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Reprint

1994 Aspen
Ein amerikanischer Winter- und Sommernachtstraum:
Ski-Tränke der Stars und Superreichen im Winter, Treffpunkt
der Klugen und Talentierten im Sommer. Und das ganze Jahr
über Heimat für Visionäre und Rebellen wie den Partisanen-

berüchtigt machte ... Weiter>


Poeten Dr. Hunter S. Thompson, der die berühmte Stadt

Von Gundolf S. Freyermuth

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W elche Menschen und Stätten


wir uns zur Verehrung auswählen”,
schreibt Peggy Clifford, “offenbart viel
über uns selbst.” Ein solcher Ort, der
fast alles über Amerika und einiges
über den Rest der Welt verrät, ist seit
vier Jahrzehnten Aspen: in der Nach-
kriegszeit gerühmt als neuerstandenes
Athen, in den Sechzigern legendäres
Hippie-Mekka, in den Siebzigern
berüchtigt als Metropole der Me-Ge-
neration und Kokain-Kapitale, in den
Go-Go-Eighties globales Symbol für Su-
perreichtum und seine Supravaganzen.

“Peggy wurde der Rummel zu viel,


sie ist Anfang der achtziger Jahre
von einem Tag auf den anderen ver-

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schwunden”, sagt Loren Jenkins. Er ist Herausgeber der Aspen Times und war mit der
Autorin des Kultbuchs “Aspen and Back” eng befreundet: “Wir haben nie wieder von ihr
gehört.”

Wer heute, in den gemäßigten Neunzigern, nach Aspen reist, findet je nach Jahres-
zeit und persönlichen Neigungen drei sehr verschiedene Städte vor. Im Winter einen
Tummelplatz des internationalen Jet Set, auf dem Hollywood-Sterne und Wall-Street-
Kometen den Ton angeben. Im Sommer ein nicht minder internationales Kulturzentrum,
in dem sich Musiker, Schriftsteller, Bildende Künstler und Nobelpreisträger aller Sparten
gegenseitig auf die Füße treten. Und das ganze Jahr über eine idyllische Kleinstadt
von - laut jüngster Zählung - 5093 Einwohnern, in der reiche Liberale und gutsituierte
Ex-Rebellen, unterstützt und angetrieben von Visionären und unverbesserlichen Frei-
denkern, Main-Street-Amerika spielen. Wunderbar provinziell gehe es dabei zu, meinen
Einheimische: Kaum habe man in den eigenen vier Wänden geniest, klingele gleich das
Telefon und ein weiterer radikal-basisdemokratisch-ökologischer Kandidat fürs Bürger-
meisteramt wünsche “Gesundheit”.

Jetzt muss ich niesen, und irgendeiner ruft “Gesundheit”. Im Nachhinein weiß ich
nicht mehr zu sagen, ob es Loren Jenkins war oder Aspens Bürgermeister John S. Ben-

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nett, der gerade seine zweite Amtszeit absolviert und an Wahlkampf nicht zu denken
braucht.

“Du hast mich gefragt, wie Aspen früher war”, sagt Loren Jenkins. Sein graubärtiges
Gesicht grinst, und er macht dazu eine weite Geste durch den lärmigen Raum, über all
die verwachsenen schulterlangen Haare und kahlgefrästen Kriegseinsatzfrisuren hin-
weg: “So!”

Über dem Eingang der verräucherten Holzhütte, nur ein paar Meilen vom schicken
Downtown-Aspen entfernt, hängt der Kopf eines ausgestopften Ebers, das Muster des
ausgelatschten Linoleums täuscht Parkett vor, und im hinteren Teil des düsteren Saals
steht ein Pool-Billardtisch. Zum Klack-Klack der Kugeln singen die Doors.

Die Woody Creek Tavern ist der unprätentiöse Treffpunkt des anderen und fast schon
“alten” Aspen; derjenigen, die all die schönen, luxusleerglitzernden Invasoren vom
“Planeten Hollywood” miss- oder gar verachten. Wir drei zerknitterten Karriere-Hippies
und unsere erheblich besser erhaltenen Frauen sitzen an einem Tisch neben der Bar,
trinken Margherita und Bier, essen dazu Enchiladas und Burger und warten auf einen
weiteren Stammgast der Taverne: Aspens inoffiziellen Stadtschreiber, den kultisch ver-
ehrten Outlaw-Poeten und Gonzo-Journalisten Hunter S. Thompson.

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Die gewaltigen Werke des “guten Doktors”, wie Loren seinen alten Freund nennt,
erzählen von Furcht und Schrecken im modernen Alltag, von Höllenengeln, korrupten
Politikern und Drogen-Alpträumen, und sein berühmtestes Foto zeigt ihn mit einem
futuristischen Silbercolt tief im Aspen-Schnee - bei der Hinrichtung seiner Kugelkopf-
schreibmaschine. Drei Biographien, allesamt 1993 erschienen, versuchen, Thompsons
wildes Leben und Schreiben in sinnvolle Sätze zu bannen; keinem anderen amerikani-
schen Schriftsteller war derlei reichliche Huldigung bislang zu Lebzeiten vergönnt.

“Außergewöhnliche, leicht kuriose Charaktere wie er haben mich Anfang der siebziger
Jahre von Yale, wo ich gerade meinen Abschluss machte, nach Aspen gelockt”, sagt
Bürgermeister Bennett. “Hunter, der damals für den Job des Sheriffs kandidierte, war
ein Idol von uns allen.”

Die Wahl zum Oberordnungshüter verfehlte der kahlrasierte Gonzo-Kandidat und Häupt-
ling der hiesigen Normalitäts-Flüchtlinge seinerzeit beachtlich knapp. Hunters alte
Wahlplakate werden in den Souvenirshops zu Spitzenpreisen gehandelt, und von den
Stimmenfang-Veranstaltungen, die der professionelle Provokateur in kurzen Khaki-Ho-
sen abhielt, stets eine Bierdose in der Hand und böse von Drogenfreigabe mümmelnd,
schwärmt bis heute, wer sie miterlebte.

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Sein Partisanen-Griff nach der Macht bildete den Anfang vom Ende der konservati-
ven Redneck-Politik in Aspen. Bei der nächsten Wahl übernahmen realitätstüchtigere
Kontroll-Freaks das Rathaus in der Galena Street. Und seitdem haben die Ökologen und
liberalen Gegner eines wildwuchernden Wachstums das Sagen behalten.

“Ich liebe die unglaubliche Landschaft”, sagt John Bennett. “Aber das Faszinierendste
an Aspen sind seine Menschen.”

Loren Jenkins nickt: “Charaktere wie Peggy oder Hunter.”

Loren war dreizehn Jahre alt, als seine Mutter nach Aspen zog. Anfang der sechziger
Jahre arbeitete er als Skilehrer. Damals tauchte Hunter S. Thompson, ein junger, unbe-
kannter, hungriger Autor, zum ersten Mal in Aspen auf. Peggy Clifford hat den Eindruck
beschrieben, den er auf sie und die anderen Aspen-Aussteiger machte: “Thompson ist
groß, anmutig und stark wie ein Athlet, aber sein Gesicht ist bleich. Wenn er entspannt
ist, gleich es einer Maske. Sein Mienenspiel verrät nichts. Doch seine Augen und sein Lä-
cheln künden von mehr Bosheit und Übermut, als irgendein einzelner Mensch besitzen
sollte. Er ist einer dieser Männer, die die Aufmerksamkeit der Welt auf sich ziehen und
nie wieder loslassen.”

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Loren Jenkins, den die Ski-Bummlerei langweilte, beschloss seinerzeit, Journalist wie
der “gute Doktor” zu werden. Ein Vierteljahrhundert lang arbeitete er als Auslandskor-
respondent für “Newsweek” und die “Washington Post”. Zusammen mit Hunter Thomp-
son erlebte er den Fall von Saigon, er berichtete aus so gut wie jedem Krisengebiet von
Beirut bis Nicaragua, und er bekam den Pulitzer-Preis.

“Ich wusste immer”, sagt er: “Wenn ich es mal satt habe, dass auf mich geschossen
wird, dann komme ich zurück.”

“Nach all den Jahren wieder Aspen? Warum?”

“Weil Aspen die einzige Weltstadt dieser angenehmen Größe ist. Und das verdanken wir
den Zuwanderern: erst die Silbersucher, dann Ski-Fanatiker, Intellektuelle und Künstler,
Aussteiger und Freaks. Mit jeder Gruppe wurde das Leben spannender und weltläufiger.
Aspens Charme ist das Ergebnis seiner Geschichte. Du musst mit den Oldtimern reden ...”

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A spen war fast eine Geisterstadt”, sagt Dick Durrance: “Es gab überhaupt nichts.
Keine Restaurants, keine Hotels, keine Lifts.” Durrance ist Ende siebzig, ein alerter
grauhaariger Herr, dem man den waghalsigen Skiteufel ansieht, der er einst war.

1936 gehörte er der US-Mannschaft für die Winterolympiade in Garmisch-Partenkirchen


an. 1941 gewann er die ersten alpinen US-Abfahrts-Meisterschaften - in Aspen. Seine
Frau Margaret, ebenfalls eine erfolgreiche Skisportlerin, zeigt Schwarzweiß-Aufnah-
men, die sie damals gemacht hat: Auf den ungepflasterten Straßen von Downtown
reiten Cowboys an Baulücken und Brandmauern vorbei, und wo heute Villen-Wälle den
Blick verstellen, glänzen in der Sonne waldige Hügel voll jener Espen, die der Stadt
ihren Namen gaben.

“Wir sind auf Skiern von den Bergen runter, über Main Street und vor die Bar des Hotels
Jerome gefahren”, sagt Margaret Durrance.

“Aspen”, sagt Dick Durrance, “wurde eine Faszination fürs Leben.”

Doch zunächst einmal traten die USA in den Zweiten Weltkrieg ein, und alle Anstren-
gungen, aus dem verschlafenen Kaff am Ende der Welt eine Ski-City zu machen, ruhten

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von einem Tag auf den anderen. Wie schon ein halbes Jahrhundert zuvor schien wieder
eine historische Wende den Weg der Stadt in bessere Zeiten gestoppt zu haben.

Begonnen hatte er 1879, als eine geologische Expedition im Roaring Fork Valley, 30 Ki-
lometer westlich der nordamerikanischen Wasserscheide, Silbervorkommen entdeckte.
1881 zählte die entlegene Zeltsiedlung am Fuß der 4000 Meter hohen Berge 35 Einwoh-
ner. Zehn Jahre später drängelten sich 15 000 Menschen in Aspen. Sechs Tageszeitun-
gen, eine von ihnen die Aspen Times, informierten das Völkergemisch aus Deutschen,
Skandinaviern, Italienern und Iren. Zwei konkurrierende Eisenbahnlinien karrten immer
neue Glückssucher nach Aspen. Die reiche Boom-Town war als erste des Westens voll-
ständig elektrifiziert. Vier Theater gab es, ein Opernhaus und eine Pferderennbahn.

Noch schneller als der Aufstieg Aspens vollzog sich allerdings sein Niedergang. 1893 gab
der amerikanische Kongress den Silberstandard auf. Der Preis für das Metall, das die
Quelle von Aspens Reichtum war, fiel ins Bodenlose. Binnen weniger Monate meldeten
80 Prozent aller örtlichen Unternehmen Konkurs an. Die Bevölkerung verließ in Scha-
ren die Stadt. Fünfzig Jahre später, Anfang der 1940er Jahre, lebten noch knapp 600
Menschen in Aspen. In Jahrzehnten hatte niemand ein neues Haus gebaut. Was von den
viktorianischen Villen der Boom-Zeit weiterhin bewohnbar war, kostete ein paar Dollar.
Aspen lag am Ende des Roaring Fork Valley wie in einem Sterbebett.

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Doch unverhoffte Rettung nahte. Das Bild gleicht einer klassischen Western-Szene:

Eine gewaltige, ausgestorbene Main Street. Der Wind fegt um verrammelte Häuser. Ein
paar alte Männer sitzen gelangweilt vor der Bar des einzigen Hotels der Stadt. Aus der
Ferne nähert sich eine Staubwolke. Ein Wagen. Zwei Fremde kommen in die Stadt, ein
Mann und eine Frau, Menschen mit Macht und Einfluss, Millionäre, die das Leben an die-
ser frontier für immer verändern werden.

“Walter Paepke war ein Intellektueller, was ja für einen erfolgreichen Geschäftsmann
höchst ungewöhnlich ist”, sagt Fritz Benedict. “Zusammen mit seiner Frau Elizabeth
hat er eine Zukunft für Aspen entworfen.”

Benedict ist ein großer, braungebrannter Mann um die achtzig. Sein Haupt ist schnee-
weiß, und sein Luis-Trenker-Gesicht strahlt erheblich mehr Intelligenz und Witz aus als
das alpenländische Original. “Schlafende Schönheit”, sagt er, habe Paepke die Stadt
damals genannt.

“Und Sie haben mitgeholfen, die Schönheit aufzuwecken ...”

“Ich glaube, das kann man so sagen.”


Fritz Benedicts Mund lacht lautlos. Vom neuen Aspen hat kein Architekt mehr gebaut
als der Sohn einer Hamburgerin und eines Engländers, aufgewachsen in Wisconsin. Drei

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Jahre studierte er Architektur bei Frank Lloyd Wright. Im Zweiten Weltkrieg wurde
Benedict zur Tenth Mountain Division eingezogen, die im Roaring Fork Valley trainierte.
So verguckte er sich in die “ungewöhnliche kleine Stadt am Fuße der riesigen Berge”.
Nach dem Krieg kehrte er zurück, kaufte eine Ranch auf dem Red Mountain und ver-
suchte sich an Viehzucht und ein bisschen Ackerbau.

“Ich liebe die Mythologie des Westens, unsere Cowboy-Tradition”, sagt Fritz Benedict.
“Aber nach einer Weile sehnte ich mich wieder nach der Architektur.”

D ass Fritz Benedict dieser Sehnsucht in Aspen nachgeben konnte, daran trug Wal-
ter Paepke einige Schuld. Aus der bescheidenen Firma seines Vaters, eines deutschen
Immigranten, hatte er die “Container Corporation of America” geformt, den größten
Hersteller von Verpackungsmaterial in den USA. Damit nicht zufrieden und an Yachten,
teuren Reisen oder dem Aufbau einer kostbaren Kunstsammlung desinteressiert, betä-
tigte er sich philanthropisch.

Paepkes große Leidenschaft galt dem griechischen Ideal eines ganzheitlichen Lebens,
dessen Ziel die gleichmäßige Verwirklichung von Körper, Geist und Seele ist. Zu den In-

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stitutionen, die er mit Spenden und Tatkraft unterstütze, gehörte László Moholy-Nagys
“Neues Bauhaus”, das Chicagoer “Institute for Design”.

An einem Maitag des Jahres 1945 folgte Walter Paepke dem Vorschlag seiner Frau, die
bereits 1939 Aspen besucht hatte und von der halbverlassenen Stadt fasziniert war, und
unternahm mit ihr von der Familienranch bei Denver einen Ausflug ins Roaring Fork Val-
ley. Sofort erkannte er, den idealen Ort gefunden zu haben, um seine platonische Vision
zu verwirklichen. Aspens Abgelegenheit und Isolierung gewährleisteten geistige Ruhe,
seine Armut hatte den Ort vor den Zerstörungen des industriellen Fortschritts bewahrt,
und die dramatische Berglandschaft, die den Horizont weniger begrenzte als erhob,
provozierte geradezu spirituelle Erfahrung.

Seine Entschlossenheit, die Gelegenheit nicht verstreichen zu lassen, bewies Wal-


ter Paepke bereits am nächsten Morgen, als er seiner Frau zum Geburtstag eine der
schönsten viktorianischen Villen kaufte. Im selben Jahr noch beteiligte er sich an der
Gründung der “Aspen Ski Company”, deren größter Aktionär sein Schwager, der Bankier
und spätere Abrüstungs-Politiker Paul Nitze wurde. 1947 fand die Eröffnung der neuen
Anlage mit einem alpinen Skirennen statt. Dick Durrance gewann es und wurde wenige
Wochen später zum Präsidenten der Ski-Gesellschaft ernannt.

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“Wir liegen höher als die meisten Skiorte in den Alpen. Garmisch ist 700 Meter hoch,
Aspen 2500”, sagt Durrance, der Ende der zwanziger Jahre als Schüler von Florida nach
Garmisch verschlagen wurde und dort den Wintersport entdeckte: “Wir haben in Aspen
mehr Schnee, und der Schnee ist trockener. Skilaufen macht hier mehr Spaß. Aber das
wusste in den vierziger Jahren noch niemand. Wir suchten also nach Wegen, um Aspen
international bekannt zu machen.”

Durrance bemühte sich erfolgreich darum, das erste Ski-Cup-Rennen auszurichten, das
je außerhalb Europas stattfand. Hotels wurden gebaut, Telefonleitungen gelegt, Stra-
ßen gepflastert, neue Ski-Pisten angelegt. Durrance ließ Schneise auf Schneise in die
Wälder schlagen.

Wem das Land gehörte? Dick Durrance lacht: “Ich habe lieber nicht gefragt.”

Walter Paepke wollte mit dem Ausbau des Wintersports die wirtschaftliche Grundlage
für die intellektuelle Gemeinschaft schaffen, die er in Aspen zu begründen gedachte.
Zu Beginn der fünfziger Jahre war das geschafft. Längst jedoch ist das einstige Mittel
zum Selbstzweck geworden. In Aspen und in dem ein paar Kilometer entfernten, von
Fritz Benedict am Computer entworfenen Kunst-Dorf Snowmass werden knapp 300
Pisten aller Schwierigkeitsgrade mit 42 Skiliften betrieben. Die Ski-Industrie gibt 2000

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Menschen im Roaring Fork Valley Arbeit und zieht pro Saison fast anderthalb Millionen
Touristen an.

“Wegen des Winters sind wir gekommen und wegen des Sommers geblieben”, ist eine
geflügelte Redensweise unter den Aspeniten. Wenn auch nur zweiter Sieger in der
Gunst von Einwohnern wie Touristen, so reisen immerhin 40 Prozent aller Besucher ei-
nes Jahres zu den kulturellen Veranstaltungen im Sommer an.

Die Grundlage dafür, dass die Stadt zu einem liberalen Zentrum von Wissenschaft und
Kunst wurde, das heute ein Dutzend internationale Forschungsinstitutionen beherbergt,
schuf Walter Paepke mit der “Aspen Company”. Die Renovierung der rund 20 alten
Villen, die von der Gesellschaft zunächst erworben wurden, übertrug er dem vor den
Nazis in die USA emigrierten Bauhaus-Architekten Herbert Bayer.

Goethes 200. Geburtstag bot dann 1949 die Gelegenheit, Aspen in die internationale
Presse zu bringen. Paepke setzte alles auf eine Karte und belieh, um das nötige Kapital
aufzutreiben, auch Privatbesitz. Als Teilnehmer für die ungewöhnliche Feier “am Ende
der Welt” gewann er die Philosophen Ortega y Gasset und Mortimer Adler, die Schrift-
steller Stephen Spender und Thornton Wilder sowie die Elite klassischer Solisten, dar-
unter Arthur Rubinstein, der so kurz nach der Entdeckung des Holocaust verständlicher-

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weise zögerte, einen deutschen Dichter zu feiern. Die Rolle des Medien-“Zugpferds”
dachten die Organisatoren Albert Schweitzer zu. Mit einer großzügigen Spende für sein
Dschungelhospital in Lambarene wurde der widerspenstige Wohltäter zu dem einzigen
USA-Besuch seines Lebens überredet. Als Verbindungsmann in Aspen und offiziellen Fo-
tograf der Veranstaltung engagierte Paepke einen weiteren Bauhäusler aus Chicago.

“Ich konnte bei der Goethe-Feier viele Aufnahmen machen, die berühmt und wertvoll
geworden sind”, sagt Franz Berko. In Österreich-Ungarn geboren, in Dresden, Berlin
und Frankfurt aufgewachsen, wich er 1933 vor den Nazis nach England aus. Bis 1938
arbeitete er in Paris und London, die Kriegsjahre verbrachte er in Bombay. László
Moholy-Nagy holte Berko dann als Lehrer an das Chicagoer “Institute for Design”, wo
er die Paepkes kennenlernte. 1948 zogen er und seine Frau Mirte nach Aspen. Heute
gehört der hagere Mann Ende siebzig, ein Pionier der Aktfotografie in Europa und Indien
und ein Pionier der Farbfotografie in den USA, mit Brassaï, Kertész oder Robert Capa
zu der bedeutenden Reihe ungarischer Künstler, die im 20. Jahrhundert die Fotografie
revolutionierten.

Den Erfolg der Goethe-Feier nutzte Paepke, um Sponsoren für die Gründung des “As-
pen Instituts” zu werben, einem internationalen Treffpunkt von Kultur und Kommerz:
Wirtschaftsbosse sollten in der Abgeschiedenheit der Rocky Mountains mit führenden

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Intellektuellen und Wissenschaftlern zusammengebracht und zur Reflexion von philoso-


phischen und literarischen Fragen angeregt werden. Mit der Bebauung des Institutsge-
ländes, die erst 1963, vier Jahre nach Paepkes frühem Krebs-Tod, abgeschlossen war,
beauftragte er Herbert Bayer und Benedict. Der hatte inzwischen Fabi Loy geheiratet,
eine Tochter der surrealistischen Dichterin Mina Loy und des Dada-Poeten Arthur Cra-
van, und war so Bayers Schwager geworden.

“Angefangen haben wir mit typischen Bauhaus-Boxen. Später haben wir mehr experi-
mentiert. Ich habe versucht, durch die Landschaftsgestaltung die abrupte Wirkung der
harten Formen zu mildern”, sagt Fritz Benedict. “Es war ja ziemlich einmalig, dass ein
Bauhaus-Architekt und ein Schüler von Frank Lloyd Wright zusammenarbeiteten. Aber
ich hatte großen Respekt vor Herbert Bayer. Er war ein Renaissancemensch, universell
gebildet.”

Und damit der ideale Bewohner des idealen Aspen, das sich Walter Paepke erträumte:
ein Fluchthafen für eine exzentrische Elite.

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W enn auch Paepke nicht all die herbeieilenden Bohemiens und ihre Nichtkonformi-
tät verstand oder billigte, in seiner Ära, von der die Aspeniten mit Wehmut sprechen,
wurde die Stadt zum Sammelplatz für Außenseiter, deren Charaktere und Persönlichkei-
ten so extrem waren wie das Wetter in den Rocky Mountains. Nicht wenige Neubürger
hatten lukrative Karrieren in New York oder Los Angeles aufgegeben. Nach Aspen kam
man nicht auf der Suche nach Geld oder Ruhm, sondern um ein neues Leben zu begin-
nen.

“Wir trugen unsere selbstgewählte Armut wie eine Auszeichnung”, schreibt Peggy Clif-
ford über diese Jahre. Und Loren Jenkins erinnert sich: “Aspen war damals so nah dran
an einer klassenlosen Gesellschaft, wie es nur geht. Wie viel einer besaß, war egal. Der
Mann, der in einem Restaurant Geschirr spülte, wurde auf die Parties der Paepkes ge-
nauso eingeladen wie ihre Millionärsfreunde. Allerdings hatte die Hälfte aller Leute, die
hier Geschirr spülten, promoviert.”

Die Atmosphäre war kreativ und sie war intellektuell stimulierend. “Man hatte in As-
pen mehr Zeit und Ruhe als in den Großstädten”, sagt Franz Berko. “Ich konnte mich
neben den Auftragsarbeiten gut auf meine abstrakten Experimente konzentrieren. Und
ich lernte im ‘Aspen Institute’ viele bedeutende Menschen kennen und komplettierte

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so meine Porträtsamm-
lung.”

Gemeinsam war dieser


Außenseiter-Gesell-
schaft, den Künstlern
und Lebenskünstlern,
Skifanatikern und Astro-
physikern, Schriftstel-
lern und Ex-Astronauten,
den Dekadenten und
Dezenten, dass jeder auf
seine Art und auf seinem
Gebiet aus den eingefah-
renen Bahnen der bür-
gerlichen Konventionen
ausgebrochen war und
nun neue Spiel- und Le-
bensregeln ausprobierte.

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“Die Buschtrommeln verkündeten, dass sich in Aspen ein Haufen Hippies und Verrückte
trafen. So kam ich Anfang der siebziger Jahre hierher.” Bill Stirling, ein weißhaariger
Mann um die fünfzig, strahlt mit mehr Energie als die Sonne draußen: “Wir lebten da-
mals alle, als würde es ein Morgen nie geben.”

Das jedoch kam schneller als erwartet. Bill Stirling, der dynamische Ex-Lehrer aus der
Bronx, beobachtete es in den siebziger Jahren als Barkeeper in Aspens populärster
Après-Ski-Bar, und er bekämpfte es in den Achtzigern über vier Amtszeiten hinweg als
Bürgermeister. Andere erlebten es, weil sie keine bezahlbare Unterkunft mehr fanden.
Wieder andere, weil ihre Geschäfte und Handwerksbetriebe die explodierenden Mieten
nicht länger eintrugen. Das Ende des Aussteiger-Aspen hieß: Aufschwung; besser: Boom.

Bereits 1979 hatte Aspen die höchsten Lebenshaltungskosten aller amerikanischen


Klein- und Großstädte. Auf dem Flughafen, dessen Landebahn kaum länger ist als das
Deck eines Flugzeugträgers, stauen sich an guten Tagen über 100 Privatflugzeuge, kom-
fortable Learjets, Gulf Streams, Hawkers und Challengers, in denen die Superreichen
anreisen. Das Little Nell Hotel und das Ritz-Carlton mit Preisen bis zu 2000 Dollar die
Nacht bieten Luxusherberge, wie sie besser und teurer zwischen Ost- und Westküste
nicht zu haben ist. Ein halbes Dutzend der rund 80 Restaurants kann in Qualität und
Preis mit den besten von New York oder Los Angeles mithalten, und in Downtown haben

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Edelboutiquen die angestammten Geschäfte nahezu vollständig verdrängt. Dinge des


täglichen Bedarfs sind schwer aufzutun, dafür findet sich ein Sattel für eine Viertel-
million im Angebot oder ein Parka mit Reißverschluss aus 18karätigem Gold für 12 000
Dollar.

Dramatischer als diese Kuriositäten wirkte sich im Alltagsleben die Entwicklung auf dem
Immobilienmarkt aus. Der strenge Bebauungsplan, den die liberale Mehrheit in Stadt
und im County durchsetzte, um den Ausverkauf Aspens an den Betonburgen-Massentou-
rismus zu verhindern, trieb den Teufel mit dem Beelzebub aus: Die Verknappung des
Angebots bei steigender Nachfrage ließ die Immobilienpreise aufs Zehnfache des US-
Durchschnitts explodieren. Quadratmeter für Quadratmeter wurde Aspen zu einem der
teuersten Landstriche der Welt.

Familien, die seit Jahrzehnten in viktorianischen Villen aus der Silberminenzeit wohn-
ten, saßen plötzlich in Häusern, die Hunderttausende oder Millionen wert waren. Viele
gaben der Verlockung des Geldes nach und verkauften. Andere konnten sich die Immo-
biliensteuern nicht mehr leisten. Reiche Zweit- oder Drittwohnsitzler, die ihren Erwerb
lediglich ein paar Wochen im Jahr nützen, belegen heute 60 Prozent aller Häuser mit
Beschlag. Während ganze Stadtviertel von Millionen-Dollar-Villen Luxus-Geisterstädten
gleichen, müssen zwei von drei Einheimischen, die in der Stadt arbeiten, weit au-

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ßerhalb oder gar in den umliegenden Ort Basalt und Carbondale wohnen - nicht nur
Tausende von Kellnern, Zimmermädchen und Handwerkern, sondern auch der Präsident
der “Aspen Ski Company”, der Polizeichef samt der Mehrheit seiner Untergebenen und
selbst der Leiter der Wohnungsbaubehörde. Das Ergebnis ist zweimal täglich ein Rush-
Hour-Verkehrschaos auf dem Highway, den die Aspeniten liebevoll “Killer 82” nennen.

“Meine Politik war darauf gerichtet, Aspen und seine Tradition nicht kurzfristigem
Profitdenken zu opfern”, sagt Bill Stirling, heute ein führender Mann der örtlichen
Demokratischen Partei. “Im Nachhinein ist es geradezu tragische Ironie, dass ich aus-
gerechnet während der übelsten Boom-Jahre Bürgermeister war. Aber ohne unsere
Wachstumsbeschränkungen wäre die Stadt heute vollständig außer Kontrolle. Wir haben
das Schlimmste verhindert und unseren kleinstädtischen, leicht verrückten Charakter
erhalten. Das werden Sie heute Abend sehen ...”

In den Unterschichts-Trailer-Parks, von denen die Woody Creek Tavern umzingelt ist,
brennt kaum ein Licht. Die Nacht ist mondlos-schwarz. Die kleine Straße glitzert ver-

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eist. Sie führt hinauf zu der Owl Farm in Woody Creek, auf der Hunter S. Thompson seit
den sechziger Jahren lebt

“An manchen Tagen kann man kaum eine intelligente Konversation führen. Dann trinke
ich einfach was mit ihm und gehe”, hat Loren Jenkins gesagt, als wir am Morgen im
bonbonblauen Bürogebäude der Aspen Times über den “guten Doktor” sprachen. “Aber
an anderen zeigt sich, dass er hinter der Wilde-Mann-Rolle, die zu einem Teil seiner
Persönlichkeit geworden ist, weiterhin einer der intelligentesten und hellsichtigsten
Beobachter der politischen Szene ist.”

Im Augenblick gilt Hunters Wut Aspens drohender Disneylandisierung. Die Eröffnung ei-
ner Filiale der Kino-Memorabilia-Restaurant-Kette “Planet Hollywood” in Downtown hat
das Fass zum Überlaufen gebracht. Hunter ist in die Offensive gegangen.

“Früher kamen diese Leute hierher, um Hollywood zu entrinnen, heute schleppen sie
ihre Bodyguards, PR-Agenten und Paparrazzi gleich mit an”, hämmerte er in einem In-
terview los, das eigentlich Erkundungen über eine neue Sparte seines Schaffens dienen
sollte: Hunter ballert im Dienst der Bildenden Kunst auf Gemälde ein.

Eine Ausstellung zusammen mit William S. Burroughs, einem anderen Partisanen-


Poeten, der seit Jahren Kunst schießt, ist in Vorbereitung. Doch darüber wollte er nicht

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viel reden, sondern lieber von seinem jahrzehntelangen Kampf gegen die Gierköpfe,
die Aspen ausverkaufen.

“Diese Schweine legen sich einen Hamster zu und nennen das Viehzucht, nur damit sie
keine Steuern für ihr Land zahlen müssen. Und zur gleichen Zeit geht die öffentliche
Bücherei ein, weil Geld fehlt ... Die Hollywoodleute sollten lernen, die Stadt zu respek-
tieren, statt sie wie ein Filmset zu behandeln, eine Station auf ihren Publicity-Trips.
Das sind keine Menschen, das sind Morfs - vom Computer erschaffene Wesen ohne
Substanz, durchsichtige Strata-Strukturen. Der Sheriff hat es den CNN-Leuten vor ein
paar Wochen klar gesagt: ‘Zu viele Leute leben hier von den Krumen, die vom Tisch der
Reichen fallen; das zerstört die Selbstachtung der Stadt.’”

Ein steile Auffahrt hinauf, und die Scheinwerfer erfassen den Fixpunkt aller rebelli-
schen Aspen-Folklore: die Owl Farm, ein großes dunkelbraunes Blockhaus. Was sein
Bewohner hinter den dicken Wänden angeblich treibt, verkörpert einen Lebensstil, der
die Besitzer der neuen Millionen-Dollar-Häuser nervös macht. Nicht nur von radikaler
Politik geht die Flüsterrede, sondern auch von Alkohol und Drogen, von Handfeuerwaf-
fen, jungen Mädchen und wilden, durchgeknallten Nächten.

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“Unsinn”, sagt Loren Jenkins. “Hunter ist sehr erfahren mit Waffen. Er weiß genau, wie
man damit umgehen muss. Sonst hätte er schon lange jemanden getötet.”

Der Hausherr erwartet den einfallenden Gästetrupp - den Bürgermeister, den Heraus-
geber der Aspen Times und den deutschen Reporter samt ihren Begleiterinnen - auf
einer Art Barhocker vor dem Counter, der die offene Küche vom Wohnzimmer trennt. Er
trägt eine dunkelgraue Trevira-Hose, über der ein tailliertes Hemd mit dunkelgrauem
Paisley-Muster hängt, sowie weiße Turnschuhe und weiße Strümpfe. Zur Seite steht ihm
ein sehr junges blondes Mädchen, das ein T-Shirt mit dem aufgedruckten Doktor-Gonzo-
Spruch trägt: “If the world gets weird, the weird get pro / HST 1993”.

“Hmmwmoh”, grüßt Hunter uns zufrieden grinsend und deutet auffordernd auf die
Zweiliter-Henkelflaschen Whisky und Rum und Wodka. “Nmt euch ws!” Er selbst hat ein
sehr großes und sehr volles Glas vor sich.

Stilistisch stellt Hunters Domizil die Fortsetzung der Woody Creek Tavern mit häuslichen
Mitteln dar: siebziger Jahre pur, vom allgegenwärtigen braunen Holzfinish über dunkel-
rote Stoffjalousien und braunes Steinmusterlinoleum bis zur New-Age-Kristallkugel, die
auf Zugriff mit Farbexplosionen reagiert. Der gewaltige Fernseher, der auch als Behelf-
skino einsetzbar wäre, läuft lautlos Stunde für Stunde.

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Auf der Kochplatte des Herds stehen Aktenordner ebenso in Reih und Glied wie in den
Regalen, die üblicherweise Töpfen oder Gewürzen vorbehalten wären. Memos, Clip-
pings und Fotokopien pflastern die Wände. Beachtlich ist die Ausrüstung, die Hunter
in das Küchenbüro gequetscht hat: zwei Anrufbeantworter, zwei Faxgeräte, drei Vi-
deorecorder, Sony-Anlage und Kopierer. Die Wohnküche macht den Eindruck, ein wild-
gewordener Bürokraten-Boss habe seinen Kommandostand im Heim einer Kleinfamilie
aufgeschlagen.

Auf dem Küchencounter thronen eine alte Kugelkopfschreibmaschine, ein funkelna-


gelneuer Powerbook und ein Tintenstrahldrucker, aus dem gerade zuckelnd der Grund
für Hunters Zufriedenheit quillt: das letzte Kapitel seines neuen Buchs. In ihm erklärt
Hunter seinem zwölfjährigen Sohn, wie er 1963 John F. Kennedy abgeknallt habe, und
warnt sodann vor Richard Nixon und dessen erneuter Machtübernahme.

“Du hast doch schon im Sommer gesagt, das Buch sei fertig?” fragt John Bennett.

“Waes. Zu fnfneunzg Prznt”, grinst Hunter.

Der “gute Doktor” lebt nachts. Sein Frühstück liegt nicht lange zurück, er nimmt ge-
rade den ersten Drink. Seine Aussprache zeugt nicht von fortgeschrittener Intoxikation,

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sondern nur von Vermeidung überflüssiger Anstrengung: “Jetzsines neununeunzg Prznt.


Gbtem Buch mhr Zapp!”

W as ist das?” fragt Loren und zeigt auf ein Mobile aus Glühbirnen und Patronenhül-
sen, das über dem Counter baumelt.

“Haich z Weiachn bkomn”, nuschelt Hunter und gießt sich aus der Zweiliterflasche
Whisky nach.

“Von deinem Freund Don Johnson?” fragt Loren Jenkins.

“Mitem haich Streit”, sagt Hunter.

Loren lächelt zufrieden. “Der ‘Planet Hollywood’ ist einfach ein schwarzes Loch. Da
gibt es wenig intelligentes Leben”, sagt er. “Der durchschnittliche Schauspieler ist noch
blöder als der durchschnittliche Football-Spieler. Dumme Leute, die viel Geld verdie-
nen.”

“Kenne Ausnhmn”, sagt Hunter Thompson.

Der Vergleich zwischen “alten” und “neuen” Celebrities ist ein Standard-Topos, wenn
Aspeniten das Schicksal ihrer Stadt diskutieren. Im Ergebnis läuft die Debatte stets

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darauf hinaus, dass die “neuen” Superreichen, die sich in den achtziger Jahren ein-
kauften, die Stadt ausnutzen und das Leben in ihr weniger liebenswert machen. Zu den
Übeltätern zählen Sylvester Stallone, Arnold Schwarzenegger, Cher, Michael Douglas,
Don Johnson und seine Frau Melanie Griffith, Disney-Chef Michael Eisner, Columbia-Chef
Peter Guber, Donald Trump, dessen Scheidung begann, als Ivana und Marla in Aspen
aufeinandertrafen, sowie der saudi-arabische Botschafter in den USA Prinz Bandar ibn
Sultan, dessen 40-Millionen-Dollar-Palast auf 5100 Quadratmetern über 26 Bäder und 15
Schlafzimmer verfügt.

Als “gute” Celebrities hingegen, die seit Jahren zur Gemeinde gehören, gelten allge-
mein die Ex-“Eagles” Glen Frey und Don Henley, John Denver, Chris Evert, Martina Nav-
ratilova, Robert Wagner, Jill St. John, George Hamilton, Goldie Hawn, Kurt Russell und
last not least Jack Nicholson.

“Jack ist in Ordnung”, gibt Loren Jenkins zu. “Dem stinkt der Hollywood-Scheiß. Der
lebt hier einfach als einer von uns. Aber dein Freund Don Johnson ...

“Habn gfrgt, warm er bm ‘Plnetn Ollwud’ mitmcht ...”


“Und?” fragt John: “Warum hat er sich darauf eingelassen?”

“Allsis teuer. D.J. brcht Gld.” Hunter schüttelt den Kopf.

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“Weil er nicht mal ‘ne ordentlich Rolle kriegen kann, will er unsere Stadt ruinieren”,
sagt Loren mitleidlos. “Das ist einer von den schlechten Schauspielern, die total in ihre
unwichtigen Egos verstrickt sind und nichts als Probleme machen. Leute wie Don John-
son wollen keine Alternative zu ihrem bisherigen Leben. Sie wollen ihre Luxusexistenz
in die Berge transportieren. Und sie wollen die Eingeborenen umerziehen, um sich dann
von uns bedienen zu lassen. Aber wir lassen uns nicht so einfach kolonialisieren.”

“Warm hst du’n meine Anzge dnn ncht gedrckt?” fragt Hunter und schiebt Nachschub in
den langen farblosen Plastikfilter, aus dem er seine Zigarettenketten raucht.

“Weil du die Anzeige 24 Stunden nach Anzeigenschluss gefaxt hast”, sagt Loren. “Da
war die Zeitung schon gedruckt.”

“Und was stand drin?” frage ich.

“‘Orgy of Scum’ lautete die Überschrift”, erklärt Loren. “Hunter hat die Orgie des Ab-
schaums beschrieben, die sich in Downtown Aspen abspielt.”

Um zu verstehen, was der “gute Doktor” da diagnostizierte, genügt ein Besuch des
Caribou Club. Derlei sagt sich für Normalsterbliche allerdings leichter, als es getan ist.
Zutritt wird nur Mitgliedern gewährt, und der geforderte Jahresbeitrag könnte eine
Durchschnittsfamilie über den Winter bringen.

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Wem es allerdings gelingt, in das exklusive Keller-Etablissement zu schlüpfen, findet


sich auf Anhieb zurecht. Vertrautheit mit einigen Folgen “Dallas” oder “Denver” reicht
hin, um Setting und Charaktere zu begreifen: Nicht Aussteiger aus dem Rattenrennen
um Geld und Ruhm treffen sich hier, sondern dessen hemmungslose Gewinner. Lifestyle
ist wichtiger als ein neues Leben. Geistesleere Mienen gelten für perfekte Schönheit,
Oberflächlichkeit für Stil. Die Männer sind, so sie nicht ihre Millionen vor der Kamera
verdienen, um die fünfzig, die Frauen in der Regel jung, sehr blond und tiefdekolle-
tiert. Und für die wenigen älteren Damen stimmt, was Woody Allen über den Effekt des
Faceliftings gesagt hat: Sie sehen nicht jünger aus, nur überrascht.

Auf den Ottomanen neben dem schwülstig-verzierten Kamin lümmelten sich Steven
Seagal und Jean-Claude Van Damme, als wir den Club betraten. Im Nebenraum speiste
eine Gesellschaft aus Kinogesichtern, deren Jahreseinkommen das Bruttosozialprodukt
von Somalia übertreffen dürfte. Ein Piano-Spieler erzeugte dazu das, was man wohl für
gepflegte Atmosphäre hält.

Die Häufung der Stars verdankte sich zum Teil der Einweihung des “Planeten Holly-
wood”. Dabei hatte Steven Seagal im Indianerwildlederjäckchen vor seinen Fans posiert
und gesagt, er verstehe die Aufregung der Bürger von Aspen nicht, die Stadt sei doch
ohne schon lange “ein weiteres Beverly Hills”. Als John Bennett diese Worte in der As-

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pen Times las, ist ihm der Kragen geplatzt. In einem offenen Brief an Seagal, Stallone
und Konsorten hat der Bürgermeister protestiert: “Für uns, die wir hier leben, arbeiten
und unsere Kinder aufziehen, sind solche Bemerkungen eine große Beleidigung.”

“Dieselben Leute”, schimpft er jetzt, “die uns den Hollywood-Lärm anschleppen, be-
schweren sich, dass es nicht mehr so schön ruhig und idyllisch sei! Bei so etwas koche
ich ...”

Der “gute Doktor” schweigt und lächelt buddhistisch.

“Wahrscheinlich haben die dich längst gekauft”, sagt Loren zu ihm. “Mit einem Multi-
Millionen-Dollar-Drehbuchvertrag.”

“Odr John!” sagt Hunter und schwört, er wolle beobachten, wie teuer der nächste Wa-
gen des Bürgermeisters ausfallen werde. In den Großstädten, wo die Morfs herkämen,
arbeiteten sie mit Korruption, warum sollten sie es in Aspen anders halten?

“Ach”, sagt John Bennett. “Und wer benutzt unsere Polizei als Taxiservice? Wenn das
nicht totale Korruption ist ...”

“Bssr, als sich besffn schnppen zulssen”, lächelt Hunter und gibt zu, dass ihn neulich
ein Hilfssheriff nach Hause gefahren hat, einer von zwei alten Party-Partnern aus den
Sechzigern, die jetzt das lokale Gefängnis leiten.

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“Früher oder später könnten wir alle mal da landen”, sagt Loren Jenkins. “Es ist gut zu
wissen, dass dann auf der anderen Seite Freunde stehen.”

Hunter geht zum Kühlschrank, holt neues Eis und gießt sich einen Viertelliter Whisky
nach. “Wr hbn n Hfn ...”, setzt er im Vorbeigehen an und legt mir die Hand auf die
Schulter.

“Ich glaube”, unterbricht ihn Loren und zeigt auf mich, “unser neuer Freund versteht
nicht alles, was du sagst.”

Hunter grinst und macht zum ersten Mal heute Nacht den Mund richtig weit auf: “Ich
wollte nur sagen, weil wir die ganze Zeit einen Haufen über Lokalpolitik reden, musst
du nicht glauben, dass das unser einziges Interesse sei. Politik ist eine Metapher. Für
die wahren Leidenschaften. Nur ein Idiot wie Nixon konnte meinen, Politik sei besser
als Sex.”

A m nächsten Mittag trägt uns, sobald der Restalkohol es erlaubt, ein Lift hinauf in
die kristallklare, immer dünnere und kältere Luft. Weit unter uns gleiten lautlos wie
Gondeln winzige Wagen durch die Kanäle, die der Schnee gelassen hat. Die Bäume ent-

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lang der Piste gleichen gepuderten Metallskulpturen, und ein Stück weiter hat der Wind
die Felsen und ihre Kanten und Ecken so weich in gefrorener Wolle verpackt, als seien
sie zerbrechliches Gut und ihre Verschiffung geplant. Ganz oben in den Bergen grenzt
Aspen an den Himmel. Und ganz unten, wo der Caribou Club bald seine Pforten öffnet,
vielleicht auch an die Hölle.

Wie sie die gewaltigen Veränderungen vom idyllischen Aspen der vierziger Jahre zur
Celebrity-City verkrafteten, habe ich Dick und Margaret Durrance gefragt, als ich sie in
ihrem Townhouse in Snowmass besuchte.

“Ach”, sagte Dick Durrance, “ein Teil von uns hat immer in den Bergen gelebt, und die
Berge verändern sich nicht.”

Inzwischen jedoch ist ein Zeitpunkt abzusehen, da auch im Roaring Fork Valley die
Berge knapp werden, auf denen weder 1000-Quadratmeter-Villen thronen noch freizeit-
bewegte Menschenmassen ihre Furchen ziehen. Die Furcht, Aspen könne als weitere Fa-
talität in die Geschichte rücksichtsloser Zivilisierung eingehen, ist Bürgermeister John
Bennett nicht fremd. “Meidet die Reichen, geht ihnen aus dem Weg”, diesem Ratschlag
zu folgen, den Thornton Wilder einst Peggy Clifford gab, ist jedoch fast unmöglich ge-
worden.

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“Von Tahiti bis Torremolinos - wo man hinsieht, überall ist schon derselbe Mist gesche-
hen”, sagte John Bennett bei unserem ersten Gespräch im Rathaus. Die Miene des sonst
so sanften Rebellen zeigte für Sekunden Ingrimm: “Die schönen Plätze sind allesamt
erschlossen. Wir können nicht mehr nach alter Western-Tradition einfach weiterziehen.
Wir müssen kämpfen, damit Aspen niemals so wird wie Beverly Hills. Und wir kämpfen
darum, so gut wir können. Das hier ist immer noch ein wilder, ungewöhnlicher Flecken
Erde mit einem Haufen wilder, ungewöhnlicher Menschen.”

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Dieses Werk ist unter ei- Impressum


nem Creative Commons
Namensnennung-Keine Druckgeschichte
kommerzielle Nutzung- Aspen (stark gekürzt erschienen unter dem Titel: „Aspen: Ein weißer Fleck”, Pseudonym
Keine Bearbeitung 2.0 Harry Mann). In: MERIAN, Juni 1994, S. 88-95.
Deutschland Lizenzver-
trag lizenziert. Um die
Digitaler Reprint
Lizenz anzusehen, ge- Dieses Dokument wurde von George und Gundolf S. Freyermuth in Adobe InDesign und Adobe Acrobat erstellt
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Über den Autor
einen Brief an Creative Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs Internationale Filmschule
Commons, 171 Second Köln (www.filmschule.de). Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.
Street, Suite 300, San
Francisco, California
94105, USA.

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