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Saitenblicke

Mit jeder Flocke Schnee fiel eine weiße Taste und ein Hämmerchen hob sich weiter hinten im
Klangkörper. Grazil und wie in Trance trafen ihre Finger die einzelnen Tasten des Flügels und es
schien als wolle sie sich hinfort spielen, in eine andere Welt, in eine bessere Welt. Was passierte
eigentlich mit ihr, wenn sie es tät? Würde sie jemand vermissen? Sie wusste es nicht. Würde sie
jemanden vermissen? Sie wusste es nicht. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sich ein Hämmerchen
mal nicht auf Tastendruck erheben würde, um eine Saite anzuschlagen.
Es wäre still. Sie war ein Hämmerchen in einer Gesellschaft, deren oberste Schichten die Saiten
waren, die nach außen den Klang gaben.
Sie wollte nicht Hämmerchen sein. Sie wollte Klang sein, aber Klang konnte sie nicht sein. Niemand
konnte ein Klang sein in einer stummen Welt, in der es keine Klänge gibt. Alle waren sie stumm. Und
taub. Weder sagte, noch hörte man etwas. Das eine resultierte aus dem anderen. Ihre Finger begannen
sich nun schneller zu bewegen. Sie wurde nervös und geriet in Ekstase.
Sie versuchte nur an die Klänge des Flügels zu denken. Dann kamen die Saiten wieder in ihre
Gedanken. Sie schnitt sie mit einer Schere durch – aber die Schere war nicht real. Die Saiten schon.
Die Klänge bohrten sich in ihr Gehör. Tränen drängten sich zwischen ihren geschlossenen Lidern nach
außen hervor, um dann von ihrer nackten Schulter abgenommen zu werden.
Ihr Kleid war schwarz. Es war das Kleid, was sie damals beim Kennenlernen mit ihm getragen hatte.
Und auch auf seiner Beerdigung.
Dieses Kleid wusste mit Tränen umzugehen. Sie wusste es nicht.
Die Hämmerchen ließen die Saiten nicht mehr ruhen und sorgten für eine alles übertönende
Geräuschkulisse.
Sie konnte nicht mehr. Die Hämmerchen verstummten. Ihre Augen öffneten sich und glitzerten in grün
und blau. Sein Gesicht kam ihr wieder in den Sinn. Ihre Brust wurde kalt. Ihr Herz begann zu rasen.
Was sollte sie nur tun? Es war wieder soweit. Sie war am Ende. Vollkommen am Ende. Niemand in
der Nähe. Sie war in ihrem Elternhaus, am Waldrand, alleine.
Draußen wogen sich die Bäume verständnisvoll im Winde. Sie sehnte sich nach Liebe. Nach
Verständnis. Nach Zugeständnissen.
Bar jeder Schuhe trat sie nur in ihrem, nein, in seinem, schwarzen Kleid nach draußen in den frisch
gefallenen Schnee.
Mit jedem ihrer Schritte schmolz eine kleine Masse weiß unter ihr weg. Sie hatte nicht kalt. Zwanzig
Schritte vom Haus entfernt drehte sie um. Nach kurzer Zeit war sie wieder draußen im Schnee und sah
zu den sich umarmenden Bäumen hin. Sie waren eng verwoben mit ihren Zweigen. Sie neigten sich
zueinander.
Sie zitterte kurz. Nicht wegen der Kälte, sondern aus Trauer. Sie schien seine Hand auf ihrem
Schulterblatt zu spüren und erschrak. Er war nicht da. Tränen rangen über ihre Wangen. Ein Fluss aus
Tränen erstreckte sich über ihr ganzes Gesicht – doch sie schritt weiter durch das Weiß auf die Bäume
zu. Diese grünen Tannen erschienen ihr gerade zu vertrauensvoll mit ihren vielen Zweigen, Ästen und
ihrer Farbe.
Nach gut zweihundert Schritten drehte sie sich ein letztes Mal um:
Sie blickte zurück auf ihre Vergangenheit. Ein weißes Landhaus mit englischem Garten und einem
Flügel vor diesem im Kaminzimmer. Der Kamin war aus. Sie sah nur weiß. Kein grauer Rauch stieg
empor. In dieser Entfernung verlor der braune Parkettboden seine Farbe und war nur noch hellgrau.
Zum letzten Mal wischte ihre Hand ihre Augen frei, während die andere sich den Tannen nährte.
Nachdem sich das Schneegewitter am nächsten Tag gelegt hatte, konnte man vom Flügel aus eine
schwarz-weiße Gestalt in den Tannen erkennen. Es war als schwebte sie. Alles war hell, aber dem
Flügel fehlte eine Saite.

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