Deutsch-franzésische Kulturprobleme
Von Ernst Robert Curtius
7 Rollands tragisch-ironischem Puy
PPenspiel ,Liluli‘ (1919) findet si
eine ergreifende Szene. Da wir, (1919) findet sich
d der Jiingling Altair, in dem der
igend verkorpert hat, in den Kampf
i in der vordersten Reihe der Feinde
Antarés, die Bliite der deutschen Jugend. thn soll er titen. Da bricht
er schmeravoll aus: Er war mein Geno8, mein Bruder, der meine
jungen Triume teilte, mein Leid, mein Gliick, mein Herz. Wir litten
an den gleichen Ungerechtigkeiten, berauschten uns an denselben Hoff-
nungen++~ Wir Webten uns rein. Unsere Geister hatten sich hoch.
zeitlich erkoren. Er ist mein Alles, er ist mein Selbst.«
In den Worten des Dichters ist eine geistige Situation festgehalten,
die fiir einen kurzen geschichtlichen Augenblick Wirklichkeit war, ge-
laden mit wundervollen Maglichkeiten, und die jetzt unwirklich und
sagenhaft diinkt wie fernste Geschichte; unglaubhaft, wenn nicht noch
cinige Herzen sie in der Erinnerung bewahrten, In den letzten Jahren
und Monaten vor dem Ausbruch des Krieges hatte sich die geistige
Jugend Deutschlands und Frankreichs zueinander hingefunden, un-
gewollt, ohne Programmatik, spontan — in der einzig maglichen und
natiirlichen Weise: auf Grund einer neuen gemeinsamen Erlebnisbasis,
die man iiberrascht und freudig entdeckte. In beiden Landern war ein
Durchbruch geschehen aus den miiden Schénheitswelten des Symbolis-
mus in ein neues Lebensgefiihl, das die ganze Wirklichkeit (und nicht
nur die isolierte Sphiire des Asthetischen) jubelnd ergriff. Die Welt
schien in neuer lockender Schénheit dazuliegen, voller Wunder und
Abenteuer. Die rostigen Drahtziune, mit denen ein des mechanisches
Denken Natur und Seele verstellt hatte, waren niedergerissen. Das
sLeben‘ enthiillte sich auch in der Philosophie als letzte Grundlage
des Weltbegreifens. Gemeinsam spiirte man diese Erneuerung in der
deutschen und der franzdsischen Jugend. Gemeinsam — auch ohne
daS man voneinander wubte — kampfte man gegen die erstarrten
1146 Ernst Robert Curtius
Michte der offisiellen Schulmeinungen, Péguys Offensive
Sorbonne war von demselben Impuls getragen wie dic meee
deutschen Jugend gegen den Geist der Universitite-Wissennsy
Man mufi ruriickgehen bis auf jenen morgenroten Rene"
mit dem Deutschlands feurigete Hersen um 1790 der frncttt™
Revolution sujubelten, um einen Vergleichepunkt u finden foe
Figenart dieser Hinwendung Jungdeutschlands xu Jungteantrcet
aufkeimende Saat von der Weltkatastrophe serstirt wurde, Ter
schien die Aussicht auf ein Sichverstehen ao verheifungerolt Cr
dem Augenblick, wo der Weltkrieg hereinbrach. j
Diese Annitherung war, ich wiederhole es, spontan. Sie kam ie,
raschend fiir alle Beteiligten. Sie hitte sich nicht voraussagen und leh
herbeifihren lassen. Sie war der Ausdruck einer lebendigen Dynan
in der europitischen Geistesbewegung. Sie war selbst ein Stick Lena
und das heist, sie stand unter den Gesetzen von Geburt und Toa
Sie ist zerstirt worden, ehe die Blite zur Frucht reifen konnte
Das ist Fatum. Hier kann nichts wieder kiinstlich lebendig gemacht
werden. Kein Literatenprogramm kann eine geistige Gemeinschaft ..
zeugen, wo die tragenden vitalen Energien feblen. Auch hier wurde
Leben zerstért — unwiederbringlich. Auch hier starrt uns der Tod
als Absolutes an. Auch hier zeigt sich uns, entsetzenvoll lihmend,
das Unertragbare und Unausweichliche: wir stchen vor Aufgaben, 2
denen wir unsrer Besten und Edelsten bediirften — und sie sind nicht
mehr da, Mit dem Blut der Toten haben die Schlachtfelder des ver-
blendeten, schmachbedeckten Europa die einzige Heilkraft aufgesogen,
aus der es sich hiitte erneuern kénnen.
Unsagbar veriindert gegen 1914 ist heute der Aspekt des deutsch-
franzisischen geistigen Problems. Die Generation ist ausgeléscht, die
zum Triger einer neuen organischen Bezichung zwischen den beiden
Kulturen hitte werden kénnen. Die neue deutsche Generation hat
véllig andere Erlebaisgrundlagen. Die geistige Jugend Deutschlands
von 1921 bringt dem Problem der seelischen Auseinandersetzung mit
Frankreich nicht mehr die lebendige Teilnahme entgegen, die vor dem
Kriege bestand. Die Gemeinsamkeit der Erlebnisgrundlage, die he “
withrend des Krieges vorhanden war — sie hatte sich einen Ausdrie’
geschaffen in dem legendiiren Zusammentreffen von Stadler und Peay
an der Front — besteht nicht mehr. ge Deutschland
"mje etDeutsh-franzdsische Kulturprobleme
147
icken zu. Damit
immer eine innere
sich nach dem Osten und kehrt dem Westen den Ri
ist eine entscheidende Wendung cingetreten. Ke wer 1.
Natigung des deutschen Geistes, iiber sich selbst ins ‘i
selbst xu gestalten in der Befruchtung durch das Peon een
diese Tendenz sich heute lebendig zeigt (wo sie nicht vege?
durch einen pedantischen und binfageeitiohes Katturneae a
richtet sie sich auf RuBland und noch weiter auf Indies ye
Die Sympathien, die ein Teil unserer Jugend dem hiitevtan wee
gegenbringt, sind nur cin auferliches Symptom fiir diese Wendan
Ganz gleichgiltig, wie man zum Bolschewismus stcht: das nine
Bedeutsame seiner Erscheinung liegt darin, daS er cine Richtorne
Umkehrung des abendlindischen Geistes zum Ausdruck bringt et
Descartes und Voltaire, seit der englisch-franzésischen Aufktzrung aia
der franzésischen Revolution schien gesetzmiSig alle geistige Eman-
zipation und aile gesellschaftliche Neuformung aus dem Westen kommen
zu miissen. Frankreich fiihlte sich als Fackeltriger Europas. Wenn es
heute noch diesen Anspruch erhebt, findet es bei uns kein Ohr mehr.
Symptomatisch ist eine AuSerung wie die von Paquet (in der Neuen
Rundschau, Miirz 1921): ,,Die auf rémisches Fundament gebauten
Siulen der germanisch-romanischen Zivilisation kommen ins Wanken,
der slavisch-germanische Aufbau schreitet fort. Auf dem Fundament
von Rom haben die europiiischen Vélker nationales Leben bis zur
héchsten Zwietracht ausgestaltet; unter den geistigen Einwirkungen
des erwachenden Ostens, der irgendwie die indischen Ahnungen im
Europier wieder aufweckt und ferndstliche Weisheit im Abendland
lebendig werden li8t, bildet sich eine neue Sittlichkeit.‘*
Man mag Paquets geistvollen Aufsatz mit manchem Fragezeichen
versehen — aber seine Alternative: ,,Rom oder Moskau‘ gehért zu den
die jungen Deutschen wiedererkennen,
Formulierungen, in denen sich
r staatlichen und gesell-
auch diejenigen, die dabei nicht an die Fragen der staa
schaftlichen Neuordnung denken, sondern an das Bild des Menschen,
an das Reich der Seele. Hine solche Jugend aber, die den Trieb fait,
die Gebundenheit des deutschen Geistes in einem asiatischen Einheits-
bewuStsein aufzulésen — wie sollte sie auf die Stimmen der europ®
h viel enger westlich ein-
ischen Randlinder héren, wo der Geist ao ies
geschniirt ist als im Herzen Europas? — wenn ;
von der Reaktion des deutschen nationalen Gefiihls auf a giai
148 Ernst Robert Curtius
des Versailler Vertrags und der Sanktionen, zeigt sich,
Geist in einer Wandlung begriffen i: 1 die die meiste;
Voraussetzungen zerstért hat, die ihm ein Positive
fransSsiachen Geist erméglichten, Er sieht nicht mehr erwerte
und interessiert nach Frankreich hingber — und um seinen Bick gery
zuriickeulenken, bediirfte es einer weithinleuchtenden F, =
davon Zeugnis gabe, da® Frankreich aus alter Traditi
siegter Lebenskraft der Welt immer noch neues a
» da der deutsch,
1 Psychologischen
es Verhiltnis: zum
Tscheinung, die
ion und unver.
¥ geben hat; dag
es mebr geben kann als reisvolle Variationen psychologischer Arai
und Delikatessen des literarischen Kunstgewerbes; da es die Schranken
der artistischen Selbstzergliederung und der nationalistischen Selbst-
verengung zu durchbrechen vermag, um ein geistiges Lebenswort in
das abgerissene europiische Gesprich hineinzutragen,
Aber auch in Frankreich — und vielleicht schwerer noch als bei
uns — sind die Kriegszerstirungen auf dem Gebiet des Geistes 2
spiiren. Die geistige Einheit des jungen Frankreich, wie sie sich uns
vor dem Kriege darstellte, ist zertriimmert. Das neue Lebensgefiihi,
das damals die starren rationalistischen Konventionen iiberalterter Kunst-
und Denkformen zerbrach und zu dem wir unmittelbaren Zugang hatten,
scheint verindert, zersetzt, zersplittert, unsicher geworden. Vielfach hat
sich der Ha8 ausgebreitet in einer literarischen Sphiire, von der wir
einst glaubten, sie wiirde ein Ort der Begegnung sein. Claudel, den
wir zu den Fiihrern eines neuen Frankreich ziihlten, den manche bei
uns als ihren Dichter auch dann noch beanspruchten, als er wihrend
des Krieges in den Deutschenhaf einstimmte, bringt in seinem letzten
Werk (Saint-Martin, Nouvelle Revue frangaise yom Dezember 1920)
einen seitenlangen HaSgesang auf Deutschland. Manche vonden geistigen
Filhrern des jungen Frankreich sind gefallen. Andere haben den Kontakt
mit der Jugend verloren. Romain Rolland war wihrend des Krieges
wie geiichtet und wird auch heute noch von weiten Kreisen verfehmt.
Schon vor dem Kriege hatte er den Haf der offiziellen Literatur auf
sich gezogen, weil er deren Cliquenwirtschaft schonungslos petal:
Dieser Ha8 kehrte sich gegen ihn mit erneuter Wut, als er ae
des Krieges einen europiischen Standpunkt ,,au-dessus de la mél
einzunehmen trachtete.
Der HaS gegen Deutschland, der schon vor dem Kriege fe
nationalistische Propaganda — ich erinnere nur an Barres —
fDeutsdb-franzdsische Kulturprobleme
149
durch den Krieg eine auBer-
recht mit geringen Ausnahmen
Frankreich krankt an einem
erkauft hat. Ein kraftyolles
geschiirt wurde, hat begreiflicherweise
ordentliche Stiirkung erfahren und beher:
die franzsische Presse und Publizistik.
Siege, den es mit ungeheuersten Opfern
iegerbewuBtsein will nicht aufkommen. Uberall macht sich ei
Krise, ein inneres Mifbehagen fihlbar. Die Uncufriedenhsit , een
Liquidation des Krieges nimmt Formen an, di Barrie:
Deutschland richten, das eben an allem Sch
ie sich wiederum gegen
i ihe ald sein soll.
Wie man in nationalistischen Kreisen die deutsch-
ziehungen ansicht, und welche Lésung man wiinscht, zeigt ein Artikel
La France vis-i-vis de I’ Allemagne! von Jacques Bainville in der Revue
de Genéve (Oktober 1920). Bainville stellt fest, Deutschland und Frank.
reich seien jedesmal in heftigen Konflikt geraten, wenn Deutschland
cin politischer Machtfaktor gewesen sei.
franzésischen Be-
h Dagegen seien Kriege immer
selten und verhiltnismiSig harmlos gewesen, wenn Deutschland cine
Mehrheit unabhiingiger, nur lose zusammen!
sei
ingender Staaten gewesen
Und eben dann seien die deutschen Volker fiir die franzisische
Zivilisation zuginglich gewesen. Im 17. und 18, Jahrhundert, da habe
Frankreich in Deutschland Bewunderer, Verbiindete und Freunde ge-
habt. (Wahrend allerdings umgekehrt deutscher Einflu8 2u keiner Zeit
in Frankreich bestimmend gewesen sei.) ,,Die Erfahrung hat also be-
wiesen, da die beiden Volker nicht undurchdringlich gegeneinander
abgeschlossen und nicht zu einer ewigen Feindschaft verurteilt sind.
Aber bisher hat ein solches Einverstiindnis zwischen Deutschen und
Franzosen nur unter einer Bedingung erzielt werden kénnen: daf niimlich
Deutschland in seine natiirlichen Elemente zerlegt wird, daS es nicht
einen einzigen zentralisierten Staat bildet. Bainville fiihrt bewegliche
Klage dariiber, daB der Versailler Friede die deutsche Einheit —
gelassen und sogar noch fester geschmiedet habe. Dieser Friede ist
zu mild fiir seine Harte, seine notwendige Hirte.* Es sind nicht so
sehr die Kriegserinnerungen und die Hafgefihle, die das ee
freundschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Vélkern ce =
als die Bestimmungen des Versailler Vertrages. Par quel eee tesa: :
que la France prenne le bloc allemand? Liinfluence lied ee aa
glisse fatalement sur un peuple mombreae) uni ee ciGastcenare
solide... Alors que nous reste-t-il & faire? Ce que no
nos précautions, nous tenir sur nos gardes, nous souvenir de nous méfier.-
150 Ernst Robert Curtius
Je Sais qu’on reproche a la France cet état
par les conditions de la paix‘,
Der Versailler Friede ist also eine
Stiimperei, wei
Wesprit. 11 est cree et egitim
hichat unbeftiedigende poitisey,
Deutschland su zerstickein, We
das naive Eingestindnis, dag 4,
ir den fransisischen Betrachi
Deutschlands mit franzisiaches,
er es unterlassen hat,
uns hier hauptsichlich interessiert, ist
deutsch-franzisische Kulturproblem fi
nur als das Problem der Durchdringun;
Geist existiert. Von einer Wechselscitigkeit darf beileibe niche die Rede
sein. Alles steht vortrefflich, sobald Deutschland — ode vielmehr die
Gruppe der national auseinandergebrochenen deutschen Kleinstaaten —
dankbar und bewundernd den Segen
der franzésischen Zivilisation iiber
sich ergehen lit. So sieht sich vom franzisischen Standpunkt aus die
Synthese von Nationalgefiihl und Weltbiirgertum an.
Der HaS gegen Deutschland gehért wie der nationalistische Im.
perialismus zu den Wirklichkeiten, die cine kihle methodische Analyse
des deutsch-franzésischen Problems nicht iibersehen darf. Dieser Hag
ist ein psychologisches Phiinomen, das seine vollkommen zureichenden
Griinde hat. Es wire sinnlos, den Franzosen diesen HaS vorwerfen
zu wollen. Wir miissen ihn als gesetzmaGig begreifen, und kinnen
nicht erwarten, daB in abschbarer Zeit eine entscheidende Anderung
eintritt. Wenn wir den Ha8, ins Metaphysische gesteigert, bei einem |
Claudel antreffen, so gehirt das zuden objektiv tragischen Tatbestiinden,
die man einmal ins Auge fassen mug, um dann weiterzugehen. Wer
sich dazu gedrungen fiihlt, mag darauf antworten — es kommt nichts |
Gutes daraus. Wer es verschmiht, wird aber in dem Bestehen dieses i
Hasses einen triftigen Grund zum Unterlassen aller einseitigen An-
niherungsversuche sehen. Das einfachste Taktgefiihl mu uns sagen,
daB solche Versuche von unserer Seite véllig unangebracht sind. Sie
verkennen zudem vollstiindig die Psychologie des Franzosen. Sie a
wirken nicht ein Entgegenkommen, sondern das Gegenteil — eine i
liche Betroffenheit und ein empdrtes Sichabwenden. Sie diskredi un
uns grade bei den Besten. Und was sie uns etwa an Zustimmung ein :
tragen, hat ein sehr geringes moralisches Gewicht. —
Es ist psychologisch begreiflich, wenn bei uns aaah ett ponies
gestoSen durch die geistigen AuBerungen des 2 ; 4
nalismus, die Verbindung mit einer r Rene ee
dem Nationalismus entschlossen e9Deutsch-franzésische Kuleurprobieme
Clarté-Gruppe. Henri Barbusse hat i os
seiner Schrift La lueur dans l'abime:
das deutsch-franzisische Problem G
wichtigen Dokument vorheigehen, De;
heift: La fin d'un monde. Die Fréri
besonders auch darum so wichtig,
Dokumente vorliegt, in welchen aus
jenes apokalyptische BewuStsein y.
das unser deutsches Denken beherrs,
cine die zentralen Dinge betreffende
sitze ausgesprochen in
emand, der sich
der sich iiber
edanken macht, wird an diesem
sane? analytische Teil des Buches
terungen dieses Teils scheine, mir
weil hier eines der ganz wenigen
der franzisischen Situation heraus
‘on einer Weltwend
de hervorbricht,
icht, und ohne dessen Vorhandensein
deuts
ich-franzisische Auss,
oa. ees . Aussprache un-
méglich ist. Mag man iiber die geschichtliche Entwicklung im Einzelnen
anders denken als Barbusse: in der Gesamtdeutung des Zeitsinns, in
dem tragischen Katastrophengefithl wird man sich mit ihm inig wissen.
Aber diese Hinigkeit hért auf und muB aufhiren,
zweiten, konstruktiven Teil seines Buches — La révol
iibergeht.
Hier herrscht der naivste rationalistische Doktrinarismus. Barbusse
glaubt an eine unfeblbare, jedem Menschen innewohnende Vernuntt,
deren Gesetze nur ausgefiihrt zu werden brauchen, damit die Mensch.
heit in Ordnung kommt. Er ist ein Fanatiker des Gleichheitsgedankens.
»Quand on a dit égalité, on a tout dit‘ — heiSt bezeichnenderweise eine
Kapiteliiberschrift. Die ,,Gleichheitsregel, wie Barbusse sich ausdriickt,
muf die wesentliche Norm der menschlichen Gesellschaft bilden. Die
soziale Egalisierung muf riicksichtslos durchgefiihrt werden. Das Ware
landsideal ist durch das Menschheitsideal zu ersetzen, und der Natio-
nalismus durch den Internationalismus. Usw. usw. Mit der gréSter
Unbefangenheit gibt Barbusse diese Forderungen als absolute Vernunft-
Evidenzen aus. Er sieht nicht, da® sie zum Teil schon oe Regeln
der elementaren Logik widersprechen. Erst recht febit piseees
i ii cl i hichtlichen Sphiire seine Lei
wuBtsein dafiir, aus welcher geistesgesc eenbiee seine 7A
siitze stammen und was sie ihrem Wesen nach sind: die letzte, :
i i ines Welterfassungs-
lichste Form des modernen Bourgeois-Geistes, Ae Cie hollea
schemas und seines Wertungssystems; cine extreme, V0 0g)
gewordene Schematisierung der Aufklirungs-Ideologien
et einer zu Ende gehenden Welt mo
*) Deutsch im Rhein-Verlag, Basel.
wo Barbusse zum
Ite de la raison —
ichte Barbusse152 Ernst Robert Curtins
zu den Grundlagen eines neuen Aufbaus machen. Das ist di
der Clarté-Bewegung. Mag man die moralischen Krifte
in ihr wirksam sind: ihr flacher Rationalismu:
nationalismus sind Ausdrucksformen einer
Epoche und widersprechen dem lebendigen
Geist in sich trigt. Es ist gewi8 schén und
iiber den Abgrund des Volkerhasses zu schi:
Verstindigung Europas die Wege zu bereiten, Aber wenn das
geschehen kann unter der Verpflichtung auf die schalen Dogmen ¢j
Aufklirer-Vereins, unter der Verleugnung aller Tiefen und Hohen des
Geistes — dann wollen wir nichts damit zu schaffen haben;
milssen wir uns frei haltea von solchem Aktiviemus, der aid ‘hte
Bedingung ein sacrifizio dell’ intelletto fordert. Wir diirfen die Uber.
windung des Nationalismus nicht erkaufen mit siner Versklavung des
Geistes. Wir wollen ihr custreben, aber nicht auf diesem Wege.
Wir wollen und diirfen uns nicht hineinzwiingen lassen in die Alter.
native: Nationalismus oder Internationalismus. Solange diese verkehite
und unheilvolle Alternative nicht iberwunden ist, fehlt jede Miglich.
keit fiir die Kldrung und Reinigung der deutsch-franzésischen Kultur.
beziehungen. Solange sie nicht iiberwunden ist, bleibt man auf dem
toten Punkt und hat nur die Wahl zwischen einem engherzigen Sich-
abschlieSen und einem wiirdelosen Sichpreisgeben. Sollen wir iiber
diesen toten Punkt hinauskommen, so kann es nur durch eine un-
befangene intellektuelle Analyse des ganzen Problemkomplexes sein, é
durch eine Abkehr von polemischem wie pazifistischem Aktivismus,
durch ein leidenschaftsloses sachliches Durchdringen der national- ‘
psychologischen und kulturbiologischen Tatbestiinde. Ein solches Er- i
kenntnisziel ist durch isolierte Einzelne nicht zu erreichen; es ace r
die Zusammenarbeit vieler Kipfe (die deswegen nicht anstaltsmiig E
organisiert zu sein braucht). Und es wiire denkbar, da grade in
einer solchen Erkenntnisarbeit sich Deutsche und Franzosen ae
kénnten. Vielleicht liegt hier eine Méglichkeit; eine Méglichkeit, na
nicht. Denn es wire sehr kurssichtig, die hemmenden Michte 2u unter
Schiitzen: sie liegen bei uns cinesteils in der Umkehr der aoe
Blickrichtung von West nach Ost, zum andern in dem
feindlichen Druck erstarkenden Kultu
in dem Dogma von Pevachinaaa
fe Patadox;,
achten,
S) ihr abstrakter try
ntseelten, absterbenden
Wertempfinden, das der
eratrebenswert, Briicke,
agen und einer geistige,
Bur
ines
dannrte
Deutscb-franzdsisdy Kulturprobleme
des Blickes durch den Ha8, in der Unterbindu:
franzdsischen ,,8ens critique durch die P,
Wir miissen abwarten, ob der durch sieven Jahre offen
Krieges schwer geschidigte Sinn fiir die Beistige 1 ci
Europas wiedererwacht — eine geistige Leben
nicht gegen die nationalen Kultursysteme ric
Sonderung bejaht, um sie als Harmonie zu
gegeniiber den Einseitigkeiten des National
nalismus. Das ist die organische Art,
Es ist die deutsche Art: die Goethes,
Franzosen haben so gedacht:
153
ndung des traditionell.
olitisierung des Geistes,
latenten,
-ebensgemeinschaft
'sgemeinschaft, die sich
htet, sondern sie in ihrer
begreifen: als ein Drittes
usmus und des Internatio.
das geistige Europa 2u denken.
Adam Miillers, Rankes, Auch
Renan und Taine; von den Heutigen
Rolland (solange er sich von der Internationale des Geistes freihielt)
und André Gide. Aber in Frankreich ist diese Denkweise doch immer
vereinzelt geblieben, und heute ist sie dort mit ganz wenigen Aus.
nahmen vollig zerstért. Wir machen uns immer noch kein zutreffendes
Bild von dem Umiang und den tiefgreifenden Wirkungen des syste-
matischen Feldzuges gegen den deutschen Geist, der seit 1914 yon
den franzésischen Intellektuellen gefiihrt worden ist und der die ganze
Sffentliche Meinung, die Universititen, die Literatur, die Presse durch-
Grungen hat. Daf Deutschland den Krieg angefangen hat, um das
friedliche Europa zu zerstéren und zu unterjochen; da es ein Ver-
brecher an der Menschheit ist, ein odium generis humani, gegen welches
die bedrohte Zivilisation solidarisch aufstehen und das sie knebeln mu,
auch wenn es am Boden liegt; da die deutsche Rasse minderwertig,
der deutsche Geist nur sklavischer Nachahmung und technischer Aus-
beutung fremder Ideen fihig ist — das sind Uberzeugungen, die zum
Gemeingut der Franzosen geworden sind. Wir sind in Acht und Bann
getan, wir werden in unserer Existenz moralisch negiert, wir ition als
aus der europiiischen Kulturgemeinschaft ausgeschlossen. Vereinzelte
Stimmen, die anders lauten, besagen nichts dagegen. Nur ganz all-
miihlich kann sich da eine Wandlung vollziehen. Es ist nicht =
Sache, uns hierum zu bemithen. Das geistige Frankreich i
den Anfang machen. Erst wenn es durch seine berufenen Fuhrer —
und nicht durch den oder jenen Outsider, den nur ein kleines Litera
i eae cerkennen gibt, da® esa
154 Ernst Robert Curtius: Deutsdbafranzésiedie Kulturprob
me
auf dem Boden vélliger moralischer Gl
ersetzliches Glied der europiiischen Lebensgemeinschaft:
kénnen wir eine Hoffnung fiir die Wiederherstellung
Europa erblicken. Solange wir diese Zeichen nicht set
haltung fiir uns das einzige Gebot. Vor 1914 war a:
und unser Recht; Schritte zu tun fiir ein besseres Siche,
sind wir die Geschlagenen, und das schafft villig andere
(wie man auch in Frankreich und grade in den Kreice
ankommt, verstehen wird). Wir werden und wollen vn, nicht in
Ablehnung verhiirten; das widerspriiche unserem Gerechtigkeitssinn,
unserem Gefihl fir Objektivitit, unseren besten deutschen Traine
Wir wollen und diirfen die Fehler nicht nachmachen, die Frankrent
nach 1870 begangen hat. Wir wollen und diirfen uns nicht in eine
Haf- und Abwehrstellung hineintreiben lassen, die uns moralisch va,
siften wiirde. Aber ebensowenig werden wir die Hinde ausstreckes,
Schweigen ist fiir uns das einfache Gebot der Wiirde. Schweigen gegen,
liber den Stimmen des Hasses und der Verleumdung. Mit Schweigen
sollten wir alles das beantworten, was in Frankreich dber uns ge-
schrieben wird, auch von den feinsten Psychologen und den gelehr-
testen Historikern, solange es noch geniihrt ist von der pharisiischen
Uberhebung, solange es noch den Ton verriit, mit dem europiiische
Forscher exotische Vilkerschaften studieren. Wir werden warten und
wir miissen warten, bis sich eine Wendung der Geister vollzogen hat,
von der bisher nur vereinzelte, schiichterne, aber doch begriisenswerte
Anzeithen vorhanden sind; bis die dffentliche Meinung des geistigen
Frankreich die innere Freiheit wiedergefunden hat fiir die volte An-
erkennung und Wiirdigung dessen, was der deutsche Geist in Ver
gangenheit und Gegenwart der europiiischen Kulturgemeinschaft be
deutet. Aber selbst wenn der Sinn fiir diese Gemeinschaft ee
erstarkte,*) bliebe der Zweifel immer noch berechtigt, ob er obne das
Hineutreten tieferer religidser Michte genijgen wiirde, um das sittiche
und geistige Chaos Europas neu zu gestalten,
Die Zerstérung der deutsc ransouischen
nur ein Symptom jener Zersetzung ropi
*) Die Nouvelle Revue Francais
My ist Zuriick.
unsere Sach
Tstehen. Jetzt
Bedingungen
M, aut die osPOR ky Dar emerifan, ihe Jah;
sche Jahr
ee Gesthleeht iit Prophetensorten 15 i
reither die Geschichte in concreto vor Aver cfnm Se uns
heilen zu wollen, ist stiimperhafte Men ioe Bat: Symptome
kénnen nicht durch Literatur iiberw. em anche Weltkrisen
‘unden werden, d;
» die nur Spiegetbitg
Instinktunsicherheit ist, ole i
Bon der: Mtetarinchen Sphice
n dorther ihre Lésung empfangen
ihrer Bpoche, ihrer Haltlosigkeit und
gen Lebensprobleme Europas lasser
diskutieren, aber nie werden sie yo
Das amerikanische Jahr
Von Waldo Frank
Vorbemerkung: Der Verfasser, fibhrende Persénlichkeit des Jingeren geistigen
peepee reestoem Buch {Our America” die Aufmerksamkcit nicht on
seines Landes auf sich gelenkt: sein Buch ist in franzésischer Ubersetzung er-
Schienen; eine deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung. Wir freuen uns, ihe so
unsern Mitarbeitern zihlen zu kénnen,
Croton-on-Hudson, N.Y., April 1921.
‘on meinem Schreibtisch aus blicke ich siidwiirts iiber den Hudson.
Vi; ende Kirsch-, Pflaumen- und Pfirsichbiume flammen sanjft-
farbig in den warmen Dunst der Sonne. Der FluS rollt an seinem
westlichen Ufer aus basaltnem Blau entlang, zwanzig Meilen abwiirts
erreicht ihn noch mein Blick. Dort wendet er scharf und ist ver-
schwunden, Noch zwanzig Meilen, wei ich, und er flieSt frei und hell
dahin jenseits des Tumults und des Gegells und der Fieber New Yorks.
Dort leben Millionen von Mannern und Frauen in einem peaendigen
Kampf und einer betriigt des andern Seele. Und unter ihnen sind
Hunderte scharfen Auges und von umfassendem Verstand, die ziehen
einer iiber des andern Denk- und Spracharbeit her, schnurren oder
knurren, ruhen oder krallen sich ein in eine Bewegung, von cee sie
sicher sind, daG in ihr sich die kulturelle Aktivitit des Landes summiert.
Auf eine Weise haben sie recht. New York ist das Giesaptoe
der geistigen Erzeugnisse der Nation. Es gibt andere Zentren desDER NEUE MERKuR|
MONATSHEFTE
HERAUSGEBER: EFRAIM FRISCH
FUNFTER JAHRGANG
APRIL 1921 — MARZ 1922
MUNCHEN
VERLAG ,DER NEUE MERKUR"