Sie sind auf Seite 1von 10

Fth LF 11 LS 1, 4 Thema: Klasse: BF P

„Verluste, Ressourcen und


Datum: Bedürfnisse von Menschen mit
Demenz einschätzen“

Name:

Das psychobiographische Pflegemodell nach Erwin Böhm


Ein vertieftes Pflegeverständnis und die Möglichkeit des zielgerichteten und differenzierten
Umgangs mit alten Menschen durch die Auseinandersetzung mit der Biografie von verwirrten
alten Menschen beinhaltet das psychobiographische Pflegemodell nach Prof. Erwin Böhm.
Erwin Böhm sieht die Probleme psychisch auffälliger alter Menschen nicht vordergründig
organisch, sondern seelisch bedingt, was aus der individuellen Biografie hergeleitet werden
kann.
Die Pflegetheorie zeichnet sich durch die Betonung und Förderung des Selbsthilfepotenzials
alter Menschen aus. Sie sollen reaktiviert werden, die alten Menschen sollen aufleben und nicht
aufgehoben werden. Prof. Böhm sagt: „Wir betreuen Menschen und nicht Betten.“ Alte kranke
Menschen so zu reaktivieren, dass sie nicht in einem Heim „verwahrt“ werden müssen, sondern
wieder eigenständig in ihrem Wohnumfeld leben können, ist ein hervorragendes Pflegeziel.
Prof. Erwin Böhm aus Wien ist es mit seinem psychobiographischen Pflegemodell gelungen,
diese Zielstellung auch praktisch zu verwirklichen. Das psychobiographische Pflegemodell
basiert auf der Theorie Freuds. Die zentrale Rolle spielt die Wiederbelebung der Seele bzw.
Psyche. Denn nach Böhms Beobachtungen und Erfahrungen ist Demenz "eine Erkrankung, die
sich als seelisches Geschehen mit fortschreitendem Charakter zeigt." Aus dieser Sicht ist ein
vollkommen anderer Umgang und Zugang zu den Erkrankten möglich und notwendig als die
reine körperliche Versorgung nach dem Prinzip warm-satt-sauber.
Grundsätzliche Erkenntnisse des Pflegemodells nach Pro f. E. Böhm sind folgende:
- Alles, was einen Menschen in den ersten 25-30 Jahren seines Lebens geprägt hat,
gewinnt mit zunehmendem Alter an Bedeutung, das Altgedächtnis wird reaktiviert. Die
Erlebnisse aus dieser Zeit haben den Menschen geformt, sie beeinflussen sein
Verhalten, seine Gefühlswelt. Alte Menschen denken und handeln entsprechend der
„geformten Welt“ dieser Jahre.

- Bei der Erstellung der Biografie ist es nicht vordergründig von Bedeutung, Lebensdaten
in chronologischer Reihenfolge zu erfassen, sondern eine Psychobiographie zu
erstellen. Es sollte herausgefunden werden, was dem Menschen wichtig ist, was ihn in
seinem Leben bewegt hat, weshalb er bestimmte Dinge getan hat.

- Über die Biografiearbeit werden sog. „Copings“ erhoben, d.h., wie hat der Mensch
gelernt, mit Problemen umzugehen? Diese Reaktionsmuster werden von
Bezugspersonen abgeschaut. Daraus lassen sich die Bewältigungsstrategien ableiten,
die eingesetzt werden, um Pflegeziele zu erreichen.

- In Belastungssituationen, z.B. bei der Übersiedlung in ein Pflegeheim, wird bei alten
Menschen das Altgedächtnis aktiviert. Sie bauen weiter ab, weil nichts mehr da ist, was
sie von früher kennen. So kann es zum Umkehrphänomen der Entwicklung kommen.
Sie fallen in ihre Gemütspsyche zurück, es werden Verhaltensrituale oder Copings der
nächstniederen Stufe wirksam, um in dieser neuen, unbekannten Welt überleben zu
können.

- Wenn wir das Verhalten, das Handeln und die Erzählungen alter Menschen verstehen
wollen, müssen wir herausfinden, was sie geprägt hat. Auf der Grundlage einstiger
Lebensantriebe ist eine seelische „Wiederbelebung“ alter Menschen möglich.

- Die Selbstständigkeit, die soziale Kompetenz der Senioren soll so lange wie möglich
erhalten bleiben. Dabei ist nicht vorrangig körperliche Selbstständigkeit gemeint,
sondern der Geist und die Psyche, also selbstständig Denken, fühlen und entscheiden zu
dürfen.

- Auffällige Alterserscheinungen, wie Vergesslichkeit, Verwirrtheit, Wahnvorstellungen,


Aggressionen, Depressionen sind auch bei zunehmendem Gehirnabbau durchaus positiv
beeinflussbar. Die Irreversibilitätstheorie ist überholt!
- Die primären Altersstörungen sieht Prof. Böhm in der Seele, deshalb wird sein Modell
auch als „Seelenpflegemodell“ bezeichnet.

- Mit seinem Modell wird die Zeitebene der Pflegekräfte mit der Zeitebene der zu
Pflegenden zusammengeführt. Die Sicht der Pflegeperson bestimmt die Pflege, z.B. des
Heimbewohners, sie entwickelt sozusagen ein „pflegerisches Auge“.

Erwin Böhm hat vier Grundannahmen gebildet: Jeder Mensch …


- ist individuell geprägt – Bedürfnisse, Regeln und Werte
- hat/lebt seine Alltagsnormalität – was war/ist wichtig
- braucht ein Daheim-Gefühl – Bekanntes und Vertrautes
- braucht das Gefühl der ICH-Wichtigkeit – Identität, Wertigkeit

Innerhalb der Biografie unterscheidet das Modell in die…


- Singuläre Biografie: die individuelle Lebensgeschichte des Einzelnen, die anhand der
Erzählungen (Stories) des Betroffenen aus seiner Sichtweise entsteht
- Historische Biografie: Welcher "Zeitgeist" herrschte als die Person geboren wurde.
Der Betroffene berichtet als "Zeitzeuge" über das Geschehen (kollektive Prägung).
- Regionale Biografie: In welchem Milieu, ist die Person aufgewachsen? Mit welchen
Normen, Wertvorstellungen, Sprache, Ritualen, Gewohnheiten u.s.w. Dies alles steht
im Zusammenhang mit regionalen Gegebenheiten (Folklore).

Quellen:
Böhm, E.: Verwirrt nicht die Verwirrten. Neue Ansätze geriatrischer Krankenpflege. 15. Aufl. Psychiatrie Verlag. 1999.
Böhm, E.: Psychobiographisches Pflegemodell nach Böhm. 4. Aufl. Maudrich. 2009.
Popp, I.: Verwirrt nicht die Verwirrten! Was bedeutet Pflege nach Böhm? In: Heilberufe. 7/2002, S.36-37.
Interaktionsstufen des psychobiographische Pflegemodells

Erwin Böhm unterscheidet sieben Interaktionsstufen (auch emotionale


Erreichbarkeitsstufen genannt) auf denen sich der alte Mensch befinden
kann. Für jede Interaktionsstufe müssen eigene Zugangswege zum alten
Menschen gefunden werden. Die Regression erfolgt in umgekehrter
Reihenfolge zur Entwicklung des Menschen.

Stufe 1: „Sozialisation“
- entspricht der Erwachsenenstufe, lebenslanges Lernen
ermöglicht, sich den Normen in der Gesellschaft anpassen
- normale Unterhaltung mit dem alten Menschen möglich
- eventuell etwas lauter oder langsamer zu sprechen
- der Mensch ist in dieser Stufe kognitiv erreichbar
- laut Böhm handelt es sich hier um einen biologischen
Abbau, also um den physiologischen Alterungsprozess
- „Die Kommunikation läuft vorwiegend auf der Inhalts-
und Beziehungsebene ab.“

Stufe 2: „Mutterwitz“
- entspricht der Entwicklungsstufe der Jugendlichen
- es wird gesprochen, „wie einem der Schnabel gewachsen
ist“
- die kognitive Leistung des alten Menschen auf dieser Stufe
hat schon etwas nachgelassen (entspricht aber noch dem
Erwachsenenalter)
- der alte Mensch ist über ein Gespräch erreichbar und
reagiert auf eine gewisse Art von Humor (z.B. ein
humorvolles Augenzwinkern oder auch eine derbe
Sprache)
- je nach Ausprägung des individuellen Humors gestaltet
sich der Zugang dementsprechend leichter oder
schwieriger
- auch hier handelt es sich laut Böhm noch um den
physiologischen Abbau

„Menschen auf Stufe 1 oder 2 verstehen Wort und Satz. Sie sind
mittels aktivierender Pflege erreichbar.

Stufe 3: „Seelische und soziale Grundbedürfnisse“


- Personen auf dieser Stufe haben viele frühere Fähigkeiten
und Gewohnheiten abgelegt
- dieses Stadium entspricht dem Lebensalter zwischen 12
und 16 Jahren, also der Pubertät
- Menschen auf dieser Stufe zeigen
Verhaltensauffälligkeiten
- erste kognitive Einbußen
- der alte Mensch ist nicht mehr erreichbar und beginnt,
vernachlässigte Grundbedürfnisse (z.B. Zuneigung,
Aufmerksamkeit) aus seiner Kindheit einzufordern (z.B.
durch Schreien oder Aggressivität)
- ab dieser Stufe beginnt laut Böhm nun auch der
pathologische Abbau
„Eine sensible Beobachtung sowie eine Nichtüberforderung in
körperlicher und seelischer Weise ist Impulssetzung.“

Stufe 4: „Prägungen“
- erlernte, sich wiederholende, eingespielte
Verhaltensweisen herrschen vor
- das Verhalten in dieser Stufe entspricht dem 6. bis 12.
Lebensjahr
- ist geprägt von erlernten Verhaltensnormen oder auch
Ritualen, die dem alten Menschen Sicherheit geben (z.B.
Tischgebet vor dem Essen oder Respekt älteren Menschen
gegenüber)
- die Prägung kann je nach Region, in der der alte Mensch
aufgewachsen ist, unterschiedlich sein (z.B. bestimmte
Sprüche)
„Verständnis aufbringen und Sicherheit geben ist die
Intention.“
Stufe 5: „Triebe“
- diese Stufe entspricht dem Lebensalter zwischen 3 und 6
Jahren
- um den alten Menschen auf dieser Stufe zu erreichen,
muss man ihm einen Lebenssinn geben
- man muss hierbei herausfinden, auf welchen Reiz der alte
Mensch reagiert (z.B. Essen oder Macht).
- nur wenn der richtige Reiz angesprochen wird, gelingt es,
den alten Menschen zu aktivieren.
„Fördern durch zumutbare Forderungen und positivem
Zuspruch.“

Stufe 6: „Intuition“
- sie entspricht dem Säuglings- und Kleinkindalter
- also dem Lebensalter zwischen 1 und 3 Jahren
- Gefühle, Märchen, Aberglaube und Bilder spielen eine
Rolle
- der alte Mensch zieht sich auch oft in die „gute, alte Zeit“
zurück und träumt von geliebten Menschen und vertrauten
Personen
- der alte Mensch reagiert intuitiv, da er die Welt kognitiv
nicht mehr verstehen kann
„Nach Böhm "endet" hier die reaktivierende Pflege und die
Validation beginnt.“

Stufe 7: „Urkommunikation“
- Säuglingsalter; die emotionale Erreichbarkeit ist gegeben
- körperliche Möglichkeiten sind beschränkt
- erst in der letzten Stufe entwickelt der alte Mensch wieder
das Verhalten eines Säuglings
- der Betroffene liegt oft in einer embryonalen Stellung im
Bett und ist teilnahmslos
- das Spüren des eigenen Körpers ist auf dieser Stufe die
einzige Möglichkeit, sich seines Selbst noch bewusst zu
werden (z.B. durch Anfassen der Genitalien oder spielen
mit dem eigenen Kot).
„Basale Kommunikations- und Stimulationsformen können
eine Erreichbarkeit fördern.“

Um erkennen zu können, wie man den alten Menschen auf den


einzelnen Interaktionsstufen erreichen kann ist es bei der Erstellung
einer Biografie auch nicht am wichtigsten, einen chronologischen
Lebenslauf, sondern eine Psychobiographie zu erstellen. Diese
Psychobiographie besteht hauptsächlich aus Geschichten (sog. Stories),
die das Leben des alten Menschen beschreiben und die das Leben des
alten Menschen ausmachen. Ebenfalls sollten seine Copings ermittelt
werden.
Grundlagen des pflegerischen Handelns nach Böhm

- den Menschen als eine Einheit aus Körper, Seele und Geist sehen
- diese Einheit wird von Geburt an geprägt durch soziale, kulturelle,
traditionelle und milieuorientierte Einflüsse

- die Biografie eines Menschen bietet Möglichkeiten, ein vertieftes


Pflegeverständnis zu entwickeln und zielgerichtet und
differenziert mit verhaltensauffälligen Menschen umzugehen

- die Pflegekräfte müssen sich selbst, ihre eigene Haltung und ihr
Tun reflektieren
- die Vorgehensweise in der Pflege erfordert eine eigenständige
Denk- und Arbeitsweise des Pflegepersonals
- immer wieder überlegen, was ist jetzt in diesem Moment für
diesen Bewohner das Richtige?
- Pflegekräfte müssen jeden Tag zum Dienst kommen mit dem
Wissen, dass der heutige Tag anders verläuft als der gestrige

- neben den Pflegekräften müssen auch alle anderen mit der


Versorgung Beschäftigten das Konzept kennen und leben
- alle müssen sich jederzeit fragen: Was ist uns wichtig in dieser
Situation? Die Aufgabe, die ich gerade erledige oder das
Anliegen/Problem des Bewohners?

- um dieses Umdenken einzuleiten sind Schulungen notwendig

Praktische Umsetzung
- der zentrale Punkt ist die Biografie und beginnt ab der Aufnahme
- der Fokus liegt auf die ersten 25 bis 30 Lebensjahre
- Gespräch mit den Angehörigen, vor allem den Angehörigen
vermitteln worauf es bei dem Modell ankommt (z.B. die
ungewaschene Bettwäsche des zukünftigen Bewohners
mitbringen, damit er sich schnell zu Hause fühlt, als seinem
eigenen Gefühl des Anstands oder der Reinlichkeit nachzugeben.
- in diesem Gespräch müssen das Modell erläutert und gegenseitige
Erwartungen geklärt werden
- kleine Wohngemeinschaften mit festen Bezugspersonen
- die individuelle Gestaltung der Wohnräume nach den
Bedürfnissen der Bewohner, auch Rückzugsmöglichkeiten
- genügend Freiraum zum Ausleben des Bewegungsdranges
- gemeinsame Gestaltung des Tagesablaufs wie es dem alten
Menschen auf seiner emotionalen Erreichbarkeitsstufe möglich
ist
- Fröhlichkeit und Lebendigkeit
- das Zusammenleben mit liebgewordenen Haustieren
- der Besuch der Pflegekräfte in der häuslichen Umgebung des
Bewohners (Dinge betrachten, wie z.B. seine Alltagsnormalität,
sein Daheim-Gefühl, die Alltagsgewohnheiten,
Schlafgewohnheiten und -platz (mit welchem Fuß ist er aus dem
Bett gestiegen?), Mahlzeiten (oft allein gegessen oder in der
Großfamilie), woraus wurde die Ich-Wichtigkeit bezogen
(Dokumente, Urkunden: Vereinsvorsitzender), Kleinmöbel,
Stories, Zimmeraufteilung und wichtige Gegenstände
Gründe für „Verhaltensauffälligkeiten“

- Verweigerung der Nahrungsaufnahme


Wiedererkennung? - Brokkoli z.B. kennen viele Menschen aus
einer bestimmten Generation nicht: "Blumenkohl ist weiß und
grünen Blumenkohl esse ich nicht!"

- Verstecken von Lebensmitteln


Horten aufgrund der Prägungszeit, da es in der Kriegs- bzw.
auch Nachkriegszeit wenig zu essen gab, werden – obwohl heute
nicht mehr nötig – Vorräte angelegt

- Verweigerung der Körperpflege


Erlebnisse aus der Kriegszeit (z.B. körperliche Übergriffe) oder
aber andere Pflegegewohnheiten (einmal in der Woche baden
und nicht täglich waschen)

- Inkontinenz
Regression oder fehlender Impuls (heutige Toiletten sehen
anders aus als Plumpsklos oder Eimer, die früher teils benutzt
wurden)

Das könnte Ihnen auch gefallen