22 BLINDTEXT Deutsch perfekt

WIE DEUTSCHLAND FUNKTIONIERT

Die Politikmanufaktur
Der Deutsche Bundesrat ist so etwas wie der Senat in den USA. Warum ist er trotzdem anders als
alle zweiten Parlamentskammern in anderen Ländern? LEICHT

P
lötzlich gibt es ein Drama
in dem eigentlich so feinen
Haus. An einem Märztag im
Jahr 2002 wird Roland Koch
(CDU) laut. „Unglaublich“,
dem Forum der Bundesländer. Dort wird
die Parlam¡ntskammer, -n  beruhigen 
plötzlich Brandenburg zentral. In dem ,  ≈ Teil vom Parlament ,  mit Worten ruhiger
ostdeutschen Bundesland regiert eine machen
die CDU 
große Koalition aus SPD und CDU. Die ,  kurz für: Christlich der B¢ndeskanzler, - 
SPD ist dafür, die CDU dagegen, ein Di- Demokratische Union , Regierungschef

ruft der damalige Ministerpräsident von
Hessen. Klaus Wowereit ist zu dieser Zeit
Berliner Bürgermeister und Präsident des
Bundesrats. Er versucht zu beruhigen. Es
hilft nicht. Alle Politikerinnen und Politi-
ker der CDU gehen aus dem Raum.
Warum das? Der damalige Bundes-
kanzler Gerhard Schröder von der SPD
will ein Zuwanderungsgesetz. Es soll ihm
helfen, wieder Bundeskanzler zu werden.
Es fehlt nur noch das Ja des Bundesrats,
lemma. Als Brandenburg seine Position
erklären soll, beginnt das Spektakel.
Der Ministerpräsident ruft Ja. Der
Innenminister Nein. Wowereit ist als
Sozialdemokrat selbst für die Reform.
Er interpretiert das Votum als Ja. Jedes
Bundesland kann nämlich nur als Ganzes
wählen. Der Protest gegen seine Inter-
pretation wird laut. Neun Monate später
stoppt die Justiz das Gesetz. Am Ende
hilft nur noch ein Kompromiss.
damalige (-r/-s)  die SPD ,  kurz für:
, hier: zu dieser Zeit
der Min“sterpräsident, -en 
,  Regierungschef von ei-
nem deutschen Bundesland
(das B¢ndesland, ¿er 
,  Teil von einer föderalisti-
schen Republik)
unglaublich 
, hier: skandalös
der B•rgermeister, - 
,  Chef von einem Ort
Sozialdemokra­tische Partei
Deutschlands
das Zuwanderungsgesetz,
-e ,  Gesetz zur Immigrati-
on in Deutschland
(das Ges¡tz, -e 
,  schriftliche Norm in
einem Land)
der |nnenminister, - 
,  Minister: Er kümmert
sich um die Sicherheit.
 Deutsch perfekt
Der geplante Eklat geht in die Geschichte
ein. Typisch für die Institution ist näm-
lich der Konsens, nicht die Kontroverse,
ganz anders als im Bundestag. Normale
Sitzungstage im Bundesrat sind deshalb
wenig emotional. Die Politiker applaudie-
ren nicht und stören nicht.
Viele Länder haben eine zweite Kam-
mer. Dort sitzen aber meistens ex­tra
gewählte oder ernannte Mitglieder. In
Großbritannien sind es die Aristokraten
im House of Lords, in den USA die Sena-
toren. In der Leipziger Straße in Berlin
aber geben die Vertreter der Landesregie-
rungen ihr Votum für oder gegen Gesetze.
Das ist bei vielen Gesetzen nötig. Keine
zweite Kammer in einem anderen Land
funktioniert so.
Für ein Gesetz brauchen die Mitglieder
des Bundesrats meistens nur Sekunden
bis Minuten. Dabei sitzen
die Vertreter der Bundeslän-
der in kleinen Blöcken. Sie
sehen in Dokumente und
Typisch für die
heben bei der Abstimmung Institution ist
die Hand – oder auch nicht. der Konsens,
Einen „verfassungsprak-
tischen Alleskönner“ und
nicht die
ein „Bollwerk der arbeiten- Kontroverse.
Foto: picture alliance/dpa/Reuters/Pool; Quelle: Dies ist eine einfachere Version eines Texts aus der Süddeutschen Zeitung.
den Demokratie“ hat Bun-
despräsident Frank-Walter
Steinmeier den Bundesrat bei seiner
1000. Sitzung im Februar genannt.
Von außen sieht das alles manchmal
wie eine ziemlich komische Gesetzes-
manufaktur aus. Was man nicht sieht:
Die wichtigste Arbeit ist da schon lange
gemacht. Nicht öffentliche Ausschüsse
diskutieren über Formulierungen. Diens-
tags treffen sich die Landeskabinette.
Und am Abend vor einer Sitzung treffen
sich die Ministerpräsidenten der Union
bei einem Abendessen mit der Kanzlerin.
Lange Zeit war die Welt im Bundesrat
ziemlich einfach. Die einen Bundesländer
waren A-Länder: Dort regiert die SPD. Die
anderen waren B-Länder: Dort regiert die
Union. Die größere Seite hatte im Bun-
desrat die Mehrheit.
Heute gibt es in den Koalitionen
der Bundesländer neun verschiedene
Farbkombinationen aus vielen Par-
teien. Mehrheiten zu organisieren, ist
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der Eklat, -s franz.  die Union 
komplizierter. „Realismus pur“, hat der ,  ≈ Skandal ,  Fraktion von CDU und
Ministerpräsident Thüringens, Bodo Ra- CSU
“n die Gesch“chte eingehen 
melow (Linke), das einmal genannt. ,  zu einer historisch (die CSU 
Dieser Realismus kann aber auch in- wichtigen Sache werden ,  kurz für: Christlich-Sozi-
ale Union)
spirieren: Bei inoffiziellen Gesprächen der B¢ndestag 
zwischen Ministerpräsidenten wie Horst , hier: deutsches Parla- pur 
ment und die erste von zwei ,  nichts anderes als
Seehofer und Winfried Kretschmann Parlamentskammern
s“ch „nbahnen 
bahnten sich hier erste schwarz-grüne
der S“tzungstag, -e  , hier: anfangen, da zu
Sympathien an. Das war politisch lange ,  Tag mit einer Sitzung sein
Zeit sehr unwahrscheinlich. Der Grüne (die S“tzung, -en   schw„rz-grün 
Kretschmann war auch einmal Bundes- , hier: Treffen vom ,  zwischen der Union und
ratspräsident. Da wollten die Grünen Bundesrat) den Grünen
eine Abstimmungsmaschine installieren ern„nnt   scheitern 
,  mit einer offiziellen , L gewinnen
– und scheiterten. Schlecht für die Helfer
Position: Die Regierung
im Bundesrat: Die müssen weiter in we- der [lterspräsident, -en 
oder ein/e Monarch/in hat
, hier: ältestes Bundes-
nigen Sekunden Hände zählen. sie gegeben.
ratsmitglied: Es hat spezi-
Vor 72 Jahren hat der Alterspräsident das M“tglied, -er  elle Aufgaben, wenn der
Johannes Büll die erste Sitzung mit ei- , hier: Person: Sie hat Präsident vom Bundesrat
eine Position in einem nicht da sein kann.
nem Satz des Dichters und Philosophen Parlament.
der D“chter, - 
Friedrich Schiller begonnen. „Das voll-
der Vertreter, -  , Poet
kommenste Kunstwerk , hier: Politiker von
vollk¶mmenste (-r/-s) 
ist der Bau der politischen einer Landesregierung als
,  vollkommene (-r/-s) =
Mitglied im Bundesrat
Freiheit.“ Vertreter der alli- hier: beste; ideale; perfekte
ierten Siegermächte waren (die L„ndesregierung, -en 
das K¢nstwerk, -e 
da, genau wie Vertreter der
,  Regierung von einem
Bundesland)
, hier: besonders tolle
Arbeit
damaligen Bundesländer
die H„nd heben 
Württemberg-Baden, Würt- der Bau 
temberg-Hohenzollern und
, hier: die Hand als Signal
für „Ja“ oder „Nein“ nach
, von: bauen = hier:
konstruieren; herstellen
Baden (heute zusammen
oben nehmen
der Vertreter, - 
Baden-Württemberg). Nach verf„ssungspraktisch 
, hier: Person, die für die
,  von und für die Ver-
41 Minuten war Schluss. fassung
Interessen von … spricht
Die Idee für diese spezielle zweite die alliierten
(die Verf„ssung, -en 
Kammer hatte vor 150 Jahren Reichs- Sieger­mächte Pl. 
,  schriftliche Form für die
, hier: USA, Großbritanni-
kanzler Otto von Bismarck. Ohne Loya- Normen in einer Nation / in
en, Frankreich, Sowjetunion
einem Land)
lität von verschiedenen Aristokraten war in der Zeit nach 1945
sein neuer Nationalstaat unmöglich. Die das B¶llwerk, -e 
der Reichskanzler, - 
, hier: wichtiger Schutz
Aristokraten wollten dafür weiter ihre ,  Chef von der Regierung
(der Sch¢tz  in Deutschland (1871 –
Souveränität haben.
, von: schützen = hier: 1945)
150 Jahre später ist der Bundesrat helfen, dass … nichts Schlim-
der Nationalstaat, -en 
immer noch das wichtigste Symbol des mes passiert)
, hier: ≈ Union von allen
deutschen Föderalismus. Manche nen- der B¢ndespräsident, -en  deutschen Regionen zu
nen ihn einen Ort des Blockierens. Das , hier: Präsident von einer Nation
Deutschland
können die Grünen wirklich immer dafür 
gen„nnt  ,  hier: ≈ aber
mehr – durch ihre vielen Koalitionen in
,  Part. II von: nennen
den Bundesländern. weiter 
= hier: … sagen zu
, hier: immer noch
Warum aber hat im Februar schon die der n“cht œffentliche
1000. Sitzung stattgefunden? Ganz ein- Ausschuss, die n“cht
fach: Legislaturperioden gibt es im Bun- œffentlichen Ausschüsse 
, hier: Gruppe von
desrat nicht. Auf den Bänken sitzen nach Politikern im Parlament:
jeder politischen Änderung in den Bun- Sie kümmert sich um ein
desländern immer wieder andere Politi- spezielles Thema und berät
ohne Publikum.
ker. Nur die Institution bleibt gleich: der
Bundesrat. Viktoria Spinrad