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Prof. Dr. Jonas Bens

11. Wirtschaft
Inhalte der Stunde
1. Wirtschaftliche Tätigkeiten
2. Produktionsformen
3. Die kapitalistische Produktionsweise
4. Distribution
5. Konsum
1. Wirtschaftliche Tätigkeiten
Drei Dimensionen von Wirtschaft

Produktion Distribution Konsumption


Herstellung Verteilung Verbrauch
2. Produktionsformen
Produktionsformen
Alle menschlichen Gruppen müssen ihre materiellen Lebensgrundlagen sichern,
insbesondere ihre Nahrung herstellen à Subsistenz.

Industrielle
Subsistenzstrategien
Produktionsformen

Informations-
Jagen und Sammeln Feldbau Ackerbau Industriewirtschaft
wirtschaft
Jagen und Sammeln
Jäger*innen und Sammler*innen wenden keine Arbeit auf, um die
Nahrungsmittel „entstehen“ zu lassen. Sie wenden Arbeit auf, um
diese zu beschaffen.

Ressourcen oft nicht über das ganze Jahr an denselben Orten


verfügbar.

Interkulturelle Diversität: Jagd nach großen Säugetieren (Wale,


Mammut) in den gemäßigten Breiten und nach kleinen Tieren in den
Tropen. Fischfang oft ein wichtiger Bestandteil der Nahrung
(foraging).

Bis vor 10.000 Jahren die einzige Nahrungserwerbsstrategie. 90 %


aller Menschen, die auf der Erde gelebt haben, waren
Jäger*innen/Sammler*innen.
Inuit
Traditionellerweise leben viele
Inuit von der Jagt auf Robben
und Wale.

Inuit-Jäger*innen sind mobil und


folgen den Wanderungs-
bewegungen der Tiere.
Jäger*innen und Sammler*innen (holistisch)

… leben oft in kleinen Gruppen. Manche Jäger*innen-Sammler*innen


Gruppen ändern ihre Größe im Jahreszyklus.
… sind oft mobil und folgen ihren Ressourcen.
… haben meistens eine Arbeitsteilung entlang von Geschlecht und Alter.
Männer jagen und Frauen sammeln.
… haben meistens eine Egalitäre politische Organisation.
… haben keine individuellen Landrechte.
Feldbau
Feldbäuer*innen nutzen im Wesentlichen ihre
Muskelkraft, um den Boden zu bearbeiten, keine
Pflüge und Zugtiere.
Manche Feldbäuer*innen nutzen neben der Asche
(Brandrodungsfeldbau) auch organischen Dünger.
Feldbäuer*innen leben nicht vom Anbau allein
sondern jagen und sammeln oft auch.
Viele Feldbäuer*innen halten Tiere wie Schweine,
Hühner, Schafe und Ziegen.
Yanomami
Traditionellerweise leben
Yanomami den
Brandrodungsfeldbau.

Felder werden bebaut und nach


der Ernte abgebrannt. Dann
müssen die Felder ruhen und
können erst nach einiger Zeit
wieder bebaut werden.
Feldbäuer*innen (holistisch)

… sind meistens sesshaft.


… haben über privates Eigentum an Land.
… haben oft hierarchische politische Strukturen (big men, chiefdom).
Pastoralismus
Pastoralist*innen halten Vieh in Herden, z.B. Ziegen, Schafe, Rinder,
Kamele, Pferde, Lamas, Rentiere, Yaks etc..
Tiere werden in der Regel nicht gefüttert, sondern lassen sie auf Weiden
grasen, die sich selber regenerieren.
Wichtige Nahrungsmittel: Fleisch, Milch, Blut.
Pastoralist*innen sind mobil: Transhumanz (nur ein Teil der Gruppe zieht mit
den Tieren, sonst Siedlungen) oder Nomadentum (alle ziehen mit den Tieren).
Pastoralist*innen sammeln und jagen oft auch.
Pastoralist*innen leben im Austausch mit Acker- oder Feldbauern.
Maasai
Maasai leben von Viehherden,
vor allem Rindern, aber auch
Schafe und Ziegen.

Die jüngeren Männer folgen den


Tieren zu den Weiden,
(Transhumanz), die älteren
Männer und die Frauen leben in
festen Siedlungen.
Pastoralist:innen (holistisch)

…organisieren den Landbesitz ist kommunal oder organisieren einen freien


Zugang.
…verleihen Tieren einen hohen symbolischen Stellenwert in pastoralen
Gesellschaften
…sind oft patrilinear organisiert.
Ackerbau
Einsatz von Tieren und Pflügen. Düngung
und Bewässerung sind wichtig.
Die Felder werden sehr regelmäßig
bebaut. Dadurch können die Felder mehr
Menschen pro Fläche ernähren und
erlauben eine höhere Bevölkerungsdichte.
Um die höhere Produktivität des Landes zu
erzielen, müssen die Menschen zumindest
in der Übergangsphase mehr arbeiten.
Das Alte Ägypten
Spätestens ab dem 4. Jahrtausend
vor Christus wurde im Alten
Ägypten Ackerbau betrieben

Der Überschuss an
Nahrungsmitteln erlaubte die
Herausbildung einer politischen
und religiösen Elite und damit
komplexe staatliche Strukturen.
Ackerbäuer*innen (holistisch)
… nutzen Pflug und Bewässerungssysteme, um die Produktivität des
Landes im Vergleich zum Feldbau erheblich zu steigern.
… können einen Überschuss erwirtschaften, der andere ernähren kann.
Das erlaubt mehr Menschen, sich zu spezialisieren (Handwerker, Priester,
Krieger etc.).
… können große Siedlungen/Städte versorgen. Städte entstehen oft um
Marktorte.
… ermöglichen stärkere soziale Stratifikationen: Kontrolle über Arbeit,
Herausbildung von Kasten/Klassen, politische Funktionsträger*innen.
Industrie
Die meisten Güter werden durch
Maschinen hergestellt.
Hoher Grad von Spezialisierung und
Arbeitsteilung.
Die Nahrungsmittelproduktion nimmt
nur einen kleinen Anteil der
wirtschaftlichen Tätigkeit ein.
Deutschland
Brutto-Inlandsprodukt (BIP) 2022 in
Deutschland: Landwirtschaft (1,11%),
Industrieproduktion (26,68%),
Dienstleistungen (62,68%).

Doch eher “Dienstleistungsgesellschaft“ als


„Industriegesellschaft“?

Aber: Viele Dienstleistungen sind dabei auf


die Industrieproduktion bezogen.
Wichtigste Industriezweige bleiben die
klassischen Industriezweige: Automobil-
und Pharmaindustrie.
USA
Oder: Post-Industrielle Ökonomie?

Die größten Unternehmen in den


USA heute sind
informationsbasiert: Apple,
Google, Amazon etc.

Informationsökonomie?
Produktionsformen im Vergleich
Jagen und Feldbau Pastoralismus Ackerbau Industrie-
Sammeln wirtschaft
Zentrale Jagdwaffen Feldhacke Domestikation von Pflug Maschine
Technologien Tieren
Bevölkerungs- niedrig niedrig bis mittel niedrig hoch hoch
dichte
Handel minimal minimal sehr wichtig häufig häufig

Vermögens- grundsätzlich grundsätzlich moderat hoch sehr hoch


unterschiede keine minimal
Soziale generell keine generell gering moderat hohe sehr hohe
Stratifikation
Politische informell einige Teilzeit- einige Teilzeit- und viele Vollzeit- viele Vollzeit-
Herrschaft Funktionsträger Vollzeit- Funktions- Funktionsträger*in Funktionsträger*in
*innen träger*innen nen nen
3. Die kapitalistische Produktionsweise
Kapitalismus als Produktionsweise
Der Philosoph Karl Marx beschreibt den
dialektischen Zusammenhang von Wirtschaft und
Gesellschaft. Sie beeinflussen sich gegenseitig.

Produktionsweise
Produktivkräfte Produktionsverhältnisse
Arbeitskräfte, soziale Beziehungen,
Arbeitsmittel, Ressourcen, Eigentumsbeziehungen,
Technologien etc. politische Herrschafts-
formen, etc.
Einige Merkmale des Kapitalismus
Zentrale Bedeutung von Lohnarbeit.
Geld hat zentrale Bedeutung. Gesellschaftliche Hierarchien sind grundsätzlich
an der Menge des Geldes orientiert, das Menschen zur Verfügung haben.
Märkte sind der zentrale Ort der Verteilung (Distribution) von Gütern.
Klassengesellschaft: Diejenigen, die direkten Zugriff auf die Produktionsmittel
(Fabriken, Ressourcen, Arbeitskräfte etc.) haben (Marx: „bürgerliche Klasse“)
haben eine herrschende Position gegenüber denen, die Lohnarbeit verrichten
(Marx: „Proletariat“).
Akkumulation von Kapital. Die Maximierung von Profit ist eine treibende Kraft
kapitalistischer Wirtschaftsformen.
Kapitalistische Transformationen
Seit dem 16. Jahrhundert hat sich ein globales kapitalistisches Weltsystem
herausgebildet.
Die verschiedenen Produktionsformen existieren parallel, sind aber in den
globalen Kapitalismus eingebettet. Dabei werden Produktionsformen
transformiert.
Die industrielle Produktionsform ist dabei dominant. Das heißt aber nicht,
dass es überall Industrie gibt. Die meisten wirtschaftlichen Tätigkeiten
werden aber der Industrieproduktion untergeordnet.
Industrielle Landwirtschaft
Ackerbau wird im Rahmen der Industrialisierung in der globalen Ausweitung des
Kapitalismus industrialisiert.
Anbau einer Pflanze.
Produktionsfaktoren werden auf dem Markt gekauft, Bedeutung von Arbeit ändert sich.
Starker Einsatz von wissenschaftlichen Methoden zur Steigerung der Produktivität von
Sorten.
1-2 % der Bevölkerung produzieren oft mehr als gegessen werden kann (Überproduktion).
Durch den Einsatz von Pestiziden, Düngung, Bewässerung nimmt die Übernutzung und
Verschmutzung der Umwelt zu.
In den USA war ein Nahrungsmittel im Durchschnitt 2000 Kilometer unterwegs, bis es
gegessen wird. Die Folgen für die Umwelt (Transport) sind erheblich.
Erinnerung: Ländliche Proletarisierung
Eric Wolf untersuchte die Veränderungen Klassenstruktur in
Puerto Rico im Wandel des Subsistenz-Ackerbaus hin zur
industriellen Landwirtschaft durch den Anbau der cash crop
Kaffee. Die Folge ist die Proletarisierung der ländlichen
Bevölkerung durch die Konzentration des Landes bei
Großgrundbesitzern.

Großgrundbesitzer
mittlere Bauern
Kleinbauern
ländliches Proletariat Wolf
(1923-1999)
4. Distribution
Formen der Distribution
Karl Polanyi beschreibt drei Formen,
produzierte Güter zu verteilen:
Reziprozität (reciprocity): Güter werden
in der Gruppe gleichranging getauscht
oder geteilt.
Polanyi
Umverteilung (redistribution): Eine (1886-1964)
höhergestellte Autorität verteilt die
Güter innerhalb der Gruppe.
Markt (market): Güter und
Dienstleistungen werden zu einem
Preis, der vom Markt bestimmt wird,
gekauft und verkauft.
1944
Der Gabentausch
Marcel Mauss vertritt die These, dass es keine „reine
Gabe“ gibt. Wer etwas gibt, erwartet immer eine
Gegengabe.
Die gebende Person beweist ihre überlegene
Fähigkeit zu geben.
Die ablehnende Person „fürchtet“, die Gabe
erwidern zu müssen. Mauss
Die erwidernde Person stellt einen Ausgleich her. (1872-1950)
Der Gabe wohnt eine kulturelle Kraft inne
(Maori=hau), die die empfangende Person zur
Gegengabe antreibt.
Die Gabe ist eine „totale soziale Tatsache“. Das
Prinzip der Reziprozität durchdringt alle
gesellschaftlichen Teilbereiche.
1924
Formen der Reziprozität
Generalisierte Reziprozität: Die gebende Person
erwartet keine eine Erwiderung zu einem bestimmten
Zeitpunkt und von einem bestimmten Wert. (Beispiel:
Gabe von Eltern an ihre Kinder während der
Erziehung).
Ausgeglichene Reziprozität: Die gebende Person Sahlins
erwartet eine Erwiderung innerhalb eines bestimmten (1930-2021)
Zeitrahmens und von etwa gleichem Wert. (Beispiel:
Geburtstagsgeschenke zwischen Freunden.)
Negative Reziprozität: Die gebenden und nehmenden
Personen haben das Ziel, das Maximum für sich zu
erreichen (Tauschhandel, Diebstahl).
1972
Potlatch
Gabentausch kann auch extreme Formen
annehmen. Franz Boas beschreibt den
Potlatch bei den Kwakiutl.
Politische Funktionsträger*innen richten
enorme Feste aus und verschenken dabei
unglaubliche Mengen an Gütern an die
Mitglieder der Gruppe, bis sie selbst fast
nichts mehr besitzen. Boas
(1858-1942)
Wer am meisten geben kann, hat das
höchste soziale Prestige.
1895
Tauschsphären Bohannan
(1920-2007)
Paul und Laura Bohannan beschreibt, dass
die traditionelle Wirtschaft der Tiv in
Nigeria multizentrisch ist. Nicht alles kann
gegen alles getauscht werden. Es gibt
hieararchische Tauschsphären.
Bohannan
(1922-2002)
Familienmitglieder zwischen Verwandtschaftsgruppen (Allianzsysteme)

wertvolle Güter Messingstangen, Vieh, weißer Stoff, Sklaven

Subsistenzgüter Süßkartoffeln, Getreide, Kleinvieh, Geschirr

1968
Märkte v. Tauschspähren
Märkte funktionieren mit Geld, mit dem zwischen
man grundsätzlich alle Waren auf dem Familienmitglieder Verwandtschaftsgruppen
Markt kaufen kann (general purpose (Allianzsysteme)
money).
Tauschspähren sind aber in sich
abgeschlossen. Messingstangen können Messingstangen, Vieh,
wertvolle Güter
nur innerhalb der Spähre der wertvollen weißer Stoff, Sklaven
Güter getauscht werden (special purpose
money).
Tauschspähren sind hierarchisch. Nach Süßkartoffeln, Getreide,
oben zu tauschen ist möglich, nach unten Subsistenzgüter
Kleinvieh, Geschirr
zu tauschen wird moralisch verurteilt.
Kapitalistische Transformation von Tauschsphären
zwischen Mit der Ausweitung der Marktlogik
Familienmitglieder Verwandtschaftsgruppen und der Geldwirtschaft lösen sich
(Allianzsysteme) die Tauschsphären der Tiv auf.
Dadurch entstehen moralische
Probleme, weil man auch “nach
Messingstangen, Vieh,
wertvolle Güter
weißer Stoff, Sklaven
unten“ tauscht:
Nahrungsmittel werden mit Geld
gekauft.
Subsistenzgüter
Süßkartoffeln, Getreide, Brautpreis mit Geld bezahlen
Kleinvieh, Geschirr („Frauenkauf“).
5. Konsum
Konsumforschung
Bis in die 1970er Jahre hat die Ethnologie sich
auf die Erforschung von Produktion und
Distribution konzentriert. Daniel Miller
kritisiert das und fordert, dass sich das Fach
mit Konsum, auch in westlichen
Industriegesellschaften befassen soll. Miller
Grundidee: Die Ethnologie hat den Konsum (1954*)
(in marxistischer Tradition) tendenziell zu
negativ gesehen. Aber Konsum ist für viele
Menschen extrem wichtig. Er hat auch mit der
Formierung von Identität zu tun.

1987
Konsum und Social Media
Daniel Miller hat untersucht, wie
Menschen in einem englischen Dorf
soziale Medien benutzen.
Grundidee: Man kann Mediennutzung
nicht nur als passiven Konsum verstehen. Miller
Im Rahmen ihres Medienkonsums (*1954)
formieren sie Identitäten und soziale
Beziehungen mit anderen Menschen,
stellen ihren Platz in der Gesellschaft her.

1987
Ist die Wirtschaftsethnologie zu ökonomistisch?
David Graeber kritisiert besonders die
ethnologische Konsumforschung, dass sie zu sehr
der Logik des Kapitalismus folge. Massenkonsum
ist von großen Unternehmen vorstrukturiert und
erlaubt nur Identitätsbildung innerhalb von
Marktlogiken.
Grundsätzliche Kritik an einer ökonomistischen
Schieflage in der klassischen
Wirtschaftsethnologie.
Etwa in Bezug auf Mauss und Sahlins: Gibt es
wirklich keine „reine Gabe“? Kann man nicht doch Graeber
(1961-2020)
etwas geben, ohne etwas zurück bekommen zu
wollen? 2001

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