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„Die Nationen der Welt wissen weder ein noch aus vor Langeweile, deshalb heißt es dann:

‚Augen links! Augen rechts! Im Gleichschritt marsch!’“ (Kodo Sawaki)

Eine andere Sicht auf Zen, Krieg und Kampfkunst …

Seit dem Erscheinen von Brian Daizen Victorias Zen at War (dt. Zen, Nationalismus und
Krieg, Theseus 1999)1 und im Gefolge der mit sage und schreibe über 100 Euro Ladenpreis
angebotenen Zen War Stories vom gleichen Autor wurden die Thesen dieses Soto-Mönches
immer wieder gern in buddhistischen Kreisen aufgegriffen, um die unheilvolle Verbindung
von Zen und Militarismus zu thematisieren. Kaum jemand scheint sich jedoch die Mühe zu
machen, Victorias Behauptungen auf ihre Richtigkeit abzuklopfen, seine Motive und seine
ethischen Prämissen zu hinterfragen. Diesen Versuch möchte ich nun unternehmen.
Victoria ist gebürtiger US-Amerikaner, ging als christlicher Kriegdienstverweigerer nach
Japan, studierte dort an der buddhistischen Komazawa-Universität, empfing die Dharma-
Übermittlung von Asada Daisen2 im Jokuin3 und lehrte später an der University of Adelaide in
Südaustralien.4 In einem Interview zu Beginn seiner Tätigkeit als Gastprofessor für
Japanstudien am Antioch College (Ohio) erzählt Victoria von seinem lange zurückreichenden
Engagement für Pazifismus.5 Im Vorwort zu Zen at War schreibt er von der Drohung Niwa
Rempos, des späteren Abtes von Eiheiji, einem der beiden Haupttempel der Soto-Schule:
Wenn er, Victoria, sich weiter gegen den Vietnam-Krieg engagiere, würde er seinen
Priesterstatus verlieren. Doch Victoria wurde von seinem Zen-Lehrer Yokoi Kakudo
protegiert, der an der Komazawa unterrichtete (und u. a. auch Dainin Katagiris Meister war).
Hierin liegt eine weitere Wurzel für Victorias Engagement: Seine pazifistische Umtriebigkeit
wurde von einem der höchsten Soto-Priester unserer Zeit abgelehnt. Victoria wurde in Japan
deswegen tatsächlich kurzzeitig inhaftiert und ausgewiesen, später aus ähnlichen Gründen
auch aus Korea und Taiwan.6
Es ist anzunehmen, dass Victoria für eine Prämisse „Es darf keinen Krieg oder keine
Rechtfertigung dafür geben“ nach Beweisen suchte und nicht etwa aus einem Fundus von
Daten und Schriften das Bild einzelner im Krieg aktiver Zen-Meister herleiten wollte. Dies
erklärt einerseits seine selektive Auswahl von Zitaten, andererseits die Tatsache, dass Zen at

1
Meine Seitenzahlen beziehen sich auf die englische Erstausgabe von 1997. Übersetzungen sind von mir.
2
Ich habe in diesem Artikel der Einfachheit halber grundsätzlich auf die Ehrenbezeichnung „Roshi“ verzichtet,
ohne damit werten zu wollen.
3
http://www.cuke.com/digressions/brian.html
4
www.wikipedia.de, unter „Zen at War“.
5
Antioch News, 31.8.05.
6
siehe Fußnote 3.
War erst bei der Meiji-Restauration ansetzt und damit die bis dahin gewachsene Kultur von
Zen und Kampfkunst außer Acht lässt. Victoria, der selbst Sprach- und kein
Geschichtswissenschaftlicher ist, erweckt zwar den Eindruck einer historischen Betrachtung,
beschneidet diese aber nicht nur zeitlich, sondern auch durch seine subjektive Auslegung der
Geschehnisse.
Ich werde im Folgenden Behauptungen aus Victorias Buch einigen Zitaten
gegenüberstellen, die er wegließ, bei sorgfältiger Recherche aber gekannt haben muss. Es geht
mir um die Darstellung dreier Zen-Meister: Kodo Sawaki (1880-1965), Omori Sogen (1909-
1994) und Soen Shaku (1859-1919). Ich möchte zunächst die einseitige Sicht Victorias auf
diese Zen-Lehrer korrigieren.
Sawaki spricht in seinen Erinnerungen an den Russisch-Japanischen Krieg davon, wie er
und seine Kameraden sich im Töten von Gegnern engagierten (S. 35). Die Ursache für diesen
Krieg lag in der Expansionspolitik Russlands, das seinen Einfluss auf die Mandschurei und
Korea ausgeweitet hatte und damit Japans Ausdehnungsabsichten entgegenstand. Während
des Zweiten Weltkriegs beschwor Kodo Sawaki den Geist des Kaisers und der Fahne herauf
(S. 175) und behauptete, das Gebot des Nicht-Tötens sei eingehalten, selbst wenn man töte, so
lange man damit nur die gesellschaftliche Ordnung aufrechterhalte. Es sei dieses Gebot selbst,
das „das Schwert schwinge“, also auch zur Gewalt gegen das Böse berechtige. (S. 36).
Ich habe nun einmal zusammengetragen, wie sich Sawaki außerdem über den Krieg
äußerte. In Zen ni kike (dt. An Dich) sagt er:

„Illusion bedeutet, keine Orientierung im Leben zu haben. Die Orientierungslosen sammeln sich in
Gruppen, und schon prügeln sich die Rowdys wieder. Da ist es auch kein Wunder, dass grundlos
Kriege vom Zaun gebrochen werden (…) Früher gab es einmal einen Größenwahnsinnigen im
Krankenhaus von Sugamo, der sich „Ashiwara Shogun“ nannte. Er hängte sich einen Orden aus Pappe
um den Hals und gab denen, die ihm begegneten, würdevolle Worte mit auf den Weg. Jetzt, da der
Krieg vorbei ist, sehen wir klar, dass das, was die Militärs getrieben haben, sich kein bisschen davon
unterscheidet. Und nun wollen sie schon wieder Orden einführen. (...) Nach dem Sieg im Japanisch-
Russischen Krieg glaubten wir, Kolonien gewonnen zu haben. Doch was ist daraus geworden? Nach
der Niederlage im Zweiten Weltkrieg haben wir festgestellt, dass wir uns nur den Zorn der Russen
eingebrockt hatten. (…) Alles redet von Treue zum Vaterland, die Frage ist nur, in welche Richtung
das führt. Auch ich bin vollen Ernstes in den Japanisch-Russischen Krieg gezogen, doch nach der
Niederlage in diesem Krieg sehe ich ein, dass wir das, was wir da getan haben, besser sein gelassen
hätten. Überhaupt ist es besser, von vornherein keine Kriege zu führen. (…) Davon, ob ein einziger
Stalin geboren wird oder nicht, hängt das Leben und Sterben vieler Menschen ab. Ob ein einziger
Mensch geboren wird oder nicht, macht einen riesigen Unterschied. Deshalb bedeutet es so viel, dass
der eine Mensch Shakyamuni auf diese Welt kam. (…) Seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte
hat das Gezanke kein Ende genommen. Die größten Kriege haben ihren Grund in unserem zankenden
Geist. Krieg ist die ungenierteste Form, in der sich Menschen gegenseitig umbringen. (…) Gewinner
wie Verlierer sind doch beide nur Normalbürger. Wie traurig, sich die Konflikte in der Welt
anzusehen: Da fehlt es an gesundem Verstand. Ein Hitzkopf schwingt ein Schwert, ein anderer ballert
mit dem Gewehr in die Gegend.“
In Ikiru chikara toshite no zen (dt. Zen ist die größte Lüge aller Zeiten) schreibt Sawaki:

„Im Krieg sammelte ich irgendwann einmal meine ganze Energie im tanden [Unterbauch] und stand
entschlossen auf. Da gelang es mir endlich, fest nach vorne zu schauen. Als ich so alleine stand, spürte
ich das Gewicht ganz Japans auf meinen Schultern. Während ich vor Furcht die Augen geschlossen
hielt, konnte ich nichts sehen. Nur mein verzweifelter Entschluss aufzustehen ermöglichte es mir, die
Augen zu öffnen. – Dein Leben aufs Spiel zu setzen, ist keine große Sache. Der Gefreite Sawaki hielt
im Feuer des Feindes so lange stand, bis er endlich sein eigenes Bataillon zum Sturm in die
feindlichen Reihen führte. Aber das hat nichts damit zu tun, über Leben und Tod hinauszugehen. Das
war einfach nur der Leichtsinn eines Räuberhauptmanns im Stile Mori-no-Ishimatsus 7. Mir war es
gleich, ob es mich das Leben kostet. Große Gedanken über den Tod habe ich mir ohnehin nicht
gemacht. (…) Nachdem ich aus dem Krieg zurückgekommen war, wurde ich einmal Zeuge der
Explosion eines Munitionslagers. Du kannst dir nicht vorstellen, wie bei dem Schrecken meine Hoden
zusammenschrumpften! Während des Krieges hatte ich immer groß mit meinem Kampfgeist
angegeben, aber im Rückblick war das auch nicht mehr als der Leichtsinn eines Räuberhauptmanns
wie Kunisada Chuji. Mut entwickeln wir immer dann, wenn wir einen Gegner haben, mit dem wir
kämpfen können. Sitzen wir allerdings ganz stumm und allein in Zazen, hilft uns unser Mut und
Kampfgeist überhaupt nicht, wenn der Boden plötzlich unter uns zu wackeln beginnt. Die
Gelassenheit, die wir in der Buddhalehre finden, hat mit dem Übermut eines Kunisada Chuji nichts zu
tun. Wir müssen die Buddhalehre auf ganz andere Weise üben. Als ich dies zum ersten Mal verstand,
hörte ich auf, mit den anderen darum zu wetteifern, wer der Beste und Mutigste sei.“

In Yadonashi Kodo Hokkusan (dt. Die Zen-Lehre des Landstreichers Kodo) sagt Sawaki:

„Als Hojos Truppen die Chihaya-Burg von Kusunoki Masashige angriffen, sollen die Freunde der
gefallenen Krieger des Hojo-Clans diese angeblich wegen ihres ‚glorreichen Todes’ auf dem
Schlachtfeld mit den Worten gepriesen haben: ‚Ein Mann verliert sein Leben nutzlos auf der Suche
nach Ruhm. Warum gibt er nicht zum Wohle des Dharma sein Leben hin?’ – Mit dem Sino-
Japanischen Krieg (1894–1895) und dem Russisch-Japanischen Krieg (1904–1905) dehnten wir das
japanische Gebiet aus und annektierten Korea. Wir glaubten, es wirklich geschafft zu haben. Doch als
wir den Zweiten Weltkrieg verloren, verloren wir alles und verstanden, dass wir nur die Feindschaft
anderer Länder erzeugt hatten. (…) Menschen reden oft von Treue, doch ich frage mich, ob sie die
Richtung ihrer Treue und ihrer Handlungen kennen. Ich war selbst während des Russisch-Japanischen
Krieges Soldat und kämpfte unerbittlich auf dem Schlachtfeld. Doch seit wir verloren haben, was wir
einst gewannen, kann ich erkennen, dass unsere Taten nutzlos waren. Es gibt überhaupt keinen Grund,
einen Krieg zu führen. (…) Seit den Anfängen der Geschichte haben Menschen immer gegeneinander
gekämpft. Egal wie groß oder klein ein Krieg ist, die Wurzel dafür ist in unseren Köpfen; diese Köpfe
haben einen Hang zum gegenseitigen Anknurren. (…) Überall in der Welt fühlen sich Menschen
gelangweilt, also ziehen sie in den Krieg und geben tödlichen Waffen – als wären es Kinderspielzeuge
– Namen wie ‚Rechter Flügel’ oder ‚linker Flügel’ Sie tun das, weil sie glauben, es würde was
bringen. Doch da ist nichts. Nur das Grab wartet auf uns. (…) Menschen sagen oft ‚Wirklichkeit,
Wirklichkeit’, doch es ist nur ein Traum. Es ist Wirklichkeit im Traum. Menschen denken,
Revolutionen und Kriege seien erstaunlich, doch sie sind nur Kämpfe in einem Traum. Bei deinem
Tod kannst du leicht verstehen: ‚Oh! Das ist nur ein Traum.’

Omori Sogen, der ein bekannter Kalligrafie-Künstler, Meister des Jishinkage-Schwertstils


und Rektor der Rinzai-nahen Hanazono-Universität war, wird von Brian Victoria sowohl
wegen seiner Verbindung von Zen und Schwertkampf angegriffen als auch wegen eines
seiner Freunde, den Victoria als Kriegsverbrecher ansieht. Kurz darauf (S. 189) führt Victoria
dessen Sohn ein, der einem Dojo Omori Sogens vorstand und von ihm wegen seiner

7
Ein Outlaw, ähnlich Robin Hood; lebte gegen Ende der Tokugawa-Ära.
Furchtlosigkeit verehrt wurde (bei einer Gelegenheit soll er das Blut eines an Tuberkulose
erkrankten Freundes getrunken haben). Victoria kann zu diesem Mann nichts weiter sagen, er
legt es offenbar darauf an, dass der Leser sich von selbst abgestoßen fühlt. In meinen Augen
zeigt Victoria dadurch lediglich, dass er selbst sich nicht auf der Stufe des furchtlosen Dojo-
Lehrers befindet. Obwohl Victoria einräumt, dass Sogen mäßigenden Einfluss auf die
Militärpolitik auszuüben suchte (er habe den Krieg mit den USA vermeiden wollen, wenn
auch möglicherweise nur wegen seiner Aussichtslosigkeit), verurteilt er ihn offensichtlich
wegen seiner Freunde und zwischen den Zeilen dafür, dass der Zen-Meister der letztlichen
Kapitulation seines Kaisers ein Kämpfen bis zum bitteren Ende vorgezogen hätte.
Hosokawa Dogen, einer von Omoris Nachfolgern und Abt eines Rinzai-Tempels in
Honolulu, beschreibt in Omori Sogen: The Art of a Zen Master (Kegan Paul 1999), welche
Worte dessen Meister Seisetsu ihm kurz vor seinem Tod mit auf den Weg gab: „Verbreite den
Geist der universellen Bruderschaft!“ (S. 53). Dahinter stand der Gedanke des hakko ichiu,
der Buddhaschaft aller Lebewesen, auf deren Grundlage die Menschen eine friedliche Welt
schaffen könnten. 1966 versuchte Omori mithilfe der US-Botschaft bei einem Besuch
Vietnams deren buddhistischen Führer, der sich seit langem im Hungerstreik befand, nach
Japan einzuladen und so vor dem Tod zu bewahren (S. 74). Dies erwähnt Victoria nicht. Im
Hinblick auf den von Victoria unter „metaphorische Rhetorik“ subsumierten Satz: „Zen und
Schwert sind eins“ meint Omori: „In welcher Beziehung stehen die Kunst zu töten und die
Kunst zu leben? Diese Frage kann nicht nur intellektuell beantwortet werden. Der Mensch
verspürt einen inneren Drang oder vielmehr eine Notwendigkeit, dieses Paradoxon
aufzulösen. (…) Im Hagakure heißt es: ‚Der Weg des Kriegers liegt im Sterben.’ Dies
bedeutet, den Tod und das Töten zu transzendieren, um zu einem ‚Großen Leben’ zu
gelangen. (…) Leider hat sich der kulturelle Wert dieser einzigartigen Evolution [vom Töten
zum Leben] in der Weltgeschichte nicht durchgesetzt.“ (S. 105 f.) Omori sieht in der
Kampfkunst einen Spiegel des Überlebenskampfes aller Kreaturen und in der Fähigkeit zu
töten nur das menschliche Drama der Unmöglichkeit, kein Leben zu nehmen: Denn ob wir
dies wollen oder nicht, um zu überleben töten wir Lebewesen (indem wir auf sie treten, sie
einatmen, uns von ihnen ernähren usf.). Mittels der Kunst des Schwertkampfes kann jedoch
ein Zustand des ainuke (eigentlich ein „wechselseitiges Aneinander-Vorbeigehen“ zweier
fortgeschrittener Meister) erlangt werden, ein absoluter Frieden jenseits von Gedanken an
Gewinn und Verlust. Für diesen sei jedoch die vorherige Erfahrung des aiuchi
(„wechselseitigen Schlagens oder Tötens“) Voraussetzung, ohne die auch Zen wirkungslos
bliebe (S. 72 f.). In einem Kapitel mit dem Titel Se Mu I („Furchtlosigkeit spenden“) erklärt
Omori mit Bezug auf Miyamato Musashi und Yagyu Munenori, die wohl bekanntesten
Schwertkämpfer Japans, wie sich das „Leben gebende Schwert“ im Einsatz für sozialen
Frieden verwirklichen lässt, nämlich nur durch die eigene Erfahrung des aiuchi und ainuke.
Kommen wir zu Soen (Soyen) Shaku. Er hinterließ beim „Parlament der Weltreligionen“
1893 in Chikago einen bleibenden Eindruck und kehrte 1905 in die USA zurück, wo er – von
Daisetz T. Suzuki begleitet – viele Vorträge über den Zen-Buddhismus hielt. Victoria
bezeichnet ihn als „Neuen Buddhisten“, da er sich für das aktive soziale Engagement der
Gläubigen nach dem Vorbild von Christen einsetzte. So sollten Schulen für Arme,
gemeinnützige Krankenhäuser, Erziehungsanstalten usw. entstehen. Victoria scheint Shaku
vorzuwerfen, dass er eine negative Einstellung gegenüber dem Christentum nicht abgelegt
habe (S. 17). Im Folgenden zitiert er vor allem diejenigen Texte Shakus, in denen dieser die
Notwendigkeit von Krieg zur Unterjochung oder Abwehr des Bösen betont. Die
Schwierigkeiten, die Victoria damit hat, Shakus Text klar zu kommentieren, zeigen sich in
den langen Zitaten, denen Victoria nur kurze Einschübe beifügt. Denn Shaku spricht zugleich
vom Horror des Krieges und dem Willen, diesen zu vermeiden, wie auch im Falle der
Unvermeidlichkeit von einem Einsatz mit ganzem Herzen, jedoch ohne egoistische Absichten
oder Hass. Victoria bezeichnet dies als intellektuelle Verrenkung.
Setzt man den Schwerpunkt auf Shakus Texte jedoch anders, erscheint zuerst einmal der
pazifistische Militärpriester und Sanitäter Shaku vor unseren Augen: „Wenn wir abstrakt
darüber reden, sehen wir nur die leuchtende Seite des Krieges – seine Unvermeidbarkeit,
seine Erhabenheit, seine Ehrfurcht gebietende Ausstrahlung, seinen Ernst, seine perfekte
Organisation, seinen Patriotismus usw. Wir vergessen jedoch, welchen Preis diese ruhmhaften
Dinge haben, wir vergessen, dass Krieg das schlimmste Übel im Menschenleben ist, dass das
Töten eines anderen Menschen – mit welch geschickter Entschuldigung auch immer – nur
moralische Verdorbenheit beweist. Unsere Mission hier unter der Sonne ist nicht Leben zu
zerstören, sondern es zu erhalten und zur Blüte zu bringen. Sind wir denn nicht hier, um die
universelle Bruderschaft und ewigen Frieden zu schaffen? (…) Lasst mich also fragen: Hilft
uns dabei ein Krieg? Kann ein Krieg uns glücklich machen oder zu gegenseitigem Respekt
führen? Wer diese Fragen bejahen kann, der soll auf die blutigen Schlachtfelder der
Mandschurei gehen und uns ungeschönt berichten, was er dort gesehen hat.“ Dies sprach
Shaku 1905 auf einer Gedächtnisfeier für Gefallene im Russisch-Japanischen Krieg. Beim
Anblick der Feinde auf dem Hügel Nan-Shan schrieb er 1904: „Wenn ich durch einen starken
Feldstecher sehe, erkenne ich die auf den Hügeln verstreuten Toten und Verwundeten,
während Soldaten über die armen Kerle trampeln und die Feinde den Hang hoch klettern,
stolpern und fallen. Ich zittere bei diesem Anblick.“ 8 Die unbequeme Frage, die Shaku
aufwirft, der keinen Zweifel daran ließ, dass er den Krieg verachtet, ist die, ob und wie lange
die Menschheit ohne ihn auskommen kann. Es ist eine Sache, den Krieg vermeiden zu wollen,
eine andere jedoch, realistisch einzuschätzen, ob Menschen in ihren manchmal unvereinbaren
Positionen und mit unterschiedlicher ethischer Reife tatsächlich davon lassen können. Man
muss keinen intellektuellen Spagat vollziehen, um diesen Widerspruch des Lebens zu
akzeptieren: Während man nach einer idealen Welt des Friedens strebt, werden zuweilen
Kriege geführt, so lange die ideale Welt noch nicht erreicht ist – und im Krieg ist es
unabdingbar, dass man mit äußerster Willenskraft den Sieg zu erringen sucht, zumal wenn
man sich von selbstsüchtigen Motiven frei gemacht hat und somit nicht mehr auf der Seite der
„Verkommenen“ wähnen darf. Alles andere würde bedeuten, dass man dem „Bösen“ die
Herrschaft überlässt und seiner Verantwortung als furchtloser Buddhist nicht gerecht würde.
„Denn es gibt – soweit ich sehen kann – nichts, was nicht die Glorie Buddhas verkünde“,
sagt Shaku. Alles ist Buddha-Natur. Wer jenseits des Unterscheidens angelangt ist, der ist
geradezu verpflichtet, auch das Schreckliche im Leben zu akzeptieren und zu umarmen wie
das Angenehme. Es ist genau der Umstand, dass Shaku dennoch in Gut und Böse zu trennen
vermag, der ihn menschlich bleiben lässt. Wird dieser Unterschied aber aus dem Zustand des
Nicht-Unterscheidens gemacht, stellt er sich anders dar als das, was Victoria zu implizieren
scheint: Er unterstellt bereits eine friedliche Welt – die wir (noch) nicht haben – und damit,
dass Krieg durch nichts zu rechtfertigen sei. Er unterscheidet aus einem Zustand des
Unterscheidens – der außerdem durch christliche Wertmaßstäbe geprägt zu sein scheint –,
ohne diesen Zustand transzendiert zu haben. Darum bleibt ihm auch die Möglichkeit
verborgen, die in der Kampfkunst stets ein Ziel darstellte: Ohne bewusstes Unterscheiden und
ohne Reue einen Kampf in völliger Übereinstimmung mit der eigenen Natur für sich
entscheiden zu können. Ich möchte abschließend aufzeigen, dass Victoria damit nicht nur den
Kern der Zen-Lehre verfehlt, sondern auch eine ganze Tradition im Zen, die
selbstverständlich von Beginn an dazugehörte, zu leugnen oder – zumindest insgeheim –
auszulöschen sucht. Dies geschieht, indem er sie von außen – wie mit den Moralmaßstäben
eines Abendländers – betrachtet und nicht von innen, aus dem Zen selbst heraus.
Zen ohne Kampf- oder Kriegskunst hat es möglicherweise niemals gegeben. Buddha selbst
entstammte dem Kriegergeschlecht der Shakya und musste sich mit diesen familiären
Wurzeln auseinandersetzen. In den Legenden um Zen-Begründer Bodhidharma heißt es, dass
er aus Indien zum chinesischen Shaolin-Tempel kam und dort die Mönche in Körperübungen

8
Sermons of a Buddhist Abbot (Open Court 1913).
ähnlich der indischen Kampfkunst Kalaripayat unterwies, die schließlich ins Kung Fu
mündeten. Auch wenn dieses Kloster inzwischen kommerzialisiert ist, leben noch ein paar
wenige Mönche darin, die bis heute Meditation, Rezitation und Kung Fu miteinander in
Einklang bringen. Das gleiche gilt für etliche Lehrer des Karate, Kendo usf., die wir aus Japan
kennen und die teils auch hierzulande Kurse anbieten. So war der kürzlich verstorbene 10.
Stammhalter der Niten Ichiryu-Schwertschule, die auf Miyamoto Musashi zurückgeht, auch
buddhistischer Priester. Anki Takahashi, Großmeister des Karate, ist Zen-Priester. Die
Nachfolger Omori Sogens, wie der Aikido-Lehrer Fumio Toyoda, sind Zen-Lehrer. Und es ist
auch kein Zufall, dass der Begründer des Shotokan-Karate, Gichin Funakoshi, eine
Gedenktafel im Engaku-ji, jenem Tempel Soen Shakus hat, der sich schon in der Ausbildung
von Samurai durch das Entwickeln spezieller „Kamakura-Koan“ (Shonan Kattoroku)
hervorgetan hatte. Wir können uns von Suzuki Shosan (1579-1655), dem einstigen Samurai,
der zum Zen-Meister wurde, über die Furchtlosigkeit vor dem Tode belehren lassen oder von
Takuan Soho (1573-1645), dem Lehrer des Schwertkampfmeisters Yagyu Munenori, lernen:
„Ein Meister des Schwertes tötet nicht, sondern gibt Leben. Wenn es nötig ist, tötet er. Wenn
nicht, verschont er Leben. Frei zu töten, frei zu verschonen. Richtig und Falsch erkennen,
ohne es zu erkennen. Richten, ohne zu richten. (…) Sowohl im Buddhismus als auch in der
Strategie der Kampfkunst geht es darum, kenshô zu erfahren, also das wahre Selbst zu erkennen. Die
Mysterien der Strategie und die Essenz des Buddhismus sind letztlich eins.“ (aus dem Text Taiaki).
Und Yagyu schreibt er in einem Brief: „Da gibt es keinen Geist im Schwert, keinen Geist in der
Person, die damit zuschlägt und keinen Geist in der Person, die geschlagen wird – alle sind leer. Wenn
jemandes Geist an nichts hängt, dann kann er sich also von einem Schwert zerteilen lassen wie der
Frühlingswind von einem Blitz: Wenn das Schwert den Frühlingswind teilt, wird es keine Reaktion
erhalten.“ (aus dem Text Fudochi Shinmyoroku). Erst wenn man diese Lehre verinnerlicht hat, kann
man verstehen, warum Zen-Meister den Krieg, das Töten und das Sterben absegnen konnten. Dazu ist
es nötig, eine abendländisch-moralische Sicht von Gut und Böse zu verlassen und eine zen-immanente
Sicht aus dem Zustand des Nicht-Unterscheidens zu entwickeln. Erst dann kann man die ethische
Reife der genannten Zen-Lehrer und ihrer Schriften richtig würdigen, erst dann versteht man, was
„gut“ und „böse“ tatsächlich bedeuten – in der Tradition des Zen!

Guido Keller

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