Sie sind auf Seite 1von 48

Sabine Brünig (Bearbeitung)

Johann Wolfgang von Goethe

Iphigenie auf Tauris

Mit einer Einführung in die Vorgeschichte, leicht gekürzt und zum Teil in
moderneres Deutsch übertragen, mit Fragen zum Textverständnis sowie
Erläuterungen

1
Personen:

Iphigenie

Thoas, König von Tauris

Arkas, sein Vertrauter und Bote

Orest, Iphigenies Bruder

Pylades, sein Vertrauter

2
Erster Akt
1. Szene (Original)
Iphigenie: Heraus in eure Schatten, rege Wipfel
Des alten, heil’gen, dicht belaubten Haines,
wie in der Göttin stilles Heiligtum
Tret ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,
Als wenn ich sie zum ersten Mal beträte,
Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.
So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
Denn ach, mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem Ufer steh ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend;
Und gegen meine Seufzer bringt die Welle
Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.
Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern
Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram
Das nächste Glück vor seinen Lippen weg.
Ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken
Nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne
Zuerst den Himmel vor ihm aufschloss, wo
Sich Mitgeborne spielend fest und fester
Mit sanften Banden aneinander knüpften.
Ich rechte mit den Göttern nicht; allein
Der Frauen Zustand ist beklagenswert.
Zu Haus und in dem Kriege herrscht der Mann,
Und in der Fremde weiß er sich zu helfen.
Ihn freuet der Besitz; ihn krönt der Sieg!
Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet.
Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück!
Schon einem rauen Gatten zu gehorchen
Ist Pflicht und Trost; wie elend, wenn sie gar
Ein feindlich Schicksal in die Ferne treibt!
So hält mich Thoas hier, ein edler Mann,
In ernsten, heil’gen Sklavenbanden fest.
O wie beschämt gesteh ich, dass ich dir
Mit stillem Widerwillen diene, Göttin,
Dir meiner Retterin! Mein Leben sollte
Zu freiem Dienste dir gewidmet sein.
Auch hab ich stets auf dich gehofft und hoffe
Noch jetzt auf dich, Diana, die du mich,
Des größten Königes verstoßne Tochter,
In deinen heil’gen, sanften Arm genommen.
Ja, Tochter Zeus‘, wenn du den hohen Mann,
Den du, die Tochter fordernd, ängstigtest,
Wenn du den göttergleichen Agamemnon,
Der dir sein Liebstes zum Altare brachte,
Von Trojas umgewandten Mauern rühmlich
Nach seinem Vaterland zurückbegleitet,
Die Gattin ihm, Elektren und den Sohn,
Die schönen Schätze, wohl erhalten hast:
So gib auch mich den Meinen endlich wieder
Und rette mich, die du vom Tod errettet,
Auch von dem Leben hier, dem zweiten Tode!

3
Erster Akt

1. Szene (bearbeitet)
Monolog der Iphigenie vor dem Tempel der Göttin Diana, der Schwester Apolls, auf
Tauris (Halbinsel Krim)
Iphigenie: Ach, immer noch betret‘ ich diesen Tempel
Mit schauderndem1 Gefühl – als wär’s das erste Mal.
Ich kann mich nicht daran gewöhnen, hier zu sein.
Seit Jahren halten mich die Göttin2 und auch Thoas
Als wäre ich gefangen. Ich muss ihnen gehorchen.
Doch ach, mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem Ufer steh ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend.
Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern
Ein einsam‘ Leben führt! Denn Sehnsucht bleibt
Nach der Familie, nach der Heimat, wo
Sich Freunde und Verwandte fest und fester
Mit sanften Banden3 aneinander knüpften. -
Ich streite mit den Göttern nicht; allein
Der Frauen Zustand ist beklagenswert4:
Der Manne herrscht im Krieg, auch in der Fremde
Kann er sich helfen; Ehre kann er auch erwerben.
Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück!
So hält mich Thoas hier, ein edler Mann,
In ernsten, heil’gen Sklavenbanden fest. -
Oh, wie beschämt5 muss ich gestehn, dass ich auch dir,
Diana, nur mit Widerwillen6 diene!
Du hast mich zwar gerettet, doch würd‘ ich lieber
Ganz freiwillig dir dienen! Ich hoff‘ noch immer
Auf dich allein. Wenn du den Vater Agamemnon,
Der mich geopfert, wohlbehalten zu den Seinen
Zurückbegleitet hast, wenn du auch die Familie
Behütet hast, dann hilf mir noch einmal
Und rette mich, die du vom Tod errettet,
Auch vor dem Leben hier, dem zweiten Tode!

1
schaudern, der Schauder: erschrecken, zittern, ein schlechtes Gefühl haben
2
Gemeint ist die Göttin Diana, die Iphigenie vor dem Opfertod gerettet hat und der sie jetzt auf Tauris als Priesterin dient.
3
Das Wort „Band“ in seinen Wortveränderungen wie „binden“ oder „Bund“ ist Teil von Goethes Symbolsprache. Es hat
sowohl eine positive als auch eine negative Bedeutung, denn zum einen ist eine Verbindung zum Beispiel in der Familie
hilfreich, sie kann zum anderen aber auch die Freiheit einschränken.
4
beklagenswert: man muss über etwas klagen, traurig
5
beschämt: voller Scham, mit Schuldgefühlen
6
der Widerwillen: gegen meinen Willen
4
Fragen:
1. Iphigenie beklagt ihre Situation auf Tauris. Welche vier Dinge findet sie besonders schlimm?
2. Worum bittet sie ihre Retterin, die Göttin Diana?
3. Was meinst du, ist sie zornig auf ihren Vater, der sie geopfert hat, oder auf Diana oder Thoas?
4. Warum bezeichnet Iphigenie ihren Aufenthalt auf der Insel Tauris als zweiten Tod?
5. Schreibe die Verse 1-15 als Prosafassung.
6. Iphigenies äußeres Erscheinungsbild wird im Laufe der Handlung nicht beschrieben. Wie stellst
du sie dir vor? Beschreibe Iphigenie in 5-10 Sätzen.

2. Szene
Iphigenie, Arkas
Arkas: Der König sendet mich hierher und bietet dir,
Der Priesterin Dianas, den besten Gruß.
Heut‘ ist der Tag, da Tauris seiner Göttin
Für wunderbare neue Siege dankt.
Ich eile, dir zu melden, dass er kommt.
Iphigenie: Wir sind bereit, ihn würdig zu empfangen,
Und unsre Göttin wird sich über Opfer freun.
Arkas: Ach, wenn du doch bloß freundlicher
Und aufgeschloss’ner wärst! Du schaust voll Gram7.
Vergeblich warten wir schon Jahre lang
Auf ein vertrauensvolles Wort aus deinem Mund.
Doch wie mit Eisenbanden bleibt die Seele
Ins Innerste des Busens8 dir geschmiedet.9
Iphigenie: So gehört sich‘s für Vertriebene, Verwaiste10!
Arkas: Scheinst du dir hier vertrieben und verwaist?
Iphigenie: Kann uns die Fremde denn zum Vaterlande werden?
Arkas: Dir ist das Vaterland doch fremd geworden.
Iphigenie: Das ist’s, warum mein Herz noch immer blutet.
Denn als ich jung noch war, da fasste mich
Ein fremder Fluch11 hart an und trennte mich
Von den Geliebten, riss das schöne Band
Mit eiserner Faust entzwei. Sie war dahin12,
Der Jugend beste Freude. Selbst gerettet war
Ich nur ein Schatten meiner selbst, und frische Lust
Zu leben blüht in mir nicht wieder auf.
Arkas: Dich nenn‘ ich undankbar, denn Thoas ist
dir immer gut, mit Zuneigung begegnet.
7
der Gram: die Trauer, die Verbitterung
8
der Busen: hier im Sinne von Herz oder Innerstes
9
geschmiedet: man schmiedet zum Beispiel ein Hufeisen; hier: fest verankert oder verschlossen
10
die/der Verwaiste: jemand, der Waise ist, also ohne Mutter und Vater lebt
11
der Fluch: ein Spruch der Götter, der Unheil bringt; hier der Tantalidenfluch, der die ganze Familie und ihre Nachkommen
verflucht
12
etwas ist dahin: es ist vorbei
5
Und diese Insel war dir hold13 und freundlich,
Die jedem Fremden sonst voll Schrecken war,
Weil niemand unser Reich vor dir betrat,
Der in Dianas heil’gem Tempel nicht
Nach altem Brauch14 der Göttin Opfer wurde.
Iphigenie: Es kann allein nicht Ziel sein, frei zu atmen.
Ich führ ein unnütz‘ Leben voller Sehnsucht.
Arkas: Du meinst, du hast hier nichts getan seit deiner Ankunft?
Wer hat des Königs trüben Sinn erheitert?
Wer hat den alten grausamen Brauch,
Dass am Altar Dianas jeder Fremde
Sein Leben blutend lässt, von Jahr zu Jahr
Mit sanfter Überredung aufgehalten?
Und die Gefangenen vor dem gewissen Tod
So oft ins Vaterland zurückgeschickt?
Ein Jeder führt, seit du gekommen, ein
Viel bess’res Leben, auch der alte König
Ist mild und freudig worden15 und er siegt.
Das nennst du unnütz, wenn von deinem Wesen
Auf Tausende herab ein Balsam träufelt?16
Iphigenie: Das Wenige verschwindet aus dem Blick,
Man weiß ja: Übrig bleibt noch viel zu tun.
Arkas: Glaub mir und hör auf eines Mannes Wort,
Der treu und redlich17 immer zu dir ist:
Wenn heut der König mit dir redet, so
Erleicht‘re ihm, was er zu sagen hat.
Iphigenie: Du ängstigst mich mit jedem guten Worte;
Schon oft bin ich dem Antrag18 Thoas‘ ausgewichen.
Arkas: Bedenke, was du tust und was dir nützt.
Seitdem der König seinen Sohn verloren,
Vertraut er wenigen der Seinen mehr,
Und diesen Wenigen nicht mehr wie sonst.
Es droht ein einsam‘ Alter, vielleicht auch Tod.
Der König kann nicht frei und offen sprechen,
Denn er, der oft gewohnt ist zu befehlen,
Kennt nicht die Kunst, von weitem ein Gespräch
Nach seiner Absicht langsam fein zu lenken.
Erschwer ihm bitte nicht das Reden
Durch vorsätzliches Missversteh’n.
13
hold: liebevoll
14
der Brauch: die Sitte
15
worden: geworden
16
ein Balsam träufelt: eine heilsame Wirkung geht von dir aus, nur Gutes geht von dir aus; der Balsam: heilende Salbe
17
redlich: ergeben, ehrlich
18
der Antrag: hier Heiratsantrag
6
Geh bitte ihm den halben Weg entgegen.

Iphigenie: Soll ich beschleunigen19, was mich bedroht?


Arkas: Willst du sein Werben eine Drohung nennen?
Iphigenie: Es ist für mich die schrecklichste von allen.
Arkas: Gib ihm für seine Freundschaft nur Vertrauen.
Iphigenie: Wenn er mich nur von meiner Furcht erlöst.
Arkas: Warum verschweigst du deine Herkunft ihm?
Iphigenie: Weil sich für Priesterinnen ein Geheimnis ziemt20.
Arkas: Der König fühlt es tief in seiner Seele,
Dass du dich sorgfältig vor ihm versteckst.
Iphigenie: Hat er denn Zorn und Unmut gegen mich?
Arkas: So scheint es fast. Zwar redet er nicht über dich,
Doch haben seine hingeworf‘nen Worte
Gezeigt, dass seine Seele fest den Wunsch
Ergriffen hat, dich zu besitzen. Lass,
O überlass ihn nicht sich selbst! Damit
In ihm der Zorn nicht wächst und schließlich dir
Entsetzen bringt, und du zu spät an meine Warnung denkst.
Iphigenie: Wie? Denkt er denn, mich vom Altar in
Sein Bette mit Gewalt zu ziehn?
Da rufe ich Diana an, die mir schon oft
Als Priesterin den Schutz gegeben hat.
Arkas: Sei ruhig! Die Gewalttat plant er nicht.
O, ich befürchte andern harten Schluss von ihm,
denn seine Seel‘ ist fest und unbeweglich.
Drum bitt ich dich, vertrau ihm, sei ihm dankbar,
Wenn du ihm weiter nichts erlauben kannst.
Iphigenie: O sage, was dir weiter noch bekannt ist!
Arkas: Erfahr’s von ihm. Ich seh‘ den König kommen.
Iphigenie (zu sich): Wie ich dem Rat des Treuen folgen soll,
Das seh ich nicht. Doch folg ich gern der Pflicht.
Und wünsche mir, dass ich dem Mächtigen
Mit Wahrheit sagen kann, was ihm gefällt.

Fragen:
1. Was will Arkas von Iphigenie?
2. In welcher Situation befindet sich Thoas?
3. Wie reagiert Iphigenie auf die Wünsche, die Arkas im Namen von Thoas äußert?
4. Welchen Eindruck hast du von Thoas‘ Charakter?

19
beschleunigen: schneller werden lassen
20
es ziemt sich: es gehört sich
7
3. Szene
Iphigenie, Thoas
Iphigenie: Ein herzliches Willkommen dir, o König,
Diana gebe dir viel Sieg und Ruhm
Und Reichtum und das Wohl und Glück der Deinen
Und erfüll‘ dir jeden Wunsch! Damit du, der
Du über viele herrschst, auch Glück genießt.
Thoas: Du nahmest teil an meinen tiefen Schmerzen,
Als mir das Schwert der Feinde meinen Sohn,
Den letzten, besten, von der Seite riss.
Jetzt hab‘ ich ihn gerächt. Zu Hause bleibt mir
Gar nichts, das mich erfreut. Das Volk folgt mir,
dem Kinderlosen, weil es muss, und denkt,
Was künftig werden wird. Den alten Wunsch
Trag ich im Herzen, der auch dir nicht fremd
Und unerwartet ist: Ich hoffe, dich,
Zum Segen meines Volks und mir zum Segen,
Als Braut in meine Wohnung heimzuführen.
Iphigenie: O - einer Unbekannten bietest du zu viel.
Thoas: Dass du die Ursach‘ deiner Ankunft
Vor mir wie vor den andern stets verheimlichst,
Wär‘ in gar keinem Volke recht und gut.
Denn dieses Land erschreckt die Fremden:
Das Gesetz befiehlt es. Allein von dir,
ein gut empfang’ner Gast, erhoff ich
Vertrau‘n, was ich für meine Treue wohl verdien‘.
Iphigenie: Wenn ich den Namen meiner Eltern dir
Verheimlicht hab, o König, war’s Verlegenheit,
Nicht Misstraun. Denn vielleicht, ach, wüsstest du,
Wer vor dir steht und welch verwünschtes Haupt21
Du nährst22 und schützt, dann wärest du
Entsetzt und statt die Seite deines Thrones
Mir anzubieten, würd‘st du mich verjagen.
Ich käme, wo ich doch so gern zurück
Zur Heimat ging, in schreckliches Verderben.
Thoas: Was auch der Rat der Götter mit dir sei,
Und was mit deinem Haus und dir sie planen:
So fehlt es doch, seitdem du bei uns wohnst
An Segen nicht, der wohl von oben kommt.
Ich kann nur schwer zu überzeugen sein,
Dass ich an dir ein schuldvoll‘ Haupt beschütze.
21
ein verwünschtes Haupt: ein Mensch (Haupt im Sinne von Kopf), der verflucht ist
22
nähren: ernähren
8
Iphigenie: Nicht ich, nur deine Wohltat bringt dir Segen.
Thoas: Beende doch dein Schweigen und dein Weigern.
Es fordert dies kein ungerechter Mann.
Wenn du auf Rückkehr nach Zuhause hoffen kannst,
So werd‘ ich dir das gern erlauben.
Doch ist dir dieser Weg versperrt,
So bist du mein durch mehr als ein Gesetz.
Sprich offen! Und du weißt, ich halte Wort.
Iphigenie: Ich sag’s nicht gern, vernimm es:
Ich stamme aus des Tantalus‘ Geschlecht.
Thoas: Du spricht ein großes Wort gelassen aus.
Ist etwa der dein Ahnherr23, den die Welt
Als einen ehemals so hoch Geschätzten
Der Götter kennt? Ist’s jener Tantalus,
Den Jupiter24 zum Essen eingeladen hat,
Um am Gespräch der Götter teilzunehmen?
Iphigenie: Er ist es; aber Götter sollten nicht
Mit Menschen wie mit ihresgleichen sprechen.
Unedel war er nicht und kein Verräter;
Auch sein Vergehen war ja menschlich; ihr Urteil
War sehr streng. Hochmut stürzt‘ ihn zum Tartarus25.
Und alle seine Nachfahr’n26 tragen Götterhass.
Es schmiedete der Gott ein eisern‘ Band
Um alle Nachfahr’n, sodass sie weder
Geduld noch Weisheit oder Maß besaßen.
Schon Pelops, der Gewaltige, sein Sohn,
Erwarb sich durch Verrat und Mord ein Weib.
Sie bringt dem Ehemann zur Welt zwei Söhne,
Thyest und Atreus. Neidisch sehen sie
Des Vaters Liebe zu dem ersten Sohn,
Aus einer andern Ehe stammend, an.
Der Hass verbindet sie, und heimlich wagt
Das Paar den Brudermord, die erste Tat.
Der Vater denkt sich, seine Frau sei Täterin.
Und sie entleibt27 sich selbst.
Thoas: Du schweigst? Fahr fort zu reden!
Hab doch Vertrauen! Sprich!
Iphigenie: Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt!
Nun denn: Nach ihres Vaters Tode
23
der Ahnherr: der Vorfahre
24
Jupiter: römischer Name für Zeus, den höchsten Gott
25
der Tartarus: ist in der griechischen Mythologie ein personifizierter Teil der Unterwelt, der noch unter dem Hades liegt und
in dem man Qualen leidet
26
der Nachfahre, die Nachfahren: Nachkommen, die ganze Familie
27
sich entleiben: sich umbringen, Selbstmord begehen
9
Sind Atreus und Thyest die Herrscher in der Stadt,
Doch lange konnte nicht die Eintracht28 dauern:
Denn bald betrog Thyest den Bruder mit der Frau.
Ihn treibt Atreus voll Rache aus dem Reiche.
Thyest, auf Rache aus, entführt dem Bruder
Seinen Sohn und zieht ihn auf als seinen eigenen.
Ihm füllte er das Herz mit Wut und Rache
Und sendet ihn zur Königsstadt, damit er
Im Onkel seinen eig’nen Vater morde.
Der Plan des Jungen wird entlarvt: Der König
Straft grausam den gesandten Mörder, denkend,
Er töte seines Bruders Sohn. Zu spät
Erfährt er, wer vor seinen Augen stirbt.
Um sich zu rächen, denkt er still
An unerhörte Tat29. Er scheint gelassen,
Gleichgültig und versöhnt, und lockt den Bruder
Mit seinen beiden Söhnen in das Reich
Zurück, ergreift die Knaben, schlachtet sie
Und setzt die eklig schaudervolle Speise
Dem Vater bei dem ersten Mahle30 vor.
Und als Thyest an seinem Fleische sich
Gesättigt, eine Wehmut ihn ergreift,
Er nach den Kindern fragt, wirft Atreus grinsend
Ihm Haupt und Füße der Erschlagnen hin. –
Du wendest schaudernd dein Gesicht, o König:
Genauso wendete die Sonn‘ sich weg.
Dies sind die Ahnherrn deiner Priesterin!
Thoas: Es sei genug der Gräuel31! Von wem stammst du denn ab?
Iphigenie: Der ältest‘ Sohn des Atreus ist mein Vater,
mit Namen Agamemnon. Er ist
Ein Muster des vollkomm‘nen Mannes, und ich
Bin erste Tochter, dann kam noch Elektra.
Mit Klytämnestra, seiner Frau, wünscht‘ er sich
Noch einen Sohn, und kaum war dies erfüllt,
Dass zwischen beiden Schwestern nun Orest,
Der Liebling wuchs, als neues Übel schon
Dem sichern Hause vorbereitet war.
Du hast bestimmt vom Krieg gehört,
Der, um den Raub der schönen Frau32 zu rächen,

28
die Eintracht: der Friede, das Einvernehmen
29
vergleiche mit der 3. Szene des 5. Aktes
30
das Mahl: das Essen, die Mahlzeit
31
der Gräuel, Pl. die Gräuel; hier Genitiv Plural: der Schrecken, die furchtbare Tat
32
der Trojanische Krieg wurde nach dem Mythos begonnen, weil Paris Helena (die „schöne Frau“) nach Troja entführt hatte
10
Die ganze Macht der Fürsten Griechenlands
Zu Trojas Mauern führte. Ob sie die Stadt
Besiegt, vernahm33 ich nicht. Mein Vater war
Der Heeresleiter. In Aulis harrten34 sie
Auf günst‘gen Wind vergeblich, denn Diana
War zornig, hielt die Wartenden zurück
Und forderte als Opfer seine Tochter.
Sie lockten mit der Mutter mich ins Lager;
Sie rissen mich vor den Altar und weihten35
Der Göttin meinen Leib. Sie war versöhnt:
Sie wollte nicht mein Blut und hüllte36 rettend
In eine Wolke mich; in diesem Tempel
Fand ich mich erst lebendig wieder.
Ich bin es selbst, bin Iphigenie,
Des Atreus‘ Enkel, Agamemnons Tochter,
Bin Eigentum der Göttin und ich spreche.
Thoas: Der Tochter eines Königs gebe ich
Nicht mehr Vertrauen als der Unbekannten.
Ich wiederhole meinen ersten Antrag:
Komm, folge mir und teile, was ich habe.
Iphigenie: Wie darf ich solchen Schritt, o König, wagen?
Hat nicht die Göttin, die mich rettete,
Allein das Recht auf mein geweihtes Leben?
Sie hat für mich den Schutzort ausgesucht.
Vielleicht ist mir die frohe Rückkehr nah?
Ich bat sie um ein Zeichen, ob ich bleiben soll.
Thoas: Das Zeichen ist: Du bist noch immer hier.
Such Ausflucht37 solcher Art nicht ängstlich auf.
Vergebens spricht man viel, um etwas zu verschweigen,
Der andre hört von allem nur das Nein.
Iphigenie: Ich habe dir mein Innerstes enthüllt
Und sehne mich so sehr zurück zu den Geliebten.
Oh schicktest38 du auf Schiffen mich zurück!
Du gäbest mir und allen neues Leben!
Thoas: So kenne ich dich nicht – als Frau,
die nur der Sehnsucht sich ergibt39.
Ich bin ein Mensch; und besser ist’s, wir enden.
So bleibe denn mein Wort: Sei Priesterin
33
vernehmen: hören
34
harren: warten
35
weihen: widmen, opfern (auch im Wort „Weihnachten“)
36
hüllen: einwickeln, einschließen; die Hülle
37
die Ausflucht: die Ausrede
38
Konjunktiv II
39
sich ergeben: sich auf etwas einlassen, sich unterwerfen
11
Der Göttin, wie sie dich erkoren40 hat;
Doch mir verzeih Diana, dass ich ihr,
Bisher mit Unrecht und mit inner‘m Vorwurf,
Die alten Opfer vorenthalten habe.
Kein Fremder nähert froh sich unsrer Insel,
Von alters her41 ist ihm der Tod gewiss.
Nur du hast mich mit deiner Freundlichkeit
Sehr tief erfreut und wie mit Zauberbanden
Gefesselt, dass ich meine Pflicht vergaß.
Nun ruft das Volk um Rache für den Sohn.
Um deinetwillen halt ich länger nicht
Zurück, die Opferblut so dringend fordern.
Tu deine Pflicht, ich werde meine tun. -
Zwei Fremde, die wir an des Ufers Höhlen
Versteckt gefunden und die meinem Land
Nichts Gutes bringen, sind in meiner Hand.
Mit diesen bringe deiner Göttin wieder
Ihr erstes, rechtes42, lang entbehrtes43 Opfer!
Ich schick sie dir hierher und du kennst deine Pflicht!

Fragen:
1. Welche Argumente nennt Iphigenie, damit sie Thoas erklären kann, warum sie ihn nicht
heiraten kann?
2. Warum erzählt sie ihm die Geschichte ihrer Vorfahren, der Tantaliden, und nennt erstmals ihren
eigenen Namen?
3. Wie reagiert Thoas?
4. Welchen Plan verkündet er Iphigenie? Wieso könnte man seinen Plan als Erpressung deuten?
5. In welchem Konflikt steckt Iphigenie jetzt? Was kann sie tun?

4. Szene
Iphigenie allein
Iphigenie: Du weise44 Göttin! Du siehst die Zukunft!
Du hast mich schon einmal gerettet, bitte:
O enthalte45 vom Blut meine Hände!
Niemals bringt es Segen und Ruhe.

Fragen:
1. Welche Einstellung erkennen wir hier bei Iphigenie?
2. Welche Möglichkeiten zu handeln hat Iphigenie nun? Welches wäre jeweils die Folge?
40
erkoren: ausgewählt
41
von alters her: seit langer Zeit, von alten Sitten abhängig
42
rechtes Opfer: richtiges Opfer
43
etwas entbehren: etwas vermissen
44
weise: klug
45
(sich) enthalten: etwas nicht tun, etwas verhindern
12
2. Akt
1. Szene

Orest, Pylades; beide gefangen


Orest ist tief verzweifelt und will sterben, denn er wird von den Rachegeistern verfolgt,
die ihn nicht mehr schlafen lassen. Diese Rachegeister, auch Erynnien oder Furien
genannt, könnte man heute als Gewissensbisse bezeichnen. Sind diese bösen Geister
besänftigt, nennt man sie Eumeniden.
Pylades dagegen will noch nicht sterben, sondern um sein Leben und um das seines
Freundes kämpfen. Er erinnert seinen Freund Orest daran, was das Orakel Apolls von
Delphi prophezeit hat: Wenn Orest die Schwester aus Tauris nach Griechenland bringen
würde, dann wären die Götter versöhnt. Orest und Pylades haben diese Weissagung so
gedeutet, dass sie das Bild der Diana, der Schwester von Apollo, aus Tauris holen
sollen.
Pylades: Apoll gab uns sein Wort: Im Heiligtum der Schwester
Sei Trost und Hilf‘ und Rückkehr dir bereitet.
Es ist ein Glück, dass du noch lebst.
Was ich geworden wäre ohne dich,
kann ich nicht denken, da ich nur mit dir
Seit meiner Kindheit leb und leben mag.
Orest: Erinn‘re mich nicht an die schönen Tage,
Als mir dein Haus die freie Heimat gab,
Dein edler Vater klug und liebevoll
Mich wie die halb erstarrte46 junge Blüte pflegte;
Als du, ein immer munterer Geselle,
Gleich einem bunten Schmetterling
Dann jeden Tag um mich geflogen bist,
sodass ich meine Not beinah‘ vergaß.
Pylades: Da fing mein Leben an, als ich dich liebte.
Orest: Sag: „Meine Not begann“ - und du sprichst wahr.
Mich hat ein Gott zum Mörder ausgewählt,
Zum Mörder meiner doch verehrten Mutter,
Und hat mich durch den Mord zugrund‘ gericht‘t.
Und ich, der letzte der Familie, soll
Nicht ehrenvoll versterben.
Pylades: Die Götter rächen
Der Väter Missetat47 nicht an dem Sohn.
Man erbt den Segen von den Eltern, nicht den Fluch.
Orest: Der Götter Segen, denk ich, führt uns nicht hierher.
46
erstarren: etwas, das sich nicht mehr bewegen kann und leblos ist
47
die Missetat: das Verbrechen
13
Pylades: Doch immerhin der Götter Wille.
Orest: So ist’s ihr Wille dann, der uns verdirbt48.
Pylades: Tu, was sie dir befehlen, warte ab.
Bringst du die Schwester zu Apollo hin,
Und wohnen beide dann vereint in Delphi,
Dann bist du endlich von dem Fluch befreit.
Lass mich nur planen, bleibe still! Zuletzt
Bedarf’s zur Tat vereinter Kräfte, dann
Komm ich zurück, und beide schreiten49 wir
Mit überlegter Kühnheit50 hin zur Tat.
Mir scheint, es braucht jetzt ganz viel List und Klugheit.
Orest: Ich schätz‘51 nur den, der tapfer ist und ehrlich.
Pylades: Ich hab von unsern Wächtern heute viel
Erfahren: Ich weiß jetzt, ein fremdes Weib
Hält dieses blutige Gesetz gefesselt;
Ein reines Herz und Weihrauch52 und Gebet
Bringt sie den Göttern dar. Man rühmet hoch
Die Gütige; man glaubt, sie sei gekommen
Vom Stamm der Amazonen53, sei geflohn,
Um einem großen Unheil zu entgehn.
Orest: Ein fremdes Weib kann uns bestimmt nicht retten.
Pylades: Warum denn nicht? Sei doch jetzt still und hoffe!
Sie kommt: Lass uns allein. Ich darf nicht gleich
Ihr unsre Namen nennen, unser Schicksal
Nicht gleich ihr anvertraun. Du musst schnell geh‘n!
Bevor sie mit dir spricht, seh‘n wir uns noch.

Fragen:
1. Warum ist Orest so verzweifelt und will am liebsten sterben?
2. Pylades dagegen hat einen Plan. Was möchte er erreichen? Wie will er das schaffen?
3. Was denkt Pylades über die Priesterin, die er noch nicht kennt?
4. Warum soll Orest nicht dabei sein, wenn Pylades mit Iphigenie spricht?

2. Szene
Iphigenie, Pylades
Iphigenie: O Fremder, sprich, wer und woher du bist!
Mir scheint, dass du ein Grieche bist.
48
verderben, es verdirbt: zunichte machen; das Verderben: das Unheil
49
schreiten: langsam und feierlich gehen
50
die Kühnheit: der Mut
51
jemanden schätzen: jemanden achten
52
das Weihrauch: ein Harz eines Baumes, das zu kultischen rituellen Zwecken z.B. in der katholischen Kirche verwendet
wird; es duftet stark
53
Amazonen: ein Volk von Frauen, das männergleich in den Krieg zog und kämpfte
14
(Sie nimmt ihm die Ketten ab.)
Pylades: O süße Stimme! Welch willkomm‘ner Ton
Der Muttersprach‘ in einem fremden Lande!
Lass dir versichern, dass ich auch ein Grieche bin!
O sage, wenn dir ein Verhängnis54 nicht
Den Mund verschließt, aus welchem Stamm du
Mit deiner göttergleichen Herkunft stammst.
Iphigenie: Die Priesterin, von ihrer Göttin selbst
Hierher geschicket, spricht mit dir.
Lass das genug sein; sage, wer du bist
Und welch ein unerwartet böses Schicksal
Dich mit dem Freund hierher gebracht.
Pylades: Leicht kann ich dir erzählen, welch ein Übel
In ständiger Gesellschaft uns verfolgt:
Aus Kreta sind wir, Söhne des Adrasts:
Ich bin der jüngste, Cephalus genannt,
Und er Laodamas, der Ältere
Des Hauses. Zwischen uns stand rau und wild
Ein mittlerer und störte schon im Spiel
Die Einigkeit und Lust der ersten Jugend.
Gehorsam folgten wir dem Wort der Mutter,
Solang der Vater treu vor Troja stritt;
Doch als er beutereich55 nach Hause kam
Und kurz darauf verstarb, da trennte bald
Der Streit um Reich und Erbe die Geschwister.
Ich band mich an den ält‘sten. Der erschlug
Den Bruder. Wegen seiner Schuld ist er
Verzweifelt, von den Furien verfolgt.
Zu diesem wilden Ufer sendet uns
Apoll aus Delphi mit sehr großer Hoffnung.
Er riet uns, in dem Tempel seiner Schwester
die segensreiche Hand der Hilfe zu erwarten.
Gefangen sind wir und hierher gebracht
Und dir als Opfer vorgestellt. Du weißt’s.
Iphigenie: Und Troja ist besiegt? O sag es mir!
Pylades: Es ist besiegt. O bitte rette uns!
Beschleunige die Hilfe, die der Gott
Versprach. Erbarme dich56 auch meines Bruders.
O sag ihm bald ein gutes liebes Wort;
Doch schone ihn, wenn du dich mit ihm triffst,
denn er ist sehr zerrüttet und fast krank.
54
das Verhängnis: ein ungünstiges Schicksal, das Unglück
55
beutereich: voller Beute (also mit viel erobertem Reichtum)
56
sich erbarmen (mit Genitiv): Mitleid haben mit jemandem
15
Ein fieberhafter Wahnsinn fällt ihn an.
Iphigenie: So groß dein Unglück ist, beschwör ich dich,
Vergiss es, bis du mir genug erzählt hast.
Pylades: Die hohe Stadt, die zehen57 lange Jahre
Dem ganzen Heer der Griechen widerstand,
Liegt nun im Schutte58, steigt nicht wieder auf.
Doch viele Gräber unsrer besten Kämpfer
Erinnern uns ans Ufer der Barbaren.
Achill liegt dort mit seinem schönen Freunde.
Auch Palamedes, Ajax Telamons,
Sie sah‘n das Vaterland nie wieder.
Iphigenie: (zu sich)
Er schweigt von meinem Vater, nennt ihn nicht
Mit den Erschlag’nen. Ja, er lebt doch noch!
Ich werd‘ ihn sehn! O hoffe, liebes Herz!
Pylades: Doch selig sind die Tausenden, die starben.
Denn wüste Schrecken und ein traurig‘ Ende
Hat den Zurückgekomm‘nen statt Triumph
Ein feindlich wild erzürnter Gott bereitet.
Kommt denn gar keine Nachricht bei euch an?
So ist der Jammer59, der Mykenes60 Häuser
Mit immer wiederholten Seufzern füllt,
Dir noch unbekannt? – Klytämnestra hat
Mit Hilf‘ Ägisthens den Gemahl betrogen,
Und am Tage seiner Rückkehr ihn ermordet! –
Ja, du verehrest dieses Königshaus!
Ich seh es, deine Brust bekämpft vergeblich
Die unerwartet ungeheure Nachricht.
Bist du die Tochter eines Freundes? Bist
Du in der Nähe dieser Stadt geboren?
Verschweig es nicht und nimm es mir nicht übel,
Dass ich als Erster diese Gräuel melde.
Iphigenie: Sag an, wie wurd‘ die schlimme Tat vollbracht?
Pylades: Am Tage seiner Ankunft, als der König
Vom Bad erquickt61 und ruhig sein Gewand62
Von der Gemahlin63 überreicht bekam,
Warf die Verdorbene ein faltenreich

57
zehen: zehn
58
der Schutt: Bruchstücke, lockere Steine
59
der Jammer: die Traurigkeit, die Not
60
Mykene: Heimatstadt der Familie Agamemnons
61
erquickt: erfrischt
62
das Gewand: die Kleidung
63
die Gemahlin: die Ehefrau
16
Und künstlich sich verwirrendes Gewebe64
Ihm auf die Schultern, um das edle Haupt;
Und als er sich vergebens zu befreien dachte,
Erschlug Äghist ihn, der Verräter. Und seitdem
Liegt er im Reich der Toten, dieser Fürst.
Iphigenie: Und welchen Lohn erhielt Ägisth, der Täter?
Pylades: Ein Reich und Bett, das er doch schon besaß!
Iphigenie: So trieb zur Tat ihn eine böse Lust?
Pylades: Und das Gefühl der alten starken Rache.
Iphigenie: Und wie beleidigte der König seine Frau?
Pylades: Mit schwerer Tat, die ihn, wenn man den Mord
Entschuld’gen könnte, auch entschuldigte.
Nach Aulis lockt er sie65 und brachte dort,
Als eine Gottheit sich der Fahrt der Griechen
Mit stürm‘schem66 Winde widersetzte,
Die erste Tochter, Iphigenie,
Vor den Altar Dianas, und sie wurde
Ein blutig‘ Opfer für das Heil der Griechen.
Dies, sagt man, hat der Mutter einen Hass
So tief ins Herz gesetzt, dass sie dem Werben
Äghists bald nachgab und den Ehemann
Mit Netzen des Verderbens selbst umschlang.
Iphigenie: (sich verhüllend)
Es ist genug. Du wirst mich wiedersehen.
Pylades: (allein)
Von dem Geschick des Königshauses scheint
Sie tief gerührt. Wer sie auch immer sei,
So hat sie selbst den König wohl gekannt
Und ist, zu unserm Glück, aus gutem Haus.
Lass uns dem Stern der Hoffnung, der uns blinkt67,
Mit frohem Mut und klug entgegensteuern.

Fragen:
1. Warum erzählt Pylades eine falsche Geschichte über seine und Orests Herkunft?
2. Was erfährt Iphigenie auf ihre genauen Fragen nach dem Schicksal ihrer Familie?
3. Wie reagiert sie auf die Neuigkeiten?
4. Was denkt Pylades nach diesem Gespräch über die Priesterin? Eigentlich ist er doch
gekommen, um sie zu überlisten!

64
das Gewebe: der Stoff (gewebtes/gewobenes Material), hier wahrscheinlich ein Netz
65
gemeint ist seine älteste Tochter Iphigenie
66
stürmischem
67
blinken: leuchten
17
3. Akt
1. Szene
Iphigenie, Orest
Iphigenie: Unglücklicher, ich löse deine Bande
Als Zeichen eines schmerzlichen Geschicks68.
Noch kann und darf ich es nicht sagen,
Dass ihr verloren seid! Wie könnt‘ ich euch
Mit mörderischer Hand dem Tode opfern?
Doch niemand, wer es sei, darf euer Haupt
Berühren, während ich hier Priest‘rin bin.
Doch wenn ich diese Pflicht nicht leiste,
so wählt er69 eine meiner Jungfraun aus
Statt meiner; ich vermag alsdann nur noch
Allein mit guten Wünschen euch zu helfen.
O werter Landsmann70! Selbst der letzte Knecht71
Ist uns in fremdem Lande hoch willkommen.
Wie sollt‘ ich dich, der du dem Bild der Helden gleichst,
Die ich schon immer von zu Haus verehrte,
Nicht auch mit größter Freude hier begrüßen?
Orest: Verbirgst du deinen Namen, deine Herkunft
Mit klugem Vorsatz72? Oder darf ich wissen,
Wer mir, gleich einer Himmlischen73, begegnet?
Iphigenie: Du sollst mich kennen lernen. Sag mir an,
Was ich nur halb von deinem Bruder hörte:
Das Ende derer, die von Troja kamen.
Zwar wurd‘ ich jung an diesen Strand geführt;
Doch gut erinnre ich mich an den Blick,
Den ich mit Staunen und mit Bangigkeit74
Auf jene Helden warf. Sie zogen aus,
Als hätte der Olymp75 sich aufgetan.
O sage mir! Agamemnon fiel, sein Haus betretend,
Durch eine Tücke76 seiner Frau und des Äghists?
Orest: Du sagst es!
Iphigenie: Weh dir, unseliges Mykene!
68
das Geschick: das Schicksal (heute wenig gebrauchter Begriff)
69
gemeint ist Thoas
70
der Landsmann: einer, der aus dem gleichen Land stammt
71
der Knecht: ein einfacher Arbeiter auf dem Land
72
der Vorsatz: die Absicht
73
gleich einer Himmlischen: gleich einer Göttin, wie eine Göttin
74
die Bangigkeit: die Angst
75
der Olymp: Berg in Griechenland, Wohnort der Götter
76
die Tücke: die List, die hinterlistige Tat
18
So haben Tantals‘ Enkel Fluch auf Fluch
Mit vollen wilden Händen ausgesät!
Wie ist’s dem letzten Sohn des großen Stammes,
Orest, der nach der Götter Spruch einmal
Den Vater rächen muss, wie ist es ihm am Tag
Des Mords ergangen? Hat er ein hartes Schicksal?
Ist er gerettet? Lebt er? Lebt Elektra?
Orest: Sie leben.
Iphigenie: Gold‘ne Sonne, leihe mir
Die schönsten Strahlen, lege sie zum Dank
Vor Zeus‘ Thron! Denn ich bin arm und stumm.
Orest: Du scheinst mir freundlich diesem Haus zu sein.
Bist du mit nähern Banden ihm verbunden,
Wie deine schöne Freude mir verrät?
So bändige dein Herz und halt es fest!
Denn unerträglich muss dem Fröhlichen
Ein jäher77 Rückfall in die Schmerzen sein.
Du kennst nur, merk ich, Agamemnons Tod!
Iphigenie: Hab ich an dieser Nachricht nicht genug?
Orest: Du hast des Gräuels erste Hälfte nur erfahren.
Iphigenie: Was soll ich noch befürchten: Orest, Elektra leben.
Orest: Und fürchtest du um Klytämnestra nicht?
Iphigenie: Sie kann durch Hoffnung nicht gerettet werden.
Orest: Auch sie schied78 aus dem Land des Lebens ab.
Iphigenie: Vergoss sie reuig79 wütend selbst ihr Blut?80
Orest: Nein, doch ihr eigen‘ Blut gab ihr den Tod.
Iphigenie: Sprich deutlicher, dass ich nicht länger grüble81.
Die Ungewissheit macht mir solche Angst!
Orest: So haben mich die Götter auerwählt
Zum Boten einer Tat, die ich so gern
Verschweigen würde! Gegen meinen Willen
Zwingt mich dazu jetzt deine Bitte.
Am Tage, als der Vater starb, verbarg82
Und rettete Elektra ihren Bruder;
Strophius, der Onkel, nahm ihn gerne auf,
Erzog ihn neben seinem eig’nen Sohne,
Der, Pylades genannt, die schönsten Bande
Der Freundschaft um den Angekomm‘nen knüpfte83.
77
jäh: plötzlich
78
abscheiden: verscheiden, sterben
79
reuig: die Tat bedauernd, bereuend
80
Hat sie wegen ihrer Schuld Selbstmord begangen?
81
grübeln: nachdenken
82
verbergen, verbarg, verborgen: verstecken
83
knüpfen: knoten, binden
19
Und wie sie wuchsen, wuchs in ihrer Seele
Die brennende Begier84, des Königs Tod
Zu rächen. Ungesehen, fremd gekleidet,
Erreichen sie Mykene, als brächten sie
Die Trauernachricht von Orestens Tod.
Elektra gibt Orest sich zu erkennen;
Sie bläst das Rache-Feuer in ihm auf.
Sie zeigt ihm gleich den Ort des feigen85 Mordes,
Und drängt ihm jenen alten Dolch noch auf,
Der schon in Tantals‘ Hause wütete, -
Und Klytämnestra starb durch Mord des Sohnes.
Iphigenie: Ihr Götter, habt ihr mich denn darum
So lange hier versteckt und festgehalten,
dass ich nur meines Hauses Gräuel später
Und tiefer fühlen sollte? – Berichte mir
Vom Unglücksel‘gen! Sprich mir von Orest!
Orest: O könnte man von seinem Tode sprechen!
Seit dieser Tat kann er nicht mehr in Ruh‘
Und Frieden leben. Er wird verfolgt von seiner Mutter Stimme,
Vom Fluch des Tantalus. Nie fand er Rast86.
Iphigenie: Unseliger, du bist in gleicher Lage
Und fühlst, was er, der arme Flüchtling, leidet!
Orest: Was sagst du mir? Was denkst du, ist der gleiche Fall?
Iphigenie: Dich drückt ein Brudermord wie jenen; mir
Vertraute dies dein Bruder gerade an.
Orest: Ich kann nicht leiden, dass du große Seele
Mit meinem falschen Wort betrogen wirst.
Zwischen uns sei Wahrheit!
Ich bin Orest! Und dieses schuld’ge Haupt
Beugt sich zu Boden, wünscht sich nun den Tod;
In jeglicher Gestalt sei er willkommen!
Wer du auch seist, so wünsche ich dir Rettung,
Auch meinem Freund, mir wünsch ich sie nicht.
Du scheinst hier widerwillig zu verweilen87;
Erfindet einen Plan zur Flucht und lasst mich hier.
Geht ihr, daheim im schönen Griechenland
Ein neues Leben friedlich zu beginnen.
(Er entfernt sich)
Iphigenie: So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter

84
die Begier: der Wunsch
85
feige: Gegenteil von mutig
86
die Rast: die Ruhe
87
verweilen: leben, sich aufhalten
20
Des größten Vaters88, endlich zu mir nieder!
Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir!
So kennt man euch, ihr Götter, an lang und weise
Zubereiteten Geschenken. Gelassen hört
Ihr unser Fleh‘n89, das um Beschleunigung
Euch kindisch bittet, aber eure Hand
Bricht unreif nie die gold‘nen Himmelsfrüchte.
O lasst das lang erwartete und große Glück
Nicht schmerzlich wie ein‘ Schatten mir vergehn!
Orest: (tritt wieder zu ihr)
Rufst du die Götter an für dich und Pylades,
So nenne meinen Namen nicht mit eurem.
Du kannst den Mörder nicht erretten,
Du teilest seinen Fluch und seine Not,
Wenn du mit ihm gemeinsam etwas planst.
Iphigenie: Mein Schicksal ist an deines fest gebunden!
Orest: Mitnichten! Lass allein und unbegleitet
Mich zu den Toten geh‘n. Denn ich bin es nicht wert
Zu leben, meine Schuld ist viel zu groß.
Iphigenie: Kannst du, Orest, ein freundlich‘ Wort vernehmen?
Orest: Spar es für einen Freund der Götter auf.
Iphigenie: Hast du denn mit Elektra nur die eine Schwester?
Orest: Die eine kenn ich; doch die ält‘re nahm
Ihr Schicksal, das uns schrecklich schien,
Beizeiten90 aus dem Elend unsres Hauses.
Iphigenie: Orest, mein Teurer, kannst du mich vernehmen?
Erreicht dich nicht der Ruf der Schwester?
Orest: Wer bist du, deren Stimme mir entsetzlich
Das Innerste in seinen Tiefen wendet?
Iphigenie: Es zeigt sich dir im tiefsten Herzen an:
Orest, ich bin’s! Sieh, Iphigenie!
Ich lebe!
Orest: Du!
Iphigenie: Mein Bruder!
Orest: Lass! Geh weg!
Ich rate dir, berühre nicht die Locken!
Du könntest meine Schuld ererben!
Iphigenie: Du wirst nicht untergeh‘n! O dass ich nur
Ein ruhig‘ Wort von dir vernehmen könnte!
O lös die Zweifel, lasse mich das Glück,
88
gemeint ist Zeus; als seine „schönste Tochter“ ist wohl seine Lieblingstochter Athene gemeint, die Göttin der Weisheit; es
könnte auch Diana (griechischer Name Artemis) gemeint sein, die Schutzgöttin Iphigenies
89
flehen: inständig bitten
90
beizeiten: zur richtigen Zeit
21
Das lang erflehte, doch jetzt fassen können.
Es zieht mich mächtig zu dem Bruder.
O höre mich! O sieh mich an, wie mir
Nach einer langen Zeit das Herz sich öffnet.
Orest, Orest, mein Bruder!
Orest: Schöne Nymphe91,
Ich traue dir und deinem Schmeicheln nicht.
Entferne deinen Arm von meiner Brust!
Und wenn du einen Jüngling rettend lieben,
Das schöne Glück ihm zärtlich bieten willst,
So wend‘ dich meinem Freunde freundlich zu,
Dem würd‘gen Manne. Er irrt umher
Auf jenem Felsenpfade92, such ihn auf,
Weis ihn zurecht und schone mich.
Iphigenie: Fass dich, Bruder, und erkenne die Gefundne!
O sie ist hier, die längst verlor’ne Schwester.
Diana riss vom Opferaltar mich
Hierher und rettete mich hier im Tempel.
Gefangen bist du, vorgeseh‘n zum Opfer,
Und findest in der Priesterin die Schwester.
Orest: Unselige! So mag die Sonne denn
Die letzten Gräuel unsres Hauses seh‘n!
Ist nicht Elektra hier? Damit auch sie
Mit uns zugrunde gehe, nicht ihr Leben
Zu schwerem Schicksal weiter hier verbringe.
Gut, Priesterin! Ich folge zum Altar:
Der Brudermord ist hergebrachte Sitte
Des alten Stamms Tantals‘; ich danke, Götter,
Dass ihr mich ohne Kinder auszurotten93
Beschlossen habt. Und lass dir raten, habe
Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne;
Komm, folge mir ins dunkle Reich94 hinab!
Komm kinderlos und schuldlos mit hinab! (Er fällt ermattet nieder)
Iphigenie: Allein vermag ich dieses Glück und Elend
Nicht zu tragen. – Wo bist du, Pylades?
Wo find ich deine Hilfe, teurer Mann?

91
die Nymphe: eine weibliche, wohltätige Göttin
92
der Pfad: der Weg (hier: auf einem Fels)
93
ausrotten: vernichten, töten
94
das dunkle Reich: das Reich des Todes, Hades oder Tartarus
22
Fragen:
1. Warum verrät Orest der ihm noch unbekannten Priesterin seinen wirklichen Namen und seine
Taten?
2. Aus welchem Grund gibt sich Iphigenie zu erkennen?
3. Nenne den Grund, warum Orest trotzdem noch so verzweifelt ist!
4. Worum bittet Orest seine Schwester?
5. Bei wem will Iphigenie nun Hilfe suchen?

2. Szene

Orest (aus seiner Betäubung erwachend und sich aufrichtend)


Orest träumt von seiner Ankunft im Reich der Toten und sieht alle seine Vorfahren an
sich vorüberlaufen. Dabei scheint die Feindschaft zwischen ihnen nicht mehr zu
existieren, denn sie sind freundlich miteinander und scherzen. Er fühlt sich in der
Gesellschaft der Toten seiner Familie wohl und kann auch seiner Mutter die Hand
reichen, die ihm vergibt.

3. Szene

Orest, Iphigenie, Pylades

Orest: Seid ihr auch schon herabgekommen95?


Heil, Schwester, dir! Noch fehlt Elektra:
Ein güt’ger Gott send uns die eine
Mit sanften Pfeilen schnell herab.
Dich, armer Freund, muss ich bedauern!
Iphigenie: Geschwister96, die ihr an dem weiten Himmel
Das schöne Licht bei Tag und Nacht herauf
Den Menschen bringet, und den Abgeschiednen97
Nicht leuchten dürft, errettet uns Geschwister!
O lass den einz’gen spät Gefundnen mir
Nicht in der Finsternis des Wahnsinns rasen!
Und ist dein Wille, als du mich hierher gebracht,
Nunmehr vollendet, willst du mir durch ihn
Und ihm durch mich die sel’ge Hilfe geben:
So lös ihn von den Banden jenes Fluchs!
Pylades: Erkennst du uns und diesen heil’gen Ort
Und dieses Licht, das nicht den Toten leuchtet?
95
Orest denkt, er sei noch immer unten im Reich der Toten
96
die Geschwister: hier sind die Götter als „Geschwister“, also als Vertraute der Priesterin Iphigenie gemeint; drei Zeilen
später meint sie mit „Geschwistern“ Orest und sich.
97
die Abgeschiedenen: gemeint sind die Toten, die Verschiedenen
23
Fühlst du den Arm des Freundes und der Schwester,
Die dich noch fest, noch lebend halten? Fass
Uns kräftig an; wir sind nicht leere Schatten98.
Hör auf mein Wort! Vernimm es! Reiße dich
Zusammen! Jeder Augenblick ist teuer,
Und unsre Rückkehr hängt am seid’nen Faden.
Orest (zu Iphigenie):
Lass mich zum ersten Mal mit freiem Herzen
In deinen Armen reine Freude haben!
O Götter, lasst mich auch in meiner Schwester Armen,
An meines Freundes Brust, was ihr mir gönnt,
Mit vollem Dank genießen und behalten.
Es löset sich der Fluch, mir sagt’s das Herz.
Die Eumeniden99 ziehen weg, ich merk es.
Pylades: Versäumt die Zeit nicht, die uns übrig bleibt!
Kommt! Wir brauchen jetzt schnell Rat und Tat.

Fragen:
1. Man nennt den Traum von Orest auch einen Heilschlaf. Warum?
2. Was will Pylades?

4. Akt
1. Szene
Iphigenie (allein)
Iphigenie: O segnet, Götter, unseren Pylades,
Und was er immer unternehmen mag!
Denn seine Seel‘ ist stille; sie bewahrt
Die Ruhe als ein unerschöpflich‘s Gut,
Und den Umhergetrieb‘nen reichet er
Aus ihren Quellen Rat und Hilfe. Mich
Riss er vom Bruder los; den staunt‘ ich an
Und immer wieder an, und ließ ihn nicht
Aus meinen Armen los, und fühlte nicht
Die Nähe der Gefahr, die uns umgibt.
Jetzt gehen sie, den Anschlag auszuführen,
Zum Meer zu, wo das Schiff mit den Gefährten
In einer Bucht jetzt auf ein Zeichen wartet,
Und haben kluges Wort mir in den Mund
Gegeben, mich gelehrt, was ich dem König
98
leere Schatten: Die Toten sind gemeint, die nur noch ein Schatten sind, den man nicht anfassen kann
99
die Eumeniden: vgl. die Erklärung zu Beginn der 2. Szene des 3. Aktes
24
Entgegnen soll, wenn er befiehlt zu opfern.
Ich muss mich leiten lassen wie ein Kind.
Ich habe nicht gelernt, die List zu brauchen,
Noch jemand etwas abzulisten100. Weh!
O weh der Lüge! Sie befreiet nicht,
Wie jedes andre wahr gesprochne Wort.
So manche Sorge schwankt mir durch die Brust.
Entdeckt man sie vielleicht? Ich glaub, ich höre
Bewaffnete sich nähern! – Hier! – Der Bote
Kommt von dem Könige mit schnellem Schritt,
Es schlägt mein Herz, es trübt sich meine Seele,
Wenn ich des Mannes Angesicht erblicke,
Dem ich mit falschem Wort begegnen soll.

Fragen:
1. Warum empfindet Iphigenie im ersten Moment Pylades als ein Vorbild?
2. Woran zweifelt sie? Warum?

2. Szene
Iphigenie, Arkas
Arkas: Beschleunige das Opfer, Priesterin!
Der König wartet, und es harrt101 das Volk.
Iphigenie: Ich folgte102 meiner Pflicht und deinem Wink,
Wenn unvermutet nicht ein Hindernis
Sich zwischen mich und die Erfüllung stellte.
Arkas: Was ist’s, das den Befehl des Königs nun verhindert?
Iphigenie: Die Götter haben einen Tod noch nicht beschlossen.
Der älteste der Männer trägt die Schuld
Des blut’gen Rachemordes an Verwandten.
Entheiligt hat er den Altar. Und nun
Muss ich mich mit den Frauen sehr beeilen,
Geheimnisvolle Reinigung vollziehn.
Es störe niemand unser stilles Tun.
Arkas: Ich melde dieses Hindernis
Dem Könige geschwind103; beginne du
Das heil’ge Werk nicht, ehe er‘s erlaubt.
Iphigenie: Ich gebe nach, wenn du dich jetzt beeilst.
Arkas: Schnell bin ich mit der Nachricht in dem Lager,
Und schnell mit seinen Worten hier zurück.
100
abzulisten: (nicht gebräuchlich) etwas durch List wegnehmen
101
harren: warten
102
Konjunktiv II, genauso wie zwei Zeilen weiter: „stellte“
103
geschwind: schnell
25
Oh könnt‘ ich ihm noch eine Botschaft bringen,
Die alles löste, was uns jetzt verwirrt:
Denn du hast nicht auf seinen Rat gehört.
Iphigenie: Was ich vermochte, hab ich gern getan.
Arkas: Ich sage dir, das liegt in deiner Hand,
Allein des Königs aufgebrachtes Herz
Bereitet diesen Fremden bittern Tod.
Das Volk verlangt nicht mehr das Opfer hier.
Schön ist`s, die Fremden freundlich zu empfangen.
O wende das nicht von uns ab, wenn du es kannst!
Iphigenie: Erschüttre meine Seele nicht, die du
Nach deinem Willen nicht bewegen kannst.
Arkas: Die Schmerzen sind’s, die ich zu Hilfe rufe:
Denn es sind Freunde, Gutes raten sie.
Iphigenie: Sie tilgen104 meinen Widerwillen nicht.
Arkas: Dem Fürsten sag ich an, was hier gescheh‘n.
O wiederholtest105 du in deiner Seele,
Wie edel er sich gegenüber dir betrug
Von deiner Ankunft bis zu diesem Tag.

3. Szene
Iphigenie (allein)
Iphigenie: Von dieser Rede fühle ich auf einmal
Zur ungelegnen106 Zeit das Herz im Busen
Mir umgewendet. Ich erschreck‘ vor mir! –
Ich fühlte mich so glücklich gerad‘, als ich Orest
In meinen Armen halten konnt‘. Ich hielt
In meinen Armen das Unmögliche.
Ich horchte nur auf seines Freundes Rat;
Nur sie zu retten, hatte ich im Sinn.
Und wie der Schiffer einer wüsten Klippe
Der fremden Insel gern den Rücken wendet,
Lag Tauris hinter mir. Nun hat die Stimme
Des treuen Manns mich wieder aufgeweckt,
Erinnert, dass ich auch die Menschen hier
Verlasse. Doppelt wird mir der Betrug
Verhasst. O bleibe ruhig, meine Seele!
Beginnst du nun zu schwanken und zu zweifeln?

104
tilgen: (weg)nehmen
105
Konjunktiv II
106
zur ungeleg(e)nen Zeit: zur unpassenden, falschen Zeit
26
Fragen:
1. Welche List erzählt Iphigenie Arkas, damit sie Zeit gewinnt?
2. Wie reagiert Arkas darauf?
3. Welche Bedenken kommen Iphigenie in ihrem Monolog?

4. Szene
Iphigenie, Pylades
Pylades: Wo ist sie? Dass ich ihr mit schnellen Worten
Die frohe Botschaft unsrer Rettung bringe!
Iphigenie: Du siehst mich hier voll Sorgen und Erwartung
Auf einen sichern Trost, den du versprichst.
Pylades: Dein Bruder ist geheilt! Den Felsenboden
Des ungeweihten Ufers und den Sand
Betraten wir mit fröhlichen Gesprächen;
Sein Auge glüht voll Mut, sein freies Herz
Ergab sich ganz der Freude, ganz der Lust,
Dich, seine Retterin, und mich zu retten.
Iphigenie: Gesegnest seist du, und es möge nie
Von deiner Lippe, die so Gutes sprach,
Der Ton des Leidens und der Klage tönen!
Pylades: Auch die Gefährten107 haben wir gefunden.
Drum lass uns eilen, führe mich zum Tempel,
Lass mich das Heiligtum betreten, lass
Mich unsrer Wünsche Ziel nun endlich fassen.
Ich bin allein genug, das Bild der Göttin
Auf starken Schultern wegzutragen;
Wie sehn‘ ich mich nach der erwünschten Last!
(Er geht zum Tempel bei den letzten Worten, ohne zu bemerken, dass Iphigenie
nicht folgt; endlich dreht er sich um.)
Du stehst und zögerst – Sage mir – du schweigst!
Du scheinst verworren! Widersetzet sich
Ein neues Unheil unserm Glück? Sag an!
Hast du dem Könige das kluge Wort
Vermelden lassen, das wir abgesprochen?
Iphigenie: Ich habe, teurer Mann; doch wirst du schimpfen.
Des Königs Bote kam, und wie du es
Mir in den Mund gelegt, so sagt‘ ich’s ihm.
Er schien zu staunen und verlangte dringend
Den Plan der Säuberung dem König erst
Zu melden, um erst seinen Willen zu vernehmen;
Und nun erwart ich seine Wiederkehr.

107
der Gefährte, die Gefährten: Freunde, Kameraden
27
Pylades: Weh uns! Schon wieder schwebt nun die Gefahr
Um unser Leben! Warum hast du nicht
Ins Priesterrecht dich weise eingehüllt108?
Iphigenie: Als eine Hülle hab ich‘s nie gebraucht.
Pylades: So wirst du, reine Seele, dich und uns
Zugrunde richten. - Warum dacht‘ ich nicht
Auch diesen Fall voraus und lehrte dich,
Auch dieser Ford‘rung auszuweichen!
Iphigenie: Schimpf
Nur; es ist meine Schuld, ich weiß es;
Doch konnt‘ ich anders nicht dem Mann begegnen,
Der mit Vernunft und Ernst von mir verlangte,
Was meinem Herzen recht109 erschienen ist.
Pylades: Gefährlicher zieht sich’s zusammen; doch
Lass uns nicht zögern oder unbesonnen
Und übereilt uns selbst verraten. Ruhig
Erwarte du die Wiederkehr des Boten,
Und dann steht fest, er möge sagen, was er will:
Du sagst, den Tempel reinigst du, und sag,
Die Fremden seien dort, damit wir dann
Zur Heimat fliehn. Nun eil dich! Schnell!
Iphigenie: Vernehm ich dich, so wendet sich, o Teurer,
Wie sich die Blume nach der Sonne wendet,
Die Seele. Langsam reift, verschlossen in dem Busen,
Gedanken und Entschluss mir, dass ich folge.
Pylades: Leb wohl! Die Freunde will ich nun geschwind
Beruhigen, die sehnlich110 auf uns warten.
Dann komm ich schnell zurück und lausche hier
Im Felsenbusch versteckt auf deinen Wink –
Was denkest du? Jetzt seh ich auf der Stirne
Die Sorgenfalte. Geht dir etwas durch den Sinn?
Iphigenie: Den König, der mein zweiter Vater wurde,
Mag ich nicht tückisch lügend hintergehn!
Pylades: Der deinen Bruder schlachtet, dem entfliehst du.
Iphigenie: Es ist derselbe, der mir Gutes tat.
Pylades: Das ist nicht Undank, was die Not befiehlt.
Iphigenie: Allein mein eig‘nes Herz ist nicht befriedigt.
Pylades: Das Leben lehrt uns, weniger mit uns
Und andern streng zu sein; du lernst es auch.
Iphigenie: Fast überred‘st du mich zu deiner Meinung.
108
eingehüllt: im Sinne von: Warum hast du dich nicht auf dein Recht als Priesterin berufen? - die Hülle: z.B. Mantel,
Umhang
109
recht: richtig
110
sehnlich: sehnsüchtig
28
Pylades: Braucht’s Überredung, wenn du keine Wahl hast?
Den Bruder, dich und einen Freund zu retten,
gibt’s nur den einen Weg. Soll‘n wir ihn geh‘n?
Iphigenie: O lass mich zögern! Denn du tätest selbst
Ein solches Unrecht keinem Menschen an,
Dem du für seine Hilfe dich verpflichtest fühlst. -
O trüg‘ ich doch ein männlich Herz in mir!
Das, wenn es einen kühnen Vorsatz111 hat,
Von jeder andern Stimme sich verschließt.
Pylades: Du weigerst dich umsonst. Die Not befiehlt.

5. Szene
Iphigenie (allein)
Iphigenie: Ich muss ihm folgen: Denn die Meinigen
Seh ich in drängender Gefahr. Doch ach!
Mein eigen‘ Schicksal macht mich bang und bänger.
Soll dieser Fluch denn ewig herrschen? Soll
Nie dies Geschlecht mit einem neuen Segen
Sich erheben? Ich habe Zweifel: Das heilige,
Mir anvertraute, viel verehrte Bild
Zu rauben und den Mann zu hintergehen,
Dem ich mein Leben, Schicksal muss verdanken.
O rettet, Götter, rettet mich und meine Lieben,
Und rettet euer Bild in meiner Seele!

Fragen:
1. In welcher Stimmung kommt Pylades zu Iphigenie? Was plant er?
2. Welche Bedenken entstehen bei Iphigenie?
3. Worum bittet Iphigenie die Götter?

111
der Vorsatz: der Plan
29
Das Parzenlied (Original)

Iphigenie: Vor meinen Ohren tönt das alte Lied –


Vergessen hatt‘ ich’s und vergaß es gern –
Das Lied der Parzen112, das sie grausend sangen,
Als Tantalus vom gold’nen Stuhle fiel113:
Sie litten mit dem edlen Freunde; grimmig
War ihre Brust, und furchtbar ihr Gesang.
In unsrer Jugend sang’s die Amme114 mir
Und den Geschwistern vor, ich merkt‘ es wohl.
„Es fürchte die Götter
Das Menschengeschlecht!
Sie halten die Herrschaft
In ewigen Händen
Und können sie brauchen,
Wie’s ihnen gefällt.
Das fürchte ich doppelt,
Den je sie erheben!
Auf Klippen und Wolken
Sind Stühle bereitet
Um goldene Tische.
Erhebet der Zwist115 sich:
So stürzen die Gäste
Geschmäht116 und geschändet117
In nächtliche Tiefen
Und harren vergebens,
Im Finstern gebunden,
Gerechten Gerichtes118.
Sie aber, sie bleiben
In ewigen Festen
An goldenen Tischen.
Sie schreiten vom Berge
Zu Bergen hinüber:
Aus Schlünden119 der Tiefe
Dampft ihnen der Atem

112
Parzen: in der römischen Mythologie die drei Schicksalsgöttinnen, die den drei Moiren der griechischen Mythologie
entsprechen
113
als Tantalus für seine Taten bestraft wurde
114
die Amme: das Kindermädchen
115
der Zwist: der Streit
116
geschmäht: beleidigt, verspottet
117
geschändet: mit Schande bedeckt
118
gerechten Gerichtes: auf ein gerechtes Gericht
119
der Schlund: der Abgrund
30
Erstickter Titanen120,
Gleich Opfergerüchen,
Ein leichtes Gewölke.
Es wenden die Herrscher
Ihr segnendes Auge
Von ganzen Geschlechtern
Und meiden, im Enkel
Die ehmals geliebten
Still redenden Züge
Des Ahnherrn zu sehn.“

So sangen die Parzen;


Es horcht die Verbannte121
In nächtlichen Höhlen,
Der Alte, die Lieder,
Denkt Kinder und Enkel
Und schüttelt das Haupt.

120
Titanen: in der griechischen Mythologie Riesen in Menschengestalt und ein mächtiges Göttergeschlecht
121
die Verbannte: die durch einen Fluch an einen fremden Ort Vertriebene
31
5. Akt
1. Szene

Thoas, Arkas
Arkas: Verwirrt muss ich gestehn, dass ich nicht weiß,
wogegen ich den Argwohn122 richten soll.
Sind’s die Gefang‘nen, die die Flucht
Verstohlen planen? Ist’s die Priesterin,
Die ihnen hilft? Es vermehrt sich das Gerücht:
Das Schiff, das diese beiden hergebracht,
Sei unten noch in einer Bucht versteckt.
Und jenes Mannes Wahnsinn, diese Reinigung,
Der Vorwand für Verzögerung, erwecken
In mir ein großes Misstrau‘n und auch Vorsicht.
Thoas: Es komme schnell die Priesterin herbei!
Dann geht, durchsucht das Ufer scharf und schnell
Vom Vorgebirge bis zum Hain123 der Göttin.
Und legt auch einen Hinterhalt und greift sie an;
Wo ihr sie findet, fasst sie, nehmt sie mit.

2. Szene

Thoas (allein)

Thoas: Entsetzlich wechselt mir die Stimmung hier;


Erst gegen sie, die ich für heilig hielt;
Dann gegen mich, der ich sie zum Verrat
Durch Nachsicht124 und durch Güte bildete.
An Sklaverei gewöhnt der Mensch sich gut
Und lernet leicht gehorchen, wenn man ihn
Der Freiheit ganz beraubt. Ja, wäre sie
In meiner Ahnherrn rohe Hand gefallen:
Sie wäre froh gewesen, sich allein
Zu retten, hätte dankbar ihr Geschick
Erkannt und fremdes Blut vor dem Altar
Vergossen, hätte Pflicht genannt,
Was Not war. Nun weckt meine Güte
In ihrer Seele kühne125 Wünsche auf.
122
der Argwohn: die Bedenken, die Zweifel
123
der Hain: ein kleiner Wald
124
die Nachsicht: Das Verzeihen von Fehlern, Güte
125
kühn: mutig
32
Vergeblich hofft‘ ich, sie mir zu verbinden;
Sie denkt sich nun ein eig‘nes Schicksal aus.
Durch Schmeichelei gewann sie mir das Herz:
Nun will ich dieser126 tapfer widerstehn.

Fragen:
1. Welche Zweifel haben Arkas und Thoas?
2. Wie sieht ihr neuer Plan aus?
3. Welche Bedenken hat Thoas?

3. Szene

Iphigenie, Thoas

Iphigenie: Du hast gerufen! Was bringt dich zu uns?


Thoas: Du schiebst das Opfer auf; sag an, warum?
Iphigenie: Ich hab doch Arkas alles klar erzählt.
Thoas: Von dir möcht‘ ich es noch einmal vernehmen.
Iphigenie: Die Göttin gibt dir eine Frist zur Überlegung.
Thoas: Mir scheint, sie kommt dir selbst gelegen, diese Frist.
Iphigenie: Wenn dir dein Herz zum grausamen Entschluss
so sicher ist, dann solltest du nicht kommen!
Ein König, der Unmenschliches verlangt,
Find‘t Diener g’nug, die gegen einen Lohn
Den Fluch der Tat sehr gern begeh‘n;
Des Königs Leben bleibt so unbefleckt127.
Thoas: Aus deinem Munde tönt ein wildes Lied.
Iphigenie: Nicht Priesterin! – Nur Agamemnons Tochter!
Das Wort der Unbekannten hattest du verehrt;
Der Fürstin willst du rasch befehlen? Nein!
Von Jugend an hab ich gelernt zu folgen128,
Erst meinen Eltern und dann einer Gottheit,
Und folgsam129 fühlt‘ ich immer meine Seele
Am schönsten frei; allein dem harten Worte,
Dem rauen Ausspruch eines Mannes mich
Zu fügen, das lernt‘ ich weder dort noch hier.
Thoas: Ein alt‘ Gesetz, nicht ich, befiehlt es dir.
Iphigenie: Wir weisen auf Gesetze gerne hin,
Die unsrer Leidenschaft zur Waffe dienen.
Ein anderes und älteres Gesetz
126
dieser: bezieht sich auf „Schmeichelei“ in der Zeile darüber
127
Der König behält so eine weiße Weste, lädt also keine Schuld auf sich, wenn er andere für ein Verbrechen bezahlt
128
folgen: hier im Sinne von gehorchen
129
folgsam: gehorsam
33
Befiehlt mir, mich zu widersetzen, das Gebot,
Dass jeder Fremde heilig ist.
Thoas: Es scheinen die Gefangenen dir nah
Am Herzen; denn vor Anteil und Bewegung
Vergissest du der Klugheit erstes Wort:
Dass man den Mächtigen nicht reizen soll.
Iphigenie: Red oder schweig ich, immer kannst du wissen,
Was mir im Herzen ist und ständig bleibt.
Löst die Erinn‘rung an ein gleiches Schicksal
Nicht Mitleid aus in allen Menschenherzen?
Wie sehr dann auch in mir! Die Fremden gleichen mir.
Ich habe vorm Altare selbst gezittert
Und feierlich umgab der frühe Tod
Mich dort; des Vaters Messer zuckte130 schon,
Mein lebensvolles Herz gleich zu durchbohren;
Mein Innerstes entsetzte zitternd sich,
Mein Auge brach131, und – ich fand mich gerettet.
Sind wir, was Götter gnädig uns gewähren,
Nicht schuldig, auch Unglücklichen zu geben?
Du weißt es, kennst mich, und du willst mich zwingen!
Thoas: Gehorche deinem Dienste, nicht dem König.
Iphigenie: Lass ab! Beschönige nicht die Gewalt,
Die über Schwächen eines Weibs sich freut.
Ich bin so frei geboren wie ein Mann.
Stünd Agamemnons Sohn dir gegenüber
Und du verlangtest, was sich nicht gehört:
So nähme er sein Schwert und einen Arm,
Die Rechte seines Willens zu verteid’gen.
Ich habe nichts als Worte, und es ziemt
Dem edlen Mann, der Frauen Wort zu achten.
Thoas: Ich acht‘ es mehr als eines Bruders Schwert.
Iphigenie: Nicht ohne Hilfe gegen Not und Härte
Hat die Natur den Schwachen hier gelassen.
Sie gab die List ihm und die Freude, lehrt‘ ihn Künste.
Thoas: Der List stellt klug die Vorsicht sich entgegen.
Iphigenie: Und eine reine Seele braucht sie nicht.
Thoas: Sprich unbehutsam132 nicht dein eigen‘ Urteil.
Iphigenie (zu sich):
Was bleibt mir nun, mein Inn’res zu verteid’gen?
Ruf ich die Göttin um ein Wunder an?
Ist keine Kraft mehr tief in meiner Seele?
130
zucken: zittern, sich bewegen
131
Man spricht davon, dass das „Auge bricht“, wenn man stirbt
132
unbehutsam: unvorsichtig
34
Thoas: Es scheint, das Schicksal beider Fremder macht
Dich allzusehr besorgt. Wer sind sie? Sprich!
Iphigenie: Sie sind – sie scheinen – für Griechen halt‘ ich sie.
Thoas:Landsleute sind es? Und sie haben wohl
Das schöne Bild der Rückkehr dir gezeigt?
Iphigenie (nach einigem Stillschweigen):
Hat denn zur unerhörten Tat133 der Mann
Allein das Recht? Kann denn Unmögliches
Nur er als Held so kühn vollbringen?
Wird der allein gepriesen134, der so mutig
Im Kriege siegt und tapfer gegen Räuber
Kämpft? Und wir? Muss denn ein zartes Weib
Sich von der angebor’nen Pflicht befrein,
Wild gegen Wilde sein, wie Amazonen135
Das Recht des Schwertes an sich nehmen, blutig
Die Unterdrückung rächen? Auf und ab
Steigt in der Brust ein kühnes Unternehmen:
Ich werde großen Vorwurf auf mich zieh‘n
Und schweres Übel, wenn es mir misslingt.
Allein euch leg ich’s in die Hand! Wenn
Ihr so wahrhaftig seid, wie ihr gepriesen werdet:
So könnt ihr es durch eure Hilfe zeigen
Und Wahrheit sprechen lassen! Ja, hör es, König,
Es wird ein heimlicher Betrug geschmiedet;
Vergeblich fragst du, wo die beiden sind:
Sie sind hinweg und suchen ihre Freunde,
Die mit dem Schiff am Ufer warten, auf.
Der älteste, der hier dem Wahnsinn nah war
Und der nun davon frei ist – er ist Orest,
Mein Bruder; und der andre sein Vertrauter,
Sein Jugendfreund, mit Namen Pylades.
Apoll schickt sie von Delphi an dies Ufer
Mit göttlichem Befehl, das Bild Dianas
Hinwegzurauben und die Schwester ihm
Zu bringen, wofür er dem von Furien Verfolgten,
Des Mordes Schuldigen, die Freiheit schenkt.
- Uns beide hab ich nun, die Übrigbleibenden
Von Tantals Haus, in deine Hand gelegt:
Verdirb uns – wenn du darfst.

Thoas: Du glaubst, es höre


133
die unerhörte Tat: vergleiche 1. Akt, 3. Szene
134
preisen, pries, gepriesen: loben, rühmen
135
die Amazonen: vgl. frühere Anmerkung
35
Der rohe Skythe136, der Barbar137, die Stimme
Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus,
Der Grieche, nicht verstand?
Iphigenie: Es hört sie jeder!
Was denkst du, König? Warum schweigst du?
Ist es Verderben? So töte mich zuerst!
Denn nun empfind ich, weil uns keine Rettung
Mehr übrig bleibt, die grässliche Gefahr,
In die ich die Geliebten übereilt
Mit Vorsatz138 stürzte. Weh! Ich werde sie
Gebunden vor mir sehn! Mit welchen Blicken
Kann ich von meinem Bruder Abschied nehmen,
Den ich ermorde? Niemals kann ich ihm
In seine heißgeliebten Augen schau‘n!
Thoas: So haben die Betrüger dich mit Träumen
Eingehüllt.
Iphigenie: Nein, o König, nein!
Die beiden handeln treu und wahr. Find’st du sie anders,
So lass sie fallen und verstoße mich,
Verbanne mich zur Strafe für die Dummheit
Ans trübe Ufer einer Klippeninsel139.
Wenn aber dieser Mann der lang erflehte,
Der Bruder ist: So lass uns geh‘n, sei auch
Bei den Geschwistern freundlich wie der Schwester!
Mein Vater starb durch Schuld der Ehefrau
Und sie durch ihren Sohn. Die letzte Hoffnung
Von Atreus‘ Stamme ruht auf ihm allein.
Lass mich mit reinem Herzen, reiner Hand
Hinübergeh‘n und unser Haus entsühnen140.
Du hältst mir Wort! – Denn wenn nach Hause je
Zurückzukehren möglich wär‘, du schwurst
Mich gehn zu lassen, und so ist es nun.
Thoas: Wie oft besänftigte mich diese Stimme!
Iphigenie: O reiche mir die Hand zum Friedenszeichen.
Thoas: Du forderst viel in einer kurzen Zeit.
Iphigenie: Um Gut’s zu tun, braucht’s keine Überlegung.
Thoas: Sehr viel! Denn auch dem Guten folgt das Übel.
Iphigenie: Der Zweifel ist’s, der Gutes böse macht.
136
der Skythe, die Skythen: ein Reiternomadenvolk, das bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. die Halbinsel Krim bewohnte
137
der Barbar, die Barbaren: die ursprüngliche Bezeichnung im antiken Griechenland für alle diejenigen, die nicht (oder
schlecht) griechisch sprachen (vgl. die deutsche Redensart: Ich verstand nur „Rhabarber Rhabarber“.) Im modernen
Sprachgebrauch wird der Begriff abfällig in der Bedeutung „roh-unzivilisierte, ungebildete Menschen“ verwendet.
138
der Vorsatz: die Absicht
139
die Klippeninsel: Insel mit Felsen (der Fels, die Klippe) am Ufer
140
entsühnen: von Sünde befreien
36
Denk nicht lang nach; gewähre, wie du’s fühlst.

Fragen:
1. Woran kann man zu Beginn erkennen, dass Iphigenie sehr von ihrer Position überzeugt ist?
2. Schreibe eine Liste mit mindestens vier Argumenten, die Iphigenie für die Freiheit der Fremden
nennt!
3. Warum entscheidet sich Iphigenie, dem König Thoas die Wahrheit über Orest zu sagen?
4. Iphigenie spricht davon, dass nur Männer eine „unerhörte Tat“ begehen könnten; genau die
gleiche Formulierung findest du in der 3. Szene des 1. Aktes. Was ist dort gemeint? Welche
„unerhörte Tat“ begeht Iphigenie? Welche dieser Taten ist deiner Meinung nach besonders
„unerhört“?
5. Wie verhält sich Thoas in diesem ernsten Gespräch?

4.Szene
Orest bewaffnet; die Vorigen
Orest (nach der Szene gedreht):
Verdoppelt eure Kräfte! Haltet sie
Zurück! Nur wenige Momente! Weicht
Nicht vor der Menge, deckt den Weg zum Schiffe
Mir und der Schwester!
(zu Iphigenie, ohne den König zu sehen.)
Komm, wir sind verraten.
Geringer Raum bleibt uns zur Flucht. Geschwind141!
(Er erblickt den König.)
Thoas (nach dem Schwerte greifend):
In meiner Gegenwart führt ungestraft
Kein Mann das nackte Schwert.
Iphigenie: Entheiliget
Der Göttin Wohnung nicht durch Wut und Mord.
Befehlet eurem Volke Stillstand, höret
Die Priesterin und auch die Schwester.
Orest: Sag‘ mir, wer ist es, der uns droht?
Iphigenie: Verehr in ihm
Den König, der mein zweiter Vater wurde!
Verzeih mir, Bruder! Doch mein kindlich‘ Herz
Hat unsre Zukunft nur in seine Hand
Gelegt. Gestanden hab ich euren Anschlag.
Und meine Seele hab ich vom Verrat gerettet.
Orest: Will er die Rückkehr friedlich uns gewähren?
Iphigenie: Dein blinkend‘ Schwert verbietet ihm die Antwort.
Orest (der das Schwert einsteckt):
141
geschwind: schnell
37
So sprich! Du siehst, ich folge deinen Worten.

5. Szene
Die Vorigen. Pylades. Bald nach ihm Arkas. Beide mit bloßen Schwertern
Pylades: Beeilt euch! Unsre letzten Kräfte reißen
Die Unsrigen zusammen; langsam werden
Sie nach der See hin furchtbar abgedrängt.
Welch ein Gespräch der Fürsten find ich hier!
Dies ist des Königes verehrtes Haupt!
Arkas: Gelassen, wie es sich für dich gehört,
Stehst du den Feinden gegenüber. Gleich
Ist ihre Frechheit wohl bestraft; es weicht
Und fällt ihr Anhang142, und ihr Schiff ist unser.
Ein Wort von dir, so steht’s in Flammen.
Thoas: Geh! Befehle Stillstand meinem Volke! Keiner
Beschädige den Feind, solang wir reden.
(Arkas ab.)
Orest: Ich nehm es an. Geh, sammle, treuer Freund,
Den Rest des Volkes; wartet ab, welch Ende
Die Götter für unsre Taten planen.
(Pylades ab.)

Fragen:
1. Wie kommt es zum „Waffenstillstand“ zwischen den beiden Seiten? Wer ist dafür
verantwortlich?
2. Wie denkst du über einen König, der so handelt wie Thoas?

6. Szene

Iphigenie. Thoas. Orest.

Iphigenie: Befreit von Sorgen mich, eh ihr zu sprechen


Beginnet. Ich befürchte bösen Streit,
Wenn du, o König, nicht die sanfte Stimme
Der Mäßigung erhörst, und du, mein Bruder,
Den Sturm der Jugend nicht gebändigt hältst.
Thoas: Ich halte meinen Zorn, wie sich‘s für Ält‘re
Gehört, zurück. Antworte mir! Womit
Beweist du, dass du Agamemnons Sohn
Und dieser Bruder bist?
Orest: Hier ist das Schwert,
142
der Anhang: gemeint sind ihre Anhänger
38
Mit dem er Trojas tapfre Männer schlug.
Dies nahm ich damals seinem Mörder ab.
Wähl einen von den Edlen deines Heeres
Und stelle mir den Besten gegenüber.
Thoas: Dies Vorrecht hat die alte Sitte nie
Dem Fremden hier gestattet.
Orest: Beginn‘ die neue Sitte dann mit dir und mir!
Und lass mich nicht allein für unsre Freiheit,
Lass mich, den Fremden, für den Fremden kämpfen.
Fall‘ ich, so ist das Urteil mit dem meinen
Gesprochen; aber gönnet mir das Glück
Den reichen Sieg, so trete nie ein Mann
Auf dieses Ufer, dem der gastlich‘ Blick
Der Freundschaft nicht sofort begegnet ist.
Thoas: Nicht unwert scheinest du, o Jüngling, mir
Der Ahnherrn, derer du dich rühmst, zu sein.
Ich bin bereit, mit dir die Waffen zu benutzen.
Iphigenie: Mitnichten! Diesen blutigen Beweis
Brauchst du nicht, König! Lasst die Hand
Vom Schwerte! Denkt an mich und mein Geschick.
Ein Schwertkampf adelt wohl den Mann, allein
Er stirbt. Man mag ihn dafür loben, doch
Die viel geweinten Tränen ihrer Frauen,
Sie wiegen schwerer. Gewiss ist nun mein Herz:
Er ist mein Bruder! Sieh hier dieses Mal143
Wie von drei Sternen, das am Tage schon,
Als er geboren wurd‘, sich zeigte; dann
Überzeugt mich diese Schramme144, die ihm hier
Die Augenbraue spaltet. Als ein Kind
Ließ ihn Elektra, rasch und unvorsichtig,
Nach ihrer Art, aus ihren Armen stürzen.
Er schlug auf einen Dreifuß145 auf. – Er ist’s!
Soll ich dir noch die Ähnlichkeit des Vaters,
Soll ich das innre Jauchzen146 meines Herzens
Dir auch als den Beweis für seinen Stand dir nennen?
Thoas: Auch wenn mit deiner Rede jeder Zweifel
Und jeder Zorn von mir genommen wär:
So würden doch die Waffen zwischen uns
Entscheiden müssen; Frieden seh ich nicht.
Sie sind gekommen, du bekennst es selbst,
143
das Mal: hier Muttermal, Leberfleck
144
die Schramme: eine kleine Narbe von einer Verwundung
145
der Dreifuß: ein dreifüßiges Möbelstück mit Ecken, auf die ein Behälter gestellt werden kann
146
das Jauchzen, Verb: jauchzen: jubilieren, Freude ausdrücken
39
Das heil’ge Bild der Göttin mir zu rauben.
Glaubt ihr, ich sehe da gelassen zu?
Orest: Das Bild, o König, soll uns nicht entzwei‘n!
Jetzt kennen wir den Irrtum, den ein Gott
Wie einen Schleier um den Kopf uns legte,
Als er den Weg hierher uns gehen ließ.
Um Rat und um Befreiung meiner Seele
Bat ich ihn, und Apollo sprach:
„Bringst du die Schwester, die an Tauris‘ Ufer
Im Tempel gegen ihren Willen lebt,
Nach Griechenland: So löset sich der Fluch.“
Wir legten’s als Apollons Schwester aus147
Doch er, er dachte nur an dich!
Die strengen Bande lösen sich ab jetzt.
Du bist den Deinen wieder, Heilige, geschenkt.
Von dir berührt, war ich geheilt; in deinen Armen
Erfasste mich das Übel und der Wahnsinn
Zum letzten Mal und schüttelte mein Leben
Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh’s.
Und neu seh‘ ich durch dich das weite Licht
Des Tages. Schön und herrlich zeigt sich mir
Der Göttin Rat. Gleich einem heil’gen Bilde
Nahm sie dich weg, dich Schützerin des Hauses;
Bewahrte dich in einer heil’gen Stille
Zum Segen deines Bruders und der Deinen.
Wo alle Rettung auf der weiten Erde
Verloren schien, gibst du uns alles wieder.
- Lass deine Seele sich zum Frieden wenden,
O König! Verhindre nicht, dass sie die Heilung
Des väterlichen Hauses nun vollbringe,
Mich der vom Fluch befreiten Heimat wiedergebe,
Mir auf das Haupt die alte Krone drücke!
Bedenk den Segen, den sie dir gebracht!
Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm,
Wird durch die Wahrheit dieser hohen Seele
Beschämt, und reines kindliches Vertrauen
Zu einem edlen Manne wird belohnt.
Iphigenie: Denk an dein Wort und lass durch diese Rede
Aus einem graden treuen Munde dich
Bewegen! Sieh uns an! Du hast nicht oft
Gelegenheit zu solcher edlen Tat!
Verbieten kannst du’s nicht; erlaub es bald!
Thoas: So geht!
147
etwas auslegen: etwas deuten, interpretieren
40
Iphigenie: Nicht so, mein König! Ohne Segen,
In Unmut, trenn ich mich nicht gern von dir.
Verbann uns nicht! Ein freundlich‘ Gastrecht herrsche
Von dir zu uns; so sind wir nicht auf ewig
Getrennt und abgeschieden. Wert und teuer,
Wie mir mein Vater war, so bist du’s mir.
Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele.
Bringt der Geringste deines Volkes je
Den Ton der Sprache mir ins Ohr zurück,
Die ich bei euch gewohnt zu hören bin,
Und seh‘ ich an dem Ärmsten eure Tracht148:
Empfangen will ich ihn wie einen Gott,
Ich will ihm selbst ein Lager zubereiten,
Auf einen Stuhl ihn an das Feuer laden
Und nur nach dir und deinem Schicksal fragen.
O geben dir die Götter doch für deine Taten
Und deine Milde einen wohl verdienten Lohn!
Leb wohl! O wende dich zu uns und gib
Ein liebes Wort des Abschieds uns zurück!
Dann bläst der Wind die Segel sanfter an,
Und Tränen fließen lindernder149 vom Auge
Der Scheidenden150. Leb wohl! Und reiche mir
Zum Pfand151 der Freundschaft deine Rechte.
Thoas: Lebt wohl!

Fragen:
1. Warum wollen Orest und Thoas zuerst gegeneinander mit dem Schwert kämpfen?
2. Wie verhindert Iphigenie diesen Kampf?
3. Welche Beweise gibt es für Orests Identität als Sohn des Agamemnon?
4. Wie entkräftet Orest den berechtigten Vorwurf von Thoas, er habe das Bild der Göttin aus dem
Tempel stehlen wollen?
5. Wie wird jetzt der Orakelspruch von Delphi ausgelegt?
6. Thoas will Iphigenie, Orest und Pylades sowie ihre Freunde zurück nach Griechenland gehen
lassen. Worum bittet ihn Iphigenie noch? Warum?
7. Das Wort „Bild“ ist Teil von Goethes Symbolsprache. Welche doppelte Bedeutung kann es
haben? Wieso ist nach dieser Definition Iphigenie ein „Bild“?

Anhang

148
die Tracht: Kleidung einer Volksgruppe
149
lindern, lindernd: beruhigen, besänftigen, heilen; man lindert die Schmerzen
150
die Scheidenden: die Menschen, die weggehen, die sich verabschieden
151
das Pfand: hier gemeint im Sinne von Beweis, als Versicherung
41
Materialien

1. Zur Bearbeitung
2. Der Stammbaum der Tantaliden
3. Karten und Bilder
4. Der Tantalidenfluch
5. Bedeutung des Tantalidenfluchs für das Drama und seine Aussage
6. Die Symbolsprache Goethes
7. Schillers „schöne Seele“ als Modell der Epoche
8. Die Elemente des klassischen Dramas am Beispiel von „Iphigenie auf Tauris“

1. Zur Bearbeitung

„Iphigenie auf Tauris“ ist ein Drama, auf das man sowohl bei der Behandlung der Epoche
der Weimarer Klassik als auch zum Beispiel bei einem literarischen Längsschnitt zum
Thema „Frauengestalten in der deutschen Literatur“ kaum verzichten kann; es bereitet
aber selbst muttersprachlich Heranwachsenden enorme Verständnisprobleme.
Goethes Drama wird hier um etwa 45% gekürzt; vor allem schwer nachvollziehbare
Hinweise auf das Wirken der Götter und einige Natur-Metaphern oder andere inhaltlich
verzichtbare Passagen werden weggelassen. Ziel ist, den Inhalt und die dargestellte
Grundproblematik heutigen Schülerinnen und Schülern zu vermitteln.
Beibehalten wird nach Möglichkeit der Blankvers, zum Teil neu eingerichtet; an einigen
Stellen gelingt das Versmaß nicht, man möge das verzeihen. Trotz aller damit
verbundenen Schwierigkeiten für das Verständnis werden auch die zentralen Elemente
der Goetheschen Symbolsprache beibehalten: Nahezu alle Wortverbindungen, die mit
„Band“ verbunden sind, werden in die Bearbeitung aufgenommen; auch das „Herz“ sowie
natürlich das „Bild“ sind Teil dieser Ausgabe.
Veraltete, ungebräuchliche oder selten gebrauchte Begriffe werden in Fußnoten erklärt,
zum Teil auch ganze Sentenzen. Damit soll auch fremdsprachlich aufwachsenden
Jugendlichen die Möglichkeit des Verstehens gegeben werden, was zusätzlich dadurch
erleichtert wird, dass Substantive in den Anmerkungen grundsätzlich mit Artikel
erscheinen. Die gräzisierende Sprache Goethes wurde sanft dem heutigen
Sprachgebrauch angepasst, sodass man zum Beispiel nur noch wenige vorgestellte
Genitive findet.
Dennoch bleibt das Drama schwer zu verstehen. Verständnisfragen nach fast jeder
Szene sollen die Erarbeitung des Inhalts erleichtern. Die Hemmschwelle, dieses Werk
überhaupt in sich aufzunehmen, könnte dadurch verringert werden, dass man vor der
Behandlung des Dramas im Unterricht die Vorgeschichte des Tantalidenfluchs erzählt
42
oder anders vermittelt; zu diesem Zweck sind im Anhang wichtige Materialien
aufgenommen.
Zu hoffen bleibt, dass diese Bearbeitung das „Unterrichten“ des Dramas in der Schule
und in anderen Kreisen erleichtert.

2. Der Stammbaum der Tantaliden

Quelle: Udo Müller: Klett Lektürehilfen zu Johann Wolfgang von Goethe „Iphigenie auf Tauris“, Stuttgart 1988
(Klett Verlag), S. 68f

3. Karten und Bilder


Man sollte unbedingt eine Europa-Karte zeigen, um zu verdeutlichen, wo Mykene, wo
Troja und wo die Halbinsel Krim liegen.
Zudem sollten Bilder zum Beispiel vom Löwentor in Mykene oder vom Tempel in Delphi
sowie andere Bilder der griechischen Geschichte und Mythologie gezeigt werden.
4. Der Tantalidenfluch

43
 TANTALUS, Sohn des Zeus, belauscht bei einer Einladung auf den Olymp die
Götter. Er merkt, dass sie nicht ohne Fehl und Tadel sind, und verrät ihre
Geheimnisse den Menschen, erhebt sich also über die Götter, ähnlich wie
Prometheus. Er will sie auf die Probe stellen, ob sie wirklich so klug sind, wie man
denkt. Er schlachtet seinen Sohn PELOPS und setzt ihn als Braten den Göttern
vor. Diese merken, was sie da vor sich haben, und bestrafen Tantalus hart: Er
muss in den Tartarus (ein Kerker noch unter der Unterwelt) und steht dort im
Wasser unter einem vollen Obstbaum, ohne jedoch essen und trinken zu können,
sodass er Höllenqualen leidet. (Daher der Begriff „Tantalusqualen erleiden
müssen“.) Die Untat des Tantalus führt zudem dazu, dass die Götter alle seine
Nachfahren verfluchen, jeweils wieder Familienmitglieder zu bekämpfen und zu
töten. Nie soll Friede in diesem Geschlecht herrschen.
 Pelops, sein Sohn, wird von den Göttern aus Mitleid wieder zum Leben erweckt.
Er kommt zur später nach ihm benannten Halbinsel Peloponnes, dort herrscht in
Mykene OINOMAOS, der eine schöne Tochter hat namens HIPPODAMEIA hat.
Er will aber seine Tochter nur demjenigen zur Frau geben, der ihn beim
Wagenrennen besiegt; sollte der mögliche Heiratskandidat jedoch unterliegen,
droht ihm der Tod. Pelops besticht MYRTILOS, den Stallknecht des Königs, in
den Wagen von Oinomaos Nägel aus Wachs in die Räder zu stecken, die durch
die Erhitzung beim Rennen schmelzen und den Wagen verunglücken lassen. So
besiegt er Oinomaos, der beim Unglück stirbt, und heiratet Hippodameia. Damit
der Zeuge seiner List verschwindet, wirft er den Stallknecht ins Meer. Pelops wird
durch die Heirat Herrscher in Mykene auf der Insel Peloponnes, die jetzt nach ihm
benannt wird. Er bekommt mit Hippodameia zwei Söhne, ATREUS und
THYESTES; er hat aber bereits einen älteren Sohn aus einer früheren Beziehung,
nämlich CHRYSIPPOS. Dieser wird, weil er die Erbfolge der beiden anderen
Söhne stören würde, von den beiden anderen Söhnen getötet. Pelops denkt,
seine Frau habe den ersten Sohn aus Eifersucht umgebracht, beschuldigt diese
des Mordes, sodass sie so verzweifelt ist, dass sie Selbstmord begeht.
 Atreus wird nach dem Tod Pelops‘ Herrscher von Argos mit der Stadt Mykene, er
liegt aber im ständigen Streit mit seinem Bruder. Thyestes raubt Atreus das Vlies
des Goldenen Widders, das die Herrschaft über Argos verspricht. Vor seiner
Flucht entführt Thyestes den Sohn Atreus‘, PLEISTHENES, und erzieht ihn als
eigenen Sohn. Als dieser erwachsen ist, schickt Thyestes ihn nach Mykene, um
den feindlichen „Onkel“ Atreus zu ermorden. Dieser, so redet Thyestes ihm ein,
sei unrechtmäßig Herrscher, denn schließlich besitze er selbst, Thyestes, das
Vlies des Goldenen Widders. Pleisthenes will Atreus töten, ohne zu wissen, dass
Atreus sein Vater ist. Pleisthenes wird jedoch gefangen genommen und als Feind,
44
der ihn ermorden will, selbst getötet. Als Atreus erfährt, dass er seinen eigenen
Sohn umgebracht hat, schwört er Rache an seinem Bruder Thyestes. Zum Schein
versöhnt er sich mit ihm und lädt ihn und seine Familie nach Mykene ein. Er
handelt wie Tantalus: Er lässt die beiden Söhne des Thyestes, PLEISTHENES II
und TANTALOS II ergreifen, schlachtet sie und setzt sie als Festessen seinem
Bruder vor. Der Sonnengott ändert voller Abscheu wegen dieser „unerhörten Tat“
die Richtung seines Laufs. Thyestes schwört natürlich Rache. Er zeugt mit seiner
Tochter PELOPIA einen neuen Sohn, AIGISTHOS, damit dieser die Rache
ausführen kann.
 AIGISTHOS, auch ÄGISTH genannt, tötet seinen Onkel Atreus, sodass Thyestes,
sein Vater (und Großvater), der Herrscher von Mykene wird.
 AGAMEMNON, der älteste Sohn des Atreus, will seinen Vater rächen und tötet
Thyestes, verschont jedoch Ägisth, der ins Exil geht. Er will seinem jüngeren
Bruder MENELAOS gegen PARIS und die Trojaner helfen, die dessen Frau
HELENA entführt haben. Als Agamemnon jedoch mit dem Schiff von Aulis aus in
den Krieg gegen Troja aufbrechen will, weht kein Wind, um das Segelschiff
voranzubringen. Kalchas, der Seher, meint, die Wind-, Meeres- und Jagdgöttin
Diana sei verärgert, weil Agamemnon eine ihr heilige Hirschkuh getötet habe, und
fordere seine Tochter IPHIGENIE als Opfer. Agamemnon schlachtet und opfert
sie. Mit Recht ist seine Frau KLYTÄMNESTRA darüber erzürnt und schwört
Rache. Agamemnon aber kommt mit günstigem Wind in Troja als griechischer
Heerführer im Trojanischen Krieg an.
 Iphigenie wird aber von der mitleidigen Göttin Diana gerettet und auf die Insel
Tauris, heute Halbinsel Krim, gebracht. Hier dient sie als Priesterin im Tempel der
Diana und ist Gast des dort herrschenden König THOAS.
 Klytämnestra will sich an Agamemnon wegen Iphigenies Tod rächen, was sich mit
Ägisths Interesse trifft. Beide beginnen ein Verhältnis miteinander, während
Agamemnon vor Troja kämpft.
 Die weiteren Kinder von Agamemnon und Klytämnestra, ELEKTRA und OREST,
müssen zusehen, wie Ägisth und ihre Mutter zusammenleben, und schwören
Rache.
 Agamemnon kommt arglos mit der gefangen genommenen Kassandra aus dem
Trojanischen Krieg zurück und wird von Ägisth und Klytämnestra im Bad
erschlagen; auch Kassandra wird getötet.
 Elektra versteckt Orest nach der Ermordung Agamemnons; sie gibt ihn zum
Schwager ihres Vaters STROPHIUS, der Orest gemeinsam mit seinem Sohn
PYLADES wie ein eigenes Kind im Land Phokis aufzieht.

45
 Orest ist zwölf Jahre alt, als sein Vater von der Mutter ermordet wird. Er wächst
heran und rächt den Mord an seinem Vater, indem er seine Mutter und deren
Geliebten Ägisth tötet. Nach diesem Doppelmord allerdings wird er von den
Erynnien verfolgt und kann nicht mehr ruhig schlafen. Er bittet das Orakel von
Delphi im Tempel des Apollon um Rat, wie er sein Gewissen beruhigen kann. Er
erhält die Aufforderung, nach Tauris zu gehen, wo der Tempel der Diana stehe, er
solle von dort das Bildnis „der Schwester“ rauben und nach Hause bringen. Orest
denkt, es müsse das Kultbild der Diana, der Schwester Apollons, gemeint sein,
und zieht mit seinem Freund und Cousin Pylades nach Tauris, um den Ratschlag
des Orakels zu befolgen.
 Orests Schwester Iphigenie lebt also als Priesterin im Tempel der Diana und
muss die dortige Sitte, alle auf der Insel Fremden der Göttin zu opfern, ausführen.
Zwar hatte sie diesen Brauch in der letzten Zeit verhindert, aber er soll wieder
aufleben. In diesem Moment erreichen zwei Fremde, nämlich Orest und Pylades,
die Insel Tauris.
Exakt in dieser Situation beginnt Goethes Drama „Iphigenie auf Tauris“.

5. Bedeutung des Tantalidenfluchs für das Drama und seine Aussage


Goethe plädiert in seinem Drama für das Recht und die Fähigkeit des Menschen zur
Selbstbestimmung und zur Autonomie. Denn der Tantalidenfluch, der das Schicksal
der Familie vorherbestimmt hat, wird durch das Handeln Iphigenies gelöst, sodass
sich Iphigenie mit ihrem Bruder befreien kann. Zudem wirkt Iphigenies „schöne
Seele“ auch auf Thoas, der sie freiwillig und mit seinem Segen ziehen lässt.
Diese Lösung Goethes steht im krassen Gegensatz zu Euripides‘ Drama „Iphigenie
bei den Taurern“, in dem die Geschwister und Pylades mit dem gestohlenen Bild der
Diana nach Griechenland fliehen, aber gefangen genommen und von Athene vor der
Opferung gerettet werden.

6. Die Symbolsprache Goethes


Goethe schreibt in „Maximen und Reflexionen“: „Die Symbolik verwandelt die
Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, dass die Idee im Bild immer
unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen
ausgesprochen, doch unaussprechlich bleibt. Das ist die wahre Symbolik, wo das
Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als
lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.“
46
Die Symbole sollen also etwas vermitteln, was unaussprechlich ist, einen
Zusammenhang herstellen zwischen einem Bild und einer Idee. Damit kann der
Leser etwas weit über den Text Hinausgehendes erfahren, erspüren.
Zentrale Symbole in „Iphigenie auf Tauris“, die sehr häufig verwendet werden, sind:
 BAND: Zum einen versinnbildlicht es die Bindung an den Fluch der Tantaliden
und damit Unfreiheit; zum anderen bedeutet es aber auch positive
Verbundenheit zum Beispiel in einer Familie, die Freiheit und Autonomie erst
ermöglicht.
 BLUT: Bindung der Tantaliden, also auch Orests, an den Fluch und die
Blutrache, was Schuld mit sich trägt; Iphigenie dagegen versucht von Blut und
Schuld frei zu werden: „O enthalte vom Blut meine Hände!“ (I/4)
 BILD: Das Kultbild der Diana verkörpert die Idee des Göttlichen und diese
Bedeutung wird von Goethe auf Iphigenie übertragen, da Iphigenie an die
Stelle des Kultbildes tritt und somit zum Vorbild des Göttlich-Menschlichen
wird.
 FEUER und WASSER
 SCHATTEN und SONNE
 HÜLLE / NETZ / GEWEBE
 HERZ

7. Schillers „schöne Seele“ als Modell der Epoche


Schiller schreibt in „Anmut und Würde“: „Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich
das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad
verdichtet hat, dass es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen
darf und nie in Gefahr steht, mit den Entscheidungen desselben im Widerstand zu
stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht
sittlich, sondern der ganze Charakter ist es.“
Iphigenie verkörpert das Idealbild der „schönen Seele“, da sie intuitiv, ohne großes
Überlegen, von ihrem Herzen aus das Richtige, das Sittliche, das Humane tut und
sich trotz der Zweifel für die Wahrheit entscheidet. Im Vertrauen darauf, dass Thoas
auch auf sein Herz hört, legt sie ihr Schicksal und das ihres Bruders in Thoas‘ Hand.

47
8. Die Elemente des klassischen Dramas am Beispiel von „Iphigenie auf Tauris“

 Die drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung nach Aristoteles werden
eingehalten: Das Geschehen spielt sich an nur einem Ort ab, nämlich vor dem
Tempel der Diana auf Tauris; an nur einem Tag wird der Konflikt gelöst; es
geht um eine einzige Handlung ohne Nebenhandlungen, die abgeschlossen
wird.
 Die Ständeklausel, nach der nur hoch stehende Personen in einem Drama die
Hauptrolle spielen dürfen, da sie zum Vorbild taugen und im Falle ihres
Scheitern eine entsprechende „Fallhöhe“ haben, wird erfüllt, da sowohl Thoas
als auch Iphigenie und Orest von königlicher Abstammung sind.
 Der typische Aufbau des klassischen Dramas ist gegeben mit einer Exposition
im 1. Akt, in der die Hauptpersonen, der Ort und der Konflikt klar umrissen
werden; im 2. Akt erfolgt die Zuspitzung des Konflikts; die Peripetie oder der
Wendepunkt befindet sich im 3. Akt, als sich Orest und Iphigenie gegenseitig
erkennen; der 4. Akt ist Teil der fallenden Handlung mit retardierenden
Momenten, als Iphigenie daran zweifelt, ob eine List sie retten könne; der
Konflikt wird im 5. Akt gelöst.
 Fast durchgehend ist das Drama (im Original und in der Bearbeitung) im
Blankvers, dem fünfhebigen Jambus, verfasst. Dieses Versmaß, die vielen
Sentenzen sowie die gräzisierende Sprache („Trojas umgewandte Mauern“ …)
lassen den Ton erhaben erscheinen.
 In vielen Szenen findet sich die Stichomythie, also von Vers zu Vers
wechselnde Rede und Gegenrede, um zu zeigen, wie intensiv und
gleichberechtigt die Auseinandersetzung zum Beispiel zwischen Thoas und
Iphigenie ist. Goethe übernimmt also auch hier ein Element des klassischen
griechischen Theaters.
 Es finden sich viele Sentenzen, die zu geflügelten Worten wurden: „Das Land
der Griechen mit der Seele suchend“, „O enthalte vom Blut meine Hände“, „Die
Schmerzen sind’s, die ich zu Hilfe rufe“, „Der Frauen Schicksal ist
beklagenswert“ ...; alles Zeichen für die Erhabenheit des Stoffs und die
Allgemeingültigkeit des Inhalts.
 Auch die geringe Anzahl der Personen des Dramas, die klar ihre Funktion
zugeordnet bekommen, ist ein Element des klassischen Dramas. Goethe stellt
Iphigenie in den Vordergrund als Hauptperson; ihr gegenübergestellt sind
Thoas und Orest jeweils mit ihrem Vertrauten Arkas beziehungsweise Pylades.

48

Das könnte Ihnen auch gefallen