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Was sind Mediae Aspiratae (und warum fehlen sie

dem Indogermanischen) ?

STEFAN GEORG, BONN

Dass1 die Frage, die ich als Titel der folgenden Ausführungen gewählt habe, nur
provokativ gemeint sein kann, eigentlich mehr dazu dient, Neugier zu erwecken,
versteht sich natürlich von selbst. Vielleicht liegt hier ja einfach ein Fehler vor: sollte
eigentlich die Rede von Tenues Aspiratae sein? Die fehlen dem Indogermanischen,
das ist bekannt und nichts Neues. Aber die Mediae Aspiratae gehören doch zum
gusseisernen Bestand der Anfängerausbildung im Fach Indogermanistik! Ihre
Existenz zu bestreiten, kann daher doch eigentlich kaum ein ernstgemeinter Vorschlag
sein.

Deshalb vorweg: Ja, es wird um Mediae Aspiratae gehen, die es in der Tat so nicht
gibt, wie man sie gewöhnlich beschreibt, um Tenues Aspiratae wird es auch gehen
(die wiederum gibt es, allerdings an einer Stelle des indogermanischen Lautsystems,
an der sie nicht jeder vermuten dürfte). Um die bekannten Gesetze von Bartholomae
und Grassmann wird es natürlich gehen, wie auch um Phonetik, tonale Systeme,
sowie auch ein wenig um Sprachtypologie.

Am Ende soll ein neu durchdachtes protoindogermanisches Verschlusslautsystem


stehen, dessen Oppositionssystem ganz das altbekannte sein wird, lediglich bei der
Interpretation der phonetischen Basis dessen, was man herkömmlich als
Stimmtonbeteiligung und Aspiration bezeichnet, werde ich mir einige

1 Die nachfolgenden Überlegungen können und wollen den Eindruck des Provisorischen, vielleicht
auch des Stückwerkhaften, nicht verbergen. Es handelt sich um Gedanken, die den Autor seit seinen
Feldforschungen in nepalesischen Himalaya – auf Initiative und unter Anleitung von Roland Bielmeier
– begleiten. Hier möchte ich sozusagen das gedankliche Grundgerüst vorstellen, das bislang
unveröffentlicht, aber in kleineren indogermanistischen Diskussionszirkeln der Universität Bonn
bereits "erprobt", natürlich einer wesentlich ausführlicheren und umfassend dokumentierten
Ausarbeitung bedürfen wird, um mit der Zustimmung der Mitforschenden rechnen zu dürfen – eine
solche befindet sich seit geraumer Zeit in Vorbereitung. Jedem Indogermanisten wird sofort klar sein,
welche Art von Fragen eine solche Untersuchung zu beantworten haben wird – phonetische,
typologische, indogermanistische, indologische, gräzistische Fragen – sogar afrikanistische,
austronesistische und paläoasiatistische Fragen (denn der einschlägige typologische Objektbereich, der
zu diesen Denkansätzen führte, ist mit meiner Erwähnung gewisser Phänomene gewisser
tibetobirmanischer Sprachen des Himalayaraums bei weitem noch nicht erschöpft). Ich muss hierzu auf
diese noch zu erstellene, wahrscheinlich monographische – Darstellung vertrösten.
Neubewertungen erlauben, die, und darauf kommt es mir hier an, das Verhalten
einiger Einheiten dieses Systems besser verstehen lehren könnten.

Um diesen Überlegungen langsam näher zu kommen, führe ich zunächst dasjenige


(spät-) indogermanische Verschlusslautsystem an, das weithin rekonstruiert wird und
als das „traditionelle“ Rekonstrukt bezeichnet werden kann (hier nur Dentale):

Mediae (stimmhaft) d

Mediae Aspiratae (stimmhaft aspiriert) dh

Tenues (stimmlos) t

Demgegenüber ersetzt das in den 1980-er Jahren lebhaft diskutierte System von
Gamkrelidze und Ivanov2 die traditionellen Mediae durch Glottokklusive lässt die
„Aspiration“ der anderen Verschlusslaute als allophonische, nicht-relevante
Merkmale mal an-, mal abwesend sein:

Glottokklusiv t’

Stimmhaft d/dh

Stimmlos t/th

Am "traditionellen" System ist häufig bemängelt worden, so vor allem von


Gamkrelidze/Ivanov, aber auch andernorts, dass es typologisch nicht parallelisierbar –
und damit unwahrscheinlich – sei, dass ein Verschlusslautsystem einer natürlichen
Sprache, das Mediae Aspiratae besitzt, stets gleichzeitig auch (phonematisch
distinkte) Tenues Aspiratae aufweise, dies im Indogermanischen aber augenscheinlich
nicht der Fall ist, weshalb das traditionelle System einer Revision bedürfe.

Ich will hier nicht die Geschichte des alternativen Systems von Gamkrelidze und
Ivanov wiederholen, die ist weithin bekannt, nur soviel, dass ich wohl nicht
fehlgehe, wenn ich festhalte, dass dieser Neuansatz die Mehrheit der Fachleute nicht

2 Gamkrelidze/Ivanov 1984 , 15 u.ö.


zu überzeugen vermocht hat. Immerhin hat er zu seiner Zeit soviel Aufmerksamkeit
auf sich ziehen können, dass Handbücher ihn zu erwähnen haben (etwa Mayrhofer
1986, 92ff.). Einer – beileibe nicht der einzige – der Gründe für die Skepsis
gegenüber diesem Ansatz, die heute zweifellos überwiegt, ist sicherlich darin zu
sehen, dass die „Aspiration“ sowohl stimmhafter, als auch stimmloser Verschlusslaute
als subphonemisches – allophonisches – Merkmal beschrieben wurde, das nach z.T.
unklar bleibenden Regeln realisiert wird, oder eben unrealisiert bleibt.

Beide Systeme, das nach wie vor "traditionelle" wie auch das "revisionistische"
system der "Gottaltheorie", scheinen also im Bereich der „Aspiraten", der aspirierten
oder „behauchten“ Verschlusslaute, mit Problemen zu kämpfen zu haben. In beiden
Systemen „stimmt etwas nicht“ mit diesen Lauten, obwohl natürlich kein
ernstzunehmender Forscher daran zweifelt, dass unbestreitbare Etymologien – und
zwar sehr viele davon – existieren, die die Existenz zumindest der traditionell als
Mediae Aspiratae bezeichneten Verschlusslaute als ganz unabweisbare Tatsache
fordern. Da solche Konsonanten etwa dem Protouralischen, dem Protosemitischen,
Südkaukasischen, Dravidischen und anderen Protosprachen der Alten Welt
augenscheinlich fehlen, sind die M e d i a e Aspiratae geradezu „typisch
indogermanische“ Phoneme, sozusagen emblematisch für diese Sprachfamilie und es
scheint vermessen, sich an diesen Größen vergreifen zu wollen.

An der Rekonstruierbarkeit protosprachlicher Entitäten wie *bher- etc.

kann und soll natürlich nicht gerüttelt werden, aber die zögernde Unsicherheit, die
bereits Whitney bei der Beschreibung der entsprechenden Altindischen (bzw. in den
unmittelbar beobachtbaren modernen indischen Sprachen auftretenden) zeigt, ist
sicherlich berechtigt, und nachfolgend wird es mir darum gehen, dass diese
Rekonstrukte (unausweichlich wie Sie aus sprachvergleichenden Gründen sind) trotz
der allgemein üblichen Bezeichnung als "stimmhaft aspirierte Verschlusslaute" weder
„stimmhaft“ (d.h. keine „Mediae"), noch „aspiriert“ gewesen sein können. Darüber
hinaus werde ich zu zeigen versuchen, dass die m.E. nötige Uminterpretation der
phonetischen Substanz dieser Laute/Lautkomplexe es erlaubt, ihr Verhalten im
System des rekonstruierten Protoindogermanischen besser zu verstehen, als dies auf
der Grundlage der traditionellen Lehre möglich ist.
Daher zunächst die Frage: Was ist eigentlich Aspiration? Ist „Aspiration“ bei
stimmhaften Verschlusslauten "dasselbe", wie bei stimmhaften Verschlusslauten?
Ein aspirierter Verschlusslaut ist ein Verschlusslaut, dem das Segment /h/ unmittelbar
folgt, so kann man oft hören. Aber dies ist kaum richtig.

Betrachten wir zunächst die Aspiration bei stimmlosen Verschlusslauten, also ein
konsonantisches Phänomen, das sehr viele, vielleicht die meisten, Sprachen der Welt
aufweisen, und das uns als Sprechern des Deutschen natürlich völlig vertraut ist. Die
moderne Phonetik3 zeigt, dass der Artikulationsgestus, der einen stimmlosen
aspirierten Verschlusslaut (vor einem direkt folgenden Vokal) produziert, eben nicht
als „Hinzufügung von /h/“ beschrieben werden kann. Was tatsächlich vor sich geht,
ist experimentell als nichts anderes, als eine – Pause zu beschreiben. Als eine –
natürlich in Millisekunden zu messende – Pause zwischen der hörbaren Sprengung
des konsonantischen Verschlusses und dem Einsetzen der Glottis-Schwingung, die
natürlich – sofern wir nicht flüstern – die Artikulation des Vokals begleitet. Der
Fachbegriff heißt Voice Onset Time, meist als VOT abgekürzt, und dem Phonetiker
sind Silben, die „mit stimmlos aspirierten Verschlusslauten anlauten“ solche, die eine
verzögerte („delayed“) V O T aufweisen. Die für segmentales /h/ typische
Glottisstellung fehlt durchaus, und der „puff of air“, den wir akustisch zumeist
wahrnehmen, entsteht gewöhnlich im Mundraum und hat die Glottis gar nicht zu
passieren.
Was bislang noch wie phonetische Haarspalterei klingen mag, hat aber, wie ich
meine, durchaus Konsequenzen auch für die Indogermanistik.

Gehen wir von dieser, experimentalphonetisch abgesicherten, Definition des


Phänomens "Aspiration" aus, erkennen wir sofort, dass bei stimmhaften
Verschlusslauten irgendeine Art von „Aspiration“, die auf ähnliche Weise
beschreibbar wäre, überhaupt nicht vorkommen kann. Denn bei stimmhaften
Verschlusslauten beginnt die Glottis hier natürlich schon von Anfang an, vor
Sprengung des Verschlusses, zu schwingen (nicht zu früh natürlich, sonst entstünde
Pränasalierung), und tut dies während der gesamten Dauer des folgenden Vokals: so
entstehen Silben wie /ba/, bei denen keine VOT verzögert werden kann.

3 Z.B. Ladefoged 2001, 119f.


In diesem Sinne ist meine etwas dick aufgetragene Behauptung zu verstehen, dass das
Indogermanische – keine indogermanische Sprache, oder noch stärker ausgedrückt:
überhaupt keine natürliche Sprache) „stimmhaft aspirierte“Verschlusslaute besitzt,
eben weil "stimmhaft aspiriert" eine contradictio in adiecto ist.

Um dies zu illustrieren, sollten wir die einzigen indogermanischen Sprachen, die die
grundsprachlichen „Mediae Aspiratae“ – ich behalte diese Bezeichnung der
Einfachheit halber bei – bis heute bewahrt haben: dies sind natürlich neuindoarische
Sprachen. Hier, auf dem indischen Subkontinent, ist der einzige Ort des gesamten
heutigen indogermanischen Sprachgebiets, wo wir hoffen können, einen akustischen
Eindruck dieser seltsamen Laute zu bekommen. Leider ist das Bild, das sich bietet,
nicht einheitlich, verschiedene neuindoarische Einzelsprachen bieten durchaus
verschiedene Artikulationen da an, wo die altindische Etymologie, bzw. die moderne
Orthographie „Mediae Aspiratae“ verlangt.

So zeigt z.B. das Punjabi am Nordwestrand des neuindoarischen Sprachgebiets die


eigenartige Erscheinung, dass eine Silbe, deren Anlaut historisch eine altindische
Media Aspirata war, tieftonig zu sprechen ist, während andere Anlaute zu
hochtonigen Silben führen4.

(3)

kó®å (Hochtonig) ai. ku¿†ha („Lepra, Aussatz“)

kò®å (Tieftonig) ai. gho†aka („Pferd“)

Wie in vielen asiatischen Sprachen ist hier offenbar ein ursprünglich am


konsonantischen Segment haftendes Merkmal zu einer suprasegmentalen Einheit
umphonologisiert worden.

Die Pahari- (Berg-) Sprachen des Himalayaraums einschließlich Nepals – und


einschließlich der im Königreich gesprochenen Sprachen Nepali und Maithili – zeigen
ein verwandtes – aber letztlich verschiedenes – Phänomen, zu dessen Erläuterung ich
einen kleinen Ausflug in nichtindogermanische Sprachen der Region machen möchte.

4 Masica 1991, 118


Genauer gesagt spreche ich von den sogenannten „tamangischen“ Sprachen, die
wiederum dem „bodischen“ Zweig der TB Sprachfamilie angehören („bodisch“ von
der einheimischen Bezeichnung Tibets (bod), das Tibetische im engeren Sinne gehört
ebenfalls diesem Zweig an) ; vgl. das nachfolgende Schema unter, das diesen Zweig
in der komplexen und in ihrer Subklassifikation – wie zu sehen – immer noch sehr
sperrigen TB Familie verortet5:

Tibeto-Birmanisch

Bodisch
Barisch Burmisch Karen

(?)
(?)
(?)
Kamarupa
Kachin Rung
(?) Lolo-
Birmanisch
Naxi
(Moso)

Das Bodische schließlich kann wie folgt subklassifiziert werden:

Bodisch

West-Himalayisch Ost-Himalayisch
(Bodisch i.e.S.)

Kham-Magar Kiranti

Tibeto- Tamangisch
Kanauri
Newari (?)

5Georg 1996, 12f.; dies ist weder die einzige, noch die letzte Klassifikation der tibetobirmanischen
Sprachen.
Die tamangischen Sprachen schließlich sind die, ausschließlich im westlichen und
zentralen Nepal gesprochenen, Einzelsprachen Tamang, Gurung, Thakali, Chantyal
und Nar-Phu.
Eine typische Erscheinung dieser Sprachen (und einiger anderer tibeto-birmanischer
Gruppen des Himalayaraums6) ist das Phänomen der sogenannten „breathiness. Mit
diesem Terminus (den man etwas unpräzise im deutschen etwa als „Ungespanntheit“
wiedergeben könnte) bezeichnet man eine Phonation, deren Gegenstück gewöhnlich
als „clear“ (deutsch dann etwa „gespannt“) bezeichnet wird.
Unter den zahlreichen artikulatorischen Beschreibungen dieses Gegensatzes greife ich
diejenige von Eugénie Henderson heraus, die ‚clear’ als

"'normal' or 'head' voice quality, usually accompanied by relatively high pitch"

und ‘breathy’ als

"deep, rather breathy or 'sepulchral' voice, pronounced with lowering of the


larynx"
beschreibt7.
Eine weitere Beschreibung (zum Tamang) ist dievon Anna Hari8:

The tongue and lip position of the breathy vowels is the same as for the clear
vowels, but the breathy vowels have a different voice quality. For the clear
ones the Adam´s apple remains raised while for the breathy ones the Adam's
apple is lowered and the throat expanded. This results in a larger resonance
chamber in the back of the mouth and the vowel gets a different voice quality.
At the same time the pitch of the breathy vowel is lower than the pitch of the
clear one in the same stress position. It is a considerable step down.

"Breathiness" ist eine Eigenschaft der Silbe, nicht der segmentalen Einheit „Vokal“,
ebenso wenig der segmentalen Einheit „Konsonant“, was vor allem daraus erhellt,

6 Ich beschränke mich hier auf das Tamangische, da ich mit dieser Gruppe, genauer gesagt mit dem
Thakali seit 1992 unter der Anleitung von Roland Bielmeier nähere Bekanntschaft machen konnte.
7 Henderson 1952, 151.
8 Hari 1969, 22.
dass in den untersuchten Sprachen eine strikte Regel gilt, die verlangt, dass ein
phonologisches Wort nur eine "breathy" artikulierte Silbe haben darf, und dass
konsequenterweise, etwa in Nominalkomposita, die zwei ursprüngliche "breathy" zu
artikulierende Einsilber zusammenbringen, eines der Elemente (das zweite) die
breathiness einbüßt.
H ö r b a r ist das ungespannte – "breathy" – Register über die gesamte
Artikulationsdauer des silbischen Nukleus – des Vokals – hinweg, und zwar ganz im
Sinne der Henderson’schen "sepulchral voice".
Nochmals zusammengefasst: Sprachen der tamangischen Untergruppe der
tibetobirmanischen Sprachfamilie kennen das phonologisch relevante Merkmal der
breathiness, einer suprasegmentalen Phonationseigenschaft, deren Domäne die
gesamte – typischerweise offene – Silbe ist, die hochmarkiert ist (nur eine Silbe in
jedem phonologischen Wort kann so ausgezeichnet sein), und die mit dem Tonsystem
der jeweiligen Sprache interagiert (ungespannte, "breathy", Silben können nur
tieftonig sein). Verschlusslaute in diesen Sprachen sind nach Stimmhaftigkeit, bzw.
Stimmlosigkeit nicht differenziert, bzw. anders ausgedrückt: phonetisch stimmhafter
Verschlusslaut im Silbenanlaut korreliert automatisch mit Tieftonigkeit der Silbe,
bzw. mit "breathiness".
Wichtig ist mir an dieser Stelle nochmals der Hinweis, dass angebliche
„Stimmhaftigkeit“ des konsonantischen Anlauts einer Silbe sich im phonetischen
Experiment in solchen Sprachen gewöhnlich als Epiphänomen der Silbenphonation
erweist. Der anlautende Konsonant einer tieftonigen und einer tieftonig-ungespannten
Silbe erweckt den akustischen Eindruck der Stimmhaftigkeit ("hört sich stimmhaft
an") an, der einer hochtonigen Silbe „hört sich stimmlos an“. Die historische
Korrelation zwischen Stimmhaftigkeit/Tieftonigkeit einerseits und
Stimmlosigkeit/Hochtonigkeit ist allgemein bekannt und ein diachron-phonologisches
Quasi-Universale.
Was hat dies mit Indogermanisch zu tun Zunächst hat dies etwas mit Nepali zu tun,
denn, wie auch die detaillierteren und moderneren Beschreibungen dieser Sprache
zugeben, ist breathiness eben auch das Phänomen, mit dem wir es hier zu tun haben.
Und zwar werden Silben, deren Anlaut etymologisch (d. h. natürlich bei altindischen
Etyma), bzw. devanagari-orthographisch eine „Media Aspirata“ ist, im ungespannten
(breathy) Phonationsregister gesprochen, ganz wie in unverwandten
Himalayasprachen:

bhå¿å „Sprache“ nicht [bhaÜßa], sondern [bªaÜßa]9,


dhåtu „Metall“ nicht [dhaÜtu], sondern [dªatu]

Machen wir den Sprung zum rekonstruierten Indogermanischen: da es im strengen


Sinne stimmhaft-aspirierte Konsonanten nicht gibt, und zwar nirgendwo (dies ist
keine typologische und daher zwangsläufig lediglich statistische, Aussage, sondern
die Feststellung einer artikulatorisch-phonetischen Unmöglichkeit), hatte auch das
Indogermanische solche Phoneme nicht. Da für die gesamte Indogermania gilt, dass
die gewähnlich als *bh, *dh etc. rekonstruierten Phoneme nur im indoarischen Zweig
der Familie unverändert vorliegen, scheint es geboten, die hier vorliegenden
phonetischen Phänomene für die Grundsprache vorauszusetzen – wenn nicht geboten,
so aber doch argumenti causa zulässig10.

9 Die Notation mit dem untergesetzten Trema bezeichnet in IPA "breathy voice", als Eigenschaft der
gesamten Silbe, notiert an ihrem initialen Segment.
10 Es gilt, dem an dieser Stelle wahrscheinlich gemachten Vorwurf einer gewissen Naivität zu
begegnen: natürlich ist es simplifizierend, aus den Befunden moderner Einzelsprachen, phonetischen
Befunden gar, direkte Rückschlüsse auf die artikulatorische Phonetik eines Rekonstrukts zu machen.
Nur: die Indogermanistik tut dies natürlich auf Schritt und Tritt: Wenn Sie darüber streitet, ob das
Indogermanische das Vokalphonem /a/ besaß oder nicht, wenn sie palatale Verschlußlaute ansetzt,
wenn sie feststellt, dass /b/ im Indogermanischen selten oder kaum existent war und Überlegungen
darüber anstellt, warum dies so sein könnte, nimmt sie immer an, dass modern bekannte phonetische
Größen auch grundsprachlichen Status hatten – oder wenigstens nicht so totaliter aliter artikuliert
worden sein können, dass die Erklärung ihres Verhaltens aufgrund artikulatorischer Eigenheiten der
rekonstruierten (und als solche natürlich abstrakten) Phoneme völlig aussichtslos wäre. Es kann der
Indogermanistik oder jeder anderen historisch-vergleichend arbeitenden Disziplin natürlich nicht
darum gehen, die Grundsprache phonetisch exakt zu rekonstruieren, d.h. sie sozusagen "wieder zum
Klingen zu bringen", die gegenteilige Annahme, dass man es auf der Rekonstruktionsebene lediglich
mit "körperlosen" Symbolen zu tun habe, deren Verhalten keinesfalls auf der Grundlage phonetischer
Erkenntnisse verstanden werden kann wäre – falls sie überhaupt vertreten wird – ebenso naiv. Auch
wenn ich ganz gewis nicht der "realistischen" Position in der historisch-vergleichenden Rekonstruktion
das Wort reden will ("das Rekonstrukt ist real"), so noch weniger einer vollständig konstruktivistischen
Position ("das Rekonstrukt hat ausschließlich Symbolcharakter"). Der Kompromiss heißt: Wir können
niemals ein Rekonstrukt auf unser Papier schreiben, dem wir zuschreiben dürften, eine phonetisch
exakte Wiedergabe eines jahrtausendealten Sprachzustandes zu sein, aber was wir auf der Grundlage
des (uns zufällig noch erhaltenen) Datenmaterials zum Zwecke seiner Erklärung rekonstruieren, muss
die Eigenschaften aufweisen, die alle natürlichen Sprachen aufweisen (d.h. darf nicht gegen anerkannte
Universalien verstoßen – die Diskussion, welches diese Universalien sind, bleibt davon natürlich
unberührt), mit anderen Worten, es muß stets so aussehen, als ob es eine reale Sprache sein könnte. Für
unseren Fall bedeutet dies: stimmhafte Verschlußlaute können nicht im herkömmlichen (VOT-) Sinne
"aspiriert" sein. So beschriebene monophonematische Größen müssen daher phonetisch anders
beschaffen gewesen sein und, da in der Indogermania nur neuindische Sprachen diese Phoneme
unverändert erhalten haben, ist auch die phonetische Beschaffenheit dieser neuindischen Laute dazu
geeignet, Rückschlüsse über das indogermanische Rekonstrukt zu erlauben. Es ist nicht sicher, dass die
Damit an sich ist aber noch nicht viel gewonnen, eine phonetische Besserwisserei,
mehr nicht. Ich möchte daher zu zeigen versuchen, dass diese Reinterpretation der
Mediae Aspiratae in der Tat in der Lage ist, uns zu helfen, das Verhalten dieser
eigenartigen Laute besser zu verstehen und vielleicht auch einige der Indogermanistik
bekannte, aber bislang nicht rationalisierbare, Eigenschaften der grundsprachlichen
Wurzel auf ein relativ einfaches Prinzip zurückzuführen.

Bevor ich also von der Phonetik zu einem indogermanischen Prozess übergehe, in
dem sich „Mediae Aspiratae“ in einer spezifischen Weise verhalten – ich nehme
vorweg, dass dies das so genannte Bartholomae’schen Gesetz sein wird– muss ich
noch einige Worte zum Begriff der grundsprachlichen „Wurzel“ vorausschicken.

„Wurzel“ ist eine Abstraktion; mit wenigen Ausnahmen traten auch indogermanische
Wurzeln im sprachlichen Leben in Wörtern auf, d.h. versehen mit einem oder
mehreren derivationalen oder inflektionalen Morphemen. Wenn ich die
indogermanischen Mediae Aspiratae im bisher besprochenen Sinne reinterpretieren,
dann muss ich sie als Anlaute von Silben betrachten, deren vokalischer Nukleus
"breathy" bzw. ungespannt ist. Liegt mir also eine Wurzel der Gestalt CVC vor, dann
ist der zweite (wurzelauslautende) Konsonant selbstverständlich als Anlaut einer
(nicht vollständig zur Wurzel gehörenden) zweiten Silbe eines morphologischen und
phonologischen Wortes zu verstehen. Da das Indogermanische – wie man in der
autosegmentalen Phonologie sagen würde – „branched syllable onsets“, also mehrere
Konsonanten im Silbenanlaut zulässt, muss auf den wurzelauslautenden Konsonanten
natürlich nicht zwingend ein Vokal folgen.

Um von der Phonetik, die die schöne Parallelität unserer “Mediae Aspiratae“ mit
„Tenues Aspiratae“ so herzlos in Frage stellt, dann jetzt doch zum Indogermanischen
überzugehen, möchte ich bei einigen Beobachtungen zum Bartholomae'schen Gesetz
(1882) beginnen, die mich daran denken lassen, dass die protoindogermanischen
Mediae Aspiratae eben eher als Anlaute von "breathy voiced" Silben zu verstehen
sind. Das Gesetz besagt, dass ein Folge aus Media Aspirata und Tenuis zur Folge
Media + Media Aspirata wird, unter den klassischen Beispielen möge hier das
"Buddha"-Beispiel genügen:

entsprechenden indogermanischen Laute "genau so", wie die entsprechenden im modernen Nepali etc.
artikuliert wurden, aber dies ist als Arbeitshypothese zulässig (so wie die Annahme von "bh ist gleich
[b] + [h] vielleicht einmal eine zulässige Arbeitshypothese war, jetzt aber nicht mehr sein kann), die
damit steht und fällt, was sie zu erklären vermag. Hierzu nachfolgend mehr.
*bheudh- + -to > ai. buddha

Der Geltungsbereich ist das Indo-Iranische, die Möglichkeit, dass Bartholomae aber
schon Indogermanisch gegolten hat, wird jedoch weithin eingeräumt.
Gewöhnlich wird dieser Lautprozess so beschrieben, dass zwei Prozesse gleichzeitig
stattfinden: der zweite Verschlusslaut wird an den ersten hinsichtlich des Stimmtons
assimiliert, und die „Aspiration", /h/, „springt um“, springt sozusagen an das Ende der
entstehenden Gruppe, oder, in den Worten Bartholomaes (hier zitiert nach Collinge
1985, 7):
"wenn in der wortbildung oder –flexion ein tönender aspirirter mit einem
tonlosen geräuschlaut zusammentrifft, so wird letzterer tönend und
unternimmt des ersten aspiration"

Wir haben aber gesehen, dass hier keine „Aspiration“ vorliegt, kein „/h/“ vorhanden
ist, mithin auch nichts „umspringen“ kann. Was tatsächlich passiert ist – anstelle
eines doch recht komplexen Prozesses, den man bislang nur in zwei Schritten
beschreiben konnte – sehr wenig, fast nichts.
Erinnern wir uns an den eben skizzierten Wurzelbegriff: *bheudh- ist eine
Abstraktion, will sagen: der lexikalische Bestandteil phonologischer Wörter, in denen
in der Regel – eigentlich immer – auf den wurzelschließenden Konsonanten weitere
morphologische Elemente folgen. Wenn dem so ist, dann deutet das Rekonstrukt mit
seinem auslautenden *-dh phonetisch interpretiert an, dass jede zweite Silbe jedes
phonologischen Wortes, das mit dieser Wurzel beginnt, breathy voiced ist. Und eben
dies ist sie auch in der Outputform des Bartholomae’schen Gesetzes immer noch.
Passiert ist hier also rein gar nichts, die zweite Silbe ist "breathy", so wie es die
Wurzelform vorhersagt, ja die Wurzelgestalt bedeutet ja – wenn die Reinterpretation
der Mediae Aspiratae soweit richtig ist – nichts anderes. Fast nichts ist passiert, die
Stimmtonassimilation will ich nicht ganz unterschlagen, aber die ist auch alles, was
bei diesem scheinbar so komplexen lautlichen Prozess tatsächlich geschieht.

Aber dieses Paradebeispiel des Bartholomae’schen Gesetzes ist auch ein Beispiel für
ein anderes – noch viel berühmteres – Gesetz, das von Hermann Grassmann von
1862, und dies wird mir jetzt noch einige Schwierigkeiten machen. Bevor ich es
wagen kann, dieses „heyß eisen“ wenigstens einige Schritte weit zu tragen, will ich
die Reinterpretation der Mediae Aspiratae aber noch verschärfen, bzw. nach
Konsequenzen für die anderen Verschlusslauttypen der Grundsprache fragen, bzw.
solche ziehen. Dies tue ich zunächst aus systematischen und typologischen
Erwägungen heraus und werde anschließend wieder versuchen, in bekannten
Phänomenen der indogermanischen Grundsprache hier Stützen zu finden. Solche
Stützen werde ich dann als gefunden betrachten, wenn es gelingt, solche Phänomene,
die bislang ohne Erklärung blieben, gleichsam erratische Faktenblöcke darstellen, als
relativ einfachen Prinzipien bzw. Regeln unterworfen zu erweisen, oder wenigstens
plausibel zu machen.
Die systematischen Überlegungen bestehen hier aus der Frage, ob die Tatsache, dass
die Domäne der als „Mediae Aspiratae“ missverstandenen phonologischen Einheit die
Silbe ist (und nicht das silbeninitiale Segment) nicht auch bedeuten sollte, dass dies
für die anderen Verschlusslauttypen – die traditionellen Mediae und die Tenues – zu
gelten habe. Diese rhetorische Frage beantworte ich mit ja und die andrängende
Frage, welche Art suprasegmentaler Phänomene mit den beiden verbleibenden
„Verschlusslautklassen“ verbunden sind, findet ihre Antwort in der Typologie. Da die
Phonationsart "breathy" bereits für die „Media Aspiratae“ besetzt ist, müssen Tenues
und Mediae Anlaute von Silben mit „clear“ ( d.h. "gespannter") Phonation sein. Da
sie sich aber natürlich noch voneinander unterscheiden müssen – und dies in
suprasegmentaler Hinsicht – bietet sich an, die entsprechenden Silben als tonal
differenziert zu betrachten.
Ich hoffe, darin wird an dieser stelle kein allzu großer argumentativer Sprung
gesehen. Typologisch ist die Korrelation zwischen Stimmhaftigkeit und Tieftonigkeit
einerseits und Stimmlosigkeit und Hochtonigkeit andererseits (also auch schon ohne
die Annahme einer Phonationsopposition breathy vs. clear) mehr als gesichert
(stimmhafte Konsonanten wirken phonetisch auch in solchen Sprachen, die keine
phonologische Tondifferenzierung kennen, tonsenkend, als "tone-depressors"). Wir
hätten also zu betrachten:

Mediae Aspiratae als Anlaute ungespannter, tieftoniger Silben


Mediae als Anlaute gespannter („clear“) tieftoniger Silben
Tenues als Anlaute gespannter hochtoniger Silben

Da die ungespannte („breathy“) Phonation, wie schon aus den oben gegebenen
phonetischen Beschreibungen ersichtlich, phonetisch noch mal als extremer tone-
depressor wirkt, hätten wir bei mit Verschlusslauten anlautenden indogermanischen
Silben zu unterscheiden:

2 Phonationen: clear (Tenues und Mediae) und breathy (Mediae Aspiratae),


sowie
2 Töne: hoch (Tenues) und tief (Mediae und Mediae Aspiratae)

Phonetisch wären die ungespannten/breathy/MA-Silben als tiefer als "einfach"-tief, d.


h., in üblicher englischsprachiger Ausdrucksweise der Tonologie, als extra-low11,
anzusehen, was uns jetzt erlaubt, die indogermanischen silbenanlautenden
Verschlüsse in eine Hierarchie zu bringen:

Clear Tenues high


Clear Mediae low (oder: mid)
Breathy Mediae Aspiratae extra-low (oder: low)

Das ist soweit reine Theorie (wenn auch typologisch abgesicherte Theorie), wir
müssen uns an dieser Stelle fragen, ob es in der indogermanischen Grundsprache
irgendetwas gibt, das hierdurch besser erklärt werden kann, als auf irgendeine andere
Weise.
Ich denke, dass die Antwort darauf positiv ausfällt, und das Phänomen, das von dieser
tonalen Reinterpretation des Verschlusslautsystems her Licht empfangen kann, ist
dasjenige der Kookkurrenzbeschränkungen der indogermanischen Verschlusslaute im
An- und Auslaute der Wurzeln.
Hier sind wir nämlich gewohnt, ein an sich kaum verständliches – aber sehr deutlich
erkennbares – System von erlaubten und unerlaubten Wurzelstrukturen hinzunehmen.

11 Die Alternative wäre , die Mediae als mid und die Mediae Aspiratae als low einzustufen – eine
folgenlose Alternative: so genau werden wir die indogermanische Phonetik wohl doch nicht
rekonstruieren können.
Erlaubt sind in der indogermanischen Wurzelstruktur (und ich betrachte hier nur
Verschlusslautwurzeln) die Kombinationen12:

M-MA (*bedh-)
M-T (*dek-)
MA-M (*bheid-)
MA-MA (*bheidh-)
T-M (*ped-)
T–T (*pet-)

Nicht erlaubt hingegen, und dies ist das Auffällige, sind:

M - M (**bed-)
MA - T (**bhet-)
T - MA (**tebh-)

Eine Ratio für die Unmöglichkeit dieser Strukturen drängt sich nicht unbedingt auf,
und mir ist selbst kein Erklärungsversuch bekannt.
Betrachten wir aber die soeben gebotene tonale Reinterpretation als richtig, können
wir in den verschiedenen traditionellen Anlautkonsonanten (die ja – ich wiederhole
mich – als Silbenanlaute zu verstehen sind, und die phonologischen differentiellen
Merkmale sind Eigenschaften der Silbe), wie in dem Schema geschehen, als durchaus
quantitativ, zumindest als quantifizierbar – nämlich nach der absoluten Tonhöhe –
deuten. Dann ergibt sich als relativ einfache Regel für die so störenden
Kookkurrenzbeschränkungen eine relativ einfache Regel13:

Befindet sich unter zwei aufeinanderfolgenden Silben mindestens eine


tieftonige Silbe, so ist der Verlauf der Tonkurve über beide Silben hinweg
schief.

12 Nach Szemerényi 1989, 103.. Die Abkürzungen für die Verschlusslautarten dürften selbsterklärend
sein.
13 Wahrscheinlich – dies ist noch nicht untersucht – gilt diese regel nur für die beiden ersten ("linken")
Silben eines phonologischen Wortes; nochmals: die Wurzel ist niemals (bzw. nur sehr selten) identisch
mit einem phonologischen Wort, letztreres ist stets: Wurzel + X, was fast immer mindestens
Zweisilbigkeit impliziert.
„Schief" vs. „eben“ ist ein normaler Begriff in der Tonologie – bei einem schiefen
Tonverlauf ändert sich die absolute Tonhöhe im Verlauf der Tonkurve (sei dies eine
Silbe oder eine folge von Silben); diese Regel schließt M – M (tief – tief) aus, und
beschreibt T – T als problemlos zulässig.
Die beiden anderen nicht zulässigen Konfigurationen werden durch einen Zusatz
ausgeschlossen, der besagt:

Eine schiefe Tonkurve kann nur über eine phonetische Tonhöhenstufe laufen.

Also14 von low nach mid, von mid nach high, von high nach mid, von mid nach low,
nicht von high nach low oder umgekehrt.
Eine andere phonetische Ratio für dieses Verhalten der wurzelan- und –auslautenden
Verschlusslaute will sich mir nicht erschließen.

Aber, so wird man an dieser Stelle möglicherweise einwenden, ganz geht dies nicht
auf, denn da sind ja noch die Wurzeln des Typs MA - MA, die ja immerhin in der
Neuinterpretation zwei tiefe (sogar extra-tiefe, je nach gewählter Nomenklatur,
jedenfalls die tiefsten des Systems) Töne aufweisen, aber ohne uns den Gefallen zu
tun, eine schiefe Kontur zu erzeugen.
Es gibt, soweit ich sehe, zwei Möglichkeiten, diesem Dilemma zu entrinnen:
Erstens: die erstgenannte Regel gilt nicht; zwar kann Schiefton immer noch nicht über
zwei Stufen laufen, er ist aber nicht zwingend vorgeschrieben, auch nicht beim
Vorhandensein tieftoniger Silben.
Wählen wir diesen Weg, bleibt lediglich das Nichtvorhandensein des Wurzeltyps M –
M unverständlich.
Die zweite Möglichkeit ist sicherlich problematischer, vielleicht im Endeffekt
spektakulärer, aber sicher nicht von der Art, die meinen hier vorgetragenen
Überlegungen allzu schnell allzu viele Anhänger einbringen wird: sie besteht – man
wird es ahnen – darin, das ehrwürdige Grassmann'sche Gesetz allen Handbuchlehren
zum Trotz doch in die indogermanische Grundsprache zu datieren.

14 Oder setze für mid = low, dann aber für low = extra-low.
Können (bzw. k ö n n t e n ) wir dies tun, ließen sich alle oben genannten
Kookkurrenzbeschränkungen durch die einfache Regel "wenn tief, dann schief" und
"nur ein Schritt" erfassen.
Es hat, wie bekannt, wahrlich nicht an Versuchen gefehlt, diesen Prozess (Grassmann
1863, 110-11):

„Wenn in zwei Konsonantengruppen eines Wortes, welche durch einen vokal


getrennt sind, Aspiraten vorkommen, die derselben Wurzel angehören, so
wird eine derselben, in der Regel die erste, ihrer Hauchung beraubt."

der Grundsprache zuzuschreiben, die gelehrte Welt hat, soweit ich dies überblicken
kann, alle diese Versuche rigoros abgewehrt, da zumindest festzustehen scheint, dass
die beobachtbaren Hauchdissimilationsprozesse des Griechischen und des Indischen
als voneinander chronologisch wie sachlich unabhängig anzusehen sind. Der
Hauptverursacher von Schwierigkeiten ist hier das Griechische, da die Dissimilation
der beiden aufeinanderfolgenden behauchten Verschlusslaute den griechisch-
einzelsprachlichen Lautwandel MA -> TA bereits voraussetzt, wie ein klassisches
Beispiel unmissverständlich zeigt:

p§xyu < *bhåg’hu-


ai. båhu-

Bereits indogermanischer Grassmann hätte hier zweifelsfrei zu einem anderen


Ergebnis führen müssen, dies ist allseits bekannt und in der Indogermanistik
sicherlich allerorten Anfängerlehrstoff.
Aber bevor ich es einfach dabei belasse, möchte ich mir doch den Versuch einer
Überlegung, ob sich aus all dem bisher Erwähnten nicht wenigstens ein Fingerzeig
ergeben könnte, ob es nicht doch gehen könnte, ob es nicht doch einen Weg geben
könnte, Grassmann "hochzudatieren".
Betrachten wir noch einmal kurz dasjenige Gebilde, das Phonem, das am linken
Wortrand durch die Wirkung des Grassmann'schen Gesetzes entsteht. Ich will es
provisorisch das „Grassmannprodukt“ nennen.
Welche Eigenschaften muss dieses Phonem haben ? (Denn wir haben ja gesehen, dass
es nicht einfach: „stimmhaft aspirierter Verschlusslaut minus Aspiration – "h" – sein
kann).
Es muss (bzw. die von ihm eingeleitete Silbe, aber das ist ja mittlerweile klar)
höhertonig, als bh- sein. Es muss clear sein. Und wenn es phonologisch, nicht nur
phonetisch, höhertonig als bh- ist, muss es hochtonig clear sein.
Des weiteren verlange ich, dass es nicht aspiriert war (da es um hochtonige,
gespannte Phonation geht, also „Tenues“, ist jetzt Mediae Aspiratae Aspiration
gemeint, also „verzögerte VOT).
Das Grassmannprodukt ist also – ein stimmloser nichtaspirierter Verschlusslaut. Und
eben diese Artikulationsart ist eine im Indogermanischen System bislang unbesetzte
Position. Nein, wird man einwenden, die traditionellen Tenues sind doch genau das,
stimmlos und nichtaspiriert!
Eben nicht. Denn ein weiteres Detail der Kookkurrenzbeschränkungen innerhalb der
indogermanischen Wurzel, das ich vorhin übergangen habe, weist m. E. ganz deutlich
darauf hin, dass die traditionellen Tenues des Indogermanischen automatisch aspiriert
waren.
Eine Folge von Tenuis – Media Aspirata ist, wie beobachtet, im Indogermanischen
nicht erlaubt; bekanntlich ist diese Folge aber doch möglich, wenn dem ersten
Verschlusslaut ein /s/ vorangeht: Wurzeln wie

*s-tebh-

o.ä. gibt es durchaus. Was bewirkt dieses /s/ hier, denn es muss ja irgendetwas tun, da
durch seine Anwesenheit etwas phonetisch/phonotaktisch möglich wird, was vorher
nicht möglich war. Wenn man sich die Analogie moderner germanischer Sprachen,
wie etwa des Englischen oder Dänischen, vor Augen führt, drängt sich geradezu auf,
dass die Wirkung dieses /s/ eine deaspirierende Wirkung ist. Auch im Englischen, wo
alle stimmlosen Verschlusslaute vor Vokal automatisch aspiriert sind, fällt diese
Aspiration, wenn dem Verschlusslaut noch ein /s/ vorangeht:

take [tÓejk], aber stop [stOp]


Hier wären also die eigentlichen Tenues Aspiratae des Indogermanischen, von
typologisch denkenden Indogermanisten jahrzehntelang schmerzlich vermisst, aber in
Wirklichkeit stets in der Nähe; das Indogermanische wäre demnach keine so
typologisch ungewöhnliche Sprache gewesen , wie lange geglaubt wurde.
Die regulären Tenues waren also automatisch aspiriert, das Grasssmann-Produkt
hingegen war es nicht.
Ein Notationsversuch könnte dieses "Grassmannprodukt" provisorisch mit Versalien
wiedergeben:

*dhebh-  Debh-

Dieses D- nun, das in der Grundsprache – soweit ich sehen kann – nur als Grassmann-
Produkt auftrat, nahm eine marginale Stellung im indogermanischen Phonemsystem
ein und blieb nicht lange stabil, bzw. fiel in den Einzelsprachen mit anderen
Phonemen (die, das muss ich an dieser Stelle auch erwähnen, natürlich irgendwann
auf dem Weg in die Einzelsprachen auch ihren Charakter als Anlaute tonal und durch
Phonation ausgezeichneter Silben Mediae Aspiratae und zu dem werden, als das wir
sie kennen: stimmlose und stimmhafte Verschlusslaute) zusammen, Und zwar allein
im Griechischen mit den „Tenues“, den nachmaligen stimmlosen Verschlusslauten,
die auch im Griechischen (einzelsprachlich) ihre automatische Aspiration einbüßen:
diese Lücke wird dann bekanntlich von den alten „Mediae Aspiratae“ gefüllt.
Eigentlich scheint es nicht falsch zu sagen, dass das „Grassmannprodukt“ gerade im
Griechischen phonetisch maximal unverändert vorliegt.
Im Indischen fiel es mit den (nachmaligen) stimmhaften Verschlusslauten zusammen;
ich möchte nicht ausschließen, dass die Ursache einfach eine regressive Assimilation
des Stimmtones war.
Mithilfe dieser „Ausweichposition“ des Grassmannproduktes – die aber in Kohärenz
mit den bisher ausgeführten phonetisch-phonologischen Überlegungen, so hoffe ich,
nicht gänzlich unplausibel ist - scheint also das Haupthindernis einer Frühdatierung
des Grassmannschen Gesetzes überwindbar zu sein.
Ich will nicht verschweigen, dass es nicht das einzige Hindernis ist; weitere sind der
Forschung bekannt, ich darf vielleicht summarisch auf Mayrhofer 1986, 112-115
verweisen, der klar sagt, dass "Grassmann kein gemeinindogermanischer Vorgang"
ist.
Wenn sich diese Einwände nicht werden ausräumen lassen, mithin alle Gründe für
erst einzelsprachlichen Grassmann zusammengenommen so schwer wiegen, dass eine
Frühdatierung nicht ratsam oder doch eben unmöglich bleibt, verliert allerdings meine
vorhin skizzierte Theorie der Erklärbarkeit der Beschränkungen der
indogermanischen Wurzelstruktur lediglich ein wenig Eleganz, nicht
notwendigerweise schon ihre ganze Plausibilität.
Es wird dann eben nicht alles auf ein Prinzip – "wenn tief, dann schief" –
zurückzuführen, da das Vorhandensein von MA-MA ("breathy" – "breathy")
Wurzeln diesen schönen Reim vereitelt.
Immer noch gültig wäre das Verbot von Tonkurven, die mehr als einen phonetischen
Schritt umfassen, stark genug, meine ich, um zumindest nahezulegen, dass das, was
wir als durch Stimmton und „Aspiration“ unterschiedene Verschlusslaute zu
betrachten gewohnt sind, wohl doch eher in einer quantifizierbaren Weise
voneinander differenziert ist.
All dies ist work in progress, sicherlich noch nicht in jeder Hinsicht abgesicherte,
noch viel weniger gesicherte Forschung – und einige der Mängel und
Unvollkommenheiten dieser Überlegungen sind mir sehr wohl bewusst und sollen
keinesfalls unter den Teppich gekehrt werden. Dennoch möchte ich zusammenfassend
die wichtigsten Punkte dieses Ansatzes wiederholen, sozusagen anhand einer
imaginären "Plausibilitätshierarchie" geordnet, d.h. ungefähr in der Reihenfolge
abnehmender Sicherheit.
Das heißt, ich denke, dass es unabweisbar ist, dass die indogermanischen „Mediae
Aspiratae“ Verschlusslaute waren, die nicht in dem Sinne „aspiriert“ waren, in dem
stimmlose Verschlusslaute aspiriert sein können; dass es mithin, im engsten
phonetischen Sinne, keine stimmhaft aspirierten Verschlusslaute gibt, im
Indogermanischen nicht, und anderswo auch nicht.
Ferner hoffe ich, dass man mir dahingehend folgen kann, dass heute noch mögliche
phonetischer Beobachtungen an einigen neuindoarischen Sprachen, sowie
nichtindogermanischen Sprachen des indischen Subkontinents, den Schluss
nahelegen, dass die indogermanischen „Mediae Aspiratae“ durch eine
suprasegmentale Eigenschaft, deren Domäne die gesamte Silbe ist, charakterisiert
sind, nicht etwa lediglich durch ein distinktives Merkmal des silbenitialen Segments.
Dass „breathy“ vs. „clear“ Phonation (ungespannte vs. gespannte Artikulation) hier
die phonetische Basis der zugrunde liegenden Opposition ist, scheint mir aus
typologischen Gründen kaum abweisbar.
Die sich daran anschließende Reinterpretation der übrigen beiden Verschlusslautarten
als durch die Tonhöhe (der Silbe, deren Anlaut sie darstellen) differenziert, mag
dagegen schon kühner sein, aber die Möglichkeit, ansonsten unerklärliche
Strukturbeschränkungen der grundsprachlichen Wurzel auf ein relativ einfaches – und
typologisch parallelisierbares – Prinzip zurückzuführen, mithin erstmals zu verstehen
ist für mich ein starker Grund, daran festzuhalten.
Der letzte Schritt schließlich, der Versuch, das Grassmann'sche Dissimilationsgesetz
in die Grundsprache zu verlegen, wird sicherlich nicht allseitige Zustimmung finden
können. Die phonetische Natur des Grassmannproduktes, das eben nicht einfach ein
stimmhafter Verschlusslaut war, glaube ich verteidigen zu können; andere Einwände
gegen eine bereits grundsprachliche Grassmann'sche Dissimilation mögen weitere
Hilfshypothesen erfordern (ich habe eine davon angedeutet), deren wachsende Zahl
natürlich die Plausibilität der Annahme, die sie stützen sollen mindestens
beeinträchtigt.
Aber vielleicht kann man mir noch in einem weiteren Punkt zustimmen: dass der
Versuch einer Hochdatierung dieses berühmten Lautgesetzes am Wegesrand die
Entdeckung der lange verschollenen indogermanischen stimmlos-aspirierten
Verschlusslaute, der Tenues Aspiratae, ermöglicht hat – nämlich da, wo im
traditionellen Rekonstrukt die einfachen Tenues stehen, die wir als automatisch (d.h.
natürlich subphonematisch) aspiriert erkannt zu haben glauben. Eine Trouvaille, die
ja vielleicht die Mühe nicht ganz vergeblich erscheinen lässt.

Collinge, N.E.
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