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Prof. Dr. Jonas Bens

10. Ethnizität, Nationalismus und Rassismus


Inhalte der Stunde
1. Die „Aura der Abstammung“
2. Eine Wahlkampagne der Schweizerischen Volkspartei (SVP)
3. Ethnizität
4. Nationalismus
5. Antikolonialer Nationalismus und Indigenität
6. Rassismus
7. Rassismus, Klasse, und Nation
1. Die „Aura der Abstammung“
Gruppenbegriffe mit der ‚Aura der Abstammung‘
„Rasse“, ethnische Gruppe und Nation sind Begriffe kollektiver Identität,
die eine „Aura der Abstammung“ verbindet. Alle diese Begriffe sind eng
verschränkt und lassen sich nicht getrennt voneinander untersuchen.
Anstatt zu untersuchen, was diese Gruppen sind, (Essentialisierung)
untersucht die Ethnologie, wie Gruppen hergestellt werden
(Prozesshaftigkeit):
Ethnische Gruppe à Ethnizität
Nation à Nationalismus
Rasse à Rassismus/Rassifizierung
2. Eine Wahlkampagne der SVP
Parlamentswahl in der Schweiz 2023
Die SVP im Wahlkampf (Deutschlandfunk)
konstitutives Außen
(out group) In-Group

Wichtige Aspekte der Rede Klassenposition


in Gefahr
Sie sind schuld, wenn wir Schweizer Bürger von
Asylsuchenden aus unseren Wohnungen vertrieben
werden. Und sie sind schuld, wenn tagtäglich
Mitglieder der
Schweizerinnen und Schweizer angegriffen,
In-Group als
ausgeraubt und vergewaltigt werden. Das hier ist nicht
Opfer der Mitglieder
irgendein Wahlkampf. Es ist die Schlacht um die Seele
der Out-Group
unseres Landes. Es ist ein Krieg um unsere Kultur.
Unsere Kinder, ob geboren oder ungeboren zählen
darauf, dass wir diesen Frontalangriff auf unsere
Identität abwehren. Gemeinsame Kultur
mit Aura der
Abstammung
Wahlkampagne „Neue Normalität“ der SVP
3. Ethnizität
Ethnische Grenzziehungen
Fredrik Barth argumentiert, dass ethnische
Gruppen nicht durch kulturelle Isolation
entstehen, sondern umgekehrt durch kulturellen
Kontakt.
Ethnizität ist das Ergebnis von Grenzziehungen:
Wer gehört zur eigenen Gruppe, wer gehört nicht
dazu? (Heiratsregeln, soziale Diskriminierung und Barth
Meidung, abwertende Bezeichnungen usw.) (1928-2016)
Ethnizität hat immer ein konstitutives Außen
(oder mehrere) à Leute, die gerade nicht
dazugehören.
Ethnische Gruppen sind nicht statisch. Sie
verändern sich, wenn sich die Praktiken der
Grenzziehung verändern. 1969
Ethnizität ist situational und organisiert
Eine Hamburgerin aus Rotenburgsort hat in verschiedenen Situationen unterschiedliche
ethnische Herkunft. Beispiele:

Gegenüber einem Hamburger aus Blankenese: aus Rotenburgsort.


Gegenüber einem Bayern: Norddeutsche.
Gegenüber einer Sächsin: Westdeutsche.
Gegenüber einer Französin: Deutsche.
Gegenüber einem US-Amerikaner: Europäerin.
Gegenüber einer Indonesierin: eine aus dem Globalen Norden.

Alle diese ethnischen Gruppen sind aber nicht zufällig, sondern sie existieren als
organisierte Einheiten.
Ebenen der Ethnizität
Don Handelman unterscheidet vier Ebenen der
Ethnizität:

Ethnizität als Kategorie à z.B. Ethnonyme Handelman


(*1939)
Ethnizität als Netzwerk à z.B. Klientelismus
Ethnizität als Organisation à z.B. Vereine
Ethniziät als Gemeinschaft à z.B. Staaten
4. Nationalismus
Nationalismus
Ernest Gellner untersucht, wie sich der
Nationalismus im Europa des 19.
Jahrhunderts herausbildet.
Nationalismus ist eine spezifische politische
Gellner
Vorstellung, wonach die politische und die (1925-1999)
nationale Einheit zusammenfallen sollen:
jede Nation ihren eigenen Staat.
Eine Nation wird dabei als (metaphorische)
Verwandtschaftsgruppe gesehen.
1983
Nationalismus und Medien
Der Historiker Benedict Anderson vertritt
die These, dass sich der moderne
Nationalismus aufgrund neuer Medien
Gellner
herausbilden konnte: Buchdruck und (1936-2015)
Zeitungen.
Mehr Menschen konnten sich vorstellen,
als kulturelle und verwandtschaftliche
Gemeinschaft zusammenzugehören.
1983
The Invention of Tradition
Um kulturelle Gemeinsamkeiten zu stiften, Terence Ranger Eric Hobsbawm
machen Gruppen Geschichtspolitik. Die (1929-2015) (1917-2012)
Vergangenheit wird aufgerufen und in
bestimmter Weise interpretiert.
Gemeinsame Geschichte und Abstammung wird
hervorgehoben.
Dabei kann Geschichte anders interpretiert
werden oder es können Gemeinsamkeiten
kommuniziert werden, wo vorher keine gesehen
wurden (Erfindung von Tradition).
1983
Die Schlacht im Teutoburger Wald
Nationalismus und Kolonialismus
Die Herausbildung von Nationen lässt sich nur
im Kontext des Kolonialismus verstehen.
„Europa“ entsteht im kolonialen Kontakt mit van der Veer
(*1953)
dem Anderen (den Kolonien).

Beispiel: Einführung von Englisch-Unterricht


zuerst in den britischen Kolonien, danach erst in
Großbritannien.
Essentialisierung englischer Kultur zur
Abschottung gegen andere.
2001
5. Antikolonialer Nationalismus und Indigenität
Third World Nationalism
Als Gegenbewegung zum Kolonialismus bilden sich nationale
Befreiungsbewegungen (dekolonialer Nationalismus / Third World
Nationalism).
19. Jahrhundert: Lateinamerika.
1945-1980: Afrika und Asien.
Es entstehen neue Nationalstaaten in den Kolonien (postkoloniale Staaten).
Hindu-Nationalismus
In der britsichen Kolonialzeit
entsteht eine Bewegung, einen
hinduistischen Nationalstaat zu
bilden (hindutva).
Ab der Unabhängigkeit Indiens
1947 hat diese Bewegung immer
mehr Einfluss gewonnen.
Der jetzige Ministerpräsident
Indiens Narendra Modi wird
dieser politischen Richtung
van der Veer
zugerechnet.
1994 (1953*)
Bestandteile des hindutva
1. Die externe Grenze der eigenen Gruppe wird überkommuniziert, interne Differenzen
werden unterkommuniziert. (insb. Muslime)
2. Geschichte wird so interpretiert, dass die eigene Gruppe als unschuldiges Opfer
erscheint. (z.B. Die Moghul-Periode)
3. Kulturelle Kontinuität und Reinheit wird überkommuniziert. (z.B. Popularisierung
der Sanskrit-Epen)
4. Vermischung, Wandel und äußere Einflüsse werden unterkommuniziert. (z.B. Hindi
anstatt Englisch)
5. Nicht-Mitglieder der Gruppe werden dämonisiert. (z.B. Ayodhya Aufstände 1992)
6. Konfligierenden Loyalitäten wird entgegengetreten (insb. Beziehungen zwischen
Hindus und Muslimen)
7. Figuren der Vergangenheit werden nachträglich zu modernen Nationalisten
umgedeutet (z.B. Literatur-Nobelpreisträger Rabindranath Tagore).
Kritik des Third World Nationalism
Mahmood Mamdani argumentiert, dass der
postkoloniale Nationalismus ein sehr
problematisches Erbe des Kolonialismus ist. Mamdani
Ein Staat für eine Nation führt immer zur (*1946)
Produktion von „permanenten Minderheiten“
und letztlich zu ethnischer Gewalt.
Stattdessen muss man den europäischen
Nationalismus ablehnen.

2021
Nationalismus und Weltgestaltung?
Die Rechtshistorikerin Adom Getachew
argumentiert, dass der postkoloniale
Nationalismus eine notwendige
Gegenbewegung zur Dekolonisierung war.
Aber: Stattdessen sollte eine neue
internationale Ordnung hergestellt werden,
was aber im Kalten Krieg gescheitert ist.
Getachew
Frage: Gibt es einen Nationalismus als
Zwischenschritt zum „Internationalismus“?
2022
Indigenität
Oft wurden nationale
Befreiungsbewegungen von Eliten (oft
Siedler*innen, z.B. in Lateinamerika) in den
Niezen
großen Städten angeführt. Gruppen auf
dem Land hat oft keine Stimme.
Ab den 1970er Jahren: indigene
Bewegungen im Kontext von
Menschenrechtsregimen (z.B. UN).
Grundidee von Indigenität: „wir waren vor
den Kolonisator*innen hier“.
2003
Indigenität und Maasai
Dorothy Hodgson beschreibt, wie sich
Maasai-Aktivist*innen in Tansania ab den
1980er-Jahren anfangen, als indigene
Bewegung aufzutreten. Hodgson
(*1962)
Folge: Hervorhebung kultureller
Unterschiede zu anderen ethnischen
Gruppen in Tansania.
Gegenreaktionen der tansanischen
Regierung: Gefahr des tribalism.
2011
6. Rassismus
Rassismus und Kolonialismus
Die Herausbildung ethnischer Gruppen gibt es in allen Gesellschaften. Nationalismus und
Rassismus sind moderne Phänomene, die in Europa im Kontext des Kolonialismus
entstehen.
Einige Charakteristiken des modernen Rassismus:
• Bildung größerer Gruppen, denen aufgrund gemeinsamer Abstammung bestimmte
kulturelle Gemeinsamkeiten zugeschrieben werden.
• Besondere Bedeutung der äußeren Erscheinung (z.B. Hautfarbe).
• Einbindung in ein globales System wirtschaftlicher Ausbeutung: z.B. Sklaverei,
ausbeuterische Arbeitsbedingungen.
• Ziel: Herstellung von weißer Vorherrschaft durch Vermeidung von Heiraten zwischen
Menschen unterschiedlicher Gruppen.
• Ab dem 19. Jahrhundert: wissenschaftliche Untermauerung.
Biologischer Rassismus
Ab dem 19. Jahrhundert:
Wissenschaftler*innen versuchen, die
rassistischen Unterschiede zwischen
Menschen mit den Mitteln der Biologie zu
begründen. Daran ist auch die Ethnologie
beteiligt.
Ab dem frühen 20. Jahrhundert: Immer mehr
Ethnolog*innen treten dem
wissenschaftlichen Rassismus entgegen. Allen
Boas
Voran die sog. Boas-Schule in den USA. (1858-1942)
1910
Rassifizierung untersuchen
Patrick Wolfe argumentiert, dass ich
rassistische Diskriminierung, ökonomische
Ausbeutung, koloniale Ungleichheit,
nationalistische Ideologie usw. nicht klar Wolfe
abgrenzen lassen. (1949-2016)
Rassismus ist nicht nur eine „Ideologie“, die
Menschen im Kopf haben, sondern wird
immer wieder materiell gelebt und
hergestellt (struktureller Rassismus).
Ethnolog*innen sollen deshalb Regime der
Rassifizierung untersuchen.
2016
7. Rassifizierung, Klasse und Nation
Klasse und Rassismus Annu. Rev. Anthropol. 1989. 18:401-44
Copyright © 1989 by Annual Reviews Inc. All rights reserved

Brackette Williams argumentiert, dass man

Access provided by WIB6262 - Staats und Universitaetsbibliothek Hamburg on 12/12/23. For personal use only.
A CLASS ACT: Anthropology and the

Ethnizität/Rassismus innerhalb von Staaten Race to Nation Across Ethnic Terrain

Annu. Rev. Anthropol. 1989.18:401-444. Downloaded from www.annualreviews.org


nur im Zusammenhang mit Klasse verstehen
Brackette F. Williams

Department of Anthropology, Queens College, the City University of New York,

Williams
Flushing, New York 11367

kann. Over the last 20 years cultural anthropologists have become increasingly
involved in an effort to define ethnicity, to explore the processes involved in
(*1955)
Gruppen mit unterschiedlicher Klassenposition
the formation of categorical identities, and to disclose their meaning for the
political and economic dimensions of social organization . Over this same
period the discipline has grappled with a wide range of theoretical and
methodological problems. Political changes have redrawn boundaries be­

werden ethnisiert/rassifiziert: aufgrund der


tween many of its traditional culture areas and the populations within them,
while international economic interdependencies have raised questions about
the appropriate scale for analytic units. Many investigators began to recognize

Abstammung haben sie kulturelle


that the typological boundaries they had drawn around populations, and the
types of social organization so outlined obscured as much as they revealed
about social processes within and between these popUlations. As scholars
debated the analytic merit of the boundaries they had established between

Eigenschaften gemeinsam.
such conceptual domains as kinship, politics, economics, and religion, the
discipline was fragmenting into numerous topical subdisciplines, such as
economic anthropology, political anthropology, and symbolic anthropol­
ogy--each struggling to define its units, scale, and context of analysis , and

Nationalismus verwischt die


the implications of different topical analyses for the overall objectives of the
discipline.
Unlike the concepts of race and class, which remain unpopular in many
analytic circles, the concept of ethnicity has become a lightning rod for

Klassenunterschiede, indem „alle Gruppen für


anthropologists trying to redefine their theoretical and methodological
approaches and for lay persons trying to redefine the bases on which they
might construct a sense of social and moral worth. Leaders, seeking to forge

die Nation bluten müssen“.


new political and economic ties to other national populations, and to control

401
0084-6570/89/10 15-040 1 $02.00

1989
Mestizaje
Im Unterschied zum europäischen Nationalismus gibt
Wade
es in vielen lateinamerikanischen Nationalismen die (*1957)
Vorstellung eines multi-ethnischen Staats.
Grundidee: Alle Bürger*innen sind eine Mischung
(mestizaje) unterschiedliche ethnischer Gruppen
(europäische Siedler*innen, Indigene, ehemals
versklavte Menschen aus Westafrika etc.).
Aber: Das führt nicht zu weniger Rassismus. Es gibt 2010
weiterhin eine rassistische Hierarchie mit weißen
europäischen Siedler*innen an der Spitze. Je „weißer“
man ist, desto höher der soziale Status
(Klassenstatus).

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