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Cornelia Rosebrock.

Daniel Scherf

Lesedidaktik?
Lite raturdidaktik?

Ein Dutzend Antworten ftir Einsteiger


Umrchlej: I)r ( ll;rrrr \itll,.'r hl.'rrk.'/ Vcrllg

( ictlltre lir urr( rrrrrwclt fj'..'un.'llichcrn l)apier (chlor- und säurefrei hergestellt).

lnhalt

Bibtiographische lnformationen der Deutschen tuationatbibliothek


I)ie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikarion in der 1, lfarum wird das Lesen fur so wichtig gehalren? ........... rr
Deurschen Nationalbibliografie; detaillierre bibliographische Daren sind Teilhabe an der literalen Gesellschaft .............................. rr
im Internet üben http://dnb.dnb.de . abrufbar.
Die schulische Auseinandersetzung mit literarischenTexten ............. t6

2. Was ist und wozu braucht es Lese- und Liceraturdidaktik? ................. 2r

Bildungsstandards als Richtschnur .........2)


ISBN 978-3- 83+o-r985-r
Die Bezugsdisziplinen der Deutschdidaktik ...................27
Schneider Verlag Hohengehren, Wilhelms tr. ry, 77666 Baltmannsweiler Professionalität in einer ,,schwach srrukrurierten Domäne" .............. zB

[1 omepage: www.paedagogik.de 3. Was ist Lesekompetenz und welche Einzelfahigkeiten gehören dazu? ....................... Jr

Mentale Handlungen beim Lesen ............ .)r


Lesekompetenzmodell der PISA-Studien ................ ................................. 3,
Ein Mehrebenenmodell des Lesens ........ 3S
l):rs \üfcrk und seine Teile sind urheberrechtlich geschtitzt. Jede Verwertung in
rurr.lcrcn a1s den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schrift- 4. Vie kann man sich die biografische Aneignung von Lesekomperenz vorstell en? .. 47
'Werk
liclrcn Einwilligung des Verlages. Hinweis at g 1z a UrhG: Weder das noch Lesesozialisation .................. ........................ 4)
scinc 'lt'ilc dtir[en ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffent- Dic Frühphase der Lesesozialisation ................................ 4t
liclr zugringlich gcmacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden I)ic lledeutung von Ko-Konsrruktionsprozessen ............ ....................... 48
Nrr rz.ung fiir Un rcrrichtszwecke
derJugend
J

l,cscsozialisarion in der späten Kindheit und ................... 49

5. Wic lrrsscn sich l,csclcistungcn gcziclt verbessern? ............... .................. j5


l.csc{l{issigl<e it fi;rdcln <lurch l,aurlcscvcrfährcn ......... 56
rn Sclr nc irlcl V'rl :rg I ohcngchrc n, 7'{.(,('
I lJaltmannswciler zor g
'li'xtvclslchot fiirrlcrrr rltrrch l,cscsrllrcgictr:rirrinl;s
l'r'irrrt,tl irr ( lt'r'rn:rnv - WolfMcdirrl)rcss, l) - 7r4o4 Ktlrb ......................... ......................... 5.)
Inhalt

6. Wie kann man zum Literaturlesen motivieren? ....'.'.'....... '.'.................. 61


'Was versteht man unter Lesemotivation? ................... ............................. 67

Mehr lesen? ......'................... 7r

7. Welche Texte gehören in den Literaturunterricht? ...........'.'.'.'.'...'....... 77

Sachtexte - literarische Texte .............. ..'.'......................... 78


'Was
macht Texte leicht, was schwierig? ...................... ...'.......'.......'.'.'...... 6r
\Velche Lektüren gehören in den Literaturunterricht? ...............-.'...... 83

8, ......................
Wozu interpretieren? ............9r

Against Interpretation .'.........'.............'.'.. 92


'Was Leserlnnen?
fordert poetische Sprache von ihren ...'.'......... 94
.Was
heißt ,poetische Sprache verstehen"? .........'.'.'....... 97

Die Bedeutung von Genrewissen ..............' ......'.'.'...'........ 98

9. Welche Ziele verfolgt derLiteraturunterricht? '.......'.. rol


Ziele des Literaturunterrichts ............... Io4

Aspekte literarischen Lernens .....'.'.'...'.. ro7

Kann man literarisches Lesen als Kompetenz modellieren? ............. ro9

to. Gehört Kinder- undJugendliteratur in den Unterricht? .'.'......................'.'...'.'.'......... rrJ


lVas ist KJL? ............... ........ rr4
'lfelche .........'..
Literatur fur welches Alter? ................... rr7
'Wie
verstehen Kinder literarische Texce?............ ..'....... r2o

KJL im Literaturunterricht ............. ........ rzt

11. Wie kann gut über Literatur gesprochen werden? ...........'...........'.....'. 12,
'Warum spricht man überhaupt über Literatur? .......... r25

Fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräche -.-.-.....-.-. n6


Literarische Unterrichtsgespräche '.'..... rlo
Gute Gespräche fuhren - eine Kunst? ............................ rJr

'12, Muss über Literatur immer nur geredet werden? ....... r75

Hermeneutik '.'.....'............ ry6


Textanalyse .....................-... r77

Handlungs- und Produktionsorientierung ................... ............-.....'....'.. r)9


l)rei Konzepte der Literaturdidaktik .....'.'...'.'.'.....'....... r4r

I)lr:rscn dcr Literaturbegegnung ............. r42


4 . Wie kann man
sich die
biog rafische Anei g nung
von Lesekompetenz
vorstellen

Noch vor gut SoJahren har man diese Frage mir dem Begriff,,Buchreife"
beantwortet: Etwa mit 9 Jahren kann ein Kind meisr ein akersgemäßes
Kinderbuch eigenständig lesen, jedenfalls unter passenden Voraussetzun-
gen, und es ist damit,,buchreif'. Dahinter sreckt die Vorsrellung, dass Lese-
kompetenz den Kindern mehr oder weniger natürlich zuwächst. Diese
Vorstellung wurde dann in den r97oer Jahren durch eine andere abgelöst,
in der der Begriff der ,,Prägung" wichrig war: Die soziale Umweh prägt
das Individuum. 'Was, wie, wieviel und wie gur es liest, wurde als Effekt
der Kräfte, die auf es einwirken, versranden. Gegenwarrig halt die Lese-
didaktik auch dieses Konzepr fur verkürzt.

Lesesozialisation
Stattdessen hat sich seir den rggoer Jahren der Begriff ,,sozialisarion,,
clurchgcsctzt, in unserem Konrext die Begriffe,,Lesesozialisarion" odcr, im
Illick auf Lircrarur, ,,lircrarischc Sozialisation". Der Sozialisarionsbcgriff
hat clcn Vrrrcil, tlrtss,'t'rllcicrlci in sich rr:igr: Ilrstcns clic lclcc von iinr-
Frage 4 Wie kann man sich die biografische Aneignung von Lesekompetenz vorstellen? 4i

wicklungsprozessen des einzelnen Individuums (wie er auch im ,,Buch- ihren Schulerfolg und im Besonderen fur das Ausmaß seiner oder ihrer
reife"-Konzept enthalten ist), zweitens die Vorstellung, dass soziale Um- [,esetr<ompetenz. Die Geschlechtsunterschiede bei der Leseleistung fallen
welten diese Prozesse formen, so dass sie nicht allein als endogene ver- im Vergleich zu den Schichtunterschieden erheblich kleiner aus. Mädchen
standen werden können (so wie es in der Idee der ,,Prägung" gedacht ist), zeigen schon früh erwas bessere Leseleistungen und deurlich höhere Lese-
und drittens das Phanomen, dass Individuen in ihren Sozialisationspro- motivation dann, wenn die Schichtzugehorigkeit statistisch neutralisiert
zessen durchaus Wahl- und Einflussmoglichkeiten haben, dass sie also eine wird. Diese Differenz zwischen den Geschlechtern bleibt die Schullauf-
eigenc Entscheidungskraft realisieren. Diese drei Faktoren sind im Kon- bahn hindurch bestehen. Die sraristischen Leisrungsdifferenzen entlang
zept dcr Sozialisation wirkungsmächtig. Sozialisation wird verstanden als der Schichr- und, deurlich schwächer, der Geschlechrszugehörigkeit bil-
die aktive Übernahme einer ,,Mitgliedschaft in einem sozialen System" den sich auch in unserem Schulsystem ab' vom Gymnasium über Real-,
(Hurrelmann et al. zor5). Im vorliegenden Kontext ist das der Eintrict in (lesamt- und Förderschule sind die Lesekomperenzen statisrisch parallel
die gedachte Gruppe der Leserlnnen, der Literaturleserlnnen, der Zei- zu den sozialen Schichten verteilt. In den Schuiformen ftir schwächere
tungsleserlnnen, der Bibliotheksbenutzerlnnen usw., oder ggf auch in die Schülerlnnen sind die Jungen etwas überproporrional verrreren, im Gym-
Gruppe der Nicht-Leserlnnen. Es liegen gewissermaßen kulturelle Ent- nasium entsprechend die Vtadch en. Zu der dritren zenrralen Weichenstel-
würfe fur die Mitgliedschaft vor - wer gewohnheitsmäßig z. B. Liebes- lung, der ethnische Zugehorigkeir, können Auskünlte beztiglich der Lese-
romane oder eine lokale Tageszeitung oder al1es über Fußball liest, gehört leistung kaum gegeben werden, weil sich ein Migrationshinrergrund hier-
zu diesem jeweiligen kulturellen ,,Subsystem", er oder sie definiert sich zulande haufig mit der Zugehorigkeit zu einer niedrigeren sozialen
selbst als der Gruppe solcher Personen zugehörig. Einen solchen Mitglied- Schicht überlappt und zugewanderte Familien in der ersten Generarion
schaftsentwurf anzunehmen kann auch bedeuten, an seiner Veränderung das Deutsche als Zweitsprache erworben haben. Der Fakror ,,erhnische
mirzuwirken. Besonders deutlich wird das bei der geschlechtlichen Sozi- Zugehorigkeit" lässt sich deshalb statistisch nicht isolieren. Nach wie vor
alisarion, also bei der Übernahme der kulturell bereitliegenden Mitglied- besteht am Ende der Grundschulzeit ein durchschnirrlicher Leistungsab-
schaftsentwürfe ,,Frau" oder ,,Mann" - wie diese Identitäten definiert stand von etwa einem Lernlahr zwischen Kindern mir und ohne Migrati-
werden, har sich historisch bekanntlich vielfach gewandelt. Das geschah, onshintergrund (Bos et al. zory).
indem die jeweils Nachwachsenden im Zuge ihres Eintritts den vorherr-
schenden Mitgliedschaftsentwurf verändert haben. Die Angebote haben Eine Grundlage der Lese- und Literaturdidaktik ist die Lesesozialisarions-
sich auch pluralisiert: Es gibt durchaus unterschiedliche Konzepte von lorschung, die danach fragt, wie Heranwachsende eine Identirät und Pra-
weiblich und männlich und weiteren Gender, wie es auch unterschiedli- xis als Leserln gewinnen und leben - was genau diesen Prozess verhindert
che soziale Entwürfe von Leserlnnen und Nicht-Leserlnnen gibt - z. B. oder fordert, ist schließlich eine didaktisch hoch bedeutsame Frage. Einig
den blassen, lebensunrüchtigen,,Bücherwurm", den klugen Intellektuel- ist man sich in der Auffassung, dass Lesesozialisation lange vor dem Schul-
lenl veraltet ist inzwischen der,,Blaustrumpf', der seine'Weiblichkeit ge- cintritt in der lrthen Kindheir beginnt. Die wichtigste Sozialisarions-
gen Gelehrsamkeit getauscht hat, usw. instanz in dieser frtihen Phase ist die Familie. Im Laufe der Enrwicklung
vcrliert sie gegenüber den beiden weireren großen Insranzen Schule und
Zentrale \Weichensteller von Sozialisationsprozessen sind generell ,,class, dann den Gleichaltrigen (Peers) an Bedeurung, bleibt aber grundlegend.
gender, ethnicity", wie es im Amerikanischen heißc - also soziale Schicht,
kulturelles Geschlecht und ethnische Zugehorigkeit. Wie sich diese Fak- Die Frühphase der Lesesozialisation
toren auf die Entwicklung von Lesekompetenz auswirken, dazu haben die
Schulleistungsstudien der letzten zwei lahrzehnte Auskunft geben kon- I:inc gro{lc amerikanische Mera-srudie zu Lesekomperenzen und ihrer
nen. Vor a1lem die soziale Schicht, aus der ein Schüler, eine Schülerin l;(rrclcrung (NICHD z<>oo) hat ftinf wesenrlichc Kompetenzfeldcr be-
srammr, ist in statiscischer Hinsicht ausschlaggebend fur seinen oder schricbcn, von tlcncn vicr schon in dcr f}uhcn Kindhcir in clcn ftrmiliärcn
46 Irmgc 4 Wic lilrnrr ttlttt siclt tlic [rittgr':rlisclrc Arrt'igrrLrrrg vorr Lt'st'liorrrpt'tcnz volsrt'llcnl 47

Kommunikationsstilen und literalen Praktiken grundgelegr werden. Nach Die 5 Fotder der Lesekompgtenz nach NICHD 2000
der Studie isr von Bedeutung, wie deutlich in der frühen Kindheir schon ,i,t,,...,1,l I , a,.:,,,,..t :, . ,......,::,.',,:,,,.,

ein Schrif*"onzepr entwickelt wird, also eine Vorsrellung davon, dass


Schrift Bedeutungen enrhäh, dass sie in Büchern und anderen Medien
enthalten ist und dass sie wichtig ist. Zur Ausbildung einer solchen Vor-
stellung isr der alltagliche familiare Umgang mit Schrift ausschlaggebend.

'Wortschatzvon
Zweitens ist der Bedeutung fur die spätere Lesekomperenz.
Er entfaltet sich ab dem zweiten Lebensjahr und ist narürlich erhebhch
davon abhangig, wie mit dem Kind in der Familie oder der Kira sprachlich
interagiert wird: lVenn Schriftsprache dabei eine Rolle spielt, beispiels-
weise durch das gemeinsame Anschauen von Bilderbüchern, durch R.i-"
und Lieder oder durch situationsabstrakre Alltagserzählungen, dann ist E!€:.1,1'.',,',1::1,':11.1:,,

das Angebot an neuen \üZörrern und W'issensfeldern weit größer als in tl],€fi,t{:f:t,
A.:ei-i'g,!:,
situationsgebundenen Sprachhandlungen wie beispielsweise,,Komm mal
her", ,Jetzt ab ins Bett" usw. Die Konsequenzen sind enorm: Eine US-ame-
rikanische Studie zeigt u. a., dass der Wortschatz von Dreijährigen aus
Akademikerfamilien srarisrisch gesehen mehr als doppelt so großist wie
bei Gleichaltrigen aus Familien, die von staatlichen Zuwendungen abhän-
gig sind (Hart/Risley zoq).
Gemeinten nicht in eins fällt; z. B. können sie erkennen, dass ,,Piepvögel-
Drittens wird bei den ganz Kleinen auch schon das lircrale Textaerstehen
chen" ein längeres'Wort isr als ,,Kuh" (obwohl diese doch so viel größer isr
im engeren Sinn auf den'Weg gebracht: \fenn ein Erwachsener mit dem
als das kleine Vögelchen). Sie können Laure in \förtern und Rhythmus in
Klelnkind ein Bilderbuch anschaur, den Text vorliest, kommentiert und
der gehörten Sprache wahrnehmen; das gelingt am besren mit Reimen
den kindhchen Verstehensbemühungen individuell passgenau im Ge- und Liedern und dem Spielen mit Sprache *,,Nase" und,,Hase" sind sich
spräch weiterhilft, kann das Kind die Figuren und die Handlung imagi-
lautlich ahnlich, nicht aber in der Bedeutungl Es ist eine große intellek-
nieren und seine eigenen Erfahrungen mit der vorgelesenen Geschichre
tuelle LeistLLng) 211 erkennen, dass \üörter nichr mit dem Gemeinten in
verbinden. Gestützt wird es dabei durch Illustrationen im Buch und vor
Eins fallen, und die Aufmerksamkeir auf die Sprache, nicht auf die Sache,
allem durch die Interakrionen mit dem komperenten Anderen. Es lernt,
zu richten. Phonologische Bewussrheit ist die Bewusstheir fur die laut-
Fragen zu Geschichter. ztL stellen und selbst Bedeutungen zuzuordnen. In
liche Gestah der Sprache und eine wichrige Basis fur den späteren Schrifr-
diesen situationen erfährt es zudem, dass das Lesen von schrift berei-
spracherwerb, wie auch die anderen drei aulgezählten Bereiche Schrift-
chernd und beglückend sein kann - jedenfalls dann, wenn der oder die
konzept, \Tortschatz und Textverstehen entscheidende Größen im Be-
Erwachsene, die diese Erfahrung mit ihm teilt, seinerseits die Lektüre
reich der sog. Vorläuferflihlgkeiten des Lesens und Schreibens sind.
schätzt und genießt.
Noch einen fiinften Bereich hat die besagte Srudie als zentral ftir die gute
Viertcns beginnen Kinder im Vorschulbereich, sogenannte,,phonologische Entwicklung von Lcsefähigkeiten beschrieben. Er betriffr allerdings nicht
Beuusstheit' zu entwickeln, das heißr, ihnen wird die Lautgesralt gespro- dic fruhkindlichc Sozialisarion, sondern serzr nach dem Erstleselehrgang
chcncr Sprachc bcwussc. Sic fangen an zu versrehen, dass ein Wort mit dem in clcr (lruntlst'htrlc :rrr: l)ic Kinclcr müsscn t.cscflüssigkcir (-+ 5) cnr-
'Wie kann man sich die biografische Aneignung von Lesekompetenz vorstellen?
4B Frage 4 49

wickeln, sodass sie sich beim Selber-Lesen nicht stockend und stolpernd Austausch über Texte. Ko-konstruiert werden aber auch Bedeutungen im
durch die Schrlftzeichen kampfen müssen, sondern sich auf die hierar- weiteren Sinn, beispielsweise auch Bildungsnormen durch soziale Grup-
chiehöheren Komponenten des Leseprozesses (+ 3) konzentrieren kön- pen. Heute gilt z. 8., dass Lektüre fur jedermann und besonders fur Her-
nen. Nur dann können sie den Text beim Selber-Lesen auch verstehen und anwachsenden wichtig und bildend ist - ganz anders a1s im 19. und noch
genießen. Sie bei der Ausbildung des flüssigen Lesens zu unterstützen ist in der Mitte des zo. Jahrhunderts, als Leselust unter den Kampfbegriffen
primäre Aufgabe der Sozialisationsinstanz Grundschule, die außer dieser ,,Schmutz und Schund" als potentiell jugendgefahrdend galt. Heute dage-
gewissermaßen ,,lesetechnischen" Aufgabe auch die Lust auf Lesen, die gen gilt Lesen unabhängig von den Inhalten rundherum als gutes und
fasc alle Kinder in großem Ausmaß bei Schuleintritt mitbringen, auf- nützliches Tun. Solche kulturellen Normen - z.B.,,Kinder und Jugendli-
rechterhalten und fbrdern muss. che müssen lesen" - transformiert sich beispielsweise über Medien durch
Ko-Konstruktion in soziale Gruppen, z.B. in Familien, die sie wiederum
ko-konstruktiv an ihre Kinder weitergeben. So vollzieht sich Sozialisa-
Die Bedeutung von Ko-Konstruktionsprozessen
tion. Aber sie lässt durchaus Raum fur Eigensinn!
Gespräche während des Lesens oder über Gelesenes wie beispielsweise die
oben beschriebenen Vorlesedialoge bei der gemeinsamen Bilderbuch-Lek-
Lesesozialisation in der späten Kindheit und der Jugend
türe nennr man Anschlusskommunikation. Sie bietet außerordentlich in-
rensive Erfahrungs- und Lerngelegenheiten eigentlich in jedem Lebensal- Der Prozess der Lesesozialisation ist mit der frühen Kindheit, dem Vor-
ter. Man könnte die gesamte Schule als Institution beschreiben, die von schulalter und auch dem Grundschulalter noch lange nicht abgeschlossen;
den Erwachsenen eingerichtet wird, um mit der nächsten Generation An- letztlich vollzieht sich Sozialisation über die gesamre Lebensspanne. In
schlusskommunikation an Texte zu betreiben. \fenn es um Gespräche im Kindheit und Jugend werden allerdings die Weichen ftir den Verlauf der
Literaturunterricht geht, werden wir auf dieses Thema zurückkommen (+ rz). Lesesozialisation gestellt: Insbesondere die biografische Lesesozialisari-
onsforschung hat aus einer großen Anzahl von autobiografischen Berich-
Anschlusskommunikation an Lektüre geschieht nicht notwendig durch ten Einblicke in den weiteren Verlauf der Aneignung von Lesekompetenz
explizite Erklarung oder Belehrung. Beispielsweise beim Bilderbuch-Vor- gewonnen. Sie beobachrete, dass in gltickenden Verläufen in der spären
lesen genießt ja auch der Erwachsene die Gemeinsamkeit mit dem Kind, Kindheit, also etwa ab dem 9. Lebensjahr, das Lesen eigenständig wird,
teilt gerne sein Erstaunen, seine Fragen und Kommentare zu einer ge- das heißt: Die Kinder sind nun nicht mehr darauf angewiesen, dass sie in
'$üahr-
meinsamen sprachlichen Fiktion, und vermittelt auch die eigenen der Schule und ggf, zu Hause von Eltern und Lehrern ausgewählte und
nehmungen und Gedanken, soweir sie dem Kind zugänglich sind. Beleh- portionierte Texte als Aufgabe bekommen. Nun entwickeln sie eigene Le-
rungsabsichten verfolgt der Erwachsene idealer Weise nicht, denn das sebedtirfniss e, die sie durch selbsts tändige Lektürepraktiken befriedi gen
Kind isr eigenaktiv, es konstruiert eigenständig Sinn, umso reichhalciger, können, ggf unterstützt durch die Familie, die Stadtbücherei oder die
je besser es dabei unterstützt wird. Diese Vermittlung, Aneignung und Gleichaltrigen. Die Fahigkeiten, die den eigentlichen Leseakr gleichsam
auch Elaboration von Gedanken oder Einstellungen in sozialen Interakti- umgeben - sich mit Textsorten auskennen, literale Probleme erkennen
onen nennt man ,,Ko-Konstruktion". Damit ist gemeint, dass mentale und selbstständig lösen können - solche lesekuhurellen Fahigkeiten eig-
Konsrruktionen von Inhalten in der sprachlichen Interaktion zum Aus- nen sie sich in diesem Zuge an. Und die meisten Kinder lesen außeror-
druck gebracht und vom Partner aktiv innerlich nachgebildet und ggf dcntlich viel im Alter zwischen etwa ro bis 13 Jahren! Diese Beobachtung
wcitcrbearbeitet werden. Bei Vorlesesituationen mit jungen Kindern war schon in dcm alten Konzept der,,Buchreife" enthalten.
kann man das, wie gesagt, besonders gut beobachten. Der BegriffKo-Kon-
struktion ist abcr umlangslogisch viel weiter angelegt: Ko-konstruiert, I)ic Autononrisiclunl; clcs l,cscns in dcr spätcn Kindheit ist ein zenrralcr
:rlso akriv gcistig übcrnommcn und wcitcrgedacht, wird bci jcglichem l:nrwicklurrgsst'hrirr tlcr' l,cscsozialisarion; dcnn nun kijnncn clic Kinc{cr
Frage 4 Wie kann man sich die biografische Aneignung von Lesekompcrcnz volsre llcn?
5o

zumindest prinzipiell Texte nutzen, um eigene ZieTe zu erreichen und ,t l tll:16


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Probleme zu lösen, wie es in der Lesekompetenz-Definition durch PISA c,
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gefordert ist. Statistisch gesehen lesen Menschen im Laufe ihres Lebens
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trie meht so viel in ihrer Freizeit wie in der späten Kindheit. Doch das gilt
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fur den Erhebungszeitraum Ende des letzten Jahrhunderts und fiir Ange-
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horige der Mittelschicht, von denen diese Daten erhoben wurden. Kinder 6. :1.:::l/t::
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und Jugendliche aus dem ,,Bi1dungskeller" (Volz zoo5) - also jene etwa ::itL:.:

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schrieben werden - entwickeln, statistisch gesehen, keine nachhaltige
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persönliche Lesekultur. Ihre Lesepraxis löst sich kaum von dem Pfllchtle- c& €,.8 (l E$ F

s.n, das die Schule fordert. Entsprechend ist ihr lesebezogenes Selbstkon- Eä rtq C*
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zept (-> 3) meist negativ gepolt, d. h.: Lesen ist fur sie nur eine Schulange- äää €E
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lefenheit, es ist mühsam, es bedeutet im Wesentlichen fremdbestimmtes
Lernen. Dazu kommt, dass sie anspruchsvollere Texte meiden, weil sie sie a(U -E
schlecht verstehen. Denn der Leseprozess ist fur sie oft noch im hierarchie- -Yt
niedrigen Bereich der tü/ort- und Satzidentifikation mühsam - und er ist
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noch immer so mühsam, weil sie das Lesen schon früh vermieden und ent- + bt bt
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sprechend wenig Üb.tng haben. Ein Teufelskreisl Die Schule ist die einzige ä.e i-CJJ -N
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Instanz, die ihn unterbrechen kann, indem sie die Entwicklung der Lese-
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kompetenz ins Zentrum ihrer Bemühungen stellt und Zugänge zu Texten
schafft, die den Interessen dieser Schülerinnen und Schüler entgegenkom-
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men. Der Deutschunterricht kann das nicht allein schultern - auch die
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Lehrpersonen in den Fächern müssen fur ihre Domänen Lesefachleute
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Aber auch bei den bildungsnaher aufwachsenden Kindern kommt die ,'.., ,'.9
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Phase lustvoller Kinderlektüre mit der Pubertät in eine Krise. Diese Lese-
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krise kann in den Dokumenten der Lesesozialisationsforschung regelmä- l',ä.,. ö ii ,.,.,sr,l


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ßig nachgewiesen wetden. Die schlichten wunscherfullenden Kinderbü-
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chit entsprechen nun nichr mehr dem der Jugendlichen, C!
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und oft bricht das Freizeitlesen in dieser Phase ganz ab, Um es konkret
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auszudrücken: \fährend am Ende der Grundschulzeit und in der Förder- o I


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stufe eine literarische Buchlekttire im Deutschunterricht im Großen und .,. ,r rr,.,.ü-

Ganzen unproblematisch ist, gelingt es in der darauffolgenden Phase


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kaum, einen Text zu finden, dem nicht die Halfte der Klasse mit Unwillen ):!
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begegnet. In dieser Altersstufe um die achte und neunte Klasse herum ist or! g
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d.i Lit.t"tnrunterricht besonders gefordert, das Freizeitlesen der Schtile- E-E
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rinnen und Schüler ,,in Rufnähe" zu halten. Er muss also nicht nur das lite-
[:ragc 4 Wic lilrrrn rrr:rrr sitlr,lic Iti,tgr rrlist lrt'.'\n,'ilinrnll \()n l.('\('li(rrrrl)('t('rtz r',tttt,'ll,'ttf
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rarische Lernen betreiben, sondern auch einen Neuanfang des persönli- rralc Faktoren von Lcscsozialisationsvcrläufen sind vor allem dle Zugeho-
chen Lesens animieren durch Lesestoffe, die in dieser neuen Lebensphase rigkeit zu einer sozialen Schicht und in zweiter Linie das Geschlecht.
interessant werden, durch Gespräche über vielfältige Texte und durch Be-
teiligungsangebote an anregenden Projekten zu Büchern. Welche Ant'orderungen ste//f dos an die Lehrperson? Welches Wisse4
uelches Können braucht sie?
Nach dieser ,,literarische Pubertät" genannten Krise haben viele iunge
Leute das Lesen aus freien Stücken ganz eufgegeben. Andere haben spezi- [.chrpersonen sollten aufmerksam fur die persönliche Lesepraxis ihrer
fische Lesehaltungen entwickelt: Sie lesen mit bestimmten Funktionen, Schülerlnnen sein, insbesondere in den genannten biografisch kritischen
beispielsweise um den Alltag ,,abzuschalten" (intimes Lesen), um an einer [)hasen: Findet das Kind oder der Jugendliche zu eigenständigem Lesen
besrimmten sozialen Gruppe teiT zuhaben (partizipatorisches Lesen) oder am Ende der Grundschulzeit? Gelingt ihr oder ihm der'Wiedereinstieg in
um spezifische Interessen zu verfolgen (Konzeptlesen). Wer alle in der sclbstständiges literarisches oder Sachtext-Lesen nach der Pubertät? Von
Grafik angeftihrten Lesehaltungen auch außerhalb von Bildungsinstituti- [.chrpersonen darfgefordert werden, dass sie sich in der aktuellen Kinder-
onen weirer pflegt, liest catsächlich sehr ausgeprägt! Statistisch 1ässt sich und Jugendliteratur auskennen und individuelle Lesetipps geben können,
nun eine Trennung der Leseprofile zwischen den Geschlechtern erkennen' dass sie anregende Projekte mit der ganzen Klasse initiieren und dass sie
Schon seit dem 19. Jahrhundert und bis in die Gegenwart ist ausgeprägtes das individuelle Lesen kompetent begleiten könnenl
belletristisches oder literarisches Lesen eine Domäne der Frauen. Männer
neigen stärker zu Sachtextlektüre. Das würde sich wohl ein wenig relati- Zum Weiterlesen:
vieren, wenn man die Kategorien fur Sach- und literarische Texte präziser
()raf 'Werner (zoo7): Lesegenese in Kindheit undJugend. Einfuhrung in die literarische
fassen würde: Liefert beispielsweise die ,,Sport Bild" wirklich Sachtexte? Sozialisation. Baitmannsweiler: Schneider Hohengehren.
Aber die Tendenz bleibt durchaus statistisch sichtbar. Sie ist, wie gesagt, (larbe, Christine; Holle, Karl; Salisch, Maria von (zoo6): Entwicklung und Curriculum:
historisch tief und auch biografisch bedeutend: Leseerfahrungen sind Le- Grundlagen einer Sequenzierung von Lehr-fLernziclen im Bereich des (literarischen)
benserfahrungen. Ein guter Literaturunterricht muss den'Weg zu diesem Lesens. In: Norbert Groeben; Bettina Hurreimann (Hrsg.): Empirische Unterrichts-
Modus des Erfahrens möglichst allen eröffnen. forschung in der Literatur- und Lesedidaktik. Ein Weiterbildungsprogramm.'Wein-
heim und München: Juventa, S. rr5-r54.
t,hilipp, Maik (zorr): Lesesozialisation in Kindheit undJugend. T..esemotivation, Lesever-
Wir fassen zusammen: halien und Le sekompetenz in Familie, Schule und Peer-Beziehungen. Stuttgart: Kohl-
hammer.
Um uns der Frage zu nähern, wie Lesekompetenz erworben wird, haben l)ieper, Irene (zoro): Lese- und literarische Sozialisation. In: Michael Kämper-van den
wir Erkenntnisse der Lesesozialisationsforschung wiedergegeben. Sie zeigt, Boog""tt; Kaspar H. Spinner (Hrsg.): Deutschunterricht in Theorie und Praxis, Band
dass die'Wege zum (Nicht)Lesen eines Kindes bereits vor Schulbeginn rt/t, trse- und Literaturunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. E7-r47.
eingeschlagen werden. Schon das familiäre Kommunikationsklima in der
frthen Kindheit, z.B. im Umgang mit Printmedien und insbesondere die
sprachlichen Interaktionen mit dem Kind, stellen Weichen fiir die späte-
ren literalen Lernprozesse. Im Hinblick auf das Lesen gewinnen die Sozi-
alisationsinstanzen Schule und Peer-Group in der Folge an Bedeutung,
Das Hineinwachsen in gewohnheitsmäßiges Lesen wird als Folge von Ko-
Konstruktionsprozessen der Heranwachsenden mic ihrer sozialen Um-
welt vor dem Hintergrund von Entwicklungsprozessen verstanden. Zen-

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