiter: „Politische Kleingeisterei be-
und dieselbe politische, moralische und rechtliche steht im Bemänteln dessen, was ist." Ich muß Ihnen
Ebene gehoben, und hier wird erklärt: Ihr könnt bei den Vorwurf machen — siehe Regierungserklärung,
uns nichts herausbrechen, und zwar deshalb, weil Bericht zur Lage der Nation und diese Rede heute —,
3264 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

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daß Sie die Wirklichkeit bemänteln und nicht klar wären. Ich bestimmt nie und, ich glaube, auch nie-
herausstellen. mand in diesem Hause hier.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie erklären weiter: „Auch für uns sind Schieß-
befehl, Mauer, Todesstreifen unerträglich". Ja, sind Und drittens: daß das Problem der staatlichen Ein-
die so unerträglich, daß Sie zweimal in Ihrer Er- heit sich doch nach allen Bekundungen von sowjeti-
klärung, einmal in Erfurt, einmal in Kassel, darauf scher und anderer kommunistischer Seite erst dann
überhaupt nicht eingegangen sind? stellt, wenn die Menschen drüben das Recht haben,
über ihr politisches Leben, ihre gesellschaftliche Ord-
(Beifall bei der CDU/CSU.)
nung und ihre außenpolitische Zukunft selbst be-
Oder glaubt man, daß man durch bewußtes Ver- stimmen zu dürfen. Vorher stellt sich die Frage in
schweigen die Verhandlungsposition auf der eige- keiner für uns auch nur irgendwie tolerablen Weise.
nen Seite verbessert und die Disposition zum Ent- Ich möchte, Herr Bundeskanzler und andere, die
gegenkommen auf der anderen Seite erleichtert? Das diese Fehler zu machen scheinen, nur davor warnen,
ist wieder dieselbe unzulässige Gleichstellung, wie sowjetische Erklärungen nicht ernst zu nehmen.
sie heute morgen vom Kollegen Barzel erwähnt Was Herr Abrassimow sagt und was man von Herrn
worden ist, daß wir in Verhandlungen mit kommu- Zarapkin hören kann, das soll man so ernst neh-
nistischen Politikern und Staatsmännern dieselben men, wie es gemeint ist. Das sind keine „easy
Denk- und Wertkategorien unterstellen, wie sie auf riders", das sind ganz schwergewichtige — ich ver-
unserer Seite als selbstverständlich gelten. Das ist binde damit kein Sympathiebekenntnis —, aber
eine falsche Denkkategorie. Ich spreche hier gar ganz schwergewichtige, konsequente, energische, in
nicht in moralisierendem Sinne. Ich sage nur, daß ihrer Zielsetzung und Methode unerbittlich intransi-
es anders ist und daß es deshalb keinen Sinn hat, gente Partner, denen wir hier gegenüberstehen.
so zu tun, als ob es nicht anders wäre. Und was Sie Denen gegenüber nützt es nichts, nach verbalen
heute hier bewiesen haben, ist, daß Sie auf poli- Berührungspunkten zu suchen und zu schauen, oh
tische Aktion verzichten und daß Sie politische man aus verbalen Berührungspunkten dann auch
Kleingeisterei geübt haben -- nach Ihren eigenen eine Gemeinsamkeit der Methoden, eine Gemein-
Wertmaßstäben, die Sie hier in dem Papier aufge- samkeit der Ansichten etwa ableiten könnte. Das ist
stellt haben. die Methode, von der ich sage, daß die Grenze des
philologischen Mißbrauchs der Politik kommen muß
(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig! —
und kommen wird, weil man auf die Dauer nicht
Abg. Dr. Bußmann: Aber Ihre Denkkatego-
auf zwei Hochzeiten zur selben Zeit tanzen kann.
rien, Herr Strauß! Da haben wir jetzt gerade
ein Beispiel erlebt!) (Beifall bei der CDU/CSU.)
— Meine Denkkategorien würde ich Ihnen gern in
einer Debatte, die wir mal führen werden, darstel- Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege
len. Erstens habe ich nach Denkkategorien der heu- Strauß, entschuldigen Sie eine Unterbrechung wegen
tigen Ostpolitik gefragt und habe darauf keine Ant- einer Ansage: die Sitzung des Rechtsausschusses
wort bekommen. fällt heute aus; der Auswärtige Ausschuß tagt nach
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.) Ende der Debatte. — Entschuldigen Sie, bitte.

Zweitens habe ich nur festgestellt, daß die Gleich-


setzung der Denkkategorien unzulässig ist. Ich Strauß (CDU/CSU) : Herr Professor Ehmke, Sie
nehme immer noch an, daß wir uns in den Denk- haben noch gesagt: „Zwanzig Jahre ist nichts ge-
kategorien, die wir hier mit den Begriffen und mit schehen". Damit haben Sie erstens schon einmal drei
dem Wortlaut verbinden, innerhalb dieses Hauses Jahre der Tätigkeit Ihres eigenen Außenministers
trotz allem noch einig sind, weil ich mir nicht vor- disqualifiziert
stellen kann, daß Sie mit den Begriffen, die in ge- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
wissen Verträgen verwendet werden, auch die Inter-
pretation der anderen Seite sich zu eigen machen. und im übrigen außerdem drei Jahre der Tätigkeit
(Beifall bei der CDU/CSU.) Ihres heutigen Fraktionsvorsitzenden als Bundes-
minister für gesamtdeutsche Fragen. Oder soll ich
Deshalb ja auch die schöne Blütenlese, die aus frü- unterstellen, daß Diktator Kiesinger Herrn Brandt
heren Reden, Büchern, Aufsätzen von mir angestellt und Herrn Wehner vergewaltigt hat, eine andere
worden ist: „Franz Josef Strauß kontra Franz Josef Politik zu treiben, als sie wollten, oder sie gehindert
Strauß". Ich habe hier immer erklärt — z. B. im hat, die richtige Politik zu treiben?
Jahre 1958, als ganz andere Töne von Ihrer Seite
kamen —, daß für mich in der Zielsetzung Freiheit/ (Heiterkeit bei der CDU/CSU.)
Einheit die Freiheit der Menschen drüben vor der
Ich habe so viel Respekt vor Herrn Brandt und
staatlichen Einheit kommt. Ich habe damit die selbst-
Herrn Wehner, daß ich annehme, daß sie dann aus
verständliche Bemerkung verbunden, daß die Ein-
der Großen Koalition ausgeschieden wären und
heit als absolutes Prinzip für uns unannehmbar ist,
auch die Gründe für das Ende der Gemeinsamkeit
weil das auch einschließen würde, daß wir eine kom-
danach offen auf den Tisch gelegt hätten.
munistische Gesellschaftsordnung als Preis für ein
gemeinsames Verwaltungsdach hinzunehmen bereit (Beifall bei der CDU/CSU.)
Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3265

Strauß
Alter ist ja leider kein Vorzug, Herr Professor und Moskau an heftigster Kritik von diesem Platz
aber Jugend auch nicht unbedingt Sicher- Ehmke, us angemeldet hat! a
heit Iur ein wertsicheres Urteil. (Hört! Hört! bei der CDU/ CSU. — Abg.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU.) Wehner: Lassen Sie heute die Toten in
Ruhe!)
In der Zeit, als; Sie Ihre Berufsausbildung juristi-
scher Art abschließen mußten, was Sie mit einem -- Ich verunglimpfe keinen Toten, wenn ich sage,
großartigen Erfolg getan haben — das sage ich alles daß Herr Ollenhauer — —
andere als gehässig — haben sich hier im Parla- (Weitere erregte Zurufe von der SPD und
mentarischen Rat damals einige Dinge zugetragen, Gegenrufe von der CDU/ CSU.)
z. B. hat !Adenauer damals als Präsident des Parla-
mentarischen Rates Herrn Nuschke empfangen. Das — Herr Wehner, Sie sollten sich wirklich besser
war der erste Versuch, mit prominenten Politikern unter Kontrolle halten.
von drüben ins Gespräch zu kommen, zu sondieren. (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von
Damals hat die Sozialdemokratie dieses Treffen der SPD.)
Adenauer /Nuschke in schärfsten Worten verurteilt.
— Ich habe mich hier völlig unter Kontrolle. Aber
(Hort! Hört! bei der CDU/CSU.) wenn man Reden von Politikern, Parteivorsitzen-
Und als später unser leider verstorbener Bundes- den, Abgeordneten und Staatsmännern, die leider
tagspräsident Hermann Ehlers gegen schwere Be- verstorben sind, nicht mehr als Beweis für ihren
denken, auch gegen Widerstand in unseren eigenen damaligen Standort und ihre politische Richtung zi-
Reihen, das Volkskammerpräsidium empfangen hat tieren darf,
— hier im Deutschen Bundestag —, da war es dem (Abg. Wehner: Dann machen Sie es voll
SPD-Vizepräsidenten Carlo Schmid nicht erlaubt, ständig!)
daran teilzunehmen.
dann müssen Sie in Deutschland Schluß machen mit
(Hört! Hort! hei der CDU/CSU.)
der Meinungsfreiheit und der Anwendung ge-
Man hat dieses Treffen Ehlers /Volkskammerpräsi- schichtlicher Maßstäbe.
dium in schärfsten Worten verurteilt. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
(Zurufe von der SPD.) Die Wahrheit, Herr Professor Ehmke, liegt doch
darin, daß die Regierung Adenauer damals die
Darf ich empfehlen, Ihre archivarischen Kennt-
diplomatischen Beziehungen mit Moskau hergestellt
nisse auch bis zu diesen Ereignissen auszudehnen.
hat, um zu der Hauptmacht auf der anderen Seite
Es ist doch nur eine Darstellung sehr einfacher und
nspeakigtrm,wvlchanesg o
durchschaubarer Fakten, wenn man sagt, daß sich würden, in Beziehungen zu kommen, um also über-
Adenauer zunächst uni nichts anderes bemüht hat, haupt eine unmittelbare Möglichkeit der Ansprache
als die wie ein Objekt zwischen den Weltmächten und der gegenseitigen Aussprache zu haben. Es
hin- und hergeschobene Bundesrepublik Deutsch- ist auch nicht wahr — ich muß das hier aus in-
land in den europäischen Gemeinschaften und im nerster Kenntnis der Dinge sagen, weil ich zum
Atlantischen Bündnis so zu verankern, wie es ge- Teil als Zuhörer und Beobachter beteiligt war —,
schehen ist. Damals stand die Sozialdemokratie, vor daß sich Adenauer dann um nichts mehr gekümmert
allen Dingen was das Atlantische Bündnis anbetrifft, habe. Er hat unzählige Male mit dem sowjetischen
auf der anderen Seite. Heute sagt der Bundeskanz- Botschafter gesprochen. Er hatte die Hoffnung, daß
ler: Für uns sind die Bindung an Europa und die unser Botschafter in Moskau Kroll, der die besten
Mitarbeit in der NATO Verankerung unserer Poli- persönlichen Beziehungen zu Chruschtschow unter-
tik. Man wäre fast geneigt zu sagen, daß Sie es dem hielt, etwas ändern könnte. Er hat sogar das in den
damaligen Mißerfolg der SPD zu verdanken haben, eigenen Reihen heftig kritisierte Angebot gemacht,
daß Sie heute eine Verankerung Ihrer Politik be- zehn Jahre lang nicht über Wiedervereinigung zu
sitzen. sprechen, wenn dafür Erleichterungen für die Men-
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) schen drüben gewährt würden. Das ist doch alles
Ich sage hier, weil vorhin nach meiner Denkkate- geschehen, hat aber an den Grundpositionen auf
gorie gefragt worden ist, noch einmal, und ich der anderen Seite nicht das geringste geändert.
wäre in der Lage, das zu beweisen: Die Sowjet- (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
union war niemals bereit, einem nichtkommunisti-
schen Deutschland, gleichgültig unter welchen Ich erinnere auch an die Friedensnote von Ludwig
Opfern und Auflagen, die staatliche Einheit zu er- Erhard und das weitgehende Angebot des nachfol-
möglichen. genden Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger für
(Beifall bei der CDU/CSU.) Gespräche mit Moskau, mit Polen, mit Prag und
vor allen Dingen auch mit Ostberlin. Warum hat
Das war der Grund dafür, warum Adenauer zuerst man denn nicht reagiert? Es ist doch nicht so, daß
die Bindung an den Westen gesucht hat, um dann Sie verhandeln und wir nicht verhandeln wollen,
-
sofort nach Moskau zu fahren. Lesen Sie nach, was daß wir die Kalten Krieger und Sie die großen
damals Ihr Parteivorsitzender Ollenhauer zur Auf- Friedensförderer sind. Nur waren wir nie bereit,
nahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn über Positionen hinauszugehen, jenseits derer fahr-
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lässige Denkkategorien, leichtfertige Methoden und diplomatische Leistung ist, das Wort „Anerken-
gefährliche Zielsetzungen stehen. nung" zu vermeiden und statt von „Anerkennung"
von „Achtung" und „Respektierung" zu sprechen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wir wollen wissen, wie der russische Text lautet.
Herr Kollege Apel — er ist im Augenblick nicht Wie interpretieren die Russen denn diesen Text?
da — hat heute gesagt, es gebe keinen Vertrags-
Sie, Herr Bundesaußenminister, haben mehrmals
entwurf, Staatssekretär Bahr habe eine Reihe von
erklärt: Ich werde keinen Vertrag unterschreiben,
Notizen mitgebracht. Das ist dieselbe Legende, die
der Herr Bundesaußenminister neulich abends im in dem Begriffe stehen, die nicht bis zum letzten
geklärt sind, und bei dem nicht die Interpretationen
Fernsehen denjenigen verkauft hat, die es nicht
in Bonn und in Moskau haarscharf identisch sind. So
wissen können.
haben wir Sie verstanden; so haben wir Sie ernst
(Heiterkeit bei der CDU/CSU.) genommen. Sind Sie der Meinung, daß die hier in
Es hieß, es seien nur Formulierungen, mit denen man diesen Artikeln niedergelegten Begriffe -- sie sind
Fragen, die sich in Europa lösen ließen, lösen und heute von meinen Vorrednern zitiert worden —
aus denen man Vertragstexte formulieren könne. von Ihnen und in Moskau identisch interpretiert
Wenn die Bundesregierung hätte erklären können, werden? Bei aller Schärfe meiner Kritik an Ihrer
daß der veröffentlichte Text entweder grobe Ab- Politik — ich traue Ihnen nicht zu, daß Sie das
weichungen aufweise oder eine Erfindung oder annehmen.
Fälschung sei, würde das, was ich sage, nicht gelten. (Beifall bei der CDU/CSU.)
Nachdem Sie aber — hier hat Conny Ahlers Ihnen Meine Frage steht im Raum. Worüber soll denn
sehr gute Dienste geleistet — die Flucht nach vorn noch verhandelt werden? Was ist das Verhand-
ergriffen haben, Herr Bundeskanzler, und die Rich- lungsziel der Bundesregierung? Oder dienen die
tigkeit des Textes bestätigt haben, kann doch nie- Verhandlungen nur dem protokollarischen Fernseh-
mand sagen, das seien unverbindliche Protokoll- abschluß längst getroffener Abmachungen, weil im
notizen, sozusagen nur ad referendum für die jewei- materiellen Bereich für Verhandlungen kein Spiel-
ligen Regierungen. Glauben Sie denn im Ernst, daß raum mehr vorhanden ist?
die Sowjetunion in angeblich kommenden Verhand- (Beifall bei der CDU/CSU.)
lungen, materiell gesehen, noch etwas anderes als
das, was hier steht, zuzulassen bereit ist? Herr Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr
Kollege Apel sagt, die Verhandlungen könnten dann Bundeskanzler, ich bitte Sie ernsthaft,
beginnen. Wenn die Verhandlungen erst beginnen, (Lachen bei Abgeordneten der SPD)
müßte man doch zwei Positionen kennen. Das eine
sich in Zukunft falscher Alternativen zu enthalten,
ist die sowjetische Position, und das andere ist die
denn Sie bauen bestimmte Alternativen auf, sogar
deutsche Position. Dann erwarte ich von keiner
Bundesregierung, daß sie so dumm ist, vorher das im Vertragstext, zum Teil durchschimmernd, zum
Maximum an innerer Bereitschaft zum Entgegen- Teil formuliert. Wenn Sie sagen, diese Ihre Politik
kommen auf den Tisch zu legen. Leider hat die Bun- garantiere den Frieden, erwecken Sie damit den Ein-
druck, daß jede Kritik an Ihrer Politik eine Frie-
desregierung das getan, als sie damals mit einer
densgefährdung oder eine kriegstreibende Haltung
einfältigen Geste des guten Willens als Vorweg-
leistung die Zwei-Staaten-Theorie verkündete. oder Handlung sei.

(Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
Hetze machen Sie!)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist Es heißt immer wieder: Wir verhandeln! Und dar-
doch die Fragestellung. Was gibt es denn noch zu aus wird dann die Schlußfolgerung gezogen: Die
verhandeln? Die deutsche Position ist mit den vier anderen wollen nicht verhandeln. Herr Wehner,
Punkten umrissen, die in der „Bild-Zeitung" ver- Sie kommen genug hinaus in die Öffentlichkeit und
öffentlicht worden sind. in Diskussionen; ich auch.
(Zurufe von den Regierungsparteien.) (Zurufe von der SPD.)
— Ich würde das nicht zitieren, wenn die Bundes- Ich weiß ganz genau, welche Wirkungen Ihre fal-
regierung nicht wahrheitsgemäß zugegeben hätte, schen Alternativen im Volk hinterlassen und zu
daß das — abgesehen von ganz kleinen Dingen wie welchen Irreführungen, um nichts Schlimmeres zu
Artikeln; das stehe nicht darin — der Text sei, über sagen, sie führen.
den sich Herr Bahr mit Herrn Gromyko geeinigt
habe. Sie können doch nicht davon ausgehen, daß (Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Gromyko mit diesem Papier nach Hause geht Der CDU/CSU wird das Plakat „Kalte Krieger —
und dann der Kremlführung sagt: Das hier ist nur nicht bereit zu Verhandlungen" angeheftet.
ein unverbindlicher Entwurf; die Deutschen werden
noch mit ganz anderen Vorstellungen kommen, und (Abg. Wehner: „Hetzer" muß man sagen!)
wir müssen uns darauf einrichten, irgendwo zwi- Sie selber hängen sich dann die Friedensfahne um
schen diesem Entwurf und unseren Vorstellungen und sagen, daß Sie Verhandlungen führen und daß
einen Mittelweg zu finden. — Nein, das, was hier allein diese Ihre Politik den Frieden garantiere. Das
niedergelegt ist, sind die sowjetischen Vorstellun- ist eine maßlose Überschätzung, um nicht zu sagen:
gen. Sie haben alles bekommen, was sie überhaupt Überheblichkeit.
nur gewünscht haben. Es ist sehr fraglich, ob es eine (Beifall bei der CDU/CSU.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3267
Strauß
Der Frieden wird durch einen solchen Vertrag zur was mit den in dem Vertragsentwurf verwendeten
Zeit nicht gefördert werden, Er wird zur Zeit auch Formulierungen für Deutungen und Interpretationen
nicht beeinträchtigt, das sage ich ausdrücklich. Aber verbunden sind, uns klipp und klar zu sagen: die
dieser Vertrag löst Folgen aus; Verschiebung der Bundesregierung versteht das darunter, und Moskau
sowjetischen Gewichte in Richtung Westen, so daß versteht das gleiche darunter, oder Moskau versteht
eine solche Politik, die man heute als Friedenspoli- das darunter und die Bundesregierung das gleiche.
tik deklariert, sich in einer späteren Wertung sehr
(Abg. Wehner: Europa bis zum Ural zum
leicht als der Anfang des Gegenteils erweisen kann.
Beispiel?)
Man soll unserer Generation — Sie haben es ja Etwas anderes können Sie doch gar nicht, nachdem
auch miterlebt doch nicht weiszumachen versu- Sie, Herr Scheel, sich dazu verpflichtet haben, keine
chen, daß die Verwendung des Wortes „Frieden" in Formulierungen zu unterschreiben, die zwischen den
der Präambel oder in einem Artikel schon identisch verschiedenen Vertragspartnern verschieden ausge-
ist mit einer materiellen Förderung des Friedens legt werden können.
und seiner Aussicht in der Zukunft. Haben wir nicht
damals am 30. September 1938, als Hitler, Mussolini, Wie leicht und windanfällig dieses Gebäude der
Chamberlain und Daladier sich trafen, erlebt, daß Behauptungen ist, geht schon daraus hervor, daß
dieser Vertrag nicht nur in den faschistischen Län- Sie einen Brief nach Moskau schreiben müssen, weil
dern, sondern auch in den westlichen Demokratien im Vertrag schwerwiegende Mängel und Versäum-
England und Frankreich als das große Werk des nisse festzustellen sind — siehe z.B. Westberlin
Friedens gepriesen worden ist: „Frieden in unserer und anderes —, um darin darzutun, daß Ihre Auf-
Zeit" ; 20 Jahre Frieden zwischen Deutschland und fassung so und so sei. Dann wird dieser Brief drüben
England. Wer damals in Deutschland ein Wort ge- ohne Widerspruch angenommen, nicht zurückge-
gen diesen Vertrag sagte, war in Lebensgefahr. Wer schickt, auch nicht zurückgewiesen. Das ist doch de
heute noch sagt, daß der Vertrag damals gültig war, facto die Widerlegung Ihrer Behauptung.
gilt nachträglich als Kriegsverbrecher. So haben sich (Abg. Wehner: Woher wissen Sie das
die Fronten verschoben. alles?)
(Beifall bei der CDU/CSU.) Wenn es zwischen Bonn und Moskau ein und die-
Sie wissen doch ganz genau, Herr Kollege Weh- selbe Auslegung gibt, bedarf es keines Briefes mehr,
ner, daß der Hitler-Stalin-Pakt mit einer Präambel oder wenn man einen Brief schreibt, müßte der an-
beginnt. dere Partner dann zurückschreiben: Ich habe die-
(Zuruf des Abg. Wehner.) selbe Ansicht und bestätige, daß ich Ihre Auffassung
hinsichtlich der Deutung in diesem und jenem
Ich meine jetzt nicht einen Vergleich zwischen Punkte teile. Das ist doch so ein Feigenblatt.
den deutschen Partnern von damals und heute.
Hier ist noch erklärt worden, Adenauer habe im
(Abg. Wehner: Sprachen Sie soeben von Jahre 1955 bereits begonnen, einen Vertrag zu
München oder vom Hitler-Stalin-Pakt?) schließen, und er habe dann in einem Briefwechsel
-- Ich habe soeben von München gesprochen. etwas klargestellt. Der Brief ist dann von drüben
nicht beantwortet worden. Ich muß dazu sagen: im
(Abg. Wehner: Aha, das wollte ich wissen!) Jahre 1955 ist in Moskau etwas Materielles verein-
— Ja, ich habe von München gesprochen; das waren bart worden, nämlich die Aufnahme diplomatischer
Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier. Beziehungen, dazu die Entlassung der noch in
russischer Haft befindlichen Kriegsgefangenen und
(Abg. Wehner: Das hätten Sie auf dem noch weitere Punkte. Was wird denn in Ihrem Ver-
Rathausmarkt sagen sollen!) trag materiell geregelt? Doch überhaupt gar nichts,
Jetzt spreche ich vom Hitler-Stalin-Pakt. Dort heißt nicht einmal die Aufhebung der Gewaltverzichts
es in der Präambel, daß „die Regierung des Deut- vorbehalte. All das ist doch nicht geeignet, eine
schen Reiches und die Regierung der Sowjetunion in Gemeinsamkeit herzustellen, wenn wir auf dem
ihrer Verantwortung für den Frieden ...", und dann alten Kurs bleiben, weil historische Prozesse nicht
kommt der Text. Ich sage damit nur, daß für mich etwa durch kurzfristiges Umdenken geändert wer-
das Plakat „Frieden" hinter einer Politik, die den den können. Wer umgedacht hat, wer auf Gegen-
strategischen Zielen der Sowjetunion Vorschub kurs gegangen ist, sind Sie, Herr Bundeskanzler.
leistet, nichts anderes ist als eine Addition von Alles was Sie früher gesagt haben, ist durch Ihre
Buchstaben und der Mißbrauch eines den Menschen Stellungnahmen und Ihre Deutungen der letzten
heiligen und ehrenwerten Begriffes. Monate doch klar widerlegt worden. Das weiß man
doch auch in Moskau. Und was wird man dort
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. -
sagen?
Zurufe von der SPD.)
(Abg. Wehner: „Der Strauß kommt", wird
Wir fordern - ich darf das im Namen der Frak- man sagen!)
tion der CDU/CSU sagen — die Bundesregierung
Man wird dort sagen: Man braucht nur lange genug
auf — und wir werden noch weitere parlamenta-
Forderungen zu erheben, sie intransigent zu ver-
rische Mittel verwenden, um die Antwort darauf so
- treten: die werden Schritt für Schritt weiter zurück-
zu bekommen, daß kein Raum mehr für Deutungen,
gehen, bis sie da sind, wo wir sie haben wollen.
tür Wunschdenken oder für mehrfache Auslegungs-
möglichkeiten ist --, uns klipp und klar zu sagen, (Zuruf des Abg. Wehner.)
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Auf der Bahn Sie zum Einhalten zu bewegen ist unter den von der CDU geführten Regierungen mehr
unsere politische Pflicht und ist unser politisches als ein Vertrag mit der Sowjetunion geschlossen
Recht. wurde, und sind Sie bereit, zuzugeben, daß die
(Lebhafter anhaltender Beifall bei der Union und ihre führenden Leute in den letzten Jah-
CDU/CSU.) ren konstant, ohne Unterbrechung und immer neu
gefordert haben, Vereinbarungen mit der Sowjet-
Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und union zu schließen, die den Namen ,,Gewaltver-
Herren! Ehe ich das Wort weitergebe, möchte ich zicht" auch in Wahrheit verdienen?
Ihnen mitteilen, daß die Herren Fraktionsgeschäfts- (Beifall bei der CDU/CSU. — Ahg. Wehner:
führer vereinbart haben, daß wir heute bis 16 Uhr Nur den Namen, ja!)
tagen und den Rest, der heute nicht mehr erledigt
werden kann, morgen etwa von 14 bis 18.30 Uhr Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Des-
hier verhandeln werden, also nach dem Haushalt. wegen, Herr Kollege von Guttenberg, ist es doch
Der Herr Präsident hat den Empfang, der für morgen so widersprüchlich, daß Herr Kollege Strauß hier
auf 17 Uhr angesetzt war, auf 18.30 Uhr vertagt. den Wert solcher Verträge mit der Sowjetunion in
Das Wort hat der Herr Bundesaußenminister. Frage stellt. Das ist ja der Widerspruch.
(Beifall bei den Regierungsparteien. —
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Widerspruch bei der CDU/CSU.)
Kollege Strauß, ich muß sagen, daß ich das, was Sie
Aber ich will, meine Damen und Herren, —
zuletzt gesagt haben, nicht verstehe. Einmal fordern
Sie von der Bundesregierung, daß sie vor diesem (Abg. Strauß: Es kommt auf den Inhalt an,
Hause, bevor sie überhaupt Vertragsverhandlungen auf die materielle Regelung!)
begonnen hat, in allen Einzelheiten den Inhalt mög-
licher Verträge darstellt, und zwar in einer perfek- Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine
tionistischen Form, die man wahrscheinlich über- weitere Zwischenfrage?
haupt nicht zustande hingt. Aber in gleichem Atem-
zug sagen Sie, daß Verträge mit der Sowjetunion, Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Meine
wie wir ja alle wüßten, ohnehin keinerlei praktische Damen und Herren, ich möchte mich ja mit dem aus-
Bedeutung haben. einandersetzen, was Herr Kollege Strauß hier ge-
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Leb- sagt hat. Ich will das in der Ruhe tun, in der das
hafter Widerspruch bei der CDU/CSU.) getan werden muß.
Das ist ja wohl nicht miteinander vereinbar. Herr (Abg. Damm: Aber nicht alles umdrehen!)
Kollege Strauß, seien Sie doch so ehrlich und geben Aber es kann mir wohl vom Herrn Kollegen Strauß
Sie hier zu, sicherlich nicht verübelt werden, wenn ich das, was
(Abg. Strauß: Ich verlange nur, daß Sie Ihr er hier sagt, in allen Teilen ernst nehme und über-
Wort halten!) prüfe. Wir wollen ja zu der Sache kommen, Herr
Kollege Strauß. Ich will das auch nicht so lang
daß Sie keine vertraglichen Regelungen mit der
machen. Zwischenfragen
Sowjetunion wollen!
(Lachen bei der CDU/CSU)
(Lebhafter Beifall bei den Regierungspar-
teien. — Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. sind mir natürlich recht, aber sie dienen im Moment
Strauß: Der Inhalt bestimmt die Zustim- nicht der Sache.
mung! — Abg. Damm: Früher waren Sie
schon einmal besser, Herr Scheel!) Vizepräsident Dr. Schmid: Wollen Sie eine
— Aber Sie müssen doch konsequent sein. Sie sind Zwichenfrage zulassen?
doch sonst immer so scharfsinnig, Herr Kollege
Strauß. Den Scharfsinn müssen Sie aber durchhalten Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ja,
in allen Etappen. Herrn Barzel selbstverständlich!
(Anhaltende lebhafte Zurufe von der CDU/
CSU. — Abg. Strauß: Da kann einem ja Dr. Barzel (CDU/CSU): Herr Kollege Scheel, ist
angst werden!) Ihnen entgangen, .daß a) der Kollege Strauß auf den
Inhalt der Verträge abgehoben hat und daß b) ich
Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und in einem meiner zehn Punkte, die Sie hier gern auf-
Herren, wir kommen weiter, wenn Sie den Redner genommen haben, wie Sie mir sagten, zum Aus-
aussprechen lassen. — Gestatten Sie eine Zwischen- druck gebracht habe, man solle einen solchen Ver-
frage? trag mit der Sowjetunion, der diese Überschrift ver-
diene und den Gewaltvorbehalt wegbringe, abschlie-
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ja, ßen solle? Ist Ihnen dies beides entgangen?
bitte!
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ich bin
Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) : ja außerordentlich froh darüber, daß Sie in diesem
Herr Außenminister, sind Sie bereit, zuzugeben, daß Punkt mit uns einig sind, einen Vertrag abzuschlie-
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Bundesminister Scheel
ßen. Aber wenn wir das wallen, dann müssen wir uns vielleicht. Da wollen wir nicht immer das Ziel
uns doch leidenschaftslos über das Zustandekom- verkünden, damit der Öffentlichkeit ein schönes
men eines solchen Vertrags unterhalten können. Ziel vorgestellt werden kann, sondern wir wollen
(Beifall bei den Regiernugparteien. — praktisch Schritt für Schritt weiterkommen.
Zurufe van der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Was Herr tSrauß hier gebracht hat, ging über das
Maß seiner ihm sonst zweifellos zugestandenen Strauß (CDU/CSU) : So gern ich dieses Bekennt-
Leidenschaft weit hinaus. Das ist der Grund, warum nis höre und glaube, erlauben Sie mir, mit der
ich sage: Wollen wir doch leidenschaftslos über Feststellung, daß das nicht meine Frage war, die
diese Dinge diskutieren. Gleichwohl erscheint eis mir Frage zu wiederholen: Sind Sie, wenn es im Rah-
ohnehin richtiger, diese sehr subtilen Diskussionen men einer europäischen Friedensordnung gemäß der
im Kreise der Mitglieder des Auswärtigen Aus- seit einigen Jahren fest herausgearbeiteten Grund-
schusses zu führen. züge der sowjetischen Europapolitik einen Zielkon-
(Zuruf von der Mitte: Das haben wir ja flikt gibt — „Wenn ihr eine Friedensordnung mit
angeboten!) der Unterschrift Moskaus haben wollt, dann Schluß
mit der europäischen Integration!" —, bereit, hier
— Wir haben es ja auch immer getan, Herr Kollege.
zu erklären, daß Sie sich einer solchen Bedingung
Aber wir können nicht den Fragen ausweichen, die
niemals beugen werden?
Herr Kollege Strauß stellt.
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
Lassen Sie mich jetzt zu einigen seiner Fragen
Das ist Ihre Konstruktion!)
kommen, und zwar in der Reihenfolge, wie er sie
selbst gebracht hat.
Erstens. Er hat hier die Frage gestellt, oh die Bun- Scheel, Bundesminiser des Auswärtigen: Herr
desregierung — ich will es vereinfachend ausdrük- Strauß, Sie hätten gar nicht zu fragen brauchen; ich
ken — denn noch zu der Finalität der EWG-Verträge will die Frage jetzt in meinen Darlegungen behan-
stehe, ob sie nicht durch ihre Osteuropapolitik die deln. Aber ich will die Frageform, die Sie gewählt
Integration in Westeuropa überhaupt blockiere. Herr haben, auch nicht als Konditionalkonstruktion mit
Strauß, ich sage es zum wiederholten Male — und in meiner Antwort unterstellen, sondern erläutern,
Sie können immer wieder fragen, ich kann es nicht wie wir uns die Politik in Europa, auch die Politik
hindern; aber ich muß immer wieder darauf die Ant- des Zustandekommens einer europäischen Friedens-
wort geben wie heute vormittag —: Das Ziel unserer ordnung, vorstellen. In einer solchen Friedensord-
Westeuropapolitik ist die politische Union Europas nung, Herr Kollege Strauß, wird die EWG ein Ele-
und sonst nichts. ment sein müssen. Ohne die EWG als Element einer
europäischen Friedensordnung
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu-
ruf von der CDU/CSU: Wann?) (Zurufe von der CDU/CSU)
– Ich komme auch auf den Zeitfaktor; es geht ja — lassen Sie mich weiterreden — gibt es keine
weiter. Wir haben begonnen, zum erstenmal konkret europäische Friedensordnung. Sie werden fragen:
über die Möglichkeiten zu sprechen, die politische Warum, und wie soll das zustande kommen?
Union einzuleiten. Heute morgen hat Herr Dr. Kie- (Abg. Strauß: Die EWG beschränkt auf das
singer für die CDU/CSU-Fraktion hier erklärt, daß Kommerzielle?)
man das nur könne, wenn man jetzt und hier
Institutionen fordere. Meine Damen und Her- — Nein, warten Sie doch ab.
ren- --
(Abg. Wehner [zu Abg. Strauß] : Ihre Unter
stellung ist das! — Abg. Beh re ndt: Wer
Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine sagt das denn? — Abg. Wehner: Herr
Zwischenfrage des Abgeordneten Strauß? Strauß!)

Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ich Ich wiederhole: Das Geheimnis einer europäischen
muß erst einmal meinen Satz wenigstens zu Ende Friedensordnung ist doch, eine europäische Ordnung
führen können. zustande zu bringen, in der Länder unterschiedlicher
(Beifall bei der SPD.) politischer Ordnungen und unterschiedlicher Gesell-
schaftssysteme gleichermaßen Mitglieder sind. Mit
Meine Damen und Herren, wer jetzt Institutionen anderen Worten, wir wollen keinen Kompromiß
in dem Zusammenwachsen der EWG fordert, vor zwischen einer liberalen Ordnung und einer kom-
allem wo auch Großbritannien und drei weitere munistischen Ordnung. Diesen Kompromiß gibt es
Ländern als Mitglieder aufgenommen werden wol- nicht. Deswegen können Sie zu Zusammenarbeit in
len, der beendet damit den Weg der politischen Europa nur kommen, wenn Sie zwischen Ländern
Union. und Organisationen oder Gemeinschaften unter-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) schiedlicher politischer und gesellschaftlicher Ord-
Das ist es eben: Die Realitäten unterscheiden sich nungen Zusammenarbeit organisieren. Nur so kann
von cien idealen Zielvorstellungen, in denen wir - es eine europäische Friedensordnung gehen, die ganz
uns nicht unterscheiden. Aber in dem, was man Europa umfaßt, nicht, wie manche es sich vorstellen,
jetzt und hier erreichen kann, unterscheiden wir indem man die eine oder die andere Seite in das
3270 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode -- 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Bundesminister Scheel
politische Ordnungssystem der einen oder der an- lichen können, auch solche nicht, die Mitglieder der
deren hinüberzieht. UNO sind.
(Abg. Strauß: Was soll anders werden Meine verehrten Kollegen, es ist, glaube ich, sinn-
gegenüber heute?) los, in dieser Form die praktische Zusammenarbeit
— Ich komme ja darauf. — Das heißt mit anderen in Europa zu diskutieren. Das ist das Bild, das
Herr Kollege Ehmke gezeichnet hat, nämlich das
Worten: die EWG in ihrem jeweiligen Integrations-
Bild von dem Mann, der mit der Fahne und seinen
stand, und zwar dem wirtschaftlichen und dem poli-
schönen Parolen auf der Fahne herumläuft, ohne
tischen Integrationsstand, wird ein Element einer
damit etwas bewirken zu können und ohne den
solchen Friedensordnung sein. Aber wir, die wir an
Menschen zu helfen, um die es gehen soll.
der Grenze zwischen den politischen Systemen in
Europa liegen, haben die Verantwortung dafür, daß (Beifall bei den Regierungsparteien.)
die Absicht aller europäischen Länder, zu mehr Zu-
Herr Kollege Strauß, ich möchte mich jetzt mit
sammenarbeit zu kommen, von uns aktiv unter-
Ihnen über die Frage, die Sie in den Mittelpunkt
stützt, ja, in vorderster Front betrieben wird. Das
gestellt haben, unterhalten, nämlich über das Ge-
ist der Grund, warum wir auf vertraglicher Basis
waltverzichtsabkommen, das wir mit der Sowjet-
die Beziehungen der Bundesrepublik mit den ost-
union abschließen wollen. Es ist zweifellos so, daß
europäischen Ländern sichern wollen: um für mehr
die reine Wiederholung der Gewaltverzichtsbestim-
Frieden eine solide Basis zu bilden.
mungen der UNO-Charta — ich habe es heute mor-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) gen schon gesagt — ein abstraktes Gewaltverzichts-
abkommen wäre, das nicht dem Ziel dienen könnte,
Vizepräsident Schmid: Gestatten Sie eine Zwi- darauf eine Änderung des Verhältnisses der Bun-
schenfrage des Abgeordneten Baron Guttenberg? desrepublik zu den osteuropäischen Ländern aufzu-
bauen. Sie haben gelesen — ich will einmal, ohne
auf Einzelheiten einzugehen, unterstellen, daß das,
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ja. was darüber geschrieben wurde, dem Inhalt ent-
spricht —, daß Gewaltverzicht und Formulierungen
Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) : über die Respektierung der Grenzen in Europa
Herr Außenminister, da Sie sich so oft und gern auseinandergezogen sind.
auf die volle Übereinstimmung der Bundesregie- Aber es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß
rung mit den NATO-Mächten berufen, frage ich Sie, diese Formulierungen über die Respektierung der
wie Sie den Widerspruch aufklären können, daß Sie Grenzen in Europa ganz auf die Gewaltverzichts
eben eine europäische Friedensordnung als eine theorie aufgebaut sind. Das heißt, es ist hier nicht
Ordnung bezeichnet haben, in der es europäische von Anerkennung die Rede, es ist auch nicht von
Völker mit verschiedenen Gesellschaftsordnungen der Unverrückbarkeit von Grenzen die Rede, son-
geben könne, während im NATO-Kommuniqué dern hier geht es nur darum, Grenzen jetzt und
ausdrücklich gesagt wird, daß die Basis für eine auch in der Zukunft zu achten, und es geht darum,
europäische Friedensordnung das Selbstbestim- ihre Unverletzlichkeit zu bestätigen.
mungsrecht sein soll?
Aber, meine Damen und Herren, wer wollte denn
(Beifall bei der CDU/CSU.) hier etwas anderes sagen? Wer wollte denn sagen,
daß die Unverletzlichkeit einer Grenze für ihn zwar
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr jetzt gegeben ist, aber in der Zukunft nicht? Es
Kollege Guttenberg, wenn Sie das Kommuniqué handelt sich doch ausschließlich daraum, ob wir in
des NATO-Ministerrats durchlesen, werden Sie fest- der Lage sein werden, in Zukunft zwei Dinge zu
stellen, daß es sich mit nichts anderem befaßt als tun: einmal, die europäische Integration dadurch
mit dem Suchen nach einer Möglichkeit, ein Ge- weiterzutreiben, daß wir in Europa auch Grenzen
spräch zwischen den Mitgliedern der NATO und aufheben können, ohne mit dem Abkommen, das
den Mitgliedern des Warschauer Pakts mit dem wir abschließen wollen, in Konflikt zu kommen.
Ziel zustande zu bringen, die Sicherheit in Europa Das ist gewährleistet.
zu verbessern und zu einer europäischen Friedens-
Das Zweite ist die Frage der Grenze, der Demar-
ordnung zu gelangen. Nun unterstellen Sie doch
kationslinie zwischen den beiden Teilen Deutsch-
nicht den NATO-Mitgliedern, daß sie das wollen,
lands. Hier geht es um die Respektierung und
indem sie die Gesellschaftsordnung der Warschauer-
darum, daß unser politisches Ziel, die Vereinigung
Pakt-Staaten ändern wollen! Das kann man doch
der beiden Teile Deutschlands zu betreiben, mit dem
schlechthin nicht unterstellen, sondern das ist Vor-
Abkommen, das wir abzuschließen gedenken, nicht
aussetzung. in Konflikt gerät. Das ist gewährleistet, und zwar
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das ist nicht nur durch den Wortlaut allein, sondern wir
gar nicht gesagt worden! Die Frage war machen es dadurch deutlich — Herr Strauß hat es
doch ganz anders! — Weitere Zurufe von hier eben erwähnt —, daß wir unsere Position in
der CDU/CSU.) einer Erklärung an unseren Partner sichtbar machen,
und wir erwarten, daß eine solche Erklärung unserer
— Herr Kollege, das Selbstbestimmungsrecht der-
Völker ist, wir wissen es doch, ein in der UNO- Position akzeptiert wird.
Charta niedergelegtes Recht, von dem wir wissen, Nun werden Sie sagen: Warum steht denn das
daß nicht alle Völker es gleichermaßen verwirk- Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands nicht in
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode -- 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3271

Bundesminister Scheel
einem Vertrag, und warum sollte es nicht in einem union über Berlin haben eine große Bedeutung für
Vertrag stehen? -- Nun, die Sowjetunion hat früher diese Einheit der politischen Gespräche und Ver-
immer die Wiedervereinigung Deutschlands als handlungen mit osteuropäischen Ländern. Das wie-
ihr Ziel bezeichnet. In der Zwischenzeit tut sie derhole ich aber auch zum x-ten Male. Ich meine,
das nicht mehr, wie wir wissen. Ich glaube, wir man sollte endlich einmal die Diskussion über diese
sollten gar keine Diskussion darüber führen, ob ein Punkte abbrechen können und sollte in den Aus-
politisches Ziel, das wir für uns in Anspruch neh- schüssen die sich daran anschließenden Erwägun-
men, in einem Vertrag mit einem Partner Sowjet- gen gemeinsam anstellen.
union auch zu deren Ziel gemacht werden soll, so Herr Strauß hat nach den Motiven gefragt, die
wie es in den Verträgen mit unseren westlichen die Sowjetunion veranlassen könnten, heute etwas
Verbündeten geschehen ist. Das werden Sie nicht anderes mit uns zu vereinbaren, als sie früher zu
erreichen können, aber Sie werden erreichen, daß tun bereit gewesen wäre. Natürlich gibt es Motive.
die Legitimität unseres politischen Zieles besteht Und natürlich gibt es Motive, über die man disku-
und anerkannt wird. Und ich glaube, darauf kommt tieren kann. Sicherlich ist ein Motiv die veränderte
es an. Lage an der Ostgrenze der Sowjetunion. Sicherlich
(Beifall bei den Regierungsparteien.) ist dies — was Sie auch angesprochen haben
ein Motiv für die Sowjetunion, sich an ihren west-
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zwischenfrage lichen Grenzen von Unsicherheiten entlasten zu
des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel. wollen. Das sind alles Motive, und sicherlich ist ein
Motiv auch die Erkenntnis der sowjetischen Regie-
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Kollege Scheel, zu rung, daß sie in der wirtschaftlichen Entwicklung
den Grenzfragen, zum Achten der Grenzen heute nicht, wie sie einmal durch Chruschtschow hat
und morgen: Gibt es da in den Denkvorstellungen sagen lassen, in sieben Jahren von damals aus
der Bundesregierung vielleicht irgendwo das Vor- gesehen — die Vereinigten Staaten überholen
haben oder die Absicht, darauf hinzuweisen, daß wird, sondern daß sie zurückfallen wird, wenn es
das noch formeller Bestätigung in friedensvertrag- gelingt, ein Mehr an wirtschaftlicher Kooperation
lichen Regelungen bedürfe? mit den westlichen Ländern zustande zu bringen.
Das sind Motive, zu denen noch andere hinzutre-
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ich ten mögen.
komme gleich darauf. Die zweite Frage, auf die ich (Abg. Stücklen: Dafür müssen wir perma
eingegangen wäre, ist die: Wie steht es mit der nent Zugeständnisse machen!)
Oder-Neiße-Linie? Und in dem Zusammenhang Es ist aber erkennbar, daß in dieser Zeit die
kommt die Frage des Friedensvertrages. Sowjetunion die Bereitschaft zeigt, mit uns ein
Ich habe heute morgen schon gesagt — und es ist Abkommen abzuschließen, in dem wir unsere Posi-
so bedauerlich, daß die Kollegen offenbar gar nicht tionen halten können, in dem wir unsere Positionen
hinhören, was gesagt wird —, verteidigen können und in dem wir eben keine
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Wir hören sehr unzumutbaren Zugeständnisse herzugeben gezwun-
gut hin!) gen sein werden. Solche Abkommen würden wir
nicht schließen.
daßwirklmchenoudar wen,
(Beifall bei der FDP. — Abg. Dr. Marx
daß Abmachungen über Grenzen natürlich einer frie-
[Kaiserslautern] : Ein goldenes Wort!)
densvertraglichen Regelung bedürfen. Und wir wer-
den sicherstellen, Herr Strauß hat nach den Leitsätzen des Herrn
(Zuruf des Abg. Freiherr von und zu Gutten- Bahr und ihrer Bedeutung gefragt. Er hat gesagt,
er könne sich gar nicht vorstellen, daß diese Leit-
berg)
sätze ad referendum vereinbart worden seien. Aber
daß die geltenden völkerrechtlichen Verträge und das ist nun einmal der Sinn einer solchen explora-
Abmachungen auch in unserem Abkommen mit der torischen Gesprächsrunde, wie wir sie gehabt
Sowjetunion enthalten sein werden. Aber das haben haben.
wir zum x-ten Male hier vorgetragen, und zum (Abg. Rasner: Das müssen Sie Herrn
x-ten Male wird es in Frage gestellt, und zum x-ten Ahlers und Herrn von Wechmar erzählen!)
Male wird eine Frage gestellt, die eigentlich schon
— Herr Ahlers hat gar nichts anderes gesagt. Diese
beantwortet worden ist.
Leitsätze sind naturgemäß ad referendum der je-
Meine Damen und Herren, es ist bei dieser Gele- weiligen Regierung. Wenn das nicht so wäre, wäre
genheit ein weiterer Punkt klarzustellen: Berlin. es doch ziemlich töricht, wenn sich die Bundes-
Es wird hier auch wieder in der heutigen Dis- regierung so intensiv mit diesen Leitsätzen befas-
kussion ist es mehrfach geschehen — die Frage sen würde, von denen ja bisher auch nur einige
gestellt, ob durch Abmachungen mit der Sowjet- in der Öffentlichkeit — in etwas abgeänderter Form,
union die Position Berlins gefährdet werden würde. muß ich sagen — genannt worden sind.
(Zuruf von der CDU/CSU: Ist sie schon!) Ich wiederhole also noch einmal: wenn die Bun-
Auch hier versichere ich Ihnen, es wird keine Ab- desregierung Verhandlungen über Gewaltverzicht
-
machungen geben, in denen die Position Berlins mit der Sowjetunion beginnt, dann tut sie das auf
nicht gesichert ist. Das heißt, die Verhandlungen der Basis dieser sehr umfangreichen Gespräche, die
unserer westlichen Verbündeten mit der Sowjet- ja mit dem Ziel geführt worden sind, nicht etwa
3272 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Bundesminister Scheel
Verhandlungen unmöglich zu machen, sondern Herr Strauß, daß das fest zementierte Linien sind,
Verhandlungen soweit wie überhaupt möglich vor- wissen wir nach Budapest und nach Prag.
zubereiten. Das war das Ziel der Gespräche.
Ich frage mich, warum Sie, Herr Strauß, eigentlich
(Beifall bei den Regierungsparteien.) glauben, der Sozialdemokratie etwas über den Kom-
Diese Vorbereitung ist erfolgt. Jetzt ist es an uns, munismus sagen zu müssen.
auf der Basis dieser Vorbereitung die Grundlagen (Lebhafter Beifall bei der SPD. - Zurufe
zu erarbeiten, die es möglich machen, zu verhan- von der CDU/CSU.)
deln. Es ist am Parlament, einen Text, der verhan-
delt wird, hier in einer Diskussion, nämlich in einer Der Kommunismus in Westdeutschland ist doch
Diskussion über die Ratifizierung, erneut zu be- nicht von Ihnen geschlagen worden, sondern von
raten. uns.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Erneuter Beifall bei der SPD.)
Und die Auseinandersetzung mit dem Kommunis-
Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und mus bei dem Versuch der Zwangsvereinigung zur
Herren, es scheint hier Mißverständnisse zu geben SED ist doch nicht von Ihnen geführt worden, son-
in bezug auf den Rechtsausschuß. Es wird mir so- dern von Sozialdemokraten. Wer ging denn in Ul-
eben gesagt, der Rechtsausschuß trete um 16 Uhr brichts Gefängnisse?
zusammen. Ich bitte, sich dementsprechend einzu-
(Lebhafter Beifall bei der SPD.)
richten.
Das Wort hat Herr Minister Professor Ehmke. Und wer hat denn gekniffen drüben vor dein Red-
neraustausch? Die SED vor dem Redneraustausch
mit uns. Sehen Sie sich doch heute die Propaganda
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- an. Sie glauben doch nicht, daß die Leute drüben
gaben: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angst vor Ihnen haben.
Ich darf vielleicht auf einige der Fragen eingehen,
die Sie aufgeworfen haben, Herr Kollege Strauß. (Beifall bei der SPD.)
Ich muß sagen, es sind einige Beispiele dabei — die Sie sind ein wunderbarer Gegner, als nationalisti-
gibt es sicher auch auf unserer Seite , wie wir sche Buhmänner das Lager drüben innenpolitisch
aneinander vorbeireden. Das haben Sie in Ihrer zusammenhalten.
Rede gezeigt. Der Bundeskanzler hat heute morgen
gesagt: Diese Regierung zieht selbstverständlich (Zuruf des Abg. Strauß. -- Weitere Zurufe
nicht in Zweifel, daß auch ihre Vorgängerinnen be- von der CDU/CSU.)
strebt gewesen sind, dem Frieden zu dienen. Das --- Augenblick, Herr Strauß, ich habe keineswegs
hat er ausdrücklich gesagt, auch für die CDU-Kanz- die gesamte CDU als nationalistisch bezeichnet.
ler. Sie meinten, wir sagten „Friedenspolitik" in Aber wenn man dauernd vom Ausverkauf und von
einer Form, als wenn Sie den Krieg wollten. Wozu? Befehlsempfang redet, Herr Kiesinger, dann nützt
Der Kanzler hat doch ausdrücklich das Gegenteil es nichts, wenn man hinterher sagt, das sei nicht
gesagt. Was soll dieses Hochschaukeln von Emo- nationalistisch; denn das ist nationalistisch.
tionen?
(Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar
Wehner: Rechnen Sie auf Fairneß bei dem?) teien. - Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Unerhört!
Abg. Strauß: Oberkanzler Ehmke: Was
-- Nein, Herr Abgeordneter Wehner. Ich lasse mir national ist, bestimme ich!)
nur nicht von anderen Leuten ihren Stil aufzwingen.
-- Ach, Herr Strauß, nicht so billig, Sie können das
(Beifall bei den Regierungsparteien.
doch besser.
(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg mel-
det sich zu einer Zwichenfrage.) Sie brauchen uns doch wirklich nicht zu erklären,
daß das verschiedene Systeme sind; und wenn die
Leute drüben vor etwas Angst haben, dann doch
Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine
Zwischenfrage? nicht vor Ihrer konservativen Geisteshaltung, son-
dern vor dem, was sie den Sozialdemokratismus
nennen.
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Nein. Herr Guttenberg, lassen Sie mich jetzt (Sehr wahr! bei der SPD. — Zurufe von der
einmal im Zusamemnhang sprechen. Ich beschäftige CDU/CSU.)
mich im Augenblick wirklich gern ausschließlich mit Nun einen wesentlichen Punkt, Herr Strauß. Ich
Herrn Strauß. wäre übrigens dankbar, wenn wir darauf doch noch
Ich komme gleich auf das zweite Beispiel. Herr eine Antwort bekommen könnten, es könnten ja
Strauß, Sie haben gesagt: Der Kanzler hat gespro- Meinungsverschiedenheiten sein. Was Herr Kollege
chen von der Linie, die durch Europa geht und die Scheel in so großer Klarheit gesagt hat, über diese
politisch zementiert wurde durch die Garantien Fragen kann man —
zweier Paktsysteme und das dahinterstehende Po- (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)
-
tential zweier Supermächte. Daraus haben Sie eine
große Show gemacht, weil wir angeblich nicht wüß- -- In sehr großer Klarheit gesagt hat! Ja, so simple
ten, daß das ganz verschiedene Ordnungen seien. Positionen wie Sie, Herr von Guttenberg, sie ver-
Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3273
Bundesminister Dr. Ehmke
treten, sind noch simpler zu formulieren, das ist — Aber Herr Strauß, reden Sie doch nicht immer
richtig. von Texten. Ich verstehe überhaupt nicht, warum
(Beifall bei der SPD. - Zuruf des Abg. Sie, wenn Sie nicht die Verhandlungen von vorn-
Strauß.) herein stören wollen — das ist etwas anderes —,
-- Herr Strauß, ich habe Sie auch so verstanden, dann nicht warten können, von dem Wahlkampf,
daß Sie von der Natur kommunistischer Regimes den wir hinter uns haben, einmal abgesehen, und
und Regierungen gesagt haben: im Grunde kann sagen: Gut, die verhandeln jetzt, geben wir der
man gar nicht mit denen verhandeln. Ich habe den Regierung die Chance, das zu verhandeln. Sie muß
gleichen Widerspruch gesehen. ja das, was sie schließlich ausgehandelt hat,
(Fortgesetzte Zurufe von der CDU/CSU.) (Abg. Rasner: Das ist zu gefährlich!)
Und was den Inhalt angeht — nun warten Sie doch auf den Tisch legen und eine Mehrheit hier im
einmal ab — muß ich meinen, die Leute im Aus-
,
Hause finden. Dann werden Monate zur Beratung
land halten uns doch nicht für einen erwachsenen Zeit sein. Wie soll das, was Sie jetzt machen —
Staat, wenn sie sehen, daß, bevor die Verhandlun- 57 mal die Fragen stellen, die schon beantwortet
gen beginnen, bevor überhaupt Texte da sind, hier sind, zum Teil im Ausschuß, zum Teil hier —, von
alles weit und breit zerredet wird. uns anders verstanden werden als ein Versuch, jede
Verhandlung zu verhindern im Widerspruch zu der
(Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Tatsache, daß Sie sagen: Auch wir sind für Ver-
Sehen Sie sich an, was die drei Alliierten mit ihren handlungen.
Verhandlungen in Berlin machen. Da wird weder im (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Parlament noch in der Presse irgend etwas gesagt.
Ich gehe Ihnen eines zu, meine Herren von der Noch ein letzter Punkt, Herr Strauß. Sie haben
Opposition, die Regierung selbst hat sich mich in meinem vielleicht etwas schiefen Bild von
den Flaggen und den Parolen von den Menschen-
(Abg. Strauß: Unterschriftsreife Ungewiß- rechten sehr bestätigt. Ich darf Sie erst einmal dar-
heit!) auf aufmerksam machen, daß die Menschenrechte
lassen Sie mich doch einmal etwas zugeben, ohne ausdrücklich in den zwanzig Punkten, die der Bun-
Zwischenrufe zu machen — in eine Situation ma- deskanzler in Kassel auf den Tisch gelegt hat, ent-
növriert, die in manchem wirklich schwierig ist, weil halten sind. Aber ich sage noch einmal, Sie sind uns
wir die erforderliche Diskretion nicht durchhalten leider eine Antwort schuldig geblieben. Sie sagen:
konnten, das gebe ich sofort zu, auch dank mancher mit der Sowjetunion zu verhandeln, ist furchtbar
noch nicht ganz vollzogenen Geisteswandlungen schwierig, und hinsichtlich dessen, was da heraus-
hier in dieser Stadt. kommen soll, haben wir Bedenken.
(Beifall bei der SPD. -- Oh-Rufe bei der (Abg. Strauß: Es geht um die materielle
CDU 'CSU. - Zuruf des Abg. Köppler. -- Regelung!)
Abg. Rasner: Was ist das?)
- Aber, Herr Strauß, dann müssen Sie sagen, wie
Darüber, Herr Köppler, werden wir uns noch nach Ihrer Meinung eine vertretbare Regelung aus-
sehr eingehend unterhalten. Ich nehme den Beam- sehen kann, und dann hat es keinen Zweck, wie-
teneid, den man auf seine Dienstpflicht leistet, sehr derum nur diese Deklamationen zu machen, son-
ernst. Darüber wird noch zu sprechen sein. dern Sie müssen uns sagen, wie der Weg ist, auf
(Beifall bei der SPD. -- Abg. Dr. Marx dem man dazu kommt.
[Kaiserslautern]: Was verstehen Sie unter (Abg. Strauß: Gewaltverzicht!)
„Geisteswandel in dieser Stadt"? — Wei- Solange Sie das nicht sagen, Herr Strauß, solange
tere Zurufe von der CDU/CSU.) Sie uns — ich sage es noch einmal — die Alterna-
Darf ich jetzt vielleicht fortfahren, Herr Strauß, tive in dieser Sache schuldig bleiben, so lange kann
wenn Sie mir zuhören. — Auf der einen Seite hat diese Regierung nur unbeirrt den Weg gehen, den
man die Diskretion nicht wahren können, die erfor- sie geht.
derlich ist, um draußen diplomatisch wirklich ernst (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
genommen zu werden, und auf der anderen Seite rufe von der CDU/CSU.)
können wir uns, um nun nicht noch weiteren außen-
politischen Kredit zu verspielen, in dieser Phase, in Vizepräsident Dr. Schmid: Das W ort hat dei
der die eigentlichen Verhandlungen nicht begonnen Herr Abgeordnete Mischnick, 20 Minuten sind be-
haben, kaum entschließen, Texte vorher auf den antragt.
Tisch zu legen.
(Zurufe von der CDU/CSU.) Mischnick (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr
Ich gebe Ihnen zu, einer der Nachteile der Situation verehrten Damen und Herren! An sich waren sich
ist, daß eine Art Zwielicht entstanden ist. Es ist alle drei Fraktionen einig, heute die Europapolitik
keine volle Diskretion, es ist keine volle Öffentlich- in den Vordergrund zu stellen. Aus der Tatsache,
keit, das ist ein Zustand, in dem wir leben müssen, daß die Opposition dazu sehr wenig gesagt hat,
his wir mit den Texten durch sind. Darum sollte müssen wir schließen, daß die Europapolitik dieser
man da nicht so lange warten, wenn es geht. - Bundesregierung so gut ist, daß die Opposition kei-
(Abg. Strauß: Sie wollen also einen ande- nerlei Grund sieht, sie ausführlich zu diskutieren.
ren Text!) (Beifall bei den Regierungsparteien.)
3274 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Mischnick

Wenn hier von Minister Ehmke mit Recht darauf Sache herangehen. Wenn Sie gefragt haben, wer
hingewiesen worden ist, daß in den letzten Tagen damit gemeint sei, so sage ich: Natürlich gibt es
bedauerlicherweise wieder einmal Indiskretionen in unserem Land Leute, die die Illusion haben, man
begangen worden sind und daß man Loyalität er- brauche nur einmal zu sprechen, dann sei man
warten muß, dann ist es für mich unverständlich, schon zu einem Ergebnis gekommen. Aber ich meine
wenn ein Kollege der CDU/CSU dann zuruft, das genau die Illusionisten, die glauben, man hätte
sei Gehirnwäsche. Die Loyalität der Beamten in einen Tisch, auf den man mit der Faust schlagen
könne, um irgend etwas durchzusetzen. Das haben
diesem Staat muß eine Selbstverständlichkeit sein
wir nicht. Das müssen wir doch endlich einmal ein-
und hat nichts mit Gehirnwäsche zu tun.
sehen.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien. —
Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Wer meint
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier
das? Das sind doch Pappkameraden, die
ist heute vormittag von Herrn Kollegen Kiesinger
man sich aufbaut!)
— ich bedaure, daß er nicht hier ist —
Der Kollege Strauß hat darauf hingewiesen, wir
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Er kommt
hätten 1968 in einer gemeinsamen Resolution Daten
gleich wieder!)
gesetzt. Der Kollege Strauß hat aber wieder völlig
zweimal davon gesprochen worden ist, daß er zu vergessen, daß die Freien Demokraten einem ent-
Verhandlungen bereit sei, aber nicht zum Befehls- scheidenden Punkt dieser Resolution nicht zuge-
empfang. Dann ist es in der Form etwas abge- stimmt haben. Wir sind in der Auffassung über
ändert worden: Er hoffe, daß nicht eine Situation das, was wir schon damals glaubten verantworten
entsteht, aus der Befehlsempfang werden kann. zu können, genau bestätigt worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, als wir
Mit Recht wird immer wieder darauf hingewie-
1949 in einer Koalition mit Ihnen von der CDU/
sen, es sei notwendig, bei all diesen Gesprächen
CSU waren, haben wir uns mit Ihnen gegen die
und Verhandlungen auszuschließen, daß die Erklä-
damalige Unterstellung gegen den damaligen Bun-
rung der Unverletzlichkeit der Grenzen als ein Ver-
deskanzler gewandt. Wir erwarten von Ihnen, daß
zicht ausgelegt werden könne, auch einmal die staat-
Sie sich genauso von dem distanzieren, was hinter
liche Einheit wiederherzustellen. Das ist unsere ge-
dieser Verdächtigung steht, man könnte Befehls-
meinsame Überlegung, das ist unser gemeinsames
empfänger werden, so wie wir es damals auch
Ziel.
erwartet haben.
Herr Kollege Strauß, Sie sprachen vorhin davon,
(Beifall bei den Regierungsparteien. Zu-
daß ein brieflicher Vorbehalt keine Wirksamkeit
rufe von der CDU/CSU.)
habe. Zu dem, was Sie zu diesem Punkt hinzugesetzt
Mit dieser Vokabel, daraus könne Befehlsempfang haben, kann ich Ihnen nur das ins Gedächtnis zu-
werden, wird doch wieder versucht, eine Dolchstoß- rückrufen, was in der 101. Sitzung des Deutschen
legende hochzuzüchten, gegen die wir uns mit allen Bundestages am 22. September 1955 der damalige
Mitteln wehren werden. Bundeskanzler Dr. Adenauer gesagt hat: ich zitiere
mit Genehmigung des Herrn Präsidenten:
(Beifall bei den Regierungsparteien. —
Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das hat Bei den Vorbehalten handelt es sich um eine
Kiesinger doch klargestellt, hören Sie doch deutsche Rechtsverwahrung. Für eine solche ist
zu!) eine einseitige Erklärung der Bundesregierung
ausreichend. Diese Erklärung muß nur der an-
Ich unterstelle nicht, daß das die Absicht von Herrn
deren Seite zugegangen sein. Dies ist gesche-
Kollegen Kiesinger war; aber es wird Zeit, daß auch
hen, und die deutschen Vorbehalte sind damit
Sie, meine verehrten Damen und Herren von der
völkerrechtlich wirksam geworden. Die Erklä-
CDU/CSU, sehen, welche Gefahr Sie heraufbeschwö-
rung muß nicht etwa, um völkerrechtlich wirk-
ren, wenn Sie in dieser Weise versuchen, die Be-
sam zu sein, von der Gegenseite angenommen
mühungen der Bundesregierung in ein falsches
werden.
Licht zu stellen.
Ich betone: Wir sind nicht in diesem Stadium des
Herr Kollege Barzel hat davon gesprochen, daß
Gespräches. Aber wenn Sie heute prophylaktisch
die Art, wie über einen möglichen Vertrag mit der
sagen, so etwas sei nicht möglich, müssen Sie dar-
Sowjetunion diskutiert werde, für ihn den Eindruck
aus die Konsequenz ziehen, daß Ihr damaliger Bun-
erwecke, daß das kein seriöser Umgang mit einer
Weltmacht sei. Lieber Herr Kollege Barzel, wenn ich deskanzler Ihnen und diesem Parlament etwas Fal-
sches gesagt hat; denn das ist die einzige Logik.
all das, was in diesem Haus aus Ihren Reihen ge-
sagt worden ist, als seriösen Umgang mit der Welt- (Beifall bei den Regierungsparteien. ---
macht Sowjetunion bezeichnen soll, dann weiß ich Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Sie
nicht, was Sie vorhin mit dieser Bemerkung ge- verwechseln Äpfel und Birnen!)
meint haben. — Von dem Verwechseln von Äpfeln und Birnen
(Abg. Dr. Klepsch: Blabla!) kann keine Rede sein. Sie wollen doch jetzt nicht
Wir sind immer der Meinung gewesen, das wir in sagen, daß bei der Aufnahme diplomatischer Bezie-
Nüchternheit --- Herr Kollege Marx hat heute früh hungen der Briefvorbehalt, der sich auf die Teile
darauf hingewiesen und ich wiederhole, was ich Ostpreußens bezog, materiell wenig gewesen sei.
immer gesagt haben — und illusionslos an die Das war materiell eine sehr gewichtige Sache, die
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3275
Mischnick
damals vereinbart worden ist. Darüber sind wir zichtsvertrag mit der Sowjetunion nicht nur zur
uns doch wohl einig. Kenntnis genommen, sondern als Grundlage sol-
cher Verhandlungen angesehen. Diese sechs Punkte
(Abg. Dr. Klepsch: Blabla!)
sind Ihnen bekannt. Trotzdem fangen Sie immer
wieder an, davon zu sprechen, daß hier Unklarhei-
Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zwischen- ten vorhanden seien. Mit Recht hat Herr Minister
frage? Ehmke darauf hingewiesen, daß sich der Eindruck
verstärken müsse, daß es gar nicht darum gehe,
Mischnick (FDP): Bitte! diese oder jene Frage sachlich zu klären, sondern
darum, immer wieder in Zweifel zu ziehen, ob es
Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU): überhaupt sinnvoll ist, mit der Sowjetunion ein
Herr Kollege Mischnick, sind Sie bereit, einzuräu- Abkommen abzuschließen.
men, daß damals bei der Aufnahme diplomatischer (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Aber Herr
Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Mischnick!)
Sowjetunion ein Briefwechsel zwischen Herrn Bul-
Wir bleiben bei der Auffassung, daß es sinnvoll ist.
ganin und Konrad Adenauer stattgefunden hat, in
dem die Hauptfragen, nämlich die der Wiederver- Wenn Sie in Zweifel ziehen — das ist der zweite
einigung durch Selbstbestimmung, von beiden Sei- Punkt —, daß überhaupt verhandelt werden könne,
ten aufgenommen waren? dann scheinen Sie überhört zu haben, daß auch von
(Beifall bei der CDU/CSU.) sowjetischer Seite vor wenigen Tagen deutlich ge-
macht worden ist, daß die Sowjetunion bereit sei,
mit uns über diesen Gewaltverzichtsvertrag zu ver-
Mischnick (FDP) : Herr Kollege Guttenberg, jetzt handeln. Das macht deutlich, daß keine Rede davon
verwechseln Sie etwas: Sie verwechseln den all-
sein kann, daß das, was hier an Aufzeichnungen
gemeinen Briefwechsel mit den Vorbehalten, auf
vorliegt, etwa ein fertiger Vertragsentwurf wäre.
die ich mich bezogen habe und die der damalige
Es ist vielmehr der Ausgangspunkt für weitere Ver-
Bundeskanzler hier ausdrücklich dargelegt hat. Bitte
handlungen. Es wäre gut, wenn Sie sich endlich ent-
lesen Sie das noch einmal nach. Dann werden Sie
schlössen, einmal konkret zu sagen, was Sie gege-
feststellen, daß der Vergleich mit dem, was Herr
benenfalls bei solchen Verhandlungen anders gere-
Strauß gesagt hat, stimmt. Es ist damit nicht
gelt wissen wollen oder wo Sie glauben, daß zu-
der allgemeine Briefwechsel gemeint gewesen. Das
sätzliche Punkte eingebaut werden müssen. Unter-
war eine zweite Sache. richtet worden sind Sie im zuständigen Ausschuß.
Herr Kollege Strauß, Sie haben davon gesprochen,
die Darlegungen zum Münchener Abkommen seien Wenn Sie aber diese Fragen beantworten sollen,
so gewesen, daß Sie daraus eine Veränderung des entsteht doch immer wieder die gleiche Situation,
Standpunktes gegenüber dem bei früheren Erklä- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Da fallen
rungen eingenommenen herausgehört hätten. Ich dem Gutwilligsten die Hände herunter!)
habe mir noch einmal die Erklärung angesehen, die
daß ein Teil von Ihnen sagt: ja, wir sind zu Ver-
die Bundesregierung der Großen Koalition am
13. Dezember 1966 abgegeben hat. Darin hieß es handlungen bereit, ein Teil sagt: es hat gar keinen
Sinn, Abkommen zu treffen,
ausdrücklich:
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Wer sagt
Auch mit der Tschechoslowakei möchte sich das
denn das?)
deutsche Volk verständigen. Die Bundesregie-
rung verurteilt die Politik Hitlers, die auf die und der andere Teil praktisch offenbleibt. Entschei-
Zerstörung des tschechisch-slowakischen Staats- den Sie sich endlich einmal! Sind Sie bereit, Ver-
verbandes gerichtet war. Sie stimmt der Auf- träge mit der Sowjetunion abzuschließen, oder sind
fassung zu, daß das unter Androhung von Ge- Sie dazu nicht bereit?
walt zustande gekommene Münchener Abkom- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das ist
men nicht mehr gültig ist. doch reines Blabla!)
(Abg. Strauß: Nicht mehr oder von Diese Frage müssen Sie beantworten.
Anfang an?)
(Beifall bei den Regierungsparteien. --
ich nehme an, Sie stehen zu dem, was Sie damals Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)
in Ihrer gemeinsamen Regierungserklärung gesagt
haben. Genau um diese Fragen geht es in den wei-
teren Gesprächen, die geführt werden. Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
Abgeordnete Barzel für fünf Minuten. Darauf muß
(Zurufe von der CDU/CSU.) ich hinweisen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da (Zurufe von der SPD.)
ausgemacht ist, die Debatte um 16 Uhr zu beenden,
möchte ich jetzt nur noch auf zwei Punkte eingehen. Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
Die Koalition hat, wie hier mehrfach dargelegt wor- Damen und Herren! Die Schlußfrage des Kollegen
den ist, gemeinsam mit der Bundesregierung die Mischnick beantworte ich wie vorher in meiner
sechs Punkte, das Ergebnis der Aussprache der Bun- Zwischenfrage an den Kollegen Scheel mit einem
desregierung über einen möglichen Gewaltver- klaren Ja. Im übrigen haben die Einübungen des
3276 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970

Dr. Barzel
Herrn Kanzleiministers in Polemik weder die Fak- Viertens. Herr Kollege Ehmke, auch Ihre Polemik
ten noch unsere Position verändern können. ändert nichts am Text des Art. 79, am Text der
(Beifall bei der CDU / CSU. — Lebhafte Zu- Präambel des Grundgesetzes,
rufe von der SPD.) (Sehr gut! bei der CDU/CSU)
am Text des Art. 116 des Grundgesetzes, am Wie-
Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordne-
dervereinigungsgebot des Grundgesetzes und an
ter, den Ausdruck „Kanzleiminister" rüge ich.
der hierzu vorliegenden höchstrichterlichen Recht-
(Weitere Zurufe von der SPD. Abg. Dr.
sprechung.
Apel: So etwas Billiges!)
(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dr. Barzel (CDU/CSU) : Zu den Fakten halte ich Fünftens. Es muß uns erlaubt sein, einen Satz
folgendes fest. zu zitieren, der sehr gut ist und den wir hier am
Schluß doch noch einmal erwähnen wollen. Bundes-
Erstens. Die zehn Punkte, die ich für unsere Frak- präsident Heinemann hat gesagt: „Ein guter Deut-
tion hier habe vortragen dürfen, gelten und sind scher kann kein Nationalist sein." Diesem Satz
die Antwort auf die Frage des Kanzlers. stimmt sicher das ganze Haus zu,
Zweitens. Der Text unseres Antrags, der gleich an (Zurufe von der SPD)
den Ausschuß überwiesen wird, enthält unsere
Alternative und unsere Politik und kann nicht und ich hoffe, Sie alle stimmen dann auch dem
durch polemische Äußerungen verändert werden. Satz zu, daß diejenigen, die das Selbstbestimmungs-
recht verteidigen, gute Demokraten sind und von
Drittens. Trotz der Rede des Herrn Ehmke blei-
niemandem deshalb gescholten werden sollten.
ben wir bereit, wenn der Herr Bundeskanzler sei-
nen Worten von heute morgen entsprechende Taten (Beifall bei der CDU/CSU.)
folgen läßt, im Gespräch mit ihm den Versuch zu
machen,
Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und
(Abg. Wehner: Damit Sie seine Worte hier Herren, es ist 16 Uhr. Wir schließen die Verhand-
verdrehen können!) lungen für heute.
eine breite Mehrheit zu finden. Herr Ehmke hat Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
das von Anfang an nicht gewollt, und dabei war er destages auf morgen, Donnerstag, den 18. Juni
mit Ihnen immer einig, Herr Wehner. 1970, 9.00 Uhr, ein.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Die Sitzung ist geschlossen.
Ich muß das im Eiltempo sagen, weil ich den Präsi-
denten wirklich nicht inkommodieren will. (Schluß der Sitzung: 16.01 Uhr.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 17. Juni 1970 3277

Anlage zum Stenographischen Bericht

Liste der beurlaubten Abgeordneten

Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich

Bartsch 19. 6.
Breidbach 19. 6.
Frau Dr. Focke 17. 6.
Heyen 19. 6.
Katzer 17. 6.
Freiherr von Kühlmann-Stumm 17. 6.
Dr. Lohmar 30. 6.
Müller (Remscheid) 17.6.

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