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Book review

Geogr. Helv., 78, 135–137, 2023


https://doi.org/10.5194/gh-78-135-2023
© Author(s) 2023. This work is distributed under
the Creative Commons Attribution 4.0 License.

Book review: Von Ein- und Ausschlüssen in Europa.


Eine ethnographische Studie zu EU-Migration
und Wohnungslosigkeit in Deutschland
Nadine Marquardt
Geographisches Institut Bonn, Bonn, Deutschland
Correspondence: Nadine Marquardt (marquardt@uni-bonn.de)

Published: 6 March 2023

Haj Ahmad, M.-T.: Von Ein- und Ausschlüssen in Europa. Ei- in studentischen Abschlussarbeiten. Oft handelt es sich da-
ne ethnographische Studie zu EU-Migration und Wohnungs- bei um Randgruppenstudien, die in erster Linie Wissen über
losigkeit in Deutschland, Münster, Verlag Westfälisches wohnungslose Menschen generieren; ein Schwerpunkt liegt
Dampfboot, 245 ff., ISBN 978-3-89691-078-3, EUR 27,00, zudem auf dem Aspekt der Verdrängung aus öffentlichen
2022. Räumen (siehe z. B. Neupert, 2010; Boß, 2018).
Im Dezember 2022 wurde der erste Bericht des Bundes- Nur wenige Arbeiten widmen sich jenseits davon der Fra-
ministeriums für Arbeit und Soziales über Wohnungslosig- ge nach der sozial- und ordnungspolitischen Steuerung von
keit in Deutschland veröffentlicht. Hintergrund ist das Woh- Wohnungslosigkeit oder fragen nach den spezifischen sozia-
nungslosenberichterstattungsgesetz, das nach jahrzehntelan- len Verwundbarkeiten und räumlichen Konstellationen von
gen Kämpfen für eine statistische Erhebung von Wohnungs- Wohnungslosigkeit, die eben nicht nur durch Wohnungsver-
losigkeit im Jahr 2020 endlich verabschiedet wurde. Dem luste, sondern auch durch diese Steuerung hervorgebracht
nun erstmals vorliegenden statistischen Bericht zufolge sind werden. Eine wichtige Ausnahme ist das Buch Von Ein-
in Deutschland derzeit etwa 262 600 Menschen ohne Woh- und Ausschlüssen in Europa von Marie-Therese Haj Ahmad,
nung, 38 500 leben ohne jede Unterkunft auf der Straße. An- das letztes Jahr im Verlag Westfälisches Dampfboot erschie-
gesichts der seit Jahren in vielen Städten angespannten Miet- nen ist. Ein Alleinstellungsmerkmal der im Buch verhan-
wohnungsmärkte und einer sich weiter zuspitzenden Woh- delten empirischen Studie ist, dass sie innereuropäische Mi-
nungsnot ist davon auszugehen, dass Obdach- und Woh- gration und die Wohnungslosigkeit von EU-Bürger*innen in
nungslosigkeit zumindest in naher Zukunft nicht abnehmen Deutschland zum Thema macht.
werden, auch wenn die EU ihre Mitgliedsländer dazu aufge- Das Buch ist das Ergebnis einer mehrjährigen ethnogra-
fordert hat, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beseitigen. phischen Untersuchung in Einrichtungen der sozialen Wohn-
Angesichts dieser hohen Zahlen und des extremen sozia- hilfe, Jobcentern, Gerichten, medizinischen Einrichtungen,
len Leidens, das sich hinter den Zahlen verbirgt, ist es schon Notübernachtungen, Wärmestuben und Tagestreffs für Woh-
erstaunlich, wie still es zumindest in der deutschsprachigen nungslose in Berlin. Als ehemalige Sozialarbeiterin in Ein-
Geographie und Stadtforschung seit Jahren um das Thema richtungen des Berliner Hilfesystems und Mitarbeiterin in ei-
ist. Während die Analyse des Umgangs mit wohnungslosen nem Beratungsprojekt für wohnungslose EU-Bürger*innen
Menschen in der angloamerikanischen Stadtforschung zum hatte Haj Ahmad zu Feld und Zielgruppe der Studie einen
regelrechten „ Lackmustest“ für den Grad der Neoliberali- vergleichsweise guten Zugang. Auf dieser Basis wäre es ihr
sierung städtischer Politik erklärt und umfangreich betrieben ein Leichtes gewesen, eine ethnographische Randgruppen-
wurde (für einen Überblick siehe DeVerteuil et al., 2009), analyse vorzulegen, die vor allem Wissen über wohnungslo-
muss man im deutschsprachigen Raum weiterhin mit der Lu- se EU-Bürger*innen, ihre Biographien und Mobilitätsmuster
pe nach vergleichbaren Studien suchen. Wird Wohnungslo- produziert. Doch genau so eine Studie hat Haj Ahmad erfreu-
sigkeit in der deutschsprachigen Geographie und Stadtfor- licherweise – und Erwartungshaltungen in der politischen
schung überhaupt als Thema aufgegriffen, dann vor allem und sozialarbeiterischen Praxis wie auch in der Wissenschaft

Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
136 N. Marquardt: Book review: Von Ein- und Ausschlüssen in Europa. Eine ethnographische Studie zu EU-Migration

zum Trotz – nicht vorgelegt. Die Studie untersucht nicht die sichtlich einfach nicht totzukriegen sind. Hartnäckig schrän-
Gruppe der wohnungslosen EU-Bürger*innen selbst. Statt- ken sie das Handlungsfeld ein und prägen den Umgang mit
dessen rekonstruiert sie, wie deren besonders prekäre Situa- wohnungslosen Menschen (in der Regel zu deren Unguns-
tion überhaupt zustande kommt. Dafür rückt sie das komple- ten): sei es die Vorstellung von „Push- und Pullfaktoren“
xe Zusammenspiel von europäischer Migrationspolitik, na- in der Migrationspolitik, die Pathologisierung von Mobili-
tionalem Sozialrecht und dessen Umsetzung auf lokaler Ebe- tät, das Konzept der „Wohnfähigkeit“, Abgrenzungen von
ne, kommunalem Ordnungsrecht, von Verwaltungs- und Hil- „freiwilliger“ und „unfreiwilliger“ Wohnungslosigkeit in der
fepraxis sowie von rassistischen Ausschlüssen im Alltag von Verwaltungs- und Hilfepraxis oder eben die Unterscheidung
Ämtern und Hilfeeinrichtungen in den Mittelpunkt. zwischen hilfewürdigen und -unwürdigen Wohnungslosen in
Konsequent zeigt die Arbeit die Machtverhältnisse auf, de- der Wahrnehmung unterschiedlicher Betroffenengruppen.
ren Folge die Wohnungslosigkeit und extreme Verwundbar- Aufbauend auf den ethnographischen Eindrücken legt Haj
keit von EU-Bürger*innen ist. Um die Analyse aber nicht Ahmad in ihrem Buch Stück für Stück den Blick auf ein in-
gänzlich auf Gesetzgebungsprozesse, Policies und institutio- nereuropäisches Grenzregime frei, das entgegen der Verspre-
nelle Praktiken zu verlagern, sondern zugleich nah an den chen von einem freien, gleichen Europa vielfältige Hierar-
wohnungslosen Menschen zu bleiben, bedient sich Haj Ah- chien, Exklusionsmomente und verworfene Subjektivitäten
mad eines ethnographischen Kunstgriffs: Sie entwickelt die produziert. Wohnungslose EU-Bürger*innen sind die „inne-
epistemische Figur Saša Piemērs (von der slawischen Kose- ren Anderen“ in einem von inneren Grenzen durchkreuz-
form Saša für Alexander/Alexandra und Piemērs, dem letti- ten Europa. Wie Haj Ahmad im wiederholten Rekurs auf
schen Wort für Beispiel). Jedes der vier großen empirischen Saša Piemērs in seinen/ihren verschiedenen Verkörperungen
Kapitel beginnt mit einem Aufeinandertreffen: In Kapitel 4 zeigt, sind wohnungslose EU-Bürger*innen aber nicht ein-
besucht Saša Piemērs, der schon seit einiger Zeit in einem fach passive Manövriermasse politischer Aushandlungspro-
Park lebt, ein Berliner Sozialamt, um sich – zunächst erfolg- zesse – vielmehr sind sie eigensinnige Grenzgänger*innen,
los – um einen Platz in einer Notunterkunft zu bemühen. die sich nicht zurückweisen lassen, die immer wieder für ih-
Haj Ahmad begleitet ihn und eine Sozialarbeiterin bei diesen re Rechte und für Inklusion streiten, wo sie verwehrt werden.
Besuchen. Sie treffen auf Verwaltungsmitarbeiter*innen, die Manchmal wünscht man sich daher beim Lesen, die Dar-
das Gesuch abwehren und sich für nicht zuständig erklären, stellung wäre an einigen Stellen doch etwas länger bei Saša
sich mitunter aber auch verantwortlich fühlen und solidarisch Piemērs verblieben, vor allem bei seiner/ihrer Interaktion mit
zeigen. In Kapitel 5 kommt Haj Ahmad mit dem Diabetespa- den Mitarbeiter*innen von Ämtern, Behörden und sozialen
tienten Saša Piemērs in einer Arztpraxis ins Gespräch, die Einrichtungen, um die Herstellung sozialer Differenzen und
wohnungslose Menschen medizinisch versorgt, aber um ihre Hierarchien in diesen Interaktionen noch detaillierter zu be-
Finanzierung bangen muss und diese schließlich auch ver- leuchten, bevor rechtliche und politische Hintergründe auf-
liert. In Kapitel 6 begleitet Haj Ahmad den rumänischspra- geschlüsselt werden.
chigen Piemērs in Suppenküchen, Tagestreffs und Bahnhofs- Das Buch ist lesenswert für alle Geograph*innen und
missionen. Diese niedrigschwelligen Einrichtungen schei- Stadtforscher*innen, die sich für die Migrationspolitik
nen zunächst offener für wohnungslose EU-Bürger*innen zu Deutschlands und Europas interessieren, denn es eröffnet
sein. Vor Ort treffen Piemērs und Haj Ahmad jedoch auf viel- ganz neue und ausgesprochen kenntnisreiche Einblicke in die
fältige Praktiken differentieller In- und Exklusion. Etwa in Komplexität innereuropäischer Grenzverläufe und zeigt da-
Form besonderer „Integrationstage“ in einem Tagestreff für bei auch die Bedeutung der Stadt als Schauplatz der alltäg-
Wohnungslose, der für zwei Tage die Woche rumänischspra- lichen Aushandlung des EU-Grenzregimes auf. Gleicherma-
chige Dolmetscher*innen engagiert hat, EU-Bürger*innen ßen interessant ist es für Leser*innen, die mehr über Woh-
den Zutritt an allen anderen Wochentagen aber untersagt. Bei nungslosenpolitik, die Situation wohnungsloser Menschen
dem Besuch eines solchen „Integrationstags“ lernt Haj Ah- und die Ambivalenzen der etablierten Verwaltungs- und Hil-
mad schließlich die Romni Saša Piemērs kennen, die im Tier- fepraxis erfahren wollen. Nicht zuletzt ist das Buch ein wich-
garten gemeinsam mit anderen wohnungslosen Menschen tiger Beitrag für das Feld der Sozialen Arbeit, denn zwischen
zeltet. Diese Begegnung mit Piemērs nimmt Haj Ahmad zum den Zeilen verhandelt es auch die Frage, wie die Soziale
Anlass, um in Kapitel 7 die Rolle von Rassismus, insbeson- Arbeit an der Reproduktion des Grenzregimes und seinen
dere von Antiziganismus und Antislawismus, ihr Zusammen- Verwerfungen teilhat, wie sie sich einer solchen Komplizen-
spiel mit Vorstellungen von „freiwilliger“ bzw. „unfreiwilli- schaft aber auch verweigern, ja vielleicht sogar abolitionis-
ger“ Wohnungslosigkeit und damit verbundene Verhandlun- tisch handeln kann.
gen von „Schuld“ (wer sind die „deserving“, wer die „un-
deserving poor“?) in der Migrations- und Wohnungslosen-
politik und der Hilfepraxis in den Mittelpunkt zu rücken. Haftungsausschluss. Anmerkung des Verlags: Copernicus Pu-
Frustrierend ist in der Zusammenschau der Kapitel nicht blications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffent-
zuletzt, dass bestimmte Problematisierungen und Tropen in lichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.
der Migrations- als auch in der Wohnungslosenpolitik offen-

Geogr. Helv., 78, 135–137, 2023 https://doi.org/10.5194/gh-78-135-2023


N. Marquardt: Book review: Von Ein- und Ausschlüssen in Europa. Eine ethnographische Studie zu EU-Migration 137

Literatur DeVerteuil, G., May, J., and Von Mahs, J.: Complexity not collapse:
recasting the geographies of homelessness in a ,punitive‘ age,
Boß, D.: „Wir sind Penner. Wir sind Abschaum. Wir sind asozial. Prog. Hum. Geogr., 33, 646–666, 2009.
Wir gehören entfernt“. Feldzugang im Rahmen einer qualitativen Neupert, P.: Geographie der Obdachlosigkeit. Verdrängung durch
Erforschung von Verdrängungsprozessen und ihren Auswirkun- die Kommodifizierung des öffentlichen Raums in Berlin, Berli-
gen auf die Alltagswirklichkeiten Obdachloser, in: Sozialraum ner Geographische Blätter 1/2010, https://refubium.fu-berlin.de/
erforschen: Qualitative Methoden in der Geographie, Herausge- bitstream/handle/fub188/18188/BGB_Nr_1__Geographie_der_
ber: Wintzer, J., Springer, Berlin, Heidelberg, 3–18, ISBN 978- Obdachlosigkeit.pdf?sequence=1&isAllowed=y (letzter Zugriff:
3-662-56276-5, 2018. 2. März 2023), 2010.

https://doi.org/10.5194/gh-78-135-2023 Geogr. Helv., 78, 135–137, 2023

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