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Nina Graeff
„Candomblé ist dynamisch, ist Bewegung.“ 1 Die Kommunikation mit den Orixás,
den Gottheiten des Candomblé, wird durch den bewegenden Körper bzw. durch
den Einsatz aller Sinne hergestellt.
„Candomblé ist initiierende Praxis.“ 2 Im Candomblé lernt man durch Handeln.
Die Orixás zu spüren lernt man nicht durch Theorien, sondern unmittelbar in der
Praxis.
Um die Dynamik der kulturellen Weitergabe von Candomblé nachzuvollziehen,
begann ich im Juli 2013 meine beobachtende Teilnahme (Wacquant 1991) in dem
einzigen Candomblé-Haus Deutschlands, dem Ilê Obá Sileké in Berlin. Als Musik-
ethnologin verfolgte ich das Ziel, vor allem die Musik und den Tanz der Tradition
selbst zu erlernen, um deren Verkörperungsprozess mit meinem eigenen Körper
und meiner Subjektivität verstehen zu können. Dennoch lassen sich beide Aspekte
weder voneinander noch von den darin vermittelten Werten trennen, sondern sie
existieren erst in der Interaktion zueinander und zu weiteren Bräuchen, eine Inter-
aktion, die die Entstehung bzw. Stärkung des axé, der vitalen Kraft im Candomblé,
anstrebt. Die Verkörperung solcher Körpertechniken (Maus 1936) gleicht letztend-
lich der Annäherung an die Orixás.
Sich das komplexe Wissen der Religion anzueignen bedeutet, es durch Körper-
praktiken (Bourdieu 1980, 2000) bzw. mimetisch, d. h. durch die Nachahmung von
Modellen (Gebauer/Wulf 1992, 2003), zu verkörpern. In diesem Aufsatz verbinde
1 Häufiger Spruch von Babalorixá Muralesimbe, spiritueller Führer des Berliner Candomblé-Hau-
ses.
2 Ebd.
Der Begriff „Candomblé“ vereint religiöse Traditionen, die um das 18. Jahrhundert
herum durch die Verschleppung afrikanischer Sklaven nach Brasilien entstanden
sind. 4 Der Bundestaat Bahia wird als Ursprungsort des Candomblé angesehen, weil
dorthin die ersten und meisten Afrikaner verschifft wurden. Die verschiedenen
Traditionen werden nações, d. h. Nationen, genannt und entsprechen unterschiedli-
chen ethnischen Gruppen Afrikas, insbesondere den Yoruba, aber auch den Fon,
Ewe und Bantu. Was all die Nationen und sogar die kubanische Santería vor allem
verbindet, ist der Glaube an die Orixás, 5 west-afrikanische Gottheiten.
Zum einen stellen die Orixás Naturkräfte dar, zum anderen wird jeder Mensch
von einem Orixá bestimmt, der ihn von seiner Geburt an begleitet und seine Per-
sönlichkeit bzw. seine eigene Lebensenergie prägt. Die Kommunikation mit den
Orixás erfolgt mittels aller Sinne: dem Hören, durch den Einsatz perkussiver Mu-
sikinstrumente oder durch gesungene Gebete; dem Riechen und dem Schmecken,
durch das Kochen heiliger Speisen und die Pflege heiliger Kräuter; dem Sehen,
durch die minutiöse Ausschmückung der Altäre und Opfergaben; dem Tasten,
durch Tanzbewegungen und Begrüßungen der Gottheiten mit dem Kopf sowie mit
dem ganzen Körper auf dem Boden – denn die Orixás leben in der Erde. Der
Höchstpunkt der Verbindung mit dem eigenen Orixá ist, wenn der eigene Körper
als Medium für seine Präsenz in der irdischen Welt fungiert: Die Orixás nehmen
die Körper der Gläubigen in Besitz, um gemeinsam mit den Menschen Feste zu
feiern.
3 Für das eingehende Verständnis des subjektiven Prozesses der Verkörperung einer kulturellen
Praxis scheint mir die Methode der Autoethnographie (Reed-Danahay 1997) sehr sinnvoll. Dabei
geht es um die fokussierte Berücksichtigung der Erlebnisse des Forschers selbst, welche aber im-
mer zu den Erfahrungen anderer Involvierter in Bezug stehen. Ansprüche von Objektivität bzw.
Neutralität, die bereits Bourdieu (2001; Bourdieu/Wacquant 1992) kritisierte und die zur Krise
der Repräsentation in der Anthropologie (Clifford/Marcus 1986) führten, werden durch wissen-
schaftliche Selbstreflexivität und Transparenz bei der Darstellung der Ergebnisse ersetzt. Demzu-
folge erkennt der Wissenschaftler seine Rolle als Subjekt der Forschung und versucht nicht, diese
unter einem objektivierenden Schreiben zu verbergen.
4 Zwar begann der Sklavenhandel in Brasilien bereits im 16. Jahrhundert, aber man vermutet, dass
sich Candomblé erst im 19. Jahrhundert mit der massiven Einführung von Sklaven aus West-
Afrika etablierte (Verger 1968; Santos 1986).
5 Das Wort entstammt dem Yoruba, wie viele hier verwendete Begriffe, aber da ich über die brasi-
lianische Religion spreche, halte ich mich an die brasilianische Orthographie.
Die Kraft des Candomblé – der sogenannte Axé – entsteht also durch den stän-
digen Energie-Austausch zwischen den Bestandteilen unserer Welt, einen Aus-
tausch, der nur in Anwesenheit von Menschen erfolgen kann. Candomblé zu prak-
tizieren, zu erlernen und zu vermitteln ist nur durch die gegenwärtige Energie jedes
Einzelnen möglich. Dabei handelt es sich um die Weitergabe eines hauptsächlich
impliziten bzw. körperlichen Wissens, das rein intellektuell nicht zu erschließen ist
und das „only during the time that their bodies are present to sustain that particular
activity“ (Connerton 1989, S. 72) stattfindet.
Obgleich Candomblé eine mündliche Tradition ist, die über keine normative bzw.
schriftliche Urkunde des Glaubens verfügt, gelangt es der Praxis, nicht nur Jahr-
hunderte Verfolgung, Verbot und Vorurteil zu überstehen, sondern auch sich über
die brasilianischen Grenzen hinaus zu verbreiten. Heute sind Candomblé-Häuser in
verschiedenen Ländern Lateinamerikas, in den Vereinigten Staaten und in Europa
zu finden. Im Jahr 2007 6 schaffte sich die Tradition mit der Gründung des Ilê Obá
Sileké 7 in Berlin auch in Deutschland einen Platz.
Das Berliner Haus besteht hauptsächlich aus Mitgliedern aus verschiedenen Re-
gionen Brasiliens, aber ebenso aus Deutschen, Portugiesen und Amerikanern, unter
anderem. Die meisten Brasilianer haben sich mit der Religion erst nach ihrer Mi-
gration nach Deutschland auseinandergesetzt. Dies bedeutet, dass die Praxis des
Candomblé in Berlin keine Weiterführung von Bräuchen darstellt, die die Migran-
ten in Brasilien bereits vor ihrer Auswanderung pflegten bzw. von vorherigen Ge-
nerationen übernahmen, sondern ein neues und manchmal fremdes Phänomen für
ihr alltägliches Leben. 8
Jeden Mittwoch treffen sich die Mitglieder, um verschiedene Rituale durchzu-
führen. Zweimonatlich finden die öffentlichen und wichtigsten Zeremonien zu Eh-
ren eines bestimmten Orixás statt und am darauffolgenden Tag wird ein öffentli-
cher Workshop zum Erlernen der Orixá-Tanzschritte angeboten. Diese sind die
einzigen regelmäßigen Gelegenheiten, sich im Haus mit den Orixás zu beschäfti-
gen und über die Tradition zu erfahren. 9 In Brasilien hingegen gibt es vielseitige
Möglichkeiten, sich mit dem Candomblé auseinanderzusetzen. Die vielzähligen
Candomblé-Häuser können besucht werden und es findet ein reger Austausch mit
anderen Gläubigen statt, wodurch auch im Alltag Aspekte der Religion erlernt
6 Als regelmäßige Praxis bestand die Gruppe unter Leitung von Babalorixá Muralesimbe in privater
Sphäre bereits seit 2003. Offiziell wurde jedoch das Haus erst 2008 mit der Gründung des inter-
kulturellen Zentrums Forum Brasil eingeweiht.
7 Ilê Obá Sileké bedeutet auf Yoruba „Haus des Königs, der Gedeihen bringt“.
8 Ausgenommen einige Mitglieder sowie der Priester und der Haupttrommler, die Zuständigen für
die Weitergabe.
9 Es besteht selbstverständlich die Möglichkeit, sich über Internet oder bei anderen Candomblé-
Gläubigen über die Tradition zu informieren.
Bereits am ersten Tag meiner aktiven Feldforschung stand ich vor der Problematik
des Erlernens von Cantigas im Ilê Obá Sileké (vgl. Graeff 2014b). Diesbezüglich
entstehen wiederholt Verwirrungen unter den Gläubigen, die wiederum Enttäu-
schung bei den Meistern hervorrufen. Diese Irritationen können auf die limitierten
Begegnungsmöglichkeiten mit den zahlreichen und meistens auf Yoruba gesunge-
nen Lieder zurückgeführt werden. Am Anfang konnte ich die Problematik nicht
genau nachvollziehen, denn ich war der Meinung, dass eine Systematisierung der
Lieder in Form einer didaktischen Textdarstellung mit Musikaufnahmen das Pro-
blem lösen würde.
Dementsprechend begann ich mit der Erlaubnis des Babalorixá, eine Systemati-
sierung zu erarbeiten. Zuerst machte ich einige Aufnahmen mit dem Handy und
verschriftlichte einige Liedtexte, bis ich dem Babalorixá vorschlug, ihn direkt auf-
zunehmen. Ich druckte ca. 15 Cantigas de Caboclo 13 aus dem Heft eines Mitglieds
aus und zeigte es ihm. Er korrigierte viele davon. Die Korrekturen übernahm ich
und druckte es nochmals. Während ich ihn aufnahm, lehnte er einige Lieder ab, die
von Babá Baragunan, dem ältesten Ogã, 14 wären, aber Muralesimbe persönlich
nicht gefielen. Beim Singen korrigierte er noch viele Details. Demzufolge habe ich
eine neue Liste erstellt und unter allen Angehörigen verteilt.
In der Praxis sah alles anders aus. Wenn wir Cantigas de Caboclo singen, ist
Babalorixá Muralesimbe eigentlich nicht da, denn er selbst verkörpert den Geist
10 Babalorixá heißt „Vater des Orixá“ und bezeichnet den spirituellen Führer eines Candomblé-Hau-
ses. Handelt es sich um eine Frau, wird sie Ialorixá genannt, „Mutter des Orixá“. Dazu werden
noch die portugiesischen Begriffe bzw. Übersetzungen verwendet, pai de santo und mãe de santo.
11 “Na Alemanha [...] as pessoas não têm assim o hábito de ir ao Candomblé, o hábito de cantar uma
música ‘nessa cidade todo mundo é d'Oxum’, que é uma cantiga popular, música de rádio... mas
já fala de Oxum, a pessoa já sabe o que é Oxum”, Interview mit Babalorixá Muralesimbe am
03.03. 2014, Berlin. Das Lied heißt „É d’Oxum“, vom Komponisten Vevé Calazans.
12 „Cantiga“ ist ein altes Wort für Lied oder Gesang, das im Candomblé am meisten verwendet
wird.
13 „Caboclos“ sind Indianer bzw. Mischlinge zwischen Indianern und Schwarzen und bezeichnen
spirituelle Entitäten, die in Umbanda sowie in vielen Candomblé-Häusern neben den Orixás ver-
ehrt werden. Die Cantigas de Caboclo sind auf Portugiesisch.
14 Ogãs sind männliche Assistenten eines Candomblé-Hauses, die öfters die Trommler-Funktion
übernehmen, auch deswegen, weil sie nicht in Trance fallen können. Babá Baragunan ist kein
Ogan des Berliner Hauses, aber ein hoch respektierter häufiger Besucher und Helfer.
15 Das portugiesische Wort ist prova, aber die Caboclos sprechen Pidgin-Portugiesisch.
16 „Ein gutes Caboclo, eines hilft dem anderen“ und „Ein gutes Caboclo ist Bruder des anderen.“
„An diesem Tag wurde ein Gebet geübt, bei dem sich die Wörter jedes Mal ändern. Vera hat mich
gebeten, es aufzuschreiben. Ich habe ihr gesagt, dass wir es schon [an einem anderen Tag] notiert
hatten. Sie hat mir gesagt, sie brauche es jetzt und so machte ich es. Alle haben es dann verwen-
det. Danach kamen sie mich fragen, wie es war – ich bin Autorität für die Musik geworden – nein,
vorher – ganz lustig – wir waren gerade an der WdK aufgetreten und Murah sagte mir, ich sei die
mãe de santo. In einem Moment, an dem er präsent war, begann ich, das Gebet zu singen, als wä-
re ich er! Dann fangen alle an, mich um Hilfe zu bitten. Ich habe alles erklärt, wiederholt, und
Beispiele mit weiteren Worten gegeben: Babalaxé, ilê axé, Iabassé ...“ (Feldnotiz zum 27.11.
2013). 17
Damit verlieh der Babalorixá mir im Scherz eine Funktion, die eine große Bedeu-
tung in der Vermittlung der Tradition hat. Dies zeigt, dass ich durch die Untersu-
chung bzw. die Verkörperung der Dynamik des Hauses dessen Teil werden konnte.
Zum wöchentlichen Termin mit Ogã Paulo kamen meist nur wenige Mitglieder.
Er bat uns immer darum, seine Textausgaben nicht weiterzugeben. Nur Mitglieder,
die Engagement und Bereitschaft zeigen, ihre Zeit zu investieren, dürfen die Papie-
re bekommen. Ogã Paulo sieht die reine Erstellung eines didaktischen Materials
kritisch, wie er ironisch anmerkte: „Bald wird es so sein, dass du zum Candomblé
gehen willst, dich mit dem didaktischen Material auseinandersetzt, alles auswendig
lernst und am Ende erhältst du eine Candomblé-Urkunde.“ 18 Für ihn bedeutet die
Bereitschaft, die Gesänge zu lernen, Devotion.
Nach einigen Monaten erschloss ich, dass das Erlernen der Gesänge viel mehr
umfasst als Melodien und Texte auswendig singen zu können. Den Unterricht re-
gelmäßig zu besuchen und Lieder zuhause zu üben hängt mit der Motivation zu-
sammen, die Kommunikation mit den Orixás herzustellen bzw. zu pflegen. Dafür
sind die Candomblé-Praktizierenden im Ilê und nicht dafür, Cantigas schön und
korrekt singen zu können. Dementsprechend scheint mir die Strategie des Ogã Pau-
17 “Nesse dia treinou-se uma reza que muda as palavras cada vez. Vera me pediu para anotar, eu
disse que já tínhamos anotado [outro dia], ela disse que precisava agora, o fiz. Todos usaram. De-
pois vieram me perguntar como era – virei autoridade na música – não, antes, muito engraçado,
tínhamos a recém apresentado no WdK e Murah dizia que eu era a mãe de santo. Aí, num
momento em que ele estava presente, comecei a cantar a reza como se fosse ele! Aí começaram a
pedir todos minha ajuda, expliquei tudo, repeti, exemplifiquei Babalaxé, ilê axé, iabassé...”
18 “Daqui a pouco você quer ir no candomblé, aprende a apostila, decora tudo e no fim vai sair com
diploma de Candomblé”. Ogã Paulo nach Feldnotiz zum 14.10.2013.
lo, das Material nicht zu verteilen, sehr sinnvoll, denn das Singen im Candomblé ist
von dessen Kontext nicht zu trennen. 19 Indem die Gläubigen Cantigas lernen, ma-
chen sie sich mit ihrem Orixá bzw. mit dem spirituellen Weg des Candomblé ver-
traut.
Dies widerspricht meiner ersten Vorannahme, dass eine Systematisierung der
Gesänge bzw. Verteilung des Materials die Cantigas-Problematik lösen würde. Der
Lernprozess wäre vom Lernkontext abgekoppelt und somit würden Werte wie die
der Gemeinschaftlichkeit, der Liebe für den Orixá, der Devotion sowie Gefühle des
Axé-Spürens oder der Kraft des Zusammensingens verlorengehen (Graeff 2014b).
Zum Kontext des Gesangs im Candomblé gehört ebenso das Verständnis bzw.
die Akzeptanz dafür, dass das Repertoire bzw. der gesamte Lernprozess der Religi-
on eigentlich endlos ist: „Es ist endlos, endlos ... das Repertoire ist endlos und das,
wie ich gesagt habe, ist tatsächlich ein Prozess und du musst damit umgehen kön-
nen, dass es ein Prozess ohne Ende ist. Es ist wie Deutsch zu lernen (lacht).“ 20 So-
mit werden die verschiedenen Singweisen eines Lieds nicht als unterschiedliche,
als falsche, richtige oder gute Versionen angesehen, sondern als Teil des dynami-
schen Prozesses der Praxis:
Jedes Haus ist ein Haus, jeder Candomblé ist eine Welt. [...] Er wird von Mund zu Mund überlie-
fert, er hat keine Bibel. Du kannst es aufschreiben, aber ich werde das lernen, was mein pai de
santo mir beigebracht hat. Also natürlich gibt es Cantigas, bei denen man so singt, und wenn du in
ein anderes Haus gehst, ist es dieselbe Cantiga mit anderen Wörtern. Es ist wie in unserer Spra-
che, im Portugiesischen, oder? Du kannst sagen „ich fühle mich sehr einsam“, während ein ande-
rer sagen kann „ich fühle mich allein“. Es sind unterschiedliche Wörter, die dasselbe bedeuten.
Also es heißt nicht, dass sie falsch oder unterschiedlich sind, es ist dasselbe, es sind unterschiedli-
che Wörter. Die Tradition erhält sich darin (Babalorixá Muralesimbe, 03.03.2014). 21
Tanz
Die Weitergabe der Candomblé-Tänze im Ilê erweist sich als noch diskontinuierli-
cher als die der Gesänge; auch in den wöchentlichen Ritualen werden nur selten die
Orixás-Schritte ausgeführt. Zudem ist Babá Muralesimbe der Einzige, der über die-
19 Zu den Konsequenzen der Abkopplung einer Musikpraxis von ihrem kulturellen Kontext siehe
Baumann 1976.
20 “É infinito, infinito... o repertório é infinito e isso, como eu disse, é processo mesmo, e você tem
que dar conta de que é processo, de que não tem fim. É eterno. Como aprender alemão (risos)”,
Dofono João, das einzige Mitglied des Hauses, das die Initation in die Religion im Ilê durchmach-
te, im Interview am 03.03.2014, Berlin.
21 “Cada casa é uma casa, cada candomblé é um mundo. [...] Ele é passado de boca a boca, ele não
tem uma bíblia. Você pode escrever, mas eu vou aprender aquilo que o meu pai de santo me
ensinou. Então claro que tem cantigas que se canta uma coisa assim, e você vai numa outra casa, é
a mesma cantiga com outras palavras. E quer dizer a mesma coisa. Não é que se muda, é que se
usam outras palavras. É como na nossa [língua], no português, né? Você pode dizer ‘Eu estou
muito só’ o outro pode dizer ‘eu estou muito sozinho’. São palavras diferentes que querem dizer
a mesma coisa. Isso acontece muito também no Candomblé. Entao não é que são erradas, que são
diferentes, é a mesma coisa, são palavras diferentes. A tradição se mantém ali.”
ses Körperwissen verfügt und es vermitteln kann, auch weil er selbst professionel-
ler Tänzer ist. Trotz der großen Zeitabstände zwischen solchen Gelegenheiten
machte ich die Erfahrung, das Gefühl der Tänze unabhängig von ihrer richtigen
Ausführung zu verkörpern:
Ich hatte es schon beim Zuhause-Tanzen gespürt, aber im Ritual und im Workshop wurde es mir
deutlich, dass selbst, wenn ich nur einmal zum Workshop und 4 oder 5 Mal zum wöchentlichen
Tanzkurs gegangen bin, erkenne ich die Bewegungen wieder, selbst diejenigen, die ich noch nie
ausprobiert hatte (im vorherigen Workshop ging es nur um die Orixás Ogum, Oxóssi und Obalu-
aiê). Ich habe sie, wie schon erwähnt, nicht die Choreographie oder die richtigen Schritte, aber die
Bedeutungen, das darin liegende Feeling, verkörpert. Ich weiß auch nicht, ob ich diesen Eindruck
[der Verkörperung] vermittle, vielleicht wenn ich mich im Spiegel sehen würde, würde ich damit
nicht übereinstimmen, aber ich fühle es so und werde frei, sie sorglos zu tanzen. [...] Mimesis –
warum habe ich das alles „verkörpert“, ohne die Schritte jemals getanzt zu haben? Ich hatte sie
schon gesehen, bewundert, mich damit identifiziert und, wer weiß, mir auf meine Weise und mit
meinen Möglichkeiten die dadurch ausgedrückten Formen und Bedeutungen angeeignet (Feldno-
tiz zum 08.12. 2013). 22
In diesem Augenblick fiel mir die Rolle der Identifikation für mimetische Prozesse
ein. Die Identifikation mit dem Anderen bzw. mit der Handlung des Anderen ge-
schieht, wenn eine Person „im Anderen sich selbst sieht, eine Gleichheit zwischen
sich und einem anderen wahrnimmt“ (Gebauer/Wulf 1992, S. 13). Erst nach und
während dieses Vorgangs findet Mimesis statt: Der oben beschriebene Fall setzt
dafür sogar keine imitierende Wiederholung der Handlung voraus, sondern nur de-
ren Beobachtung. Ich spürte an dem Tag meine Mimesis der Tänze, selbst ohne sie
vorher ausgeführt bzw. wiederholt haben zu müssen, da ich mich damit bereits
identifizierte.
Solche Identifikation erfolgt nicht nur in Bezug auf die nachzuahmende Person,
also den Tanzlehrer, sondern auf dessen Handlung: „on ne mime pas des ‚mo-
dèles‘, mais les actions des autres“ (Bourdieu 1980, S. 124). Die Handlung ist in
diesem Fall der Tanz bzw. der Orixá selbst. Zusammen mit seinen Tanzbewegun-
gen werden seine Mythologie bzw. die mit ihm verbundenen Bedeutungen und
Werte erlernt, wie ich bereits in meinem ersten Tanzunterricht feststellte:
Es gab eine Bewegung mit einer Hand hinter dem Kopf und der anderen vor dem Gesicht: Wir
wiederholen, imitieren es ganz einfach, ohne zu wissen, wo genau, auf welcher Höhe etc. die
Hände gelegt werden sollen. Dann Murah [Babá Muralesimbe] schaute mich an, zeigte mir die
Bewegung und sagte: „Den Spiegel, vergiss den Spiegel nicht!“ – Oxum! [habe ich gedacht] Und
22 “Já tinha percebido isso dançando em casa, mas no ritual e no Workshop ficou evidente que,
mesmo só tendo ido uma vez no Workshop e umas 4 ou 5 vezes na quinta-feira, eu reconheço os
movimentos, mesmo os que não tinha treinado (no outro Workshop era só Oxóssi, Ogum e Obalu-
aiê), e os tenho de certa forma incorporados, como já mencionado, não a coreografia ou os passos
corretos, mas os significados, o feeling ali embuídos. Também não sei se passo essa impressão,
talvez se me visse no espelho discordasse, mas sinto assim e fico livre para dança-los sem grande
preocupação. [...] Mimesis – por que ‘incorporei’ isso tudo sem nunca ter dançado os passos? Já
os tinha visto, me admirado, identificado e, quem sabe, me apropriado, à minha maneira e possi-
bilidade, dos significados e formas ali expressos.”
dann erkannte ich, dass es um denselben Rhythmus wie im Lied „In dieser Stadt sind alle von
Oxum“ ging (Feldnotiz zum 20.06. 2013). 23
23 “Tinha um movimento com uma mão na cabeça, a outra à frente do rosto: a gente repete, imita
simplesmente, sem saber exatamente aonde vão as mãos, que altura, etc. Aí Murah olhou pra
mim, mostrou e disse: ‘o espelho, não esquece o espelho!’ – Oxum! E aí reconheci que era o
mesmo ritmo da música ‘nessa cidade todo mundo é d’Oxum’.”
24 Murah Soares ist der künstlerische Name vom Babalorixá Muralesimbe.
Nach einigen Monaten verkörperte ich die Schritte dermaßen, dass ich zu ihren je-
weiligen Rhythmen automatisch anfing zu tanzen. Mittlerweile muss ich den ge-
spielten Rhythmus nicht mehr rational erkennen, um den entsprechenden Tanz aus-
zuführen, sondern mein Körper hat die Tänze in gewisser Weise habitualisiert
(Bourdieu 2000) und reagiert auf die Rhythmen, bevor sich bei mir eine bewusste
Intention dazu entfaltet. Die Meister wiederholen bei den Tanzworkshops: „tanzen
ist zuhören“. Dennoch, erst nachdem ich Erfahrung mit den Schritten bzw. den
Rhythmen gesammelt hatte, konnte ich ihre Interaktion empfinden.
Der regelmäßige geschärfte Kontakt mit allen Sinnen im Candomblé bewirkt
eine Wahrnehmungserweiterung der gegenwärtigen Umgebung bzw. des eigenen
Körpers. Die Klänge der perkussiven Instrumente und ebenso die Art und Weise
des Gesangs durchdringen den Körper, wirken als Rufsignale und bereiten zusam-
men mit dem Tanz den Weg zur Trance (Rouget 1980). Mit Hilfe der Sinne werden
also „kulturell geprägte soziale Räume“ (Wulf 2005, S. 99) sowie die rituelle Um-
gebung (ritual environment, Bell 1992) erschlossen. Diese entfaltet sich aus einer
wechselseitigen Zirkularität zwischen Raum und Körper, welche „space and time
[...] through the physical movements of bodies projecting organizing schemes on
the space“ (Bell 1992, S. 99) neu definiert.
Dementsprechend geht der soziale Interaktionsraum des Candomblé über die di-
rekte Wechselbeziehung zwischen Trommlern und Tänzern hinaus. Die vitale
Kraft, Axé, entsteht aus der Gemeinschaftlichkeit. Je mehr Personen die Lieder
singen und im Kreis tanzen, desto mehr Axé wird hervorgerufen. Axé scheint gera-
de in der Interaktion zwischen den Menschen, den Sinnen und der Umgebung bzw.
der Umwelt zu liegen. Deshalb ist die Beherrschung von Teilen des Interaktions-
raums – Gesängen, Rhythmen, Tanzschritten, Kochen etc. – für dessen Wahrneh-
mung unerlässlich. Darüber wurde ich mir nach Monaten Feldforschung in der
Praxis bewusst:
Wir erlernen, verkörpern die konstante Interaktion, die der Axé erfordert. Wenn wir wissen, was
gerade passiert, für wen wir singen und tanzen, wer zum jeweiligen Orixá gehört, welcher Rhyth-
mus gespielt wird und welche Intention der Haupttrommler hat – man muss das alles wissen, um
zum Axé beitragen zu können. Je mehr das alles verkörpert ist, desto freier ist man, um den Axé
zu spüren und dazu beizutragen. RAUM. Aber wenn man auf den Tanzschritt, auf den Liedtext,
auf die Bewegungen und auf sich selbst fokussiert ist, nimmt man diesen Raum nicht wahr –
Raum konstanter Interaktion, in dem man auch interagiert. Gemeinschaftlichkeit (Feldnotiz zum
07.02.2014). 25
Der Raum bzw. der transzendentale Raum im Candomblé entsteht aus der Kraft
des Kollektiven, des Sozialen, welche aus den Ausdrucksformen dieses Kollekti-
ven besteht. Aus diesem Grund muss Candomblé innerhalb des Kontexts seiner
Praxis vermittelt werden, da Gesänge und Tanzschritte eng miteinander verbunden
sind – was nicht bedeutet, dass sie nicht getrennt geübt werden können. All solche
symbolischen Handlungen nachzuahmen bedeutet ihren Interaktionsraum und
ebenso eine bestimmte Ordnung der Zeit (Gebauer/Wulf 1998) zu verkörpern.
Als Charakterzug von Ritualen wird auch im Candomblé eine vom Alltag unter-
schiedliche Zeiterfahrung (Wulf 2005) vermittelt, wo dem gegenwärtigen Moment
Vorrang verliehen wird. Laut Dofono João entspricht die Gegenwärtigkeit der Can-
domblé-Rituale einer „Sakralisierung des Alltags“, 26 denn das Kochen, Duschen,
Essen u. a. sind alltägliche Aufgaben, die im Candomblé ritualisiert werden: „[Can-
domblé] ist etwas sehr ,mit beiden Füßen auf der Erde‘, sehr aktuell, sehr ,heute,
hier und jetzt‘.“ 27 Zudem liegt die Qualität bzw. Effizienz dieser ritualisierten Zeit
nicht in ihrer Länge, sondern in der „Intensität der erlebten Zeit“ (Wulf 2005,
S. 108), die gerade mit der erwähnten Gemeinschaftlichkeit zusammenhängt.
In Bezug auf meine Fragen über die Wichtigkeit der Tanzschritte und Lieder für
den Fluss eines Rituals antwortete Babalorixá Muralesimbe, dass es „nicht wesent-
lich ist. Das Wesentliche ist, dass du präsent bist, präsent mit dem Kopf, präsent
mit dem Herz. Dann wirkt es, wirkt es. Es ist Glauben.“ Für die Orixás gemeinsam
zu kochen, zu beten, zu singen und zu tanzen heißt also, den Interaktionsraum
wahrzunehmen, daran teilzunehmen bzw. „da präsent zu sein“, was einem der
Grundwerte der Religion entspricht. Axé entsteht also in der unmittelbaren Gegen-
wart des ritualisierten Interaktionsraums.
In der Beschreibung mimetischer Prozesse, wie sie sich vor allem in Gesang und
Tanz des Candomblé in der Praxis vollziehen, sollten einerseits Aspekte der Praxis-
theorie von Bourdieu bzw. Mimesistheorie von Gebauer und Wulf mit ethnogra-
phischen Bespielen veranschaulicht werden. Dabei wurde die Rolle der Identifika-
tion, des Nicht-Diskursiven und ebenso des Diskursiven, der Autoritäten und auch
von weiteren Vorbildern der Mimesis näher erläutert. Ferner verdeutlichen die Bei-
25 “A gente aprende, incorpora a interação constante que exige o axé. Quando sabemos o que está
acontecendo, pra quem estamos cantando e dançando, quem é daquele santo, que ritmo está to-
cando e qual a intenção do alabê – é preciso saber tudo isso para poder colaborar no axé. Quanto
mais tudo isso estiver incorporado, mais livre se estará para sentir e consequentemente contribuir
no axé. RAUM. Mas estando concentrado no passo, na letra, nos movimentos, em si mesmo, não
se percebe este espaço – espaço de interação contínua no qual também se interage. Comunhão”.
26 “Sacralização do cotidiano”, Dofono João im Interview am 24.02.2014.
27 “Isso é uma coisa muito pé na terra, é muito atual, é muito hoje, aqui, agora”, ebd.
spiele, dass eine Tradition ein andauernder und dynamischer Prozess ist, bei dem
Regeln nie fixierend sind und somit Veränderungen nicht unbedingt als solche an-
gesehen werden, sondern als Anpassungen an jeweilige Kontexte bzw. als Bestand-
teile des Prozesses.
Andererseits stellte ich Momente meines eigenen Verkörperungsprozesses dar,
ein Prozess, der letztendlich mehr bedeutet, als Bewegungen und Lieder mecha-
nisch zu lernen. Indem ich die Stellung anderer Mitglieder des Hauses bezog, ver-
körperte ich die Praxis und ihre Werte und konnte die mimetischen Prozesse sowie
ihre Subjektivität selbst erleben. Ohne den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen zu
wollen, drücke ich damit lediglich aus, dass dieser Prozess der Verkörperung mei-
nes eigenen Orixás, Oxum, entsprach. Nach meiner Erfahrung bzw. nach der Be-
obachtung der Erfahrung anderer Candomblé-Angehöriger gehört zum Erlernen ei-
ner Tradition in ihrem Sinne die Verkörperung ihrer Werte und Bedeutungen. Dies
entspricht Bourdieus „valeurs faites corps“ (1980, S. 117), Wertungen, die im Kör-
per verankert sind bzw. werden.
Ich und andere Ilê-Mitglieder aus verschiedenen Ländern bzw. Regionen Brasi-
liens adaptieren die Praxis des Candomblé in Berlin durch ihre Verkörperung in ei-
nem deutschen kulturellen Kontext. Es ist wohl möglich, dass in der Zukunft die
Adaption so ausgeprägte Formen annimmt, dass man über „Metamorphosen“ der
Tradition sprechen kann. Heutzutage erkennen jedoch sowohl Haus-Mitglieder als
auch Außenseiter die Präsenz der Orixás, d. h. die Bedeutungen der afro-brasiliani-
schen Religion, im Ilê Obá Sileké wieder. Durch solche Verkörperung sind bis dato
anstatt kultureller „Metarmophosen des Candomblé“ lediglich „Metamorphosen
des Selbst“ zum eigenen Orixá zu beobachten.
Literatur
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