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DES TODES
Das Geheimnis der Reinkarnation
Werke von His Divine Grace
A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada
ISKCON, Taunusstraße 40
D-51105 Köln, Tel. 0221 /8303778
Krishna-Tempel, Bergstrasse 54
CH-8030 Zürich, Tel.: 01/2623388
ISBN91-7149-040-X
INHALT
Einleitung vii
3 Ajāmilas Reue
17. KAPITEL: Die Stunde der Wahrheit 192
18. KAPITEL: Ein Pilger auf dem Weg zu Gott 203
4 Yamarājas Unterweisungen
19. KAPITEL: Das Ende aller Zweifel 214
20. KAPITEL: Wer ist der Höchste Herr? 220
21. KAPITEL: Vertrauliches Wissen 225
22. KAPITEL: Die Herrlichkeit des heiligen Namens 239
ANHANG
Autor 295
Glossar 297
Anleitung zur Aussprache des Sanskrit 304
Das Chanten des Hare-Krsna-Mantra 305
Einleitung
Als der lasterhafte Ajāmila bewußtlos auf seinem Totenbett lag, sah
er in der feinstofflichen Dimension mit Entsetzen drei schreckliche
menschenähnliche Kreaturen auf sich zukommen, die ihn aus sei-
nem sterbenden Körper zerren und zur Bestrafung ins Reich Yama-
rājas, des Herrn des Todes, bringen wollten. überraschenderweise
jedoch entging Ajāmila diesem furchtbaren Schicksal. Wie ihm das
gelang, können Sie auf den Seiten des vorliegenden Buches, Im An-
gesicht des Todes, lesen.
Obwohl die Ajāmila-Geschichte schon Tausende von Jahren alt
ist, besitzt ihre Thematik eine zeitlose Aktualität. Auch heute noch
berichten Menschen von ähnlichen Sterbeerlebnissen und bestätigen
damit den uralten Glauben der Menschheit an ein Weiterleben nach
dem Tode.
In den Jahren 1980/81 führte das Gallup-Meinungsforschungs-
institut in den USA eine umfangreiche statistische Erhebung zum
Themenkreis des Todes durch, die 1983 unter dem Titel Begegnungen
mit der Unsterblichkeit auch in Deutsch veröffentlicht wurde. Das Er-
gebnis dieser Umfrage war verblüffend:
67 Prozent aller Befragten sagten, sie seien von einem Leben nach
dem Tode überzeugt, und immerhin 15 Prozent bestätigten, selbst
eine Art Erfahrung in Todesnähe gemacht zu haben. Auf die Bitte,
ihre Erfahrung in Todesnähe näher zu beschreiben, berichteten neun
Prozent von außerkörperlichen Erfahrungen, und acht Prozent erin-
nerten sich sogar, daß „ein oder mehrere eigentümliche Wesen wäh-
rend der Todeserfahrung gegenwärtig" waren.
vii
viii Im Angesicht des Todes
ner Familie und begab sich an das Ufer des Ganges, um sich auf
den Tod vorzubereiten. Dort versammelten sich alle großen Weisen
der damaligen Zeit - unter ihnen auch Sukadeva Gosvāmi, der aus-
erkoren wurde, auf die Fragen des Königs zu antworten. Pariksits
erste Frage lautete: „Was ist die Pflicht eines Menschen, dessen
Tod unmittelbar bevorsteht?" Aus dieser Frage entwickelte sich ein
siebentägiges Gespräch, in dessen Verlauf Sukadeva Gosvāmi auch
die Geschichte von Ajāmilas Todeserfahrung erzāhlte.
Das vorliegende Buch besteht aus der Übersetzung des Srimad-
Bhāgavatam-Textes, aus Stellen der Erläuterungen und aus Auszügen
von Vorlesungen, die Srila Prabhupāda im Winter 1970/71 in In-
dien gab. Die Ajāmila-Erzählung wird von zwei Vortragsreihen Srila
Prabhupādas eingebettet: Auf dem Weg zu Krsna führt den Leser
Schritt für Schritt in das spirituelle Gedankengut Indiens ein, wäh-
rend Die Vollkommenheit des Yoga die im Hauptteil aufgegriffenen
Themen, vor allem yoga und Meditation, vertieft und in den Kontext
unserer modernen Zeit stellt.
Die Ajāmila-Geschichte ist aufrüttelnd, aber auch hoffnungsspen-
dend. Die schicksalhafte philosophische Auseinandersetzung, die
über Ajāmilas Leben und Tod entschied, wird zweifellos das Inter-
esse all derer finden, die gewillt sind, sich mit den tiefsten Fragen
des menschlichen Daseins zu beschäftigen.
Die Herausgeber
AUF DEM WEG
ZU KRSNA
1. KAPITEL
3
4 Auf dem Weg zu Krsna
Reihe ist. Es hālt sich für glücklich, doch im nächsten Moment kann
es bereits geschlachtet werden.
Somit gibt es verschiedene Stufen des Glücks. Was aber ist das
höchste Glück? Sri Krsna sagt zu Arjuna:
sukham ātyantikam yat tad
buddhi-grāhyam atindriyam
vetti yatra na caivāyam
sthitas calati tattvatah
„In diesem freudigen Zustand erfāhrt man grenzenloses transzen-
dentales Glück, das durch transzendentale Sinne empfunden wird.
So verankert, weicht man niemals von der Wahrheit ab." (Bg. 6.21)
Buddhi bedeutet Intelligenz; um wirkliches Glück zu genießen,
muß man intelligent sein. Tiere haben keine höhere Intelligenz und
können daher das Leben nicht so genießen wie die Menschen. Aber
ein toter Mensch kann nicht mehr genießen, obgleich die Hände, die
Nase, die Augen, die anderen Sinnesorgane und sämtliche Körper-
teile noch vorhanden sind. Warum nicht? Die genießende Energie,
der spirituelle Funke, hat den Körper verlassen, und daher besitzt
der Körper keine Kraft mehr. Mit ein wenig Intelligenz kann man
verstehen, daß nicht der Körper Glück empfand, sondern der kleine
spirituelle Funke, der in ihm weilte. Man mag denken, daß man mit
den körperlichen Sinnesorganen genießt, doch in Wirklichkeit ist es
der spirituelle Funke, der genießt. Dieser Funke ist potentiell immer
voller Freude, aber diese Freude tritt nicht immer offen zutage, da
der spirituelle Funke von der sterblichen Hülle bedeckt ist. Auch
wenn wir uns dessen nicht bewußt sind, ist der Körper nicht im-
stande, ohne die Gegenwart des spirituellen Funkens Freude zu er-
fahren. Bietet man einem Mann den Leichnam einer schönen Frau
an - wird er ihn wohl zur Frau nehmen? Nein, er wird es nicht
tun, denn der spirituelle Funke hat den Körper verlassen. Als die-
ser Funke im Körper weilte, erfuhr er in ihm Genuß und erhielt ihn
auch am Leben. Sobald er fortgeht, zerfāllt der Körper.
Daraus lāßt sich schließen: Wenn die Seele, der spirituelle Funke,
genießt, muß sie auch Sinne haben - wie könnte sie ansonsten Ge-
nuß erfahren? Nach Aussage der Veden ist die Seele, obgleich sie
nur atomare Ausmaße besitzt, die wirklich genießende Kraft. Es ist
Die Suche nach Glück 5
unmöglich, die Größe der Seele zu messen, aber das heißt nicht,
daß sie keine Ausmaße besitzt. Ein Gegenstand mag nicht größer als
ein Punkt sein und scheinbar weder Länge noch Breite haben, doch
unter dem Mikroskop sehen wir, daß er sehr wohl Lānge und Breite
hat. Ebenso besitzt die Seele ihre Ausmaße, wir können sie nur nicht
wahrnehmen. Wenn wir uns einen Anzug oder ein Kleid kaufen,
ist dieses Kleidungsstück so angefertigt, daß es zu unserer Körper-
form paßt. Auf ähnliche Weise entsteht auch der materielle Körper,
um die Seele aufzunehmen; da der materielle Körper Form besitzt,
muß auch der spirituelle Funke Form besitzen. Die Schlußfolgerung
lautet, daß der spirituelle Funke nicht unpersönlich ist; er ist die ei-
gentliche Person. Da Gott eine Person ist, ist der spirituelle Funke
als Gottes winziger Bestandteil auch eine Person. Wenn der Vater
Persönlichkeit und Individualität besitzt, besitzt der Sohn sie eben-
falls; und wenn der Sohn sie besitzt, lāßt sich schließen, daß auch
der Vater sie besitzt. Wie können wir also als Söhne Gottes für uns
Persönlichkeit und Individualität beanspruchen und sie gleichzeitig
unserem Vater, dem Höchsten Herrn, absprechen?
Atindriyam bedeutet, daß wir die materiellen Sinne transzendieren
müssen, bevor wir wirkliches Glück erfahren können. Ramante yogi-
no 'nante satyānanda-cid ātmani: Auch die yogis, die nach einem spiri-
tuellen Leben streben, erfahren Freude, indem sie sich auf die Über-
seele im Innern konzentrieren. Wenn es im spirituellen Leben keine
Freude und keinen Genuß gäbe, warum sollte man sich dann solche
Mühe machen, seine Sinne zu beherrschen? Was für ein Glück ko-
sten die yogis, wenn sie solche Unannehmlichkeiten auf sich neh-
men? Ihr Glück ist ananta - endlos. Wie ist das möglich? Da die
spirituelle Seele und der Höchste Herr ewig sind, ist auch ihr Lie-
besaustausch ewig. Wer wirklich intelligent ist, wird sich von den
flüchtigen Sinnenfreuden des materiellen Körpers zurückhalten und
seine Freude nur im spirituellen Leben suchen. Ein spirituelles Le-
ben in der Gemeinschaft des Höchsten Herrn nennt man rāsa-lilā.
Krsnas rāsa-lilā mit den Kuhhirtenmādchen in Vrndāvana ist keine
gewöhnliche Liebesbeziehung, wie sie zwischen materiellen Kör-
pern besteht, sondern ein Austausch von Gefühlen, der mit spiri-
tuellen Körpern stattfindet. Man muß eine gewisse Intelligenz auf-
bringen, um dies zu begreifen, denn ein Tor, der wirkliches Glück
6 Auf dem Weg zu Krsna
sein hat solche Macht, daß wir vor der größten Gefahr bewahrt
werden, wenn wir nur ein wenig davon gekostet haben. Wenn wir
den Geschmack des Krsna-Bewußtseins kosten, betrachten wir an-
dere sogenannte Genüsse und Errungenschaften als fade und abge-
schmackt. Und wenn wir im Krsna-Bewußtsein fest verankert sind,
kann uns nicht einmal die größte Gefahr beunruhigen. Das Leben
birgt viele Gefahren in sich, denn die materielle Welt ist ein gefährli-
cher Ort, aber wir neigen dazu, vor dieser Tatsache unsere Augen zu
verschließen. Töricht wie wir sind, versuchen wir, diesen Gefahren
mit materiellen Mitteln zu begegnen. In unserem Leben mag es zahl-
reiche gefährliche Augenblicke geben, doch wenn wir uns im Krsna-
Bewußtsein üben und uns darauf vorbereiten, nach Hause, zu Gott,
zurückzukehren, werden wir uns darüber keine Sorgen machen.
„Gefahren kommen und gehen - das macht mir nichts aus", wird
dann unsere Haltung sein. Es ist sehr schwierig, eine solche Einstel-
lung zu entwickeln, solange man sich auf der materialistischen Ebe-
ne befindet und sich mit dem physischen Körper identifiziert, der
aus vergänglichen Elementen besteht. Doch je mehr man im Krsna-
Bewußtsein fortschreitet, desto freier wird man von körperlicher
Identifikation und materieller Verstrickung.
Im Srimad-Bhāgavatam wird die materielle Welt mit einem großen
Ozean verglichen. Im materiellen Universum befinden sich Aber-
millionen von Planeten, die im Raum schweben. Wir können uns
kaum vorstellen, wie viele Atlantische und Pazifische Ozeane es
gibt. In der Tat wird das gesamte materielle Universum mit einem
großen Ozean des Elends verglichen, einem Ozean von Geburt und
Tod. Um diesen gewaltigen Ozean der Unwissenheit zu überque-
ren, ist ein seetüchtiges Boot vonnöten, und dieses sichere Boot sind
Krsnas Lotosfüße. Wir sollten sogleich an Bord gehen und nicht zö-
gern, weil wir glauben, Krsnas Füße seien zu klein. Das ganze Uni-
versum ruht auf Seinen Beinen! Für jemanden, der bei Seinen Fü-
ßen Zuflucht sucht, ist das materielle Universum nicht bedeutsamer
als die Wasserlache im Hufabdruck eines Kalbes. Solch eine kleine
Pfütze zu überqueren ist bestimmt nicht schwierig.
ta vidyad duhkha-sarhyoga
viyoga yoga-samjnitam
8 Auf dem Weg zu Krsna
„Dies ist in der Tat wirkliche Freiheit von allen Leiden, die aus der
Berührung mit der Materie entstehen." (Bg. 6.23)
Wir sind unserer ungezügelten Sinne wegen in die materielle Welt
verstrickt. Das Ziel des yoga-Vorgangs ist es, die Sinne zu beherr-
schen. Wenn uns dies irgendwie gelingt, können wir echtem, spiri-
tuellem Glück entgegensehen und unser Leben zum Erfolg führen.
sa niscayena yoktavyo
yogo 'nirvinna-cetasā
sankalpa-prabhavān kāmāms
tyaktvā sarvān asesatah
manasaivendriya-grāmam
viniyamya samantatah
sanaih sanair uparamed
buddhyā dhrti-grhitayā
ātma-samstham manah krtvā
na kincid api cintayet
yato yato niscalati
manas cancalam asthiram
tatas tato niyamyaitad
ātmany eva vasam nayet
seit unvordenklichen Zeiten, Leben für Leben, gewöhnt ist. Aus die-
sem Grund mag es am Anfang sehr schwierig sein, seinen Geist auf
das Krsna-Bewußtsein zu konzentrieren, aber diese Schwierigkeiten
können alle überwunden werden.
Weil der Geist aufgewühlt und nicht auf Krsna gerichtet ist, wan-
dert er von einem Gedanken zum anderen. Wenn wir einer Beschäf-
tigung nachgehen, können ohne ersichtlichen Grund in unserem
Geist unvermittelt Erinnerungen an Geschehnisse auftauchen, die
sich vor zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren zugetragen ha-
ben. Diese Gedanken kommen aus unserem Unterbewußtsein; und
da sie ständig auftreten, ist unser Geist immer in Erregung. Wenn
man einen See oder Teich aufwühlt, kommt aller Schlamm vom
Grund zur Oberflāche. Wenn auf ähnliche Weise der Geist aufge-
wühlt ist, steigen aus dem Unterbewußtsein viele Gedanken empor,
die dort die Jahre über gespeichert wurden. Sobald wir den Teich
jedoch in Ruhe lassen, wird sich der Schlamm am Grund absetzen.
Der yoga-Vorgang ist das Mittel, den Geist zu beruhigen und alle Ge-
danken zur Ruhe kommen zu lassen. Aus diesem Grund muß man
zahlreiche Regeln und Vorschriften befolgen, um den Geist nicht in
Erregung geraten zu lassen. Wenn wir den Regeln und Vorschriften
folgen, werden wir den Geist allmählich unter Kontrolle bekommen.
Es gibt viele Gebote und Verbote, die man beherzigen muß, wenn
man ernsthaft bemüht ist, seinen Geist zu schulen. Denn wie soll
der Geist beherrscht werden, wenn man launenhaft handelt? Ist der
Geist so weit geschult, daß er nur noch an Krsna denkt, wird er Frie-
den finden und sehr ausgeglichen werden.
prasānta-manasam hy enam
yoginam sukham uttamam
upaiti sānta-rajasam
brahma-bhūtam akalmasam
„Der yogi, dessen Geist auf Mich gerichtet ist, erreicht wahrlich die
höchste Vollkommenheit transzendentalen Glücks. Er befindet sich
jenseits der Erscheinungsweise der Leidenschaft und erkennt seine
qualitative Gleichheit mit dem Höchsten. So ist er von allen Reaktio-
nen auf vergangene Taten befreit." (Bg. 6.27)
Der Geist denkt sich ständig Wege aus, glücklich zu werden. Wir
10 Auf dem Weg zu Krsna
denken immer: „Hier werde ich Glück finden, dort werde ich Glück
finden." Auf diese Weise trāgt uns der Geist überallhin, was einer
Kutschenfahrt mit ungezügelten Pferden gleicht. Wir besitzen keine
Gewalt darüber, wohin wir uns bewegen, sondern können nur mit
Schrecken dasitzen und hilflos zuschauen. Die wilden Pferde des
Geistes werden nur dann allmählich gebändigt, wenn der Geist im
Vorgang des Krsna-Bewußtseins beschäftigt wird - vor allem im
Chanten von Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare /
Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Wir müssen uns in
jedem Augenblick unseres Lebens Krsnas Dienst widmen, um den
ruhelosen und aufgewühlten Geist davon abzuhalten, uns von einer
Sache zur anderen zu schleifen, auf der vergeblichen Suche nach
Glück in der vergänglichen materiellen Welt.
11
12 Auf dem Weg zu Krsna
abhyutthanam adharmasya
tadātmānam srjāmy aham
paritrānāya sādhūnām
vināsāya ca duskrtām
dharma-sarhsthāpanārthāya
sambhavāmi yuge yuge
gleiche sei wie Dienst in der spirituellen Welt. „Was, nach der Be-
freiung werde ich immer noch ein Diener sein?" mögen wir mit
Schaudern denken, denn wir haben erfahren, daß es nicht sehr an-
genehm ist, in der materiellen Welt ein Diener zu sein. Aber tran-
szendentaler Dienst ist anders. In der spirituellen Welt besteht kein
Unterschied zwischen dem Diener und dem Meister. Wāhrend hier
in der materiellen Welt freilich Unterschiede existieren, ist in der
absoluten Welt alles eins. In der Bhagavad-gitā zum Beispiel nimmt
Krsna als der Wagenlenker Arjunas die Position eines Dieners ein.
In seiner wesensgemäßen Stellung ist Arjuna Krsnas Diener, aber an
Krsnas Verhalten sehen wir, daß der Herr zuweilen der Diener des
Dieners wird. Folglich sollten wir uns davor hüten, materialistische
Vorstellungen auf das spirituelle Reich zu übertragen. Was auch im-
mer wir im materiellen Leben erfahren, ist nur eine verzerrte Wider-
spiegelung von Dingen des spirituellen Lebens.
Wenn unsere wesensgemäße Stellung, unser dharma, durch mate-
rielle Verunreinigung bedeckt wird, erscheint der Herr persönlich
als eine Inkarnation oder entsendet einige Seiner vertrauten Diener.
Jesus Christus nannte sich Sohn Gottes und ist somit ein Stell-
vertreter des Höchsten. Auch Mohammed gab sich als Diener des
Höchsten Herrn zu erkennen. Wann immer wir von unserer wesens-
gemäßen Stellung abweichen, erscheint der Höchste Herr entweder
selbst oder sendet Seinen Bevollmächtigten, um uns auf diese Weise
über die wirkliche Stellung des Lebewesens zu belehren.
Man sollte als nicht fälschlich denken, dharma sei ein geschaffener
Glaube. In seinem eigentlichen Sinne kann dharma überhaupt nicht
vom Lebewesen getrennt werden. Dharma gehört zum Lebewesen
wie Süße zum Zucker, Salzigkeit zum Salz und Festigkeit zum Stein.
Der mit dem Lebewesen untrennbar verbundene dharma ist es, zu
dienen, und wie wir leicht sehen können, besitzt jedes Lebewesen
die Neigung, sich selbst oder anderen zu dienen. Wie man Krsna
dient und sich aus dem materialistischen Dienst befreit, wie man
Krsna-Bewußtsein erlangt und frei werden kann von weltlichen Be-
zeichnungen: das alles wird von Sri Krsna auf wissenschaftliche
Weise in der Bhagavad-gitā gelehrt.
Das Wort sādhu, das im obigen Vers zitiert wurde (paritrānāya sā-
14 Auf dem Weg zu Krsna
„Wie ein Mensch alte Kleider ablegt und neue anzieht, so gibt die
Seele alt und unbrauchbar gewordene Körper auf und nimmt neue
materielle Körper an." (Bg. 2.22)
Anfänglich hat der Körper die Größe einer Erbse. Hierauf wāchst
er zur Größe eines Säuglings, eines Kindes, eines Jugendlichen, eines
Erwachsenen und eines Greises heran; ist der Körper schließlich zu
nichts mehr zu gebrauchen, wechselt das Lebewesen in einen ande-
ren Körper über. Der Körper ist daher ständig im Wandel begriffen,
und der Tod ist nur der letzte Wandel des gegenwärtigen Körpers.
ist unsere Krankheit. Es ist aber nicht so, daß wir immer zu einem
menschlichen Körper überwechseln. Entsprechend unserer Hand-
lungsweise können wir in einen Tierkörper oder in den Körper ei-
nes Halbgotts eingehen. Dem Padma Purāna zufolge gibt es 8 400 000
Lebensformen, und nach dem Tode ist es möglich, in jeder von ih-
nen geboren zu werden. Krsna verspricht jedoch, daß derjenige, der
Seine Geburt und Seine Taten wahrhaft versteht, aus dem Kreislauf
der Seelenwanderung befreit wird.
Wie kann man Krsnas Geburt und Seine Taten in Wahrheit ver-
stehen? Die Antwort darauf finden wir im Achtzehnten Kapitel der
Bhagavad-gitā:
„Nur durch hingebungsvollen Dienst kann man Mich so, wie Ich
bin, als die Höchste Persönlichkeit Gottes, erkennen. Und wenn man
sich durch solche Hingabe vollkommen über Mich bewußt ist, kann
man in das Königreich Gottes eingehen." (Bg. 18.55)
Hier wird wieder das Wort tattvatah, „in Wahrheit", verwendet.
Man kann die Wissenschaft von Krsna in Wahrheit verstehen, wenn
man Sein Geweihter wird. Wer kein Gottgeweihter ist und nicht
nach Krsna-Bewußtsein strebt, ist außerstande, zu diesem Verstānd-
nis zu gelangen. Zu Beginn des Vierten Kapitels sagt Krsna zu
Arjuna (Bg. 4.3), daß Er ihn in die uralte Wissenschaft des yoga ein-
weiht, weil Arjuna „Mein Geweihter und Mein Freund" ist. Für je-
manden, der die Bhagavad-gitā nur auf akademische Weise studiert,
bleibt die Wissenschaft von Krsna ein Geheimnis. Die Bhagavad-gitā
ist nicht ein Buch, das man einfach im Buchladen kauft, um es dann
durch bloße Gelehrsamkeit zu verstehen. Arjuna war kein großer
Gelehrter und auch kein Vedāntist, Philosoph, brāhmana oder Asket;
er war vielmehr Familienvater und ksatriya (Krieger). Aber dennoch
hat Krsna ihn auserkoren, die Bhagavad-gitā zu vernehmen und die
erste Autorität in der Schülernachfolge zu sein. Warum? „Weil du
Mein Geweihter bist." Um die Bhagavad-gitā und Krsna richtig zu
20 Auf dem Weg zu Krsna
„Dieses Mein höchstes Reich wird weder von der Sonne noch vom
Mond, noch von Feuer oder Elektrizität erleuchtet. Diejenigen, die
es erreichen, kehren nie wieder in die materielle Welt zurück." (Bg.
15.6)
Die materielle Welt ist immer dunkel; daher benötigen wir Sonne,
Mond und Elektrizität. Die Veden mahnen uns eindringlich, nicht
in dieser Dunkelheit zu bleiben, sondern uns zur Welt des Lichts zu
begeben, zur spirituellen Welt. Der Begriff „Dunkelheit" hat zweier-
lei Bedeutung: er bedeutet „ohne Licht", aber auch „Unwissenheit".
Wie man den Spiegel des Geistes reinigt 21
na me pārthāsti kartavyam
trisu lokesu kincana
nānavāptam avāptavyam
varta eva ca karmani
ob Mensch oder Tier. Als Sri Caitanya Mahāprabhu vor rund fünf-
hundert Jahren durch die Dschungel Südindiens wanderte, chantete
Er Hare Krsna, und alle wilden Tiere - die Tiger, die Elefanten und
die Rehe - schlossen sich Ihm an und tanzten zu den heiligen Na-
men. Natürlich spielt hierbei die Reinheit des Chantens die entschei-
dende Rolle. Wenn wir im Chanten Fortschritte machen, werden wir
mit Sicherheit gereinigt werden.
3. KAPITEL
Göttliche Sicht
Krsna lehrt uns, wie wir in unserem praktischen Leben Krsna-Be-
wußtsein entwickeln können. Wir brauchen nicht aufzuhören, un-
sere Pflicht zu erfüllen und tätig zu sein. Im Gegenteil, wir müssen
Tätigkeiten ausführen, aber im Krsna-Bewußtsein. Jeder Mensch hat
einen Beruf, doch mit welchem Bewußtsein geht er ihm nach?
Jeder glaubt: „Ich muß einen Beruf haben, um meine Familie zu
unterhalten." Es gibt kaum jemanden, der nicht in dem Bewußt-
sein lebt, daß er Gesellschaft, Regierung oder Familie zufriedenstel-
len muß. Um eine Tätigkeit gut auszuüben, muß man das richtige
Bewußtsein haben. Jemand, dessen Bewußtsein aufgewühlt ist und
der sich wie ein Verrückter verhālt, ist nicht in der Lage, irgend-
einer Pflicht nachzugehen. Wir sollten unsere Pflichten richtig er-
füllen, und zwar in dem Bewußtsein, Krsna zufriedenzustellen. Wir
brauchen unsere Beschäftigung nicht zu āndern, sollten uns aber
darüber bewußt sein, für wen wir arbeiten. Wir müssen all unsere
vorgeschriebenen Tätigkeiten ausführen, doch sollten wir uns nicht
von kāma, materiellem Verlangen, davontragen lassen. Das Sanskrit-
wort kāma wird in der Bedeutung von Lust, Verlangen oder Sinnen-
befriedigung gebraucht. Sri Krsna unterweist uns, nicht für die Be-
friedigung von kāma, unserer eigenen Lust, zu arbeiten. Die ganze
Lehre der Bhagavad-gitā beruht auf diesem Prinzip.
Arjuna handelte zu seiner eigenen Zufriedenstellung, als er dem
Kampf mit seinen Verwandten aus dem Wege gehen wollte. Krsnas
Worte jedoch überzeugten ihn, seine Pflicht zur Zufriedenstellung
des Höchsten zu erfüllen. Materiell gesehen mag es sehr fromm er-
scheinen, daß Arjuna seinen Anspruch auf das Königreich aufgab
und sich weigerte, seine Angehörigen zu töten; aber Krsna billigte
dies nicht, weil das Motiv von Arjunas Entscheidung darauf be-
24
Göttliche Sicht 25
mamaivāmso jiva-loke
jiva-bhūtah sanātanah
manah-sasthānindriyāni
prakrti-sthāni karsati
„O Sohn Prthās, die großen Seelen, die nicht verblendet sind, stehen
unter dem Schutz der göttlichen Natur. Sie sind vollständig im hin-
gebungsvollen Dienst beschäftigt, da sie Mich als die Höchste Per-
sönlichkeit Gottes kennen, die ursprünglich und unerschöpflich ist.
Ohne Unterlaß preisen sie Meine Herrlichkeit, bemühen sich mit
großer Entschlossenheit und verneigen sich vor Mir. So verehren
Mich die großen Seelen unaufhörlich mit Hingabe." (Bg. 9.13-14)
Wer ist eine große Seele, ein mahātmā? - Ein mahātmā ist jemand,
der unter dem Einfluß der höheren Energie steht. Gegenwärtig be-
finden wir uns unter dem Einfluß von Krsnas niederer Energie. Als
Lebewesen nehmen wir eine Zwischenstellung ein: wir können uns
einer der beiden Energien zuwenden. Krsna ist völlig unabhängig;
und weil wir ein Bestandteil von Ihm sind, besitzen auch wir die
Eigenschaft der Unabhängigkeit. Aus diesem Grund haben wir die
Wahl, unter welcher Energie wir handeln wollen. Da wir aber kein
Wissen von der höheren Energie haben, müssen wir in der niederen
Natur bleiben.
In einigen Philosophien wird behauptet, daß es keine andere Na-
tur gebe als die, die wir gegenwärtig erfahren, und daß die einzige
Lösung sei, sie zu negieren und in die Leere einzugehen. Freilich
erreichen wir nie einen Zustand der Leere, denn wir sind Lebewe-
sen. Unsere Existenz hört nicht auf, nur weil wir den Körper wech-
seln. Bevor wir dem Einfluß der materiellen Natur entkommen kön-
nen, müssen wir verstehen, wohin wir eigentlich gehören und was
unsere Bestimmung ist. Ansonsten werden wir nämlich sagen: „Wir
wissen nicht, was höher und was niedriger ist. Wir kennen nichts
anderes als diese Welt; also laßt uns für immer hier bleiben." Die
Bhagavad-gita gibt uns jedoch Auskunft über die höhere Energie, die
höhere Natur.
Krsnas Worte gelten für alle Ewigkeit, sie wandeln sich nie. Es
spielt keine Rolle, was unsere derzeitige Beschäftigung ist oder was
Arjunas Beschäftigung war - wir müssen nur unser Bewußtsein
verändern. Gegenwärtig werden wir vom Bewußtsein der Eigen-
nützigkeit gelenkt, aber wir wissen nicht, was wirklich in unserem
eigenen Interesse ist, in unserem Selbst-Interesse. Eigentlich geht es
uns nicht um unser Selbst-Interesse, sondern um das Interesse un-
30 Auf dem Weg zu Krsna
serer Sinne. Was immer wir tun, dient dazu, unsere Sinne zu be-
friedigen. Dieses Bewußtsein ist es, das gewandelt werden muß. Wir
müssen es durch unser wirkliches Selbst-Interesse ersetzen: Krsna-
Bewußtsein.
Wie geschieht das? Wie soll es uns gelingen, jeden Augenblick un-
seres Lebens Krsna-bewußt zu sein? Eigentlich macht es uns Krsna
sehr leicht:
raso 'ham apsu kaunteya
prabhāsmi sasi-sūryayoh
pranavah sarva-vedesu
sabdah khe paurusam nrsu
„O Sohn Kuntis, Ich bin der Geschmack des Wassers, das Licht der
Sonne und des Mondes und die Silbe om in den vedischen mantras;
Ich bin der Klang im Äther und die Fähigkeit im Menschen." (Bg.7.8)
In diesem Vers beschreibt Sri Krsna, wie wir in allen Lebensla-
gen vollkommen Krsna-bewußt sein können. Alle Lebewesen müs-
sen Wasser trinken. Der Geschmack des Wassers ist so köstlich, daß
Wasser unseren Durst am besten zu stillen scheint. Keine Industrie
ist in der Lage, den reinen Geschmack des Wassers herzustellen.
Wann immer wir Wasser trinken, können wir uns an Krsna oder
Gott erinnern. Wir alle müssen unser ganzes Leben lang täglich
Wasser trinken. Wie können wir daher Gott vergessen?
Auch das Leuchten des Lichts ist Krsna. Die ursprüngliche Aus-
strahlung im spirituellen Himmel, das brahmajyoti, geht von Krsnas
Körper aus. Der materielle Himmel ist bedeckt, ja das eigentliche
Wesen des materiellen Universums ist Dunkelheit, wie wir sie in
der Nacht erfahren. Das Universum wird künstlich durch die Sonne,
den Mond und Elektrizität erleuchtet. Woher kommt dieses Licht?
Die Sonne erhālt ihr Licht vom brahmajyoti, der hellen Ausstrahlung
der spirituellen Welt. In der spirituellen Welt werden Sonne, Mond
und Elektrizität nicht benötigt, denn dort wird alles vom brahmajyoti
erleuchtet. Wann immer wir auf Erden also das Licht der Sonne se-
hen, können wir uns an Krsna erinnern.
Wenn wir die vedischen mantras chanten, die mit om beginnen,
können wir uns ebenfalls an Krsna erinnern. Wie Hare Krsna ist
Göttliche Sicht 31
„Ich bin der ursprüngliche Duft der Erde, und Ich bin die Hitze im
Feuer. Ich bin das Leben in allem Lebendigen, und Ich bin die Entsa-
gung der Asketen."(Bg. 7.9)
Punyo gandhah heißt soviel wie „Düfte". Nur Krsna vermag Düfte
und Aromen zu schaffen. Heute werden verschiedene Düfte und
Parfüms synthetisch hergestellt, doch sie sind nie so gut wie die,
die ursprünglich in der Natur vorkommen. Wenn wir einen guten,
natürlichen Duft riechen oder wenn wir die Schönheiten der Natur
erblicken, können wir uns erinnern: „Hier ist Gott; hier ist Krsna."
Wenn wir etwas Außergewöhnliches, Mächtiges oder Wunderbares
sehen, können wir denken: „Das ist Krsna." Wann immer wir in ei-
nem Baum, einer Pflanze, einem Tier oder einem Menschen ein Le-
benssymptom sehen, sollten wir verstehen, daß dieses Leben ein Teil
Krsnas ist, denn sobald der spirituelle Funke, der ein Bestandteil des
Herrn ist, den Körper verlāßt, zerfāllt dieser.
„O Sohn Prthās, wisse, daß Ich der ursprüngliche Same alles Exi-
stierenden, die Intelligenz der Intelligenten und die Macht aller
Māchtigen bin." (Bg. 7.10)
Hier wird erneut darauf hingewiesen, daß Krsna das Leben von
allem ist, was lebt. Somit können wir Gott auf Schritt und Tritt wahr-
nehmen. Viele Menschen fragen: „Kannst du mir Gott zeigen?" - Ja,
natürlich; denn Gott kann auf vielerlei Weise wahrgenommen wer-
den. Doch wie soll man Gott jemandem zeigen, der seine Augen
verschließt und sagt: „Ich will Gott nicht sehen."
Göttliche Sicht 35
Das Wort bijam im obigen Vers bedeutet Same, und dieser Same
wird als ewig (sanatanam) bezeichnet. Was ist der Ursprung eines
Baumes? Es ist der Same, und dieser Same ist letztlich ewig. Der
Same des Daseins ruht in jedem Lebewesen. Der menschliche Kör-
per zum Beispiel entwickelt sich im Mutterleib, kommt als Sāug-
ling auf die Welt und wāchst vom Kind zum Erwachsenen heran; er
durchlāuft viele Veränderungen, doch der Same des inneren Seins
bleibt. Daher ist er sanatanam. Wāhrend wir unmerklich unseren
Körper jeden Augenblick, jede Sekunde wechseln, wandelt sich der
bijam, der Same oder spirituelle Funke, nicht. Krsna erklärt, daß Er
dieser ewige Same in allen Daseinsformen ist. Da Er auch die Intelli-
genz eines intelligenten Menschen ist, kann man ohne Krsnas Gnade
nicht außergewöhnlich intelligent werden. Jeder bemüht sich, klü-
ger als die anderen zu sein, doch ohne Krsnas Gnade ist das nicht
möglich. Wann immer wir also einem besonders intelligenten Men-
schen begegnen, sollten wir verstehen: „Diese Intelligenz ist Krsna."
Ebenso ist Krsna der Einfluß eines einflußreichen Menschen.
„Ich bin die Stārke der Starken, frei von Leidenschaft und Verlangen,
und Ich bin das Geschlechtsleben, das nicht im Widerspruch zu den
religiösen Prinzipien steht, o Herr der Bhāratas." (Bg. 7.11)
Der Elefant und der Gorilla sind sehr starke Tiere, aber auch sie
bekommen ihre Stärke von Krsna. Der Mensch kann solche Stārke
nicht aufgrund eigener Bemühung erlangen; doch wenn Krsna ei-
nem Menschen Seine Gunst schenkt, kann dieser tausendmal stār-
ker werden als ein Elefant. Der große Krieger Bhima, der in der
Schlacht von Kuruksetra kämpfte, soll die Stārke von zehntausend
Elefanten besessen haben. Man sollte auch in Begierde oder Lust
(kāma), die nicht den religiösen Prinzipien widerspricht, Krsna se-
hen. Was ist mit „Lust" gemeint? Lust bedeutet im allgemeinen
Geschlechtsleben, aber hier bezieht sich kāma nur auf Geschlechts-
leben, das nicht gegen die religiösen Prinzipien verstößt, das heißt
36 Auf dem Weg zu Krsna
ihnen; denn Krsna ist transzendental und steht jenseits der drei Er-
scheinungsweisen. Schlechte und böse Dinge entstehen aus Unwis-
senheit, aber wenn sie von Krsna angewandt werden, sind sie in ge-
wisser Hinsicht auch Krsna. Ein Beispiel mag dies veranschaulichen:
Ein Elektrotechniker erzeugt im Kraftwerk Strom. Bei uns zu Hause
erfahren wir diesen Strom als Kālte im Kühlschrank und als Hitze
im Elektroherd, doch im Kraftwerk ist der Strom weder heiß noch
kalt. Die Wirkungsweisen der materiellen Energie mögen für die
Lebewesen verschieden sein, doch für Krsna sind sie es nicht. Des-
halb scheint Krsna manchmal nach den Prinzipien der Leidenschaft
und Unwissenheit zu handeln. Für Krsna aber existiert nichts außer
Krsna, genauso wie für den Elektrotechniker der Strom nur Elektri-
zität ist und nichts anderes; er unterscheidet nicht zwischen „kalter"
und „heißer" Elektrizität.
Alles wird von Krsna hervorgebracht. Dies wird vom Vedānta-
sutra bestätigt: athāto brahma-jijnāsā, janmādy asya yatah. „Alles geht
von der Höchsten Absoluten Wahrheit aus." Was das Lebewesen für
gut oder böse hālt, gilt nur für das bedingte Lebewesen. Da Krsna
jedoch nicht bedingt ist, existiert für Ihn weder gut noch böse. Wäh-
rend wir aufgrund unserer Bedingtheit unter Dualitäten zu leiden
haben, ist für Ihn alles vollkommen.
4. KAPITEL
38
Die Narren und die Weisen 39
Merken wir es nicht, wie wir uns im Griff der materiellen Natur
befinden? Das Wort guna (Erscheinungsweise) bedeutet auch „Seil".
Wenn jemand von drei starken Seilen gefesselt wird, ist er zweifellos
der Freiheit beraubt. Uns fesseln an Händen und Füßen die starken
Seile der Tugend, Leidenschaft und Unwissenheit. Sollen wir des-
halb alle Hoffnung aufgeben? Nein, denn hier verspricht Sri Krsna,
daß jeder, der sich Ihm ergibt, sogleich frei wird. Wenn man auf die
eine oder andere Weise Krsna-bewußt wird, erlangt man Befreiung.
Wir alle haben eine Beziehung zu Krsna, da wir Seine Söhne
sind. Ein Sohn mag mit seinem Vater eine Auseinandersetzung ha-
ben, aber er kann die Beziehung nicht abbrechen. Wenn man ihn im
Laufe seines Lebens fragen wird, wer er sei, muß er antworten: „Ich
bin der Sohn von soundso." Diese Beziehung kann nicht abreißen.
Wir alle sind Söhne Gottes und haben eine ewige Beziehung zu Ihm,
doch wir haben sie vergessen. Krsna ist der Mächtigste, der Berühm-
teste, der Reichste, der Schönste und der Allwissende, und Er ist
voller Entsagung. Wir sind die Freunde einer solch großen Persön-
lichkeit, doch wir haben es vergessen. Wenn der Sohn eines reichen
Mannes seinen Vater vergißt, sein Zuhause verlāßt und nicht mehr
ganz bei Sinnen ist, muß er unter Umstānden auf der Straße schla-
fen oder Geld für sein tägliches Brot erbetteln; aber das alles ist nur
die Folge seines Vergessens. Wenn nun jemand kommt und ihm mit-
teilt, daß er nur deshalb leidet, weil er das Heim seines Vaters ver-
ließ, und daß sein Vater, ein reicher Mann und Eigentümer gewalti-
ger Besitztümer, seine Heimkehr ersehnt, erweist sich diese Person
als wahrer Wohltäter.
In der materiellen Welt erfahren wir ständig drei Arten von Lei-
den: Leiden, die von Körper und Geist, von anderen Lebewesen
oder von Naturkatastrophen herrühren. Im Bann der Illusion, der
drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur, wollen wir diese
Leiden nicht wahrhaben. Doch wir sollten uns immer bewußt sein,
daß wir in der materiellen Welt viele Leiden ertragen müssen. Wer
ein genügend entwickeltes Bewußtsein besitzt und intelligent ist,
fragt nach der Ursache seines Leidens. „Ich will kein Leid. Warum
leide ich dann?" Wenn diese Frage in uns auftaucht, besteht die Ge-
legenheit, Krsna-bewußt zu werden.
Sobald wir uns Krsna ergeben, heißt Er uns herzlich willkommen.
Die Narren und die Weisen 41
Es ist so, als käme ein verlorenes Kind zu seinem Vater zurück und
sagte: „Mein lieber Vater, aus einem Mißverständnis heraus verließ
ich deinen Schutz und habe gelitten. Nun kehre ich zu dir zurück."
Der Vater umarmt seinen Sohn und erwidert voller Güte: „Mein lie-
ber Junge, komm zu mir! Ich sehnte mich so nach dir all die Tage,
die du fort warst, und jetzt bin ich überglücklich, daß du zurückge-
kommen bist." In der gleichen Lage befinden wir uns: Wir müssen
uns Krsna ergeben, und das ist nicht sehr schwierig. Fāllt es dem
Sohn schwer, sich dem Vater zu fügen? Es ist ganz natürlich, und der
Vater wartet stets darauf, seinen Sohn zu empfangen. Wie könnte er
beleidigt sein und ihn zurückweisen? Wenn wir uns vor unserem
Höchsten Vater verneigen und Seine Füße berühren, ist das nicht zu
unserem Schaden; es ist auch nicht schwierig. Vielmehr ist es glor-
reich für uns. Warum sollten wir es nicht tun? Indem wir uns Krsna
ergeben, gelangen wir augenblicklich unter Seinen Schutz und wer-
den von allen Leiden befreit. Dies wird von sämtlichen Schriften be-
stätigt. Am Ende der Bhagavad-gitā sagt Sri Krsna:
sarva-dharmān parityajya
mām ekam saranam vraja
aham tvām sarva-pāpebhyo
moksayisyāmi mā sucah
„Gib alle Arten von Religion auf und ergib dich einfach Mir! Ich
werde dich von allen sündhaften Reaktionen befreien. Fürchte dich
nicht!" (Bg. 18.66)
Wenn wir uns Gott zu Füßen werfen, beschützt Er uns. Von da
an brauchen wir nichts mehr zu befürchten. Solange die Kinder
unter der Obhut der Eltern stehen, haben sie keine Angst, weil sie
wissen, daß die Eltern ihnen Schutz gewāhren. Mām eva ye prapa-
dyante: Krsna verspricht, daß diejenigen, die sich Ihm ergeben, kei-
nen Grund zur Furcht haben.
Warum gehorchen aber die Menschen Krsna nicht, wenn es so
einfach ist, sich Ihm hinzugeben? Statt dessen stellen viele sogar
die Existenz Gottes an sich in Frage und behaupten, daß Natur
und Wissenschaft alles seien und daß es keinen Gott gebe. Der so-
genannte wissenschaftliche Fortschritt der Zivilisation bedeutet nur,
daß die Menschheit immer verrückter wird. Ihre Krankheit wird
42 Auf dem Weg zu Krsna
wir sind. Wir wollen nicht leiden; daher sollten wir herausfinden,
warum uns Leid aufgezwungen wird. Mit unserem sogenannten
Wissen waren wir nur in der Herstellung von Atombomben er-
folgreich - das heißt in der Beschleunigung des Vernichtungspro-
zesses. Wir sind stolz, da wir dies für einen Fortschritt an Wissen
halten; aber wirklicher Fortschritt würde bedeuten, etwas herzustel-
len, was den Tod aufzuhalten vermag. Obwohl der Tod bereits in
der materiellen Natur existiert, wollen wir ihn noch beschleunigen,
indem wir uns eifrig bemühen, alle Menschen auf einen Schlag tö-
ten zu können. Dies nennt man māyayāpahrta-jnāna, Wissen, das der
Illusion zum Opfer gefallen ist.
Die asuras - die Dāmonen und erklärten Atheisten - fordern Gott
offen heraus. Aber wenn es unseren Höchsten Vater nicht gäbe,
würden wir das Licht der Welt nicht erblicken. Wie kommen wir
also dazu, Ihn in Frage zu stellen? In den Veden heißt es, daß
es zwei Klassen von Menschen gibt: die devas und die asuras, die
Halbgötter und die Dāmonen. Die Geweihten des Höchsten Herrn
werden devas genannt, weil sie ein göttliches Wesen haben, wohin-
gegen man diejenigen, die der Autorität des Höchsten trotzen, asuras
oder Dāmonen nennt. Diese zwei Klassen findet man immer in der
menschlichen Gesellschaft.
So wie es vier Arten gottloser Menschen gibt, die sich Krsna nie
ergeben, gibt es vier Arten vom Glück begünstigter Menschen, die
Ihn verehren; diese werden im nächsten Vers beschrieben:
catur-vidhā bhajante mām
janāh sukrtino 'rjuna
ārto jijnāsur arthārthi
jnāni ca bharatarsabha
„O Bester unter den Bhāratas [Arjuna], vier Arten frommer Men-
schen beginnen Mir in Hingabe zu dienen - der Notleidende, der-
jenige, der Reichtum begehrt, der Neugierige und derjenige, der
nach Wissen vom Absoluten strebt." (Bg. 7.16)
Die materielle Welt ist voller Elend, und Fromme wie Gottlose
sind ihm gleichermaßen ausgesetzt. Die Kālte des Winters behandelt
jeden gleich und kümmert sich nicht darum, ob einer fromm oder
46 Auf dem Weg zu Krsna
gottlos, reich oder arm ist. Der Unterschied zwischen dem Frommen
und dem Gottlosen besteht jedoch darin, daß der Fromme an Gott
denkt, wenn er in Not gerāt. Häufig kommt es vor, daß ein Mensch,
der leidet, in die Kirche geht und betet: „O mein Herr, ich bin in Not.
Bitte, hilf mir!" Obwohl ein solcher Mensch um materielle Hilfe bit-
tet, ist er immer noch als fromm anzusehen, weil er sich in seiner
Not an Gott gewandt hat. Dasselbe gilt für einen Armen, der in die
Kirche geht und betet: „Mein lieber Herr, bitte gib mir Geld!" Die
Neugierigen sind für gewöhnlich intelligent und wollen den Dingen
auf den Grund gehen. „Was ist Gott?" fragen sie und betreiben
dann wissenschaftliche Forschungen, um es herauszufinden. Auch
sie gelten als fromm, da ihre Nachforschungen das richtige Ziel ver-
folgen. Der Mensch, der nach Wissen strebt, wird jnāni genannt: je-
mand, der seine wesensgemäße Stellung erkannt hat. Ein jnāni mag
eine unpersönliche Vorstellung von Gott haben; aber weil er beim
Höchsten, der Absoluten Wahrheit, Zuflucht sucht, ist auch er als
fromm anzusehen. Diese vier Arten von Menschen bezeichnet man
als sukrtl oder fromm, weil sie sich alle Gott zuwenden.
tesām jnāni nitya-yukta
eka-bhaktir visisyate
priyo hi jnānino 'tyartham
aham sa ca mama priyah
„Von diesen ist derjenige, der im vollen Wissen verankert ist und
sich immer im reinen hingebungsvollen Dienst beschäftigt, der be-
ste. Denn Ich bin ihm sehr lieb, und er ist Mir lieb." (Bg. 7.17)
Wer versucht, auf philosophische Weise das Wesen Gottes zu er-
gründen, und sich bemüht, Krsna-bewußt zu werden (visisyate), ist
von den vier Arten von Menschen, die sich Gott nāhern, am weite-
sten fortgeschritten. Krsna betont, daß ein solcher Mensch Ihm sehr
lieb ist, weil er kein anderes Anliegen hat, als Gott zu verstehen.
Diejenigen, die zu den anderen drei Arten gehören, sind niedriger
einzustufen. Niemand braucht zu Gott zu beten, um Ihn um etwas
zu bitten. Wer das macht, ist töricht, denn er weiß nicht, daß der all-
wissende Gott in seinem Herzen weilt und Sich sehr wohl bewußt
ist, wann er leidet oder Geld braucht. Der Weise erkennt dies und
Die Narren und die Weisen 47
einen denken sich irgendeine Form Gottes aus, und die anderen
verneinen sie. Diejenigen, die sich eine Form ausdenken, werden
manchmal zu Bilderstürmern. Wāhrend der Auseinandersetzungen
zwischen Hindus und Moslems in Indien brachen einige Hindus in
die Moscheen ein und zerstörten die Heiligtümer; die Moslems ver-
galten Gleiches mit Gleichem. Und so glaubten sie: „Wir haben den
Hindu-Gott getötet", wāhrend die Hindus glaubten: „Wir haben
den Moslem-Gott getötet." Zur Zeit von Gandhis Widerstandsbewe-
gung gingen viele Inder auf die Straße, demolierten die Briefkāsten
und dachten, sie würden den Postdienst der Regierung lahmlegen.
Leute mit einer solchen Mentalität sind keine jnānis. Die Religions-
kriege zwischen Hindus und Moslems, Christen und Nicht-Christen
wurden alle auf der Grundlage von Unwissenheit geführt. Wer Wis-
sen besitzt, weiß, daß Gott einer ist: Er ist nicht Moslem, Hindu oder
Christ.
In unserer Vorstellung schaffen wir uns verschiedenste Bilder von
Gott, aber das sind alles nur Einbildungen. Der Weise versteht die
transzendentale Natur Gottes. Jemand, der weiß, daß Gott von den
materiellen Erscheinungsweisen nie berührt wird, kennt Gott wahr-
haftig. Gott ist immer bei uns - in unserem Herzen. Auch wenn wir
den Körper verlassen, begleitet uns Gott; und wenn wir einen ande-
ren Körper annehmen, folgt Er uns dorthin, um zu sehen, was wir
tun. Wann werden wir uns Ihm zuwenden? Er wartet immerfort.
Sobald wir uns Gott zuwenden, sagt Er: „Mein lieber Sohn, komm!
Sa ca mama priyah - du bist Mir ewig lieb. Nun wendest du dein An-
gesicht Mir wieder zu, und Ich bin sehr froh."
Der Weise, der jnāni, versteht die Wissenschaft von Gott in Wahr-
heit. Wer nur zur Einsicht gelangt: „Gott ist gut", befindet sich auf
einer Vorstufe; weiter fortgeschritten ist, wer wirklich erkennt, wie
groß und gut Gott ist. Dieses Wissen ist im Srimad-Bhāgavatam und
in der Bhagavad-gitā zu finden. Wer tatsāchlich an Gott interessiert
ist, sollte die Wissenschaft von Gott, die Bhagavad-gitā, studieren.
idam tu te guhyatamam
pravaksyāmy anasūyave
jnānam vijnāna-sahitam
yaj jnātvā moksyase 'subhāt
Die Narren und die Weisen 49
50
Die Kraft des Wunsches 51
Schüler ein und gab ihm den mantra: om namo bhagavate vāsudevā-
ya. Als Dhruva diesen mantra chantete, erreichte er die Vollkommen-
heit, und Gott erschien vor ihm: „Mein lieber Dhruva, was wünschst
du? Du kannst von Mir haben, was immer du möchtest." „Mein
lieber Herr", erwiderte der Junge, „ich nahm schwere Entsagungen
auf mich, nur um das Königreich und das Land meines Vaters zu
erlangen, doch jetzt darf ich Dich sehen! Wie habe ich das verdient?
Selbst den großen Weisen und Heiligen ist es nicht möglich, Dich zu
sehen. Ich habe mein Heim verlassen, um lediglich nach Glasscher-
ben und Abfall zu suchen; statt dessen aber fand ich den kostbar-
sten Diamanten. Nun bin ich zufrieden und brauche Dich um nichts
mehr zu bitten."
Wer sich also aus Armut oder Leid mit der gleichen Unerschütter-
lichkeit wie Dhruva Gott zuwendet und fest entschlossen ist, Gott
zu sehen und Seine Segnungen zu empfangen, wird nichts Mate-
rielles mehr begehren, sobald er tatsāchlich Gott von Angesicht zu
Angesicht erblickt. Er erkennt die Torheit materiellen Besitzstrebens
und wendet sich von der Illusion ab und der Wirklichkeit zu. Wenn
man wie Dhruva Mahārāja im Krsna-Bewußtsein verankert ist, wird
man völlig zufrieden und begehrt nichts mehr.
Der jnāni, der Weise, hat erkannt, daß materielle Dinge von unbe-
ständigem Wesen sind. Er weiß, daß materielles Gewinnstreben aus
drei Gründen problematisch ist: Man will Profit aus seiner Arbeit
ziehen und für seinen Reichtum Bewunderung und Ruhm ernten.
Der Weise ist sich immer darüber im klaren, daß all dies sich nur auf
den Körper bezieht und vergeht, wenn der Körper vergeht. Wenn
der Körper stirbt, ist man nicht mehr ein reicher Mann, sondern eine
spirituelle Seele, und man muß seiner Handlungsweise gemäß in
einen anderen Körper eingehen. Die Gitā sagt, daß ein besonnener
Mensch dadurch nicht verwirrt wird, denn er sieht alles im richtigen
Licht. Warum sollte er sich dann um materiellen Wohlstand bemü-
hen? Seine Einstellung lautet: „Ich habe eine ewige Verbindung mit
Krsna, dem Höchsten Herrn. Nun will ich diese Beziehung so sehr
vertiefen, daß Krsna mich zurück in Sein Königreich holt."
Die Schöpfung bietet uns alles, was erforderlich ist, um unsere Be-
ziehung zu Krsna wiederzuerwecken und zu Ihm zurückzukehren.
Die Kraft des Wunsches 53
Das sollte unsere Lebensaufgabe sein. Gott sorgt für alles, was wir
brauchen: Land, Getreide, Früchte, Milch, Unterkunft und Kleidung.
Wir müssen nur ein friedfertiges Leben führen und Krsna-Bewußt-
sein kultivieren. Das sollten wir zum Ziel unseres Lebens machen.
Gott gewāhrt uns Nahrung, Unterkunft, Schutz und Geschlechts-
leben. Wir sollten damit zufrieden sein und nicht immer mehr be-
gehren. Die beste Zivilisation ist die, die der Maxime folgt: „Einfach
leben und erhaben denken." Es ist nicht möglich, Essen oder Ge-
schlechtsverkehr in einer Fabrik herzustellen. Das und alles, was wir
sonst noch brauchen, wird von Gott zur Verfügung gestellt. Unsere
Aufgabe ist es, diese Dinge zu nutzen und gottesbewußt zu werden.
Obwohl Gott uns alle Möglichkeiten gab, in Frieden auf Erden
zu leben, Krsna-Bewußtsein zu kultivieren und schließlich zu Ihm
zurückzukehren, sind wir im gegenwärtigen Zeitalter unglückselig.
Die Lebenszeit der Menschen ist kurz, und unzählige Menschen
haben nichts zu essen, kein Obdach und kein Eheleben oder kön-
nen sich nicht gegen die Unbilden der Natur verteidigen. Das ist
auf den Einfluß des Kali-Zeitalters zurückzuführen. Angesichts der
furchtbaren Situation in diesem Zeitalter betonte Sri Caitanya Mahā-
prabhu die absolute Notwendigkeit, ein spirituelles Leben zu füh-
ren. Und wie können wir das tun? Sri Caitanya Mahāprabhu gibt
uns die Formel:
harer nāma harer nāma
harer nāmaiva kevalam
kalau nāsty eva nāsty eva
nāsty eva gatir anyathā
„Chante immer Hare Krsna!" Ob du in einer Fabrik oder in der
Hölle bist, in einer Hütte oder einem Wolkenkratzer - das spielt
keine Rolle. Chante immer: Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna,
Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Es
kostet nichts; kein Glaube, keine Kaste, keine Hautfarbe stellen ein
Hindernis dar: jeder kann es tun. Chante nur und höre!
Wer auf die eine oder andere Weise mit dem Krsna-Bewußtsein
in Berührung kommt und diesem Vorgang unter der Führung eines
echten Lehrers folgt, wird mit Gewißheit zu Gott zurückkehren.
54 Auf dem Weg zu Krsna
ist derjenige, der sich direkt in der Sonne befindet. Die Sonnenstrah-
len kann man mit der alldurchdringenden brahmajyoti;-Ausstrahlung
vergleichen, die örtlich manifestierte Sonne mit der lokalisierten
Überseele und den Sonnengott, der in der Sonne residiert, mit der
Persönlichkeit Gottes. So wie wir auf der Erde eine große Vielfalt
von Lebewesen vorfinden, gibt es in der Sonne, wie aus den vedi-
schen Schriften hervorgeht, ebenfalls eine Vielzahl von Lebewesen;
ihre Körper sind allerdings aus Feuer gemacht, so wie die unsrigen
aus Erde.
In der materiellen Natur unterscheidet man fünf grobstoffliche
Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum. Auf verschiedenen
Planeten findet man unterschiedliche Atmosphären vor, da jeweils
eines dieser fünf Elemente vorherrscht. Die Lebewesen auf ver-
schiedenen Planeten besitzen Körper, die jeweils aus dem dort vor-
herrschenden Element bestehen. Wir sollten nicht denken, daß alle
Planeten dieselben Lebensbedingungen aufweisen; sie gleichen sich
jedoch darin, daß sie in der einen oder anderen Form aus diesen
fünf Elementen bestehen. Auf einigen Planeten überwiegt Erde, auf
anderen Feuer, Wasser, Luft oder Raum. Aus diesem Grund soll-
ten wir nicht glauben, daß es auf einem Planeten kein Leben gebe,
nur weil er nicht vorwiegend aus Erde besteht oder seine Atmo-
sphäre nicht der auf unserem Planeten entspricht. Aus den vedi-
schen Schriften erfahren wir, daß es unzählige Planeten gibt, die von
Lebewesen verschiedener Körperformen bewohnt werden. So wie
wir uns durch materielle Bemühungen qualifizieren können, zu ver-
schiedenen materiellen Planeten zu gelangen, können wir aufgrund
von Qualifikation den spirituellen Planeten erreichen, auf dem der
Höchste Herr residiert.
yānti deva-vratā devān
pitrn yānti pitr-vratāh
bhütāni yānti bhūtejyā
yānti mad-yājino 'pi mām
„Wer die Halbgötter verehrt, wird unter den Halbgöttern geboren;
wer die Vorfahren verehrt, geht zu den Vorfahren; wer die Geister
und Gespenster verehrt, wird unter solchen Wesen geboren, und
wer Mich verehrt, wird mit Mir leben." (Bg. 9.25)
56 Auf dem Weg zu Krsna
cintāmani-prakara-sadmasu kalpa-vrksa-
laksāvrtesu surabhir abhipālayantam
laksmi-sahasra-sata-sambhrama-sevyamānam
govindam ādi-purusam tarn aham bhajāmi
„Ich bin der Ursprung aller spirituellen und materiellen Welten. Al-
les geht von Mir aus. Die Weisen, die dies vollkommen verstanden
haben, beschäftigen sich in Meinem hingebungsvollen Dienst und
verehren Mich von ganzem Herzen." (Bg. 10.8)
Auch das Vedānta-sütra bestätigt, daß die Absolute Wahrheit der-
jenige ist, von dem alles kommt. Wenn wir davon überzeugt sind,
daß Krsna die Quelle von allem ist, und Ihn verehren, überwinden
wir unser weltliches Dasein innerhalb einer Sekunde. Wer jedoch
keinen Glauben hat und sagt: „Ich will aber mit eigenen Augen se-
hen, wer Gott ist", muß von Stufe zu Stufe gehen, indem er erst die
unpersönliche Brahman-Ausstrahlung verwirklicht und dann den
Paramātmā, den lokalisierten Aspekt, bis er schließlich auf die höch-
ste Stufe gelangt, wo er die Höchste Persönlichkeit Gottes erkennt.
Man sollte sich aber bewußt sein, daß dieser Weg zeitraubender ist.
Wenn man nach vielen Jahren des Forschens die Absolute Wahrheit
erkennt, kommt man zu dem Schluß: vāsudevah sarvam iti. „Vāsu-
deva ist alles, was es gibt." Vāsudeva ist ein Name Krsnas, der be-
deutet: derjenige, der überall lebt. Angesichts der Erkenntnis, daß
Vāsudeva die Wurzel von allem ist, ergibt man sich Ihm (mām pra-
padyate). Diese Hingabe ist das endgültige Ziel; entweder gibt man
sich sogleich hin oder erst nach vielen Leben der philosophischen
Bemühung. In beiden Fällen muß man sich ergeben und erkennen:
„Gott ist groß, und ich bin Ihm untergeordnet."
Da der Weise dies versteht, ergibt er sich augenblicklich und
wartet nicht erst darauf, unzählige Male wiedergeboren zu werden.
58 Auf dem Weg zu Krsna
Ihm ist bewußt, daß der Höchste Herr dieses Wissen aus Seiner
grenzenlosen Barmherzigkeit mit den bedingten Seelen offenbart.
Wir alle sind bedingte Seelen, die die dreifachen Leiden der mate-
riellen Welt zu erdulden haben. Jetzt bietet uns der Höchste Herr die
Gelegenheit, diesen Leiden durch den Vorgang der Hingabe zu ent-
fliehen.
Wenn der Herr, die Höchste Persönlichkeit, das endgültige Ziel
ist und man sich Ihm ergeben muß, stellt sich die Frage, warum es
auf der Welt so viele verschiedene Arten der Verehrung gibt. Diese
Frage wird im nächsten Vers beantwortet:
kāmais tais tair hrta-jnānāh
prapadyante 'nya-devatāh
tam tam niyamam āsthāya
prakrtyā niyatāh svayā
„Diejenigen, deren Intelligenz von materiellen Wünschen gestohlen
ist, ergeben sich Halbgöttern und folgen, jeder seiner eigenen Natur
entsprechend, bestimmten Regeln und Vorschriften der Verehrung."
(Bg. 7.20)
Es gibt auf der Welt viele verschiedene Arten von Menschen, die
alle unter dem Einfluß verschiedener Erscheinungsweisen der mate-
riellen Natur handeln. Im allgemeinen streben die Menschen nicht
nach Befreiung. Wenn sie sich für Spiritualität interessieren, dann
nur, weil sie sich aus geistigen Kräften irgendwelche Gewinne er-
hoffen. In Indien ist es nichts Ungewöhnliches, daß jemand zu ei-
nem svāmi geht und ihn bittet: „Svāmlji, könntest du mir nicht etwas
Medizin geben? Ich bin krank." Er denkt, weil der Arzt zu teuer ist,
wende er sich besser an einen svāmi, der Wunder wirken kann. In
Indien besuchen manche svāmis auch die Hāuser der Leute und pre-
digen: „Wenn du mir eine Unze Gold gibst, mache ich dir daraus
einhundert Unzen Gold." Und die Leute denken dann: „Ich habe
fünf Unzen Gold; ich werde sie ihm geben und fünfhundert Unzen
dafür bekommen." Mit diesem Trick sammelt der svāmi alles Gold
im Dorf ein und verschwindet. Das ist unsere Krankheit: Wenn wir
zu einem svāmi, in einen Tempel oder in eine Kirche gehen, ist unser
Herz voller materieller Wünsche. Wir wollen aus dem spirituellen
Die Kraft des Wunsches 59
Katze oder einen Hund liebt. Warum? - Weil jeder etwas lieben will
und muß. Deshalb schenken die Menschen unter dem Einfluß der
Illusion Katzen und Hunden ihr Vertrauen und ihre Liebe. Die Liebe
gibt es immer, sie wird aber in der materiellen Welt zur Lust ver-
zerrt. Wenn diese Lust unbefriedigt bleibt, werden wir zornig; wenn
wir zornig werden, verfallen wir der Illusion, und wenn wir der Il-
lusion verfallen sind, sind wir verloren. Diesen Ablauf müssen wir
umkehren und Lust zu Liebe wandeln. Lieben wir Gott, so lieben
wir alles. Lieben wir Gott hingegen nicht, können wir nichts lieben.
Wir mögen es für Liebe halten, aber es ist lediglich eine idealisierte
Form von Lust. Diejenigen, die zu Hunden der Lust geworden sind,
haben - so heißt es - allen Verstand verloren: kāmais tais tair hrta-
jnānāh.
In den Schriften finden sich viele Regeln und Vorschriften für die
Verehrung der Halbgötter. Warum aber empfiehlt die vedische Lite-
ratur diese Art von Verehrung? - Weil die Notwendigkeit dazu be-
steht. Auch durch Lust motivierte Menschen suchen nach der Mög-
lichkeit, etwas zu lieben. Da die Halbgötter als die Bevollmächtigten
des Höchsten Herrn anerkannt sind, kann man durch ihre Ver-
ehrung allmählich auch sein Krsna-Bewußtsein entwickeln. Darin
besteht der Sinn der Halbgottverehrung. Aber welche Hoffnung be-
steht für jemanden, der durch und durch atheistisch ist und unge-
horsam und rebellisch gegenüber jedweder Autorität? Mit anderen
Worten, die Verehrung der Halbgötter ist ein guter Anfang, um Ge-
horsam gegenüber einer höherstehenden Persönlichkeit zu erlernen.
Wenn wir uns jedoch unmittelbar der Verehrung des Höchsten
Herrn zuwenden, besteht für uns keine Notwendigkeit, die Halb-
götter zu verehren. Wer den Höchsten Herrn direkt verehrt, hat
großen Respekt vor den Halbgöttern; er braucht sie jedoch nicht zu
verehren, weil er weiß, daß er die höchste Autorität über den Halb-
göttern verehrt, die Höchste Persönlichkeit Gottes. Ein Gottgeweih-
ter ist ohnehin immer respektvoll; er achtet selbst eine Ameise, ganz
zu schweigen von den Halbgöttern. Er ist sich bewußt, daß alle Le-
bewesen Bestandteile des Höchsten Herrn sind und nur verschie-
dene Rollen spielen.
Aufgrund ihrer Beziehung zum Höchsten Herrn muß man allen
Die Kraft des Wunsches 61
Fatale Folgen
Ajāmila war der Sohn eines brāhmana und folgte strikt den regulie-
renden Prinzipien - kein Essen von Fleisch, kein unzulässiges Ge-
schlechtsleben, keine Berauschung und kein Glücksspiel. Dennoch
verliebte er sich in eine Prostituierte und verlor dadurch all seine
guten Eigenschaften. Sobald jemand die regulierenden Prinzipien
aufgibt, begeht er vielerlei sündhafte Handlungen. Die regulieren-
den Prinzipien dienen dazu, uns auf der Ebene des menschlichen
Lebens zu halten. Wenn wir sie jedoch aufgeben, verfallen wir dem
Leben der Illusion (māyā).
Wenn wir im spirituellen Leben vorankommen wollen, müssen
wir den regulierenden Prinzipien folgen und unsere Fehler aus den
vorangegangenen Leben und dem jetzigen Leben berichtigen. Nur
wer von allen sündhaften Reaktionen frei ist und fromme Tätig-
keiten verrichtet, ist in der Lage, Gott vollkommen zu verstehen.
Menschen, die ein sündhaftes Leben führen und übermäßig großen
Wert auf körperliches Wohlergehen, gesellschaftliches Ansehen und
auf weltliche Freundschaften und Familienbeziehungen legen, kön-
nen keine spirituelle Selbstverwirklichung erreichen.
66
Ajamilas Erfahrung in Todesnähe 67
Unzulässiger Umgang mit Frauen hat zur Folge, daß man alle
brahmanischen Eigenschaften verliert. Ajāmila gab alle regulieren-
den Prinzipien auf, weil er mit einer Prostituierten zusammen war.
Er wurde ein Betrüger und Dieb. Aber wer unehrenhaft handelt,
wird bestraft. Er kann vielleicht dem Gesetz des Königs oder des
Staates entkommen, doch nie dem Gesetz Gottes. Der Materialist
denkt: „Ich betrüge Gott und brauche vor keiner Schandtat zurück-
zuschrecken, wenn es um meine Sinnenfreuden geht." Aber die
sāstras (Schriften) sagen aus, daß sich solche Menschen letztlich um
ihr eigenes Glück betrügen, denn sie werden wiederum einen mate-
riellen Körper annehmen und entsprechend leiden müssen.
Von jemandem, der in einer brāhmana-Familie geboren wurde,
wird erwartet, daß er wahrheitsliebend und selbstbeherrscht ist,
vollkommen mit dem Wissen über spirituelles Leben und dessen
praktischer Anwendung vertraut ist und fest an die Aussagen der
sāstras glaubt.
Wer den sāstras nicht folgt, erniedrigt sich. Die großen Weisen
und rsis auf der ganzen Welt haben uns ihre Unterweisungen hin-
terlassen, und ihre Worte sind in den sāstras aufgezeichnet. Doch
Schurken und Dummköpfe legen die Schriften falsch aus und füh-
ren die Menschen in die Irre. So wird gegenwärtig die Bhagavad-gitā
auf unterschiedlichste Art und Weise interpretiert, und das unschul-
dige Volk akzeptiert diese Interpretationen als autorisiertes Wissen.
Ein Kommentator behauptet beispielsweise, das Schlachtfeld von
Kuruksetra beziehe sich auf den materiellen Körper und die fünf
Pāndava-Brüder seien in Wirklichkeit die fünf Sinne des materiellen
Körpers. Das aber ist kein korrektes Verständnis. Wie kann jemand
die Bhagavad-gitā erklären, wenn er sie nicht versteht? Solch ein Ver-
such ist unsinnig.
Um die echte Wissenschaft von Gott zu verstehen, muß man
sich an einen echten spirituellen Meister wenden und die Bhagavad-
gitā von ihm hören. Wir müssen den großen Persönlichkeiten, den
vorangegangenen ācāryas (spirituellen Meistern), folgen. Das wird
zu unserem Vorteil sein. Wir sollten nicht spekulieren und unsere
eigenen Behauptungen aufstellen, sondern die Anweisungen ak-
zeptieren, die von den großen ācāryas gegeben werden. Darin be-
steht das vedische System. Man muß einen echten spirituellen Mei-
68 Im Angesicht des Todes
Imitation
der Wirklichkeit
Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Mein lieber König, so vergingen acht-
undachtzig Jahre von Ajāmilas Leben. Wāhrend dieser Zeit beging
er viele abscheuliche, sündhafte Handlungen, um die Prostituierte
und seine zehn Söhne zu unterhalten. Der jüngste Sohn war ein
kleines Kind namens Nārāyana, das seinem Vater und seiner Mut-
ter natürlicherweise sehr lieb war. (Srimad-Bhāgavatam 6.1.23-24)
Elterliche Zuneigung
Ajāmilas Sündhaftigkeit zeigt sich darin, daß er noch mit achtund-
achtzig Jahren ein kleines Kind hatte. In der vedischen Kultur war es
Brauch, mit fünfzig Jahren sein Heim zu verlassen. Man sollte nicht
zu Hause bleiben und fortfahren, Kinder zu zeugen. Geschlechts-
verkehr ist fünfundzwanzig Jahre lang - zwischen dem fünfund-
zwanzigsten und fünfzigsten Lebensjahr - erlaubt. Danach sollte
man das Geschlechtsleben aufgeben und sein Heim als vānaprastha
verlassen, um später auf die richtige Weise sannyāsa anzunehmen.
Weil Ajāmila jedoch mit einer Prostituierten Umgang hatte, verlor er
all seine brahmanischen Eigenschaften und war selbst in seinem so-
genannten Familienleben der Sünde verfallen.
Ajāmila war ein junger Mann von zwanzig Jahren, als er der
Prostituierten begegnete. Im Laufe der Zeit wurden ihnen zehn
Kinder geboren. Im Alter von fast neunzig Jahren nahte seine To-
desstunde. Da zu dieser Zeit die meisten seiner Kinder bereits er-
wachsen waren, wurde Nārāyana als das jüngste Kind natürlich der
Liebling der Eltern, und Ajāmila hing sehr an ihm.
72
Ajamilas Erfahrung in Todesnähe 73
Das Lächeln eines Kindes wirkt auf den Vater, die Mutter und die
Verwandten sofort anziehend. Die Eltern haben große Freude daran,
wenn das Kind seine ersten Sprechversuche macht. Bestünde diese
Anziehung nicht, wäre es nicht möglich, ein Kind mit Zuneigung
großzuziehen. Elterliche Zuneigung ist selbst unter Tieren natürlich.
In Kanpura kam einmal eine Äffin mit ihrem Jungen in die Nähe
des Zimmers, in dem wir uns aufhielten. Auf einmal schlüpfte das
Affenjunge durch das Fenstergitter, worauf die Mutter völlig aus
der Fassung geriet und vor Angst fast verrückt wurde. Als wir das
Äffchen wieder durch das Gitter schoben, umarmte die Mutter ihr
Junges sogleich und nahm es mit sich fort.
In der menschlichen Gesellschaft wird die Zuneigung zwischen
Mutter und Kind sehr hoch gepriesen, aber wie wir sehen, gibt es
diese Beziehung auch unter den Tieren. Menschliche Mutterliebe ist
also nichts Außergewöhnliches; sie beruht auf dem Gesetz der ma-
teriellen Natur. Wāren Mutter und Kind nicht in Zuneigung ver-
bunden, könnte das Kind nicht aufwachsen. Elterliche Zuneigung
ist natürlich und notwendig, aber sie erhebt uns nicht auf die spiri-
tuelle Ebene.
Der Charakter Ajāmilas war verabscheuenswert, doch selbst ein
Wüstling wie er war sehr liebevoll gegenüber seinem jüngsten Kind.
Obgleich Ajāmila fast neunzig Jahre alt war, fand er immer noch Ge-
fallen an den Spielen seines Kindes, genauso wie Mahārāja Nanda
und Mutter Yasodā sich über Krsnas Kindheitsspiele freuten.
Vielfalt, die wir hier in der materiellen Welt sehen, nichts anderes
als eine Widerspiegelung der Vielfalt in der spirituellen Welt. Wie
könnte es in unserer Welt Vielfalt geben, wenn die Absolute Wahr-
heit nicht voller Vielfalt wäre? Nein, die Absolute Wahrheit ist we-
der unpersönlich (nirākāra) noch ohne Vielfalt (nirvisesa).
Es gibt jedoch Menschen, Māyāvādis genannt, die aufgrund der
unvollkommenen Vielfalt der materiellen Welt so enttāuscht und
frustriert sind, daß sie sich die spirituelle Welt unpersönlich und
ohne Vielfalt vorstellen. Diese Unpersönlichkeitsanhänger erken-
nen, daß sie Brahman, spirituelle Energie, sind, aber sie wissen nicht,
daß es im brahmajyoti, der spirituellen Welt, unzählige Planeten gibt.
Sie denken, das brahmajyoti an sich sei schon alles. Die Unpersönlich-
keitsanhänger haben kein Wissen über die Vaikuntha-Planeten und
kehren daher - aufgrund ihres unvollkommenen Wissens - wieder
zu den materiellen Planeten zurück. Im Srimad-Bhāgavatam (10.2.32)
heißt es:
„Wenn Ich in der materiellen Welt erscheine, nehme Ich keinen ma-
teriellen Körper an. Meine Geburt und Meine Taten sind völlig spi-
rituell. Jeder, der dies vollkommen versteht, erlangt Befreiung."
Krsna spielte vor Mutter Yasodā auf vollkommene Weise die Rolle
eines Kindes. Manchmal, wenn sie Ihm keine Butter gab, zerbrach
Er alle Krüge - als ob Er Butter bräuchte! So kann Sich Gott wie ein
gewöhnlicher Mensch verhalten, aber Er bleibt dennoch die Höchste
Persönlichkeit Gottes.
Unpersönlichkeitsanhänger können Gott nicht verstehen, denn sie
sehen Ihn als einen gewöhnlichen Menschen an. Das ist Schurkerei,
wie Krsna in der Bhagavad-gitā (9.11) erklārt: avajānanti mām mūdhāh.
„Nur Schurken betrachten Mich als einen gewöhnlichen Menschen."
Die Māyāvādis sagen: „Krsna ist ein Menschenkind. Wie kann Er
Gott sein?" Selbst Brahma und Indra waren verwirrt und dachten:
„Wie kann dieser Knabe der Höchste Herr sein? Ich will Ihn auf die
Probe stellen."
Manchmal erklärt eine vermeintliche Inkarnation Gottes: „Ich bin
Gott." Wenn jemand dies behauptet, sollte man prüfen, ob er wirk-
lich Gott ist oder nicht. Die Māyāvādis erheben den Anspruch: „Ich
bin Gott. Ich bin Krsna. Ich bin Rāma." Heutzutage gibt es so viele
„Krsnas" und „Rāmas", doch niemand stellt sich ihren Behaup-
tungen entgegen: „Wenn du Rāma bist, zeige deine höchste Macht!
76 Im Angesicht des Todes
Rāma baute eine Brücke über den Indischen Ozean. Was hast du ge-
tan? Im Alter von sieben Jahren hob Krsna den Govardhana-Hügel
empor. Und was hast du getan?" Wenn diese Schurken mit Krsnas
Spielen konfrontiert werden, entgegnen sie: „Das ist doch alles er-
funden, das ist alles Legende." So kommt es, daß gewöhnliche Men-
schen als Rāma oder Krsna anerkannt werden. Solcher Unsinn ist
heute an der Tagesordnung, und sowohl diejenigen, die behaupten,
Gott zu sein, als auch diejenigen, die sie als Gott anerkennen, wer-
den dafür büßen müssen. Jeder kann behaupten, Gott zu sein, und
jeder Narr kann es glauben; aber einem falschen Gott zu dienen
wird niemandem nützen.
Einst dachte Brahma, daß Krsna möglicherweise auch ein solcher
falscher Gott sein könnte. Er sah, wie im indischen Vrndavana ein
Junge, der außergewöhnliche Taten vollbrachte, für den Höchsten
Herrn gehalten wurde. So entschied sich Brahma, Krsna auf die
Probe zu stellen, indem er Ihm alle Kühe und Spielkameraden stahl
und sie versteckte. Als Brahma nach einem Jahr nach Vrndavana
zurückkehrte und dort immer noch die gleichen Kälber und Jungen
vorfand, erkannte er, daß Krsna Sich durch Seine unbegrenzten Fā-
higkeiten in all diese Kühe und Spielkameraden erweitert hatte.
Selbst den Müttern der Jungen war es verborgen geblieben, daß ihre
Söhne Erweiterungen Krsnas waren; gleichzeitig konnten sie sich
aber nicht erklären, warum ihre Liebe zu ihren Söhnen mit jedem
Abend, wo diese von den Feldern zurückkehrten, mehr und mehr
anwuchs. Schließlich ergab sich Brahma dem Herrn, Sri Krsna, und
verfaßte erlesene Gebete zu Seiner Verherrlichung.
Auf ähnliche Weise geriet Indra in Verwirrung, als Krsna zu Sei-
nem Vater, Nanda Mahārāja, sagte: „Es ist nicht notwendig, Indra
Opfer darzubringen, da er dem Befehl des Höchsten Herrn unter-
steht." Krsna sagte zu Nanda Mahārāja nicht: „Ich bin der Höchste
Herr", sondern: „Indra untersteht dem Befehl des Höchsten Herrn;
deshalb ist es seine Pflicht, dich mit Wasser zu versorgen, und es be-
steht kein Grund, diesen yajna [Opfer] auszuführen."
Als das Opfer abgebrochen wurde, geriet Indra in großen Zorn
und versuchte, die Einwohner Vrndavanas zu bestrafen, indem er
sieben Tage lang wolkenbruchartige Regenfālle schickte. Vrndavana
Ajamilas Erfahrung in Todesnähe 77
war nahe daran, in den Fluten zu versinken - so stark war der Re-
gen. Aber Krsna, ein Kind von sieben Jahren, hob unverzüglich den
Govardhana-Hügel empor und lud alle Einwohner Vrndāvanas ein,
zusammen mit ihren Tieren unter dem Hügel Zuflucht zu suchen.
Nur um die Einwohner Vrndāvanas zu beschützen, hielt Krsna den
Hügel für sieben Tage und Nāchte empor, ohne Nahrung zu Sich
zu nehmen oder Sich auszuruhen. So erkannte Indra, daß Krsna die
Höchste Persönlichkeit Gottes ist.
Auf diese Weise warnt uns das Srimad-Bhāgavatam vor der Macht
māyās, der äußeren Manifestation von Krsnas Energie, die selbst
große Persönlichkeiten wie Brahma und Indra verwirren kann, ganz
zu schweigen von uns.
Gott erscheint manchmal als Gott und manchmal als Mensch, aber
die niederträchtigen Unpersönlichkeitsanhänger tun Seine Spiele als
Legende oder Mythologie ab. Sie glauben entweder gar nicht an die
sāstras oder interpretieren sie auf ihre eigene Weise, indem sie ardha-
kukkuti-nyāya anwenden, die „Halbe-Hennen-Logik". Einst hatte ein
Mann ein Huhn, das jeden Tag ein goldenes Ei legte. In seiner
Dummheit dachte der Mann: „Dieses Huhn ist sehr lukrativ, aber es
zu füttern kostet mich viel Geld. Ich schneide ihm besser den Kopf
ab und spare mir die Ausgaben für das Futter. Dann werde ich die
Eier ohne jede Kosten bekommen." Mit der gleichen Haltung treten
die Unpersönlichkeitsanhänger an die sāstras heran: „Dieser Teil ge-
fāllt uns nicht - er ist unbequem. Lassen wir ihn weg!" Wenn Krsna
sagt: „Man sollte Mich überall sehen", ist das den Māyāvādis sehr
genehm, aber wenn Er sagt: „Gib alles auf und ergib dich Mir",
haben sie Einwānde. Sie akzeptieren, was ihnen paßt, und weisen
zurück, was ihnen widerstrebt. Die ācāryas hingegen verdrehen die
sāstras nicht. Als Krsna die Bhagavad-gitā offenbarte, sprach Arjuna:
„Ich akzeptiere alles, was Du gesagt hast."
Hieraus geht deutlich hervor, daß das Kind Nārāyana so jung war,
daß es noch nicht einmal richtig sprechen und gehen konnte. Weil
der alte Mann so sehr an dem Kind hing, erfreute er sich an dessen
Spielen. Da der Name des Kindes Nārāyana war, chantete er un-
ablässig den heiligen Namen Nārāyanas. Eigentlich meinte Ajāmila
seinen kleinen Sohn und nicht den ursprünglichen Nārāyana; aber
der Name Nārāyanas ist so mächtig, daß Ajāmila allein durch das
Aussprechen des Namens seines Sohnes geläutert wurde. Srila Rūpa
Gosvāmi erklärt, daß jemand, der sich auf irgendeine Weise zum
heiligen Namen Krsnas hingezogen fühlt (tasmāt kenāpy upāyena ma-
nah krsne nivesayet), sich auf dem Pfad der Befreiung befindet. In
Indien geben Eltern noch heute ihren Kindern Namen Gottes, wie
Krsna, Govinda oder Nārāyana. Somit chanten die Eltern die Na-
men Krsna, Govinda oder Nārāyana und bekommen die Möglich-
keit, geläutert zu werden.
79
80 Im Angesicht des Todes
etāvān sārikhya-yogābhyām
svadharma-parinisthayā
janma-lābhah parah pumsām
ante nārāyana-smrtih
In der materiellen Welt mühen wir uns ab wie Soldaten, die auf
einem Schlachtfeld kämpfen. Unsere Soldaten sind unsere Kinder,
unsere Frau, unser Bankkonto, unsere Landsleute und so fort. Das
Srimad-Bhāgavatam warnt uns, bei solchen fehlbaren Soldaten Zu-
flucht zu suchen. Obwohl jemand sieht, daß sein Vater und Groß-
vater, die einst gelebt haben, nun tot sind, sieht er nicht ein, daß
jeder, auch er selbst, eines Tages sterben wird. Wie kann er dann
seinen Sohn beschützen? Oder wie kann sein Sohn ihn beschützen?
Diese Fragen tauchen für den Materialisten nicht auf, da er nur
in seine tierischen Neigungen - Essen, Schlafen, Paarung und Ver-
teidigung - vertieft ist.
4. KAPITEL
Frei von
Geburt und Tod
Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Ajāmila sah sodann drei furchter-
regende Gestalten mit verunstaltetem Körper, grimmig, mit ver-
zerrtem Gesicht und mit Haaren, die aufrecht von ihrem Körper
abstanden. Mit Seilen in ihren Händen waren sie gekommen, um
ihn zum Reich Yamarajas zu schaffen. Als Ajāmila sie sah, war er
aufs äußerste entsetzt. Sofort rief er sein Kind, das in der Nāhe
spielte, laut beim Namen, weil er sehr an ihm hing. So chan-
tete er mit Trānen in den Augen den heiligen Namen Nārāyanas.
(Srimad-Bhāgavatam 6.1.28-29)
83
84 Im Angesicht des Todes
Angst, wenn er die Yamadūtas sieht; und auch Ajāmila wurde von
Angst und Furcht ergriffen.
Glücklicherweise chantete Ajāmila den heiligen Namen Nārāya-
nas, obwohl er dabei eigentlich an seinen Sohn dachte. Daraufhin
erschienen sogleich die Gesandten Nārāyanas, die Visnudūtas. Weil
Ajāmila sich so sehr vor den Seilen Yamarājas fürchtete, rief er mit
tränenerfüllten Augen den Namen des Herrn. In Wirklichkeit jedoch
beabsichtigte er nicht, den heiligen Namen Nārāyanas zu chanten,
sondern wollte seinen Sohn rufen.
paritrānāya sādhūnām
vināsāya ca duskrtām
dharma-samsthāpanārthāya
sambhavāmi yuge yuge
immer mit Seinen Waffen abgebildet. Er trägt eine Keule und ein
cakra (Feuerrad), um Seine Geweihten zu beschützen, sowie eine Lo-
tosblume und eine Muschel, um sie zu segnen.
Von transzendentaler Natur sind auch das Erscheinen und Ver-
scheiden der Geweihten Krsnas, die in die materielle Welt entsandt
werden, um die Herrlichkeiten des Herrn zu predigen. Gemäß den
Prinzipien des Vaisnavatums sind das Erscheinen und Verscheiden
solcher Vaisnavas oder Geweihten Visnus (Krsnas) allglückverhei-
ßend. Deshalb findet an beiden Jahrestagen ihnen zu Ehren ein
Fest statt.
Nicht einmal für gewöhnliche Lebewesen gibt es Geburt oder
Tod, also erst recht nicht für Krsna und Seine Geweihten. Manchmal
behaupten Atheisten, Gott sei tot. Sie wissen nicht, daß nicht einmal
das kleinste Lebewesen stirbt. Wie kann daher Gott tot sein? Athei-
sten werden in der Bhagavad-gitā als mūdhās, törichte Schurken, be-
zeichnet. Sie haben kein Wissen, geben sich aber als gebildete Men-
schen aus und verkünden Dinge, die weder für sie noch für die
Allgemeinheit gut sind.
Krsna denkt, wird dies von Ihm akzeptiert. Krsna ist so gütig, daß
jeder, der ständig an Ihn denkt, sogar ein Feind, der größte yogi wird
und Befreiung erlangt. Aus diesem Grund erreichten selbst Krsnas
Feinde wie Kamsa und Sisupāla dasselbe Ergebnis wie yogis und As-
keten. In der unpersönlichen Brahman-Ausstrahlung (brahmajyoti)
finden wir nicht nur die größten Gelehrten (jnānis), die sich be-
mühten, in das Brahman einzugehen, sondern auch diejenigen, die
immer feindselig an Krsna dachten. Sie gehen ebenfalls in diese spi-
rituelle Ausstrahlung ein. Das Ziel, das die jnānis erreichen, wird
auch von Krsnas Feinden erreicht. Dies ist jedoch nicht sehr er-
strebenswert.
Ein Lebewesen kann für einige Zeit als kleines, leuchtendes spi-
rituelles Teilchen in der Brahman-Ausstrahlung (brahmajyoti) ver-
weilen. So wie es im Sonnenschein viele molekulare Teilchen gibt,
können auch die Lebewesen als kleine Teilchen der spirituellen Aus-
strahlung im brahmajyoti leben. Doch es ist ihnen bestimmt, wieder
in die materielle Schöpfung herabzufallen. Von Natur aus wünscht
sich das Lebewesen eine Vielfalt von Sinnenfreuden, aber in der un-
persönlichen Existenz gibt es keine Vielfalt des Genusses. Sobald
die Lebewesen genießen wollen, müssen sie deshalb wieder in die
materielle Welt zurückkehren. Mit anderen Worten, wenn man in
die Brahman-Ausstrahlung eingeht, ist die Wahrscheinlichkeit sehr
groß, wieder zu Fall zu kommen.
Die Geweihten Krsnas streben nicht nach Befreiung, denn ihr
einziges Interesse ist es, in Krsnas hingebungsvollem Dienst be-
schäftigt zu sein, ob in der materiellen Welt oder in der spirituel-
len Welt. Trotzdem erlangen sie durch Krsnas Gnade Befreiung und
werden zum Planeten Goloka Vrndavana erhoben, der Residenz
Krsnas, wo die materiellen Leiden der Geburt, des Todes, der Krank-
heit und des Alters nicht existieren. Somit unterscheidet sich die
Position der Gottgeweihten von der der Unpersönlichkeitsanhänger
und jnānis. Die Position des Gottgeweihten ist sehr erhaben: Auch
er erreicht die Brahman-Ausstrahlung, durchquert sie aber, denn
er fühlt sich nicht zu ihr hingezogen. Er fühlt sich nur zu den
Vaikuntha-Planeten hingezogen, besonders zu Goloka Vrndavana,
wo Krsna, die Höchste Persönlichkeit Gottes, ewig mit Seinen Ge-
fährten lebt.
2
DER ZWIST
DER VISNUDUTAS UND
DER YAMADUTAS
5. KAPITEL
Rettung
in höchster Not
Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Mein lieber König, als die Send-
boten Visnus, die Visnudutas, aus dem Mund des sterbenden Ajā-
mila den heiligen Namen ihres Herrn und Meisters vernahmen,
begaben sie sich sogleich zu ihm. Ajāmila hatte in seiner schreck-
lichen Todesangst zweifellos ohne Vergehen gechantet. Die Be-
auftragten Yamarājas wollten gerade Ajāmilas Seele seinem Her-
zen entreißen, doch die Visnudutas geboten ihnen mit schallender
Stimme Einhalt. (Srimad-Bhāgavatam 6.1.30-31)
88
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 89
isvarah sarva-bhūtānām
hrd-dese 'rjuna tisthati
bhrāmayan sarva-bhūtāni
yantrārūdhāni māyayā
„Der Höchste Herr weilt im Herzen eines jeden, o Arjuna, und lenkt
die Wege aller Lebewesen, die sich gleichsam auf einer Maschine be-
finden, die aus materieller Energie besteht."
Yantra bedeutet „Maschine", wie zum Beispiel ein Auto. Der Fah-
rer der Maschine des materiellen Körpers ist die individuelle Seele,
die auch dessen Lenker und Eigentümer ist; doch der höchste Len-
ker und Eigentümer ist die Höchste Persönlichkeit Gottes in Ihrer
Form als Überseele.
So wie unser jetziger Körper entsprechend unserer Handlungs-
weise im letzten Leben durch die Kraft māyās geschaffen wurde,
erschafft māyā entsprechend unserer Handlungsweise im gegenwär-
tigen Leben einen neuen Körper für das nächste Leben. Zur ge-
gebenen Zeit wird über den nächsten Körper entschieden, worauf
die individuelle Seele und die Überseele in diese vorherbestimmte
physische Maschine eingehen. Das ist der Vorgang der Seelenwan-
derung.
Wenn die sündhafte Seele zum nächsten Körper wandert, wird
sie von Yamarājas Helfern ergriffen und in eine bestimmte Art höl-
lischen Lebens versetzt, damit sie sich an die Lebensbedingungen
im nächsten Körper gewöhnt.
6. KAPITEL
Göttliches Eingreifen
91
92 Im Angesicht des Todes
Spirituelle Schönheit
Die Visnudutas sahen genauso aus wie Sri Visnu. Die Yamadutas
hatten sie nie zuvor gesehen, weil sie sich immer in einer Umgebung
aufhalten, wo ausschließlich sündhaft gehandelt wird. Deshalb wa-
ren sie erstaunt über die Gegenwart dieser wunderschönen Wesen
und sagten: „Von euren Körpermerkmalen her seht ihr aus wie sehr
erhabene Persönlichkeiten, und ihr habt solch himmlische Kraft, daß
ihr mit eurer Ausstrahlung die Dunkelheit der materiellen Welt ver-
treibt. Warum wollt ihr uns also von der Erfüllung unserer Pflicht
abhalten?" Wie sich herausstellen wird, hielten die Yamadutas, die
Beauftragten Yamarājas, Ajāmila fälschlicherweise für sündhaft. Sie
wußten nicht, daß er, der sein ganzes Leben lang gesündigt hatte,
nun durch das ständige Chanten des heiligen Namens Nārāyana ge-
läutert worden war.
Die Ausstrahlung der Visnudutas ist darauf zurückzuführen, daß
sie Bewohner der spirituellen Welt sind, wo alles und jeder aus sich
selbst heraus leuchtet. Sri Krsna erwähnt dies in der Bhagavad-gitā
(15.6): na tad bhāsayate süryo na sasānko na pāvakah. „Mein Reich wird
weder von der Sonne noch vom Mond, noch von Feuer oder Elektri-
zitāt erleuchtet." Die Yamadutas wußten nicht, woher die Visnudu-
tas gekommen waren, aber sie erkannten, daß die Visnudutas keine
gewöhnlichen Wesen waren, da von ihnen ein leuchtender Glanz
ausging, sie vier Arme hatten und ihre Schönheit alles übertraf.
In diesen Versen werden die Kleidung und die Körpermerkmale
der Bewohner Vaikunthas detailliert beschrieben. Die Bewohner
Vaikunthas, die mit Girlanden und gelben Seidengewändern ge-
schmückt sind, haben vier Arme und halten ein Feuerrad, eine Blu-
me, eine Keule und ein Muschelhorn in den Händen. Sie gleichen in
jeder Hinsicht Sri Visnu - mit nur einem sehr auffallenden Unter-
schied: Das Kaustubha-Juwel, das der Herr auf Seiner Brust trāgt,
fehlt bei ihnen. Die Bewohner Vaikunthas haben dieselben Körper-
merkmale wie Nārāyana, weil sie die Befreiung der sārüpya erlangt
haben; aber trotzdem handeln sie als Seine Diener. Alle Einwohner
Vaikunthas sind sich vollkommen bewußt, daß ihr Meister Nārā-
yana, Krsna, ist und daß sie Seine Diener sind. Sie alle sind selbst-
94 Im Angesicht des Todes
Berechtigte Fragen
Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Als die Diener Vāsudevas so von den
Boten Yamarajas angesprochen wurden, lächelten sie und sprachen
die folgenden Worte, mit Stimmen so tief wie der Hall donnern-
der Wolken: „Wenn ihr tatsāchlich Yamarajas Diener seid, müßt
ihr uns erklären, was religiöse Grundsātze sind und worin die
Merkmale der Irreligiosität bestehen. Wie findet die Bestrafung
statt? Welchen Menschen wird sie zuteil? Sind alle zu bestrafen,
die fruchtbringenden Tätigkeiten nachgehen, oder nur einige von
ihnen?" (Srimad-Bhāgavatam 6.1.37-39)
95
96 Im Angesicht des Todes
„Jene gottlosen Menschen, die abgestumpft und dumm sind, die die
Niedrigsten der Menschheit sind, deren Wissen der Illusion anheim-
gefallen ist und die das atheistische Wesen von Dāmonen haben, er-
geben sich Mir nicht."
Die Fragen der Visnudūtas waren durchaus angebracht. Wer je-
manden vertritt, muß sich über dessen Mission völlig bewußt sein.
Die Gottgeweihten der Bewegung für Krsna-Bewußtsein müssen
daher die Mission Krsnas und Sri Caitanyas wie auch die Philoso-
phie des Krsna-Bewußtseins genau kennen; sonst werden die Leute
sie für dumm halten.
Sri Caitanya Mahāprabhu lehrt: yei krsna-tattva-vettā, sei 'guru'
haya. „Man muß Krsna kennen - dann kann man guru werden."
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadūtas 97
Nicht jeder kann ein guru werden. Die Visnudutas forderten die
Yamadūtas also heraus: „Wenn ihr wirklich die Bevollmächtigten
Dharmarājas seid, müßt ihr erklären, was Religion und was Ir-
religiosität ist." Das sollte das Kriterium sein, um zu bestimmen,
wer tatsāchlich ein Vertreter der Religion ist. Nicht jeder sollte als
Geistlicher oder guru akzeptiert werden. Weil Unwissenheit um sich
greift, nimmt die Zahl derer immer mehr zu, die sich selbst Gott
nennen und im Namen von dharma törichte Ansichten verbreiten. Je-
mand, der sagt: „Ich bin Gott", oder „Durch mystischen yoga wurde
ich Gott", sollte zur Rede gestellt werden. In Amerika behauptete
ein Mann: „Ich bin Gott, jeder ist Gott", und sammelte auf diese
Weise Schüler um sich. Eines Tages bekam er Zahnschmerzen, und
ich fragte ihn: „Was für ein Gott bist denn du, daß du so sehr unter
Zahnschmerzen leidest?" Nur ein Verrückter oder ein Betrüger maßt
sich an, Gott zu sein.
mehr ein Vertreter der Regierung. Ebenso ist Yamarāja, der für die
höllischen Regionen zuständig ist und nur mit sündhaften Men-
schen zu tun hat, ein reiner Stellvertreter Krsnas und führt lediglich
die Anweisungen seines Meisters aus.
Von einem Polizisten wird erwartet, daß er die Gesetze kennt und
weiß, wen er wegen Gesetzesübertretung verhaften muß. Wenn er
wahllos jeden verhaftet, ist er selbst ein Krimineller. Gesetzestreue
Bürger darf er nicht in Haft nehmen. Genauso dürfen die Yamadūtas
nicht jeden beliebigen Menschen vor Yamarājas Gerichtshof bringen,
sondern nur die Nichtgottgeweihten, damit sie für ihre Sünden be-
straft werden. Yamarāja hat die Yamadūtas eindringlich davor ge-
warnt, sich den Vaisnavas zu nähern.
Weil Ajāmila jedoch ein sehr sündiges Leben geführt hatte, konn-
ten die Yamadūtas nicht verstehen, warum er nicht als Verbrecher
angesehen und vor Yamarāja gebracht werden sollte.
arbeiten, ganz zu schweigen von einem armen Mann. Unter der Lei-
tung des Höchsten Herrn macht die materielle Energie aus jedem ei-
nen tanzenden Hund. Der Meister befiehlt: „Tanz!", und der Hund
tanzt, denn er weiß, daß er andernfalls verhungern müßte.
Jeder - ob in der materiellen oder in der spirituellen Welt - ist
ein Diener. Aber hier in der materiellen Welt stehen die Menschen
unter dem falschen Eindruck, sie seien die Herren. Das Oberhaupt
der Familie glaubt: „Ich bin der Herr meiner Frau und meiner Kin-
der." In Wirklichkeit jedoch dient er den Familienmitgliedern. Das
Staatsoberhaupt denkt: „Ich bin König", oder „Ich bin Präsident",
aber eigentlich ist er ein Diener der Bürger. Seine Position ist die ei-
nes Dieners, und wenn sein Dienst nicht die Erwartungen der Bür-
ger erfüllt, wird er abgesetzt oder nicht wiedergewählt.
In der materiellen Welt versucht jeder, in seinem Bereich Herr
und Meister zu sein. Daher gibt es auf allen Ebenen Konkurrenz-
kämpfe - zwischen selbsternannten „Göttern", zwischen Staats-
oberhäuptern und selbst zwischen Freunden und Familienmitglie-
dern. Doch jeder geht aus diesem illusorischen Konkurrenzkampf
als Verlierer hervor. Mahatma Gandhi wurde respektvoll als „Vater
Indiens" bezeichnet, aber trotz allem war er nur ein Diener, und er
wurde sogar ermordet, weil jemand mit seinem Dienst nicht zufrie-
den war. Auch Präsident Kennedy war ein sehr beliebter Präsident.
Doch jemand sah einige Māngel in seinem Dienst und ermordete
ihn. Niemand in dieser Welt ist wirklich der Herr. Jeder ist entweder
ein Diener māyās (Illusion) oder ein Diener Gottes.
Die Gesetze der Regierung muß jeder befolgen. Von Illusion ver-
blendet, denkt der Verbrecher jedoch: „Ich akzeptiere die Gesetze
der Regierung nicht." Aber wenn er verhaftet wird, ist er gezwun-
gen, die Gesetze im Gefängnis zu befolgen. Er hat keine andere
Wahl. Genauso sind wir alle Diener Gottes, aber die dämonischen
Menschen (asuras) kümmern sich nicht um Gott und Seine Gesetze.
Diese Schurken glauben, es gebe keinen Gott, jeder sei Gott oder sie
selbst seien Gott. Doch solche „Götter" müssen ebenfalls die Gesetze
Gottes in Form von Geburt, Tod, Krankheit und Alter befolgen.
Nur Menschen, die völlig unter dem Bann der Illusion stehen,
weigern sich, Gott zu dienen. Anstatt Gott freiwillig Dienst darzu-
bringen, sind sie Sklaven māyās, der illusionierenden Energie Gottes.
100 Im Angesicht des Todes
Wer von Geistern besessen ist, redet nur dummes Zeug, und eben-
so redet ein Mensch, der von māyā besessen und von den Illusionen
der materiellen Natur verblendet ist, nur groben Unsinn, welcher in
der Behauptung gipfelt, er sei Gott.
Zwischen den beiden Gruppen von Menschen - der göttlichen
(devas) und der dämonischen (asuras) - herrscht ein nie endender
Kampf. Die asuras rebellieren ständig gegen Gott, wohingegen die
devas Ihm immer ergeben sind. Aus der Geschichte von Prahlāda
Mahārāja geht hervor, daß es selbst unter Familienmitgliedern devas
und asuras geben kann. Prahlāda Mahārājas Vater, Hiranyakasipu,
war ein asura, wāhrend Prahlāda Mahārāja ein deva war. Normaler-
weise hat ein Vater sein Kind gern; aber weil Hiranyakasipu ein
Dāmon war, wurde er zum Feind seines eigenen Sohnes. Das ist das
Wesen von Dāmonen.
Wie selbst ein Tiger Zuneigung für seine Jungen verspürt, so
empfand anfänglich auch Hiranyakasipu Zuneigung für Prahlāda
Mahārāja, der ein fünfjähriger Junge von gutem Betragen und rei-
zender Erscheinung war. Eines Tages fragte Hiranyakasipu seinen
Sohn: „Mein lieber Junge, sag mir: Was ist das Beste, das du in der
Schule gelernt hast?"
„Man sollte alles aufopfern, um Gott zu erkennen", antwortete
Prahlāda Mahārāja. „Die menschliche Lebensform bietet uns die be-
ste Möglichkeit, spirituellen Fortschritt zu machen, und wir müssen
sie nutzen, um Gott zu erkennen."
Da wandte sich Hiranyakasipu wutentbrannt an die Lehrer sei-
nes Sohnes: „Warum habt ihr dem Jungen all diesen Unsinn beige-
bracht?" „O Herr, diese Dinge haben nicht wir dem Jungen beige-
bracht", entgegneten sie voller Angst. „Er ist von Natur aus Gott
zugeneigt! Wir sind unschuldig. Sobald sich die Gelegenheit bietet,
predigt er vor seinen Klassenkameraden über Gottesbewußtsein."
Wenn kein Lehrer anwesend war, stieg Prahlāda Mahārāja sofort auf
eine Bank und wandte sich an seine Freunde: „Meine lieben Jungen,
dieses Leben ist nicht für Sinnenbefriedigung bestimmt, sondern für
Gotteserkenntnis. Vergeßt das nicht!"
Diese Predigermission haben auch wir auf uns genommen, weil
den Menschen im allgemeinen nur an sofortiger Sinnenbefriedigung
gelegen ist, wodurch sie sich selbst schaden. Im Srimad-Bhagavatam
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 101
103
104 Im Angesicht des Todes
Die Yamadūtas forderten die Visnudutas also auf, sie nicht an der
Ausübung ihrer Pflichten zu hindern, handelten sie doch auf An-
weisung Yamarājas, einer echten Autorität. Yamarāja ist einer der
zwölf mahājanas, der großen Autoritäten, die in spirituellen und ma-
teriellen Angelegenheiten maßgebend sind. Er ist ein Vaisnava, aber
seine undankbare Aufgabe besteht darin, all die Seelen zu bestra-
fen, die sündhaft handeln. Genauso wie der Polizeichef ein verant-
wortungsvoller, treuer Diener der Regierung ist, ist Yamarāja der er-
gebene Diener Nārāyanas, Krsnas. Seine Aufgabe ist es, Sünder zu
bestrafen. Wenn schon in einer gewöhnlichen Regierung ein oberster
Richter erforderlich ist, warum nicht auch in der Regierung Gottes?
Im Srimad-Bhāgavatam werden zwölf mahājanas erwähnt: Brahma,
Nārada Muni, Siva, die vier Kumāras, Kapila (der Sohn Devahütis),
Svayambhuva Manu, Prahlāda Mahārāja, Bhismadeva, Janaka Ma-
hārāja, Sukadeva Gosvāmi, Bali Mahārāja und Yamarāja. Diese Au-
toritāten wissen genau, wer Gott ist, und können uns den Weg zu
Ihm weisen. Deshalb empfehlen uns die sāstras, ihnen zu folgen.
Bestrafung
Die Yamadūtas fuhren fort: „Nārāyana, die höchste Ursache aller
Ursachen, befindet Sich in Seinem Reich in der spirituellen Welt,
aber dennoch lenkt Er die gesamte kosmische Manifestation durch
die drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur - Tugend, Lei-
denschaft und Unwissenheit. Auf diese Weise erhalten alle Le-
bewesen verschiedene Eigenschaften, verschiedene Namen [wie
brāhmana, ksatriya und vaisya], verschiedene Pflichten gemäß
dem varnāsrama-Gesellschaftssystem und verschiedene Körper-
formen. Nārāyana ist also die Ursache der gesamten kosmischen
Manifestation.
Die Sonne, das Feuer, der Himmel, die Luft, die Halbgötter, der
Mond, der Abend, der Tag, die Nacht, die Himmelsrichtungen, das
Wasser, das Land und die Überseele selbst sind die Zeugen der
Handlungen aller Lebewesen. Bestraft werden all diejenigen, über
die diese zahlreichen Zeugen aussagen, sie seien von ihren vor-
geschriebenen Pflichten abgewichen. Jeder, der fruchtbringenden
Tätigkeiten nachgeht, verdient es, für seine sündhaften Taten be-
straft zu werden.
O Bewohner Vaikunthas, ihr seid frei von Sünde, aber die-
jenigen, die sich in der materiellen Welt befinden, sind karmis
[materiell motivierte Arbeiter], ob sie nun fromm oder gottlos
handeln. Beide Handlungsweisen stehen ihnen offen, denn sie
sind durch die drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur
verunreinigt und müssen dementsprechend handeln. Wer einen
materiellen Körper angenommen hat, kann nicht inaktiv bleiben,
und sündhafte Taten sind unvermeidlich für jeden, der unter dem
Einfluß der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur han-
delt. Deshalb gebührt allen Lebewesen innerhalb der materiellen
108
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 109
Welt Bestrafung. Man muß also gemäß dem Ausmaß der religiösen
und irreligiösen Handlungen, die man im gegenwärtigen Leben
begeht, im nächsten Leben entsprechende karma-Reaktionen ge-
nießen oder erleiden." (Srimad-Bhāgavatam 6.1.41-45)
Es gibt drei Energien des Höchsten Herrn: die innere Energie (parā-
sakti), die marginale Energie und die äußere Energie. Die Lebewesen
gehören zur marginalen Energie, weil sie entweder unter dem Ein-
fluß der inneren Energie oder der äußeren Energie des Herrn stehen
können. Von Natur aus gehören sie der parā-sakti an, doch sobald
sie unter den Einfluß der materiellen Energie geraten, werden sie als
ksetra-jna-sakti, „Kenner des materiellen Feldes", bezeichnet. Mit an-
deren Worten, die unmittelbare, innere Energie Gottes ist spirituell
(parā), und die Lebewesen sind von derselben Natur (parā); aber auf-
grund ihres Kontaktes mit der materiellen Energie (ksetra) halten sie
den materiellen Körper für das Selbst und sind gezwungen, mit den
fünf Sinnen zu handeln.
Die Yamadūtas sagen, daß jeder, der einen materiellen Körper hat,
arbeiten muß. Dies trifft sowohl auf die Ameise als auch auf den
Elefanten zu. Die Ameise braucht für ihre Ernährung nur einen
Krümel Zucker, wohingegen der Elefant täglich dreihundert Kilo
Futter braucht - doch beide müssen dafür etwas tun. Ignoranten
behaupten, daß die Vaisnavas nicht arbeiten; aber die Vaisnavas ar-
beiten für Krsna vierundzwanzig Stunden am Tag. Sie sind keine
müßigen Nichtstuer. Solange wir in der materiellen Welt leben, müs-
sen wir arbeiten, doch wir arbeiten für Krsna. Das ist nicht Arbeit
im Sinne von karma, sondern dharma, angewandte Religion. Wenn
jemand nicht für Krsna tätig ist, ist seine Arbeit adharma, irreligiöse
Sinnenbefriedigung.
Varnāsrama-dharma
„Man muß seine Arbeit Visnu als Opfer darbringen, denn sonst
wird man durch sie an die materielle Welt gebunden. O Arjuna, er-
fülle daher deine vorgeschriebenen Pflichten zu Seiner Zufrieden-
stellung; auf diese Weise wirst du immer frei von Bindung bleiben."
Das ist die Quintessenz des menschlichen Lebens. Da wir arbeiten
müssen, sollten wir für Krsna arbeiten. Das wird uns vor allen sünd-
haften Reaktionen bewahren.
Wenn wir indes für unsere eigene Sinnenbefriedigung arbeiten,
werden wir uns Leben für Leben in sündhafte Handlungen und
ihre Folgen verstricken. Niemand kann den Fesseln wiederholter
Geburten und Tode entrinnen, solange er nach Sinnenbefriedigung
strebt.
Caitanya Mahāprabhu sagt: jivera 'svaRūpa' haya — krsnera 'nitya-
dāsa' (Caitanya-caritamrta, Madhya-lilā 20.108). „Die wesensgemäße
Stellung des Lebewesens ist es, ewig ein Diener Krsnas zu sein."
Wenn jemand diese Stellung einnimmt, ist er gerettet - andernfalls
nicht.
Wie nun handelt jemand, der seine Stellung als ewiger Diener
Krsnas einnimmt? Prahlāda Mahārāja erklärt im Srimad-Bhāgavatam
(7.5.23):
„über den heiligen Namen, die Form, die Eigenschaften, die At-
tribute und die Spiele Sri Visnus zu hören und zu chanten und sich
an sie zu erinnern, den Lotosfüßen des Herrn zu dienen, dem Herrn
Verehrung und Gebete darzubringen, Sein Diener zu werden, den
Herrn als besten Freund zu sehen und Ihm alles hinzugeben - dies
sind die neun Vorgānge reinen hingebungsvollen Dienstes."
Um diese Vorgānge ernsthaft zu befolgen, muß man sich an die
regulierenden Prinzipien des spirituellen Lebens halten: kein Essen
von Fleisch, kein unzulässiges Geschlechtsleben, keine Berauschung
und kein Glücksspiel. Dann wird man die Anweisung annehmen
können, den Hare-Krsna-mahā-mantra zu chanten und dem Herrn
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 113
immer auf eine der genannten neun Arten zu dienen. Wenn wir
diese Anweisung beherzigen, wird unser Leben in spiritueller und
materieller Hinsicht erfolgreich sein. Ansonsten müssen wir uns da-
mit begnügen, unsere Sinne zu befriedigen und sündhaften Betäti-
gungen nachzugehen. So werden wir wie Hunde und Schweine zu
leiden haben und dem Kreislauf von Geburt, Alter, Krankheit und
Tod unterworfen sein.
Die Svetāsvatara Upanisad (6.23) beschreibt, wie Dienst für den Herrn
und den spirituellen Meister zu vedischem Wissen führt:
„Den großen Seelen, die festen Glauben an den Herrn und den spi-
rituellen Meister haben, wird die Bedeutung des vedischen Wissens
von selbst enthüllt."
Die Veden betonen: tad-vijnānārtham sa gurum evābhigacchet. Um
ein Geweihter des Herrn zu werden, muß man einen spirituellen
Meister aufsuchen, der vollständiges Wissen über die Veden hat,
und sich von ihm anleiten lassen. Dann wird einem das Wissen der
Veden offenbart, und man braucht nicht mehr in der Dunkelheit der
materiellen Natur zu bleiben.
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 115
Vorherbestimmung
und Unabhängigkeit
Die Yamadutas fuhren fort: „O beste der Halbgötter, Leben tritt
in drei verschiedenen Formen auf, die auf die Verunreinigung
durch die drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur zurück-
zuführen sind. Die Lebewesen haben demnach verschiedene Ei-
genschaften: friedvoll, rastlos oder dumm, glücklich, unglücklich
oder mittelmäßig, und religiös, irreligiös oder halbreligiös. Daraus
lāßt sich ableiten, daß diese drei Erscheinungsweisen der mate-
riellen Natur im nächsten Leben in ähnlicher Weise wirken wer-
den. So wie der jetzige Frühling auf das Wesen von vergangenen
und zukünftigen Frühlingen hinweist, gibt das Glück und Leid
des gegenwärtigen Lebens Aufschluß über die religiösen und ir-
religiösen Handlungen des vergangenen und zukünftigen Lebens.
Der allmächtige Yamarāja kommt Brahma gleich, denn wāhrend
er sich in seinem Reich befindet und wie der Paramātmā im Her-
zen eines jeden weilt, beobachtet er im Geiste die früheren Hand-
lungen eines Lebewesens und erkennt auf diese Weise, wie das
Lebewesen in zukünftigen Leben handeln wird.
So wie sich ein Schlafender mit seinem Traumkörper und des-
sen Handlungen identifiziert, identifiziert man sich auch mit dem
gegenwärtigen Körper, den man aufgrund früherer religiöser und
irreligiöser Handlungen erhalten hat, und ist nicht imstande, sich
seiner vergangenen und zukünftigen Leben bewußt zu sein." (Sri-
mad-Bhāgavatam 6.1.46-49)
116
Der Zwist der Visnudütas und der Yamadutas 117
karmanā daiva-netrena
jantur dehopapattaye
striyāh pravista udaram
pumso retah-kanāsrayah
Winzige Unabhängigkeit
Da wir in unzähligen materiellen Körpern geboren wurden und
starben, haben wir vergessen, daß wir Bestandteile Gottes sind, eine
vertrauliche Beziehung zu Ihm haben und auf irgendeine Weise in
die materielle Welt gefallen sind. Die genaue Ursache dieses Ver-
gessens kann man nur sehr schwer ausmachen. Obgleich wir Krsna
seit unvordenklichen Zeiten vergessen haben, ist Er so barmherzig,
daß Er persönlich kommt, um uns an unsere spirituelle Identität
und unser Einssein mit Ihm als Seine Teile zu erinnern; Er lehrt
uns, was wir vergessen haben. Wenn Er fortgeht, hinterläßt Er die
Schriften - insbesondere die Bhagavad-gitā, in der Er uns auffordert:
sarva-dharmān parityajya mām ekam saranam vraja. „Gib all deinen Un-
sinn auf und ergib dich Mir! Ich werde dich beschützen." (Bhagavad-
gitā 18.66)
Krsna, der Vater aller Lebewesen, ist nicht glücklich darüber, daß
die zahllosen Seelen in der materiellen Welt so erbärmlich wie
Schweine leben. Deshalb entsendet Er Seine Bevollmächtigten. Im
Falle von Jesus Christus sandte Krsna Seinen Sohn. Jesus bezeich-
nete sich als Sohn Gottes. Zwar ist jeder ein Sohn Gottes, aber dieser
Sohn war Gott besonders lieb, und er wurde zu einem bestimmten
Ort entsandt, um die bedingten Seelen nach Hause, zu Gott, zurück-
zurufen.
Was kann Krsna oder Sein Diener jedoch tun, wenn die bedingten
Seelen unbedingt in der materiellen Welt bleiben wollen? Sie er-
lauben uns, mit unseren materialistischen Tätigkeiten fortzufahren,
denn die Grundvoraussetzung für die Befreiung aus dem mate-
riellen Gefängnis ist, daß wir uns diese Befreiung wünschen. Wenn
wir schließlich unserer mißlichen Lage überdrüssig sind, beten wir:
„Mein lieber Herr, obwohl ich der Lust, dem Zorn und der Gier
so lange gedient habe, sind sie immer noch nicht zufriedengestellt.
Nun bin ich es leid, ihnen weiter zu dienen. Jetzt, mein lieber Sri
Krsna, ist meine Intelligenz erwacht, und ich bin zu Dir gekommen.
Bitte beschäftige mich in Deinem Dienst."
Die Lebewesen gehören zur marginalen Energie des Herrn (tata-
stha-sakti), das heißt, sie können wählen, ob sie von Krsnas niederer,
materieller Energie oder von Seiner höheren, spirituellen Energie ge-
120 Im Angesicht des Todes
Das Ohr ist das wichtigste Organ, denn es ermöglicht uns zu ler-
nen, was wir für unser höchstes Wohl tun sollten und was nicht.
Wir müssen von einer höheren Autorität hören. In der Nacht schla-
fen wir friedlich, ohne uns darüber bewußt zu sein, daß jemand
kommen könnte, um uns den Kopf abzuschlagen. Doch unser Ge-
hörsinn ist selbst im Schlafzustand aktiv. Sobald jemand ruft: „Wach
auf! Wach auf! Jemand will dich umbringen!", können wir gerettet
werden. Auf ähnliche Weise schlafen auch wir unter dem Einfluß
der materiellen Natur. Wir scheinen wach und aktiv zu sein, aber
eigentlich ist es prakrti (die materielle Natur), die handelt, nicht wir.
Wir sind gezwungen, entsprechend unserer Verbindung mit den Er-
scheinungsweisen der materiellen Natur zu handeln. Obwohl wir
uns im Schlafzustand befinden, schläft unser Ohr nicht und kann
uns helfen, aus der Unwissenheit zu erwachen. Wenn wir von der
richtigen Person - dem spirituellen Meister - und aus den vedi-
schen Schriften hören, können wir zu unserer ursprünglichen we-
sensgemäßen Stellung als ewige Diener Krsnas erwachen. Die er-
ste Vorschrift lautet sravanam, über Krsna zu hören. Wenn wir über
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 121
Krsna hören, wachen wir automatisch auf. Die Veden geben die An-
weisung: uttisthata jāgrata prāpya varān nibodhata. „Wach auf! Erhebe
dich! Erkenne die große Segnung, die du mit der menschlichen Le-
bensform erhalten hast. Nun nutze sie und befreie dich aus den
Fāngen der Erscheinungsweisen der materiellen Natur!" In der Bha-
gavad-gitā (7.14) erklärt Krsna, wie man dies tun kann:
Der feinstoffliche
Körper
Die Yamadūtas fuhren fort: „Über den fünf wahrnehmenden Sin-
nen, den fünf Arbeitssinnen und den fünf Sinnesobjekten steht
der Geist, der das sechzehnte Element ist. über dem Geist steht
das siebzehnte Element, die Seele, das Lebewesen selbst, das in
Zusammenarbeit mit den anderen sechzehn Elementen allein die
materielle Welt genießt. Das Lebewesen erfāhrt drei verschieden-
artige Situationen: glückliche, leidvolle und vermischte.
Der feinstoffliche Körper ist mit sechzehn Teilen ausgestattet -
den fünf wissensaneignenden Sinnen, den fünf Arbeitssinnen,
den fünf Objekten der Sinnenbefriedigung und dem Geist. Der
feinstoffliche Körper ist ein Ergebnis der drei Erscheinungswei-
sen der materiellen Natur. Er besteht aus unüberwindlich starken
Wünschen und veranlaßt daher das Lebewesen - als Mensch, als
Tier oder als Halbgott -, von einem Körper zum anderen zu wan-
dern. Wenn das Lebewesen den Körper eines Halbgottes erhālt, ist
es gewiß voller Freude; wenn es einen menschlichen Körper erhālt,
ist es stets voller Klagen, und wenn es einen tierischen Körper er-
hālt, hat es ständig Angst. Doch im Grunde genommen leidet es
in allen Lebensbedingungen. Diese unglückliche Lage nennt man
samsrti, Seelenwanderung im materiellen Leben.
Das törichte verkörperte Lebewesen ist unfähig, seine Sinne und
seinen Geist zu beherrschen, und ist gezwungen, unter dem Ein-
fluß der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur zu han-
deln - selbst gegen seinen Willen. Es gleicht einer Seidenraupe,
die mit ihrem Speichel einen Kokon spinnt und schließlich darin
gefangen ist, ohne eine Möglichkeit zu entkommen. Das Lebewe-
122
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 123
aus und gewāhre mir einen Platz als eines der Staubkörnchen an
Deinen Lotosfüßen. Das wäre meine Rettung."
In einem der Lieder von Srila Bhaktivinoda Thākura heißt es:
anādi karama-phale, padi' bhavārnava-jale, taribare nā dekhi upaya. „Mein
lieber Herr, ich kann mich nicht entsinnen, wann und wie ich in
diesen Ozean der Unwissenheit gefallen bin, und jetzt kann ich
keinen Weg mehr finden, mich zu retten." Wir müssen uns vor
Augen halten, daß jeder für sein eigenes Leben verantwortlich ist.
Wenn jemand ein reiner Geweihter Krsnas wird, erlangt er Befreiung
aus dem Ozean der Unwissenheit. So wird sein Leben von Erfolg
gekrönt.
Information über die Seele, den Besitzer des Körpers. Deshalb ist der
Buddhismus unvollkommen.
Die buddhistische Philosophie ist zwar unvollständig, aber das
heißt nicht, daß Buddha nicht die vollständige Wahrheit kannte.
Ein Lehrer beispielsweise, der die Magisterprüfung abgelegt hat,
lehrt seine Schüler nur das ABC, wenn sie noch nicht so weit sind,
die fortgeschrittenen Themen zu verstehen, die er von seiner Kom-
petenz her unterrichten könnte. Auf ähnliche Weise predigt jede er-
mächtigte Inkarnation (saktyāvesa avatāra) Gottesbewußtsein gemäß
Ort, Zeit und Umstānden.
Aus diesem Grund gibt es verschiedene Schulen der Religion,
wie den Buddhismus und Sahkarācāryas Māyāvāda-Philosophie.
Die Buddhisten und die Māyāvādis ermutigen ihre Anhänger, frei
zu werden von Glück und Leid, da beides von den Tätigkeiten der
Sinne verursacht wird. Kein wirklicher Philosoph fordert seine An-
hänger auf, dem Verlangen der Sinne nachzugeben. Buddha will
sich von allem Materiellen lösen: Um nämlich nirvāna zu erreichen,
muß man als erstes die materielle Verbindung auflösen, aus der der
Körper besteht. Der Körper ist eine Verbindung aus den fünf mate-
riellen Elementen: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther. Diese Ver-
bindung ist die Ursache allen Leids und aller Freude. Sobald sie auf-
gelöst wird, haben Schmerz und Freude ein Ende.
Die Philosophie Sahkarācāryas zielt darauf ab, dieser Verbindung
materieller Elemente zu entrinnen und die ursprüngliche, spirituelle
Stellung wiederzugewinnen. Der Leitspruch der Māyāvādis lautet:
brahma satyam jagan mithyā. „Brahman, das Absolute, ist wahr, und
die materielle Schöpfung ist falsch." Sahkarācārya wies die Philoso-
phie Buddhas zurück, weil sie keine Auskunft über die spirituel-
le Seele gibt, sondern sich nur mit Materie und deren Auflösung
beschäftigt. Das Ziel der Buddhisten ist es also, in die Leere ein-
zugehen.
Der Buddhismus und die Māyāvāda-Philosophie enthüllen nur
einen Teil der Wahrheit. Sahkarācāryas Māyāvāda-Philosophie be-
handelt das Brahman, die spirituelle Energie, beschreibt sie aber
nicht in ihrer ganzen Fülle. Die Māyāvāda-Philosophie lehrt, daß al-
le Tätigkeiten zum Erliegen kommen, sobald wir uns bewußt wer-
den, daß wir Brahman sind (aham brahmāsmi). Dem ist aber nicht so,
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 127
denn das Lebewesen ist immer aktiv. In der Meditation kann man
nur scheinbar alle Sinnestätigkeiten einstellen, da die Meditation an
sich immer noch eine Tätigkeit ist.
Wāhrend der Māyāvādi über das Brahman meditiert, glaubt er:
„Ich bin Gott geworden." In gewisser Hinsicht ist es natürlich nicht
verkehrt, zu denken: „Ich bin eins mit Gott", denn als spirituelle
Seelen sind wir der Eigenschaft nach tatsāchlich eins mit Gott; doch
niemand kann quantitativ mit Gott eins werden. In der Bhagavad-gitā
(15.7) erklärt Krsna, daß die Lebewesen „Meine Bestandteile" sind.
Krsna ist völlig spirituell (sac-cid-ānanda), daher muß jedes spiritu-
elle Teilchen ebenfalls sac-cid-ānanda sein, so wie ein goldener Ohr-
ring der Eigenschaft nach eins mit dem Gold in der Goldmine ist.
Dennoch ist der goldene Ohrring nicht die Goldmine.
Die Māyāvādis machen also den Fehler zu glauben, der Teil könne
dem Ganzen gleich werden. Bloß weil sie Bestandteile Gottes sind,
bilden sie sich ein, sie seien Gott. Deshalb beschreibt das Srimad-
Bhāgavatam (10.2.32) die Unpersönlichkeitsanhänger als avisuddha-
buddhayah: „Ihre Intelligenz ist unrein; sie befinden sich immer noch
in Unwissenheit." Die Māyāvādis sind der Ansicht, sie könnten
durch Wissensvermehrung mit Gott eins werden, und sprechen sich
daher gegenseitig mit „Nārāyana" an. Das ist ihr großer Fehler. Wir
können nicht Nārāyana werden, denn Nārāyana ist vibhu, was „sehr
groß" oder „unendlich" bedeutet, wohingegen wir anu, unendlich
klein, sind. Unsere spirituelle Größe betrāgt ein Zehntausendstel ei-
ner Haarspitze. Wie kann folglich ein vernünftiger Mensch behaup-
ten, er sei Gott geworden?
Sankarācārya wollte das Bewußtsein der Menschen auf das Brah-
man richten und lehrte deshalb: aha brahmāsmi. „Ich bin das spiri-
tuelle Selbst, nicht der materielle Körper." Dem stimmen die Veden
zu. Auf der Stufe der mukti (Befreiung) versteht man vollkommen:
„Ich bin nicht der Körper, sondern reine, spirituelle Seele." Doch
hier hört Selbstverwirklichung nicht auf; als nächstes muß man sich
nämlich fragen: „Wenn ich eine spirituelle Seele bin, was ist dann
meine ewige spirituelle Tätigkeit?" Diese ewige Tätigkeit ist hinge-
bungsvoller Dienst für Krsna.
In der Bhagavad-gitā (18.54) beschreibt Sri Krsna, wie die Brahman-
Verwirklichung zum hingebungsvollen Dienst führt:
128 Im Angesicht des Todes
brahma-bhūtah prasannātmā
na socati na kānksati
samah sarvesu bhūtesu
mad-bhaktim labhate parām
Spirituelle Sinne
Wirkliches Wissen erlangen wir dadurch, daß wir mit unseren Sin-
nen Krsna dienen. Zur Zeit sind unser Geist und unsere Sinne
von körperlichen Bezeichnungen und Denkweisen in Anspruch ge-
nommen, wie: „Ich bin Amerikaner", „Ich bin Inder", oder „Ich bin
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 129
„O mein Herr, Erhalter allen Lebens, Dein wahres Gesicht ist hinter
130 Im Angesicht des Todes
„Im gegenwärtigen Zeitalter des Kali ist der einzige Weg, Erlösung
zu erlangen, das Chanten des heiligen Namens, das Chanten des
heiligen Namens, das Chanten des heiligen Namens des Herrn.
Es gibt keinen anderen Weg, keinen anderen Weg, keinen ande-
ren Weg."
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 131
Wir können die Kraft, die dem Chanten des heiligen Namens des
Herrn innewohnt, an der Bewegung für Krsna-Bewußtsein feststel-
len. Die Mitglieder dieser Bewegung haben alle erdenklichen sünd-
haften Tätigkeiten aufgegeben, obwohl sie von Geburt an schlech-
ten Angewohnheiten verfallen waren. Das ist ihr großes Glück, wie
Sri Caitanya Mahāprabhu im Caitanya-caritāmrta (Madhya-lilā 19.151)
erklārt:
gung von Vater und Mutter. Wenn der Same des Vaters und das Ei
der Mutter während des Geschlechtsverkehrs zusammenkommen,
gehen die Wesensarten von Vater und Mutter eine Verbindung ein,
die vom Kind angenommen wird.
Jeder Mensch hat seinen eigenen Körper; kein Körper gleicht dem
anderen. Die verschiedenen Körper haben ihre Ursache im karma.
Unserer früheren Handlungsweise gemäß entwickeln wir einen be-
stimmten feinstofflichen Körper, der aus Geist, Intelligenz und fal-
schem Ego besteht, und auf der Grundlage des feinstofflichen Kör-
pers erhalten wir einen bestimmten grobstofflichen Körper. Dies
erklärt Sri Krsna in der Bhagavad-gitā (8.6):
„Was auch immer der Daseinszustand ist, an den man sich erinnert,
wenn man seinen Körper verläßt, o Sohn Kuntis, diesen Zustand
wird man ohne Zweifel erreichen."
Der Zustand des feinstofflichen Körpers im Augenblick des To-
des leitet sich von der Gesamtsumme der Handlungen wāhrend des
Lebens her. Wenn ein Mensch darin unterwiesen wird, seinen fein-
stofflichen Körper durch die Entwicklung von Krsna-Bewußtsein zu
verāndern, bildet sein feinstofflicher Körper im Augenblick des To-
des einen grobstofflichen Körper, in dem er ein Geweihter Krsnas
sein wird. Wenn er noch fortgeschrittener ist, braucht er gar kei-
nen weiteren materiellen Körper mehr anzunehmen, sondern wird
sogleich einen spirituellen Körper bekommen und nach Hause, zu
Gott, zurückkehren. Dies ist die Vollkommenheit des menschlichen
Lebens.
12. KAPITEL
Die Fessel
sexueller Lust
Die Yamadūtas fuhren fort: „Anfänglich studierte der brāhmana
Ajāmila sämtliche vedischen Schriften. Er besaß einen vorbild-
lichen Charakter, ein angenehmes Betragen und gute Eigenschaf-
ten. Er befolgte strikt die vedischen Anweisungen und war sehr
sanftmütig und höflich. Er beherrschte seinen Geist und seine
Sinne. Darüber hinaus war er stets ehrlich, verstand es, die vedi-
schen mantras zu chanten, und führte ein reines Leben. Ajāmila
hatte vor seinem spirituellen Meister, dem Feuergott, den Gāsten
und den Familienāltesten große Achtung. Er war in der Tat frei
von falschem Stolz und Geltungsbedürfnis. Er war aufrichtig, al-
len Lebewesen wohlgesinnt und von gutem Benehmen. Er sprach
niemals Unsinn und beneidete niemanden.
Einmal ging Ajāmila auf Geheiß seines Vaters in den Wald, um
Früchte, Blumen und zwei Arten von Gras namens samit und kusa
zu sammeln. Auf dem Heimweg begegnete er einem lüsternen
viertklassigen Mann (sūdra), der schamlos eine Prostituierte um-
armte und küßte. Der sūdra lachte, sang und gab sich dem Genuß
hin, als ob daran nichts falsch wäre. Sowohl der sūdra als auch
die Prostituierte waren betrunken. Im Rausch verdrehten sich die
Augen der Prostituierten, und ihre Kleidung hatte sich gelockert.
Das war der Zustand, in dem Ajāmila sie erblickte.
Der sūdra, dessen Arm mit Kurkuma-Puder eingerieben war,
umarmte die Dirne. Als Ajāmila sie erblickte, erwachten in sei-
nem Herzen die schlummernden lüsternen Wünsche, und er fiel,
von Illusion überwältigt, in ihre Gewalt. So gut es ging, versuchte
er geduldig, sich an die Anweisungen der sāstras zu erinnern, die
133
134 Im Angesicht des Todes
besagen, daß man eine Frau nicht einmal anblicken sollte. Mit
Hilfe dieses Wissens und seiner Intelligenz wollte er seine lüster-
nen Wünsche zügeln, aber die Gewalt des Liebesgottes in seinem
Herzen war so stark, daß er seinen Geist nicht zu beherrschen ver-
mochte." (Srimad-Bhāgavatam 6.1.56-62)
Brahmanische Eigenschaften
halten zeugt davon, daß die Gosvāmis dhrta-vrata waren: Sie wa-
ren es gewohnt, Gelübde mit großer Entschlossenheit auf sich zu
nehmen und zu erfüllen. Ohne uns mit fester Entschlossenheit Ent-
sagungen und Bußen zu unterziehen, können wir uns Gott nicht
nāhern. Wer ernsthaft spirituellen Fortschritt machen will, muß all
diese regulierenden Prinzipien befolgen.
Ajāmila besaß all diese brahmanischen Eigenschaften und kann-
te sämtliche erforderlichen mantras, wie zum Beispiel den Gāyatri-
mantra und den Hare-Krsna-mahā-mantra. Auch diente er ständig
seinem guru, was die erste Qualifikation eines brāhmana ist. In der
vedischen Zeit führten alle Familien der höheren Kasten morgens
nach dem Bad und dem Chanten der vedischen mantras ein Feuer-
opfert durch. Agni, das Opferfeuer, brannte immer. Sie brachten dem
Feuer, dem guru und schließlich den älteren Familienmitgliedern
Opfergaben dar. So erwiesen sie jeden Tag ihrem Vater, ihrer Mut-
ter und dem spirituellen Meister Achtung. Heutzutage ist dies nicht
mehr üblich, doch im vedischen Gesellschaftssystem war es die er-
ste Pflicht des Tages.
Ein Beispiel für die vedische Etikette, die āltere Generation zu
ehren, ist Yudhisthira Mahārāja, der große heilige Pāndava-König.
Nach der Schlacht von Kuruksetra gingen Yudhisthira und seine
vier Brüder jeden Tag zu Dhrtarastra, ihrem Onkel väterlicherseits,
um ihm ihre Achtung zu erweisen. Dhrtarastra hatte viele Intrigen
ersonnen, um die Pandavas zu vernichten, und hatte ihnen schließ-
lich den Krieg erklärt, was aber den Tod seiner einhundert Söhne
zur Folge hatte. Selbst nach seiner Niederlage weigerte er sich, seine
Neffen, die Söhne seines Bruders Pāndu, zu empfangen. Dies war
eine große Beleidigung König Yudhisthiras. Eines Tages begab sich
Dhrtarāstras jüngerer Bruder, Vidura, der ein großer Vaisnava war,
zu Dhrtarastra und sagte: „Mein lieber Bruder, du bist schamlos.
Erst erklärst du den Pandavas den Krieg, und nun, da du ein alter
Mann bist, empfängst du König Yudhisthira immer noch nicht als
deinen Gast, lebst aber auf seine Kosten in seinem Haus. Wie kannst
du so schamlos sein, mein lieber Bruder?" Vidura sprach diese Wor-
te, nur um Dhrtarastra zu helfen, seine Anhaftung an das Familien-
leben aufzugeben. Obwohl Dhrtarastra ein alter Mann war und alle
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 137
seine Söhne tot waren, saß er immer noch ruhig zu Hause und aß
köstliche Speisen. Das zeigt, wie stark Familienbande sein können.
Vidura wies Dhrtarastra zurecht: „Du hustest Schleim, weil du so alt
bist, und hast eine kranke Leber. Sehr bald wirst du sterben, doch
immer noch sitzt du wie ein Hund auf deinem bequemen Stuhl.
Hast du nicht mehr Schamgefühl als ein Hund, der immer nur dar-
auf wartet, daß sein Meister ihm etwas zu fressen gibt?"
Als Dhrtarastra Viduras harsche Worte vernahm, wurde sein har-
tes Herz erweicht, und er erwiderte: „Ja, mein lieber Bruder Vidura,
bitte sage mir, was ich tun soll."
„Komm sogleich mit mir in den Wald", riet ihm Vidura, „und ver-
senke dich für den Rest deines Lebens einfach ins Krsna-Bewußt-
sein. Komm mit mir!" So verließ Dhrtarastra zusammen mit Vidura
und Gāndhāri, seiner treuen Gemahlin, das Haus, ohne irgend je-
manden etwas davon wissen zu lassen. Gemeinsam gingen sie in
den Wald, um ihr Leben in Meditation über den Herrn zu be-
schließen.
Als König Yudhisthira am Morgen seinen Onkeln Ehrerbietungen
erweisen wollte, sah er, daß sie nicht mehr da waren. Beim Ge-
danken an Dhrtarāstras hohes Alter wurde er von Angst ergriffen.
Doch da erschien der große Weise Nārada Muni und teilte ihm mit:
„Sei unbesorgt! Dhrtarastra und seine Frau, Gāndhāri, wurden von
deinem Onkel Vidura in den Wald geführt."
Diese Geschichte aus dem Srimad-Bhāgavatam gewāhrt uns Ein-
blick in den Brauch, āltere Familienmitglieder zu ehren. Nachdem
die morgendlichen Pflichten erfüllt sind, muß man als nächstes dem
spirituellen Meister und den älteren Angehörigen Ehrerbietungen
erweisen. Auch einem Gast muß man Achtung entgegenbringen.
Normalerweise wissen wir, wann ein Gast uns besuchen kommt,
und können Vorbereitungen treffen. Manchmal geschieht es jedoch,
daß jemand unerwartet kommt, und auch einen solchen Gast muß
man mit Ehren empfangen. Bei Tisch sollte der Familienvater als
letzter essen und zunächst den älteren Familienmitgliedern zu es-
sen geben, dann seinen Kindern und den anderen Angehörigen. Be-
vor er sein Mahl zu sich nimmt, sollte er auf die Straße gehen und
laut rufen: „Wer hungrig ist, soll bitte kommen. Ich habe noch nicht
138 Im Angesicht des Todes
gegessen und lade euch ein!" Man sollte zu Hause immer etwas
Essen für unerwartete Gāste aufheben. Wenn ein hungriger Gast
kommt und um Speise bittet, muß man ihm nach vedischer Sitte
sein eigenes Essen geben, selbst wenn für einen persönlich nichts
übrigbleibt. Das ist wirklicher grhastha-āsrama. In Indien kann man
sehen, daß ein Jugendlicher in der Gegenwart eines älteren Mannes
nur mit dessen Erlaubnis raucht, obwohl sie Fremde sind. Ein Ju-
gendlicher sollte selbst auf einen fremden älteren Menschen Rück-
sicht nehmen, um wieviel mehr also auf seinen Vater oder älteren
Bruder. In der vedischen Gesellschaft wird jeder āltere Mensch ge-
achtet und geehrt. Diese Grundsātze sind zwar nicht starr oder ab-
solut, aber sie sind vedischer Brauch.
Ajāmila wurde in seiner Jugend also dazu erzogen, dem spirituel-
len Meister und den älteren Menschen Respekt entgegenzubringen.
Das ist eines der Merkmale von sad-ācāra; Güte ist ein weiteres. Ajā-
mila war zu allen Lebewesen gütig, denn ein echter brāhmana ist der
Freund eines jeden, selbst einer Ameise.
In diesen Zusammenhang paßt die Geschichte von Nārada Muni
und dem Jäger. Als Nārada Muni einmal in der Nāhe von Prayag
durch einen Wald ging, sah er dort viele halbtote Tiere liegen. Vol-
ler Mitleid mit den leidenden Kreaturen rief er aus: „Wer ist der
Missetäter, der all diese Tiere erlegt und sie auf diese Weise ver-
enden läßt?" Da erschien der barbarische Jäger Mrgāri und antwor-
tete: „Lieber Weiser, bitte laß mich meine Arbeit machen! Wenn du
hierher gekommen bist, um ein Hirschfell zu erbitten, so will ich dir
gerne eins geben." „Ich bin nicht gekommen, um dich um irgend
etwas zu bitten", entgegnete Nārada, „sondern um dich zu fragen,
warum du diese Tiere nur halb tötest. Das ist eine große Sünde. Es
wäre besser, du tötetest sie ganz." Mrgāri erwiderte: „Mein Vater
brachte mir bei, die Tiere so zu töten. Ich wußte nicht, daß es sünd-
haft ist." Da erklärte ihm Nārada: „Ja, es ist sehr sündhaft; dafür
wirst du sehr zu leiden haben."
Der Jäger wurde nachdenklich und fragte: „Was soll ich tun?"
„Gib diese unsinnige Beschäftigung auf!" riet ihm Nārada Muni.
Doch Mrgāri protestierte: „Was soll ich dann essen?" Da versprach
ihm Nārada Muni: „Ich werde dich mit Nahrung versorgen." Und
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 139
der Jäger willigte ein: „In Ordnung, wenn du mir zu essen gibst,
kann ich diese Beschäftigung aufgeben."
Nārada Muni bat Mrgāri sodann, sich am Ufer des Ganges nie-
derzusetzen und vor einer heiligen tulasi-Pflanze Hare Krsna zu
chanten. Nārada Muni ging in das nahe gelegene Dorf und gab be-
kannt, daß sich am Ufer des Ganges ein reiner Vaisnava befinde und
chante. Als die Dorfbewohner Mrgāri erblickten, der friedlich am
Ufer saß und chantete, sagten sie zueinander: „Er hat seine Jägerei
aufgegeben und chantet jetzt Hare Krsna." Von nun an kamen sie
regelmäßig an das Ufer des Ganges, um Mrgāri zu besuchen. Einer
brachte Reis, ein anderer brachte dal, und wieder ein anderer brachte
Früchte.
Als immer mehr Nahrung zusammenkam, wunderte sich der Jā-
ger Mrgāri: „Warum schickt mir Nārada Muni so viel zu essen?
Ich muß nur mich und meine Frau ernähren." Daher fing er an,
das Essen zu verteilen. Täglich chantete er Hare Krsna und ver-
teilte prasādam - so wurde er ein vollkommener Vaisnava. (Dieses
System wurde in der Bewegung für Krsna-Bewußtsein eingeführt.
In jedem Tempel chanten wir den Hare-Krsna-mahā-mantra und ver-
teilen prasādam, Krsna geweihte Speisen.)
Nach einiger Zeit rief Nārada Muni seinen Freund Pārvata Muni
und sprach: „Ich habe einen sehr liebenswürdigen Schüler, der frü-
her ein Jäger war. Laß uns hingehen und nachschauen, wie es ihm
geht!" Pārvata Muni stimmte zu, und die beiden Weisen machten
sich auf den Weg. Als sie sich Mrgāris Haus näherten, sahen sie
Mrgāri hin- und herhüpfen. Beim Anblick Nārada Munis wollte
Mrgāri ihm sogleich zu Füßen fallen, um ihm seine Ehrerbietungen
zu erweisen; zuvor aber nahm er einen Zipfel seines dhoti und
fegte vorsichtig die Ameisen zur Seite, die vor ihm krabbelten, um
sie nicht zu zerdrücken. Er war umhergehüpft, um nicht auf die
Ameisen zu treten. Dies war derselbe Mann, der noch vor kurzem
alle möglichen Tiere gequält hatte; nun war er nicht einmal bereit,
eine Ameise zu töten. Das ist das Wesen eines Vaisnavas.
Auch Ajāmila war von gütigem Wesen, eine Eigenschaft, durch
die sich brāhmanas auszeichnen. Trotz seiner vorzüglichen Erziehung
war er nicht stolz. Er war frei von ahankāra, falschem Ego. Das Wort
140 Im Angesicht des Todes
ahankara bedeutet soviel wie: „Ich tue dies, ich tue das, und deshalb
bin ich so einzigartig." Ajāmila war frei von dieser Haltung und
kannte auch keinen Neid. In unserer verkommenen Zeit ist jeder auf
einen oder mehrere Menschen neidisch. Doch brāhmanas wie Ajāmi-
la sind von dieser Neigung frei. Nur wer sich diese brahmanischen
Eigenschaften und Verhaltensformen zu eigen gemacht hat, darf er-
warten, aus der materiellen Gefangenschaft befreit zu werden.
mahātmās, den reinen Gottgeweihten, dienen. Wenn wir aber das Tor
zur Hölle aufstoßen wollen, müssen wir uns mit denen zusammen-
tun, die in Frauen vernarrt sind." Die lüsternen Menschen der heu-
tigen, angeblich zivilisierten Gesellschaft kümmern sich nicht um
Krsna-Bewußtsein. Sie sorgen sich nicht um ihre älteren Familien-
mitglieder. Auf der Straße, am Strand oder im Kino befriedigen
sie ihre sexuellen Gelüste. Ununterbrochen verwendet die Werbung
erotische Szenen, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen.
So gießen materialistische Atheisten Öl in das Feuer der Lust, und
die Menschen fahren zur Hölle.
Ajāmila wurde durch den Anblick des unzivilisierten, sich um-
schlingenden Paares verdorben. Weil der sūdra und die Dirne be-
trunken waren, verdrehten sich ihre Augen, und die Kleider der
Dirne hatten sich gelockert. Heutzutage ist es modern geworden,
enthüllende Kleidung zu tragen, aber diese Gepflogenheit ist ab-
scheulich und degradiert den Körper zum bloßen Lustobjekt. Es
heißt, daß ein Körper, der mit Kurkuma eingerieben ist, die sexuelle
Begierde des anderen Geschlechts vergrößert. Das Wort kāma-liptena
deutet an, daß der sūdra sich Kurkuma aufgetragen hatte. Weil der
sūdra und die Dirne Schurken waren, schämten sie sich nicht. Sie
entblößten sich freizügig, ohne sich um die öffentliche Meinung zu
kümmern. Sie lachten, sangen und umarmten sich - und der junge
Ajāmila, der vorbeikam, mußte alles mit ansehen.
In der modernen Zeit werden derartige erotische Szenen regel-
mäßig im Kino gezeigt, und man kann sich unschwer vorstellen,
welchen Charakter die jungen Männer und Frauen von heute da-
durch entwickeln. Beim einmaligen Anblick einer solchen Szene
kam Ajāmila zu Fall, und seine spirituelle Erziehung und Aus-
bildung waren ruiniert. Er war wie gelāhmt und völlig verwirrt.
Wenn Amor angreift, gehen alle Bildung, alle Kultur und alles Wis-
sen verloren. Deshalb muß man sich von dieser freizügigen, lüster-
nen Gesellschaft fernhalten. Cānakya Pandita rät: „Meide immer
den Umgang mit Menschen, die zu sehr der Sinnenbefriedigung
verfallen sind. Suche vielmehr die Gemeinschaft derer, die den hin-
gebungsvollen Tätigkeiten des spirituellen Lebens nachgehen." Aus
diesem Grund werden die Knaben in den gurukula geschickt, das
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 143
Haus des echten spirituellen Meisters, der sie vom sechsten Lebens-
jahr an im spirituellen Leben ausbildet.
Wenn man nicht sehr gefestigt ist in Wissen, Geduld und ein-
wandfreiem körperlichem, geistigem und intellektuellem Verhalten,
fāllt es einem außerordentlich schwer, seine lüsternen Wünsche im
Zaum zu halten. Selbst ein hochqualifizierter brahmana, wie er oben
beschrieben wird, konnte seine lüsternen Wünsche nicht mehr be-
herrschen und wurde von ihnen überwältigt, nur weil er einen
Mann gesehen hatte, der eine junge Frau umarmte und praktisch
alles tat, was zum Geschlechtsverkehr gehört. Der starke Einfluß
des materialistischen Lebens macht es äußerst schwierig, Selbstbe-
herrschung zu bewahren, es sei denn, man befindet sich durch hin-
gebungsvollen Dienst unter dem besonderen Schutz der Höchsten
Persönlichkeit Gottes.
13. KAPITEL
Ajamilas
lasterhaftes Leben
Die Yamadūtas fuhren fort: „Ebenso wie die Sonne und der Mond
von einem niederen Planeten verfinstert werden, verlor der brāh-
mana Ajāmila all seinen Verstand. Er dachte ständig an die Prosti-
tuierte, und schon bald nahm er sie als Dienstmagd in sein Haus
und gab alle regulierenden Prinzipien eines brāhmana auf.
Ajāmila begann, alles Geld, das er von seinem Vater geerbt hat-
te, zu verschleudern, um die Prostituierte mit vielerlei materiellen
Geschenken zu erfreuen, damit sie ihm wohlgesinnt blieb. Er gab
alle brahmanischen Tätigkeiten auf, um sie zufriedenzustellen.
Weil seine Intelligenz von ihrem lüsternen Blick durchbohrt war,
verfiel Ajāmila in ihrer Gemeinschaft sündhaften Handlungen. Er
gab sogar die Verbindung mit seiner wunderschönen jungen Frau
auf, die aus einer angesehenen brāhmana-Familie stammte.
Dieser niederträchtige Ajāmila ließ sich durch den Umgang mit
der Dirne all seiner Intelligenz berauben, obwohl er in einer brāh-
mana-Familie geboren worden war. So beschaffte er sich auf jede
erdenkliche Weise Geld, ganz gleich ob rechtmäßig oder unrecht-
mäßig, und gebrauchte es, um sie und ihre Kinder zu versorgen.
Wāhrend seines langen Lebens überschritt er ständig die Regeln
und Vorschriften der heiligen Schriften, lebte ausschweifend und
aß Speisen, die von der Dirne zubereitet worden waren. Somit ist
er ein großer Sünder, er ist unsauber und verbotenen Tätigkeiten
verfallen.
Ajāmila nahm keinerlei Bußen auf sich. Wegen seines sünd-
haften Lebens müssen wir ihn daher vor Yamarāja führen, der ihn
bestrafen wird. Dort wird er entsprechend dem Ausmaß seiner
144
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 145
Ein Vaisnava weiß, daß Sri Krsna der höchste Besitzer und Ge-
nießer ist und daß alle anderen Seine Diener sind. So wie ein Betrieb
dem Nutzen des Inhabers dient, dient alles und jeder in der mate-
riellen und spirituellen Welt dem Genuß Krsnas. Niemand sonst ist
der Genießer, ja niemand befindet sich überhaupt in der Position zu
genießen. Der einzige, der genießt, ist Krsna.
Wenn wir unsere Beziehung zu Krsna als Seine ewigen Diener
vergessen, werden wir zu Dienern unserer Sinne, Dem Diktat un-
serer Sinne folgend, gelangen wir in die dunkelsten Regionen der
Illusion und werden der Bestrafung durch Yamarāja ausgeliefert.
Manchmal verbietet uns unser Gewissen: „Tu das nicht!", aber wir
ergeben uns unserer Lust und Gier und tun es dennoch. Krsna weilt
in unserem Herzen und gebietet ebenso: „Tu es nicht!", und trotz-
dem tun wir es. Den eigenen Sinnen zu dienen bringt nur Leid.
Warum sollen wir also nicht Krsna dienen, wenn wir sowieso die-
nen müssen? Warum sollen wir unseren Sinnen dienen, die doch
nie zufrieden sind? Wir sollten Diener Gottes werden, denn dies ist
die Vollkommenheit des Lebens. Andernfalls sind wir gezwungen,
Diener unserer Sinne zu werden und zu leiden.
Wer ein Diener Krsnas wird, wird ein gosvami, ein Meister der
Sinne. Der Titel „Gosvami" bezeichnet jemanden, der sich weigert,
dem Diktat der Sinne zu folgen. Statt dessen gehorcht er dem Ge-
bot der Höchsten Persönlichkeit Gottes, so wie Rūpa Gosvami und
Sanātana Gosvami es taten. Der Titel „Gosvami" ist keine Kasten-
bezeichnung. Bevor Rūpa Gosvami ein gosvāmi wurde, diente er
der mohammedanischen Regierung als Minister und wurde aus
diesem Grund von der hinduistischen brāhmana-Gesellschaft ausge-
schlossen. Doch als er den Dienst in Nawab Hussain Shahs Regie-
rung aufgab, um der Anweisung Caitanya Mahāprabhus zu dienen,
machte der Herr ihn zu einem gosvami.
Alle wirklichen gosvāmis sind auch vairāgis, entsagungsvolle Men-
schen. Wer aber nicht in der Lage ist, ein echter vairāgi zu sein, muß
ein grhastha (Haushälter) werden. Man kann sich nicht als brahmacāri
oder sannyāsi ausgeben und heimlich unzulässigem Geschlechts-
verkehr nachgehen. Das ist abscheulich. Wenn ein Haushālter rich-
tig karma-yoga praktiziert, das heißt die Früchte seiner Tätigkeiten
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadūtas 147
hohe Position und um all ihr Geld bringen. Daher ist unzulässi-
ger Geschlechtsverkehr streng verboten. Man sollte sich mit seiner
Ehefrau zufriedengeben, denn bereits ein kleiner Fehltritt kann ver-
heerende Folgen haben. Ein Krsna-bewußter grhastha darf dies nie
vergessen. Er sollte niemals andere Frauen begehren, sondern mit
seiner Ehefrau in Frieden leben, indem er einfach den Hare-Krsna-
mantra chantet. Anderenfalls kann er jeden Augenblick seine guten
Lebensumstānde ruinieren, wie das Beispiel von Ajāmila zeigt.
In Anbetracht von Ajāmilas üblem Charakter wunderten sich die
Yamadūtas, warum die Visnudutas ihnen verboten, einen derartigen
Menschen Yamarāja zur Bestrafung zu bringen. Da Ajāmila für seine
sündhaften Taten keine Buße auf sich genommen hatte, sollte er, so
dachten die Yamadūtas, zu Yamarāja geführt werden, um geläutert
zu werden. Die Bestrafung bei Yamarāja ist ein Läuterungsvorgang,
der für die allergrößten Sünder bestimmt ist. Daher baten die Yama-
dütas die Visnudutas, sie nicht daran zu hindern, Ajāmila zu Yama-
rāja zu bringen.
14. KAPITEL
Betrüger
und Betrogene
Sukadeva Gosvāmi sprach: Mein lieber König, die Diener Sri Vis-
nus sind stets sehr bewandert in Logik und Argumentation. Nach-
dem die Visnudutas die Worte der Yamadūtas vernommen hatten,
antworteten sie:
„Ach, wie schmerzlich ist es mitanzusehen, daß Irreligiosität
eine Versammlung heimsucht, deren Aufgabe es wäre, Religion
aufrechtzuerhalten! In der Tat bestrafen nun schon diejenigen, die
für die Erhaltung der religiösen Prinzipien verantwortlich sind, ei-
nen sündlosen Menschen, der keine Strafe verdient.
Ein König oder ein Regierungsvertreter sollte so qualifiziert sein,
daß er aus Zuneigung und Liebe als Vater, Erhalter und Beschützer
der Bürger handelt. Er sollte den Bürgern guten Rat und Anwei-
sungen im Einklang mit den maßgebenden Schriften erteilen und
jeden gleichermaßen gerecht behandeln. So verhālt sich Yamarāja,
denn er ist der höchste Meister der Gerechtigkeit, und so verhalten
sich diejenigen, die ihm nachfolgen. Wenn solche Personen jedoch
korrupt und parteiisch werden, indem sie einen Unschuldigen be-
strafen, müssen wir uns fragen: Bei wem werden die Bürger Zu-
flucht suchen in der Sorge um ihren Unterhalt und ihre Sicherheit?
Die Masse der Menschen folgt dem Beispiel eines Führers und
ahmt sein Verhalten nach; sie hālt für richtig, was immer der Führer
für richtig hālt. Die meisten Menschen besitzen nicht genügend
Wissen, um zwischen Religion und Irreligiosität zu unterscheiden.
Der unschuldige, unaufgeklärte Bürger ist wie ein unwissendes
Tier, das friedlich mit dem Kopf auf dem Schoß seines Meisters
schlāft und vertrauensvoll an den Schutz des Meisters glaubt. Wie
kann ein Führer, der wirklich ein gutes Herz hat und es verdient,
152
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 153
welcher Lage befinden sich die Bürger, wenn die Regierung unfähig
oder bestechlich ist?
Der König oder in der heutigen Zeit die Regierung sollte für den
Schutz der Bürger eintreten und sie das richtige Lebensziel leh-
ren. Die menschliche Lebensform ist dazu auserkoren, Selbstver-
wirklichung, das heißt die Verwirklichung unserer Beziehung zur
Höchsten Persönlichkeit Gottes, zu erlangen. Die Pflicht der Regie-
rung ist es deshalb, alle Bürger so zu erziehen, daß sie allmählich
auf die spirituelle Ebene erhoben werden und ihre Beziehung zu
Gott verwirklichen. Diesem Grundsatz folgten Könige wie Mahārāja
Yudhisthira, Mahārāja Pariksit, Sri Rāmacandra, Mahārāja Ambarisa
und Prahlāda Mahārāja.
Leider sind die Staatsführer der heutigen Zeit für gewöhnlich ver-
logen und gottlos, und alle Staatsangelegenheiten haben darunter
zu leiden. Im Namen der Demokratie verleiten Gauner und Diebe
die unschuldige Bevölkerung dazu, sie in die wichtigsten Regie-
rungsämter zu wählen. Dafür erbrachte man unlängst in Amerika
den Beweis, woraufhin der Präsident bei den Bürgern in Ungnade
fiel und abgesetzt wurde. Das ist aber nur ein Fall unter vielen.
Im Kali-yuga haben die Menschen keine Zuflucht. Aufgrund der
korrupten Regierungen können sie ihres Lebens und ihres Eigen-
tums nicht sicher sein. Unter dem Schutz der Regierung sollte die
breite Masse sich immer sicher fühlen dürfen. Wie bedauerlich ist es
daher, wenn die Regierung selbst das Vertrauen mißbraucht und die
Bürger aus politischen Gründen in Schwierigkeiten bringt! Zur Zeit
der Teilung Indiens haben wir gesehen, wie Politiker plötzlich Ge-
fühle des Hasses zwischen den Hindus und Moslems schürten, ob-
wohl diese bislang friedlich zusammengelebt hatten. Für die Politik
brachten sich hierauf Hindus und Moslems gegenseitig um: eine Ge-
walttätigkeit, die für das Kali-yuga typisch ist.
Ein weiteres Symptom des Kali-yuga ist die abscheuliche Un-
sitte, Tiere zu schlachten. In diesem Zeitalter werden die Tiere zu-
nächst wohl behütet, und sie vertrauen voll darauf, daß ihre Be-
sitzer sie beschützen werden. Leider aber werden die Tiere, sobald
sie Fett angesetzt haben, zum Schlachten gebracht. Eine solche Bru-
talität wird von Vaisnavas wie den Visnudutas verurteilt. Die sün-
156 Im Angesicht des Todes
Buße
Die Visnudütas fuhren fort: „Ajāmila hat bereits für all seine sünd-
haften Taten gebüßt. Er büßte nicht nur für die Sünden aus einem
Leben, sondern sogar für sämtliche Sünden aus Millionen von Le-
ben, denn er chantete in einem hilflosen Zustand den heiligen Na-
men Nārāyanas. Obgleich sein Chanten nicht rein war, chantete er
ohne Vergehen, und deshalb ist er jetzt rein und für die Befreiung
geeignet.
Schon früher pflegte Ajāmila beim Essen und bei anderen Ge-
legenheiten seinen Sohn zu rufen: ,Mein lieber Nārāyana, bitte
komm zu mir!' Obwohl er eigentlich den Namen seines Sohnes
rief, sprach er doch die vier Silben nā-rā-ya-na aus. Indem er den
Namen Nārāyanas auf diese Weise chantete, büßte er ausreichend
für die sündhaften Handlungen aus Millionen von Leben.
Das Chanten von Sri Visnus heiligem Namen ist die beste Me-
thode der Buße für einen Dieb, der Gold oder andere Wertge-
genstände gestohlen hat, für einen Trunkenbold, für jemanden,
der einen Freund oder Verwandten betrogen oder einen brāhmana
getötet hat, und für jemanden, der mit der Frau seines guru oder
eines anderen Höhergestellten Geschlechtsverkehr hatte. Es ist
auch die beste Methode der Buße für diejenigen, die ihren Vater,
den König oder Frauen ermordet oder Kühe geschlachtet haben,
und für alle anderen sündhaften Menschen. Dadurch, daß solche
sündhaften Menschen einfach nur den heiligen Namen Sri Visnus
chanten, ziehen sie die Aufmerksamkeit des Höchsten Herrn auf
sich, der dann Seinerseits denkt: ,Da dieser Mensch Meinen heili-
gen Namen gechantet hat, ist es Meine Pflicht, ihm Schutz zu ge-
währen.'" (Srimad-Bhāgavatam 6.2.7-10)
157
158 Im Angesicht des Todes
Die Visnudütas warfen den Yamadutas vor, sie wüßten nicht, wen
sie festnehmen dürften und wen nicht. Die Yamadutas nehmen
regelmäßig Sünder gefangen; aber in diesem Falle wollten sie Ajā-
mila ergreifen, obschon er durch das Chanten von „Nārāyana!" von
allen sündhaften Reaktionen befreit worden war. Die Visnudütas
kritisierten die Yamadutas wie folgt: „Ihr wißt nicht, wen ihr zu be-
strafen habt und wen nicht. Selbst wenn Ajāmila zahllose Sünden
begangen hat, ist er nun von den Folgen dieser Sünden erlöst. Er
tilgte diese Sünden vollständig, indem er den heiligen Namen Nā-
rāyanas chantete. Warum versucht ihr jetzt, ihn gefangenzunehmen,
als sei er ein Verbrecher? Obwohl er den heiligen Namen nicht mit
Absicht chantete, sprach er ihn dennoch aus und ist daher nun frei
von Sünde."
Die Yamadutas hatten nur Ajāmilas äußere Situation in Betracht
gezogen. Da er zu Lebzeiten ein großer Sünder gewesen war, sollte
er vor Yamarāja gebracht werden. So dachten sie zumindest, aber sie
wußten nicht, daß er von den Folgen all seiner Sünden befreit wor-
den war. Die Visnudütas gaben ihnen daher zu verstehen, daß ihm
alle Sünden erlassen seien, weil er im Moment des Todes und schon
zu Lebzeiten den Namen Nārāyanas gechantet hatte. In diesem Zu-
sammenhang zitiert Srila Visvanatha Cakravarti Thākura folgende
Verse aus den Schriften:
„Einfach durch das Chanten des heiligen Namens Hari kann ein
sündhafter Mensch die Reaktionen von mehr Sünden aufheben, als
er zu begehen vermag." (Brhad-visnu Purāna)
avasenāpi yan-nāmni
kirtite sarva-pātakaih
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 159
„Selbst wenn man den heiligen Namen in einer hilflosen Lage oder
unbeabsichtigt chantet, verschwinden sogleich alle sündhaften Re-
aktionen, genauso wie das Gebrüll eines Löwen die kleinen Tiere im
Wald die Flucht ergreifen lāßt." (Garuda Purāna)
„Wer nur einmal Gottes heiligen Namen chantet, der aus den zwei
Silben ha-ri besteht, dem ist der Pfad der Befreiung gewiß." (Skanda
Purāna)
Dies sind einige Verse, die erklären, warum die Visnudutas die
Yamadutas davon abhielten, Ajāmila vor Yamarāja zu bringen.
Es gibt verschiedene Arten von Sünden, und eine davon ist Dieb-
stahl. Diebe und Einbrecher sind sehr sündige Menschen. Eine wei-
tere Sünde ist Trunksucht. Diejenigen, die der Berauschung und
dem Stehlen verfallen sind, werden von den Visnudutas verurteilt.
Zu den schlimmsten Sünden zāhlt außerdem, seinen Freunden nicht
treu zu sein, einen brāhmana oder Vaisnava zu töten, seinen spirituel-
len Meister oder Lehrer zu mißachten und eine Frau, einen König
oder eine Kuh zu töten. Aber die Visnudutas sagen, daß man trotz
vieler solcher Sünden sofort von den Reaktionen frei wird, wenn
man den heiligen Namen Nārāyanas ausspricht.
Sridhara Svāmi sagt: „Das Chanten des heiligen Namens von Nā-
rāyana, Hari, hob nicht nur sämtliche sündhaften Reaktionen Ajā-
milas auf, sondern befähigte ihn auch, Befreiung zu erlangen. Im
Augenblick des Todes wurde er daher in die spirituelle Welt ge-
führt." Das Chanten von Krsnas heiligem Namen macht mehr Sün-
den wieder gut, als man begehen kann. Weil Ajāmila den heiligen
Namen ohne Vergehen und ernsthaft gechantet hatte, wurde er von
allen sündhaften Reaktionen befreit. Aus diesem Grund legen wir so
großen Wert auf das Chanten von Hare Krsna. Seien es fromme Wer-
160 Im Angesicht des Todes
Sünde wieder begangen habe", wird der Höchste Herr ihm dank
seiner echten Reue vergeben. Wenn er hingegen mit Absicht sündigt
und erwartet, daß der Herr ihm vergebe, weil er Hare Krsna chantet,
dann ist das unverzeihlich.
Wenn man im Vertrauen auf den heiligen Namen sündhaften
Tätigkeiten nachgeht, begeht man nāma-aparādha, ein Vergehen ge-
gen den heiligen Namen. Von den zehn Vergehen ist das schwer-
wiegendste, im Vertrauen auf das Chanten zu sündigen. Durch das
Chanten von Hare Krsna wird man von allen sündhaften Reaktio-
nen befreit, doch wenn man die gleichen Sünden wieder begeht,
macht man sich eines gravierenden Verbrechens schuldig. Bei ei-
nem gewöhnlichen Menschen mag solch eine sündhafte Handlung
nicht so sehr ins Gewicht fallen, aber für jemanden, der Hare Krsna
chantet, ist sie ein gefährliches Vergehen, genauso wie es für ei-
nen Regierungsbeamten ein großes Verbrechen ist, seine Position
zu mißbrauchen und Bestechungsgelder anzunehmen. Solchen Ver-
brechern gebühren die schwersten Strafen. Wenn ein Polizist stiehlt,
ist sein Verbrechen größer als das eines gewöhnlichen Diebes, und
seine anschließende Bestrafung fāllt hārter aus. So lautet das Gesetz.
Wer auf ähnliche Weise den Hare-Krsna-mantra ausnutzt, mit dem
Hintergedanken: „Ich chante Hare Krsna. Selbst wenn ich einige
Sünden begehe, ist mir verziehen", der wird nicht zum endgültigen
Ziel des Chantens der heiligen Namen gelangen. Er gerāt in einen
Teufelskreis: Er wird befreit, begeht die Sünde wieder, wird erneut
befreit und begeht die Sünde wieder und immer wieder. So wird er
nie erlöst.
Nichtsdestoweniger sollte man fest daran glauben, daß man seine
sündhaften Reaktionen aufhebt, wenn man Hare Krsna chantet. Zu
denken, der heilige Name könne sündhafte Reaktionen nicht aus-
löschen, ist eines der zehn Vergehen gegen den heiligen Namen des
Herrn. Diejenigen, die sich darin üben, den Hare-Krsna-tnahā-mantra
ohne Vergehen zu chanten, sollten festes Vertrauen in die Worte der
sāstras haben, die erklären, daß das Chanten von Krsnas heiligem
Namen höchste Macht besitzt. „Das Chanten von Visnus heiligem
Namen", sagen die Visnudutas, „ist die beste Methode der Buße für
alle Arten von Sündern." Aber sehr oft hat man mit der Schwie-
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 163
rigkeit zu kämpfen, daß man Hare Krsna chantet und dann wieder
sündigt.
ten mit Vergehen, das Chanten im befreiten Zustand und das Chan-
ten in vollkommener Liebe zu Gott. Diese fortschreitenden Stufen
des Chantens gleichen dem Heranreifen einer Mango. Eine unreife
Mango schmeckt sauer, aber wenn die Frucht ganz reif ist, schmeckt
sie sehr süß. Anfänglich mögen wir nur ungern chanten, doch wenn
wir befreit werden, ist das Chanten so süß, daß wir es nicht mehr
aufgeben können. Hierzu hat Srila Rūpa Gosvāmi einen schönen
Vers verfaßt, der die Süße von Krsnas heiligem Namen beschreibt:
„Ich weiß nicht, wieviel Nektar die zwei Silben krs-na erzeugt ha-
ben. Wenn der heilige Name Krsnas gechantet wird, scheint er im
Munde zu tanzen, und wir wünschen uns dann viele, viele Münder.
Wenn dieser Name in die Öffnung unserer Ohren dringt, wünschen
wir uns viele Millionen von Ohren. Und wenn der heilige Name im
Hof des Herzens tanzt, bringt er die Tätigkeit des Geistes zum Still-
stand, wodurch alle Sinne untätig werden."
Dies sind die Merkmale von jemandem, der den befreiten Zu-
stand des Chantens erreicht hat. Auf dieser Stufe, prema genannt,
empfindet man einen großen Geschmack am Chanten von Hare
Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare
Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Doch diese Stufe kann man nur er-
reichen, wenn man den regulierenden Prinzipien folgt. Wir müssen
vorsichtig sein. Auf die Heilung einer Krankheit folgt zunächst die
Genesungszeit. Wenn wir uns falsch verhalten, kann die Krankheit
wiederkommen. Es ist nicht so, daß wir befreit werden und dann al-
les tun können, was uns beliebt. Nein, wir müssen immer an den re-
gulierenden Prinzipien des hingebungsvollen Lebens festhalten.
den heiligen Namen chantet und sich Seinen Lotosfüßen völlig er-
gibt, sofort als Seinen Schützling betrachtet und immer beschirmen
möchte. Dies wird von Sridhara Svāmi bestätigt. Deshalb sandte der
Herr unverzüglich Seine eigenen Diener zu Ajāmilas Schutz, als sich
dieser in der großen Gefahr befand, von den Beauftragten Yamarājas
abgeführt zu werden. Die Visnudütas setzten sich sogleich für Ajā-
mila ein, denn er war von allen sündhaften Reaktionen befreit.
Ajāmila hatte seinem Sohn den Namen Nārāyana gegeben, und
weil er den Jungen sehr liebte, pflegte er ihn immer wieder zu rufen.
Obgleich er nach seinem Sohn rief, war der Name selbst voller
Macht, da der Name Nārāyana nicht verschieden ist von Nārāyana,
dem Höchsten Herrn. Als Ajāmila seinen Sohn Nārāyana nannte,
wurden sämtliche Folgen seines sündigen Lebens aufgehoben, denn
wāhrend er seinen Sohn rief und so den heiligen Namen Nārāya-
nas viele tausend Male chantete, machte er unbewußt Fortschritt im
Krsna-Bewußtsein.
Ein weiterer Einwand könnte lauten: ,Wie konnte Ajāmila mit ei-
ner Prostituierten zusammenleben und Wein trinken, wenn er doch
ständig Nārāyanas Namen chantete?' Durch seine sündhaften Taten
brachte er immer wieder Leid über sich. Daher könnte man mei-
nen, daß Ajāmila nur befreit wurde, weil er Nārāyanas heiligen Na-
men im Augenblick des Todes chantete, aber nicht, weil er ihn zu
Lebzeiten gechantet hatte. Dann jedoch wäre das Chanten wāhrend
seines Lebens ein nāma-aparādha gewesen. Nāmno balād yasya hi pāpa-
buddhih: Wer weiterhin sündhaft handelt und versucht, seine Sün-
den durch das Chanten des heiligen Namens aufzuheben, ist ein
nāma-aparādhi, ein Frevler gegen den heiligen Namen.
Darauf lāßt sich erwidern, daß Ajāmila wāhrend seines Lebens
ohne Vergehen chantete, weil er Nārāyanas Namen nicht rief, um
seine Sünden zu tilgen. Er war so sehr in Illusion, daß er gar nicht
wußte, daß er sündhaften Tätigkeiten verfallen war und daß sein
Chanten des heiligen Namens Nārāyana ihn vor den Reaktionen be-
wahrte. Mit anderen Worten, er beging sein Leben lang keinen nāma-
aparādha, und sein Chanten des heiligen Namens Nārāyana, das sei-
nem Sohn galt, kann als rein bezeichnet werden.
Dank diesem reinen Chanten erhielt Ajāmila unbewußt die Er-
gebnisse von bhakti, hingebungsvollem Dienst. Schon das erstmalige
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 167
Erwecken
der Gottesliebe
Die Visnudūtas fuhren fort: „Durch das Befolgen der vedischen
Ritualhandlungen oder das Ausüben von Bußen werden sünd-
hafte Menschen nicht so sehr geläutert wie dadurch, daß sie ein-
mal den heiligen Namen Sri Haris chanten. Obgleich rituelle Buße
von sündhaften Reaktionen befreien kann, erweckt sie nicht hin-
gebungsvollen Dienst - im Gegensatz zum Chanten der Namen
des Herrn, das uns an den Ruhm, die Eigenschaften, die Merk-
male, die Spiele und die Attribute des Herrn erinnert.
Die rituellen Zeremonien der Buße, die in den religiösen Schrif-
ten empfohlen werden, reichen nicht aus, um das Herz vollkom-
men zu lāutern, da nach vollzogener Buße der Geist wieder mate-
riellen Tätigkeiten zustrebt. Aus diesem Grunde wird jemandem,
der von den fruchtbringenden Reaktionen materieller Tätigkeiten
befreit werden möchte, das Chanten des Hare-Krsna-mantra und
die Lobpreisung des Namens, des Ruhms und der Spiele des Herrn
als der vollkommene Vorgang der Buße empfohlen. Denn solches
Chanten beseitigt vollständig den Schmutz im Herzen. Im Mo-
ment des Todes chantete Ajāmila hilflos und sehr laut den heili-
gen Namen Nārāyanas. Dieses Chanten allein erlöste ihn bereits
von allen Folgen seines sündhaften Lebens. Deshalb, o Diener
Yamarājas, versucht nicht, ihn zu eurem Meister zu führen, um
ihn höllischen Strafen auszuliefern. Wer den heiligen Namen des
Herrn chantet, wird sofort von den Folgen zahlloser Sünden be-
freit, selbst wenn er im Scherz, zur musikalischen Unterhaltung
oder nachlässig chantet, ja sogar dann, wenn er etwas anderes da-
mit ausdrücken will. Dies wird von allen großen Schriftgelehrten
anerkannt.
168
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 169
Das Chanten des heiligen Namens als beste Form der Buße
Die Visnudütas weisen hier darauf hin, daß die vedischen Schriften
verschiedene Methoden der Buße empfehlen, um die Reaktionen
sündhafter Handlungen aufzuheben. Auch das Christentum kennt
eine Methode der Buße. Wenn zum Beispiel ein Katholik eine Sünde
begeht, sollte er sich gemäß seiner Glaubenslehre an einen Priester
wenden und beichten: „Ich habe folgende Sünde begangen..." Der
Priester gilt als ein autorisierter Stellvertreter Gottes, und wenn er
als solcher dem Sünder vergibt, werden seine Sünden getilgt.
Doch eine solche Buße kann einen sündhaften Menschen nicht so
sehr lāutern wie das Chanten von Krsnas heiligem Namen; denn
nachdem der Beichtende die Kirche verlassen hat, begeht er häufig
die gleiche Sünde wieder. Mit anderen Worten, es kann keine Rede
davon sein, daß man durch Buße allein geläutert wird.
Dennoch werden in den Veden verschiedene Bußen denen emp-
fohlen, die noch nicht bereit sind, den Vorgang reinen hingebungs-
vollen Dienstes aufzunehmen. Diese Methoden der Buße sind pro-
portional zur Schwere der Sünde, die sie aufheben sollen. Wenn
wir einen Husten oder eine Grippe haben, wird die vom Arzt ver-
schriebene Medizin nicht so teuer sein, wie wenn wir an Tuber-
kulose erkranken. Ebenso fāllt prāyascitta (rituelle Zeremonien zur
Buße sündhafter Handlungen) im Verhältnis zum Ausmaß der Sün-
de geringer oder schwerwiegender aus. Je schwerer die Sünde, desto
hārter die Buße. So lauten die Vorschriften, die große Weise wie
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 171
Parāsara Muni und Manu gegeben haben. Die Weisen haben zwan-
zig Arten von Schriften verfaßt, die die dharma-sāstra bilden. Diese
Schriften lehren, wie man für seine Sünden büßt und zu den himm-
lischen Planeten erhoben wird. Es heißt zum Beispiel, daß man
bei bestimmten Verbrechen geloben muß, eine gewisse Anzahl von
Tagen zu fasten oder Spenden zu geben. Ein Geschäftsmann also,
der durch sündhafte Tätigkeiten eine Million Dollar verdient hat,
muß dementsprechend hohe Spenden geben.
Es gibt viele solcher vorgeschriebenen Methoden der Buße, aber
die Visnudutas sagen: „Wenngleich diese vorgeschriebenen Metho-
den der Buße berechtigt sind und ihren Zweck erfüllen, vermögen
sie nicht das Herz zu läutern." Wie wir sehen, können Hindus,
Mohammedaner und Christen - obwohl sie solche Bußriten voll-
ziehen - nicht davon ablassen, immer wieder die gleichen Sünden
zu begehen. Wer solch einem Bußritus folgt, ist wie ein unauf-
richtiger Patient, der sich von einem Arzt behandeln lassen will.
Der Arzt gibt ihm eine Medizin und klärt ihn auf, wie er sie ein-
zunehmen hat, aber der törichte Patient nimmt die Medizin nach
eigener Lust und Laune ein. Sein Gesundheitszustand verschlechtert
sich deswegen, worauf er wieder zum Arzt geht und lamentiert:
„Herr Doktor, bitte geben Sie mir mehr Medizin!"
In diesem Zusammenhang erwähnt Srila Visvanātha Cakravarti
Thākura ein Ereignis, das sich zutrug, als Samba, einer von Krsnas
Söhnen, vor der Bestrafung durch die Kauravas gerettet wurde.
Samba hatte sich in Laksmanā, die Tochter Duryodhanas, verliebt.
Der Ehrenkodex der ksatriyas besagt, daß niemandem die Toch-
ter eines ksatriya zur Frau gegeben wird, wenn er nicht zuvor sei-
nen ritterlichen Heldenmut unter Beweis gestellt hat. Aus diesem
Grund entführte Samba Laksmanā, was zur Folge hatte, daß er
von den Kauravas gefangengenommen wurde. Als später Balarāma
kam, um ihn zu befreien, fand eine Auseinandersetzung um Sāmbas
Freilassung statt. Da der Streit nicht beigelegt werden konnte, de-
monstrierte Balarāma Seine Stärke, und ganz Hastināpura erbebte.
Wie bei einem Erdbeben wäre es fast dem Erdboden gleichgemacht
worden, hātte man sich nicht doch noch auf eine Heirat zwischen
Samba und Duryodhanas Tochter geeinigt. Die Bedeutung dieses
172 Im Angesicht des Todes
Ereignisses liegt darin, daß man bei Krsna und Balarāma Zuflucht
suchen sollte, deren Schutz so mächtig ist, daß ihm nichts in der
materiellen Welt gleichkommt. Wie schwerwiegend die Reaktionen
unserer Sünden auch sein mögen, sie werden sogleich überwunden,
wenn wir den Namen Hari, Krsna, Balarāma oder Nārāyana chanten.
Bußriten wie Fasten und wohltätige Spenden werden daher von
den Visnudütas nicht anerkannt. Sie sagen: „Solche vorgeschrie-
benen rituellen Zeremonien können einen Menschen nicht so wir-
kungsvoll läutern wie das Chanten von Gottes heiligem Namen."
Zweifellos wird man von allen Verunreinigungen eines sündigen
Lebens frei, wenn man bestimmte religiöse Prinzipien befolgt. Doch
diese reichen letztlich nicht aus, weil der Geist so ruhelos ist, daß
er wieder zu sündhaften Handlungen hingezogen wird, selbst nach-
dem er von der Verunreinigung sündhafter Reaktionen befreit wor-
den ist.
Die läuternde Kraft des hingebungsvollen Dienstes für Krsna, an-
gefangen mit dem Chanten des heiligen Namens, wird im Srimad-
Bhāgavatam (11.2.42) bestätigt: bhaktih paresānubhavo viraktir anyatra
ca. „Hingebungsvoller Dienst für den Herrn ist so mächtig, daß man
durch ihn sogleich von allen materiellen Wünschen befreit wird."
In der materiellen Welt sind alle Wünsche sündig, denn materi-
elle Wünsche bedeuten Sinnenbefriedigung, die immer mehr oder
minder sündhafte Handlungen mit sich bringt. Aber reiner hinge-
bungsvoller Dienst ist anyābhilāsitā-sünya, frei von materiellen Wün-
schen. Wer im hingebungsvollen Dienst verankert ist, hat keine
materiellen Wünsche mehr und lebt daher nicht mehr in Sünde.
Materielles Verlangen sollten wir völlig aufgeben. Wenn auch Ent-
sagungen, Bußen und Spenden uns für eine gewisse Zeit von Sün-
den befreien mögen, werden unsere Begierden wieder erwachen,
weil unser Herz noch unrein ist. Dann werden wir erneut sündigen
und leiden. Der besondere Vorteil hingebungsvollen Dienstes be-
steht darin, daß er uns von allen materiellen Wünschen befreit.
Durch Buße allein kann man sein Herz nicht reinigen. Ein Syphi-
liskranker geht zum Arzt, der ihm gegen ein hohes Honorar eine
Spritze gibt. Ja er mag sogar geheilt werden, aber wenn er wieder
unzulässigen Geschlechtsverkehr hat, steckt er sich von neuem mit
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 173
Wenn wir den heiligen Namen Gottes chanten - Hare Krsna, Hare
Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadūtas 175
Rāma, Hare Hare -, werden wir schließlich in der Lage sein, Krsnas
Form zu sehen, Krsnas Eigenschaften zu erkennen und uns an
Krsnas Spiele zu erinnern. Das ist die Wirkung des reinen Chantens
des Hare-Krsna-mahā-mantra.
Srila Visvanātha Cakravartl Thākura erklärt, daß dem Chanten
der heiligen Namen eine ganz besondere Bedeutung innewohnt,
die es von den vedischen Bußriten für schwere, noch schwerere
und schwerste Sünden unterscheidet. Es gibt zwanzig verschiedene
Arten religiöser Schriften, die dharma-sāstras, angefangen mit der
Manu-samhitā und der Parāsara-samhitā. Doch die Visnudutas be-
tonen: Obgleich ein Sünder von den Reaktionen seiner äußerst sünd-
haften Handlungen befreit wird, wenn er die religiösen Grundsātze
dieser Schriften befolgt, erhebt ihn dies nicht zur Stufe des liebe-
vollen Dienstes für den Herrn. Dagegen befreit uns selbst das ein-
malige Chanten der heiligen Namen des Herrn nicht nur von den
Reaktionen schwerster Sünden, sondern erhebt uns auch allmählich
auf die Ebene des liebevollen Dienstes für die Höchste Persönlich-
keit Gottes. So dienen wir dem Herrn, indem wir uns an Seine Ge-
stalt, Seine Eigenschaften und Seine Spiele erinnern.
Srila Visvanātha Cakravartl Thākura erklärt des weiteren, daß
das Chanten der heiligen Namen dies alles ermöglicht, weil der
Herr allmächtig ist. Was durch das Ausführen vedischer Rituale
unerreichbar bleibt, kann durch das Chanten der heiligen Namen
des Herrn leicht erreicht werden. Den heiligen Namen zu chanten
und in Ekstase zu tanzen ist so einfach, erhaben und wirkungsvoll,
daß man ohne weiteres alle Segnungen des spirituellen Lebens er-
langen kann, wenn man einfach diesem Vorgang folgt. Daher erklärt
Sri Caitanya Mahāprabhu: param vijayate sri-krsna-sankirtanam. „Alle
Ehre sei dem gemeinsamen Chanten von Sri Krsnas heiligem Na-
men!" Die sankirtana-Bewegung, die wir ins Leben gerufen haben,
bietet den besten Vorgang, um die Menschen unverzüglich von al-
len sündhaften Reaktionen zu lāutern und auf die Ebene spirituellen
Lebens zu erheben.
Obgleich Ajāmila zu Fall kam, war er doch in seiner Jugend ein
brahmacāri gewesen und von seinem Vater richtig erzogen worden.
Er kannte den Namen, die Form und die Spiele Nārāyanas, vergaß
sie aber durch seinen schlechten Umgang. Als er jedoch auf seinem
176 Im Angesicht des Todes
Denn andere Vorgānge wie karma, jnāna und yoga können das Herz
nicht völlig reinigen.
Māyāvādis (Unpersönlichkeitsanhänger) sind nicht fähig, den Na-
men, die Form und die Spiele des Herrn zu verherrlichen, denn
sie glauben, Gott habe keine Form und Seine Spiele seien māyā
(Illusion). Warum sollte Gott keine Form besitzen? Wir haben eine
Form, weil unser Vater eine Form hat. Warum sollte also der Höch-
ste Vater keine Form haben? In der Bhagavad-gitā (14.4) erklärt Krsna:
aham bija-pradah pitā. „Ich bin der samengebende Vater aller Lebe-
wesen." Auch die Christen glauben, daß Gott der Höchste Vater ist.
Wenn die Söhne alle Form haben, wie kann dann der Vater keine
Form haben? Wir können nicht von einem Vater gezeugt werden,
der keine Form hat. Isvarah paramah krsnah sac-cid-ānanda-vigrahah:
„Krsna ist der Höchste Herrscher und die Ursache aller Ursachen. Er
besitzt eine ewige Form voller Wissen und Glückseligkeit." (Brahma-
samhitā 5.1) Vigraha bedeutet „Form". Wie kann Gott formlos sein,
wenn Er doch die Ursache aller Ursachen ist und der Schöpfer, der
all diese Formen erschafft?
Gott besitzt Form, aber nicht eine Form wie die unsere. Seine
Form ist sac-cid-ānanda, doch die unsere ist genau das Gegenteil.
Gottes Form ist sat, ewig existent, wāhrend die Form des Men-
schen asat ist, vergänglich. Gottes Form ist cit, voller Wissen, aber
die unsere ist acit, voller Unwissenheit; und Seine Form ist voller
ānanda, Glückseligkeit, wohingegen die unsere voller nirānanda, vol-
ler Elend, ist. Eine Form, die sich so sehr von der unsrigen unter-
scheidet, können wir nicht wahrnehmen; deshalb heißt es manch-
mal, Gott sei nirākāra, ohne Form.
Gottes Form ist transzendental, das heißt, Sein Körper ist nicht
materiell, sondern spirituell. Seine Form ist von einer anderen Na-
tur als jene, an die wir gewöhnt sind. In den Veden heißt es, daß
Gott sieht, aber keine Augen hat. Das bedeutet, daß Gottes Augen
nicht wie die unsrigen sind - sie sind spirituell, nicht materiell. Wir
sind nur in der Lage, einen Teil zu sehen, wāhrend Gott alles sehen
kann, da Er Seine Augen überall hat. Die Natur Seiner Augen, Sei-
ner Form, Seiner Hände und Beine unterscheidet sich grundsätzlich
von der unseren.
Im Gegensatz zu unserem Wissen ist Krsnas Wissen unbegrenzt.
178 Im Angesicht des Todes
Gefolge erinnern; und diese Erinnerung wird ihn von allen sünd-
haften Reaktionen und von aller materiellen Bindung erlösen.
Die Visnudütas erklären, daß in den Veden zwar viele Methoden
zur Befreiung von sündhaften Reaktionen vorgeschrieben werden,
daß sie aber alle nicht ausreichen, weil sie einen Menschen nicht
auf die Ebene absoluter Reinheit erheben können. Diejenigen, die
andere vedische Methoden der Läuterung praktizieren, wünschen
sich im allgemeinen materiellen Gewinn, wie etwa Erhebung zu den
himmlischen Planeten. Aber einem Gottgeweihten ist nichts an der
Erhebung zu den himmlischen Planeten gelegen; ihm ist nichts an
irgendeinem Planeten in der materiellen Welt gelegen, da er weiß,
wie vergänglich der Nutzen davon ist, auf die himmlischen Planeten
zu gelangen. Obwohl wir auf einem höheren Planeten Tausende von
Jahren leben und uns eines sehr hohen Lebensstandards erfreuen
können, der uns schöne Frauen, märchenhaften Reichtum und die
feinsten Weine bietet, haben wir davon keinen dauernden Nutzen.
Für einen Gottgeweihten ist solch ein Leben höllisch, weil er nicht
ohne Krsna leben möchte. Das ist echte spirituelle Erkenntnis.
Uns ist nur an Krsna und Krsnas Freude gelegen. Darin besteht
wirkliches Glück. Deshalb versuchen wir, Krsna zu erfreuen. Auch
Kamsa war Krsna-bewußt, da er stets an Krsna dachte, aber seine
Meditation über Krsna war feindselig. Er meditierte darüber, wie
er Krsna töten könne. Er dachte an Krsna, doch er sah Ihn als
Feind. Wenn man an Krsna denkt, sich aber Seinem Wunsch wider-
setzt und Ihn nicht zufriedenstellen will, hat das gewiß nichts mit
bhakti oder Hingabe zu tun. Krsna-Bewußtsein muß in einer positi-
ven Haltung praktiziert werden. Arjuna war ein Gottgeweihter, weil
er positiv zur Freude Krsnas handelte. Materiell gesehen erschienen
Arjunas Taten negativ, aber was Krsna betrifft, waren sie positiv.
Deshalb waren sie alle vollkommen und frei von jeglicher Sünde.
der Ebene der Tugend handelt, bleibt er eine bedingte Seele, die an
die Reaktionen ihrer guten Taten gebunden ist. Selbst wenn man ein
brāhmana wird, ein sehr frommer Mensch, heißt das noch nicht, daß
man ein Gottgeweihter geworden ist. Manchmal hingegen scheint
ein Gottgeweihter gegen die Regeln weltlicher Frömmigkeit zu ver-
stoßen. Arjuna beispielsweise war ein herausragender Geweihter
Sri Krsnas, aber er tötete seine Verwandten. Unwissende Menschen
könnten den Vorwurf erheben: „Arjuna ist kein guter Mensch. Sieh
nur, er tötete seinen Großvater, seinen Lehrer und seine Vettern,
er vernichtete seine ganze Familie." Doch in der Bhagavad-gitā (4.3)
sagt Krsna zu Arjuna: bhakto 'si me. „Du bist Mein geliebter Freund."
Auch wenn Arjuna gemäß den Wertvorstellungen der materiellen
Welt nicht als guter Mensch gelten mag, muß er als ein Gottgeweih-
ter anerkannt werden, da er eine Seele ist, die sich dem Wunsch
des Herrn ergeben hat. Arjuna tötete tatsāchlich seine eigenen An-
gehörigen, aber dennoch blieb er in Krsnas Augen ein enger Freund
und Geweihter. Darin liegt der Unterschied zwischen einem Gottge-
weihten und einem guten Menschen dieser Welt: Ein guter Mensch
versucht immer, fromm zu handeln, weil er weiß, daß er sündhafte
Reaktionen erleiden muß, sobald er Schlechtes tut. Doch ein Gottge-
weihter, wenn auch von Natur aus ein sehr guter Mensch, kann auf
Krsnas Geheiß wie ein schlechter Mensch handeln, ohne zu Fall zu
kommen - er bleibt dennoch ein reiner Geweihter des Herrn und ist
Ihm sehr lieb.
Wie erwähnt, ist es sehr läuternd, über Krsnas Spiele zu hören,
aber man muß es in der richtigen Haltung tun. Manche Leute mit
einer weltlichen Sichtweise fühlen sich sehr zu Krsnas rāsa-lilā hin-
gezogen, Seinen Spielen mit den Kuhhirtenmādchen. Sie beachten
jedoch nicht, daß Krsna auch mit Dāmonen kämpft und sie tötet.
Ihnen entgeht, daß die Absolute Wahrheit, Krsna, unter allen Um-
stānden gut ist. Krsna kann Sich gemeinsam mit Seinen Geweihten
vergnügen oder Dāmonen töten - Er bleibt die Absolute Wahrheit,
und Seine Spiele lāutern gleichermaßen das Herz.
Im allgemeinen hören die Leute das Srimad-Bhāgavatam von be-
rufsmäßigen Erzählern, die besonders gerne über den rāsa-lilā spre-
chen. „Krsna umarmt ein Mādchen", denken die Leute, „das klingt
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 181
abhyāsa-yoga-yuktena
cetasā nānya-gāminā
paramam purusam divyam
yāti pārthānucintayan
„Wer über Mich als die Höchste Persönlichkeit Gottes meditiert, in-
dem er seinen Geist stāndig darin übt, sich an Mich zu erinnern,
und von diesem Pfad nicht abweicht, dem ist es sicher, Mich zu er-
reichen."
Es war kein Zufall, daß Ajāmila sich an Krsna erinnerte. Schon
früher in seinem Leben hatte er den Namen Nārāyanas gechan-
tet, dann aber den Herrn aufgrund seines schlechten Umgangs ver-
gessen. Trotzdem trat die transzendentale Wirkung seiner früheren
Übung im Moment des Todes zutage, obwohl er den Namen sei-
nes jüngsten Sohnes rief und nicht beabsichtigt hatte, nach Krsna
zu rufen.
Vorbehaltlose Barmherzigkeit
„Was auch immer der Daseinszustand ist, an den man sich erinnert,
184 Im Angesicht des Todes
wenn man seinen Körper verlāßt, diesen Zustand wird man ohne
Zweifel erreichen."
Wer sich darin übt, den Hare-Krsna-mantra zu chanten, wird
wahrscheinlich auch chanten, wenn er einen Unfall erleidet. Aber
selbst wer ohne solche Übung bei einem tödlichen Unfall den hei-
ligen Namen des Herrn chantet, wird nach dem Tode vor einem
höllischen Leben bewahrt. Wenn jemand zum Beispiel von einem
hohen Dach stürzt, aber irgendwie „Hare Krsna!" ruft, hört der Herr
diesen Schrei. Wenn wir von einem Tiger träumen, der uns auf-
fressen will, und dann im Schlaf Hare Krsna chanten, hört der Herr
dies ebenfalls.
Obwohl Ajāmila den heiligen Namen Nārāyanas nur indirekt -
in Form des Namens seines jüngsten Sohnes - chantete, erinnerte
er sich augenblicklich an Nārāyana. Aus diesem Grund gibt man
in der vedischen Gesellschaft Kindern die Namen Gottes. Das be-
deutet jedoch nicht, daß das Kind dadurch Gott wird. Wenn wir
einem Knaben den Namen Nārāyana geben, gilt er als Nārāyana
dāsa, der Diener Nārāyanas. Auf ähnliche Weise geben wir unse-
ren Schülern spirituelle Namen wie Visnu dāsa, Vāmana dāsa oder
Krsna dāsa. Daß Ajāmila sich an Nārāyana erinnerte, als er seinen
gleichnamigen Sohn rief, wird im Srimad-Bhāgavatam bestätigt, wo
es heißt, daß die Klangschwingung des heiligen Namens absolute
Macht besitzt.
Durch das Aussprechen des heiligen Namens wird man auf der
Stelle von allen sündhaften Reaktionen befreit, selbst wenn man
sich über die Macht des Namens nicht bewußt ist. Man mag mit
Hingabe und Ehrfurcht oder auch ohne Glauben chanten, aber in
jedem Fall werden mehr sündhafte Reaktionen getilgt, als ein Sün-
der auf sich laden kann. Solch grenzenlose Stārke besitzt Krsnas Na-
me! Als Caitanya Mahāprabhu in Navadvipa den Hare-Krsna-maha-
mantra chantete, kam es vor, daß die Leute den Herrn und Seine
Gefährten nachahmten. Damals stand das Land unter mohamme-
danischer Herrschaft. Manchmal wandten sich die Leute daher an
einen Regierungsbeamten und beklagten sich: „Die Hindus chanten
,Hare Krsna! Hare Krsna!', tanzen wie wild und wirbeln mit ihren
Armen." Auf diese Weise ahmten sie den sankirtana Sri Caitanya
Mahāprabhus nach. Auch in den westlichen Ländern imitieren uns
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas 185
Passanten, wenn wir auf die Straße gehen und Hare Krsna chanten.
Doch selbst durch solches Nachahmen werden sie gereinigt. Der
heilige Name ist so mächtig, daß man sogar einen spirituellen Ge-
winn hat, wenn man sich über uns lustig macht und sagt: „Warum
chantet ihr Hare Krsna - so ein Unsinn!"
Das Chanten von Krsnas heiligem Namen ist wie das Aufgehen
der Sonne in einem verfinsterten Herzen. Das Universum ist voller
Dunkelheit, und nur weil Krsna für Sonnenschein gesorgt hat, kön-
nen wir sehen. Sobald die Sonne untergeht, gerāt die Welt unter
den Einfluß der Dunkelheit. Ebenso ist unser Herz voll Finsternis
und Unwissenheit, aber es gibt ein Licht, um die Dunkelheit zu ver-
treiben: Dieses Licht ist Krsna-Bewußtsein. Aufgrund von schlech-
ten Taten sind wir in Unwissenheit, doch denen, die dem Herrn
ständig mit Liebe und Zuneigung dienen, offenbart Sich Krsna im
Herzen. Durch Krsnas besondere Barmherzigkeit befinden sich die
Gottgeweihten immer im Licht des Krsna-Bewußtseins. Krsna kennt
Absicht und Motiv eines jeden, und Seine Gnade ist besonders de-
nen zugedacht, die Ihm aufrichtig dienen.
Krsna ist jedem gleich wohlgesinnt, und daher ist Seine Barm-
herzigkeit grenzenlos. Seinen Geweihten ist Er jedoch besonders zu-
geneigt. Wenn wir bereit sind, Seine Barmherzigkeit unbegrenzt ent-
gegenzunehmen, ist Er bereit, sie uns unbegrenzt zu geben. Weil
wir aber ein neidisches Wesen haben, sind wir nicht bereit, Seine
Gnade anzunehmen. In der Bhagavad-gitā (18.66) sagt Krsna: sarva-
dharmān parityajya mām ekam saranam vraja / aham tvam sarva-pāpebhyo
moksayisyāmi: „Gib alle Arten sogenannter Religion auf und ergib
dich Mir allein! Ich werde dich von allen sündhaften Reaktionen be-
freien." Obgleich Er uns offen Seinen Schutz anbietet, nehmen wir
ihn nicht an. Das Sonnenlicht verbreitet sich gleichmäßig im ganzen
Universum, aber wenn wir die Türe schließen und nicht ins Freie
gehen, um die Sonnentage auszunützen, sind wir selbst schuld.
Sonnen- und Mondlicht machen keine Unterschiede; es ist nicht so,
daß sie nur die Hāuser der brāhmanas erhellen und die der candālas
(Hundeesser) in Dunkelheit lassen. Nein, das Licht wird an alle vor-
behaltlos verteilt. Ebenso ist Krsnas Barmherzigkeit jedem gleicher-
maßen zugänglich, doch es bleibt dem einzelnen überlassen, Gottes
freigebig verteilte Gnade anzunehmen.
186 Im Angesicht des Todes
Verlängerte Lebensfrist
192
Ajamilas Reue 193
Jetzt ist mir klar, daß ein sündhafter Mensch wie ich als Folge
solcher Handlungen in höllische Umstānde hinabgestoßen wer-
den müßte, die für diejenigen bestimmt sind, die religiöse Prinzi-
pien verletzt haben, und daß ich dort die schlimmsten Leiden er-
dulden müßte.
War das, was ich sah, ein Traum, oder war es Wirklichkeit? Ich
sah furchterregende Gestalten mit Stricken in den Händen, die
mich gefangennehmen und hinwegschleifen wollten. Wo sind sie
hingegangen? Und wohin haben sich jene vier befreiten und wun-
derschönen Persönlichkeiten begeben, die mich aus der Gefangen-
schaft retteten und mich davor bewahrten, in die höllischen Re-
gionen hinabgezerrt zu werden?
Ich bin gewiß verabscheuenswert und unglückselig, da ich in
ein Meer sündhafter Tätigkeiten eingetaucht war, doch trotzdem
konnte ich dank meiner früheren spirituellen Tätigkeiten jene vier
erhabenen Persönlichkeiten sehen, die zu meiner Rettung kamen.
Nun bin ich äußerst froh über ihren Besuch.
Wie hātte ich, ein schmutziger Freier einer Prostituierten, die
Gelegenheit bekommen können, in meiner Todesstunde den hei-
ligen Namen Nārāyanas zu chanten, wenn nicht aufgrund meines
früheren hingebungsvollen Dienstes? Gewiß wäre es nicht mög-
lich gewesen." (Srimad-Bhāgavatam 6.2.24-33)
Reue
mäß den drei Erscheinungsweisen der Natur ist, ist sie doch für den
Frieden und den Wohlstand in Familie und Gesellschaft wichtig.
Wenn aber der Mann und die Frau Gottgeweihte sind, bedarf es
solcher Erwāgungen nicht. Ein Gottgeweihter ist transzendental,
und daher ist eine Ehe zwischen Gottgeweihten eine sehr glückliche
Verbindung.
Ajāmila klagte: „Da ich mich nicht beherrschen konnte, war ich
zu einem abscheulichen Leben verdammt, und all meine brahma-
nischen Eigenschaften gingen verloren." So denkt jemand, der auf
dem Wege ist, ein reiner Gottgeweihter zu werden. Wenn man durch
die Barmherzigkeit des Herrn und des spirituellen Meisters auf die
Ebene des hingebungsvollen Dienstes erhoben wird, bereut man als
erstes seine vergangenen sündhaften Handlungen. Dies hilft einem,
im spirituellen Leben voranzukommen. Die Visnudūtas hatten Ajā-
mila die Möglichkeit gegeben, ein reiner Gottgeweihter zu werden;
und die erste Pflicht eines Gottgeweihten ist es, seine früheren sünd-
haften Handlungen zu bereuen: unzulässiges Geschlechtsleben, Be-
rauschung, Fleischessen und Glücksspiel. Ein Gottgeweihter sollte
nicht nur seine vergangenen schlechten Angewohnheiten aufgeben,
sondern auch stets Reue über seine früheren sündhaften Hand-
lungen empfinden. Das ist die Ebene reiner Hingabe.
Offene Schulden
Eltern dienen kann. Wie von einer Ehefrau erwartet wird, daß sie
ihrem Mann treu ist, so sollte auch der Ehemann ihr für ihre Dien-
ste dankbar sein und sie beschützen. Wegen seines schlechten Um-
gangs mit einer Prostituierten hatte Ajāmila jedoch all seine Pflich-
ten im Stich gelassen. Nun bedauerte er dies und hielt sich für sehr
gefallen.
Im vedischen Gesellschaftssystem ist man sich dessen bewußt,
daß man zahlreiche Verpflichtungen hat, sobald man auf die Welt
kommt. Wir sind den rsis, den großen Weisen, verpflichtet, da wir
unser Wissen aus ihren transzendentalen Schriften erhalten, wie
dem Srimad-Bhāgavatam, das von Srila Vyāsadeva verfaßt wurde.
Die Verfasser der Schriften kennen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, und wir sind aufgerufen, uns solch unschätzbares Wissen
zunutze zu machen. Somit stehen wir in der Schuld der Weisen.
Auch den Halbgöttern sind wir verpflichtet, denn sie regeln die
Angelegenheiten des Universums und versorgen uns mit allem Not-
wendigen: Sonnenschein vom Sonnengott Sürya, Mondschein vom
Mondgott Candra, Luft von Vāyu und so fort. Jedes Element unter-
steht der Kontrolle eines bestimmten Halbgottes.
Wir befinden uns auch in der Schuld der gewöhnlichen Lebewe-
sen, von denen wir einen Dienst entgegennehmen. Von der Kuh
zum Beispiel nehmen wir Milch. Nach vedischem Verständnis wird
die Kuh als eine unserer Mütter angesehen, weil wir ihre Milch
trinken, so wie wir als Säugling die Milch unserer Mutter tranken.
Das Srimad-Bhāgavatam führt sieben Mütter auf: unsere eigene Mut-
ter, die Frau unseres Lehrers oder spirituellen Meisters, die Frau ei-
nes brāhmana, die Gemahlin des Königs, die Amme, die Kuh und
die Erde. Wir sind diesen sieben Müttern sowie auch unserem Vater,
unseren Brüdern, Freunden, Verwandten und Ahnen verpflichtet.
Ebenso geht man eine Verpflichtung ein, wenn man Almosen
annimmt. Diese Schuld muß genauso zurückerstattet werden, wie
man geborgtes Geld zurückzahlen muß. Aus diesem Grund dürfen
Gottgeweihte Spenden nur mit der Absicht entgegennehmen, sie
in Krsnas Dienst zu verwenden. Wenn ein Gottgeweihter Spenden
annimmt, nur um seinen Bauch zu füllen, ist das eine große Sün-
de. Brāhmanas und sannyāsis, die Almosen von anderen annehmen,
Ajāmilas Reue 197
ekam saranam vraja. „Ergib dich einfach Mir!" Wir sollten Krsnas Rat
befolgen. Besonders in diesem Zeitalter des Kali wird es ansonsten
äußerst schwierig sein, all unseren Verpflichtungen nachzukommen.
Bleibender Gewinn
In der materiellen Welt lauert Gefahr auf Schritt und Tritt. Selbst den
reinen Gottgeweihten droht die Gefahr, von der Stufe der Reinheit
herunterzufallen. Im Srimad-Bhāgavatam (1.5.17) jedoch sagt Nārada
Muni:
man sollte vorsichtig sein und sich fragen: „In welche Lage werde
ich im nächsten Leben aufgrund meiner Handlungsweise geraten?"
Ein Gottgeweihter hat keine Angst vor dem Tod; er betet einfach
zu Krsna: „Ich mag sterben und immer wieder geboren werden,
ganz wie Du es wünschst. Ich bitte nur darum, daß ich Dich durch
Deine Barmherzigkeit niemals vergessen werde, unter welchen Be-
dingungen auch immer ich lebe." Ein Gottgeweihter ist nicht āngst-
lich, aber er sieht sich vor, nicht zu Fall zu kommen. Gleichzeitig
weiß er, daß der hingebungsvolle Dienst, den er leistet, sein blei-
bender Gewinn ist. Die Ajāmila-Geschichte veranschaulicht dies be-
sonders gut. Wir sollten die Regeln und Vorschriften gewissenhaft
befolgen; doch selbst wenn wir zu Fall kommen, geht uns nichts
verloren. Das erklärte bereits Nārada Muni. Selbst wenn sich je-
mand aus einer momentanen Stimmung heraus dem Krsna-Bewußt-
sein zuwendet und nur eine Zeitlang hingebungsvollen Dienst aus-
übt, dann aber wieder ins materielle Leben zurückkehrt, wird jeder
Dienst, den er geleistet hat, aufgezeichnet, und eines Tages wird er
gerettet werden - so wie Ajāmila gerettet wurde.
Nachdem die Visnudūtas seiner Sicht entschwunden waren,
fragte sich Ajāmila zunächst, ob er nur geträumt habe, daß sie ge-
kommen waren, um ihn aus den Fesseln der Yamadūtas zu be-
freien. Wāhrend Ajāmila wie im Koma auf seinem Sterbebett lag,
erblickte er tatsāchlich die Yamadūtas und die Visnudūtas, aber es
schien ihm, als ob er nur träume. Als er erkannte, daß er wirklich
vor den furchterregenden Schergen Yamarājas gerettet worden war,
wollte er die Visnudūtas wiedersehen. Ihre Erscheinung war sehr
strahlend gewesen: Ihre Körpermerkmale glichen genau denen Sri
Visnus, sie waren wie Er geschmückt und trugen die vier Insignien
Seiner Macht - Muschelhorn, Lotos, Keule und Feuerrad. Ein herr-
liches Leuchten ging von ihren Körpern aus, und ihre Gewänder
waren von goldener Seide.
Daher fragte Ajāmila: „Wo sind nun jene wunderschönen Persön-
lichkeiten, die mich aus der Gefangenschaft der Yamadūtas befreit
haben? Mein ganzes Leben war voller Sünde. Wie konnte ich würdig
sein, solch großen Persönlichkeiten zu begegnen? Vielleicht", fol-
gerte er, „habe ich in meinem früheren Leben etwas Gutes getan
Ajamilas Reue 201
nehābhikrama-naso 'sti
pratyavāyo na vidyate
svalpam apy asya dharmasya
trāyate mahato bhayāt
203
204 Im Angesicht des Todes
Entschlossenheit
Die Geweihten des Herrn sind sehr gütig. Zum Wohle der All-
gemeinheit predigen sie Krsna-Bewußtsein und sind somit die
Freunde eines jeden Lebewesens. Andere können nicht zum Wohl
aller Lebewesen tätig sein. Die Politiker beispielsweise beschäftigen
sich angeblich im Dienst ihrer Landsleute, aber sie sind nicht die
wahren Freunde eines jeden in ihrem Land. Obgleich sie den Be-
dürfnissen ihrer Landsleute dienen mögen, kümmern sie sich nicht
um die der Tiere. Auf diese Weise machen sie Unterschiede, wohin-
gegen ein Gottgeweihter der Freund aller Lebewesen ist, ob Mensch,
Tier, Insekt oder Pflanze. Ein Gottgeweihter würde nicht einmal eine
Ajamilas Reue 207
Form. Zwischen der Form des Herrn und dem Herrn selbst be-
steht kein Unterschied. Deshalb ist bhakti-yoga das einfachste yoga-
System. Yogis versuchen, ihre Gedanken auf die Form der Überseele,
auf Visnu im Herzen, zu konzentrieren, aber das gleiche Ziel er-
reicht man mühelos, wenn man seinen Geist in Meditation über die
Bildgestalt Gottes im Tempel vertieft. In jedem Tempel gibt es eine
transzendentale Form des Herrn, und man kann mit Leichtigkeit
an sie denken. Wenn man den Herrn wāhrend der zeremoniellen
Verehrung (ārati) sieht, sein Geld, seine Zeit und seine Energie der
Verehrung der Bildgestalt opfert und ständig an die Form der Bild-
gestalt denkt, wird man ein erstklassiger yogi. Das ist der beste Vor-
gang des yoga, wie die Höchste Persönlichkeit Gottes in der Bhaga-
vad-gita (6.47) bestätigt:
„Von allen yogis ist derjenige, der großen Glauben besitzt und immer
in Mir weilt, immer an Mich denkt und Mir transzendentalen liebe-
vollen Dienst darbringt, am engsten mit Mir in yoga vereint, und er
ist der höchste von allen."
Der höchste yogi ist also derjenige, der seine Sinne beherrscht und
sich von materiellen Tätigkeiten löst, indem er stets an die Gestalt
des Herrn denkt.
Zurück zu Gott
Die Visnudütas, die Ajāmila gerettet hatten, erschienen wieder vor
ihm, als sein Geist unerschütterlich auf die Gestalt des Herrn ge-
richtet war. Sie hatten Ajāmila eine Zeitlang verlassen, um ihm Ge-
legenheit zu geben, in der Meditation über den Herrn gefestigt zu
werden. Nun, da seine Hingabe gereift war, kehrten sie zurück, um
ihn zu Gott zurückzuholen. Sowie Ajāmila erkannte, daß dieselben
Visnudütas wiedergekommen waren, verneigte er sich vor ihnen,
um ihnen seine Ehrerbietungen zu erweisen.
Ajāmila war nun bereit, nach Hause, zu Gott, zurückzukehren,
210 Im Angesicht des Todes
und so gab er seinen materiellen Körper auf und nahm seinen ur-
sprünglichen, spirituellen Körper an. Der Herr sagt in der Bhagavad-
gitā (4.9):
tadā rajas-tamo-bhāvāh
kāma-lobhādayas ca ye
ceta etair anāviddham
sthitam sattve prasidati
sollten wir nun, da der Körper gesund ist, nicht den heiligen Na-
men des Herrn laut und deutlich chanten? Wenn man das tut, wird
man wahrscheinlich sogar im Augenblick des Todes fähig sein, den
heiligen Namen des Herrn mit Liebe und Glauben zu chanten. Die
Schlußfolgerung lautet somit: Wer den heiligen Namen des Herrn
unentwegt chantet, dem ist die Rückkehr nach Hause, zu Gott,
garantiert.
4
YAMARĀJAS
UNTERWEISUNGEN
19. KAPITEL
214
Yamarajas Unterweisungen 215
ten sie Selbstmord begehen. Bevor sie aber weitere Schritte unter-
nahmen, wünschten sie, vom allwissenden Yamarāja etwas über die
Visnudütas zu erfahren.
Demütiges Fragen
„Wir möchten von dir erfahren", sagten die Yamadūtas, „was es tat-
sächlich mit diesem Vorfall auf sich hat. Wenn du denkst, wir könn-
ten es verstehen, dann klāre uns bitte auf!" Auf diese Art und Weise
sollte man demütig, nicht herausfordernd, an Höhergestellte Fragen
richten. Wie wir sehen, stellen Mahārāja Pariksit, Arjuna und je-
der andere, der dem Vorgang der spirituellen Erleuchtung folgt, im-
mer in demütiger Ergebenheit und in einer dienenden Haltung Fra-
gen. Nur weil wir unseren Meister fragen, heißt das allerdings noch
nicht, daß er verpflichtet ist, uns zu antworten. Zuweilen mag er uns
keine Antwort geben, weil wir nicht fähig sind, sie zu verstehen. Wir
können keine Forderungen stellen. Fragen, Ergebenheit und Dienst
sind der Weg zu Wissen. Immer wenn Mahārāja Pariksit Sukadeva
Gosvāmi fragte, sagte er sehr demütig: „Bitte beantworte diese Fra-
ge, wenn du glaubst, ich könne Deine Ausführungen verstehen."
Bevor Yamarāja den Yamadūtas antwortete, erinnerte er sich zu-
nächst an die Lotosfüße der Höchsten Persönlichkeit Gottes, Krsna.
So wie der Diener seinen Herrn in ergebener Haltung fragt, ist auch
der Herr nicht stolz und prahlt: „Ja, ich kann deine Frage beant-
worten!" Vielmehr entsinnt er sich der Lotosfüße des Herrn und
betet: „Was immer Du mich sagen lāßt, werde ich zur Antwort ge-
ben." Solange der Lehrer nicht hochmütig ist und der Schüler nicht
ungehorsam, überheblich oder unverschämt, ist es ihnen möglich,
spirituelle Fragen und Antworten auszutauschen. Man sollte nicht
in einer herausfordernden Haltung Fragen stellen, und der Befragte
sollte an die Lotosfüße des Herrn denken, damit er die richtige Ant-
wort geben kann.
Yamarāja war mit seinen Dienern sehr zufrieden, weil sie in sei-
nem Reich den heiligen Namen Nārāyanas gechantet hatten. Yama-
rāja hat nur mit sündigen Menschen zu tun, die schwerlich Nārāya-
na verstehen können. Als seine Beauftragten den Namen Nārāyanas
aussprachen, war er höchst erfreut, denn auch er ist ein Vaisnava.
20. KAPITEL
Wer ist
der Höchste Herr?
Yamarāja sprach: „Meine lieben Diener, ihr hieltet mich für den
Höchsten, doch in Wirklichkeit bin ich es nicht. über mir und über
allen anderen Halbgöttern, einschließlich Indra und Candra, steht
der eine höchste Meister und Herrscher. Die Teilmanifestationen
Seiner Persönlichkeit sind Brahma, Visnu und Siva, die für die
Schöpfung, Erhaltung und Vernichtung des Universums zuständig
sind. Er ist wie die zwei Fäden, welche die Lānge und Breite eines
gewobenen Tuches bilden.
So wie der Führer eines Ochsenkarrens Stricke durch die Nü-
stern seiner Ochsen zieht, um sie zu lenken, bindet die Höchste
Persönlichkeit Gottes alle Menschen mit den Stricken Seiner Worte
in den Veden, welche die Namen und Tätigkeiten der unterschied-
lichen Stände der menschlichen Gesellschaft [brāhmana, ksatriya,
vaisya und sūdra] festsetzen. Aus Furcht verehren die Angehörigen
dieser Stānde den Höchsten Herrn, indem sie Ihm ihrer jeweiligen
Beschäftigung gemäß Geschenke darbringen.
Ich, Yamarāja; Indra, der König des Himmels; Nirrti; Varuna, der
Gott des Wassers; Candra, der Mondgott; Agni, der Feuergott; Siva;
Pavana, der Gott der Luft; Brahma; Sürya, der Sonnengott; Visvāsu;
die acht Vasus; die Sādhyas; die Maruts; die Rudras; die Siddhas;
Marici und die anderen großen rsis, die die verschiedenen Berei-
che des Universums verwalten, sowie die besten Halbgötter, ange-
führt von Brhaspati, und die großen Weisen, angeführt von Bhrgu,
sind alle zweifellos befreit vom Einfluß der zwei niederen Erschei-
nungsweisen der materiellen Natur, Leidenschaft und Unwissen-
heit. Doch obwohl wir uns in der Erscheinungsweise der Tugend
220
Yamarajas Unterweisungen 221
Die Menschen wie auch die anderen Lebewesen innerhalb der kos-
mischen Manifestation werden von den drei Erscheinungsweisen
der materiellen Natur beherrscht. Für die Lebewesen, die von den
niederen Erscheinungsweisen der Natur - Leidenschaft und Unwis-
senheit - gelenkt werden, besteht keine Möglichkeit, Gott zu erken-
nen. Selbst diejenigen, die sich in der Erscheinungsweise der Tugend
befinden, wie die vielen in den obigen Versen beschriebenen Halb-
götter und großen Weisen, sind nicht imstande, die Tätigkeiten der
Höchsten Persönlichkeit Gottes zu verstehen. Wie es in der Bhaga-
vad-gitā heißt, kann nur jemand, der sich völlig im hingebungsvollen
Dienst beschäftigt und daher zu allen materiellen Erscheinungswei-
sen transzendental ist, den Herrn verstehen (bhaktyā mām abhijānāti).
Gewöhnliche Philosophen sind niemals fähig, den Herrn zu ver-
stehen. Der große Gottgeweihte Bhismadeva bestätigt dies in der
folgenden Erklärung gegenüber Mahārāja Yudhisthira (Srimad-Bhā-
gavatam 1.9.16):
224 Im Angesicht des Todes
„O König, niemand kann den Plan des Herrn, Sri Krsnas, kennen.
Obgleich große Philosophen ausgiebig danach forschen, sind sie
verwirrt." Niemand kann deshalb Gott durch spekulatives Wissen
verstehen. Durch Spekulation wird man tatsāchlich nur verwirrt.
Vertrauliches Wissen
Yamarāja fuhr fort: „Der Höchste Herr ist Sich selbst genügend und
völlig unabhängig. Er ist der Meister eines jeden und aller Dinge,
einschließlich der illusionierenden Energie. Er hat Gestalt, Eigen-
schaften und Merkmale, und ebenso besitzen Seine Beauftragten,
die wunderschönen Visnudütas oder Vaisnavas, Körpermerkmale
und transzendentale Eigenschaften, die fast den Seinen gleichen.
Sie bewegen sich in dieser Welt stets in völliger Unabhängigkeit.
Die Visnudütas werden sogar von den Halbgöttern verehrt und
sind nur sehr selten zu sehen. Sie beschützen die Geweihten des
Herrn vor Feinden, vor neidischen Menschen, ja sogar vor meiner
Gerichtsbarkeit und vor den Naturgewalten.
Es ist die Höchste Persönlichkeit Gottes, die das Prinzip wahrer
Religion erlāßt. Obgleich die großen rsis, die die höchsten Planeten
bewohnen, vollständig in der Erscheinungsweise der Tugend ver-
ankert sind, können selbst sie dieses Prinzip nicht festlegen; eben-
sowenig können es die Halbgötter oder die Führer von Siddhaloka,
ganz zu schweigen von den asuras, den gewöhnlichen Menschen,
den Vidyādharas und den Cāranas.
Brahma, Bhagavān Nārada, Siva, die vier Kumāras, Kapila [der
Sohn Devahütis], Svāyambhuva Manu, Prahlāda Mahārāja, Janaka
Mahārāja, Großvater Bhisma, Bali Mahārāja, Sukadeva Gosvāmi
und ich selbst kennen das Prinzip wahrer Religion. Meine lieben
Diener, dieses transzendentale Prinzip der Religion - bhāgavata-
dharma, Hingabe und Liebe zum Höchsten Herrn -, ist nicht von
den Erscheinungsweisen der materiellen Natur verunreinigt. Es ist
sehr vertraulich und für gewöhnliche Menschen schwer zu verste-
hen, doch wenn man das Glück hat, es zu verstehen, wird man so-
fort befreit und kehrt nach Hause, zu Gott, zurück.
225
226 Im Angesicht des Todes
„Man sollte immer über die wunderbaren Taten des Herrn chanten
Yamarājas Unterweisungen 233
und hören, man sollte über diese Taten meditieren und sich bemü-
hen, den Herrn zu erfreuen." (Srimad-Bhāgavatam 11.3.27)
Sridhara Svāmi zitiert auch aus den Purānas: pāpa-ksayas ca bhavati
smaratām tam ahar-nisam. „Man kann von allen sündhaften Reaktio-
nen befreit werden, wenn man sich einfach Tag und Nacht an die
Lotosfüße des Herrn erinnert." Schließlich zitiert er aus dem vorlie-
genden Kapitel des Srimad-Bhāgavatam (6.3.31):
„Das Chanten des heiligen Namens des Herrn vermag sogar die
Folgen der größten Sünden aufzuheben. Daher ist das Chanten der
sankirtana-Bewegung die glückverheißendste Tätigkeit im gesamten
Universum."
All diese Zitate beweisen, daß jemand, der ständig über den hei-
ligen Namen des Herrn, Seinen Ruhm, Seine Gestalt und Seine Ta-
ten chantet und hört, befreit ist. In Vers 24 wird dies wunderbar er-
läutert: etāvatālam agha-nirharanāya pumsām. „Einfach dadurch, daß
man den Namen des Herrn ausspricht, wird man von allen sünd-
haften Reaktionen befreit."
Das Wort alam in diesem Vers weist darauf hin, daß das bloße
Aussprechen des heiligen Namens genügt; es ist kein anderer Vor-
gang vonnöten. Selbst wenn jemand unvollkommen chantet, wird
er von allen sündhaften Reaktionen befreit.
Die Befreiung Ajāmilas beweist die Macht des Chantens des hei-
ligen Namens. Als Ajāmila den heiligen Namen Nārāyanas chan-
tete, dachte er eigentlich nicht an den Höchsten Herrn, sondern an
seinen eigenen Sohn. Zudem war Ajāmila zur Zeit des Todes ge-
wiß nicht sehr geläutert; im Gegenteil, er war weit und breit als
ein großer Sünder bekannt. Darüber hinaus geraten zur Zeit des To-
des die Körperfunktionen völlig durcheinander, und in einer solch
unangenehmen Lage wäre es für Ajāmila bestimmt sehr schwierig
gewesen, deutlich zu chanten. Trotz alledem erlangte Ajāmila Be-
freiung, indem er einfach den heiligen Namen des Herrn chantete.
234 Im Angesicht des Todes
Was wird also erst der Lohn derer sein, die nicht so sündhaft sind
wie Ajāmila? Die Schlußfolgerung lautet, daß man mit einem uner-
schütterlichen Gelübde den heiligen Namen des Herrn chanten soll-
te: Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma,
Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Denn so wird man durch
Krsnas Gnade mit Sicherheit aus den Fāngen māyās gerettet.
Das Chanten des Hare-Krsna-mantra wird selbst Frevlern emp-
fohlen, denn wenn sie weiterhin chanten, werden ihre Vergehen
allmählich weniger werden. Und wenn man den Hare-Krsna-man-
tra rein chantet, vergrößert man seine Liebe zu Krsna. Sri Caitanya
Mahāprabhu erklärt: premā pum-artho mahān. „Unser Hauptanliegen
sollte es sein, unsere Zuneigung zur Höchsten Persönlichkeit Gottes
zu vergrößern und Liebe zu Gott zu entwickeln."
Da man durch das Chanten des heiligen Namens des Herrn leicht
das höchste Ziel erreichen kann, stellt sich vielleicht die Frage, war-
um es in den Veden so viele rituelle Zeremonien gibt und warum
sich die Leute zu ihnen hingezogen fühlen. Im vorliegenden Ab-
schnitt des Srimad-Bhāgavatam beantwortet Yamarāja diese Frage.
Leider lassen sich unintelligente Menschen durch die Pracht vedi-
scher yajnas verblenden und sind daher begierig, solchen luxuriösen
Opfern beizuwohnen. Sie möchten, daß vedische mantras gechantet
und gewaltige Geldsummen ausgegeben werden. Manchmal müs-
sen wir rituelle Zeremonien im vedischen Stil vollziehen, um solch
unintelligente Leute zufriedenzustellen. Als wir 1975 in Vrndāvana
einen großen Krsna-Balarāma-Tempel eröffneten, waren wir ver-
pflichtet, brahmanas vedische Zeremonien vollziehen zu lassen, weil
die Einwohner von Vrndāvana, besonders die smārta-brāhmanas, Eu-
ropäer und Amerikaner nicht als echte brahmanas akzeptiert hātten.
Aus diesem Grund mußten wir brahmanas beauftragen, kostspielige
yajnas durchzuführen. Parallel zu den yajnas hielten die Mitglieder
unserer Gesellschaft lauten sahkirtana mit mrdangas ab, wobei ich
den sahkirtana für wichtiger erachtete als die vedischen Zeremo-
nien. Die Zeremonien und der sahkirtana-yajha fanden gleichzeitig
statt. Die Zeremonien waren für Menschen bestimmt, die an vedi-
schen Ritualen interessiert sind, welche der Erhebung zu den himm-
lischen Planeten dienen (jadi-krta-matir madhu-puspitāyām), wohin-
gegen der sahkirtana für reine Gottgeweihte bestimmt war, die sich
Yamarajas Unterweisungen 235
Dieser Vers besagt, daß selbst jemand, der ein großer Gelehrter der
vedischen sāstras ist, sich noch lange nicht der Existenz des Höch-
sten Herrn, Seines Namens, Seines Ruhmes und Seiner Eigenschaf-
ten bewußt sein muß, wohingegen ein anderer, der kein großer
Gelehrter ist, die Stellung der Höchsten Persönlichkeit Gottes ver-
stehen kann, wenn er durch hingebungsvollen Dienst auf die eine
236 Im Angesicht des Todes
oder andere Weise ein reiner Geweihter des Herrn wird. Deshalb
sagt Yamarāja in Vers 26: evam vimrsya sudhiyo bhagavati. Wer sich
im liebevollen Dienst des Herrn betätigt, wird sudhiyah, intelligent -
im Gegensatz zu einem Gelehrten der Veden, der Krsnas Namen,
Ruhm und Eigenschaften nicht versteht. Ein reiner Gottgeweihter
besitzt eine klare Intelligenz; er ist wahrhaft weise und besonnen,
da er sich dem Dienst des Herrn widmet - nicht zur Schau, sondern
aus Liebe, mit seinen Gedanken, seinen Worten und seinem Körper.
Nichtgottgeweihte mögen ihre Religiosität zur Schau stellen, aber
das ist nicht sehr wirkungsvoll; denn wāhrend sie frömmlerisch den
Tempel oder die Kirche besuchen, denken sie eigentlich an etwas
anderes. Solche Menschen vernachlässigen ihre religiöse Pflicht und
werden von Yamarāja bestraft. Doch einem Gottgeweihten, der auf-
grund seiner früheren Angewohnheiten gegen seinen Willen oder
aus Versehen sündhafte Handlungen begeht, wird verziehen. Das
ist der Wert der sankirtana-Bewegung.
In der Tat, Yamarāja warnte seine Diener: „Meine lieben Diener,
von nun an müßt ihr es unterlassen, Gottgeweihte zu belästigen. Die
Gottgeweihten, die sich den Lotosfüßen des Herrn ergeben haben
und unentwegt Seinen heiligen Namen chanten, werden von den
Halbgöttern und den Bewohnern Siddhalokas gepriesen. Sie sind
so verehrenswert und erhaben, daß Sri Visnu sie persönlich mit der
Keule in der Hand beschützt. Wenn ihr euch ihnen nähert, wird Er
euch mit dieser Keule töten. Selbst wenn Brahma oder ich sie be-
strafen wollten, würde Sri Visnu uns bestrafen, von euch ganz zu
schweigen. Laßt deshalb fortan die Gottgeweihten in Ruhe!"
Nach dieser Warnung erklärte Yamarāja, wer ihm vorgeführt wer-
den solle. Besonders trāgt er den Yamadūtas auf, ihm materialisti-
sche Menschen zu bringen, die nur um des Geschlechtslebens wil-
len am Familienleben hāngen. Wie es im Srimad-Bhāgavatam (7.9.45)
heißt: yan maithunādi-grhamedhi-sukhath hi tuccham. „Die Menschen
hāngen am Familienleben nur wegen sexueller Freuden, die sehr
unbedeutend sind." Bei ihren materiellen Bemühungen, Geld für
den Unterhalt der Familie zu verdienen, werden sie auf vielerlei
Art und Weise geplagt, und ihre einzige Freude besteht darin, daß
sie nach einem harten und langen Arbeitstag nachts zu Bett gehen
Yamarajas Unterweisungen 237
und ihre sexuellen Gelüste befriedigen. Vor allem riet Yamarāja sei-
nen Dienern, ihm diese Menschen zur Bestrafung zu bringen - und
nicht die Gottgeweihten, die stets den Honig von den Lotosfüßen
des Herrn kosten, allen wohlgesinnt sind und aus Mitleid mit al-
len Lebewesen versuchen, Krsna-Bewußtsein zu predigen. Gottge-
weihte dürfen von Yamarāja nicht bestraft werden. Menschen je-
doch, die nichts vom Krsna-Bewußtsein wissen, finden in ihrem
materialistischen Leben mit seinen sogenannten Familienfreuden
keinen Schutz. Im Srimad-Bhāgavatam (2.1.4.) heißt es:
dehāpatya-kalatrādisv
ātma-sainyesv asatsv api
tesām pramatto nidhanam
pasyann api na pasyati
varnāsramācāravatā
purusena parah pumān
visnur ārādhyate panthā
nānyat tat-tosa-kāranam
239
240 Im Angesicht des Todes
Vollkommenheit
Wir sollten zur Kenntnis nehmen, daß Ajāmila von allen sünd-
haften Reaktionen befreit wurde, obwohl er den heiligen Namen
Yamarajas Unterweisungen 241
nāmāparādha-yuktānām
nāmāny eva haranty agham
avisrānti-prayuktāni
tāny evārtha-karāni ca
Unzeitgemäßer Yoga
Es gibt viele yoga-Systeme, die im Westen populär geworden sind,
insbesondere im 20. Jahrhundert, aber keines von ihnen lehrte tat-
sāchlich die Vollkommenheit des yoga. In der Bhagavad-gitā jedoch
unterweist Sri Krsna, die Höchste Persönlichkeit Gottes, Arjuna di-
rekt in der Vollkommenheit des yoga. Wenn wir tatsāchlich diesem
vollkommenen yoga-System folgen wollen, stehen uns in der Bha-
gavad-gitā die autoritativen Aussagen der Höchsten Person zur Ver-
fügung.
Es ist zweifellos bemerkenswert, daß die Vollkommenheit des
yoga mitten auf einem Schlachtfeld gelehrt wurde. Die Szene war
die folgende: Arjuna, der mächtige Krieger, stand vor einem Bru-
derkrieg, und, von Mitgefühl überwältigt, fragte er sich: „Warum
soll ich gegen meine Verwandten kämpfen?" Diese Unschlüssigkeit
Arjunas beruhte auf Illusion, und um diese Illusion zu beseitigen,
sprach Sri Krsna die Bhagavad-gitā zu ihm. Man kann sich vorstellen,
in welch kurzer Zeit die Bhagavad-gitā gesprochen werden mußte.
Die Soldaten hatten sich bereits auf beiden Seiten kampfbereit auf-
gestellt, so daß nicht mehr viel Zeit blieb - allerhöchstens eine Stun-
de. Wāhrend dieser einen Stunde wurde die gesamte Bhagavad-gitā
gesprochen, und Sri Krsna erklärte Seinem Freund Arjuna die Voll-
kommenheit aller yoga-Systeme. Nachdem dieses einzigartige Ge-
sprāch beendet war, legte Arjuna all seine Befürchtungen und Zwei-
fel beiseite und kämpfte.
Im Verlauf des Gespräches erklärte Sri Krsna auch das Medi-
tationssystem des yoga: wie man sich hinsetzt und eine gerade Kör-
perhaltung einnimmt, wie man die Augen halb geschlossen hālt
und auf die Nasenspitze starrt, ohne in der Konzentration abzu-
244
Unzeitgemäßer Yoga 245
Geist für einen großen Dämon hielt, vergleichbar mit dem Dämon
Madhu; wenn es Krsna gelänge, diesen Dämon namens Geist zu tö-
ten, könnte er, Arjuna, die Vollkommenheit des yoga erlangen. „Mein
Geist ist viel stārker als dieser Dämon Madhu", sagte Arjuna. „Bitte
töte ihn, denn dann wird es mir möglich sein, diesem yoga-System
zu folgen." Dies weist darauf hin, daß sogar der Geist einer großen
Persönlichkeit wie Arjuna immer ruhelos ist. Arjuna selbst sagt:
cancalam hi manah krsna
pramāthi balavad drdham
tasyāham nigraham manye
vāyor iva su-duskaram
„Denn der Geist ist ruhelos, stürmisch, widerspenstig und sehr
stark, o Krsna, und ihn zu bezwingen erscheint mir schwieriger, als
den Wind zu beherrschen." (Bg. 6.34)
Es ist eine Tatsache, daß der Geist uns immer einredet, hierhin
und dorthin zu gehen und dieses oder jenes zu tun. Unser ganzes
Leben verlāuft nach dem Diktat des Geistes. Sinn und Zweck des
yoga-Systems ist es deshalb, den ruhelosen Geist zu beherrschen. Im
Meditationssystem des yoga wird der Geist dadurch beherrscht, daß
man ihn auf die Überseele richtet - was das eigentliche Endziel des
yoga ist. Arjuna jedoch entgegnet, daß es schwieriger sei, den Geist
zu beherrschen, als den Wind aufzuhalten. Kann man sich vorstel-
len, daß jemand versuchen wird, mit ausgestreckten Armen einen
Wirbelsturm aufzuhalten?
Wir dürfen nicht denken, Arjuna sei einfach nicht fähig gewesen,
den Geist zu beherrschen. In Wirklichkeit hatte Arjuna solch uner-
meßliche Eigenschaften und Fähigkeiten, daß wir nicht einmal be-
ginnen können, sie uns vorzustellen. Immerhin war er ein persön-
licher Freund der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Dies ist eine sehr
erhabene Stellung, die niemand erreichen kann, der nicht außerge-
wöhnliche Qualitäten aufweist. Außerdem war Arjuna berühmt als
großartiger Krieger und Politiker. Er war so intelligent, daß er die
Bhagavad-gitā innerhalb einer Stunde verstehen konnte, wohingegen
heutzutage große Gelehrte die Bhagavad-gitā nicht einmal verstehen,
wenn sie sich ein ganzes Leben lang mit ihr auseinandersetzen. Die-
ser Arjuna aber war der Ansicht, daß es für ihn schlicht unmöglich
Unzeitgemäßer Yoga 247
sei, den Geist zu beherrschen. Wie können wir also glauben, daß
das, was für Arjuna in einem fortgeschrittenen Zeitalter unmöglich
war, für uns im gegenwärtigen degenerierten Zeitalter möglich sei?
Wir sollten nicht für einen Augenblick denken, daß wir uns mit
Arjuna vergleichen könnten. Wir sind ihm tausendmal unterlegen.
Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Arjuna jemals das yoga-Sy-
stem ausgeübt hat; aber dennoch bezeichnete Krsna Arjuna lobend
als den einzigen, der würdig sei, die Bhagavad-gitā von Ihm zu ver-
nehmen. Was war Arjunas einzigartige Eigenschaft? Sri Krsna sagt:
„Weil du Mein Geweihter und Mein vertrauter Freund bist." (Bg.
4.3) Trotz dieser Eigenschaft weigerte sich Arjuna, dem Meditations-
system des yoga, das Sri Krsna beschrieben hatte, zu folgen. Was be-
deutet das für uns? Müssen wir verzweifeln, weil es uns nie ver-
gönnt sein wird, den Geist zu beherrschen? Nein, er kann beherrscht
werden, und der Vorgang hierzu ist Krsna-Bewußtsein. Der Geist
muß immer auf Krsna gerichtet sein. Gelingt es, den Geist auf Krsna
zu richten, ist die Vollkommenheit des yoga erreicht.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich dem Srimad-
Bhāgavatam zuzuwenden. Dort erklärt im Zwölften Canto Sukadeva
Gosvāmi, daß die Menschen im goldenen Zeitalter, dem Satya-yuga,
einhunderttausend Jahre alt wurden und daß es den fortgeschrit-
tenen Persönlichkeiten jenes Zeitalters, die über eine solche Lebens-
dauer verfügten, möglich war, das Meditationssystem des yoga zu
befolgen. Was im Satya-yuga durch den Vorgang der Meditation,
im nachfolgenden yuga, dem Tretā-yuga, durch das Abhalten gro-
ßer Opferzeremonien und im nächsten yuga, dem Dvāpara-yuga,
durch Tempelverehrung erreicht werden konnte, erklärte Sukadeva
Gosvāmi weiter, könne in unserem Zeitalter, dem Kali-yuga, einfach
durch hari-kirtana, das Chanten der Namen Gottes, Hare Krsna, er-
reicht werden. Aus diesen autoritativen Quellen erfahren wir also,
daß das Chanten von Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare
Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare im gegen-
wärtigen Zeitalter die Vollkommenheit des yoga verkörpert.
Heute muß man froh sein, wenn man fünfzig oder sechzig Jahre
alt wird; allerhöchstens lebt ein Mensch achtzig bis hundert Jahre.
Darüber hinaus ist der Mensch immer von Ängsten und Sorgen er-
füllt und hat mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, die von Krie-
248 Die Vollkommenheit des Yoga
„Das, was man als Entsagung bezeichnet, ist das gleiche wie yoga,
der Vorgang, sich mit dem Höchsten zu verbinden; denn niemand
kann ein yogi werden, solange er nicht dem Wunsch nach Sinnenbe-
friedigung entsagt." (Bg. 6.2)
In der Bhagavad-gitā werden drei grundlegende Arten von yoga
beschrieben: karma-yoga, jnāna-yoga und bhakti-yoga. Diese verschie-
denen yoga-Systeme können mit den Stufen einer Treppe verglichen
werden. Es gibt yogis, die auf der untersten Stufe stehen, andere, die
bis zur Hälfte emporgestiegen sind, und wieder andere, die sich auf
der höchsten Stufe befinden. Je nach der Stufe, auf der man steht,
wird man als karma-yogi, jnāna-yogi usw. bezeichnet. In allen Fāllen
ist der Dienst für den Höchsten Herrn der gleiche, nur die Stufen
sind verschieden. Deshalb sagt Sri Krsna zu Arjuna, daß Entsagung
(sannyāsa) und yoga dasselbe sind, da man, ohne vom Wunsch nach
Sinnenbefriedigung frei zu sein, weder ein yogi noch ein sannyāsi
sein kann.
249
250 Die Vollkommenheit des Yoga
Es gibt yogis, die yoga für materiellen Gewinn ausüben, doch das
ist nicht echter yoga. Alles muß im Dienst des Herrn verwendet wer-
den. Alles, was wir als gewöhnliche Arbeiter, sannyasis, yogis oder
als Philosophen tun, muß im Krsna-Bewußtsein verrichtet werden.
Wenn wir unsere Gedanken ausschließlich auf Krsnas Dienst richten
und in diesem Bewußtsein handeln, können wir echte sannyasis und
yogis werden.
Wenn man anfāngt, die yoga-Treppe emporzusteigen, erwartet ei-
nen praktische Arbeit. Man sollte nicht denken, daß man aufhören
müsse, tätig zu sein, nur weil man sich dem yoga zuwendet. In der
Bhagavad-gitā fordert Krsna Arjuna auf, ein yogi zu werden, aber
Er sagt ihm niemals, daß er aufhören solle zu kämpfen - ganz im
Gegenteil. Natürlich kann man sich hier fragen, wie jemand ein
yogi und gleichzeitig ein Krieger sein kann. Unsere Vorstellung von
yoga ist, daß man mit gekreuzten Beinen und geradem Rücken da-
sitzt und mit halbgeschlossenen Augen auf die Nasenspitze starrt,
um sich auf diese Weise an einem abgeschiedenen Ort in Medi-
tation zu versenken. Wie kann Krsna Arjuna auffordern, ein yogi zu
werden und gleichzeitig an einem schrecklichen Bürgerkrieg teilzu-
nehmen? Darin besteht das Geheimnis der Bhagavad-gitā: Man kann
ein Krieger sein und gleichzeitig der höchste yogi und sannyāsi. Nur
im Krsna-Bewußtsein ist das möglich. Man muß einfach für Krsna
kämpfen, für Krsna arbeiten, für Krsna essen, für Krsna schlafen
und Krsna alle Tätigkeiten weihen. Auf diese Weise wird man der
höchste yogi und der höchste sannyāsi.
Im Sechsten Kapitel der Bhagavad-gitā unterweist Sri Krsna Arju-
na, wie man sich in der yoga-Meditation übt. Aber Arjuna weist die-
ses System zurück, da es ihm zu schwierig erscheint. Wie kann man
dann sagen, daß Arjuna ein großer yogi sei? Obgleich Krsna sah, daß
Arjuna das Meditationssystem zurückwies, bezeichnete Er Arjuna
dennoch als den höchsten yogi, denn: „Du denkst immer an Mich."
An Krsna zu denken ist die Essenz aller yoga-Systeme: des hatha-,
karma-, jnāna- und bhakti-yoga sowie aller anderen Systeme von yoga,
Opfer und Wohltätigkeit. Alle Tätigkeiten, die für spirituelle Ver-
wirklichung empfohlen sind, gipfeln im Krsna-Bewußtsein, der un-
unterbrochenen Meditation über Krsna. Die wahre Vollkommenheit
Yoga als Arbeit in Hingabe 251
252
Yoga als Meditation über Krsna 253
und kirtanam, Hören und Chanten, als die wichtigsten. Bei einem
öffentlichen kirtana chantet der Vorsänger Hare Krsna, Hare Krsna,
Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma,
Hare Hare, während die anderen zuhören; nachdem der Vorsänger
den mantra beendet hat, singen die anderen. Auf diese Weise wech-
seln Hören und Chanten einander ab. Dies kann überall problem-
los durchgeführt werden: zu Hause, mit einer kleinen Gruppe von
Freunden oder zusammen mit vielen Menschen auf einem großen
öffentlichen Platz. Man kann zwar versuchen, in einer Großstadt
oder in einem Verein yoga-Meditation auszuüben, aber man muß
sich dabei im klaren sein, daß dies eine eigene Erfindung ist und
nichts mit der Methode zu tun hat, die in der Bhagavad-gitā emp-
fohlen wird.
Der gesamte Vorgang des yoga ist zur Läuterung bestimmt. Und
worin besteht diese Läuterung? Läuterung hat die Erkenntnis der
wahren Identität des Selbst zur Folge, das heißt die Erkenntnis: „Ich
bin eine reine spirituelle Seele. Ich bin nicht der materielle Körper."
Aufgrund materieller Verunreinigung identifizieren wir uns mit Ma-
terie und glauben, wir seien der Körper, doch um echten yoga auszu-
üben, muß man erkennen, daß die ursprüngliche Identität des Selbst
von Materie verschieden ist. Auch der Meditationsvorgang, bei dem
man sich an einen abgeschiedenen Ort zurückziehen muß, hat das
Ziel, zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Dieses Ziel kann jedoch nur
erreicht werden, wenn man den Vorgang richtig ausführt. In diesem
Zusammenhang weist Sri Caitanya auf folgendes hin:
Krsna-mantra nicht von Krsna verschieden ist. Wenn wir Seinen Na-
men mit Hingabe chanten, wird Krsna mit uns sein. Wie können wir
dann noch unrein bleiben? Wer daher ins Krsna-Bewußtsein vertieft
ist, Krsnas Namen chantet und Krsna immer dient, erhālt die Er-
gebnisse der höchsten Form des yoga, ohne jedoch all die Schwierig-
keiten des Meditationsvorgangs auf sich nehmen zu müssen. Das ist
die Schönheit des Krsna-Bewußtseins.
Beim yoga ist es erforderlich, alle seine Sinne zu beherrschen; und
wenn man dies geschafft hat, muß man seinen Geist so ausrichten,
daß er immer an Visnu denkt. Nachdem man auf diese Weise das
materielle Leben hinter sich gelassen hat, findet man Frieden.
jitātmanah prasāntasya
paramātmā samāhitah
„Für jemanden, der den Geist bezwungen hat, ist die Überseele be-
reits erreicht, denn er hat Ausgeglichenheit erlangt." (Bg. 6.7)
Die materielle Welt wird mit einem großen Waldbrand verglichen.
Wie im Wald manchmal ein Feuer von selbst ausbricht, so tobt in der
materiellen Welt immer eine Feuersbrunst, und es brechen Brände
aus, obwohl wir versuchen, in Frieden zu leben. Nirgendwo in der
materiellen Welt ist es möglich, in Frieden zu leben; doch wer sich
auf der transzendentalen Ebene befindet - sei es durch das Medita-
tionssystem des yoga, durch die empirisch-philosophische Methode
oder durch bhakti-yoga -, kann Frieden finden. Wenngleich alle For-
men des yoga das Ziel haben, den Menschen zum transzendentalen
Leben zu führen, erweist sich im gegenwärtigen Zeitalter der Vor-
gang des Chantens als besonders wirksam. Man kann für mehrere
Stunden an einem kirtana teilnehmen, ohne zu ermüden, aber es
ist sehr schwierig, auch nur für wenige Minuten völlig regungslos
in der Lotosstellung dazusitzen. Wenn man jedoch - über welchen
Vorgang auch immer -, das Feuer des materiellen Lebens zu lö-
schen vermag, erfāhrt man nicht nur das, was unpersönliches Nichts
genannt wird; vielmehr gelangt man in das höchste Reich, wie
Krsna Arjuna offenbart:
santim nirvana-paramam
mat-sathsthām adhigacchati
sri-bhagavān uvāca
asamsayam mahā-bāho
mano durnigraham calam
abhyāsena tu kaunteya
vairāgyena ca grhyate
257
258 Die Vollkommenheit des Yoga
kann, wenn man zuviel oder zuwenig ißt. Wer sich mit Fasten quält,
kann ebensowenig richtigen yoga ausüben wie jemand, der mehr
ißt, als er braucht. Die Ernährung sollte maßvoll sein, das heißt,
man sollte nur so viel essen, wie erforderlich ist, um Körper und
Seele zusammenzuhalten; nur der Gaumenfreude zuliebe sollte man
also nicht essen. Wenn uns köstliche Speisen angeboten werden, be-
gnügen wir uns meistens nicht mit einer Zubereitung, sondern sind
es gewohnt, zwei, drei, vier oder noch mehr auszuprobieren, denn
die Zunge gibt sich nie zufrieden. In Indien ist es jedoch nicht selten,
daß man einen yogi sieht, der pro Tag nichts weiter als einen kleinen
Löffel voll Reis zu sich nimmt. Ebensowenig ist es möglich, yoga-Me-
ditation auszuüben, wenn man zu viel oder zu wenig schlāft. Krsna
sagt nirgendwo, daß es so etwas wie traumlosen Schlaf gibt. Sobald
wir einschlafen, werden wir träumen, selbst wenn wir uns nicht
daran erinnern können. In der Gitā weist Krsna indes darauf hin,
daß man nicht richtig yoga praktizieren kann, wenn man wāhrend
des Schlafens zuviel träumt; deshalb sollte man nicht mehr als sechs
Stunden täglich schlafen. Aber auch jemand, der unter Schlaflosig-
keit leidet und nachts nicht genügend schläft, kann nicht erfolgreich
yoga ausüben, da man für yoga einen funktionstüchtigen Körper
braucht. Auf diese Weise beschreibt Krsna viele Bedingungen, die
man für eine erfolgreiche Beherrschung des Körpers erfüllen muß.
Die Vielzahl dieser Bedingungen läßt sich jedoch grundsätzlich in
folgenden vier Vorschriften zusammenfassen: kein unzulässiges Ge-
schlechtsleben, keine Berauschung, kein Essen von Fleisch und kein
Glücksspiel. Dies ist das Minimum an Vorschriften, das man in je-
der Form des yoga einhalten muß. Wer aber kann im gegenwärtigen
Zeitalter von diesen Betätigungen Abstand nehmen? Doch genau an
diesen Maßstäben müssen wir unseren Erfolg im yoga messen.
lein an einem einsamen Ort leben und seinen Geist stets sorgfāltig
beherrschen. Er sollte von Wünschen und Gefühlen der Besitzgier
frei sein." (Bg. 6.10)
Aus diesem Vers wird ersichtlich, daß es die Pflicht eines yogi ist,
immer allein zu bleiben. Yoga-Meditation kann nicht innerhalb ei-
ner Gruppe ausgeführt werden - zumindest nicht, wenn man den
Anweisungen der Bhagavad-gitā folgen will. In diesem System der
Meditation ist es nur dann möglich, den Geist auf die Überseele zu
richten, wenn man sich an einen abgeschiedenen Ort zurückzieht. In
Indien gibt es auch heute noch viele yogis und Weise, die in völliger
Einsamkeit leben; nur in seltenen Fāllen treten sie an die Öffent-
lichkeit, um an besonderen Festen teilzunehmen, wie zum Beispiel
an der Kumba Melā, die alle zwölf Jahre in Allahabad oder an ei-
nem anderen heiligen Ort stattfindet. Dort versammeln sich diese
yogis, genauso wie sich in Amerika Geschäftsleute bei einer Kon-
ferenz treffen. Es genügt jedoch nicht, in der Einsamkeit zu leben;
der yogi muß auch von materiellen Wünschen frei sein und sollte
nicht die Absicht hegen, durch yoga materielle Kräfte zu erlangen.
Ebenso sollte er von den Menschen keine Geschenke oder Dienste
entgegennehmen. Wenn der yogi seine Meditation ernst nimmt, lebt
er irgendwo allein im Dschungel, in den Wäldern oder Bergen und
zieht sich von der Gesellschaft völlig zurück. Er muß sich immer vor
Augen halten, für wen er ein yogi geworden ist. Dann fühlt er sich
auch nie allein, da er weiß, daß der Paramātmā, die Überseele, stän-
dig bei ihm ist. Dies alles zeigt uns, daß es in der modernen Gesell-
schaft tatsāchlich sehr schwierig ist, diese Form der Meditation rich-
tig auszuüben; ja die Zivilisation des gegenwärtigen Zeitalters, des
Kali-yuga, macht es einem sogar unmöglich, allein zu sein und ohne
Wünsche und Besitz zu leben.
Im weiteren Verlauf des Gespräches mit Arjuna erwähnt Krsna
verschiedene Einzelheiten, die bei der yoga-Meditation beachtet wer-
den müssen. Wörtlich sagt Sri Krsna:
sucau dese pratisthapya
sthiram āsanam ātmanah
nāty-ucchritam nāti-nicam
cailājina-kusottaram
260 Die Vollkommenheit des Yoga
auch der Wunsch nach Krsna entwickelt werden. Man muß einfach
das Ziel des Wunsches verändern. Es geht nicht darum, Wünsche
abzutöten, denn die Seele hat immer Wünsche. Krsna-Bewußtsein
ist der Vorgang, die Wünsche zu lāutern: Statt sich verschiedenste
Dinge für die eigene Befriedigung zu wünschen, wünscht man sich
einfach Dinge für Krsnas Dienst. Wir mögen uns zum Beispiel eine
gute Mahlzeit wünschen, aber statt sie für uns selbst zuzubereiten,
können wir sie für Krsna zubereiten und sie Ihm darbringen. Nicht
die Handlung wird verändert, sondern das Bewußtsein. Man han-
delt nicht mehr in der Haltung: „Ich tue das für meine Sinne",
sondern: „Ich tue das für Krsna." Es gibt viele vegetarische Zu-
bereitungen aus Milch, Gemüse, Getreide, Früchten usw., die wir
für Krsna kochen können, um sie Ihm dann mit folgendem Gebet
darzubringen: „Der materielle Körper ist ein Ort der Unwissenheit,
und die Sinne sind ein Netzwerk von Pfaden, die zum Tod füh-
ren. Von all diesen Sinnen ist die Zunge am ungestümsten und am
schwierigsten zu beherrschen, ja es gibt nichts Schwierigeres in die-
ser Welt, als die Zunge zu zügeln. Deshalb hat uns Sri Krsna dieses
wunderbare prasādam (spirituelle Nahrung) gegeben, damit wir ler-
nen, die Zunge zu zügeln. Laßt uns also nun dieses prasādam zu un-
serer vollen Zufriedenheit einnehmen und die Herrlichkeit von Sri
Sri Rādhā und Krsna besingen und in Liebe die Hilfe Sri Caitanyas
und Nityānanda Prabhus anrufen!" Durch dieses Opfer kann unser
karma überwunden werden, denn von allem Anfang an sind wir uns
bewußt, daß wir die Speisen Krsna weihen werden. Wir sollten uns
nicht wünschen, die Speisen selbst zu genießen. Krsna jedoch ist so
barmherzig, daß Er uns die Speisen überlāßt, damit wir sie essen
können. Auf diese Weise werden unsere Wünsche erfüllt.
Wenn jemand sein ganzes Leben so gestaltet - indem er all seine
Wünsche mit Krsnas Wünschen verbindet -, hat er die Vollkom-
menheit des yoga erreicht. Mit anderen Worten, einfach tief zu at-
men und ein paar Körperübungen auszuführen ist gemäß der Bha-
gavad-gitā nicht yoga. Es bedarf einer vollkommenen Läuterung des
Bewußtseins.
Für richtigen yoga ist es sehr wichtig, daß der Geist nicht aufge-
wühlt ist.
264 Die Vollkommenheit des Yoga
„So wie ein Licht an einem windstillen Ort nicht flackert, bleibt auch
der Transzendentalist, dessen Geist beherrscht ist, in seiner Medi-
tation über das transzendente Selbst immer ausgeglichen." (Bg. 6.19)
Wenn sich eine Kerze an einem windstillen Ort befindet, ist ihre
Flamme ruhig und flackert nicht. Der Geist ist wie die Flamme
leicht beeinflußbar und reagiert schon auf den leisesten Hauch von
materiellen Wünschen. Eine geringe Beeinflussung des Geistes kann
bereits das gesamte Bewußtsein verändern. In Indien war es des-
halb Tradition, daß ein ernsthafter yogi als brahmacāri im Zölibat
lebte. Es gibt zwei Arten von brahmacāris: der eine lebt vollständig
im Zölibat, und der andere ist ein grhastha-brahmacāri, das heißt,
er ist verheiratet, er verkehrt mit keiner anderen Frau, und auch
der Umgang mit seiner eigenen Frau ist genau geregelt. Durch Zö-
libat beziehungsweise eingeschränktes Geschlechtsleben kann ei-
ne Agitiertheit des Geistes vermieden werden. Und doch kann es
sein, daß selbst der Geist eines Menschen, der das Gelübde des
vollständigen Zölibats auf sich genommen hat, immer noch von
sexuellen Wünschen erregt wird; daher ist es in Indien denjenigen,
die den traditionellen yoga unter den strikten Gelübden des Zölibats
ausüben, nicht einmal erlaubt, mit der eigenen Mutter, Schwester
oder Tochter allein zusammenzusein. Der Geist ist so launenhaft
und ungestüm, daß schon die geringste Erregung verheerende Fol-
gen haben kann.
Der yogi sollte seinen Geist so schulen, daß er in der Lage ist, ihn
sogleich zurückzuholen, wenn er von der Meditation über Visnu ab-
schweift. Dies erfordert große Übung. Der yogi muß erkannt haben,
daß das wahre Glück in der Freude zu finden ist, die man durch die
transzendentalen Sinne erfährt, und nicht in dem Genuß, den die
materiellen Sinne bieten. Man muß weder die Sinne noch die Wün-
sche negieren, denn es gibt beides - Wünsche und Sinnengenuß -
auch in der spirituellen Sphäre. Wahres Glück ist transzendental zu
materiellen, sinnlichen Erfahrungen. Wer davon nicht überzeugt ist,
Yoga als Mittel der Selbstkontrolle 265
yatroparamate cittam
niruddham yoga-sevayā
yatra caivātmanātmānam
pasyann ātmani tusyati
sukham ātyantikam yat tad
buddhi-grāhyam atindriyam
vetti yatra na caivāyam
sthitas calati tattvatah
yam labdhvā cāparam lābham
manyate nādhikam tatah
266 Die Vollkommenheit des Yoga
„Auf der Stufe der Vollkommenheit, die man Trance oder samādhi
nennt, wird der Geist durch das Praktizieren von yoga vollständig
von allen materiellen gedanklichen Tätigkeiten abgehalten. Diese
Vollkommenheit ist dadurch charakterisiert, daß man die Fähigkeit
erlangt, durch den reinen Geist das Selbst zu sehen und im eigenen
Selbst Freude und Zufriedenheit zu genießen. In diesem freudvollen
Zustand erfährt man grenzenloses transzendentales Glück, das
durch transzendentale Sinne empfunden wird. So verankert, weicht
man niemals von der Wahrheit ab. Wenn man diese Stufe erreicht
hat, ist man überzeugt, daß es keinen größeren Gewinn gibt. In ei-
ner solchen Stellung gerät man niemals, nicht einmal inmitten der
größten Schwierigkeiten, ins Wanken. Dies ist in der Tat wirkliche
Freiheit von allen Leiden, die aus der Berührung mit der Materie
entstehen." (Bg. 6.20-23)
Der eine yoga-Pfad mag schwierig sein und der andere leicht, doch
in jedem Fall muß man sein Dasein lāutern, indem man erkennt, daß
wahrer Genuß im Krsna-Bewußtsein zu finden ist. Dann wird man
glücklich sein.
yadā hi nendriyārthesu
na karmasv anusajjate
sarva-sankalpa-sannyāsi
yogārüdhas tadocyate
uddhared ātmanātmānam
nātmānam avasādayet
ātmaiva hy ātmano bandhur
ātmaiva ripur ātmanah
Geist ist der Freund der bedingten Seele, aber auch ihr Feind."
(Bg. 6.4-5)
Wir müssen uns selbst bemühen, uns auf die spirituelle Ebene zu
erheben. So gesehen bin ich mein eigener Freund oder mein eigener
Feind. Wir haben die Wahl. In diesem Zusammenhang gibt es einen
sehr schönen Vers von Cānakya Pāndita: „Niemand ist der Freund
oder Feind eines anderen. Nur anhand des Verhaltens kann man er-
kennen, wer Freund und wer Feind ist." Mit anderen Worten, nie-
mand wird als unser Feind geboren, und niemand wird als unser
Freund geboren. Diese Rollen werden durch das gegenseitige Ver-
halten bestimmt. Wie man im Alltag zu anderen Menschen eine Be-
ziehung hat, so hat man auch eine Beziehung zu sich selbst. Jeder
kann sich selbst ein Freund oder ein Feind sein. Ich bin mein Freund,
wenn ich erkenne, daß ich eine spirituelle Seele bin, die irgendwie in
den Einflußbereich der materiellen Natur geraten ist, und dann ver-
suche, so zu handeln, daß ich von der materiellen Verstrickung frei
werde. Aber wenn ich diese Gelegenheit nicht nutze, selbst nach-
dem sie sich mir bietet, bin ich als mein größter Feind anzusehen.
bandhur ātmātmanas tasya
yenātmaivātmanā jitah
anātmanas tu satrutve
vartetātmaiva satru-vat
„Für den, der den Geist bezwungen hat, ist der Geist der beste
Freund; doch für den, der dies versäumt hat, bleibt der Geist der
größte Feind." (Bg. 6.6)
Wie ist es möglich, ein Freund seinerselbst zu werden? Dies wird
hier erklärt. ātmā kann „Geist", „Körper" und „Seele" bedeuten.
Wenn wir uns in der körperlichen Lebensauffassung befinden und
von ātmā sprechen, meinen wir damit den Körper. Wenn wir die
körperliche Lebensauffassung hinter uns lassen und uns auf die
mentale Ebene erheben, bezieht sich ātmā auf den Geist. Sind wir
aber auf der spirituellen Ebene verankert, bezieht sich ātmā auf die
Seele. In Wirklichkeit sind wir reine spirituelle Seelen. Auf diese
Weise kann das Wort ātmā - gemäß der spirituellen Entwicklung je-
des einzelnen - unterschiedliche Bedeutungen haben. Das vedische
Wörterbuch Nirukti erklärt, daß sich das Wort ātmā auf Körper, Geist
268 Die Vollkommenheit des Yoga
und Seele beziehen kann, doch in diesem Vers der Bhagavad-gitā be-
deutet ātmā „Geist".
Wenn es gelingt, durch yoga den Geist zu schulen, ist er unser
Freund; wird er hingegen nicht geschult, kann man unmöglich ein
erfolgreiches Leben führen. Für jemanden, der vom spirituellen Le-
ben keine Ahnung hat, ist der Geist ein Feind. Solange man sich für
den Körper hālt, wird der Geist nicht für das eigene Wohl tätig sein,
sondern bloß dem Interesse des physischen Körpers dienen, was
einzig und allein dazu führt, daß das Lebewesen noch mehr ver-
strickt wird und immer tiefer in die materielle Gefangenschaft ge-
rāt. Wenn man jedoch versteht, daß man eine spirituelle Seele jen-
seits des Körpers ist, kann der Geist eine befreiende Rolle spielen.
Der Geist an sich hat nichts zu tun; er wartet einfach nur darauf,
geschult zu werden, und am besten wird er durch Gemeinschaft ge-
schult. Die Funktion des Geistes ist es zu wünschen, und Wünsche
werden von der Gemeinschaft, in der wir uns befinden, geprägt.
Deshalb müssen wir gute Gemeinschaft aufsuchen, wenn der Geist
unser Freund sein soll.
Die beste Gemeinschaft ist die eines sādhu, eines Krsna-bewußten
Menschen, der nach spiritueller Verwirklichung strebt. Diejenigen,
die an vergänglichen Dingen (asat), der Materie und dem Körper,
interessiert sind, streben nur nach körperlichen Annehmlichkeiten
und werden auf diese Weise von vergänglichen Dingen gefangen.
Wer sich jedoch um Selbstverwirklichung bemüht, bemüht sich um
etwas Beständiges (sat). Es ist deshalb nur natürlich, daß ein intel-
ligenter Mensch die Gemeinschaft derer sucht, die auf einem der
yoga-Pfade nach Selbstverwirklichung streben. Solche sādhus (selbst-
verwirklichte Seelen) werden in der Lage sein, uns vom Verlangen
nach weltlicher Gemeinschaft zu befreien. Dies ist der große Vor-
teil guter Gemeinschaft. Krsna beispielsweise sprach die Bhagavad-
gitā zu Arjuna, um seine Anhaftung an materielle Zuneigung zu
durchtrennen. Weil Arjuna an äußerlichen Bindungen hing, die ihn
an der Erfüllung seiner Pflicht hinderten, durchtrennte Krsna die-
se Bindungen. Um etwas zu durchtrennen, braucht man ein schar-
fes Messer, und um den Geist von seinen Anhaftungen zu befreien,
sind oft scharfe Worte erforderlich. Der sādhu, der Lehrer, zeigt kein
Yoga als Mittel der Selbstkontrolle 269
Mitleid, wenn es darum geht, den Geist des Schülers mit Hilfe schar-
fer Worte von seinen materiellen Anhaftungen zu trennen; denn da-
durch, daß er kompromißlos die Wahrheit spricht, gelingt es ihm,
die Fesseln des Schülers zu durchschneiden. Zu Beginn der Bhaga-
vad-gitā beispielsweise richtet Krsna scharfe Worte an Arjuna, indem
Er ihm sagt, er sei ein großer Dummkopf, obwohl er wie ein Ge-
lehrter zu sprechen scheine. Wenn wir tatsāchlich Loslösung von der
materiellen Welt wünschen, müssen wir bereit sein, vom spirituellen
Meister solch schneidende Worte entgegenzunehmen. Kompromisse
und Schmeicheleien zeigen keine Wirkung, wo ein schärferer Ton
vonnöten ist.
An vielen Stellen der Bhagavad-gitā wird die materielle Lebens-
auffassung verurteilt. Wer denkt, das Land seiner Geburt sei ver-
ehrungswürdig, oder wer heilige Orte besucht, ohne den dort leben-
den sādhus Beachtung zu schenken, wird mit einem Esel verglichen.
Genauso wie ein Feind einem immer Schaden zufügen will, wird
auch der ungeschulte Geist einen immer tiefer in die materielle Ver-
strickung hineinziehen. Die bedingten Seelen kämpfen hart mit dem
Geist und den anderen Sinnen; da aber der Geist die Sinne lenkt, ist
es von höchster Wichtigkeit, den Geist zum Freund zu machen.
jitātmanah prasāntasya
paramātmā samāhitah
sitosna-sukha-duhkhesu
tathā-mānāpamānayoh
„Wer den Geist bezwungen hat, hat die Überseele bereits erreicht,
denn er hat Ausgeglichenheit erlangt. Für einen solchen Menschen
sind Glück und Leid, Hitze und Kālte, Ehre und Schmach alle das
gleiche." (Bg. 6.7)
Nur wenn wir den Geist schulen, können wir tatsāchlich Ausge-
glichenheit erlangen; denn sonst wird uns der Geist immer zu unbe-
ständigen Dingen ziehen, genau wie ein Pferd, das außer Kontrolle
geraten ist, eine Kutsche auf gefährliche Abwege lenkt. Obwohl wir
unvergänglich und ewig sind, haben wir irgendwie Zuneigung zu
vergänglichen Dingen entwickelt. Aber der Geist kann leicht um-
geschult werden, wenn man ihn einfach auf Krsna richtet. So wie
270 Die Vollkommenheit des Yoga
jnāna-vijnāna-trptātmā
kütha-stho vijitendriyah
271
272 Die Vollkommenheit des Yoga
fortgeschritten ist, mißt solchen Produkten nicht mehr Wert bei als
dem Abfall auf der Straße. Des weiteren erklärt die Bhagavad-gitā:
suhrn-mitrāry-udāsma-
madhyastha-dvesya-bandhusu
sādhusv api ca pāpesu
sama-buddhir visisyate
ayatih sraddhayopeto
yogāc calita-mānasah
aprāpya yoga-samsiddhim
kam gatim krsna gacchati
275
276 Die Vollkommenheit des Yoga
wohl möglich, daß selbst jemand, der Glauben besitzt und sich im
yoga um Vollkommenheit bemüht, diese Vollkommenheit aufgrund
von „Weltzugewandtheit" nicht erreicht.
kaccin nobhaya-vibhrastas
chinnābhram iva nasyati
apratistho mahā-bāho
vimüdho brahmanah pathi
„O starkarmiger Krsna, ist ein solcher Mensch, der vom Pfad der
Transzendenz abweicht, nicht sowohl des spirituellen als auch des
materiellen Erfolgs beraubt, und wird er nicht wie eine zerrissene
Wolke vergehen, haltlos in jeder Beziehung?" (Bg. 6.38)
Sobald eine Wolke einmal vom Wind auseinandergetrieben wur-
de, wird sie sich nie wieder zusammenfügen.
„Das ist mein Zweifel, o Krsna, und ich bitte Dich, ihn völlig zu
beseitigen. Außer Dir gibt es niemanden, der diesen Zweifel zer-
schlagen kann." (Bg. 6.39)
Arjuna stellt hier die Frage nach dem weiteren Schicksal eines
gescheiterten yogi, damit zukünftige Generationen nicht entmutigt
werden. Mit dem Wort yogi bezieht sich Arjuna sowohl auf den
hatha-yogi wie auch auf den jnāna-yogi und bhakti-yogi, denn Medi-
tation ist nicht die einzige Form des yoga. Der Meditierende, der Phi-
losoph und der Gottgeweihte gelten alle als yogis. Arjuna stellt da-
her diese Frage im Namen all derer, die sich bemühen, erfolgreiche
Transzendentalisten zu werden. Sri Krsna antwortet ihm wie folgt:
sri-bhagavān uvāca
pārtha naiveha nāmutra
vināsas tasya vidyate
na hi kalyāna-krt kascid
durgatim tāta gacchati
Das Schicksal des gescheiterten Yogi 277
In diesem wie auch in vielen anderen Versen der Gitā wird Sri
Krsna als Bhagavan bezeichnet. Dies ist einer der unzähligen Na-
men des Herrn. Bhagavan weist darauf hin, daß Krsna der Besitzer
von sechs Vollkommenheiten ist: Er besitzt Schönheit, Reichtum,
Macht, Ruhm, Wissen und Entsagung in unbegrenztem Ausmaß.
Auch die Lebewesen haben an diesen Vollkommenheiten teil, wenn
auch nur in sehr begrenztem Ausmaß. Jemand mag in einer Fami-
lie, in einer Stadt, in einem Land oder auf einem Planeten berühmt
sein, doch niemand ist in der gesamten Schöpfung so berühmt wie
Sri Krsna. Staatsführer erlangen vielleicht für einige Jahre Ruhm; Sri
Krsna jedoch, der vor fünftausend Jahren erschien, wird noch heu-
te verehrt. Wer also diese sechs Vollkommenheiten in unbegrenztem
Ausmaß besitzt, ist Gott. In der Bhagavad-gitā offenbart Sich Krsna
Arjuna als der Höchste Herr, der vollständiges Wissen besitzt. Krsna
lehrte die Bhagavad-gitā den Sonnengott und Arjuna, doch nirgend-
wo wird erwähnt, daß die Bhagavad-gitā Krsna gelehrt wurde. Denn
vollständiges Wissen bedeutet, daß man alles weiß, und dies ist eine
Eigenschaft, die nur Gott besitzt. Da Krsna alles weiß, stellt Ihm Ar-
juna hier die Frage nach der Bestimmung eines gescheiterten yogi.
Es wäre aussichtslos, wenn Arjuna versuchte, die Wahrheit selbst
herauszufinden. Er muß die Wahrheit einfach von der vollkomme-
nen Quelle empfangen, so wie es das System der Schülernachfolge
vorsieht. Krsna ist vollkommen, und das Wissen, das von Krsna
ausgeht, ist ebenfalls vollkommen. Wenn wir das vollkommene Wis-
sen, das Arjuna erhalten hat, von ihm so empfangen, wie es zu ihm
gesprochen wurde, gelangen auch wir in den Besitz von vollkom-
menem Wissen. Und was besagt dieses Wissen? „Die Höchste Per-
sönlichkeit Gottes sprach: O Sohn Prthās, ein Transzendentalist, der
glückbringenden Tätigkeiten nachgeht, wird weder in dieser Welt
noch in der spirituellen Welt Vernichtung erleiden; wer Gutes tut,
Mein Freund, wird niemals vom Bösen besiegt." (Bg. 6.40) Mit die-
sen Worten weist Krsna darauf hin, daß die Bemühung um Voll-
kommenheit im yoga allein schon höchst glückverheißend ist; und
wer sich um etwas so Glückverheißendes bemüht, wird niemals
erniedrigt.
Arjuna stellt eine sehr wichtige und intelligente Frage, denn es ist
278 Die Vollkommenheit des Yoga
nicht selten, daß jemand von der Ebene des hingebungsvollen Dien-
stes wieder herabfāllt. Manchmal kann ein Gottgeweihter auf der
Anfängerstufe die Regeln und Vorschriften nicht einhalten. Es kann
vorkommen, daß er der Berauschung oder dem Zauber schöner
Frauen erliegt. Dies alles sind Hindernisse auf dem Pfad zur Voll-
kommenheit des yoga. Doch Sri Krsna gibt Arjuna eine ermutigende
Antwort, denn Er sagt, daß jemand, der mit aufrichtiger Bemühung
auch nur ein einziges Prozent an spirituellem Wissen entwickelt, nie
wieder in den materiellen Strudel hineingerissen wird. Das ist die
Macht einer ernsthaften Bemühung. Wir dürfen nie vergessen, daß
wir schwach sind und daß die materielle Energie sehr stark ist. Spi-
rituelles Leben aufzunehmen bedeutet mehr oder weniger, der ma-
teriellen Energie den Krieg zu erklären. Die materielle Energie ver-
sucht immer, die bedingte Seele mit allen Mitteln zu verführen; doch
wenn die bedingte Seele im spirituellen Wissen Fortschritt machen
will, um ihren Fāngen zu entkommen, bemüht sich māyā, die ma-
terielle Energie, noch mehr, die Ernsthaftigkeit des aufstrebenden
Spiritualisten zu prüfen, und wird mit größeren Verlockungen auf-
warten.
In diesen Zusammenhang paßt die Geschichte von Visvamitra
Muni, einem großen König und ksatriya, der seinem Königreich ent-
sagte und sich dem Vorgang des yoga zuwandte, um spirituellen
Fortschritt zu machen. Zu jener Zeit war es noch möglich, dem Vor-
gang der yoga-Meditation zu folgen. Visvamitra Muni versenkte sich
so tief in Meditation, daß Indra, der König des Himmels, auf ihn auf-
merksam wurde und dachte: „Dieser Mensch versucht, mir meine
Stellung streitig zu machen." Da auch die himmlischen Planeten ma-
teriell sind, gibt es selbst dort Konkurrenzdenken - genau wie unter
Geschäftsleuten, wo keiner von einem anderen übertroffen werden
will. Aus Furcht, Visvamitra Muni würde ihn entthronen, sandte
Indra ein himmlisches Gesellschaftsmādchen namens Menakā, da-
mit sie ihn verführe. Menakā war von bezaubernder Schönheit, und
sie war entschlossen, die Meditation des Muni zu unterbrechen. Tat-
sāchlich wurde er durch den Klang der Fußglöckchen auf ihre Ge-
genwart aufmerksam und blickte sogleich von seiner Meditation
auf. Als er Menakā sah, wurde er von ihrer Schönheit überwältigt,
Das Schicksal des gescheiterten Yogi 279
„Nach vielen, vielen Jahren des Genusses auf den Planeten der from-
men Lebewesen wird der gescheiterte yogi in einer Familie recht-
schaffener Menschen oder in einer reichen, aristokratischen Familie
280 Die Vollkommenheit des Yoga
erfüllt, sich aber Gott nicht zuwendet? Sein Leben verstreicht in der
Tat ohne Gewinn. Wer sich hingegen einmal Krsna zugewandt hat,
befindet sich in einer viel besseren Situation, selbst wenn er von der
Ebene des yoga wieder herabfāllt.
Krsna betont des weiteren, daß von allen guten Familien, in denen
man geboren werden kann - wie Familien von erfolgreichen Hānd-
lern, von Philosophen oder Spiritualisten -, die beste die Familie
von yogis ist. Wer in einer reichen Familie geboren wird, kann leicht
auf Abwege geraten, denn für gewöhnlich möchten Menschen den
Reichtum, den sie bekommen, auch genießen. Aus diesem Grund
werden die Söhne reicher Familien oft alkoholsüchtig oder suchen
Prostituierte auf. Ebenso wird jemand, der in einer frommen Fami-
lie oder in einer Familie von brāhmanas geboren wird, häufig sehr
stolz und arrogant, da er sich einbildet: „Ich bin ein brāhmana, ich
bin fromm." Sowohl in reichen als auch in frommen Familien be-
steht die Gefahr, sich zu erniedrigen. Wer jedoch in einer Familie
von yogis oder Gottgeweihten geboren wird, hat die beste Voraus-
setzung, wieder zur Stufe des spirituellen Lebens zu gelangen, von
der er gefallen ist. Krsna sagt zu Arjuna:
pūrvābhyāsena tenaiva
hriyate hy avaso 'pi sah
282 Die Vollkommenheit des Yoga
283
284 Die Vollkommenheit des Yoga
anāsritah karma-phalam
kāryam karma karoti yah
sa sannyāsi ca yogi ca
na niragnir na cākriyah
„Wer nicht an den Früchten seiner Arbeit haftet und so handelt, wie
es seine Pflicht vorschreibt, befindet sich im Lebensstand der Entsa-
gung. Er ist der wahre Mystiker, und nicht der, der kein Feuer ent-
zündet und keine Pflicht erfüllt." (Bg. 6.1)
Jeder arbeitet mit der Erwartung eines Ergebnisses, und deshalb
könnte man sich fragen, was der Nutzen einer Arbeit ist, wenn man
kein Ergebnis erwartet. Wer arbeitet, verlangt immer einen Gegen-
wert oder einen Lohn, doch hier weist Krsna darauf hin, daß man
auch allein aus Pflichtgefühl arbeiten kann, ohne irgendwelche Er-
gebnisse zu erwarten. Wenn man auf diese Weise handelt, ist man
wirklich ein sannyāsi und befindet sich im Lebensstand der Ent-
sagung.
In der vedischen Kultur gibt es vier Lebensstufen: brahmacarya,
grhastha, vanaprastha und sannyāsa. Brahmacarya ist der Lebensab-
schnitt, in dem man als Student im spirituellen Wissen ausgebildet
wird. Grhastha ist der Lebensabschnitt, in dem man als Haushālter
ein Eheleben führt. Im Alter von ungefähr fünfzig Jahren kann man
in den Lebensstand des vanaprastha eintreten, was bedeutet, daß
man Haus und Kinder verlāßt und mit seiner Frau zu heiligen
Pilgerorten reist. Letztlich trennt sich der Mann auch von der Frau
und bleibt allein, um sich vollständig ins Krsna-Bewußtsein zu ver-
tiefen. Dies wird sannyāsa, die Lebensstufe der Entsagung, genannt.
Krsna weist allerdings darauf hin, daß für einen sannyāsi Entsagung
nicht alles ist; er muß sich auch einer Pflicht zuwenden. Doch wor-
in besteht die Pflicht eines sannyāsi, der dem Familienleben entsagt
hat und keine materiellen Verpflichtungen mehr besitzt? Die Pflicht
des sannyāsi ist von höchster Verantwortung: sie besteht darin, für
Krsna zu handeln. Dies ist die einzig wahre Pflicht aller Menschen,
welcher Lebensstufe sie auch immer angehören.
Es gibt zwei Arten von Pflichten: die eine besteht darin, der Illu-
sion zu dienen, und die andere, der Realität zu dienen. Wenn man
der Realität dient, ist man ein echter sannyāsi, und wenn man der II-
Yoga als Verbindung mit Krsna 285
lusion dient, wird man von māyā getäuscht. Man muß daher erken-
nen, daß man immer und überall gezwungen ist zu dienen. Man hat
nur die Wahl, entweder der Illusion oder der Realität zu dienen. Die
wesensgemäße Stellung des Lebewesens ist es, Diener zu sein, nicht
Meister. Obgleich man sich für den Meister halten mag, ist man in
Wirklichkeit ein Diener. Der Familienvater kann zwar denken, er sei
der Herr seiner Frau, seiner Kinder, seines Hauses und seines Ge-
schäftes, aber das ist ein Trugschluß. In Wirklichkeit ist er der Diener
seiner Frau, seiner Kinder und seines Geschäftes. Ein Präsident mag
als Herr des Landes gelten, wāhrend er in Wirklichkeit der Diener
des Landes ist. Wir sind immer Diener - entweder Diener der Illu-
sion oder Diener Gottes. Wenn wir es jedoch vorziehen, ein Diener
der Illusion zu bleiben, vergeuden wir unser Leben.
Natürlich denkt niemand, er sei ein Diener; jeder denkt, er arbei-
te nur in seinem eigenen Interesse. Man mag auch tatsāchlich die
Ergebnisse seiner Arbeit bekommen, doch diese Ergebnisse sind ver-
gänglich und illusorisch, und sie zwingen einen, ein Diener der Il-
lusion, ein Diener der Sinne, zu werden. Wenn man aber seine tran-
szendentalen Sinne wiedererweckt und wahres Wissen erlangt, wird
man ein Diener der Realität. Wer einmal die Ebene des Wissens er-
reicht hat, erkennt, daß er unter allen Umständen ein Diener ist. Da
es nie möglich sein wird, Meister zu sein, dient man besser der Re-
alität als der Illusion. Wenn man sich dessen bewußt wird, hat man
die Stufe des wahren Wissens erreicht. Die Bezeichnung sannyāsa,
Lebensstand der Entsagung, bezieht sich auf diese Stufe, denn was
den sannyāsa-Stand ausmacht, ist die spirituelle Verwirklichung und
nicht der soziale Status.
Es ist die Pflicht eines jeden, Krsna-bewußt zu werden und Krsnas
Wünschen zu dienen. Wenn man dies wirklich erkennt, wird man
ein mahātmā, eine große Seele. In der Bhagavad-gitā sagt Krsna, daß
jemand, der nach vielen Geburten die Stufe des wahren Wissens er-
reicht hat, „sich Mir ergibt". Weshalb? Vāsudevah sarvam iti. Weil ein
solcher Weiser erkannt hat, daß „Vāsudeva [Krsna] alles ist". Doch
dann erklärt Krsna, daß eine solche große Seele selten zu finden ist.
Was ist der Grund dafür? Warum sollte ein intelligenter Mensch, der
verstanden hat, daß es das höchste Ziel des Lebens ist, sich Krsna zu
ergeben, zögern, dies zu tun? Warum ergibt er sich nicht sogleich?
286 Die Vollkommenheit des Yoga
Was ist der Nutzen, so viele Leben zu warten? Wer dies erkennt und
sich Krsna ergibt, wird ein wahrer sannyāsi. Krsna zwingt niemals
jemanden, sich Ihm zu ergeben. Hingabe ist eine Frucht der Liebe,
transzendentaler Liebe. Wo es Zwang gibt, gibt es keine Freiheit,
und wo es keine Freiheit gibt, gibt es auch keine Liebe. Eine Mut-
ter liebt ihr Kind nicht, weil sie dazu gezwungen ist oder eine Be-
zahlung oder Belohnung erwartet.
Die Liebe zum Höchsten Herrn kann sich in vielen Formen offen-
baren. Wir können Ihn als unseren Meister, unseren Freund, un-
ser Kind oder unseren Gemahl lieben. Es gibt fünf grundlegende
Beziehungen (rasas), die uns ewig mit Gott verbinden. Wenn wir
die befreite Stufe des Wissens erreichen, werden wir erkennen,
welche persönliche rasa-Beziehung wir zum Höchsten Herrn ha-
ben. Diese Stufe wird svarūpa-siddhi, wahre Selbstverwirklichung,
genannt. Wir alle haben eine ewige Beziehung zum Herrn, entwe-
der als Diener, Freund, Vater oder Mutter, Gemahlin oder Geliebte.
Diese Beziehung ist ewig vorhanden, und der gesamte Vorgang der
spirituellen Verwirklichung und die eigentliche Vollkommenheit des
yoga bestehen darin, das Bewußtsein dieser Beziehung wiederzuer-
wecken. Gegenwärtig wird unsere Beziehung zum Höchsten Herrn
in der materiellen Welt auf verzerrte Weise widergespiegelt. In der
materiellen Welt beruht die Beziehung zwischen Meister und Diener
auf Geld, Zwang oder Ausbeutung, ganz bestimmt nicht auf Lie-
be. Die verzerrte Widerspiegelung der Beziehung von Meister und
Diener besteht nur solange, wie der Meister den Diener bezahlen
kann. Sobald die Bezahlung aufhört, endet auch die Beziehung.
Ebenso verhālt es sich mit weltlichen Freundschaften: Schon bei
der kleinsten Auseinandersetzung bricht die Freundschaft, und der
Freund wird zum Feind. Wenn es zwischen dem Sohn und den
Eltern zu einer Meinungsverschiedenheit kommt, verläßt der Sohn
das Zuhause, und die Beziehung wird abgebrochen. Auch in Ehen
läßt sich beobachten, daß schon bei einer geringen Unstimmigkeit
Mann und Frau auseinandergehen und es zur Scheidung kommt.
Beziehungen in der materiellen Welt sind weder echt noch ewig.
Wir müssen uns immer vor Augen halten, daß diese flüchtigen Be-
ziehungen nichts anderes als verzerrte Widerspiegelungen unserer
Yoga als Verbindung mit Krsna 287
durch Bali Mahārājas Haltung sehr erfreut und stellte ihm einen
Wunsch frei. Aber Bali Mahārāja sprach: „Ich erwartete nie eine Be-
lohnung von Dir. Ich wußte nur, daß Du etwas von mir wolltest,
und nun habe ich Dir alles gegeben." „Aber Ich möchte dir etwas
geben", erwiderte der Herr. „Ich werde immer als Bote und Diener
an deinem Hof bleiben."
Auf diese Weise wurde Krsna Bali Mahārājas Torwächter, und das
war die Belohnung, die Er ihm gab. Wenn wir also Krsna etwas ge-
ben, werden wir es millionenfach zurückbekommen; aber wir soll-
ten dies nicht erwarten. Der Herr ist immer bestrebt, den Dienst Sei-
nes Dieners zu erwidern. Jeder, der erkannt hat, daß Dienst für den
Herrn seine wahre Pflicht ist, besitzt vollkommenes Wissen und hat
die Vollkommenheit des yoga erreicht.
8. KAPITEL
Die Vollkommenheit
des Yoga
Auf dem Pfad zur Vollkommenheit des yoga ist es ein großer Segen,
wenn man in einer Familie von yogis oder Gottgeweihten geboren
wird, denn dies stellt einen besonderen Ansporn für spirituellen
Fortschritt dar.
prayatnād yatamānas tu
yogi samsuddha-kilbisah
aneka-janma-samsiddhas
tato yāti parām gatim
289
290 Die Vollkommenheit des Yoga
Mit anderen Worten, wer nach vielen Leben der frommen Betäti-
gung von allen Verunreinigungen, die aus illusorischen Dualitäten
entstehen, befreit ist, wendet sich dem transzendentalen Dienst des
Herrn zu. Sri Krsna beendet Seine Ausführungen über dieses Thema
wie folgt:
„Und von allen yogis ist derjenige, der großen Glauben besitzt und
immer in Mir weilt, immer an Mich denkt und Mir transzendentalen
liebevollen Dienst darbringt, am engsten mit Mir im yoga vereint,
und er ist der höchste von allen." (Bg. 6.47)
Aus diesen Worten geht hervor, daß alle Formen von yoga im
bhakti-yoga, dem hingebungsvollen Dienst für Krsna, gipfeln. Alle
anderen in der Bhagavad-gitā beschriebenen Formen des yoga mün-
den in den hingebungsvollen Dienst, denn Krsna ist das Ziel al-
ler yoga-Systeme. Von der Anfangsstufe des karma-yoga bis hin zum
Ziel des bhakti-yoga erstreckt sich ein langer Weg der Selbstverwirk-
lichung. Karma-yoga, das heißt Handeln ohne Erwartung frucht-
bringender Ergebnisse, stellt den Anfang dieses Weges dar. Wenn
karma-yoga an Wissen und Entsagung zunimmt, erreicht man die
Stufe des jnāna-yoga, des yoga des Wissens; wenn jnāna-yoga zu Me-
ditation über die Überseele wird, bei der man verschiedene phy-
sische Übungen ausführt und den Geist auf die Überseele rich-
tet, wird dies astānga-yoga genannt; und wenn man die Stufe des
astānga-yoga hinter sich läßt und zur Verehrung der Höchsten Per-
sönlichkeit Gottes, Krsna, kommt, nennt man dies bhakti-yoga, die
höchste Stufe. Bhakti-yoga ist das höchste Ziel, aber um bhakti-yoga
genau zu verstehen, muß man auch die anderen Vorgānge verste-
hen. Der yogi, der kontinuierlich vorwärtsschreitet, befindet sich auf
dem Pfad zu wahrem, ewigem Glück. Wenn jemand aber auf einer
bestimmten Stufe stehenbleibt und keinen weiteren Fortschritt mehr
macht, bezeichnet man ihn dementsprechend als karma-yogi, jnāna-
yogi, dhyāna-yogi, rāja-yogi, hatha-yogi usw. Wer aber so sehr vom
Die Vollkommenheit des Yoga 291
Glück begünstigt ist, daß er bis zur Stufe des bhakti-yoga, des Krsna-
Bewußtseins, gelangt, hat alle anderen yoga-Systeme hinter sich ge-
lassen.
Krsna-Bewußtsein ist das letzte Glied in der Kette des yoga, jenes
Glied, das uns mit der Höchsten Person, Sri Krsna, verbindet. Ohne
dieses letzte Glied ist die gesamte Kette praktisch wertlos. Wenn wir
aufrichtig an der Vollkommenheit des yoga interessiert sind, soll-
ten wir uns deshalb sogleich dem Krsna-Bewußtsein zuwenden, in-
dem wir Hare Krsna chanten, die Bhagavad-gitā studieren und Krsna
durch die Gesellschaft für Krsna-Bewußtsein Dienst darbringen. Auf
diese Weise übertreffen wir alle anderen Systeme und erreichen das
höchste Ziel aller Formen von yoga: Liebe zu Krsna.
Anhang
Der Autor
His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda wurde im Jahre 1896 in
Kalkutta geboren, wo er im Jahre 1922 zum ersten Mal seinem spirituellen Meister,
Srila Bhaktisiddhanta Sarasvati Gosvāmi, begegnete. Bhaktisiddhanta Sarasvati, ein
bekannter Gelehrter und Gottgeweihter sowie der Gründer von vierundsechzig Tem-
peln in ganz Indien, fand Gefallen an dem gebildeten jungen Mann, und bereits bei
ihrer ersten Begegnung bat er ihn, das vedische Wissen in englischer Sprache zu ver-
breiten. Srila Prabhupāda wurde sein Schüler, und elf Jahre später (1933) empfing er
in Allahabad die formelle Einweihung.
In den darauffolgenden Jahren verfaßte Srila Prabhupāda, gemäß der Anweisung
seines spirituellen Meisters, viele Artikel über die Philosophie des Krsna-Bewußt-
seins; darüber hinaus unterstützte er Bhaktisiddhāntas Gaudiya-Matha-Bewegung
in ihrer Arbeit. Im Jahre 1944 begann er ein halbmonatliches Magazin in englischer
Sprache mit dem Titel „Back To Godhead" herauszugeben, das er ohne fremde Hilfe
verfaßte, produzierte, finanzierte und verteilte. Dieses Magazin wird heute von Srila
Prabhupādas Schülern weitergeführt und in vielen Sprachen veröffentlicht.
1950, im Alter von vierundfünfzig Jahren, zog sich Srila Prabhupāda aus dem
Familienleben zurück, um seinen Studien und seiner Schreibtätigkeit mehr Zeit wid-
men zu können. Er begab sich nach Vrndāvana, dem berühmten heiligen Ort, an dem
Krsna vor fünftausend Jahren erschienen war. Er fand im mittelalterlichen Rādhā-
Dāmodara-Tempel Unterkunft, wo er in bescheidensten Verhältnissen lebte und sich
mehrere Jahre in eingehende Studien vertiefte. 1959 trat er in den Lebensstand der
Entsagung (sannyāsa). Im Rādhā-Dāmodara-Tempel begann Srila Prabhupāda mit der
Arbeit an seinem Lebenswerk - einer vielbändigen kommentierten Übersetzung des
achtzehntausend Verse umfassenden Srimad-Bhāgavatam.
Als besitzlosem sannyāsi fiel es Srila Prabhupāda sehr schwer, die notwendigen
Mittel für seine Publikationen aufzutreiben. Trotzdem gelang es ihm bis 1965, mit
Hilfe von Spenden den Ersten Canto des Srimad-Bhāgavatam in drei Bänden zu ver-
öffentlichen. Im Herbst des Jahres 1965 reiste Srila Prabhupāda an Bord des Fracht-
dampfers Jaladuta in die Vereinigten Staaten, um die Mission seines spirituellen Mei-
sters zu erfüllen. Als Srila Prabhupāda mit dem Schiff im Hafen von New York
ankam, war er allein und so gut wie mittellos. Im Juli 1966, nach einem Jahr vol-
ler Prüfungen und Schwierigkeiten, gründete er die Internationale Gesellschaft für
Krischna-Bewußtsein (ISKCON), die sich unter seiner persönlichen Führung innerhalb
eines Jahrzehnts von einem kleinen Krsna-Tempel in New York zu einer weltweiten
Bewegung entwickelte.
Im Jahre 1968 gründete Srila Prabhupāda in Amerika die erste spirituelle Farm-
gemeinschaft, nach deren Vorbild in der Folge auf allen fünf Kontinenten ähnliche
295
296 Anhang
297
298 Anhang
Sankara; bezeichnet unter dem Leitsatz „alles ist eins" die Existenz eines per-
sönlichen Gottes und die Individualität der Seele als Illusion; lehrt, Gott sei
formlos und unpersönlich, weshalb das Ziel von Meditation darin bestehe, die
eigene individuelle Existenz aufzulösen und mit dem Höchsten (Brahman) eins
zu werden.
Māyāvādi: Anhänger der Māyāvāda-Philosophie.
Mukti: Befreiung von der materiellen Fessel.
Nāma-aparādha: Vergehen gegen den heiligen Nameh.
Nārada Muni: großer Gottgeweihter, spiritueller Meister und einer der mahājanas.
Nārāyana: die Höchste Persönlichkeit Gottes; Krsna in Seiner Erweiterung auf den
spirituellen Vaikuntha-Planeten.
Nirvāna: „Auflösung"; (1) nach Bhagavad-gitā: Befreiung aus der materiellen Welt
und Rückkehr der Seele in die spirituelle Welt; (2) nach buddhistischer Inter-
pretation: die Auflösung des Körpers bzw. Auflösung der Seele im Nichts als
Beendigung der persönlichen, individuellen Existenz.
Nityānanda Prabhu: ewiger Gefährte Sri Caitanyas; Verkörperung von Gottes Barm-
herzigkeit.
Om (Omkāra): (1) die heilige Silbe der Veden, die als Hinweis auf die Absolute Wahr-
heit ausgesprochen wird; (2) die unpersönliche Klangrepräsentation der Ab-
soluten Wahrheit.
Paramātmā: die „Überseele"; die in der materiellen Welt allgegenwärtige Form Got-
tes, die Sich im Herzen aller Lebewesen und in allen Atomen befindet; beglei-
tet die Lebewesen als Zeuge ihrer Handlungen durch alle Lebensformen und
ist somit der entscheidende Faktor für das Funktionieren des karma-Gesetzes;
die zweite Stufe der Erkenntnis der Absoluten Wahrheit.
Paramparā: „Schülernachfolge"; die Kette der spirituellen Meister.
Pariksit: Enkel Arjunas; Weltherrscher nach Mahārāja Yudhisthiras Rücktritt; hörte
wāhrend der letzten sieben Tage seines Lebens das Srimad-Bhāgavatam von
Sukadeva Gosvāmi.
Prabhupāda, A.C. Bhaktivedanta Swami: (1896-1977) herausragender spiritueller
Meister (ācārya) der Brahmā-Madhva-Gaudiya-Vaisnava-Schülernachfolge, die
bis zu Krsna zurückreicht; bedeutendster Sanskritübersetzer der Neuzeit; grün-
dete im Jahr 1966 die International Society for Krishna Consciousness. Siehe auch:
Der Autor, S. 295
Prakrti: „Energie"; (1) im Gegensatz zu Gott, dem Energieursprung; (2) parā-prakrti:
die höhere, spirituelle Energie; (3) aparā-prakrti: die niedere, materielle Energie.
Prasādam: „Barmherzigkeit"; vegetarische Speise, die Krsna geweiht ist.
Prāyascitta: „Buße"; rituelle Sühnehandlung zur Aufhebung von Reaktionen auf Sün-
den, die man begangen hat.
Prema: reine Liebe zu Gott; die höchste Stufe des hingebungsvollen Dienstes.
Purāna: die achtzehn Ergänzungsschriften zu den Veden, mit historischen Aufzeich-
nungen und philosophischen Erläuterungen.
Rādhārāni: Krsnas ewige Gefährtin und Haupt-gopi in Vrndāvana; Sie verkörpert die
innere Freudenkraft Krsnas und ist Seine höchste Geweihte.
Raghunātha dāsa Gosvāmi: (1495-1571) einer der sechs Gosvāmis von Vrndāvana.
Rajo-guna: die Erscheinungsweise der Leidenschaft.
Rāma: (1) Name Krsnas mit der Bedeutung „die Quelle aller Freude"; (2) Krsnas Bru-
der Balarāma; (3) Rāmacandra, der avatāra Krsnas als vollkommener König.
302 Anhang
Rāsa-lilā: Krsnas transzendentaler rāsa-Tanz mit den gopis im Wald von Vrndāvana.
Rsabhadeva: Inkarnation Krsnas und heiliger König; wird im Fünften Canto des
SrTmad-Bhāgavatam beschrieben.
Rsi: „Weiser"; Titel der großen Weisen und Gottgeweihten der vedischen Zeit.
Rūpa Gosvāmi: (1489-1564) einer der sechs Gosvāmis; großer Heiliger Indiens; einer
der direkten Schüler und Nachfolger von Caitanya Mahāprabhu.
Sac-cid-ānanda: „ewig, voller Wissen, voller Glückseligkeit"; Eigenschaft Krsnas und
Seiner höheren Energie.
Sādhu: „Heiliger", Gottgeweihter.
Sahajiyā: jemand, der die Symptome großer Gottgeweihter nachahmt, ohne von ma-
terieller Verunreinigung (Lust, Streben nach Ansehen, Reichtum usw.) frei zu
sein.
Samsāra: „der Kreislauf von Geburt und Tod".
Sanātana Gosvāmi: (1488-1588) Bruder von Rūpa Gosvāmi; einer der direkten Nach-
folger und Schüler Sri Caitanyas.
Sankarācārya: einflußreicher Philosoph der indischen Geistesgeschichte im 8./9. Jahr-
hundert; verkündete die Māyāvāda-Philosophie.
Sankirtana: „gemeinsames Chanten der heiligen Namen des Herrn"; der im Kali-
yuga empfohlene Vorgang der Selbstverwirklichung; wurde von Sri Caitanya
Mahāprabhu eingeführt.
Sannyāsi: Mönch im Lebensstand des sannyāsa (Siehe: āsrama).
Sanskrit: die Sprache der Veden; die älteste Schriftsprache der Welt und Muttersprache
vieler moderner Sprachen.
Sārūpya: eine Form der Befreiung, bei der man eine spirituelle Gestalt annimmt, die
der Gestalt Gottes gleicht.
Sāstra: offenbarte, heilige Schrift.
Sattva-guna: die Erscheinungsweise der Tugend.
Seele. Siehe: ātmā (1); Jiva.
Spirituelle Welt. Siehe: Vaikuntha.
Siva: „der Glückspendende"; mächtiger Halbgott und Gottgeweihter; ist für die Zer-
störung des Universums zuständig.
Sridhara Svāmi: (1429-1529) großer Gottgeweihter; Verfasser des ersten autorisierten
Kommentars zum Srimad-Bhāgavatam.
Srimad-Bhāgavatam (auch Bhāgavata Purāna): das bedeutendste der achtzehn Purā-
nas; der 18 000 Verse umfassende Kommentar Vyāsadevas zu seinem Vedānta-
sütra; beschreibt in zwölf Cantos die Taten und die Lehren der wichtigsten
Gottgeweihten und Inkarnationen Gottes; der Zehnte Canto beschreibt das Er-
scheinen und die Taten Krsnas, der Höchsten Persönlichkeit Gottes.
Sündhafte Reaktionen. Siehe: Karma (1).
Sukadeva Gosvāmi: großer Weiser; Sohn Vyāsadevas; trug das Srimad-Bhāgavatam
Pariksit Mahārāja vor.
Svāmi: „Meister"; Titel eines sannyāsi; Siehe auch: Gosvāmi.
Sūdra: Siehe: Varna.
Tamo-guna: die Erscheinungsweise der Unwissenheit.
Tapasya: das Aufsichnehmen von Entsagung, um ein höheres Ziel zu erreichen.
Tulasi: heilige Pflanze, deren Blätter in der Verehrung Krsnas verwendet werden.
Überseele. Siehe: Paramātmā.
Glossar 303
305
Die zeitlose Philosophie der Das Srimad-Bhāgavatam (Bhaga- Das Sri Caitanya-caritāmrta von
Bhagavad-gitā hat im Herzen vata Purāna) wird als die reife Krsnadāsa Kavirāja Gosvāmi
der Menschen, im Osten wie im Frucht am Baum der Veden be- ist die wichtigste Biographie Sri
Westen, schon immer lebhaftes zeichnet und gilt - mit seinen Caitanya Mahāprabhus. Vor
Interesse erweckt. Die Bhagavad- 18 000 Versen in vollendetem fünfhundert Jahren verbreitete
gitā, der „Gesang Gottes", ist die Sanskrit - als das bedeutend- Sri Caitanya in ganz Indien das
Essenz der vedischen Weisheit ste der 18 Purānas. Dank Srila gemeinsame Chanten der
und gehört zu den bedeutend- Prabhupādas wortgetreuer heiligen Namen Gottes (san-
sten Werken der spirituellen übersetzung und seinen ein- kirtana) und löste so eine Re-
und philosophischen Weltlite- fühlsamen Kommentaren kön- naissance der krsna-bhakti aus.
ratur. Große Denker wie Kant, nen wir authentische, leben- Er ist der Begründer einer
Schopenhauer, Einstein und dige Einblicke in die Geschichte, gewaltigen spirituellen Bewe-
Gandhi ließen sich nachhaltig Religion, Kultur und Zivilisa- gung, die das religiöse und phi-
von dieser Schrift inspirieren, die tion des alten Indiens gewinnen. losophische Denken weit über
die wahre Natur des Menschen, Das Srimad-Bhāgavatam ist die Indiens Grenzen hinaus
seine Bestimmung im Kosmos umfassendste und autoritativste beeinflußt hat. Auf der gan-
und seine Beziehung zu Gott Darstellung vedischen Wissens. zen Welt gewinnt Sri Caitanya
offenbart. Arthur Schopenhauer: als großer Heiliger und bahnbre
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