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Fehlende Leere und endgültige Fülle

Mit schnellen Schritten ging er den rutschigen Kopfsteinpflasterweg zum großen Portal
entlang. Aus den Augenwinkeln beobachtete er wie in der unangenehmen Dunkelheit ein
Tropfen nach dem anderen vom Boden zuerst noch aufgesogen wurde, sich aber dann zu einer
großen Lache ansammelte. Dies störte ihn nicht, da die Kälte ihn ins wärmere Innere des
Gebäudes trieb. Mit immer größer und schneller gesetzten Schritten eilte er mittlerweile
zielgerichtet auf das Portal zu, bis er keine zehn Meter vor seinem Ziel bemerkte, wie sein
rechter Fuß wegrutschte auf dem glatten Pflaster, er das Gleichgewicht verlor und im nächsten
Moment mit dem Gesicht in einer Wasserlache neben dem gut zwei Meter breitem Weg
landete. Das eisige Wasser holte ihn zurück ins Jetzt. Nachdem er einen kurzen Augenblick
wie paralysiert in der Lache lag, erhob er sich langsam und blickte sich um: keine zehn
Schritte vor ihm tat sich das große, dunkle Eichenportal auf und um ihn herum war gähnende,
schwarze, bedrohliche Leere. Die letzten Schritte setzte er besorgt etwas vorsichtiger,
während seine Gedanken wieder an einem anderen Ort angelangt waren. An einem Ort, wo es
keine schwarze Leere gab, sondern helle Leere. Wenn man so wollte, dachte er, rote Leere.
Mit Mühe zog er das Portal mit seinem rechten Arm auf und betrat das steinerne Gebäude.
Seine Schritte hallten aus allen Winkeln des Konstrukts wider, aber er beachtete das Hallen
nicht. Er konnte es nicht sehen, damit war es für ihn unwichtig; fühlen konnte er es schon gar
nicht, ein Grund mehr, warum er es nicht realisieren konnte. Warum sollte er sich überhaupt
um ein Hallen kümmern. War dies nicht mehr als ein notwendiger Übel, eine materielle
Konsequenz seiner natürlichen Schritte? Ein physisches Übel. Das war es. Nicht Mehr.
Plötzlich wurde das Dunkel von einem grellen Licht erfüllt. Aber so schnell, wie es
gekommen war, so schnell war es auch wieder verschwunden und an seine Stelle war ein
lautes Grollen getreten. Armin blickte aus den verzierten Glasfenstern und sah das Abbild der
Kreuzigungsszene: Jesus am Kreuz, blutend; Maria davor, weinend.
Armin wand seinen Blick vom Fenster ab und blickte das Kirchenschiff entlang zum
schweren, grauen Altar. Dieser war verziert mit einem Tryptichon, welches das jüngste
Gericht nach Memling darstellte.
Vor Ehrfurcht senkte Armin den Kopf und schloss die Augen, als er vor dem Altar kniete und
das Kreuzzeichen schlug. Er spürte, wie ihm Tropfen für Tropfen der Schweiß das Gesicht
herunter rann; wie Blut, das aus einer Wunde strömt, bedeckte der Schweiß sein Gesicht. Er
zitterte vor Aufregung und Ehrfurcht. Um Gnade flehen würde er vor keinem Menschen. Kein
Mensch war es Wert, um Gnade angefleht zu werden, dafür gab es nur ein Wesen, das des
Anflehens würdig war: Gott.

Eine rote Rose. Das war das Geschenk gewesen. Glücklich wurde sie übergeben und mit
Freude wurde sie empfangen. Empfangen wurde auch eher mit euphorischer Umarmung und
einem zärtlichen Kuss auf den Mund, dessen Winkel sich nach oben zogen und ein warmes
Lächeln andeuteten.
Im Alltag war dies etwas Besonderes; sie kannten sich noch nicht sehr lange, kennengelernt
hatten sie sich erst vor einem Monat und das auf einem Konzert. Es war eines dieser
langweiligen, lokal Konzerte gewesen, wo man aus reiner Solidarität der Freunde in der Band
gegenüber hinging. Er hatte sich nicht erhofft dort jemanden kennenzulernen, mit dem er sich
auch in den darauf folgenden Wochen noch getroffen hätte, aber es kam anders, wie jedes Mal
im Leben, wenn man eine Möglichkeit rational versucht auszuschließen.
Er hätte es wissen sollen, schließlich war er doch Philosophie Student von Herzen.
Aber der Mensch konnte nun einmal nicht alles wissen, also intervenierte das Schicksal und er
schlug Profit aus seinem Besuch des Konzertes.
Der Profit war eine schöne junge, grünäugige, brünette Frau in seinem Alter. Sie hatten nach
einer Stunde aus Zufall nebeneinander gestanden, bis er sich ein neues Bier holen wollte,
woraufhin er dann hinter ihr ausgerutscht war und sie fast mitgerissen hätte. In diesem
Moment war sein Gesicht knallrot und er entschuldigte sich vielmals. Sie lachte nur, die ganze
Zeit hatte sie gelacht und konnte sich nicht mehr einkriegen. Es war wie im Film, dachte sie,
und nun fragt er, ob er mir einen ausgeben kann. Und das tat er und offen wie sie war, ließ sie
sich darauf ein. So waren sie nach zwei Wochen Ausgehen und Lachen ein Paar.
Seit diesem Tag stand täglich eine rote Rose auf dem Tisch vor dem alten Ledersofa. Die
ganze Wohnung war erfüllt von sanftem, süßlichem Rosenduft, den die beiden immer
besonders dann vernahmen, wenn sie zusammen auf dem Bett lagen und sich in die Augen
blickten.
Gegen zehn morgens mussten sie beide zur Uni und gegen sechs abends kamen sie beide aus
der Uni und sind dann gemeinsam in die Stadt gefahren, um dort zu feiern und Spaß mit ihren
Freunden zu haben.
So sah jeder zweite Tag der beiden aus, wobei die Wochenenden noch ausgelassener waren.
An ihrem ersten Jahrestag waren sie gemeinsam zum Griechen gegangen. Dort saßen sie an
einem vornehm gedeckten Tisch mit einem Strauß aus zwölf roten Rosen darauf.
Von Gemälden umgeben, die verschiedene mythologische Geschichten darstellten, wie das
Erlegen des Ebers durch Herkules Hand, die Überfahrt über Lethe oder Eros armiert mit Pfeil
und Bogen auf der Suche nach einsamen Menschen. All dies gefiel den beiden, aber vor allem
Veronika gefiel es. Sie, als Theologie und Geschichtsstudentin, war fasziniert von der
Mythologie, der Religion und allem, was die Menschheit Kultur nennt – in diesem Falle
geschichtliche Kultur.
Nach dem Essen hatte Armin sie noch auf ein klassisches Konzert eingeladen. Gespielt
wurden Lieder der Carmina Burana. Auch diese hatten Veronika fasziniert, hatte sie doch
einzelne Textpassagen bereits einmal in ihrem Studium vorliegen gehabt.
Alles in allem war der Abend für beide großartig gewesen. Und so verliefen auch die weiteren
drei Jahre, in denen sie zusammen studiert hatten.
Dann war der lang ersehnte Tag gekommen: die Studienzeit sollte enden und die beiden
sollten sich endlich um eine feste Anstellung bemühen können.
Sie fuhren diesmal getrennt in die Uni, um noch ihre Sachen einzusammeln und sich von den
Kommilitonen und Professoren zu verabschieden.
Als Armin gegen halb acht wieder zu Haus ankam erwartete er Veronika bereits auf dem Sofa
sitzend, von dem sie sofort aufspringen würde, sobald sie ihn hätte sehen können.
Aber das Sofa war leer.
Vor ihm stand die Rose, mittlerweile eher bräunlich als rot.
Sie hatten wohl vergessen das Wasser nachzufüllen. Der Anrufbeantworter blinkte, als Armin
mit der Vase in die Küche kam, um Wasser nachzufüllen. Sorgenlos hörte er die Nachricht ab,
während das Wasser sich seinen Weg in die Vase bahnte. Plötzlich klirrte es und die Vase
zerschellte auf dem Küchenboden, wo sie ihren gesamten Inhalt preis gab.
Armin war wie versteinert. Er drückte erneut ruckartig auf den Knopf am AB, doch die
Nachricht blieb dieselbe. Er ließ das Wasser laufen, lief zurück ins Wohnzimmer, schnappte
sich die Autoschlüssel, rannte das Treppenhaus hinunter ohne darauf geachtet zu haben, ob er
nun als Automatismus die Tür abgeschlossen hatte, oder nicht, stieg ins Auto ein, rannte dabei
noch eine ältere Frau mit Einkaufstüten fast um, entschuldigte sich im Rennen 10 Meter hinter
ihr bei ihr und fuhr los.
Das Krankenhaus war keine sechs Straßen von ihrer Wohnung entfernt, aber bei
Berufsverkehr konnte es gut fünfzehn Minuten dauern, bis er angekommen wäre. Er beschloss
das Auto irgendwo zu parken, er fände es schon wieder, stieg aus und rannte so schnell er
konnte direkt in Richtung Krankenhaus.
Zu Hause rann das Wasser noch aus dem Hahn, die Wohnungstür war abgeschlossen und der
Küchenboden war wieder getrocknet, als er zurückkam.
An der Wohnungstür fand er einen Zettel, der die Sorgen der Nachbarn über die Stille in
seiner Wohnung ausdrückte. Darüber klebte ein weiterer Zettel, der Beileid aussprach.
Vor drei Tagen war sein Leben zerbrochen, vor drei Tagen war hatte alles seinen Sinn
verloren. Vor drei Tagen, wurden die letzten drei Jahre seines Lebens annulliert.
Kaum war er in der Wohnung schaltete er das Wasser ab, warf sich auf das Sofa und wartete.
Er wollte warten, bis er braun geworden war und man ihn wegwerfen würde.

Fünf Jahre später wollte er sich nicht mehr an sein Studium erinnern.
Er war in eine neue Wohnung gezogen, mit einer neuen Frau, mit einem neuen Beruf und ihn
erwartete eine neue Zukunft. Täglich bangte er, dass sie nicht auch mit seinem Leben
zerbrechen würde.

Für die darauffolgenden neun Jahre blieb diese Angst auch aus – alles lief bestens für ihn und
für sie, Anette. Bis man ihm eine Professur angeboten hatte für Philosophie, seine ganzen
Träume waren Realität geworden und er war mit Mitte vierzig Professor der Philosophie an
einer renommierten Universität geworden.

Während eine Träne seine Wange überquerte, dachte er nach, ob das vielleicht sein Fehler
gewesen sein sollte; die Zusage zur Professur hatte ihm alles gegeben und wieder genommen.

Nach einer seiner ersten Vorlesungen lernte er eine Studentin kennen, die ihn an Veronika
erinnert hatte. Sie unterhielten sich lange und diskutierten über ihre differierenden Ansichten
bis spät in den Abend. Oft kam Armin spät nach Haus, aber Anette frug nicht weshalb. Sie
akzeptierte diesen Fakt einfach und gab sich mit allem zufrieden.
Als eines Abends jedoch Armin gar nicht nach Hause kam, wurde sie misstrauisch und wollte
ihn auf dem Handy erreichen, doch da ging er nicht ran. Sie ruf in der Uni an, aber man
versicherte ihr, er sei bereits vor gut vier Stunden vom Gelände weggefahren. Sie war
aufgebracht und zog sich an, um ihn zu suchen; sie wusste nicht wo und warum, aber ihre
Intuition gab ihr das vor.
Plötzlich klingelte das Telefon. Sie meldete sich und wollte direkt wieder auflegen. Das
Krankenhaus. Ein Autounfall. Eine Not OP. Schwärze.

Dreißig Jahre später rollte ein schwarzer Wagen vor einer Kirche vor, aus dem eine alte Dame
einem noch älteren, gebrechlich wirkenden Herren in grauem Nadelstreifen Anzug half; er
stand aus dem Rollstuhl auf und ging ein paar zögernde Schritte auf dem
Kopfsteinpflasterweg. Er wusste, dass er nicht mehr viel gehen können würde, da er seinen
endgültigen Weg antrat, daher ging er die letzten, ihm verbleibenden Schritte, mit gestandener
Würde, mit ungebrochenem Stolz, mit standhafter Liebe zu allem, was ihm teuer war. Im
Auto saß eine jüngere Frau Anfang 30 mit langen blonden Haaren und ein Mann in ihrem
alter mit dunkelbraunen, gescheitelten Haaren.
Sie blickten dem alten Mann hinterher auf seiner Passion. Er trug eine unglaublich schwere
Bürde mit sich. Als er kurz vor dem Portal ausrutschte, wollten alle drei sich zu ihm
aufmachen, aber er deutete durch das Schütteln seines nur noch leicht behaarten Hauptes an,
dass er keine Hilfe wolle und bräuchte. So warteten sie, bis er zurückkam.

Armin brach in Tränen aus, öffnete seine Augen und blickte das drei Meter große, hängende
Kreuz über ihm an. Er versuchte in die Augen des fleischgewordenen Gottes zu blicken und
dort seine Antwort und Gnade zu finden. Er fand nichts in ihnen. Ein erneuter Blitz mit
anschließendem Donnergrollen ließ Armin zusammenzucken. Immer mehr bröckelte der
Stolz, die Hoffnung, die Liebe, ja sogar die Würde des alten Mannes.
Je mehr Tränen auf den Steinboden fielen, umso weniger blieb ihm.
Nach dreißig Minuten öffnete sich langsam das große Portal durch die faltige, eingefallene
Hand einer Frau. Hinter ihr kam das junge Ehepaar mit einem Rollstuhl in das Gotteshaus.
Der vor dem Altar kniende Schatten bemerkte die drei anderen noch nicht und griff mit seiner
rechten Hand in die linke Innentasche seines Jacketts. Dort holte er eine getrocknete rote Rose
und ein kleines Kreuz heraus und legte es vor das Tryptichon am Altar. Als er das
Kreuzzeichen geschlagen hatte, legte sich sanft die faltige Hand der Alten auf seine Schultern
und er wusste, dass er das letzte Mal in seinem Leben einen Schritt tun würde.
Er setzte sich stumm in den Rollstuhl und lies sich aus der Kirche schieben, zurück in die
Fülle draußen, mit der Leere in seinem Innern. Kurz vor dem Portal bedeutete er dem jungen
Mann zum letzten Mal zu stoppen und ihn den Altar anblicken zu lassen, dann, nachdem er
dem Kreuz einen verschwommenen Blick zugewandt hatte, ließ er sich den Weg zum Auto
schieben.

Um Gnade hatte er gefleht auf Knien. Die erste Hälfte seines Lebens verbrachte er stolz,
aufrecht und gerade gehend, die zweite verbrachte er gebrochen, sitzend. Sein Ende
verbrachte er still, in einem Zustand der Leere. Man konnte ihm nichts mehr nehmen.
Denn er hatte alles gegeben.

Eine rote Rose, damit hatte alles begonnen. Eine rote Rose, damit begann jede Woche für
Anette. Eine rote Rose, begleitet von kristallklaren Tränen, legte sie wöchentlich auf das von
Efeu umwachsene Grab ihres Mannes.

„Solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn der Tod da ist, dann sind wir nicht da.“

Es gab keine endgültige Leere. Es gab nur Fülle.

Bei diesem Gedanken brach Anette zusammen und verließ von ihrer Tochter und ihrer
Enkelin gestützt den Friedhof.

Die Rosen zählte sie. Die Rosen waren es, von der sie ihrer Enkelin noch erzählte.

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