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Ulrich Kobb£

DISKURSE DES SOZIALEN: VOM KULTURELLEN RAUM


ZWISCHEN DEUTSCHEN UND FRANZOSEN

«DISCOUPS DU SOCIAL: L'ESPACE CULTUREL


ENTRE ALLEMANDS ET FRANCAIS»

Vortrag während eines Seminars des Internationalen


Sozialdienstes "Das Kind und seine Familie in Frank-
reich und in der Bundesrepublik" vom 7. bis 9. März
1994 in Homburg/Saar

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,


mesdames, messieurs et chers confreres,

wie der Vortragstitel bereits andeutet, werde ich kein


Fachreferat im engeren Sinne halten, sondern eine Art Vor-
wort zum Referat von Monsieur Potin. Das heißt, ich werde
vielmehr einige Anmerkungen zu deutschem Verständnis fran-
zösischen Denkens machen - dies nicht ohne inhaltliche Ver-
kürzungen, politische Exkurse und plakative Sprach-BiIder;
eben als - wie Derrida (1988, 13) anmerkt - in der Überset-
zung enthaltene Setzung, als vom französischen in den deut-
schen Kontext hinübersetzende und über diesen hinausgehen-
de, darübersetzende Setzung im sozialen und familiären
Raum, der das Wohl des Kindes bestimmt. Versucht werden
soll also ein hin- und herüberversetzender Brückenschlag
(Lortholary 1989) über den Rhein, eine überbrückung kultu-
reller Zwischenräume von Deutschen und Franzosen (siehe
Philippon 1981).

DAS SOZIALE - «LE SOCIAL»

Das "Soziale", «le social», ist nicht bloß Sache eines sub-
stantivierten Adjektivs, das es im Deutschen als Substantiv
so nicht gibt und gerade deshalb manchen Unterschied ver-
deutlicht. Dieses von Donzelot (1977) eingeführte Abstrak-
tum definiert den Raum der Familie, indem ein gesellschaft-
licher Raum als eigener Sektor beschrieben wird, der durch
die Gesamtheit der gesellschaftlichen Institutionen, Tech-
niken und Strategien gebildet wird und in der Beziehung
- 2 -
zwischen Individuum und Staat angesiedelt ist.-
Das Jugendgericht sei das Soziale par excellence, kommen-
tiert Deleuze (1977, 244): Denn unter dem juristischen Ap-
parat verbergen sich eine andere Organisation, andere Zie-
le, andere Figuren, nämlich Honoratioren als Beisitzer, Er-
zieher als Zeugen, ein ganzer Kreis von Vormündern und
Technikern des Sozialen, die - wie er schreibt - "der ge-
platzten oder »liberalisierten« Familie nachstellen". Damit
entsteht das Soziale mit einem Flottierurigssystem jenseits
der Rechtsprechung, da "Normen das Gesetz" und "Regula-
tions- und Korrekturmechanismen den Standard ersetzen" (De-
leuze 1977, 251).
Die so skizzierte "Zirkularität von Staat und Familie" je-
doch führe - so Baudrillard (1978, 65) - zur Neutralisie-
rung, zur "Agonie des Realen" und lasse "absolut kein" Pro-
jekt oder Subjekt mehr erkennen - es sei denn eine "Implo-
sion des Sozialen", «une Implosion du social»; typisch
französische Denkfiguren und Formulierungen, deren Sinn zum
Teil assoziativ erschlossen werden muß und sich hier unter
anderem beispielsweise auf den Begriff der phonetischen Im-
plosion aus Ferdinand de Saussures Sprachwissenschaft be-
ziehen (Baier 1986, 29).

DIE FAMILIE - «LA FAMILLE»

Die angesprochene Familie, «la famille», selbst sie birgt


Überraschungen in sich: Obwohl beziehungsweise weil im 18.
Jahrhundert aus dem Französischen übernommen, meint sie
nicht einfach nur alle unter einem Dach wohnenden Personen,
Ctoutes l es personnes qui vivent dans une mesme maison,
sous un mesme chef» wie das Dictionaire de l'Academie Fran-
caise von 1694 definierte. 'Familie' bedeutet für uns die
eigene Klein- oder die Ursprungsfamilie, in Frankreich hin-
gegen mehr: «J'ai de l a famille ä Paris» meint keineswegs
in der Hauptstadt wohnende Schwester, Bruder oder Eltern-
teil, eher irgendeinen unter Umständen weitläufigen Ver-
wandten. Und auch die Floskel «Et ta famille?» führt Deut-
sche oft zur keineswegs erfragten Erklärung, man sei noch
- 3 -
nicht verheiratet - habe also noch keine eigene Familie -,
oder zur Angabe des Wohnorts der Eltern (Müller 1989, 312-
313). Damit geht der semantische Raum des französischen Be-
griffs «famille» über die deutsche Familiendefinition hin-
aus, denn er dient auch der Abgrenzung zu den <Kcfens», den -
fremden- 'Leuten', die als Andere eben nicht zum Familien-
verband gehören (Brice 1992, 99, 105).

DER STAAT UND SEINE BÜRGER - «L 'ETAT ET SES CITOYENS»

Die Unterschiede betreffen noch mehr als das, nämlich die


unterschiedliche Rolle der einzelnen Mitglieder und die Be-
ziehung Staat - Familie. Die bürgerliche Gesellschaft
Deutschlands hat historisch andere Wurzeln als die franzö-
sische: Der deutsche "Bürger" ist in der französischen
Übersetzung gleichwohl «bourgreois» und «citoyen», bei uns
semantisch hingegen nichtadlig-nichtproletarischer Mittel-
stands- und Staatsbürger - eine abgrenzende Definition, die
auch zur Auf- und Abwertung des "bürgerlichen Westens" ge-
gen den "sozialistischen Osten" Deutschlands beitrug (von
Thadden 1989, 218-219). Damit aber sind Bourgeoisie und
Bürgertum nicht identisch, wenngleich auch nicht zusammen-
hangslos, und steht die französische Gesellschaft - anders
als die deutsche - in einer ebenso jakobinisch-revolutionä-
ren wie nachrevolutionär-restaurativen Tradition (Ferner
1982, 69-77). Ersichtlich wird dies beispielsweise daran,
daß sich in Deutschland der Grundrechtskatalog in den ers-
ten 17 Artikeln des Grundgesetzes des Jahres 1949 findet,
er in Frankreich hingegen im wesentlichen durch die in den
Verfassungspräambeln der Jahre 1946 und 1958 wiederholten
Menschen- und Bürgerrechte aus dem Jahre 1789 bekräftigt
wird (Dupuy 1989, 214-215). Damit wird exemplarisch deut-
lich, daß der französische «citoyen» Repräsentant,, Ergebnis
und Träger einer Idee bzw. eines Ideals, von der Inte-
ressenlage der Stadt-Land-Bevölkerung her Jedoch antagoni-
stischer ist als der einer nivellierten Mittelstandsge-
sellschaft angehörende deutsche Bundesbürger (Sontheimer
1989, 204). Jenseits der nationalen Unterschiede zwischen
- 4 -
dem «ensemble des citoyens», der französischen Gemeinschaft
der Bürger, und den im obrigkeitsstaatlichen Deutschland zu
Zucht und Ordnung erzogenen Staatsdienern (Forte 1982, 88)
verweist diese Unterscheidung aber auch auf die intrapsy-
chisch radikal differenten Gefühlshaushalte von Bourgeois
und Citoyen, die jeder von uns umschalten und leben kann
(Heller 1981, 297-311).

Im konkreten Verhältnis von Staat, Familie und Individuum


sind in Deutschland 'Familienpaß', 'Familienmitglied' und
'Familienurlaub' zwar von außen vorgenommene, staatliche
Begriffe, doch wird die Erziehung in der Lebensphase Kind-
heit bereits im Grundgesetz (Artikel 6, Absatz 2*) und in
der alten Bundesrepublik auch im Alltag als Aufgabe und
"natürliches Recht" der Familie unter Verantwortung der El-
tern begriffen: Folgerichtig erlebten nach 1989 die neuen
Bundesländer die sukzessive Abschaffung von Ganztageskin-
dergärten und ähnlich staatlichen Dispositiven. In Frank-
reich hingegen haben Kinderkrippen {€les creches»), Kin-
dergärten («l es jardins d'enfants») und Vorschulen («l es
ecoles maternelles») traditionell umfassende und gesell-
schaftlich anerkannte erzieherische Aufgaben (Müller 1989,
313-314), wobei allerdings gerade in den letzten Monaten
(wieder) der Frankreich entsprechend auf die Straße trei-
bende Versuch gemacht wird, private gegen staatliche Schu-
len auszuspielen (de Leotard 1993; 1994a; 1994b).

Zugleich existierte im deutschen Jugendwohlfahrtsgesetz die


"elterlichen Gewalt" im waltenden Eltern-Kind-Verhältnis,
in Frankreich hingegen die «puissance paternelle» für die
väterliche Gewalt in der patriarchalisch verfassten Fami-
lie. Während der oszillierende Gewaltbegriff bei uns von
der "elterlichen Personensorge" abgelöst wurde und diese
als Sorgepflicht für das Kind wie Sorgerecht um das Kind
verstanden werden kann, konvertierte er im Französischen
mittlerweile zur «autorite parentale», zur elterlichen Au-
torität - ein Begriff, der auch auf die Autorenschaft der
Eltern für ihre Kinder und deren Wohl, nicht nur ihre Auto
- 5 -
rität über sie verweist.
Daß sich damit auch im juristischen Kontext Probleme der
Kommunikation und übertragbarkeit ergeben müssen, ist evi-
dent und wird dennoch nicht unbedingt bedacht: Verwundert
habe ich das 1992 erschienene Buch von Zieschang zum Ver-
gleich des Sanktionensystems in der Reform des französi-
schen mit dem des deutschen Strafrechts zur Kenntnis ge-
nommen, in dem mit keinem Wort das Problem der Übersetzung
oder übertragbarkeit erwähnt wurde. Dies, obwohl es nach
dem Europa-Glossar der Rechts- und Verwaltungssprache
(1972, 65-66) für eine Reihe deutscher Rechtsinstitute im
Französischen weder inhaltsgleiche Übersetzungen noch be-
griffliche Entsprechungen gibt.

DAS SYMBOLISCHE UND DAS GESETZ - «L.E SYMBOLIQUE ET LA LOI»

Daß abgesehen von diesen Übersetzungsproblemen noch ganz


andere und meines Erachtens wesentlichere Aspekte aufge-
zeigt werden müssen, wird beim Blick in die Literatur der
GRAPE** zum «placement familial», zur Unterbringung von
Kindern oder Jugendlichen in Pflegefamilien deutlich.
Dort wird im Tagungsband zum Avigrion-Kongreß vom November
1992 ein Kapitel mit «S'inscrire dans les lois, s 'inscrire
dans la vie» überschrieben. Wir würden übersetzen, daß sich
das Kind in die Gesetzgebung und damit auch ins Leben "ein-
schreibt", was zwar primär tatsächlich auch gemeint und
dennoch nicht alles ist.

Dahinter klingt eine Auffassung der strukturalen symboli-


schen Ordnung an, die primär durch Sprache, durch die Ge-
setzmäßigkeit der Worte als Bedeutungsträger (das Gesetz
des 'Signifikanten') und den symbolischen Vater als Reprä-
sentanten gerade dieses symbolischen Gesetzes verkörpert
wird. Es ist Ausdruck einer in Frankreich weit verbreiteten
strukturalistisch-psychoanalytischen Theorie, die hier
nicht in allen Facetten dargelegt, nur unzulänglich-verkür-
zend angedeutet werden kann. Der Mensch, er ist - wie Lacan
treffend und typisch französisch anmerkt - ein «parletre$>,
- 6 -
ein "Sprachwesen", dessen reales Sein, «etre» eben, nur
durch Sprechen, «parier», Bedeutung erlangen kann.

parletre
parier
etre

Hinter dem realen Menschen und seinen realen Beziehungen


finden sich imaginäre Beziehungen und Abläufe, die Foucault
(1966) als Macht-/Wissendiskurse gesellschaftlicher Kräfte
herausarbeitete und für die Lacan als herausragender
Vertreter der Psychoanalyse (Widmer 1990) eine Theorie des
Realen, des Imaginären und des Symbolischen ausarbeitete.
Dieses Symbolische entspricht keineswegs dem, was wir unter
den Symbolen bei Freud oder dem Symbolismus von Jung ver-
stehen - bei Lacan ist es sprachliches Element der Struk-
tur, die in den Alltagsrealitäten und Bildern unbemerkt Ge-
stalt annimmt und sozusagen als Hintergrund für individuel-
le und gesellschaftliche Prozesse fungiert.
Denn kein Mensch erfindet Sprache selbst - er wird in sie
und ihre Ordnung hineingeboren, eignet sie sich an. Und
dies wiederum impliziert, daß auch die vor dem Spracherwerb
ablaufenden gedanklich-emotionalen präverbalen Prozesse des
Kindes analog der Sprache strukturiert sind, was dazu
führt, das auch das Unbewußte als "wie Sprache struktu-
riert" (Lacan) angenommen werden kann und muß. Der Sprach-
erwerb erfolgt in einem Entwicklungsstadium, in dem sich
das Kind auf einer imaginären Ebene im Gegenüber spiegelt,
und führt in dieser Beziehung zu. Differenzierung und damit
Vereinzelung: Es folgt ein lebenslängliches Drama aus er-
lebtem Begehren und erlittenem Mangel. Mit diesen unaus-
weichlichen Entwicklungseinflüssen und -schritten schreibt
sich das Kind im oben genannten Sinne nicht nur in das Le-
ben ein, sondern zugleich in die gesellschaftlichen Gese-
tze, die als solche sprachlich symbolisiert sind.

DAS IMAGINÄRE - «L 'IMAGINAIRE»

Sie sehen, daß ich dabei bin, nicht nur ein komplexes gei-
steswissenschaftliches Modell zu entwickeln, sondern darü-
- 7 -
ber hinaus ein dialektisches Spiel des Sowohl-als-auch: ei-
nerseits wird das Kind als 'Sub-jekt', als 'Unter-worfenes '
in eine bestehende symbolische Ordnung passiv hineingeboren
- andererseits ist seine Einordnung in diese Struktur ein
aktiver Vorgang, eine Leistung des Subjekts ohne alternati-
ve Wahlmöglichkeit.

Diese theoretische Auffassung mag als akademisches Thema,


als Universitätsdiskurs oder ähnliches erscheinen und ist
es hingegen keineswegs. So referierte auf derselben Tagung
der GRAPE Alain Brice (1993, 101-113) zum Thema «Familie
ideale - famille reelle: De l'imaginaire social ä la reali-
te familiale», auf Deutsch "Ideale Familie - reale Familie:
Vom sozialen Imaginären zur familiären Realität".
Er streift hierbei zunächst die strukturalistische Theorie
von Levi-Strauss, um dann mit Lacan das Inzestverbot als
strukturale Funktion nachzuzeichnen, die entgegen landläu-
figer Erwartung gerade nicht als verbietende Regel, sondern
als eine den Austausch in Beziehungen ermöglichende Regel
begriffen werden muß. Hiervon ausgehend skizziert er in ei-
ner so vorgenommenen Verschränkung von Theorie und Praxis
die historische Entwicklung und aktuelle Krise der klassi-
schen Familie, die durch den Anspruch des sozialen Imaginä-
ren geleugnet und verschärft wird, bezieht er dies auf die
Krise der industrialisierten Staaten, um Probleme der Ur-
sprungsfamilie, des 'Ais-Ob' der Pflegefamilie, der gesell-
schaftlichen Ansprüche und Mißerfolge zu diskutieren.

POETIK DER SPRACHE - «POÜTIQUE DE LA LANGUE»

Damit komme ich zu einer anderen französischen Denk- und


Sprachfigur, die häufig anzutreffen ist und Ausländern
meist erhebliche Probleme bereitet: Die zuvor angedeutete
Ausarbeitung des sprachstrukturalistischen Modells beinhal-
tet auch, daß die Signifikanten, das heißt die begriffli-
chen Bedeutungsträger, aufeinander aufbauen und verweisen,
sodaß Begriffe unausweichlich eine Tiefenstruktur und damit
mehr enthalten, als die reine lexikalische Definition bzw.
- 8 -
Übersetzung auf der Wortoberfläche anzeigt.- «La langue est
comme la mer» schreibt Goldschmidt (1988) und spielt mit
der Homophonie der Worte «mer» und «mere»: Mit "Die Sprache
ist wie das Meer" thematisiert er ihre gerade skizzierte
Oberflächen- und Tiefenstruktur und das simultan hörbare
"Die Sprache ist wie die Mutter" verweist - 'Muttersprache'
assoziierend - zugleich auf die Sprachstrukturen als
Ursprung des sich aus der Abhängigkeit vom Gegenüber
sprachlich differenzierend herausentwickelnden Individuums.

Ein weiteres Beispiel für die Poetik der Sprache ist die
Nutzung gleichlautender Worte: «Quand on seme, on a
toujours vingt ans» überschreibt Janine Oxley (1993, 33)
ihren Rückblick auf die Entwicklung der Unterbringung in
Pflegefamilien. Gehört und verstanden haben Sie wahrschein-
lich "Wenn man sich liebt, ist man immer zwanzig", was ja
auch beabsichtigt war - im geschriebenen Text aber steht
"Wenn man aussät, ist man noch zwanzig". Das heißt, sie
nutzt die Homophonie und natürlich den inneren Zusammenhang
von «s'aimer» und «semer», von Liebe und Aussaat, um inner-
halb ein und derselben Formulierung die Liebe zur Aufbauar-
beit, den Kontext des jungen Verliebtseins in sich/in den
anderen/in die Aufgabe mit der zukunftsweisenden Investi-
tion zu verdeutlichen, ohne hierüber längere Erklärungen
wie diese abzugeben.

Der latente Sinngehalt ist somit nur sprachspielerisch


durch Untersuchung der Sprache auf andere Lesarten, ähnlich
klingende Worte, anagrammatische Umschreibungen usw. er-
schließbar. Das heißt, das ernstgemeinte Sprachspiel hebt
die quasi wortmagische Identität von Begriff und Sache auf
und macht den Prozeß des Verstehens dekonstruierend dadurch
wieder dialektisch, daß die linear erstarrte Rationalität
durch ein spekulativ-experimentelles Sprachdenken wiederbe-
lebt wird.

DER FAMILIENROMAN - «LE ROMAN FAMILIAL»

Beispielsweise schreibt Serge Lesourd (1992, 18) in einem


- g -
Tagungsbericht den Begriff «transparents», der wie im Deut-
schen "durchsichtig, durchscheinend" bedeutet, in «trans-
parent s^> um, sprich in "durchschaubare" und/oder "Über-
gangs-" bzw. "Transit-Eltern". Ableitbar ist zweierlei:
• generell, daß alle Eltern ihr Kind nur bis zum Übergang
des Adoleszenten zum Erwachsensein begleiten können,
- speziell, daß die Ersatzeltern der Pflegefamilien in je
dem Fall transito'rische Eigenschaften haben,
- weiterhin, daß dies für die Kinder ausgesprochen durch
sichtig ist, da es ein ' Lieben-als-ob' bleiben muß
(Brice 1992, 104). Das heißt, diese kleine sprachspieleri-
sche Variation thematisiert,
- daß Kind und Pflegeeltern Gefangene eines frustrierenden
Anspruchs, des Imaginären also, sind,
- daß beide ihrem Mangel, ihrer Unfähigkeit, auf diese Er-
wartung zu antworten, dem Realen folglich, ausgesetzt
sind, und
- daß nur das 'Lieben-als-ob' im winnicottschen Übergangs-
raum des Symbolischen eine identifikatorische Rollen-
Übernahme ermöglicht, daher weit davon entfernt ist, so
'zu tun als ob' und eine Wahrheit ausspricht: Daß eine
leibliche Abstammung unmöglich ist.

€On na.it toujours d'une famille...2> knüpft die GRAPE auf


ihrer 37. Jahrestagung (Bass & Pelle 1991) an dieses Pro-
blem an: "Man stammt immer von einer Familie ab.,,", wört-
lich übersetzt ist dies im Französischen ein auch aktiver
Vorgang des Subjekts: "Man gebiert immer aus einer Familie
heraus...". Tatsächlich werden natürlich auch in Frankreich
keineswegs alle Kinder innerhalb von Familien geboren. Das
Tagungsmotto verweist auf ein kindliches Phantasma jenseits
des Realen (de Caevel 1991) und damit zugleich auf ein spe-
ziell psychoanalytisches Paradigma, das Thema des 'Fami-
lienromans' . Dieser Begriff aus einem nur fünfseitigen Auf-
satz Sigmund Freuds (1909) bezeichnet Phantasien, in denen
das Kind die Familienbande mit seinen Eltern imaginär modi-
fiziert. Das heißt,
• das Kind phantasiert, es stamme nicht von den realen
- 10 -
Eltern ab, sondern von angesehenen/wohlhabenden/begabten
usw. Eltern oder einem solchen Vater,
- es unterstellt also seiner Mutter heimliche Liebesaben-
teuer oder aber die Geschwister sind Bastarde und es
selbst das einzige leibliches Kind.

Es sind Phantasien, die axis der ödipalen Situation ent-


springen und als Wünsche zur Herabsetzung oder Überhöhung
der Eltern, als Größenwunsch, als Versuch der Umgehung der
Inzestschranke, als Ausdruck der Geschwisterrivalität usw.
deutlich werden. All dies ist als theoretischer Bezug im
programmatischen Tagungsmotto komprimiert und zugleich de-
chiffrierbar-verständlich enthalten. Darüber hinaus ver-
weist der 'Familienroman' auf die Problematik der Pflege-
kinder, nämlich einerseits ihre frühere unbewußt phanta-
sierte, nun real eingetretene Situation, diese Eltern seien
nicht ihre Eltern, und den nun erfüllten Wunsch, sich der
leiblichen durch andere Eltern zu entledigen (Pelle 1992,
287-288).

«LACANCAN» UND/ET «DERRIDADA»

Zum Schluß noch der Hinweis, daß strukturalistische wie


psychoanalytische Modelle mit anderen Themen und Lebensbe-
reichen der französischen Kultur verbunden bis verwoben
sind, so mit der Philosophie, der Politik, der Literatur,
der Kunst und hier insbesondere dem Surrealismus: "Lacancan
und Derridada" kommentiert Laermann (1986) dieses für
Deutschland ungewöhnliche Ineinandergreifen der Disziplinen
(Kobbe 1990) in sprachspielerischer Komprimierung.
LACANCAN DERRIDADA
LAGAN DERRIDA
CANCAN DADA

Er persifliert so zugleich den 'intellektuellen Cancan' von


Lacan wie die 'dadaistisch1 anmutenden "textuellen
Propfungen" (Kofman 1987) und sprachlichen Dekonstruktionen
bei Derrida (1988) .
- 11 -
Fußnoten
* Art. 6 GG [Ehe, Familie, nichteheliche Kinder]
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schütze
der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche
Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende
Pflicht, über ihre Betätigung wacht die staatliche Ge-
meinschaft .
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen
Kinder nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie ge-
trennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen
oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen
drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Für-
sorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung
die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seeli-
sche Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft
zu schaffen wie den ehelichen Kindern.
** GRAPE = «Groupe de Recherche et d'Action Pour l'Enfance»

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