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Philosophische Schriften 1 Kritik
Philosophische Schriften 1 Kritik
Copyrighted material
Hermann Broch
Kommentierte Werkausgabe
Herausgegeben von
Paul Michael Lützeier
Band 10/1
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Hermann Broch
Philosophische Schriften 1
Kritik
Suhrkamp
Copyrighted material
Zweite Auflage 1986
© Suhrkam p V erlag F ran k fu rt am M ain 1977
Bibliographischer Nachweis für die
einzelnen Texte am Schluß des Bandes
Alle Rechte Vorbehalten
Druck: N om os Verlagsgesellschaft, Baden-B aden
Printed in G erm any
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Inhalt
K ultur kritik
Kultur 1908/1909 (1 9 0 8 /1 9 0 9 )....................................... 11
Ornamente (Der Fall Loos) (ca. 1911) .......................... 32
Pamphlet gegen die Hochschätzung des Menschen
(ca. 1 9 3 2 ) ........................................................................ 34
Leben ohne platonische Idee (1 9 3 2 )................................ 46
Die Kunst am Ende einer Kultur (1 9 3 3 ).......................... 53
Erwägungen zum Problem des Kulturtodes (1936) . . . 59
Philosophische Aufgaben einer Internationalen
Akademie ( 1 9 4 6 ) ........................................................... 67
R ezensionen
Ethik. Unter Hinweis auf H. St. Chamberlains Buch
Immanuel Kant ( 1 9 1 4 ) ....................................................243
Otto Kaus, Dostojewski ( 1 9 1 6 ) ..........................................250
Felix Weltsch, Gnade und Freiheit (1 9 2 0 )....................... 252
Wilhelm Schäfer, Drei Briefe (1921) 254
Eine Neuausgabe Lorenz von Steins: L. v. Stein,
Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich (1921) 255
Die erkenntnistheoretische Bedeutung des Begriffes
»Revolution« und die Wiederbelebung der Hegelschen
Dialektik. Zu den Büchern Arthur Lieberts: A. L.,
Vom Geist der Revolutionen, Wie ist kritische Philo
sophie überhaupt möglich? (1 9 2 2 )................................ 257
Max Adler, Marx als Denker, Engels als Denker (1922) 264
Albert Spaier, La pensee et la quantite ( 1 9 2 9 )................ 268
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Alfred Polgar, Handbuch des Kritikers (1938) ............. 269
Maurice Bergmann, Die Lage der arbeitenden Klasse in
Deutschland ( 1 9 3 9 ) ......................................................... 271
Hanns Sachs, Freud, Master and Friend ( 1 9 4 5 ) ............. 273
Jean-Paul Sartre, UEtre et le Neant ( 1 9 4 6 ) .................... 275
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung ( 1 9 4 7 ) .................... 279
Bemerkungen zu Karl Kerenyis Schrift Der göttliche Arzt
(1 9 4 7 )................................................................................ 281
Julie Braun-Vogelstein, Geist und Gestalt der abend
ländischen Kunst (1948) 285
Frankreichs Regenerationskraft. Werner Richter, Frank
reich. Von Gambetta zu Clemenceau ( 1 9 4 8 ) ............. 292
Geschichte als moralische Anthropologie. Erich Kahlers
>Scienza Nuovac E. K., Man the Measure (1949) . . . 298
Bibliographischer N a c h w e is ................................................. 312
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Kulturkritik
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K ultur 1 9 0 8 /1 9 0 9 1
1908
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ausgefüllt werden.
In der klaren, durchsichtigen, verwissenschaftlichten Luft des
Erkennens, und sei es selbst nur des scheinbaren Erkennens,
kann nun keine Kunst bestehen.
Die Kunst ist dumpf und triebhaft; entweder schafft der
Künstler intuitiv unter dem Druck der auf ihn wirkenden Ein
drücke, oder er formt sein Kunstwerk bewußt, den Eindruck
berechnend, den es auf den Genießenden machen muß. Der
naive Künstler erster Kategorie degeneriert bereits zum schol
lenriechenden Heimatsschaffer; der Bewußtkünstler wird aber
noch immer hoch gehalten und von den Intellektuellen unserer
Zeit sehr bewertet, siehe Karl Kraus.
Und doch ist eine solche Kunst nur Kapcllmeistermusik. Das
Produktive an ihr ist die Prägnierung von Klischees, deren Wir
kung vorher nur in Henidenform da war, doch in verteufelt kur
zer Zeit ist auch dieses Klischee erlernt, und das Kunstwerk ist
schal geworden.
Es ist dies der Grund, warum viele gute Schriftsteller für uns
unleserlich geworden sind: ihre Kunstwirkungen sind Klischees
geworden. Die Anzahl der bekannten Klischees wächst bereits
ins Ungeheure, man denke nur daran, was der Musiker alles
vermeiden muß, um nicht gemeinplätzig zu werden: es ist be
kannt, daß leere Quinten eine öde Stimmung hervorrufen, daß
der Übergang von Moll ins reiche Dur festlich wirkt etc. etc.
Nichtsdestoweniger sündigt die Kunst aufs heftigste weiter,
arbeitet mit den naivsten Mitteln, man denke an Strauss2, Mah
ler3, und läßt sich überdies noch »raffiniert« nennen. Von dem
Schrifttum ganz zu schweigen, denn selbst die bedeutendsten
Finessen des Stiles sind plumpe Bauernscherze.
Die Kunst ist ein Atavismus der Kultur, sie ist der letzte Zeuge
jener Zeit, da die Kultur aus den Sensationen des Naturgesche
hens geboren wurde. Die Kunst ist dies Zurücksehnen nach der
Natursensation, sei es nun, daß sie von einem Intuitivkünstler
oder Bewußtschaffenden erzeugt werde. Die Kultur überzieht
Geist mit einer Decke, füllt ihn mit dem Gedächtnis der G ene
rationen, sie erleichtert ihm das Denken in ihrem Sinne, er wird
die Zivilisationsmaschine. Die Löcher in der Decke sind die
Atavismen des impressionablen Naturgeistes, so aber die Kul
tur zu Ende gewachsen ist, hat sie alle ihre Löcher und Auslas
sungen verschlossen, und die Kunst ist tot.
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Das Klare siegt über das Triebhafte, der Streber über das Ge
schlechtstier. Und die Kunst war die Sexualität der Kultur. Nun
stirbt sie an psychischer Impotenz. Da sie die Sensation, die
Mache der Geschlechts-Sensation zu erkennen glaubt, wird sie
ernüchtert, schämt sich ihrer Ekstase, blufft eine Zeitlang mit
Klischees und schämt sich endlich auch dieser. Denn in Form
einer mathematischen Ästhetik wird Kultur kommen und
Schlüssel und Anzahl der Klischees aufdecken. Dann bleibt für
ihre Kunst nichts mehr. Nichts.
Das Absterben der Kunst wurde verschiedene Male bereits
bemerkt, und es geschah manches, um ihr wieder auf die Beine
zu helfen. Es ist selbstverständlich, daß der Durchschnitt die
Logik zu Hilfe nahm, jenen bon sens, der die Kunst erschlagen
hat. Es entstanden also Naturalismus, Impressionismus, die
Wagnersche4 Oper, die Ingenieurarchitektur, lauter Schein
erfolge, hinter denen entweder ein noch ursprünglicher Intui
tionskünstler oder ein Klischeeist steht.
Die l’art pour l’art-Bewegung dagegen ist ein Klischeeismus
mit logischen Krücken. Abseits von all dem stehen Erkenner,
die die Kunst im Wiedersuchen der Ursensation suchen: solch
ein Mächtiger ist van Gogh5; auf diesem Wege ist Kokoschka6
und [sind] noch einige wenige zu suchen.
Diese erlesenen Intellekte müssen aber dem sogenannten Irr
sinn verfallen, denn sie kämpfen gegen das eigene Gehirn, das
durch das Gedächtnis der Generationen belastet ist. Es sind
Erotiker, die sich zu Sexualisten zwingen wollen. Aber die
Kunst ist impotent, denn ihre Zeit hat sich mit der ihrer Kultur
erfüllt.
Das Satyrspiel
Daß diese Kultur ihrem Ende entgegeneilt, zeigt ihre senile
Geschwätzigkeit.
Das Übelriechende dieses Sterbens heißt Bildung. Unsere
Bildung ist die Fähigkeit, über Kunst zu sprechen. Zwar gibt es
einige, die Konradins I7 Todestag und den Vereinigungspunkt
Druts und D njeprs8 kennen, doch ist deren Sicherheit des Wis
sens nicht einmal immer glaubhaft. Hauptkriterium der Bildung
bleibt das Verhältnis zur Kunst.
Und wahrlich, es ist ein inniges Verhältnis, man könnte von
diesem Standpunkt aus unsere heutige Zivilisation durch und
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durch, ja, durch und durch, künstlerisch nennen. Ist doch deren
Quintessenz das [sic!] feine Essay, das geistvolle Feuilleton, die
tiefgründige Kunstkritik.
Ein tiefes Bedürfnis nach diesen Kulturblüten hat die weiße
Welt erfaßt.
Blumentage des Geistes. Amerika, der Kraftprotz Amerika
pilgert aber nach den Bildungsstätten und ehrwürdigen Kultur
zentren der alten Welt, um auch Teil zu haben an der schmach
haften Seligkeit. Die Kunst ist ein liebliches Püree geworden,
und wenn sie Kultur sagen, meinen sie Püree löffeln.
Das Erdenbild wird in den Typen des Kunstgeschwätzes fest
gehalten: man sage Japan, es wird ein Farbenholzschnit er
scheinen, man sage modernes Leben, und es zeigt sich der Zu
schauerraum eines Berliner Theaters, und man denke an das
Quattrocento, da steigen Baedeker9 und Uffizien auf.
Die Bildung sitzt an der Schüssel, in der sich Reste der süßen,
lieblichen Speise befinden und freut sich, daß ihr die Schüssel
immer nachgefüllt wird. Es ist erfreulich, daß sie nicht merkt,
daß man ihr Wasser, meistens Schmutzwasser, nachgießt.
Sie wird an einer eklen Wassersucht zu Grunde gehen.
Die Climax
Ursprung des Lebens. Was kann unser armes Gehirn als ur
sprünglich denken? (Man rekapituliere: Schopenhauer, Die
vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde10.) Zeit, Raum, ein
undefinierbares Etwas in demselben: die Materie.
Die Materie ist das spezifisch Raumausfüllende, die Eigen
schaft (Eigenschaft = Veränderung) das Zeitausfüllende.
Man mag daher das Verhältnis setzen:
Unbekannte Eigenschaft: Materie = Z e it: Raum
E :M = Z :R
E= M
R
Da wir auf Mathematik eingeschworen sind, haben wir obige
Formel anzuerkennen, und diese besagt:
_T . . r Materie
Ureigenschatt = Zeit
Raum
Materie
Zu erklären wäre der Bruch Nehmen wir den
Raum
Raum als eine Vielheit von Raumeinheiten an, so bedeutet der
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Bruch die Tendenz zur Konzentration der Materie auf die
Raumeinheit; der Multiplikant »Zeit« sagt aber, daß die Ten
denz des Augenblickes vervielfältigt wurde, eine Eigenschaft,
und zwar eine konzentrische Bewegung, geworden ist. Es wäre
mithin eine Formel, eine Erklärung einer Urbewegung gefun
den worden, die nun ihrerseits als Ausgangspunkt aller übrigen
Lebensregungen gelten darf und Haeckel11 möge seine Freude
daran haben.
Allerdings, wenn wir nicht wüßten, daß wir diese Bewegung
zur Bildung kosmischer Körper brauchen, wäre die ganze Er
klärung flau. Aber immerhin, sie gelte.
Phantasmen auf der Basis des Konzentrationssatzes:
Größte Verdichtung = Mikrokosmos der Materie = Entste
hung des Selbstbewußtseins (der Zelle?).
Konzentration = Bindung von Energie, deren Auslösung :
Leben heißt. (Wärmeentwicklung!)
Das Leben ist die Polarität der ursprünglichen Konzentra
tionskraft, es verkörpert die Elastizität der Materie.
Ein Materiensystem unterliegt so lange dem Wechselspiel
»Konzentration - Lebenstätigkeit«, bis sich diese beiden Kräfte
die Waage halten; die Elastizität der Materie erstarrt (und neue
Energie könnte ihr nur durch Zusammenstoß mit einem neuen
Materiensystem gegeben werden, allerdings auf dessen Ko-
sten).-
Das Wechselspiel »Konzentration - Lebenstätigkeit« ist die
Grundlage jener großen Polarität in der Natur, die Goethe so
tief beschäftigt hat.
Die Rückstrahlung des Lebens in die Primärform der Materie
geht in verschiedenen Geschwindigkeiten vor sich. Die langsa
men Tempi erzeugen den Charakter des Weiblichen, die
schnellen des Männlichen. - Die langsame Ausstrahlung hin
terläßt eine Akkumulierung von Lebensenergie, die durch den
Zusammenstoß mit einer Hochgeschwindigkeit entladen wird:
Zeugungsfähigkeit des Weibes.
Beweise: das ruhende weibliche Ei, die schwärmenden Sper-
matozoen, höheres Lebensalter der Frau, die Ähnlichkeit des
Weibes mit dem Kinde (Teint, Liebe des Mannes für das Weib
und den Knaben, hingegen gibt es keine Mädchenliebe des
Weibes!). Die Anziehung zwischen den Geschlechtern er
scheint so als die Tendenz zweier nebeneinander fließender
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Wasser, die auf gleicher Ebene verschiedene Geschwindigkei
ten erhalten haben, sich zu vereinigen und ihre Geschwindig
keiten auszugleichen. Beweis: Verähnlichung der Geschlechter
nach der Impotenz.
Ein Stampfrhythmus
Heilige Drei
Der Terzryhthmus verbindet den Geist mit der Umwelt, er pul
siert in beiden, er stampft im Geschlecht, er ist die Kunst, er ist
es, der den Geist zu etwas schön sagen läßt. Er ist der Sinn des
Lebens, der Lebensbejahung, der Sexualität, des Kampfes, des
Tanzes, er ist der große Ausdruck der Goetheschen Polarität.
Er ist die Kunst.
Wollt Ihr noch Beweise?!
So wandelt gemächlich mit Spencer12 durch Museen, seht
Euch Waffen der Papuas an, die Terzkerben in die Ränder ihrer
Schilder schneiden (der Ursprung ist immer linear), geht mit
Spencer zu den Kindern, die sich an regelmäßigen Steinreihen
ergötzen, schaut den primitiven Stampftänzen zu, geht mit
Spencer zu den Tieren, die vor Sexualität und Lebensbejahung
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Farben- und Tonflecke [sic!] werden, hört bei den Negern den
Ekstasen des Zählgebetes zu. Das ist die gemächliche Methode.
Wollt Ihr noch Beweise?
Erkennt den Sinn der Symmetrie, erkennt die Schönheit der
Abendröte, der hohen Berge, des Meeres, schaut Euch griechi
sche Säulenreihen und ihre Kannelürungen an. Das Erhabene
ist die einfache Terz zwischen den Ruhepunkten und leichter
zu begreifen.
Wollt Ihr noch Beweise?
Alle Natur ist »schön«, weil sie lebensbejahend ist, das Erha
bene, das Hochgebirge, das Meer ist schöner, weil die Terz
prägnanter wird; alle Dinge, alle Häuser sind schön, wenn sie
ihrer Bestimmung voll, ganz zweckmäßig dienen, es ist die le
bensbejahende Terz der Natürlichkeit [in] ihnen, aber sie kön
nen schöner werden, wenn der Künstler die Terz betonen kann.
Das Charakteristische der Stile ist die Art dieses Hervorhe
bens, es ist zum großen Teil das Ornament. Verschönen heißt,
auf natürlichen, mithin natürlich schönen, Dingen Maße su
chen, die unserer rhythmischen Lebensbejahung, der Terz ent
sprechen. Das mögen sich Zweckkünstler und Nur-Naturali-
sten, diese Logiker des Hausverstandes, diese Aufgeklärten
hinter die Ohren schreiben.
Was ist Kunst?
Kunst ist Ornamentik oder angewandte Ornamentik. Es ist die
reine Terz und die vervielfältigte, zusammengezogene Terz, es
ist Musik oder Darstellung mit Hervorhebung des Terzcharak
ters. Die Kunst ist, so raffiniert sie sich auch schon gebärde,
naiv, ein plumpes Unterfangen. Sie wird bald sterben. Heilige
Drei.
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chen Entstellungen, in einem Werke andeuten kann: der mag
Künstler genannt werden.
Die platonische Idee ist schön. Die tiefe Lust und harmonische
Befriedigung aber, die dem Menschen durch das Schönheitsge
fühl gegeben wird, entsteht durch die Ausschaltung des Willens,
aus der Betrachtung jenes Willens, der der Quell allen Leidens
und Elends ist.
Aber Schopenhauers Erklärung der Freude am Schönen steht
nicht im Einklang mit seiner Definition des Erkennens des
Schönen. Denn was hat das Lustgefühl des Nichtwollens mit
dem Schönheitsgefühl vor der platonischen Idee zu tun? Und
doch sollte hier ein tiefer Zusammenhang bestehen, denn nur
auf Grund des subjektiven Lustgefühles kann der platonischen
Idee das Prädikat »schön« verliehen worden sein!
Wiewohl sich nun gerade in der Schopenhauerschen Philoso
phie eine Reihe von Ausgangspunkten zur gründlichen Be
handlung dieser Frage vorfinden, obwohl die Definition des
Schönheitserkennens sogar ein direkter Hinweis auf die Beant
wortung ist, umgeht Schopenhauer diese aufs Peinlichste und
führt den Begriff des objektivierten, neutralisierten, wie ich ihn
nenne, Willens ein. Er mußte, bewußt oder unbewußt, dies tun,
da ein anderes Vorgehen sich seinem metaphysisch-ethischen
Monumentalsystem nicht eingefügt hätte und insbesondere
dessen ethischen Teil ins Wanken hätte bringen können: er
brauchte den neutralisierten Willen als Vorstufe seiner kom
pletten Aufhebung.
Die Verfolgung seines ersten Gedankens: Schönheitsempfin
den ist Erkennen der platonischen Idee, führt aber zum gerade
oppositionellen Resultat: die Schönheit als Bejahung, als
größte Stimulation des Willens.
Schopenhauer weist selbst so oft auf seine enge Verwandt
schaft zu den indischen Denkern [hinj; auch Platons Verbin
dung mit den orientalischen, eleatischen, pythagoräischen Phi
losophien steht außer Zweifel, Platon leitet seine »Ideen«13 zur
Weltseele, und hinter dem »Willen« der Einzelerscheinung
steht die »Welt als Wille«, der Weltwille. Alles ist ein Teil des
Brahma. Alles läuft zum Brahma zurück! Tat tvam asi - dieses
Lebende bist D u. 14 Das Erkennen der platonischen Idee ist also
das Erkennen des Prinzips allen Lebens, mithin auch des eige
nen, es ist also das Erkennen jener Macht, die gebieterisch das
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Wort »sei« ausspricht und die das Lebensbejahende kat’ exo-
chen ist. Man mag nun dieses Lebensprinzip als unergründliche
Weltseele, als blinden Willen oder pantheistisch als Gott auf
fassen (nicht umsonst sagt die Sprache vor dem Schönen »gott
voll«): das wahre Schönheitsgefühl wird immer etwas Trösten
des und Religiöses besitzen, denn es ist das Ahnen des
Urverwandten, es ist das aufflackernde Bewußtsein, eins zu sein
mit dem Geiste des Alls: das Brahma steht über dem Tode.
Klein-psychologisch ausgedrückt: das Parallele, Gleichlau
fende (Verwandte) wird angenehm empfunden.
Nein, das Schönheitsempfinden, das künstlerische Empfinden
ist nicht Ausschaltung des Willens, es ist der erhöhte Lebens
wille, es ist das potenzierte Leben.
Ein haltbarer Beweis meiner Anschauung ist im Verhältnis
des Schönheitsempfindens zur Erotik zu finden.
Das sexuelle Moment ist im Leben alles Seienden potenzierte
Lebensbejahung. Es ist nun eine jedem Wesen zugehörige Ei
genschaft, seinen ganzen Lebenskomplex stets nur auf eine
Note einstellen zu wollen: seelische Schmerzen bringen kör
perlichen Verfall, die Welt wird durch trübe Brillen angesehen
usw. usw.
Die Nerven sind wie ein Komplex von Stimmgabeln, die sich
eine nach dem Ton der andern einstellen, und die glückliche
Sprache hat hier das Wort »Stimmung«, »stimmungsvoll« ge
prägt. Das Nichtparallele wird unangenehm empfunden. Die
Nerven verlangen nach Stimmung.
Es ist nun ohne weiters begreiflich, daß das hochpotenzierte
Leben des sexuellen Stadiums nach der potenziert lebensbeja
henden Anschauungsweise, wie sie eben nur im Schönheits
empfinden geprägt ist, verlangt, und daß umgekehrt ein reiches
Schönheitsempfinden dem erotischen Empfinden einen starken
Untergrund bietet. Wäre es denn anders erklärlich (und hier ist
endlich eine Erklärung), daß der ästhetisch wertvollere Mensch
auch der sexuell begehrtere ist?, daß künstlerisches Können,
eine schöne Stimme, die Beine einer häßlichen und graziösen
Tänzerin eine solch starke sexuelle Macht sind? Wo Künstler
leben, sind die erotischen Sitten tiefer und freier. - Und ander
seits: Hinz und Kunz werden zur Balzzeit poetisch; manches
Volksliebeslied mag sogar so entstanden sein. Die Institution
der Hochzeitsreise entspringt vielleicht dem Bedürfnis, dem
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einzigen Moment des Schönheitsempfindens im ganzen Leben
eines Philisters zur Geltung zu verhelfen. -
Hier ist auch die Merkwürdigkeit des Vogelgesanges, der G e
schlechtsbuntheit der Gefieder und deren Entfaltung zum ero
tischen Zweck anzuführen, überhaupt die ganze sonderbare In
stitution der Geschlechtszierden der Tiere und last not least: die
tiefe Beziehung zwischen Ästhetik, Erotik und Tanz und -
Kampf gehört zur gleichen Phänomengruppe.
Meine metaphysische Erklärung des Werdens deckt nun die
angedeuteten Zusammenhänge vollends auf.
M
Wir fanden die Urformei der Bewegung: X = — Z und deu-
K
teten sie entweder substanztheoretisch als Notwendigkeit der
Pyknonenbildung15 oder rein-energetisch als Begründung der
Entstehung von Energieknotenpunkten. So oder so (schließlich
sind beide Auslegungen ein und dasselbe), es ist unschwer zu
erkennen, daß die also zur mathematischen Notwendigkeit ge
wordene Urbewegung folgende Stadien aufweist: Energieent
wicklung (Verdichtung) - Ruhe (Pyknone) - Gegenenergie
(Ausstrahlung). Da aber die Ruhe - selbstverständlich - un
möglich ist, kann diese Phase bereits zur Gegenenergie gerech
net werden, so daß sich die Formel auf Energie —Gegenenergie
beschränkt. Energie - Gegenenergie, hier ist die Erklärung des
das ganze Leben begleitenden Gegensatzes positiv - negativ;
hier ist die Lösung des Rätsels der ewigen Polarität, jenes Rät
sels, das Goethe Zeit seines Lebens begleitet hat. - Der Ratio
nalismus löst es also in Sicherheit auf.
M
Die Formel X = — Z ist das Urprinzip allen Sems, sie ist
R
also auch der Kern des Schopenhaucrschen Weltwillens, der
platonischen Idee. In ihr manifestiert sich die Schönheit der un
zähligen Ideen, das heißt in ihrer Inkarnation Energie - Gegen
energie.
Energie - Gegenenergie: hört man das Stampfen, das klin
gende Schneiden ihres Rhythmus?! Und ist hieraus die tiefe
Bedeutung des Tanzes nicht klar zu erkennen?, daß es heilige
Tänze gibt! Der Tanz ist der Rhythmus des Körpers, er ist das
Erkennen des Prinzips der Lebensbejahung, der Schönheit, im
eigenen Ich: denn auch das erkennende Subjekt ist platonische
Idee. Und es ist über alle Maßen bezeichnend, daß das Blut in
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seinen Adern nach dem Takte jenes Rhythmus pulsiert, und
daß seine höchste geschlechtliche Wollust und Lebensbejahung
die Körper in den gleichen Zuckungen aneinanderpreßt. Liebe
ist rhythmische Sympathie: dies ist mehr als ein öder Witz.
Also ist der Tanz jenes Schönheitsempfinden, dessen ero
tische Wirkung die ursprünglichste und primitivste ist. Seine
Lust ist dem Ur-Stampfrhythmus direkt entnommen (alle
Volkstänze gehen unter der Begleitung von Schlaginstrumen
ten, heiligen Trommeln, Händeklatschen, rhythmischem kon
sequenten Anruf, Rasseln vor sich), und der Charakter der Pri
mitivität verwehrt ihm große Modulationsfähigkeit. Der
Kulturtanz wird bedeutungslos.
Wo aber für die »Schönheit« des Tanzes ein Steigerungsbe
dürfnis vorhanden war, dort wurden seine Sensationen dyna
misch verstärkt: durch Verstärken des Rhythmus, durch Er
schwerung der Energieentwicklung zur Erlangung der kräftigen
Sensation (Grotesktänze, Kosakentanz) oder durch Zusam
menschiebung der rhythmischen Energiesensationen, d. h.
Tempobeschleunigung (Farandole, Bolero, Czardas, Nigger
tänze des Südens).
Die höchste dynamische Steigerung des Tanzes ist aber der
Kampf. Das Schönheitsempfinden wird hier allerdings äußerst
unrein. Eine rein innerliche Kampfeslust ist zwar dem Men
schen (vide Naturvölker, Germanen, Kinder, auch Tiere) nicht
abzusprechen, doch vermischt sie sich mit dem Nützlichkeits
zweck, wie Kampf um das Weibchen. Das Prinzip läßt sich hier
als Energie - Gegenenergie am unverhülltesten erkennen, doch
lassen sich die Spuren seiner Rhythmisierung noch gut nach-
weisen: heilige Kriegstrommeln, Schlagen der Schwerter auf
die Schilde, Schlachtrufe. Der Orang-Utan geht mit den Fäu
sten auf den Brustkasten trommelnd zum Kampf. Mut, ein ho
hes erotisches Moment.
Der volle Genuß der Kirchweih wird durch die Rauferei ge
bracht. -
Eng verwachsen mit den Rhythmen des Tanzes, seine Über
tragung in klarste Geistigkeit: die Musik. Diese aber wieder
aufs innigste mit der reinen (und angewandten) Ornamentik
verbunden. Doch ist es angezeigt, vor deren Erörterung den
grundlegenden Stampfrhythmus noch weiter zu definieren: er
manifestiert sich lediglich als Energie und Gegenenergie, also
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als zwei ewige Relativa, die man schematisiert folgendermaßen
darstellen kann:
123 123 ____________
123 123 (recte MAMA etc.)
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vielfach mit dem Terzrhythmus, das heißt mit dessen Ausflüs
sen befassen und manches daher voll aufrechterhalten werden
kann, so bedürfen doch die Grw/iJanschauungen einer tiefen
Rektifizierung, die hier noch kurz angedeutet sei.
Um wieder die brave Spencersche Methode anzuwenden: Die
Musik des Wilden ist eine Illustration seines Stampftanzes, sie
ist der Terzrhythmus in reinster Gestaltung, ihr Hauptmittel ist
das Schlaginstrument. Auf gleicher Stufe steht das primitive
Ornament: beide symbolisieren den Terzrhythmus naiv und
unverhüllt:
Musik
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Ich wiederhole also und erweitere meine [Ausführungen]:
Grundlage der bildenden Kunst ist Verschönerung durch H er
vorhebung der Rhythmen, ist also Ornamentierung im reinsten
und weitesten Sinn des Wortes, und es ist bezeichnend, daß
noch jeder Kunststil, und nicht nur der der Architektur, seinen
prägnanten Ausdruck, seine Standardformel in seiner O rna
mentform gefunden hat.
Ich sagte Grundlage aller bildenden Kunst, denn ich wider
spreche entschiedenst der Meinung, die bildende Kunst hätte
ihre Uranfänge in den Wandzeichnungen der Steinzeithöhlen.
Der Naturmensch hat, weder jetzt noch damals, Sinn für die
Schönheit seiner Umgebung gehabt, denn er kennt diese Um
gebung, Schopenhauerisch gesprochen, nur als Objekt seines
Willens; er besitzt also keineswegs die Hauptfähigkeit zur H er
vorbringung eines reproduzierenden Kunstwerkes: Empfinden
der Schönheit des Objektes. Sein Schönheitsempfinden äußert
sich völlig brutal und einfach als nackter Rhythmus: Tanz,
Stampflieder, Kampf, eventuell als Kerbornamente; die Zeich
nungen auf den Höhlenwänden sind aber einfaches Mittei
lungsbedürfnis und Interesse, nicht Schönheitsempfinden an
dem Objekt. Deswegen werden auch stets die seinem bloßen
Willen, Futtertrieb, nächstliegenden Objekte dargestellt,
nämlich Jagdtiere. Eine Weiterentwicklung dieser Tätigkeit
führt nicht zur darstellenden Kunst, sondern zur Photogra
phie.
Erst durch vollständige Unterordnung unter die rein rhyth
mische Kunst werden Malerei und Plastik zur Kunst. Und zwar
hauptsächlich durch Anrankung an die Architektonik, deren
Stellung wir als rein rhythmische, hochornamentierte Kunst als
bewiesen voraussetzen können.
Die Höherentwicklung der darstellenden Kunst bedingt sich
aus folgenden Faktoren: das Mitteilungsbedürfnis, das den Jä
ger den Auerochsen an die Höhlenwand zeichnen ließ und den
Ägypter zur Schaffung der Hieroglyphenbilder veranlaßte, die
ses Sprachbedürfnis wird vom Stimmungsbedürfnis des Rhyth
musgefühles ergriffen und in seinen Dienst gestellt.
Wenn wir nun sahen, daß das Schönheitsgefühl des Urmen
schen am gewaltigsten beim Tanze und beim Kampfe zum Aus
bruch kommt, so ist es ganz selbstverständlich, daß sämtliche
Ausdrucksmöglichkeiten zur Unterstützung, Verkündung die
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ses Stadiums herangezogen werden. Und da das rhythmische
Gefühl durchaus mystisch ist und dem Religiösen eng ver
knüpft, erscheinen die Darstellungen der bildenden Kunst als
Götter-(Tanz-) und Helden-(Kampf-)Darstellungen. Und es
ist aufs äußerste bezeichnend, daß die ersten Produkte der
künstlerischen Bildnerei nicht naturalistisch sondern [?] streng
rhythmisiert sind: man denke an die Sphinxalleen, man denke
eben an die Hieroglyphen, an die Riesenstandbilder der ägypti
schen Könige, und später an die Anfänge der Malerei, an die
rhythmischen Gestalten byzantinischer Heiligen.
Ich habe es bereits vorweggenommen: die gleiche Abstufung
zwischen Sprache und künstlerischem Ausdruck, hier Dicht
kunst.
Der Sprache wurde allerdings der Eintritt in die Kunst durch
ihre innige Verbindung mit der Musik bedeutend erleichtert,
auch darf nicht vergessen werden, daß sie an und für sich den
Stempel des Lebendigen, die platonische Idee, die Terz in sich
trägt. Nun kommt ihr, analog dem Vorgesagten, noch zu Gute,
daß sie zur Reproduzierenden der stärksten Schönheitsrhyth
men wird und mit deren Mitteln auch noch die primitiven Sen
sationen ausübt: das Heldengedicht ist primitiv. Gleichzeitig
(Prinzip der Stimmung) holt sie ihre eigene Rhythmenfähigkeit
hervor - Verschönen heißt die aufbauenden Maße akzentu
ieren, die der Terz entsprechen! - ihre Worte ordnen sich: es
entstehen Vers und Reim, es entsteht die Dichtkunst aus der
Idee des Lebens, der platonischen Idee, der Sprache.
Der Kreis der landläufigen Kunstgattungen wäre durchgan
gen, und es erscheint klar dargestellt, daß ihnen allen, wenig
stens in ihrer primitiven Urform, die Terz zu Grunde liegt; doch
während dies bei den freien Künsten Musik, Ornamentik, Ar
chitektur auch in ihren höchstentwickelten Formen zu Tage
tritt, scheinen sich die reproduzierenden Künste von dem Prin
zip zu entfernen: sie werden im Laufe der Zeiten immer mehr
und mehr naturalistisch, realistisch.
Diese Erscheinung ist aus zwei Ursachen abzuleiten: erstens
(das Objekt vorstehend) verlangte der pantheistische Rationa
lismus, daß die gotterschaffene Welt in allem und jedem als
schön angesehen werde; zweitens (subjektiv) verlor die reine
Terz mit dem Fortschritt der Kultur (d. h. künstlerischer, eroti
scher Kultur) ihren Reiz als einziger Schönheitsfaktor. Es wäre
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schal, hier weiter darauf einzugehen und zu beweisen, daß der
primitive Mensch deutlichere Genüsse benötigt als der verfei
nerte - für unsern Fall scheint es bezeichnend, daß selbst die
Römer der Naturschönheit vollkommen verständnislos gegen
überstanden und sie nur vom Standpunkt der Annehmlichkeit
aus werteten: rauhes Meer und Hochgebirge erschienen ihnen
als höchstes barbarischstes Grauen. Deswegen haben wir es
aber noch lange nicht viel weiter gebracht; der gewöhnliche
Schönheitsbegriff wagt sich zwar ans Meer und ans Hochge
birge, sogar an Steppen heran, bleibt aber daselbst stehen, und
von den meisten übrigen Gegenden und Naturmanifestationen
hört man, daß »nichts dran« sei. Die Vorliebe für Gebirge mit
den stark betonten Gegensätzen, für großtönige Bilder wie
Meer und Steppe zeigt, wie primitiv eigentlich doch noch immer
das Schönheitsempfinden geblieben ist: es läuft noch immer der
leicht erkennbaren Terz nach. Hier haben wir im übrigen wie
der einen deutlich ersichtlichen Angriffspunkt für eine endgül
tige Ästhetik: Erkennbarkeit der Terz. Die moderne Ästhetik
wird reine Mathematik sein, Zahlentheorie mit dem Einheits
wert der Terz. Wiewohl auch schon aus den einleitenden Un
tersuchungen und Feststellungen hervorgegangen ist, daß alle
Schönheit, alle Kunst eng miteinander verwandt sein muß, so
ist die graduelle Verwandtschaftlichkeit aus der mathemati
schen Ästhetik noch weit schärfer zu entnehmen. Menschen
von hohem Schönheitsgefühl haben diese speziellen Zusam
menhänge stets gefühlt, und wenn man versucht, ästhetische,
charakteristische Äußerungen einer Person, eines Volkes, aus
der umgebenden Stimmung zu erklären, so ist [man] durch A b
leitung aus dieser ästhetischen Anschauung plötzlich von einem
vagen Herumtappen erlöst worden. Es wird zu finden sein, wel
che Note dem Wienerwald und der Beethovenschen und Schu-
bertschen Musik jene innige Zusammengehörigkeit gibt,
warum Zwischenempfindungen restlos durch Musik dargestellt
werden können etc. etc. Man vergesse nie: Musik ist Mathema
tik. - Leicht ist es auch zu erkennen, daß die untermalende na
turalistische Musik eines Strauss unmusikalisch ist und vor al
lem den unmusikalischen Engländer entzücken wird. Über die
kommende Ästhetik der Mathematik hätten vielleicht die Py-
thagoräer Aufschluß geben können. Es ist selbtverständlich,
daß mit der reinen Terz für die künftige Ästhetik kein Auslan
26
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gen zu finden ist. Ist doch unsere Terz auch nur erst der Terz-
rhythmus gewesen; die Terz Harmonie drängt sich directement
auf.
1909
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Gesetz der Anpassung, angewandt auf die platonische [Idee].
Ich sage Anpassung, denn das Sammelsurium der Erfahrun
gen, genannt Rationalismus, wurde im berühmten »Kampf
des Lebens«21 gesammelt zur Abwehr und Überwindung der
feindlichen Außenwelt. Sämtliche Erfahrungen sind dem
nach Produkte der Furcht - und das ist festzuhalten. Denn eines
der wichtigsten Hauptmerkmale derselben ist die Scheu vor
dem Unbekannten, Den-Rücken-gedeckt-haben-wollen, abge
schwächt »die Neugierde«. Und tatsächlich ist der große Wis
sensdurst Hauptmerkmal des Rationalisten, Sich-selbst-Beru-
higen-müssen, Ä-tout-prix-Erklären des Unfaßbaren und die
geographische Neugierde.
Nun glaube ich, daß bei der verhältnismäßig außerordentlich
großen Inzucht der weißen Rassen die Anpassungsmerkmale in
der bekannten Ökonomie der Natur derart zur Hochbildung
gelangten, daß sie nun nahezu als Selbstzweck dastehen.
Aufklärung ist Zweck geworden. Geographische Erfassung ist
Zweck. Fortschritt ist Zweck. Der Rationalismus ist etwas Be
grenzendes, Begrenztes - als solcher ist er in der Endlichkeit
und dem Sterben unterworfen; er stirbt, wenn seine Möglich
keiten erschöpft sind, sein Selbstzweck sich erfüllt hat. Und im
Fallen reißt er sein Werk, die Kultur der Weißen mit sich. Und
es sei hier gleich festgestellt, wir stehen vor dem Augenblick
dieses Sterbens.
Das vornehmste Todeszeichen, die geographische Neugier,
beginnt das Ziel ihrer Wünsche zu erreichen, denn die Pole sind
entdeckt. Ob nun Peary22 oder Cook23 oder Shackleton24 wirk
lich dort gewesen sind oder nicht, ist völlig Nebensache; der
Schein, der Zwirnsfaden genügt - so heftig ist das Verlangen
des Rationalismus nach Befriedigung. Ich sagte es vorhin: ä tout
prix erklären, sich selbst beruhigen müssen. Wir stehen im
Zeitalter des Verkehrs: das ist die Climax; die Pole sind ent
deckt: das ist der Schlußpunkt dieser weißen Zivilisation.
Was bleibt dem Leben dieser Kultur? Ausfüllende Detailar
beit, und wenn die geleistet sein wird, nichts mehr. Die Energie
wird objektlos und muß hysterisch werden. Toll geworden, wird
sie den Verkehr um die überbekannte Erde treiben, und in
Wolkenkratzern kann sie sich entladen.
Die Anzeichen dieser Hysterie sind allenthalben zu sehen.
Hat der Rationalismus des Lebens in der geographischen
28
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Neugierde sich gezeigt und in der Entdeckung der Pole seine
Endformel gefunden, so hat der Rationalismus des Geistes die
Ziele seiner metaphysischen Neugierde in der endgültigen Lö
sung der »Welträtsel« erreicht. Haeckel erklärt im Nachwort
seiner Welträtsel25 (Volksausgabe), daß für den Monisten sol
che nicht mehr vorhanden seien. Wir wissen alles. Die Welt be
steht aus Substanzatomen; jedes einzelne ist gefühls- und be
wegungsbegabt. Diese primäre Bewegung bildet die Welten,
jenes primäre Gefühl das Selbstbewußtsein - das Selbstbe
wußtsein paßt sich dem Kampf ums Dasein an.
Schopenhauers klares Denken definiert die Ästhetik: das
Schönheitsgefühl ist die Freude, die Dinge mit jener Objektivi
tät ansehen zu können, welche befähigt, in ihnen ihre verbor
gene »platonische Idee«, ihr wahres Sein zu erkennen. Künstler
ist jener, der die Gabe besitzt, die Dinge derart darzustellen,
daß sie ihre, sonst nur geahnte, »platonische Idee« zum Be
wußtsein des Beschauers bringen. Als Beispiel führt er an: Idee
des südlichen Sommertages.26
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hier der Schlüssel zu finden: Freude an der »Idee« - Freude am
Parallelen; denn die »Idee« des geschauten Dinges ist mit der
Idee des eigenen Ichs tief verwandt. Tat tvam asi - das bist Du.
Dies der Grund, warum der Künstler im Werk seine Persön
lichkeit mitsprechen lassen kann, sogar muß: Künstler und O b
jekt sind verw andt-beide werden im Werk reproduziert, beide
lassen die Schönheit der »Idee« sehen - zwei Ideen, ein Werk.
Und das Parallele wirkt beglückend. Auch hier kann noch auf
die Schopenhauersche Lehre zurückgegriffen werden: »Idee«
= Wille. Alles, was den Willen unterstützt, wird angenehm
empfunden, alles, was sich ihm entgegensetzt, unangenehm.
Das Parallele und Verwandte wirkt angenehm: die W ahrneh
mung der Idee ist angenehm, sie ist schön.
Nun wurde im vorigen Kapitel dargelegt, daß das Prinzip der
M
Urbewegung in die Formel X = Z = Kontraktion, Schwere,
Kohäsion gefaßt werden kann und mithin die Vogtsche28 Py-
knonenhypothese zu einer ernsthaften Theorie befördert wer
den würde.
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17 Raffaello Santi (1483-1520). Wahrscheinlich Anspielung auf G. E. Lessings
Emilia Galotti (1,4): »[Wäre Raphael nicht das größte Genie gewesen (...).
wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?]«
18 Vgl. Arthur Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vorn zurei
chenden Grunde, 4. Kapitel § 21 (gegen Anfang).
19 Ibid, »Einleitung«, 1. Kapitel § 3, 2. Kapitel § 7 etc.
20 Ibid, 4. Kapitel § 21 (gegen Ende).
21 Anspielung auf Charles Darwin, Onthe Origin ofSpecies by Means of Natural
Selection (1859).
22 Robert E. Peary (1856-1920).
23 Frederick Albert Cook (1865-1940).
24 Ernest Henry Shackleton (1874-1922).
25 Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über biologische
Philosophie (1899).
26 Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Erster Band,
Drittes Buch, §§ 30, 37.
27 Ibid, § 43.
28 Karl Vogt (1817-1895), deutscher Naturforscher, Materialist. Vgl. Physiolo
gische Briefe für Gebildete aller Stände (Gießen 1845); Lehrbuch der Geolo
gie und Petrefaktenkunde, 2 Bände (Braunschweig 1846); Köhlerglaube und
Wissenschaft (Gießen 1859).
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O rn am en te
(D e r Fall L o o s1)
Das reinliche Haus2 auf dem Michaelerplatz3 soll durch ein ro
hes, handgreifliches Attentat beschmutzt werden, und das ist
verwerflich, beschränkt, schimpflich.
Der Protest gegen eine empörende Dummheit bildet aber
noch keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem »Fall
Loos«, denn der »Fall Loos« ist nicht das Haus, sondern das
künstlerische Wollen, die Idee des Erbauers. -
Loos ist ein Künstler, der gegen die Philister arbeitet (welcher
Künstler täte es nicht!), und doch ist es für seine Idee bezeich
nend, daß sie die aktuelle Angelegenheit, ein Bruderzwist im
Philisterium geworden ist. Man lese bloß die lieben Tagesblät
ter:
Hie, Linksliberale, Sozialdemokraten, Auflärung! hie, wir
Professoren, Akademiker, Tradition!
Schneiderinnen, Professoren, Kritiker, der Kampf tobt. -
Reinlich steht das Werk. -
Das Problem Loos liegt in der Idee.
Gegen die Kultur des Bronzenippes zu wettern, ist löblich,
aber unnötig. Man lasse ihnen ihre Bronzen. Die Vernichtung
des Plüschdivans konnte auch nicht das letzte Ziel Loos’ sein:
der Kampf gegen den Philistergeschmack ist nur die Konse
quenz seiner allgemeinen Kunstprinzipien, und als solche, als
Grundthesen der neuen Kunst, der Ingenieurästhetik, sind
diese Prinzipien gedacht.
Er verachtet das Ornament; es liegt nicht in der Luftlinie des
Zweckvollen.
Alles Zweckvolle ist schön; es findet seine Schönheit in der
Logik seiner Linien, in der Ökonomie seines Aufbaues. Beweis:
die Maschine ist ästhetisch.
Der einzige Schmuck sei edles Material. -
Und ich unterstreiche diese Maximen und bin überzeugt, daß
sie noch manches erfeuliche Werk hervorbringen werden. Sie
sollten in jedes Lehrbuch der Baukunst, des Handwerkes auf
genommen werden; sie sind die einzige Richtschnur für den
mittelmäßigen Architekten.
Doch in ihnen die Basis einer neuen Kunst zu sehen, geht nicht
32
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an. Die »stahlharte, eiserne Kunst des Maschinenzeitalters« ist
ein Literatentraum, sie würde sich zu gut in das Klischeebild
»moderne Ingenieurkultur« einfügen.
Merkt Ihr denn nicht die Platitüde der Loos’schen Ideen, ihre
Niaiserie, wie sie Nietzsche genannt hätte!
Merkt Ihr denn nicht, daß hier wieder einmal der Gedanken
gang der Aufklärung am Werke ist, um wieder einmal das
Wunder der Kunst mundgerecht zu machen! Daß hier derselbe
peinliche bon sens vorwaltet, der schon Gott gestürzt und den
Protestantismus errichtet hat, und der sich an der Gleichheit der
Menschen begeisterte.
Hoch die Vernunft! Es lebe der Rationalismus!
Aber der vernunftbesessene, schreiende Gottesleugner ist fad.
Er ist der revoltierende Philister.
Die Entdeckung der Gemeinplätze überlasse man den Zwölf
jährigen. -
Die Loos’schen Ideen sind pädagogisch wertvoll, aber anson
sten unmöglich, weil sie so wahr sind. - Die alte Kunst ist im
Begriff, mit ihrer Kultur zu verenden, und darüber wollen wir
uns freuen - jedoch die Möglichkeit einer neuen, sie baut sich
nicht mit Selbstverständlichkeiten auf. Jene Kultur mit ihrer
Kunst ist ein impotenter Greis, ihn neuerdings lebensfähig zu
machen, ist eine Aufgabe, die der weißen Menschheit unmög
lich sein dürfte. Aber die Selbstherrlichkeit des Rationalismus
wagt sich an alles: - und er geht hin, haut dem Greis den Kopf
ab, kastriert ihn, reißt ihm seinen lächerlichen Litzenschlafrock
herunter, steckt ihn in einen vernünftigen, englischen
Schneideranzug. - Nun ist der Greis gut gewaschen, praktisch
beschuht, nun sei er jung und schön. Leider ist er nun geist- und
geschlechtslos.
Das Ornament aber war der musikalische Ausdruck des Ge
schlechtes und des Geistes aller Kunst, Quintessenz der Kultur,
Symbol des Lebens, klarer und knapper als alle Vernunft.
Dies darzutun ist Aufgabe einer anderen Erörterung. -
Dem angepappten Ornament, dem Zierat, sei natürlich nicht
das Wort gesprochen.123
1 Adolf Loos (1870-1933), österreichischer Architekt.
2 Gebäude errichtet 1910/1911 nach Plänen von Adolf Loos. Vgl. auch Bd. 9/ L
S. 230 und Bd. 9 2, S. 34, Fußnote 27 dieser Ausgabe.
3 Platz in Wien.
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P am phlet gegen die H ochschätzung
des M enschen
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sehen: jede Einwertung des Menschen, jede Distanzierung zwi
schen Individuum und Individuum ist an sich ungültig. Sie darf
erst vollzogen werden, erlangt erst Geltung angesichts der Idee,
angesichts der ihr ewig innewohnenden Würde des Menschen,
vor der der Einzelmensch als Seiender stets unwürdiges Ge
zücht darstellt, als unendlich strebender aber den Abglanz ihrer
Göttlichkeit in seinen Augen tragen darf. -
Es gibt ein pathetisches Wort äußerster Verworfenheit, und
das hat das Ethos dieser Zeit geprägt: Reichtum des Lebens.
Wer vom Reichtum des Lebens spricht, kennt nicht die reine
Skepsis des Erkennens. Selbst der Asket, der sich vom Reich
tum abwendet, protestiert gegen die Wertschätzung, die dieser
durch den Genießer erfährt, und seine skeptischen Argumente
basieren auf der Tatsache, daß nicht alles was glänzt, Gold, und
daß das Gold selber sogar ein Tand sei. Der Reichtum als sol
cher, ob nun durch den Genießer bejaht oder als Tand durch
den Asketen verneint, bleibt in seiner Wesenheit als objektive
Wirklichkeit bestehen und wird nicht angetastet. Genießer wie
Asket sind in gleicher Weise Materialisten (und auch die aske
tische Skepsis ist materialistisch); ihnen ist die Vielfalt der Welt
- denn ohne Vielfalt gäbe es keinen Reichtum - eine problem
lose, dogmatisch akzeptable Wirklichkeit und beide sind sie,
soferne man den Philister als den absolut problemlosen Men
schen nimmt, dessen Ratio in dogmatischer Vorgegebenheit
klappert, in letzter Radikalisierung kategorisch philiströs. Da
mit ist aber auch der Sündenkeim in ihnen offenbar. Denn in
dem sie die Weltvielfalt und das in ihr beschlossene körperliche
Dasein, gleichgültig ob bejaht oder verneint, als Existenz aber
hinnehmen, verzichten sie darauf, die Vielfalt zur Synthese zu
formen. Ihr Werterlebnis ist punktuell, bleibt an der billigen
und risikolosen Ekstase der ersten Schenkung haften und be
friedigt sich an dieser. Solches Stehenbleiben am Anfang des
Weges - dessen unendliches Ziel erst das Göttliche ist - ist
schon für Origenes1 in der privatio, für Augustinus2 in der
amissio der Quell, um die demütige Kleinheit des Menschen vor
Gott nicht vergessen zu lassen, und immer wieder widersetzte
sich die Kirche den idealistischen Strömungen, die das Gottes
werk und Gott selber zum Produkt der aktiven Weltsetzung
durch den Geist, wenn schon nicht durch den Menschen herab
drücken wollten. Noch im Fichteschen3 Atheismusstreit besteht
35
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diese Opposition in voller Schärfe, und die phänomenologische
Ethik scheint hier das Erbe der Theologie vollinhaltlich antre-
ten zu wollen. Die aktive Weltsetzung in ihrer männlichen Prä
gnanz verblaßt vor dieser Hingabe zu einer - wie Werfel4 hier
sehr glücklich sagt - »bestenfalls idealistischen Windbeutelei
des Mannes« und wenn man diese kontra-idealistische Position
der Kirche eine Verweiblichung des Menschen nennen will, so
besteht Nietzsches5 Auffassung des Christentums - allerdings
nicht in Nietzsches Sinne - zu Rechte.
Es soll hier nicht die Idee des Göttlich-Guten im Widerstreit
der idealistischen und materialistischen Position auseinander
gelegt werden. Es ist schlankwegs zuzugestehen, daß der Be
griff der Liebe in der materialistischen Weltauffassung seinen
stärksten Rückhalt findet, und daß diese ihren Rechtsgrund,
wenn sie einen besitzt, nur im ethischen Wert des Liebesbegrif-
fes finden kann und in der christlichen Theologie auch findet.
Es sei auch vorderhand dahingestellt, ob dieser Liebesbegriff in
den idealistischen Komplex einzugehen befähigt ist. Rein lo
gisch genommen würde sich auch hier Materialismus und Idea
lismus in der Frage scheiden, ob in der aristotelisch-staunenden
Ur-Frage »Was ist das?« das anstaunbare Objekt dem Staunen
(in der neukantschen Terminologie dem »Problem an sich«)
oder das Staunen dem Objekt logisch vorausgehe, ob mithin der
Liebe oder dem Erkennen das logische Apriori zuzumessen
wäre. Die alten Sprachen, die die Liebe ein Erkennen heißen,
ordnen diese logisch unter das Erkennen und entscheiden damit
im idealistischen Sinne. Aber darauf kommt es hier nicht an. Es
gilt vor allem festzustellen, ob der Liebesbegriff im christlich
aristotelischen Materialismus die ethische Forderung des Idea
lismus nach Beschreitung des unendlichen Weges der Erkennt
nis aufhebt, ob die Hingabe an die unendliche Vielfalt der
vorgegebenen Schöpfung die Aufgabe zur synthetischen For
mung dieser Vielfalt erübrigt. Die Kirche gibt hier die deutlich
ste Antwort: da sie den Begriff der ethischen Erlösung auf
nimmt. In ihm zeigt sie, daß auch sie nicht vermag, am Anfang
des Erkenntnisweges stehen zu bleiben, daß auch sie den akti
ven guten Willen, der von der Vielfalt der Welt zur göttlichen
Synthese strebt, fordern muß, und wenn sie auch diesen - ihrer
aristotelischen Dogmatik gemäß - nicht im Ich entspringen las
sen darf (was übrigens auch selbst Fichte nicht tut6), so muß sie
36
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eben den Ursprung von »außen«, den Ursprung extra mundos,
muß den göttlichen Ursprung heranziehen. Dies aber geschieht
im Begriff der Gnade. Erst mit dem Begriff der Gnade, die dem
Menschen den guten Willen, zugleich aber auch die Autonomie
ihrer Annahme oder Nichtannahme verleiht, ist dem Menschen
der unendliche Weg von der Vielfalt der Weltdinge zur göttli
chen Einheit geöffnet und in der Nicht-Annahme dieses Weges
wandelt sich die Faulheit zur Verstocktheit, die Passivität zum
Nicht-Wollen, wird die Demut der Liebe zur Undemut des Be
gehrens, wird der Christ zum Anti-Christ in der Verstocktheit
des undemütigen bösen Willens.
Damit offenbart es sich: Wer vom Reichtum des Lebens
spricht, ist verstockt. Denn es ist nicht mehr die Vielfalt der
Welt, der er - bestenfalls! - im tiefsten stumm und unbewußt,
denn wie dürfte er zu sprechen wagen, liebend hingegeben war;
es ist auch nicht mehr die bloße Prädestinierung zur Sünde, die
er in der passiven nolitio seiner Faulheit als Erbschuld mit sich
trägt: es ist der böse Wille selber, der hier in Manifestation tritt.
Erkennendes Bewußtsein ist immer Sprache und Tun, ist immer
volitio, und allem Willen, soferne er guter Wille ist, ist zur gött
lichen Synthese der Gnadenweg gewiesen, zu dem die Vielfalt
der Welt nur unendliche Aufgabe sein darf - hier aber beharrt
das Bewußtsein, und damit der böse Wille, in der Vielfalt, mißt
ihr objektive Wirklichkeit zu, hebt sie also wie jede Objektivität
aus Zeit und Raum heraus und verleiht ihr damit »Wert«, einen
Wert, der sich in dem Wort »Reichtum« eben sinnfällig aus
spricht. Der am Anfang des Weges beharrende Mensch ist ver
stockt; es gibt keinen verstockteren und böseren Menschen als
den problemlosen Philister, und er ist der radikal Undemütige,
der die Gnade und die Aufgabe ablehnt, weil er, nur er und
nicht der Idealismus, den blöden Stolz des Rationalisten besitzt.
Ja selbst seine edelste, fast verehrungswürdige Abart, der Asket
- der allerdings nie mit dem Heiligen verwechselt werden darf
- ist noch mit dieser Undemut beladen, nicht nur weil er die
Vielfalt der Welt, die doch Schöpfung Gottes bleibt, abzuleh
nen sich erdreistet, vielmehr weil er mit dieser Ablehnung einen
Wert geschaffen zu haben glaubt und solcherart am billigen
Anfang des Weges stehen bleibt. -
Jede Weltanschauung birgt ein Wertsystem. Basiert sie zwar
auch immer auf der ontologischen Antwort auf die Ur-Frage
37
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»Was ist das?«, so tritt sie dennoch mit dem Augenblicke, da
sie für die Antwort objektive Gültigkeit beansprucht in den Be
reich des Sollens, muß sich ihr die ontologische Frage in die
ethische »Was soll ich tun?« und ihre willensbetonte Wert-
orientiertheit wandeln.
Philosophie und Weltanschauung besitzen einen gemeinsa
men Ursprung, eben die staunende Frage »Was ist das?«. Wäh
rend aber der Philosophie im Begriff des »Problems« als sol
chem, das mit dem Phänomen der »Frage« aufscheint, der
Erkenntnisweg vorgezeichnet ist, legt sich die »Weltanschau
ung« auf irgendeine Antwort auf diese Frage fest. Es gibt daher
viele Weltanschauungen, da es unzählige Antwortsmöglichkei
ten gibt, aber nur eine Philosophie, es kann unzählige Weltan-
schauungs-Moralen geben, aber nur eine Ethik, deren Sol-
lens-Begriff mit dem logischen der Philosophie vollkommen
identisch ist. Weltanschauungen geben Inhalte, Moralen Ver
haltungsmaßregeln: Philosophie und Ethik geben die »For
men« der möglichen Inhalte, die Formen der Moral überhaupt
-Form en, die, das möge nie vergessen werden, allerdings nicht
leer sind, da sie eben aussagen, was für Inhalte überhaupt
»möglich« sein können. Insolange also Weltanschauungen nur
ontologische Aspirationen besitzen, können sie als subjektive
Meinungen immerhin irrelevant bleiben, sie werden relevant
und gravierend, wenn sie - und das geschieht mit ihrem An
spruch auf objektive Geltung immer - ihre inhaltliche Moral
der Ethik aufdrängen. Im ethischen Gebiete, das das Gebiet des
Wertes überhaupt ist, stehen Philosophie und Weltanschauun
gen in effektiver Konkurrenz, hier werden diese an jener meß
bar und hier sind auch die Anstrengungen ersichtlich, die die
Weltanschauungen und Moralen versuchen müssen, um sich
neben und trotz der philosophischen Ethik behaupten zu kön
nen.
Die Werte des bösen Willens sind imitativ. Sie leben - dies
zeigt schon die formale Identität der Ur-Frage - von der Form
des objektiven Wertes gleichwie der Antichrist von der Exi
stenz des Christs abhängig ist. Steht aller objektiver Wert in sei
ner apriorischen und formalen Logizität über Zeit und Raum,
so muß der imitative Wert diese Attribute im selben Maße zu
erringen trachten: in der Endlichkeit der empirischen Gege
benheit vorgefunden, muß seine Relativität zur Absolutheit,
38
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seine Endlichkeit zum Unendlichen gesteigert werden.
Und hier setzt das Pathos des bösen Willens ein. Denn es ist
das Wesen des Pathos, daß es Endliches zum Unendlichen, daß
es die Relativität einer platten Gegebenheit und sogenannter
Wirklichkeit zur Absolutheit emporschrauben will. Pathos ist
das subjektive Mittel, um objektive Wirkungen zu erzielen und
daher immer beweislos - mit einer einzigen Ausnahme aller
dings: wenn seine subjektive Anstrengung zur Aufopferung des
eigenen Lebens führt. Denn jedes menschliche Dasein ist an
sich unendlich, und wo dieses in die Waagschale geworfen wird,
kann es auch dem endlichen Grunde objektiven Wert und
Würde verleihen: Wo dies aber nicht der Fall ist, wo sich das
Pathos auf die Lautheit des Wortes beschränkt, da ist es die be
weislose Behauptung kat’exochen und ist wie jede beweislose
Behauptung im tiefsten Sinne unmoralisch, ist immer Werk
zeug des bösen Willens. Pathos ist, wenn man es so nennen darf,
ein ethisches Ausdrucksmittel: es gibt ein sozusagen philoso
phisches Pathos. Denn einzige und echte Tragik gibt es: da die
Idee und Würde des Menschen, da die Idee des reinen und er
kennenden Ichs,die dem niedrigsten menschlichen Individuum
noch zukommt - wer überhaupt darf sich erfrechen, angesichts
seiner eigenen Nichtswürdigkeit irgendein Individuum als
niedrig zu bezeichnen! - , wenn dessen göttliche Unsterblichkeit
von anderen Individuen gefoltert und beleidigt wird. Die Ant
wort auf solche Schmach wird stets das pathetische Wort, wird
stets die pathetische Tat sein müssen, und das Unmeßbare, das
wahrhaft Unendliche dieses Pathos ist mit der Unendlichkeit
identisch, die jedem menschlichen Dasein innewohnt. Das tra
gische und ethische Pathos kumuliert in der zum Tode gestei
gerten Selbstaufopferung des menschlichen Daseins und seiner
idealen Unendlichkeit, das pathetisch der endlichen und ge
meinen Anfechtung entgegen geworfen wird: alles ethische Pa
thos ist Martyrium der Idee des Menschen für seine unsterbli
che Idee, in diesem Pathos der Abwehr hebt sich die subjektive
Autonomie zur Absolutheit des Zeit- und Raumlosen, in ihm
bindet sich die Bedingtheit des subjektiven Wertes zum Unbe
dingten des objektiven Wertsystems: erst im zum Staube ge
wordenen Leib des Märtyrers wird die menschliche Zweibei
nigkeit zum Ebenbild Gottes. Der Heilige muß nicht Märtyrer
sein - das unterscheidet ihn vom Asketen - aber er muß jeder
39
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zeit bereit sein es zu werden, wenn die Idee des Göttlichen in
ihm angefochten wird. Das Pathos des guten Willens ist Abwehr
der Idee gegen die Welt; das Pathos des bösen Willens ist Em
porhebung der empirischen Welt zum Range einer Wertidee.
Der böse Wille muß pathetisch sein. Denn seine imitative
Funktion muß nach der Möglichkeit fahnden, in der es dem
Subjekt seiner Moral, in der es dem empirischen Menschen ge
lingt, die Endlichkeit seines subjektiven Wertsystems zur
Unendlichkeit des Absoluten emporzuziehen, um damit der
materialen Menschengestalt selber die Würde des reinen und
ethischen Ichs zu verleihen. Ist dieser Durchbruch des Göttli
chen aus dem Menschen im ethischen Pathos möglich, so muß
er dieses Pathos für seine Zwecke annektieren. Mit einer gewis
sen peinlichen Komik vollführt er dabei die kopernikanische
Wendung des Ethischen, von der man recht wohl sprechen
könnte, nach rückwärts. Der ethische Weg führt von der stum
men und bewußtlosen Hingabe an die Vielfalt der Welt zur syn
thetischen Einheit der Idee, in der er, da er Liebe zum erken
nenden Schreiten ist, als unendliches Ziel die göttliche Liebe
zur selig durchkannten Vielfalt wiederzufinden hoffen darf.
Und zum Schutze der Idee des Menschen, deren Erstrebung im
ethischen Wege gegeben ist, darf er seinen zweiten materialen
Wert als Märtyrer erleben. Das Pathos des bösen Willens kehrt
diesen Weg um. Es setzt sich zum Anfang und bejaht die Viel
falt der Dinge und bejaht die, positive oder negative, Liebe zu
den empirischen Dingen, bejaht als Moral die positive oder ne
gative Liebe zum empirischen Menschen. Jedes Pathos ist sub
jektive Wertverleihung, aber in der verteidigenden Selbstauf
opferung für die Idee überschreitet es die Grenze zur
objektiven Geltung, hier jedoch, da es Endliches zum Unendli
chen, da es die platte Gegebenheit einer sogenannten Wirklich
keit zum Absoluten emporschrauben will, da es die billigen
Werte der ersten Schenkung und mit ihr die materiale Men
schengestalt selber pathetisiert, da es nicht mehr Abwehr des
Angriffes, sondern Verherrlichung des Angreifers ist, da ist das
Pathos in seiner Subjektivität gefangen und gebunden, ist in
dieser die beweislose Behauptung kat’exochen, ist wie jede be
weislose Behauptung im tiefsten Sinne unmoralisch, ist, je lau
ter es sich gebärdet, Werkzeug der Verstocktheit und des bösen
Willens.
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Es gibt nur eine einzige ethische Forderung: die der Hingabe
an die unendliche Aufgabe. Soweit diese Aufgabe selber Gege
benheit ist, kann man diese Forderung eine positivistische, ja
sogar materialistische nennen. Oder m. a. W.: die ethische For
derung ist die der Hingabe an das Problem als solches. Denn
von der Ur-Frage »Was ist das?« angefangen enthält und ent
hüllt ihr unendlicher Weg mit jedem Schritt aufs neue die Frage
»Was ist Wahrheit?« Der Begriff des Problems wird stets aufs
neue zum Objekt der Frage - in ihrer fortschreitenden Wieder
holbarkeit der Idee des Problems sich nähernd aber darf im Be
griff des Problems die letzte und unendliche All-Erkenntnis er
hofft werden. Die Philosophie (als einzige ethische Aufgabe)
erschöpft sich im Problem des Problembegriffes. Ein anderes
Problem gibt es für sie nicht - die ontischen und moralischen
Inhalte der Einzelprobleme sind Stufen zur Gesamterkenntnis,
und ihre logische Gültigkeit ergibt sich aus der logischen Dedu-
zierbarkeit ihrer methodologischen Problemstellungen. Soll
das moralische Verhalten des empirischen Menschen aus dem
reinen Ethos hervorgehen, so ist es aus der Forderung und dem
Begriff des reinen Ichs zu deduzieren, gleichwie die Wahrheit
des »wissenschaftlichen« Einzelsatzes in seiner Deduzierbar-
keit aus den Formen des reinen Logos seinen Rechtsgrund er
hält. Und soll das moralische Prinzip der Liebe als wesentliche
Moralforderung gelten - es ist in der ethischen Umformung je
der Frage »ist dies wahr?« enthalten, da diese zugleich »was
darf ich bejahen?«, »was darf ich lieben?« bedeutet - so ge
winnt auch dieses erst am unendlichen Ziel der göttlichen Syn
these gemessen, erst am Wunsche der All-Erkenntnis, die die
Verheißung zur neuen All-Liebe in sich birgt, jene ins Ferne
weisende und ewig strebende Fassung, die dem philosophischen
Problem des Problems »Was ist Wahrheit?« zu eigen ist, sie sel
ber aber zum echten Teil des philosophischen Problems erhebt
- »Darf ich lieben?« Allerdings erledigt sich dieses Teilproblem
im Rahmen des ethischen Grundproblems automatisch.
Für die imitative Ethik aber ist das Teilproblem das Um und
Auf ihrer ganzen Scheinproblematik. Scheinproblematik des
halb, weil ihr die Liebe als solche überhaupt kein Problem ist
- sie akzeptiert sie ja im Vorhinein, gleichwie die Weltanschau
ungen, auf denen sie basiert, ontische Meinungen als Wahrhei
ten akzeptieren und vom Dogma ihren Ausgang nehmen. Daß
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sie nichtsdestoweniger ein Problemgebäude für ihre Wertsy
steme aufrichten, ergibt sich aus ihrer imitativen Funktion als
selbstverständlich: ohne Problem kein System und damit auch
keine, eben erstrebte, objektive Geltung. Mit der Scheinpro
blematik wird der Problemgedanke zur Allüre des Ungeistigen,
wenn man die Scheidung von »geistig« und »ungeistig« aus
eben dem Sprachschatz des Ungeistigen übernehmen will (denn
der Geistige, seiner Geistigkeit wahrhaft nicht bewu!3t, kennt
diese Scheidung nicht - er kennt ein echtes Problem, ein gülti
ges Denken, ein richtiges Tun oder gar keines), und ist für den
»Geistigen« alle Problematik im deduktiven System gegeben,
das letzten Endes stets zur radikal philosophischen Fragestel
lung: wie kann meine erlebte Wirklichkeit Wahrheit, wie kann
meine wollende Tat gut sein? wie darf ich überhaupt lieben?
drängt, und ergibt sich für ihn die Gestalt des Menschen aus sol
cher deduktiver Systematik, so wird die ungeistige Weltan
schauung, die die kopernikanische Wendung der Fragestellung
nie vollführt hat, ja sie nicht einmal ahnt, den induktiven Fort
schritt ihres praktischen Welterfassens beibehaltend, wohl das
inhaltliche Ziel, die ethische Formulierung des Menschen-Be-
griffes und seines moralischen Verhaltens sich zulegen, immer
aber wähnen, da!3 durch induktive Verallgemeinerung der
handgreiflichen Beispiele, wie sie ihm der empirische Mensch,
die empirische Liebe eben bieten, zum Ethos zu gelangen sein
werde. Hier ist von der radikalen Frage nach der Pflicht des
Menschen als Träger des reinen Ichs nicht mehr die Rede - eine
neue und pathetische Terminologie entsteht, die vom »ganzen
Menschen«, vom »echten Menschentum« und ähnlichem
spricht und deren Philistrosität schon Scheler7 sehr richtig an
gemerkt hat. Die eigene Wichtigkeit, in ihrer ganzen armseligen
Zweibeinigkeit, wird zum Absoluten pathetisiert und mit ihr
ihre ganze sogenannt geistige und körperliche Funktionalität.
Man denke an die Grubenarbeiter-Condottieres Meuniers8 und
wird verstehen, wie das gemeint ist. Und das Grauenhafte ist
nicht nur diese verlogene und imitative Idealisierung des empi
risch Gegebenen eines irgendwie vorhandenen körperlichen
Typus, es ist mehr, es ist die Impotenz der Erkenntnis, die dem
Ethos, das hier zum Ausdruck kommen will, auferlegt er
scheint, es ist diese impotente Schein-Erkenntnis, der das in
haltlose Wort »Körper« einen Inhalt vorstellt, die den Körper
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sieht und seine zweiarmig, zweibeinige Zergabelung noch nach
schön und häßlich wertet, der es kein Grauen ist, täglich einen
Kopf zu haben, aus dessen täglich nach vorn gerichteten Lö
chern Luft und Worte strömen - oh, welche Erdgebundenheit
hat solche Erkenntnis, die es höchstens zum Ekel vor der Men
schengestalt bringt und damit Gott lästert, die höchstens den
Wert zum Unwert erniedrigt und damit die Idee schändet,
nichts aber von der Furchtbarkeit des Erkennens kennt, die
mehr verlangt als Ekel und Abkehr - das wäre noch Gnade -,
sondern [die] die Gegebenheit zum neutralen Nichts aboliert,
dem [der] Befehl und die Pflicht zuzustreben haben.
Je höher die Idee des Menschen gestellt wird, desto tiefer wird
sie durch die Liebe beleidigt. Die Liebe wendet sich an das em
pirische Individuum, an die Individualität. Ist aber die Idee des
Menschen in der Idee des reinen und ethischen Ichs vorge
zeichnet, so ist das Individuum nur so weit Individualität, als es
von der Idee des reinen Ichs abweicht. Die Liebe bejaht also
für den geliebten Gegenstand die Abweichung, sie zieht auch
hier das Reich der scheinbaren Wirklichkeit dem Reich der
Ideen vor, sie setzt, wie eben überall der Materialismus, die em
pirisch-zufällige Gegebenheit als wahren und realen Wert und
beharrt bei diesem.
Aber selbst wenn [man] sich dem empirischen Menschen als
Individualität zuwendet [und] nicht das Manko bejaht, welches
die Individualität von der Idee unterscheidet, vielmehr die Idee
des Ichs selber zu lieben vorgibt, deren ferner Glanz auch noch
im letzten menschlichen Individuum aufschimmert, auch dann
noch ist die Beleidigung, die der Idee des Menschen zugefügt
wird, nicht aufgehoben, ja sie tritt sogar noch krasser zu Tage.
Denn die wesentliche Grundeinstellung des Liebenden liegt in
seinem Verzicht auf den unendlichen Weg zur Synthese. Inso-
lange dieser Verzicht eine absolute Auslöschung des Ichs in
nerhalb einer stumm-bewußtseinslosen Hingabe an die Vielfalt
der Welt darstellt, kann, so zeigten wir, diese stumme Hingabe,
diese restlose passive Abhängigkeit von der Gegebenheit noch
als Demut an sich aufgefaßt werden. Der Mensch aber ist nicht
bewußtseinslos und darum mußte er, will er die liebende Hin
gabe als Grundeinstellung aufrechterhalten, die Abhängigkeit
in eine Wertverleihung verwandeln. Damit wandelt sich die
Demut in Undemut, die passive nolitio aber zum bösen Willen.
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Der Liebende hat auch immer ein schlechtes Gewissen - weil
er gegen sein gutes Wissen, gegen sein Bewußtsein handelt.
Nirgends tritt die Wertverleihung deutlicher in Erscheinung als
im erotischen Erlebnis. Denn wäre der Liebende absolut de
mütig, er müßte von allen Dingen und - wäre es tatsächlich die
Idee des Menschen, die er besonders lieben dürfte - von allen
Menschen, die doch alle Träger der Idee sind, in gleicher Weise
ohne sexuelle, erotische, ästhetische oder sonstweiche Vorein
genommenheit unterschiedslos liebend abhängig sein. Was er
aber macht, ist das strikte Gegenteil: er inkarniert die Idee des
Menschen, die er zu lieben vorgibt, selektiv in einem bestimm
ten Individuum, er nimmt - so menschlich hoch auch dieses In
dividuum stehen würde - eine maximal undemütige Wertver
leihung vor. Und [wenn] die Demut in der Liebe die einzige
Entschuldigung für die Liebe ist, muß sein schlechtes Gewissen
daran gehen, auch diesen Wert zu pathetisieren. Diese sozusa
gen logistisch notwendige Pathetisierung der Demut - sie hat
in einem Jargonstück einer Possenbühne den klassischen Aus
druck gefunden, da sie dem Liebenden vorschreibt, vor das ge
liebte Wesen mit der (unvermittelten) Selbstanklage »Ich bin
ein Schlieferl« zu treten - könnte man den erkenntnistheoreti
schen Grund des in aller Liebe enthaltenen Masochismus nen
nen. Sie kann um so leichter erreicht werden, je höher, größer
die Distanz angelegt ist, die zwischen Liebendem und geliebtem
Objekt gelegt ist, so daß sie die notwendige Folge nach sich
zieht, diesem die Wertverleihung an dieses - ein wirklicher
Sündenkreis - nun ihrerseits noch weiter zu pathetisieren. Es
gibt keine Liebe, die nicht von dieser undemütigen Demut be
laden wäre, und je reiner - objektiv genommen - das geliebte
Objekt als reines Ich wäre, desto aufdringlicher ist die Unde
mut, mit der es geliebt wird.
Wertverleihung in solcher subjektiven Form ist aber auch
gleichzeitig eine persönliche Beziehung zwischen Subjekt und
Objekt der Liebe. Und damit auch gleichzeitig die tiefste E nt
würdigung des geliebten Objektes. Es wird eine gewisse Parität
des selbsterniedrigten Subjektes mit dem Objekt angenommen.
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1 Origines (185-254), griechischer Kirchenvater und Philosoph. Vgl. Peri Ar
chon.
2 Augustinus (354-430), vgl. De natura honi contra Manichacos und Enchiriciion
de fide, spe et caritate.
3 Johann Gottlieb Fichte (1762-1814). Fichte verließ 1800 als Professor Jena,
da man ihn des Atheismus bezichtigte, weil er Gott unpersönlich, d. h. als mo
ralische Weltordnung aufgefaßt hatte.
4 Franz Werfel (1890-1945). Vgl. F. W., Realismus und Innerlichkeit (Berlin,
Wien, Leipzig, 1931). (Offenbar handelt es sich um kein wörtliches Zitat.)
5 Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 50.
6 Vgl. J. G. Fichte, Wissenschaftslehre.
7 Max Scheler (1874-1928), deutscher Philosoph. Vgl. M. Sch., Vom Umsturz
der Werte. Abhandlungen und Aufsätze (Bern 1955), »Das Ressentiment im
Aufbau der Moralen«, S. 33-147, und »Zur Idee des Menschen«, S. 171-195.
8 Constantin Meunier (1831-1905), belgischer Bildhauer.
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L e b e n o h n e platonische Id ee
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drücken - schließlich immer wieder gesprengt werden muß, und
wenn es auch die Vernunft selber ist, die den logischen Bruch
aufdeckt und die Sprengung des scheinbar Unbrauchbaren her
beiführt, ja, wenn die Vernunft selber streckenweise vielerlei
Energien aufwendet, das Religiöse zu widerlegen, unwiderleg
bar bleibt ihr die Freiheit als höchstes ethisches Gut, denn sie
ist der Kern und die wesenhaft eigene Daseinsform der Ver
nunft. Der Augenblick, in welchem der umfassende Freiheits
verband der Religion aufgelöst wird, ist gleichzeitig auch der,
in welchem der intellektuelle Einzelmensch das unbezwingbare
metaphysische Streben des Humanen übernimmt. Es ist der
Augenblick, in dem die Philosophie - in diesem Sinne immer
Nach-Religion - geboren wird, es ist die Geburtsstunde des in
tellektuellen Menschen als Träger der platonischen Idee, der
Vernunft und der Freiheit.
Aber die Allgemeinverbindlichkeit des Platonischen ist auf
gehoben. Die Herrschaft des Geistigen geht auf die Herrschaft
des Irdischen über, und es beginnt jener merkwürdige Prozeß,
durch welchen die Allgemeinverbindlichkeit des Denkens
gleichfalls aufs Irdische übertragen wird. M. a. W., der Zerfall
einer religiösen Platonik gebiert nicht nur den Intellektuellen,
sondern auch den Helden. Denn der Held will im Irdischen das
vollbringen, was bisher Aufgabe der Kirche im Geistigen gewe
sen ist: die Unterwerfung des Erdkreises. Innerhalb einer
kirchlichen Organisation hat auch der heroische Mensch an sich
keine Existenzberechtigung, er kann lediglich als anonymer
Gottesstreiter existieren, er besitzt keinerlei Allgemeinver
bindlichkeit. Ein Held, der mit dem geltenden Denkschema
nichts gemein hat, wird zum Don Quichotte. Seine Rechtferti
gung und seine Allgemeinverbindlichkeit gewinnt er erst durch
seine Anhängerschaft, und die Möglichkeit der heroischen An
hängerschaft ist das eigentliche Problem des Helden. Wäre die
Sehnsucht nach Allgemeinverbindlichkeit nicht ebenso stark
wie die nach Freiheit in der menschlichen Seele, oder wie wir
hier sagen könnten, in der Seele des Volkes, es wäre niemals
ein Held vorhanden gewesen. Weil aber nach Aufhebung der
geistigen Autorität ein irdischer Ersatz geschaffen werden muß
und weil die Freiheit nicht mehr in der Vernunft zu begründen
ist, konzentriert sich die metaphysische Sehnsucht auf den, der
alles Irdische um sich sammeln will: sein konkretes Leben wird
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zur diktatorischen Autorität aller Wertbestimmung gemacht, er
selber aber zum Träger des unausrottbaren Freiheitsstrebens
erhoben. Es ist bezeichnend, daß in der Mythologie einer jeden
Religion die heldischen Reste der vorreligiösen Periode vor
handen sind und daß das Christusbild lange Zeit mit heroischen
Zügen versehen war.
Der Held ist immer tragisch. Das rührt nicht nur davon her,
daß er - seinem irdischen Charakter gemäß - außerhalb des
umfassenden religiösen Wertsystems steht, daß er also immer
innerhalb eines kleineren Wertsystems wirken muß und sein
Streben nach Allgemeingeltung von vorneherein zum Scheitern
verdammt ist, er ist auch mit der Verpflichtung zur Freiheit be
lastet. Die religiöse Aufgabe der Überwindung des Todes ist
ihm, dem Irdischen aufgelastet worden. Das Don Quichotteske
seines Seins ist vielleicht bloß ihm bewußt, kaum bewußt si
cherlich, dennoch vorhanden, da er die unlösbare Aufgabe
übernommen hat, das Irdische seines Wollens zur platonischen
Idee auszuweiten, eine platonische Idee nicht nur symbolhaft,
sondern konkret in den Grenzen seiner eigenen Person und des
Irdischen zu etablieren. Die Alternative »Freiheit oder Tod«,
die sub specie religionis eine echt logische Antithese ist und die
vom Religiösen her sowohl den beanspruchten Ewigkeitswert
besitzt als sie zugunsten der Freiheit zu entscheiden ist, diese
Alternative, »Freiheit oder Tod«, deren Ruf zum Hauptrequisit
alles Heroischen gehört, kann in der irdischen und somit heroi
schen Umgrenzung (schon damit sie nicht in ihr dialektisches
Gegenteil »Geld oder Leben« umschlage) lediglich die E nt
scheidung für den Tod beinhalten; dies aber besagt für die Rea
lität, soferne man gewisse Extremfälle der heroischen Situation
beiseite läßt, nichts anderes als die Vermeidung jeglicher E nt
scheidung; der Held muß immerzu »siegen«, er lebt sozusagen
von der Existenz des irdisch »Besiegbaren«, - das Heroische
befindet sich also in einer steten Bereitschaft zur Freiheit und
in einer steten Bereitschaft zum Tode, und in dieser gewisser
maßen aeternisierten Spannung zwischen den Ur-Polen des
Daseins, in dieser gewissermaßen metaphysischen Ungemüt
lichkeit, mit der das Heroische sich zwar schmückt, an der es
aber sicherlich auch leidet, kurzum, in diesem Wetterleuchten
an sich liegt wohl mit der, man darf wohl sagen, demagogische
Reiz, den das Diktatorische auf den unplatonisch gewordenen
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Menschen ausübt.
So ist der heroische Mensch zwiespältig, aber es ist eine Zwie
spältigkeit, die er mit dem Intellektuellen teilt. Denn dieser,
wesensgemäß zum Hüter des Platonischen bestellt, trifft sich
trotzdem mit dem Helden in der Ablehnung des Platonischen.
Und dies ist wohl auch der Grund, der die Stellung des Men
schen geistiger Produktion so überaus prekär macht und der ihn
in eine Art Wehrlosigkeit gegenüber dem Heroischen versetzt.
Denn gerade in seinem eigensten Bereich, im Bereich der Phi
losophie, hat der geistig Orientierte sich selbst aufgegeben, da
er sich gezwungen sah, seinen eigentlichen, den platonischen
Mutterboden zu verlassen. Es spricht geradezu für das Vorhan
densein eines Weltzustandes, den man als Zeitgeist zu bezeich
nen pflegt, daß es sich dabei um ein Phänomen handelt, das an
den verschiedensten Orten und auf den verschiedensten Wegen
zum Durchbruch gelangt. Nicht nur das russische Volkskom
missariat dekretiert - in mißverständlicher Auffassung des
Wortes »Materialismus« - eine orthodox antiplatonische Rich
tung, auch die ganze westliche Philosophie, von Außenseitern
und Mystikern natürlich abgesehen, hat den gleichen Stand
punkt bezogen, ist zu der Einsicht gelangt, daß mit Worten
nichts zu beweisen ist, daß man sich positivistisch an die Tatsa
chen zu halten habe, daß die Aufstellung eines deduktiven
Weltsystems ein fruchtloses Unterfangen darstelle, daß also
breite Gebiete der Philosophie, ja eigentlich die Philosophie
selber, soweit sie mit Ethik und Metaphysik identisch ist, außer
Beweis gestellt werden müssen, da sich das wissenschaftlich
Beweisbare ausschließlich in der Tautologie des Logischen und
Mathematischen abspielt.1 Und diese tiefe intellektuelle Skep
sis ist es, die den Menschen geistiger Produktion unfähig macht,
dem Anti-Intellektuellen entgegenzutreten und die ihn sogar
auffordert, sich der heroischen Skepsis unterzuordnen; er ver
mag nicht in die Zeit einzugreifen, da jede Einflußnahme auf
die Zeitereignisse in Gestalt von Zeitkritik vor sich zu gehen
hat, jede Zeitkritik aber - will sie fundiert sein - auf einer
fundierten Wert- und Geschichtsphilosophie basiert sein muß,
und es eine solche Philosophie nicht mehr gibt. Der Mensch
geistiger Produktion, der es ehrlich meint, erlebt an sich die
Wechselwirkung eines eigenen inneren Verbotes dieser Pro
duktion und eines vollkommenen Un-Interesses der Zeit an
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dieser Produktion, seine Lage ist verzweifelt und alles drängt
ihn zu der Frage - sie wurde August 1914, allerdings in ver
kleinertem Maßstab, zum ersten Male gehört —, ob in einer Zeit
rapid zunehmender Not, ob angesichts der ständig wachsenden
Mißachtung alles menschlichen Lebens, ob angesichts einer im
mer unheimlicher drohenden Kriegsgefahr, ob in dieser Welt
völliger geistiger Zerrüttung die geistige Produktion überhaupt
noch zulässig, ob die Quelle des Platonischen nicht endgültig
verschüttet sei.
Vielleicht nirgends wird die Wirrnis einer zwischen-religiösen
Periode so sichtbar wie am Problem der Humanität. Denn das
Humane an sich ist ja wieder nichts anderes als die Auseinan
dersetzung mit dem Tode in der realen Sphäre. Alles Platoni
sche, mithin die Ratio als solche, arbeitet, so paradox es klingt,
da es oftmals unzweckmäßig, also »unrationell« ist, in der
Richtung des Humanen: die Urgesellschaft bestraft jedes, auch
das kleinste Delikt mit dem Tode, - erst die Ratio, ihrer Ten
denz zur symbolhaften Repräsentanz gemäß, vermochte die
Gleichsetzung von Tod und Freiheit vorzunehmen und auf
Freiheitsentziehung und letzten Endes auf Geldbuße zu erken
nen. Sogar in der Inquisition ist diese Tendenz klar zu erken
nen: die Kirche scheute sich, »Blut zu vergießen«, da des Erlö
sers Blut symbolhaft ein für allemal dem Menschen zuliebe
vergossen worden ist. Doch symbolhaft verhängt jedes Gericht
selbst mit der kleinsten Polizeibuße implizite den Tod, einen
Tod, der in der ungeheuren Verantwortung des »Richtens« und
in der im wahren Sinne des Wortes stets bestehenden »Todes
angst« eines jeden Angeklagten immer wieder aufscheint. Und
je mehr die rationale und platonische Bindung einer Zeit zer
fällt, desto mehr zerfällt auch das Humane, desto weniger ver
mag der Mensch an die Humanität zu glauben. Mit dem Durch
bruch des Irrationalen, der sich im Heroischen vollzieht, wird
in allem und jedem, also auch im Gericht auf das »Blut« und,
praktisch gesprochen, auf die Todesstrafe zurückgegriffen; es
ist, in diesem Sinne, eine spezifisch reaktionäre, nicht, wie viele
glauben, eine konservative Bewegung, denn der Kampf gegen
das Platonisch-Rationale ist ein Kampf für das Irrationale im
Sinne des Urtümlichen, repräsentiert im »Blut« und im Tode.
Es ist jene blutige und düstere Skepsis des heroischen Men
schen, die zu dem verruchten Wort von der Humanitätsduselei
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geführt hat, es ist aber auch jene Tragik, die ihm die Freiheit,
die er meint, in ihr dialektisches Gegenteil verkehrt.
Doch es ist auch die Tragik des intellektuellen Menschen die
ser Zeit. Denn alle geistige Produktion, von ihren geringfügigen
Ansätzen bis zu den Höhen der Philosophie, ist - sonst wäre sie
nicht vorhanden - vom Erlösergedanken geleitet: das Geistige
betrachtet sich, kann sich nicht anders betrachten, als vom
heiligen Geist getragen, und sein Wirken in der Welt will immer
Erlöserwerk sein. Wer dem Geistigen verhaftet ist, kann sich
überhaupt kein Geschehen in der Welt vorstellen, das nicht der
Erlösung diente. Und da nichts im empirischen Leben eindeutig
ist und auch der Heros in der Welt des Rationalen lebt, so wird
auch er sich dem Erlösergedanken nicht entziehen können, und
er wird nicht nur sein eigenes Tun unter diesem Aspekt sehen,
sondern er wird auch die Argumente der platonischen Ratio,
allerdings in merkwürdig abgebrauchter Verzerrung für seine
irrationalen Begründungen in Anspruch nehmen. Er hält sich
zumeist wirklich für den Vertreter der platonischen Idee. Und
so ergibt sich hier eine höchst bemerkenswerte Gedankenwirr
nis, welche noch überdies von der Erkenntnis genährt wird, daß
nach Zerschlagung eines alten Wertsystems und seiner rationa
len Bindungen es immer die irrationalen Kräfte waren, die sich
schließlich zur neuen Werteinheit zusammengefügt haben, daß
nach jeder Periode des Cogito eine Periode des urtümlichen
Lebens sich einstellen müsse, damit aus dessen Sum wieder das
neue Cogito erwachse. Wenn der geistige Mensch also die
Schmach auf sich nimmt, sein philosophisches Streben als Ge
schwätz beschimpfen zu lassen, als ein ästhetisches Spiel mit
Worten, für das diese Zeit der Tatsachen und der Beweise kei
nen Platz hat, ja, wenn er, dank seiner eigenen Skepsis, solchem
Schimpf sogar sekundiert, so spielt zweifelsohne bei alldem
auch die unauslöschliche Hoffnung mit, daß der heroische Dik
tator doch der künftige platonische Heilsbringer oder zumin
dest dessen unmittelbarer Vorläufer sei, der Heilsbringer, dem
bis zur tiefsten Erniedrigung und wahrhaft schweigend Gefolg
schaft geleistet werden müsse, auf daß aus dem dunkelsten
Zwang der rationalen Vernunft dereinst die neue platonische
Freiheit erstünde. Die »irrationale Ratio«: der heutige Zustand
der Welt.
Es ist - wie immer im Leben - ein Spiel rationaler und irratio
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naler Kräfte, die sich gegenseitig unterstützen. Und es gehört
wohl zu dem zwischen-religiösen Charakter der Zeit, daß das
Rationale aus seiner Führerstelle in diesem Spiel offenbar ver
drängt wird, ja mehr noch, es ist wohl der verbrecherische Cha
rakter dieser Zeit darin begründet. Denn die Faulheit im Geiste
ist das Sündige schlechthin, und die bloße Hoffnung auf den
Messias, der der Erkennende und der Held zugleich sein soll,
ist von übelstem »gottverlassenstem« Fatalismus. Gewiß ist die
Frage nach Wiedererweckung des Glaubens die dringendste
dieser Zeit, doch völlig hypothetisch ist es, daß diese Erwek-
kung an einen persönlichen erlösenden Heilsbringer gebunden
sein müsse. Der Erlösungsgedanke ist zutiefst der menschlichen
Seele eingeboren, aber die Erlösung vom Tode kann immer nur
wiederim Geiste erarbeitet werden. Das Geistige steht tief im
Kurs, und es ist auch nicht abzusehen, ob das philosophische
Streben seine neue Gestaltung in der nackten mathematischen
Formulierung finden oder ob es sich fürs erste auf den dichteri
schen Ausdruck beschränken wird. Aber wenn auch jede neue
Freiheitsgemeinschaft im Kampfe zwischen dem Diktatori
schen und dem Platonischen entstanden ist und wenn auch in
diesem irdischen Kampf das Geistige und der Heilsbringer im
mer zu unterliegen scheinen, es darf nicht vergessen werden,
daß die Philosophie nicht nur Nach- sondern auch Vor-Religion
ist, und daß im Geistigen immer noch das Platonische und die
Freiheit gesiegt haben. Denn immer ist die Freiheit an die Ver
nunft gekettet.1
1 Broch bezieht sich offenbar auf die 1929 erschienene programmatische Schrift
der Neopositivisten des Wiener Kreises, Wissenschaftliche Weltauffassung -
Der Wiener Kreis. Mit einigen Mitgliedern dieses Kreises wie Schlick, Carnap
und Hahn war Broch persönlich bekannt.
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D ie K unst am E n d e einer K ultur
Ein Radiovortrag
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- haben andere Wertmaßstäbe als Perioden des Glückes und
des Friedens. Und wenn es heute darauf ankommt, die Lösch
aktion für diese Feuersbrunst zu organisieren, wenn wir den
Politiker, wenn wir den Techniker, wenn wir den Militär, wenn
wir den Volkswirtschaftler in diese Rettungsmannschaft ein
stellen, so erscheinen uns alle diese Tätigkeiten wichtiger als die
des Künstlers oder die des rein geistigen Menschen. Dies mag
nicht zuletzt daher rühren, daß Katastrophenzeiten eine außer
ordentliche Disziplinierung erfordern, ein Zurücktreten des
einzelnen vor der Gemeinschaft, eine Unterordnung des indivi
duellen Willens unter den kollektiven. Ob dies im Zeichen einer
Staats- oder Volksautorität, ob dies im Zeichen der Planwirt
schaft oder sonstiger Beschränkungen des individuellen Wirt
schaftswillens vor sich geht, ist beinahe gleichgültig vor dem
Ausmaße dieses Phänomens, das sich über die ganze zivilisierte
Welt erstreckt und in den mannigfachsten Abwandlungen die
überindividuelle Bindung der individuellen Freiheit entgegen
setzt. Nichts aber ist solcher Disziplinierung, solcher Entindivi-
dualisierung so radikal abgeneigt als eben die Tätigkeit rein
geistiger und künstlerischer Produktion. Denn der geistig und
künstlerisch produzierende Mensch ist seinem ganzen Wesen
nach auf sein eigenes Ich, auf seine eigene Individualität und
deren autonome Eigengesetzlichkeit gestellt, und niemand wird
mit schärferer Rigorosität jede Beeinflussung von außen und
gar jede Disziplinierung nach Prinzipien, die ihm selber we
sensfremd sind, ablehnen, als er es tun muß, um seine Produk
tion überhaupt aufrecht halten zu können. Es ist zweifelsohne
ein tragisches Schicksal: Wer in der geistigen Erkenntnis - und
auch das Kunstwerk ist geistige Erkenntnis - , wer in dieser
wahrhaft platonischen Flaltung noch immer das eigentliche Le
bensziel begreift, sieht plötzlich, daß er damit den Kontakt mit
den eigentlich drängenden Problemen der Zeit verloren hat,
weil die Zeit mit praktischen Fragen derart beschäftigt ist und
diese so übergroß geworden sind, daß die platonische Idee, auf
die es letzten Endes doch immer wieder ankommt, zu etwas
Unscheinbarem und Grauem verblaßt. Das Wort Idealist hat
schon im 19. Jahrhundert einen schlechten Beigeschmack er
halten, und es sieht so aus, als hätte das Weltenferne, das Ab
seitige, das Absurde, das damit gemeint war, heute eine Ver
schärfung erfahren, die es geradezu mit dem Unernsten, dem
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Asozialen, m. e. W. dem Unsittlichen in Berührungbringt. Denn
wenn Katastrophenzeiten das Künstlerische überhaupt neben
den sogenannt ernsthaften Beschäftigungen gelten lassen, so
verlangen sie von ihm, daß es die Zeit vertreibe, daß es über die
Not und alles Furchtbare hinwegtäusche, daß es sich zum Zeit
vertreiberischen prostituiere: ein Bedarf, der durch eine indu
strialisierte Musik und einen überdimensionalen Tonfilmkitsch
auch tatsächlich gedeckt wird.
Wie verträgt sich aber dies mit den gewaltigen Anstrengun
gen, die eben —und eben in einem noch nie erhörten Ausmaße
- gemacht werden, um das geistige Kulturgut zu pflegen, ihm
durch immer größere Verbreitung eine Volksverwurzelung zu
geben, auf daß es für immer erhalten werde? Vollzieht sich viel
leicht auch damit, wenn auch auf höherer Ebene, ein Hinweg
täuschen über die Not der Zeit? Wollen wir uns alle damit bloß
darüber hinwegtäuschen, daß die Entwicklung über all das hin
aus gegangen ist, was wir geistige Interessen nennen? Wollen
wir sie bloß mit aller Gewalt festhalten und künstlich wieder
zeitgemäß machen? Wenn dem so wäre - und beinahe ist es so
- dann ist es eine durchaus legitime Bestrebung. Denn so sehr
auch einer [der] Zukunft zugekehrt sein mag, so revolutionär
er auch das Weltgeschehen, das wir seit zwanzig Jahren erleben,
empfinden mag, so sehr er das Hergebrachte durch das Neue
ersetzen will, mit gleicher Stärke - wenn auch zeitweise unbe
m erk t- lebt in ihm der konservative Drang, die überkommenen
Werte zu wahren und sie in die Zukunft hinüber zu nehmen.
Und dies nicht nur, weil keiner von der eigenen Herkunft und
der Herkunft seines Volkes loskommt, sondern weil das Kon
servative - nicht als rückläufige reaktionäre Bewegung, viel
mehr als mitaufbauendes Element - in allem menschlichen
Fortschritt, ja, in allem Revolutionären mitwirkt und mit
schwingt. Gewiß kehrt sich aller Fortschritt und gar alles Revo
lutionäre feindlich gegen eine erneuerungsbedürftige Vergan
genheit, aber es ist dennoch genötigt, die Erneuerung von der
Vergangenheit selbst aus vorzunehmen: Wenn Rousseau die
Erneuerung einer glückseligen Urvergangenheit als Ziel des
humanen Fortschrittes betrachtet, so ist dies bloß ein krasser
Ausdruck dessen, was als konservatives Grundelement des ge
schichtlichen Ablaufes angesprochen werden darf. Es ist ein
wahrhaft metaphysischer Urtrieb des Menschen, der unbe
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zwingbar immer wieder zum Ausbruch gelangt, denn die Zu
kunft ist undurchdringlich, so sehr auch alle Hoffnungen des
Vorwärtsstrebens ihr gelten, in ihrer Dunkelheit ist immer der
Tod: Das Vergangene und Gefestigte dagegen, das bereits E r
reichte und Geformte, es ist der Punkt der Sicherheit und es ist
die Gewähr für das Fortbestehen und für die Erreichbarkeit des
Neuen. Der Mensch ist keinen Augenblick von seiner Lebens
angst befreit, sein Streben, Werte zu schaffen, deren Gesamt
heit erst die Kultur ausmachen, beruhigt sich erst am Anblick
des geschaffenen Werkes und seiner Ewigkeit.
Unabweisbar dringt die Idee, dringt das Ideale, mag es noch
so sehr geschmäht werden, immer wieder ins Leben ein. Und
sehen wir uns einmal um: Ich glaube, noch niemals war die Welt
so sehr von Idealen geschwängert, beinahe jeder Kegelklub hat
etwas zu verteidigen, das er seine Idee, mehr noch seine hehre
Idee nennt. Aber allzu billig wäre es, sich darüber lustig zu ma
chen. Vielmehr muß festgehalten werden, daß auch noch die
geringste Erscheinung ein Spiegel großem Geschehens ist, und
daß auch noch die kleinste Sehnsucht nach einer Lebensgestal
tung durch eine Idee nicht allzuweit entfernt ist von der Sehn
sucht nach Erkenntnis und nach Geistigkeit, nicht allzuweit
entfernt ist von der Sehnsucht nach den Symbolen der Kunst,
die die ewige Erkenntnis in sich tragen sollen. Vergessen wir
nicht, daß die abendländische Welt, die einstmals unter der
Herrschaft einer einzigen platonischen Idee gestanden hatte -
es war die Idee des christlich-platonischen Mittelalters - , einen
unendlich schmerzhaften Prozeß durchzumachen hat, um wie
der zu einer einheitlichen Idee zu gelangen, vergessen wir nicht,
daß all die blutige Not, die uns auferlegt ist, ihren letzten meta
physischen Grund in diesem Ringen um die Idee einer neuen
Einheitlichkeit besitzt, und daß jeder Versuch, zur Idee zu ge
langen, möge er auch nur ein unvollkommener und gewisser
maßen unplatonischer Versuch sein, weil sein Ideal bloß im Ir
dischen lokalisiert [ist], daß alle diese unplatonischen Ideen, de
ren Vielfalt und Zerrissenheit den Charakter der heutigen Welt
ausmachen, trotz ihrer Mangelhaftigkeit Vorboten sind des
Künftigen, Vorboten eines neuen Platonismus, genau so wie
das allenthalben auftretende Streben nach kollektiven Bindun
gen, von denen wir sprachen, Vorbote ist jenes künftigen allge
meinen Zusammenschlusses, nach dem die Welt [strebt] und
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der über das Politische hinausreicht, weil die ewige Einheit des
Humanen - die Wieder[kehr] der religiösen Haltung in sich
bergend - in ihm beschlossen liegt.
Und darauf kommt es an. Es handelt sich um die Wiederge
winnung der religiösen Haltung in ihrer ganzen gemeinschafts
bindenden Strenge und in ihrer ganzen ideellen Einheitlichkeit.
Und weil jede wahre Erkenntnis Spiegel ist der Wahrheit an
sich, Spiegel der platonischen Idee ewiger Wahrheit, und weil
jedes wahre Kunstwerk Spiegel ist des Seins schlechthin, Spie
gel des Kosmos, und weil ein tiefes Wissen um diesen Zusam
menhang besteht, unauslöschbar, trotz aller Not der Zeit und
aller Skepsis, deswegen ist es so überaus legitim, wenn der
Mensch, ungeachtet allen Fortschrittes, immer wieder zu den
geistigen Gütern zurückkehrt, deren Gesamtheit im Begriff der
Goetheschen Bildung zusammenzufassen ist. Denn weit ent
fernt von dem Heidentum, das man ihm unterlegt hat, ist es
Goethe, der es ausspricht, sich zu der Heiligkeit des Geistes da
mit bekennend: »Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den
Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr
werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen
der Idee.«1 Und mit diesem Satz, dessen Stärke, wir dürfen
wohl sagen, dessen religiöse Stärke so groß ist, daß das ganze
Goethesche Schaffen unter ihm verstanden werden darf, ist
nicht nur wiederum die Legitimation gegeben, das ganze Bil
dungsgut als Manifestation des Platonischen zu wahren und
weiterzuverbreiten, er enthält auch die sittliche Daseinsbe
rechtigung für jeden, der im Sinne Goethes gewillt ist, am
Geiste und im Dienste der Idee weiterzuarbeiten: Denn er ent
hält die Aufforderung, mitzuwirken an der Wiederaufrichtung
der platonischen Idee, er legt dem Geistigen, dem Künstleri
schen, dem Dichterischen die religiöse Pflicht auf, in jeder Er
kenntnis die Einheit des Ganzen zu sehen und solcherart mit je
der Erkenntnis, mit jedem Werk einen Baustein zu der
künftigen neuen Einheit herbeizutragen. M. e. W., Aufgabe des
geistig schaffenden Menschen ist einzig und allein, das religiöse
Ziel der platonischen Erneuerung im Auge zu behalten, und
diese Goethesche Aufgabe ist von solch sittlicher Schwere und
Kraft, ist von solch ethischer Disziplin, daß sie die Gewähr in
sich trägt, dem Geistigen wieder Eingang in eine Welt zu ver
schaffen, aus deren ethischem Problemkreis es scheinbar, frei
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lieh bloß scheinbar, ausgeschaltet ist. Denn das wahrhaft Sittli
che erzwingt sich immer wieder Gehör, und es versagt bloß,
wenn essein eigenes Ziel verliert und damit ins Unsittliche um
schlägt. Auch hier gilt ein Goethesches Wort, und es lautet:
»Wo ich aufhören muß, sittlich zu sein, habe ich keine Gewalt
mehr.«2
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E rw ägungen zum Problem
des K u ltu rto d es
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kel jener erlebten (nicht vom Historiker geschauten) konkreten
Geschichte ist die Tradition, und sie befördert das ganze Kon
glomerat von Lebenshaltungen, Einstellungen, Gewohnheiten,
Denkweisen, so konkret von Mensch zu Mensch, von Genera
tion zu Generation, von Epoche zu Epoche, so konkret, daß bei
aneinanderstoßenden oder gar bei zwei sich überlappenden
Epochen die Traditionswidersprüche gerne mit Feuer und
Schwert, als Barrikadenkämpfe und als gewaltsame Heidenbe
kehrungen ausgetragen werden. Am »Epochen-Rand« gibt es
tatsächlich eine »natürliche«, bloß von den geschichtlichen
»Wirksamkeiten« verursachte Aufhellung der Epoche, hier
»wirkt« sie zum ersten Male als »Totalität«, die sie ist, oder
kann so wirken. Aber damit ist die Leistung der Tradition auch
schon erschöpft. Sie verbürgt zwar allem Vergangenen, mithin
auch der vergangenen Epoche, ein gewisses »Wachstum in die
Zeit«, doch nur für unbestimmte Dauer; sie gleicht darin einem
Filterprozeß, der den »Welt-Alltag« der einen Epoche in den
der nächsten einträufelt und bei jeder neuen Filterpassage ei
nen Teil des Filtergutes, des Traditionsgutes, zurückläßt, so daß
die ohnehin schon ursprünglich diffus gewesene Struktur des
Gutes immer mehr und zu immer kleineren Tropfen aufgelöst
wird.
Nur Totalitäten sind wirksam (auch das Molekül ist in diesem
Sinne eine Totalität), und umgekehrt werden Totalitäten nur in
ihren Wirksamkeiten sichtbar. Die Totalitätswirkung der Epo
che nach »außen« war bisher ephemer, sie hat sich auf ihre
»Randwirkung« beschränkt: löst der Filterprozeß, löst also der
konkrete Strom der Geschichte nicht überhaupt den Ganz
heitscharakter der Epoche auf? Er täte es, wenn er ihr auch die
Wirksamkeit nach »innen« nähme; diese jedoch bleibt beste
hen: denn zum »Welt-Alltag der Epoche« gehören auch die
menschlichen Gedanken, Erkenntnisse und Wahrheiten, und
mit ihnen alle Einrichtungen, die unter ihrer Einwirkung und
Leitung vollzogen worden sind, sohin vor allem die Umgestal
tung der Epoche zu einem Wert-Organismus, zu einem religiö
sen, staatlichen, gesellschaftlichen Wert-Aufbau, der kraft sei
ner intellektuellen Herkunft sogar erhoffen läßt, daß sich in
seinem Rahmen, freilich auch nicht über diesen hinaus, eine
Auflockerung der inneren »organischen Unbekanntheit« erge
ben dürfte. Der Einwand, es könne sich eine Epoche nicht sel
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ber als Totalität konstituieren, weil sie ihr Enddatum nicht
kenne, ist unstichhaltig; jede Epoche, und gar jede religiöse,
konstituiert sich, als ob sie den endgültigen Weltzustand be
deutete. Indes: so sehr dies auch mit einer konkretisierenden
Geschichtsauffassung im Einklang steht, sie kann anscheinend
nichts damit anfangen. Denn wie sollen diese Ganzheitsinstitu
tionen nach ihrem physischen Absterben in die Tradition ein-
gehen? Wie sollen sie - mögen sie auch die maximale »Rand
wirksamkeit« und »Rand-Totalität« der Epoche wesentlich
unterstützt haben - nunmehr als konkrete Ganzheiten den Fil
ter passieren? Selbst dort, wo bewußt versucht wurde, dies zu
erzwingen, etwa in der Wiedererweckung der antiken Ordnung
durch die französische Revolutionsverfassung, ist nicht die alte
Epoche zu neuer Realität erwacht - an der historischen Realität
»Rom« kann sich eben überhaupt nichts ändern - , sondern es
wurden einfach Traditionstropfen der neuen Mischung beige
setzt, Tropfen, die ihr in diesem Fall die bekannte »antikisie
rende« Färbung gaben.
Dies aber sind die Punkte, an welchen die mystische Ge
schichtsauffassung eingreift, und sie argumentiert: ist jede
Möglichkeit versagt, den Ganzheitsgehalt einer Epoche kon
kret in eine andere gelangen zu lassen, so waren an solchem
Geschehen eben spirituale Kräfte beteiligt. Denn geschehen ist
es. Die Realität der Antike, die wiedererweckt wurde - und sie
wurde wiedererweckt, sowohl in der Renaissance wie in der
Klassik - , ist eben ihre spirituale, und wenn man auch die Theo
rie der »Wirksamkeiten« akzeptieren kann, so reicht sie trotz
dem als solche nicht aus und muß daher durch eine neue, durch
eine transreale Wirksamkeit, durch die Wirksamkeit der
»Idee« ergänzt werden, weil erst von dieser die eigentliche
Realitätsschaffung ausgeht. Braucht doch selbst der Historiker
einen sechsten Sinn, den der Intuition, wenn er sich in dem do
kumentarischen Wust des Epoche-Alltags zurechtfinden und
die »Epoche« als solche, die Ganzheit der Epoche, kurzum ihre
»Idee« aufspüren will. Und nicht nur die »Fernwirkung« der
Epoche ist ohne den Begriff der »Idee« nicht zu verstehen, auch
die angeblich »natürliche« und scheinbar so einfache »Nahwir
kung« innerhalb der Randgebiete verlangt danach, wenn sie
nicht in Diffusität aufgehen soll - in der deutschen Romantik
stand die »Fernwirkung« der Gotik in ebenbürtiger Konkur
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renz mit der »Nahwirkung« der französischen Revolution
und innere wie äußere Erkenntnis einer Epoche, innere wie äu
ßere Aufhellung ihrer »organischen Unbekanntheit« blieben
unerklärlich, mehr noch, könnten nicht stattfinden, hätten sie
nicht beide eine gemeinsame, eben spirituale Wurzel. Größer
als der Mensch mit seinen unzureichenden »natürlichen« E r
klärungen ist die »Idee«, ist der Logos, aus dem sie herstammt.
Wenn der analphabete mittelalterliche Bauer dank seiner blo
ßen Zugehörigkeit zur katholischen Kirche aus seiner unmittel
baren Wirksamkeits-Umgebung herausgehoben und ihm ein
Abglanz der Ganzheit verliehen wurde, die wie eine Erhellung
der »organischen Unbekanntheit« in sein Dasein blitzte und
ihm sein eigentliches »Epoche-Gefühl« gab, so weist dies, sagt
die mystische Geschichtsauffassung, darauf hin, daß hier eine
andere Sprache als die natürliche gesprochen wurde, eine, die
sogar über die der Kanzelrede hinausreichte - , die spirituale
Sprache der Idee! Sind, so kann argumentiert werden, die gro
ßen kultischen Gemeinschaften der Welt, in denen die Epo
chenstile entstanden sind, durch ihre Ordnungen der Gliede
rungen nicht selber zu Sprachen geworden, gesprochen von
einem überindividuellen Geist, und doch auch noch vom letzten
und einfältigsten Angehörigen der Gemeinschaft verstanden?
Sprache um Sprache steht in diesen großen Ordnungen der G e
meinschaften, die Sprache der Ordnung selber, die Sprache ih
rer Institutionen, die Sprache ihrer Wissenschaft, die Sprache
ihrer Kunst, und sie alle, einander übersetzend, einander verto
nend, sie alle vom Logos kommend, der ihre Herkunft und ihr
Ziel ist, dennoch sie alle vom Stil der Zeit durchtränkt, Wert-
Ordnung der Zeit in ihrer Gesamtheit, aufgerichtet wie ein ge
waltiger Spiegel, damit der Geist, der die Epochen geschaffen
und den Spiegel aufgerichtet hat, sich selbst in ihm spiegele und
»sich selbst zu Bewußtsein bringe«. Und was wahrhaft im
Geiste der Zeit ist, so schließt die mystische Schau der Historie,
das ist mit diesem Geiste zeitüberdauernd, denn er ist von der
Zeitlosigkeit des Logos und der Göttlichkeit getragen.
Diese mystische Konzeption ist so groß und so schön, daß die
nüchterne konkrete Geschichtsauffassung beinahe davor ver
blaßt. Nichtsdestoweniger hat sie einiges einzuwenden. So
etwa, daß die Wissenschaft mit Zeitgerechtigkeit nur soweit et
was zu schaffen hat, als der bis zur jeweiligen Epoche erreichte
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Stand der Wissenschaftserkenntnis eingehalten und auf diesem
weitergebaut werden muß, während das »Zeitgerechte« als sol
ches, also das »Stilgerechte« sich geradezu als »Fehlerhaftig
keit« erweist und durch die fernere Entwicklung entweder aus
gelöscht oder korrigiert wird; nirgends zeigt sich dies so deutlich
wie in den scharfen Forderungen der Mathematik: der pytha-
goräische Lehrsatz ist nicht »antik«, und der Integralbegriff ist
nicht »barock«, sondern beide sind schlicht »richtig« (auch
wenn der antike Mensch »geometrisch«, der barocke Mensch
»infinitesimal« gedacht haben sollte). Und prüft man den my
stischen Bestand weiter in diesem Sinne, so ergibt sich - immer
hin erstaunlich - , daß aus dem Sprachenchor, der dem Zeitgeist
antworten soll, eigentlich bloß eine, freilich sehr kräftige
Stimme übrig bleibt, die Stimme der Kunst.
Und so ist es ja auch. Um nochmals das Voll-Exempel der my
stischen Geschichtsauffassung, das Hoch-Mittelalter, anzufüh
ren: wird es der Nachwelt nicht zu allererst in seinen Domen,
in seinen Tafeln, in seinen Bildwerken sichtbar? wird es nicht
zu allererst in der gregorianischen Musik und in der Göttlichen
Komödie vernommen? verschwindet nicht alles andere dage
gen? die ganze Scholastik, der Feudalismus, die mittelalterli
chen Institutionen, sie werden wie der Text eines Liedes, den
man anfänglich kaum zur Kenntnis nimmt, sondern nur erfühlt.
Man hat der mystischen Geschichtsauffassung oftmals Ästheti
zismus vorgeworfen — gewiß kennt sie auch solche mystizi
stische Spielarten, vornehmlich in der Romantik —,allein, streng
genommen, vernachlässigt sie die Sonderstellung der Kunst zu
gunsten einer Symmetrie, in der sich der künstlerische Aus
druck gleichwertig in die Reihe der übrigen Ausdruckssysteme
stellen soll, und sie übersieht dabei, fast geflissentlich, daß die
Kunst überhaupt kein System ist: gehört es zu den Merkmalen
eines Systems, als Gesamtheit zur Totalität und Zeitlosigkeit zu
streben, in einer ewigen Unabgeschlossenheit, die zugleich die
des Logos ist und diese verwirklicht - in diesem Sinne strebt das
System der Wissenschaft zur unerreichbaren Erkenntnistotali
tät, das System der großen Menschheitsordnungen zur uner
reichbaren Totalorganisation des Humanen - , gehört es also zu
den Merkmalen eines Systems, die Einzelleistung ethisch auf
die Unendlichkeit auszurichten, sie aber sonst als bloß anony
men Baustein am Gesamtwerk zu behandeln, und gibt es sogar
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auch Versuche, sehr bedeutende Versuche, diese Prinzipien auf
die Kunst zu übertragen, z. B. in den mittelalterlichen Bauhüt
ten, die den Systemgedanken als ethische Gerichtetheit, logi
sches Fortschreiten, Anonymität der Einzelleistung, ewige Un
abgeschlossenheit des Werkes (kein gotischer Dom ist
fertiggestellt) deutlich genug aufzeigen, so darf dagegen gehal
ten werden, daß dies die Struktur ist, die eben jedem gemein
sam arbeitenden Kollektiv auferlegt wird, und daß damit wohl
die Unverbrüchlichkeit der logischen Form ethischer Normen
zu Tage tritt, jedoch nicht das wesenhafte Sein der Kunst, das
sich ausschließlich in der Einmaligkeit, Unwiderruflichkeit,
Unkorrigierbarkeit des ein für allemal abgeschlossenen Kunst
werkes kundgibt, gleichgültig, ob dieses kollektiv oder singulär
erzeugt wurde, und - im strikt polaren Gegensatz zum System
gedanken und zur sozialen Ethik des Systems - seine eigene
ethische Forderung auf den autonomen Umfang des Kunstwer
kes beschränkt, freilich aber auch innerhalb dieses engen Krei
ses Unendliches verlangend, nämlich, daß in der sinnfälligen,
begrenzten, raumzeitlichen Erscheinungder künstlerischen Lei
stung sowohl die gesamte Welttotalität als auch die im Logos
beschlossene Unendlichkeit der Menschenseele zum Ausdruck
gebracht werde. Oder, um nun nochmals in der Sprache der
konkretisierenden Auffassung zu reden: geschieht nichts auf
dieser Welt, das nicht unter einem Wirksamkeitsdruck stünde,
einem Wirksamkeitsdruck, der sich im Alltagsleben lediglich in
den Klein-Wirkungen engster Nachbarschaft und engster Um
gebungen äußert, und von ebensolchen Klein-Kräften besorgt
wird, so kann das »Wissen« des Menschen um die Totalität und
die Unendlichkeit, dieses dem Menschen eingeborene wunder
same Wissen um das Unerreichbare schlechthin, nicht außer
halb solchen Kräftespiels bleiben, vielmehr weist alles darauf
hin, daß auf jene »Unendlichkeitszentren des Wissens« jegliche
Wirksamkeitsreihe letztlich zurückgeführt werden könnte, daß
von ihnen aus eine Wirksamkeit in Aktion gesetzt wird, die man
füglich die des »transfiniten Wirksamkeitsdruckes« nennen
dürfte und die in gleicher Weise die großen Systeme und O rd
nungen in Entstehung gebracht hat - keine mathematische
Operation wäre möglich, wäre sie nicht auf das mathematisch
Unendliche am Ende der Zahlenreihe bezogen - , wie sie in der
Seele des Künstlers unmittelbar, beinahe unter kategorischer
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Ausschaltung jeder Klein-Wirkung, zur Schaffung des Kunst
werkes drängt und diesem, gäbe es ein solches vollkommenster
Ausprägung, den Charakter der »Schöpfung« verleiht. Was der
Weltgeist, der Zeitgeist in den großen Gesamtsystemen der
Wissenschaften und der Menschheitsordnungen zu erreichen
trachtet, das kehrt, der Aufgabe nach, in jedem Einzelkunst
werk wieder - , es hat die Totalität der gegebenen Welt zu um
spannen, die Kunst einer Zeit wird dem Zeitgeist gleichgesetzt.
Durch diese doppelte Reduzierung des mystischen Gehaltes
wird die Rückkehr in die konkrete Sphäre legitim, obwohl noch
immer so viel Mystisches übrig bleibt, unantastbar und unange
tastet, daß Begriffe wie »Idee« oder »Zeitgeist« nur ungern
entbehrt werden würden. Doch es darf aus der nun sehr konkret
gewordenen Zuordnung des Zeitgeistes zu der ihm angehören
den Kunst immerhin die Erlaubnis abgeleitet werden, ihn seiner
persönlichen Willens- und Erkenntnisäußerungen zu entheben
und statt seiner das Kunstwerk den Weg durch die Zeiten an-
treten zu lassen - als konkretes Gut wird es ohne weiteres von
der Tradition aufgenommen und befördert, und auf der Reise,
an jeder Zeit-Station vernehmlich die »Idee« und die Totalität
seiner Ursprungsepoche kündend, macht es das durch die Jahr
hunderte hindurchrauschende mystische Fluidum überflüssig-,
und ebenso bietet die Feststellung des »transfiniten Wirksam
keitsdruckes« eine Handhabe, um (in kantische Bahnen ein
lenkend) zu einer vorsichtigen Konkretisierung der »Idee« und
des wohlbekannten Idealisierungsvorganges in der Kunst zu
gelangen: kann die Kunst nicht umhin, ihr Objekt, den »Welt-
Alltag der Epoche«, dessen Erfassung ihre einzige Aufgabe ist
und der daher auch ihre stete naturalistische Basis bildet, kann
sie nicht umhin, das Objekt in ein ihm fremdes Material umzu
setzen, und verringert sie bei diesem Vorgang die Motivenman-
nigfaltigkeit des Weltchaos auf recht wenige, an den Fingern
abzählbare Themen, so geschieht dies nicht etwa, weil das Ma
terial keinen größeren Motivenspielraum gewährte, und es ge
schieht auch kaum, um das artistische Vergnügen zu genießen,
die ganze Welttotalität aus den paar Tönen der Skala, aus den
paar Farben der gemalten Landschaft, aus den beschränkten
Maßen eines gemeißelten Torsos, oder aus dem schlichtesten
Thema G eburt-L iebe-T od neu aufzubauen, sondern es ge
schieht, weil der Mensch den »transfiniten Wirksamkeits
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druck«, der auf ihm lastet und unter dessen Befehl er handelt,
als Ausfluß eines an sich inhaltlosen und kaum ausdrückbaren
Wissens (um die Unendlichkeit und um die Totalität) dennoch
als eine Kraft höchster Realität empfindet, als eine Kraftreali
tät, deren Druck ihn nötigt, die Realität der Welt in gleichfalls
unsichtbaren Kräften zu suchen, sei es mit Hilfe der Forderung
an die Naturwissenschaft, die »eigentliche« Realität der Welt
materie in stets fortschreitender Auflösung zur logischeren,
mathematischeren Form zu gestalten, sei es mit Hilfe der For
derung an die Kunst, an einem Minimum materialer (und
schlichtest zeitloser) Themen stets aufs neue die unsichtbaren
»Kräfte der Zeit« und der mit ihnen gegebenen Welttotalität
als ihre »Idee« zur Darstellung zu bringen. Daß aber der
Künstler, angefangen von jenem, der die iberischen Höhlen
zeichnungen schuf, bis zu Beethoven und Goethe, diese Fähig
keit besitzt, den Welt-Alltag seiner Epoche zu »erfühlen« und
die »Idee« dem ewig unzugänglichen chaotischen Material zu
cntlösen, daß er den Spiegel errichten kann, in dem die inhaltli
chen Bestandteile der Epoche verschwinden und die wirkenden
Kräfte sichtbar werden, und daß es ihm kraft seiner Hingege
benheit an das Objekt, kraft dieser wahrhaften Zeitgerechtig
keit gelingt, in solchem Bilde die Realität der Epoche zu schaf
fen, eben jene »vorauseilende Realität«, mit der sie konkret in
die Jahrhunderte einzieht und den späteren retrospektiven Hi
storiker zwingt und immer wieder zwingen wird, seine Intuition,
will er die Epoche erfassen, auf die »introspektive Historik«
und die introspektive Intuition des Kunstwerkes zu richten, dies
alles ist von tiefstem Geheimnis, ist von tiefster Mystik erfüllt,
denn es ist die Mystik des Menschseins schlechthin, es ist die
Mystik seiner Humanität, es ist die Mystik der Kultur schlecht
hin.
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Philosophische A ufgaben
einer In tern atio n alen A kadem ie
G ründungsa ufruf
für eine Internationale Universität
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gegen alle; gelingt es einer von ihnen dabei, die Oberhand zu
gewinnen, so kann sie sich für die Dauer ihrer Herrschaft, die
dann freilich für den Menschen doppelt tyrannisch wird, als
zentrales Wertsystem etablieren. Verschiedene Epochen haben
verschiedene Lcit-Institutioncn, Lcit-Wertsysteme, Leit-
Ideale gehabt.
Der Mensch kennt die Gefahren des Institutionskampfes, so
wohl des unentschiedenen wie des entschiedenen; er hat ihre
verderblichen Folgen allzu oft am eigenen Leib zu spüren be
kommen, als daß er sich nicht gegen sie auflehnen müßte, und
in dieser Auflehnung hat er seit altersher den verschiedenen,
wechselnden Institutions-Idealen sein eigenes, sozusagen insti
tutionsfreies, nämlich das des »vollkommen humanen Men
schen« mit einer fast mystischen Perseveranz entgegengesetzt.
Die großen Humanitätsreligionen der Welt haben allesamt die
ses Idealbild vom Menschen aufgegriffen, und nicht zuletzt ihm
verdankt es das Christentum, daß es sich so viele Jahrhunderte
hindurch als abendländischer Zentralwert hatte behaupten
können; das Bild vom »vollkommen humanen Menschen« ist
als Ebenbild Gottes in die christliche Theologie eingegangen,
hat von dieser die ihm notwendige rational-begriffliche Stüt
zung erfahren, leider jedoch kaum den ihm nicht minder not
wendigen praktischen Schutz, den ihm die Kirche umsoweniger
gewähren konnte, als sie gleichfalls zur weltlichen Institution
geworden war und als solche sich von den anderen aus ihrer
zentralen Leit-Stellung hatte verdrängen lassen müssen.
Die Auflehnung des Menschen gegen seine eigenen Institu
tionen und gegen die Rechte, mit denen er sie ausgestattet hat,
ruht auf seinen »natürlichen Rechten«, auf seinem »Natur
recht«, auf seinen »Menschenrechten«, also auf etwas Vagem,
besonders wenn es der theologischen Definition entbehren soll
und sich nicht mehr auf den göttlichen Willen als letzten
Rechtsgrund berufen kann. Auch das Idealbild vom »vollkom
men humanen Menschen« ist vage im Vergleich mit den Insti
tutions-Idealen und dementsprechend noch wesentlich uner
reichbarer als etwa das vom »vollkommenen Soldaten« oder
»vollkommenen Staatsbürger«. Und infolge dieser Vagheit und
dieses mangelnden Rechtsgrundes trägt die Auflehnung des
Menschen gegen die Institutionen stets anarchische Züge und
muß im letzten, sozusagen infolge legaler Hilflosigkeit, zur
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Durchsetzung ihres humanen Ideals an die inhumane Gewalt
appellieren.
Dies aber ist die Tragik der Demokratie - denn Demokratie
hebt immer als Auflehnung des Menschen gegen die Institutio
nen an - und ist es umsomehr als Demokratie sich immer wieder
selbst zur Institution machen muß, wenn sie nicht der Anarchie
verfallen will. Und doch darf sie in ihrer Auflehnung niemals
erlahmen, heute weniger als je, denn die Wirksamkeit der Insti
tutionen ist bis zur unmittelbaren Weltvernichtung gediehen:
niemals noch im Verlauf der Geschichte war es so notwendig
gewesen, der Menschheit und ihrer Jugend die Rückkehr zum
Idealbild vom »vollkommen humanen Menschen« zu ermögli
chen.
Niemals war es so notwendig gewesen, und ebendarum war es
niemals noch so schwierig. Die Stellung des Glaubens als Zen
tralwert und Hüter der Humanität ist im 19. Jahrhundert da
hingeschwunden, damit auch die der Kirche als Leit-Institution
(nicht zuletzt im Erziehungswesen), und dieser Säkularisie
rungsprozeß bedeutet eine Plausibilitätsverschiebung, die der
Mensch nicht willkürlich in Gang gebracht hat, und die daher
auch nicht willkürlich abgebrochen oder gar ungeschehen ge
macht werden kann: die Plausibilität von Glaubensgewinn und
Glaubensverlust wird allein von der autonomen Seele be
stimmt, und wenn dem modernen Menschen bloß wissenschaft
liche Fakten und Überlegungen als plausibel erscheinen, er also
die Rolle der Leit-Institution auf die Wissenschaft übertragen
hat, so läßt sich die Wiedergewinnung der Humanität nicht bloß
mit einer Rückverweisung auf die Glaubensgrundlagen - und
seien diese noch so humanitätsförderlich - erzielen. M. a. W.,
um das Idealbild vom »vollkommen humanen Menschen« dem
Allgemeinbewußtsein und vor allem dem der Jugend wieder
einzuverleiben, bedarf es säkularisierter Mittel, und das können
bloß haltbare wissenschaftliche Feststellungen und Begrün
dungen sein. Humanität ist eine exakte Wissenschaftsaufgabe
geworden.
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rungsprozeß verlangt erfahrungswissenschaftliche und nicht
philosophische Plausibilität; zumindest auf einer ersten Ebene
wird keine andere anerkannt.
Kurzum, auch die Philosophie ist dem Säkularisierungsprozeß
des abendländischen Geistes unterworfen, so sehr unterworfen,
daß sie sich selber nur als »reine« Wissenschaft gelten haben
will. Gewiß, sie weiß nach wie vor, daß jedes (intuitive) Auf
flammen der Erkenntnis und ebenso deren letzte Bejahung, wie
langgestreckt und feingegliedert die dazwischen liegende Plau
sibilisierungsstrecke auch sein möge, stets in einem Bereich lo
kalisiert sind, der bloß als metaphysisch zu bezeichnen ist, und
daß sich zu ihm bloß von einer theologischen (oder kryptotheo-
logischen Deduktionsbasis aus ein Zugang findet, aber die phi
losophische Spekulation wagt sich nur mit äußerster Vorsicht
an dieses Grenzgebiet des Anfangs und Endes heran; von
Hume und Kant gewitzigt und manchmal positivistisch überge
witzigt, trachtet die Philosophie sich auf das zwischen Anfang
und Ende liegende Säkularisationsgebiet, also auf das ihrer ei
genen Exaktheit in Logik, Erkenntnistheorie, Wissenschafts
kritik und Methodologie zu beschränken. Eng hiezu gehört
auch, daß die philosophische Forschung, verlustig ihrer einsti
gen Spekulationsnaivität, keinerweis mehr geneigt ist, Themen,
die eine - selbst nur partielle - empirische Behandlung zulas
sen, einfach aus eigenem zu behandeln; sogar ethische Pro
bleme wird sie vor allem den Erfahrungswissenschaften über
antworten, freilich ohne darum ihr kritisches Überprüfungs
recht aufzugeben.
Solcherart von der Philosophie selber hiezu vorgeschoben und
aufgefordert, obliegt es in erster Linie den empirischen Wissen
schaften, sich mit der merkwürdigen, ja unheimlichen Diskre
panz zu beschäftigen, die zwischen dem menschheitsnotwendi
gen und dabei bisher so unerreichbar gebliebenen Idealbild
vom »vollkommen humanen Menschen« und den menschheits
gefährdenden, dafür aber nur allzuleicht erreichbaren Institu
tionsidealen besteht. Warum müssen die Institutionen sich im
mer wieder gegen den Menschen, ihren Schöpfer kehren?
Warum müssen sie immer wieder politische, ökonomische und
geistige Bedrückung hervorrufen? Warum ist der Mensch nie
mals noch imstande gewesen, sich mit seiner (demokratischen)
Auflehnung dauernd gegen seine Institutionen durchzusetzen?
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Alles was über das Wesen der Menschennatur erfahrbar ist,
dient zur Beantwortung dieser Fragen, und so wenden sie sich
auch an fast alle Wissenschaften, nicht nur an eine oder die an
dere von ihnen, da nur so das Material für ein Gesamtwissen
um die Menschennatur und für eine »Allgemeine Theorie der
Humanität« - darum geht es hier nämlich, und man könnte es
sogar eine »Allgemeine Theorie des Friedens« nennen - zu
sammeln ist.
Die daraufhin (oder richtiger zugleich) einsetzende Arbeit der
Philosophie gliedert sich in zwei Teile. Erstens ist Philosophie
selber Erfahrungswissenschaft; die Erkenntnis als solche (selbst
wenn man sie aufs Sprachliche einengt), ihre Logik, ihre Me
thoden sind so gut Gegebenheiten wie die jeder andern Wis
senschaft, und in ihnen enthüllt sich sogar ein [Gebiet] oder so
gar das Zentralgebiet des Wissens um die Menschennatur.
Zweitens aber bilden die übrigen, die eigentlichen Erfahrungs
wissenschaften - zumindest heute noch - ein recht zersplittertes
Konglomerat, und selbst wenn ihre Ergebnisse unter einem
einheitlich inhaltlichen Gesichtspunkt, hier dem des »Wissens
um die Menschennatur« gesammelt werden, zur Aufstellung
einer »Allgemeinen Theorie«, hier der Humanität und des
Friedens, wird mehr benötigt, nämlich nicht nur inhaltliche,
sondern auch methodologische Einheitlichkeit, und diese me
thodologische Unifizierung der Wissenschaftsdisziplinen und
ihrer Ergebnisse kann bloß vom Zentralpunkt der Erkenntnis
aus, also durch exakte Philosophie besorgt werden.
Der Gedanke einer »Internationalen Akademie« als Teil ei
ner international orientierten Universität ist kaum anders denn
unter dem Erziehungsideal des »vollkommen humanen Men
schen« denkbar: von diesem Ideal her sind Humanität und In
ternationalität (und in weiterer Folge auch Demokratie) als
wechselseitige Existenzbedingungen erkennbar, und von hier
aus zeigt sich deren Erforschung, also die Erforschung be
stimmter Bedingungen in der Menschennatur, als eine der
Hauptaufgaben der »Akademie«. Es ist ein ganzer Komplex
von Aufgaben, und gemäß den bisherigen Ausführungen
scheint es vorteilhaft, ihn in zwei Klassen aufzuteilen, nämlich
in eine erfahrungswissenschaftliche Klasse für Humanitätstheo
rie und Weltdemokratie und in eine philosophische Klasse für
Methodologie und Wissenschaftsunifikation.
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A. Klasse für H u m an itätsth eo rie und W eltd em o k ratie
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Aufdeckung der rationalen Verursachungen zu den anschei
nend irrationalen menschlichen Motivationen. Das ist vielver
sprechendes Neuland, und zwar nicht nur psychologisches (wie
es das der hierher gehörigen Massenpsychologie ist), denn Ver
ursachungen liegen auf allen Wissensgebieten; insbesondere
von der Soziologie sind da wichtige und neuartige Beiträge zu
erwarten.
Ein Institut nach Art der »Internationalen Akademie« kann
und darf sich nicht auf ein fixes Programm festlegen, wird je
doch - unbeschadet seiner Freiheit zu elastischer Programm
bildung und -entwicklung - dem wissenschaftlichen Neuland,
das sich da auftut, voraussichtlich jegliche Aufmerksamkeit zu
wenden. Denn nicht die Verursachungen, nein, die Motivatio
nen sind die unmittelbaren Moventien, von denen die histori
schen Willensentscheidungen abhängen.
Programmöglichkeiten
Es wird also hier kein Programmvorschlag gemacht; es werden
lediglich einige der in Betracht kommenden neuen Forschungs
gebiete aufgezeigt.
Gewiß kann Neues nicht isoliert stehen, und daher sei festge
halten, daß das zur Erfassung der Menschengestalt benötigte
altbekannte Material sich wesensgemäß nach drei Hauptge
sichtspunkten einteilen läßt, nämlich 1. in die Kenntnisse von
den Urgrundlagen der Menschennatur, 2. in die Kenntnisse von
der menschlichen Entwicklung, 3. aber in die Kenntnisse vom
gegenwärtigen Zustand des Menschen und seiner sozialen Ein
richtungen.
An der ersten Gruppe sind Biologie, Physiologie, medizini
sche Psychologie und Psychiatrie, speziell auch Primitive npsy-
chologie und psychologische Anthropologie samt Rassen
kunde, Religionsgeschichte (unter besonderer Berücksichti
gung des magischen Denkens) sowie Mythenlehre etc. be
teiligt.
Die zweite Gruppe umfaßt sämtliche historische Disziplinen,
nicht zuletzt jene, welche sich mit dem Werden der verschiede
nen (staatlichen, rechtlichen, ökonomischen und sonstigen)
menschlichen Institutionen beschäftigen.
In die dritte Gruppe endlich fallen sämtliche Wissenschaften,
die vom modernen Menschen, seiner individuellen Struktur
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und der seiner sozialen Verbundenheiten Kunde geben. Im
Mittelpunkt dieser Disziplinen stehen die psychologischen und
die Sozialwissenschaften, doch ebenso gehören alle jene dazu,
die wie z. B. die Jurisprudenz oder die Nationalökonomie auf
Institutionsuntersuchungen ausgerichtet sind.
Die neuen Ergänzungsdisziplinen, d. h. die, welche sich mit
der »Verursachung von Motivationen« befassen sollen, werden
vorzüglich in die Gruppen 2. und 3. einzugliedern sein; Gruppe
1. wird hievon kaum berührt werden.
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Das »Leben« und damit fast alles Empirische ist irrational, d. h.
es ist für den Menschengeist ein anonymes Kontinuum, dessen
Erfassung für ihn unmöglich wäre, wenn er nicht die wunder
same Fähigkeit besäße, aus der hiefür eigentlich erforderlichen
unendlichen Anzahl von Bestimmungsstücken eine »charakte
risierende« endliche Auswahl zu treffen: glückt ihm dies, so ist
eine echte »Rationalisierung« des Objektes zustandegebracht,
doch wenn die Reduzierung der unendlichen Anzahl auf eine
endliche nicht vermittels Auswahl, sondern - wie es im Denken
und Welterfassen des Primitiven vonstatten geht - vermittels
willkürlich herangetragener, objektfremder Elemente voll
zogen wird, so nützt deren Endlichkeit nichts, und die Objekt
erfassung bleibt »irrational«.
Diese Definition der Irrationalität bedarf natürlich noch wei
terer Präzisierungen, zeigt aber auch schon in der vorliegenden
Form, wie der psychologische Mißdeutungsmechanismus lo
gisch zu begreifen wäre, und wie sehr er gerade dem primitiven
Denken eigentümlich ist.
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schier unerfaßlichen Kleinzügen zusammen - die Institutionen
ragen daraus gleich Rationalinseln hervor - und eben die näm
liche Fülle irrationaler Kleinzüge zeigt sich im Bild einer jeden
Zivilisation, das ja nichts anderes als ein Querschnitt durch den
Traditionsstrom ist, zeigt sich im Bild des jeweiligen »Zeitsti
les«, von dem alle Äußerungen einer Epoche, also nicht nur die
künstlerischen, vielmehr all ihr Denken und Handeln mitsamt
den dazugehörigen Motivationen unweigerlich und unaus
löschlich durchtränkt sind.
Das damit umrissene Sachgebiet, das der Traditionen, der Zi
vilisationen und der Stile, gehört dem Neuland an, das noch der
Erforschung harrt. Die Sozialwissenschaften und ebenso man
che historischen Disziplinen, vor allem die Kunstgeschichte,
sind daran, sich diesem Neuland zu nähern: als Ziel muß eine
allgemeine Traditions- und Zivilisationslehre gelten.
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tionen, die ökonomischen wie die staatlichen wie all die sonsti
gen Machtgebilde sind hypertrophisch-anonyme Riesenme
chanismen geworden, denen ungeachtet ihrer scharf rationalen
Einrichtungen der Fluch irrationaler Undurchschaubarkeit an
haftet.
Der moderne Mensch ist im Rational-Dschungel verirrt, und
die Verirrtheit ist eine der Hauptverursachungen seines Han
delns und der diesem zugeordneten Motivationen geworden,
die von vorneherein Mißdeutungen sein und bleiben müssen,
zumindest solange als der Dschungel - und dazu sind noch
kaum Ansätze vorhanden - nicht wissenschaftlich gelichtet sein
wird.
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ihm selber heraufbeschworenen Unheils auch sind, eines der
Instrumente, von dem vielleicht ein Beitrag zur Unheilsverhü
tung zu erwarten ist, darf in der Vertiefung des Wissens um die
Massenseele und um deren Mechanik gesehen werden.
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sammenhängendes Lehrgebäude; sie wollte auch nie etwas
derartiges besitzen, denn in jedem Lehrgebäude lauert die Ge
fahr des Dogmatismus und Autokratismus, also gerade dasje
nige, was von Demokratie wesensgemäß am meisten gescheut
wird: Demokratie will nicht zur politischen Religion werden,
hat es nie werden wollen oder dürfen; nicht nur, daß die Aner
kennung von Gewissens- und Religionsfreiheit zu ihrem Wesen
gehört oder zumindest gehören sollte, sie hat vielfach, so insbe
sondere im angelsächsischen Gebiet, ihre Geltung auf religiöse,
ja sogar mystische Überlegungen - die Gleichheit der Men
schen vor Gott —begründet, und es war ihr daher von vorneher-
ein unmöglich, sich daneben selber als eine gewissermaßen
zweite Religion zu etablieren.
Aber auch Wissenschaft ist nicht Religion, ist es ebensowenig
wie die Demokratie, und gleich dieser hat sie nicht die Absicht,
jemals Religionsansprüche zu stellen; sie tut das nur, wo sie ins
Dogmatische und damit ins Unwissenschaftliche umschlägt und
chiliastisch wird. Die einzige von echter Wissenschaft gefor
derte Überzeugung ist die eines unbedingten Wahrheitsstre-
bens, und etwas anderes wird auch nicht von seiten der Demo
kratie und ihres Friedenswillens gefordert.
Das Lehrgebäude der Demokratie als System darf also errich
tet werden, ohne daß befürchtet werden muß, es werde der de
mokratischen Wesenheit Schaden antun; im Gegenteil, es ist
ihr, gerade um des Friedens willen, dringlich notwendig gewor
den. Denn es ist mit der »Theorie vom Frieden«, zu deren
Schaffung das »Institut« berufen werden soll, geradezu iden
tisch; nicht nur also, daß mit allem Fug von einer »Klasse für
Friedenswissenschaft und Weltdemokratie« gesprochen wer
den darf, es würde in Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben das
»Institut« als eine wirkliche »Akademie für Demokratie« fun
gieren, solcherart zu einer Instanz werdend, die imstande wäre,
den Demokratien der Welt die von ihnen benötigten wissen
schaftlichen Grundlagen und Gutachten zu liefern, und zwar
einerseits für die Fragen ihrer inneren Weiterentwicklung
überhaupt, zweitens jedoch für ihre Entscheidungen in den je
weiligen politischen Aktualproblemen.
Es wäre eine ähnliche Funktion wie jene, welche das »Karl
Marx Institut«1 in Moskau für das kommunistische Geistesle
ben und die kommunistische Politik zu erfüllen beauftragt ist.
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Hiebei würde die Akademie für Demokratie sich von ihrem so
zialistischen Gegenstück in zwei Hauptbelangen unterschei
den: erstens hätte sie - demokratiegemäß - allen Wissenschaf
ten und ihren Erkenntnissen (einschließlich der sozialistischen)
paritätische Autonomie zuzuerkennen und sie nicht unter ein
zentrales Dogma (wie es eben im Kommunismus geschieht) un
terzuordnen, und zweitens hat sie eindeutig auf den Frieden
ausgerichtet zu sein, und da sie dieserweise auch nicht akzeptie
ren darf, daß der Krieg notwendigerweise der Vater aller Dinge
sei, muß sie es auch ablehnen, daß nun (eben von der soziali
stischen Theorie) die Revolution mit solcher Zeugungswürde
bekleidet wird, muß das um so mehr ablehnen, als Krieg und
Revolution bereits daran sind, in eins zusammenzufließen; wer
kraft evolutionistischer Maßnahmen den Krieg zu vermeiden
trachtet, muß auch der Revolution gegenüber die gleiche Stel
lung einnehmen.
Gewiß kann dagegen eingewendet werden, daß die Demokra
tie selber revolutionsgeboren ist; allein der daraus gezogene,
nur allzu übliche Analogieschluß auf ihr Absterben anläßlich
der nächsten Revolution ist nicht einmal als Analogie haltbar.
Die blutige Revolution ist genau wie der Krieg ein Verkehrsun
fall, und wer auf Verkehrsunfälle baut, auf daß in ihnen geniale
Kinder geboren werden, ja hiefür sogar die Verkehrspolizei ab
schaffen möchte, ist gelinde gesagt ein Revolutionsromantiker.
Die Demokratie ist in der Revolution geboren, weil sie, als dau
ernde Auflehnung des Menschen gegen die Institution, einfach
selber Revolution ist, doch eben in dieser Doppeleigenschaft
(des Menschenrechtes und der Revolution) obliegt es ihr einer
seits, in der Revolution dauernd zu bleiben und sie zu entwik-
keln, andererseits aber für deren humanen, also unblutigen
Verlauf zu sorgen. Auch das Leben der Wissenschaft ist
dauernde und unblutige Revolution, und gerade die Wissen
schaft verlangt, daß genau das auch im Sozialleben platz
greife.
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wehrlos geworden, wehrlos an sich und wehrlos gegen die Inhu
manität.
Die Wissenschaft enthält nichts zur Wiederanknüpfung sol
cher Bindung, obwohl in ihren tiefsten Besinnungen es ihr ist,
als könne sie selber ihrer nicht entraten. Aber keinerlei wissen
schaftliche (oder gar politische) Maßnahme vermag Gottes
glauben herzustellen oder wiederherzustellen. Die Wissen
schaft vermag bloß auf den leeren Platz hinzuweisen, dorthin
wo Gott thronen sollte, thronen könnte.
Es ist ein abstrakter Hinweis, und dementsprechend ist es auch
nicht ihr Streben nach Humanität, durch das die Wissenschaft
sich mit Gott konfrontiert fühlt. Freilich aber liegt die Konfron
tierungsursache auch nicht, wie so oft angenommen wird, in
dem allzu einfachen, allzu seichten Ignoramus, das nichts als ein
verwundertes Kopfschütteln ob der selbstverständlich vorhan
denen, selbstverständlich unergründlichen, materialen Ge
schehensrätsel ist; nein, das wahre Staunen und Verwundern
liegt im Scimus, denn dies allein erschauert wahrhaft über das
Unergründliche in der eigenen Erkenntnisfähigkeit, über das
Unergründliche in der Einheit von Sein und Erkenntnis, über
deren letzte Grenzen im Unendlichen, das des Menschen letzte
Erforschungsaufgabe bildet. Indem die Wissenschaft ihren ei
genen Unendlichkeitsvorstoß zu begreifen trachtet und damit
zur Grundlagenforschung wird, betritt sie zwar nicht religiöses
Gebiet, wohl aber das der Ideen, und eben hier, eben in ihnen,
die das Sein und das Nichtsein, das Scimus und das Ignoramus
gleicherweise umfassen, findet sie ahnend das nicht mehr aus
denkbare, nicht mehr ausdrückbare Axiom der Axiome, dessen
Geheimnis göttlich zu nennen auch sie sich nicht scheut.
Wer ehrfürchtig ist, der ist auch demütig. Das wissenschaftli
che Denken mißtraut sich selbst. Es ist der empirischen Erfah
rung zugekehrt und hat den Wunsch, sich an ihr fortlaufend zu
verifizieren oder, wo immer es nottut, zu erneuern; aber es weiß
zugleich auch, daß es selber die Fakten der Erfahrung auszu
wählen hat und auswählt, und daß daher dieser Prozeß, d. h. das
eigene Selektionsprinzip gleichfalls unter ständiger Kontrolle
gehalten werden muß. Die Fakten liefern keine Handhabe
dazu; es ist eine deduktive Kontrolle, und sie wird mit den Mit
teln der Erkenntniskritik, der Logik und Methodenlehre aus
geübt. In jenen Wissenschaften, die - wie vor allem die Physik
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- durch den mathematischen Ausdruck eine deduktive Struktur
erhalten haben, setzt die Notwendigkeit dieser philosophischen
Kontrolle erst bei der letzten Grundlagenforschung ein, hinge
gen bei den sogenannten Geisteswissenschaften sozusagen
schon bei ihrem ersten Anhub: nur hiedurch werden sie zum
»System«, werden sie zur Wissenschaft; nur hiedurch werden
sie so weit exaktheits-angenähert, daß sie als vollwertige Part
ner der exakten Naturwissenschaft genommen werden dürfen.
Denn alle Exaktheit liegt in der Deduktion.
Gerade ein Institut, das als Gegenstück zu dem Moskauer be
auftragt werden soll, neben dem kommunistischen System ein
im weitesten Sinn demokratisches zu errichten, muß sich vor
Augen halten, daß der Marxismus sich von allem Anfang an
streng dem Prinzip der philosophischen Kontrolle verschrieben
hat; seine Verankerung in der Hegelschen Logik und Dialektik
hat ihm nicht nur seine Plausibilitätsfestigkeit verliehen, son
dern eben auch die Basis seiner schier religiösen Überzeu
gungsstärke, die heute für nahezu ein Drittel der Menschheit
bindend geworden ist. Soll die Demokratie, wie es ihr ansteht,
mit ihrer »Theorie vom Frieden« zu analoger Überzeugungs
stärke gebracht werden, so ist ihr auch ein analoger Weg vorge
zeichnet, allerdings nicht just der einer ebenso dogmatischen
Hegel-Verhaftung: ein volles Jahrhundert ist seit Hegel verstri
chen, das Jahrhundert der Grundlagenforschung und der größ
ten nach-aristotelischen Umwälzung in der Logik, und das ist
ein Geschehen, das nicht unberücksichtigt bleiben kann.
Sicherlich heißt dies nicht, daß die »Theorie vom Frieden«
sich nun eine »andere« Philosophie zur Anlehnung auszuwäh
len hätte. Nicht nur, daß das eine dogmatisierende Bevorzu
gung wäre, die sich mit demokratischem Antidogmatismus
schlecht vertrüge, es würde hievon auch unausweichlich eine
neue Demokratiespaltung hervorgerufen werden, und zwar -
abgesehen von dem ohnehin vorhandenen Marxismus - in G e
stalt einer mit einem Gegendogma ausgestatteten Gegenschule,
in der auch schon, wahrlich unangemessen für eine »Theorie
vom Frieden«, der Keim zu einem neuen Glaubenskrieg zu
sprießen begänne. Hat doch sogar ein so umfassendes Dogma
wie das katholische derartiges nicht zu verhüten vermocht, ganz
zu schweigen vom Marxismus, dessen Spaltungstendenzen be
reits heute offen zutage liegen.
82
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Umgekehrt wäre die Philosophie, soweit sie rein wissen
schaftlich ist, durchaus Unwillens, ja sogar unfähig, solch un
dankbare Rolle eines neuen Dogmas in ihrem Verhältnis zur
»Theorie vom Frieden« zu übernehmen. Ihre Rolle ist aus
schließlich auf das Methodologische abgestellt, d. h. auf die
Sichtbarmachung der Bedingungen, unter welchen ein wissen
schaftliches Selektionsprinzip arbeitet, und wie es das Konglo
merat des von der Empirie oder den empirischen Einzeldiszi
plinen gelieferten Materials zu einem echten Wissenschaftssy
stem zusammenfassen kann. Und das ist ausschließlich eine
Aufgabe der Wissenschaftslehre und der aus ihr erfließenden
Problemanalyse: was ist ein wissenschaftliches Problem? Liegt
allen wissenschaftlichen Problemstellungen und -lösungen stets
eine gemeinsame Methode zugrunde? Wie beeinflußt die Me
thode ihrerseits die Selektion der Probleminhalte? Innerhalb
der Mathematik und des Bereiches der durch sie darstellbaren
Erkenntnissegmente, also einerseits vor allem dem der Physik,
anderseits dem der Logik und bis zu einem gewissen Grade
auch dem der Erkenntnistheorie, sind es sinnvolle Fragen, da
es hier sicherlich die für sie gewünschte positive Beantwor
tungsmöglichkeit gibt. Doch wie steht es mit den außermathe
matischen, mit den nicht mathe[mati]sierbaren Gebieten?
Es geht um die Einheitlichkeit des Menschengeistes. Für alles
Mathematische darf sie als bestehend und darüber hinaus als
menschheitsgültig angenommen werden: falls also gezeigt wer
den kann, daß das, was in der Mathematik stattfindet, sich prin
zipiell und mit Notwendigkeit auch in den Methoden der au
ßermathematischen Disziplinen konstatieren läßt, konstatieren
lassen muß, so wäre mit solcher All-Erstreckung der methodo
logischen Einheitlichkeit nicht nur der Ansatzpunkt für eine
kommende - und vielleicht schon auf dem Wege befindliche -
Unifizierung aller Wissenschaft, aller Wissenschaftserkenntnis
und ihrer Disziplinen aufgedeckt, sondern es würde hiedurch
auch ein stärkstes Zeugnis für die Annahme der einheitlichen
Struktur alles dessen, was Menschengeist genannt werden darf,
was Mensch[en]geist ist, abgelegt werden können.
Und damit wendet sich der ganze Komplex wieder ins Ethi
sche zurück. Denn wenn solcherart in Durchführung einer
strengen und nüchternen Wissenschaftsanalyse die Einheitlich
keit des Menschengeistes sichtbar zu machen ist, so wird es ge
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stattet und darüber hinaus zur unabweislichen, nämlich zur lo
gischen Pflicht, die weiteren Schlüsse aus dem damit gegebenen
Faktum zu ziehen, und in ihnen würde sich etwas vollziehen,
was unzweifelhaft einer Säkularisierung des göttlichkeitsge
tragenen Naturrechtes gleichkäme: wahrlich, keiner könnte so
verworfen sein, daß er nicht potentiell Träger des Menschen
geistes bliebe, und keiner stünde so hoch, daß er solche Men
schenwürde des andern vergessen dürfte. Das aber und nichts
sonst daneben ist Humanität, ebensowohl die der Wissenschaft
wie die der Demokratie.
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stentum zuläßt —oder ob hinter beiden Phänomenen und ihrer
gegenseitigen Bedingtheit noch weitere Ursachen stehen, das
alles sind Probleme, die noch der Erforschung harren.
Doch wie immer die Problemlage sei, der Menschengeist ahnt,
daß die Aufsplitterung des Wissens nicht nur eine technische
Verlegenheit darstellt, sondern in tiefer Dunkelheit eng mit
dem Weltenunheil verbunden ist, und er quittiert es mit Unbe
hagen. Selbst wenn er die Religion wieder zum Zentralwert er
höbe, die einstige Leistung der Theologie, nämlich die Zusam
menfassung und methodologische Dirigierung des Gesamtwis
sens wäre wohl kaum mehr von ihr zu erwarten. Für manchen
Wissenschaftler war (und ist) die Zurückziehung ins engste
Spezialistentum einfach eine Flucht aus solch unbehaglicher
Lage.
Der Marxismus war das erste nachreligiöse Gedankensystem,
das mit einer Wiederaufnahme der - dem Menschengeist eben
unentbehrlichen - Erkenntnis-unifizierenden Funktion der
Theologie praktisch ernst machte. Er säkularisierte sie und bot
hiedurch einen Ausweg aus dem Unbehagen. Auch die Marxis
mus-Imitationen des Fascismus und Nazismus verwendeten,
nebst vielem anderen, die Hoffnung auf Wissenseinheitlichkeit
als ein Lockmittel, und zwar in erster Linie für jene, welche
nicht ohneweiters mithilfe nationalistischer und ähnlicher
Schlagworte einzufangen waren. Daß sich aber überhaupt mit
derart poweren Pseudotheorien hatte durchdringen lassen, das
zeigt wohl, wie gierig der Mensch nach allem greift, von dem
er sich verspricht, daß es einheitlicher Nenner für die auf ihn
einstürmende, undurchschaubare Erkenntnisfülle werden
könnte.
Selbst wenn die Nazi-Behauptung von der Arier-Überlegen
heit nicht der Nonsens wäre, der sie ist, es bliebe ein gewaltiger
Unterschied zwischen solch vereinzelter Zufallsbeobachtung
und einer zwar nicht minder empirischen, dennoch allgemein
gültigen Wahrheit, wie es die von der nahrungsgerichteten, also
ökonomischen Natur aller Menschenwesen ist; der ganze me
thodologische Unterschied zwischen dem marxschen Urbild
und dem fascistischen Zerrbild wird dann sichtbar. Gewiß, in
beidem gibt es Dogmatisches, aber während die sogenannte
Ideologie des Nazismus einen Rückfall in jenen schon von
Hume und Kant endgültig abgetanen Grob-Ontologismus dar
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stellt, welcher Welt und Wissenschaften vermittels Heraus- und
Hineininterpretierungen zu »erklären« und damit erkenntnis
mäßigzu unifizieren sucht, ist die marxsche Lehre darüber weit
hinaus; hier ist der Dogmatismus zu einer Subtilität so hohen
Grades entwickelt, daß er bereits ins rein Methodologische hin
überzuspielen scheint. Es kann nicht weggeleugnet werden, daß
hier gleichfalls das inhaltlich Empirische, nämlich das Ökono
mische prinzipiell als dogmatische Basis benützt wird, um dar
auf eine unifizierende »Dachwissenschaft« zu errichten, von
der aus - wie dies vor allem im Rahmen des Geschichtsmateria
lismus geschieht - vergewaltigende Rückinterpretierungen ins
Empirische vorgenommen werden dürfen; doch vollzieht sich
all das unter der dialektischen Leitung der scharf logischen He
gel-Methode und bildet infolgedessen ein in sich geschlossenes,
streng deduktives und widerspruchsfreies System, hinter dessen
Lückenlosigkeit und - geradezu ästhetisch schöner - Vollkom
menheit die dogmatischen Vor-Annahmen schier verschwin
den. Kein Wunder, daß die marxsche Theorie viele der besten,
die nazistische hingegen viele der schlechtesten Köpfe gefangen
genommen hat.
Jedes Dogma kommt am Ende mit der Realität in Konflikt,
das ontologische rascher, das methodologische langsamer, und
da sowohl das eine wie das andere nicht in der Luft hängt, son
dern stets von konkreten Institutionen getragen wird, ist ihrer
beider Lebensdauer auch noch überdies von der realitätsfor
menden (also vielfach politischen) Kraft bedingt, mit der die je
weiligen Institutionen sich verwirklichen. Die Kirche hat ihren
- vornehmlich aristotelischen - Erkenntnisdogmen eine sehr
lange Lebensdauer verliehen, und hätten die Nazi gesiegt, es
hätten sich ihre Grob-Ontologismen wohl auch auf recht lange
Zeit hinaus behaupten können. Und welche Institutionen auch
immer an der Macht sein werden, es werden immer wieder
Scheiterhaufen brennen, wenn ein ptolemäisches System durch
ein kopernikanisches ersetzt werden soll. Denn ist einmal ein
unifiziertes Weltbild gewonnen, das dem Menschengeist einige
Sicherheit gewährt, so wird dieser gegen jede Störung empfind
lich; er fühlt die einheitssprengende Kraft, die in jedem neuen
Faktum, in jeder neuen Entdeckung enthalten ist, und er fühlt
sich gefährdet.
Ist sohin Erkenntnisunifizierung ohne Dogmatismus und ohne
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Scheiterhaufen überhaupt möglich? Die Erkenntnis selber geht
ihren gelassenen Gang, und der kann durch Dogmen und
Scheiterhaufendrohungen zwar gehemmt, aber im letzten doch
nicht abgelenkt werden, sondern folgt ausschließlich der eige
nen, höchst autonomen Selbstregulierung. Läßt sich also hof
fen, daß von dieser Autonomie aus der Menschheit die ihr so
dringlich nötige Erkenntnisunifizierung gebracht werde?
Manche Anzeichen sprechen für solche Möglichkeit. Denn bei
aller Glaubenssehnsucht des Menschengeistes, bei all seiner
Einheitssehnsucht, er scheint selber über das Stadium der onto
logischen und daher statischen Erkenntniseinheit, wie sie in der
Theologie und schließlich, wenn auch schon gelockert, noch im
marxschen System vorhanden ist, mehr oder minder hinausge
wachsen zu sein. Der neue Unifizierungstypus kann sich nicht
mehr auf (im allgemeinen stets statische) Inhalte stützen, er
wird - und die im Marxismus sichtbare Auflockerung darf als
erstes Symptom hief ür gewertet werden - zu einem rein metho
dologischen werden müssen. M. a. W., es wird nicht mehr ein
inhaltliches Prinzip wie Gott oder die Ökonomie oder sonst ir
gend eines an die Spitze aller Erkenntnis hierarchisch gestellt
werden, und es wird daher auch keinerlei Wissenschaftshierar
chie mit einer einheitsstiftenden, alle anderen Disziplinen be
herrschenden »Dachwissenschaft« mehr anerkannt werden
können, vielmehr wird sich die neue Einheitsstiftung aus me
thodologischen »Entsprechungen« ergeben, also aus einheitli
chen Forschungsschemen, aus disziplingemeinsamen Einstel
lungen gegenüber Erkenntnissubjekt und -Objekt, so daß trotz
Unifikation alle Erkenntniszweige, ihrer eigenen Forderung
gemäß, paritätisch nebeneinander ihre Wege zu verfolgen ver
mögen. Es ist das Dynamische der Forschungsmethode, das sich
damit als neue Unifikation der Wissenschaften anmeldet, und
es wird aus deren Autonomie heraus oder gar nicht in Gang ge
bracht werden.
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schung angehoben, nicht etwa nach einem vorgefaßten Pro
gramm, wohl aber weil es die empirischen Fakten unabweislich
so verlangt haben.
Daß die physikalischen Phänomene in zunehmendem Maße
als Wahrscheinlichkeitsfakten (mit der dem Wahrscheinlich
keitscharakter eigentümlichen Verquickung objektiver und
subjektiver Elemente) interpretiert werden müssen, daß das
Heisenbergsche Unsicherheitsprinzip2 den zwar abstrakten,
dennoch sozusagen »subjektoiden« Experimentator in das Ex
periment einbezieht, daß die Relativitätstheorie.den nicht min
der »subjektoiden« Sehakt als physikalischen Grundkoeffi
zienten in alle Berechnungen einsetzt, dies alles zeigt, daß die
Schranke, die nach Meinung des 19. Jahrhunderts zwischen
dem Menschen und den von ihm untersuchten Naturphänome
nen hätte bestehen sollen, kurzum, daß die Schranke zwischen
dem Beobachtungssubjekt und dem objektiven Beobachtungs
feld bereits gefallen ist: der Mensch ist heute als »physikalische
Person« (wie man solch abstraktes Subjekt in Anlehnung an die
in ihrer Art ebenso abstrakte »juristische Person« wohl nennen
dürfte) ständig im Objektbereich anwesend.
Es findet also innerhalb der Physik, und zwar in der ihr we-
sensgemäßesten scharf abstrakten und mathematischen Form,
ein »Sich-selbst-als-Objekt-Sehen« des Menschen statt, und
wenn in einem Hauptgebiet des geistigen Verhaltens, wie es
eben das der naturwissenschaftlichen Weltbewältigung ist, un
ter dem Diktat der Realität eine derart radikale Umstellung der
Erkenntnissicht stattfindet, so ist anzunehmen, daß hierin eine
weit über das rein Physikalische hinausreichende Bedeutung
liegt, also auch die andern Wissenschaften dem nämlichen Rea
litätsdruck folgen und - Symptome dafür sind bereits angebbar
- zu ähnlicher Umorientierung gelangen werden. M. a. W., das
alte »Guckkastenverhältnis«, das bisher zwischen Beobach
tungssubjekt und -objekt bestanden hat, scheint allüberall ei
nem wesentlich »dynamischeren« Verhältnis weichen zu sollen,
nämlich einem, in dem der Beobachter selber im Beobach
tungsfeld wirksam wird, und wenn auch jenem »statischeren«
Verhältnis infolge seiner Allgemeingültigkeit eine gewisse me
thodologische Einheitlichkeit zuzugestehen ist, so wird dieselbe
gerade durch den Umorientierungsprozeß jetzt um vieles ak
zentuierter, so daß man mit Fug von einer sich vorbereitenden,
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neuen Wissenschaftsunifizierung sprechen darf, einer metho
dologischen Unifizierung, die aus der empirischen Realitätser
kenntnis selber, d. h. deren Autonomie sich entwickelt, ohne
daß hiezu die Philosophie irgendwie einzugreifen braucht.
Der Philosophie ist keinerlei Eingriff in die Autonomie der
empirischen Disziplinen mehr gestattet, zumindest seitdem sie
diese - etwa seit den Zeiten Hegels - definitiv aus ihrer Obhut
hatte entlassen müssen. Vorher war es allerdings anders. Vor
her trug sich die Philosophie mit dem Gedanken einer (bis in
die Medizin hineinreichenden) Dirigierung der Wissenschaft;
zuletzt hoffte die nachkantsche Naturphilosophie der Roman
tik damit nicht nur einen praktischen Erweis für den plato
nisch-idealistischen Charakter aller Erkenntnis zu konstru
ieren, sondern damit auch praktischen Nutzen stiften zu
können. Das war ein merkwürdiger Versuch, weil ja auch für
die Philosophie das »Guckkastenverhältnis« zwischen Subjekt
und Objekt bestand, und weil es für sie nur ein idealistisches
Hie und ein materialistisches Dort gab, und sie trotzdem über
diese Schranke hinweg dem transzendentalen Bewußtsein ei
nen unmittelbaren Zugang zum irdischen Bereich, den es zu
»platonisieren« galt, zu verschaffen trachtete. Mit Hegels Ge
nialität ändert sich das Bild. Zwar noch der gleichen Bemü
hungsrichtung angehörend und daher in der unmittelbaren
Realitätsplatonisierung ebenso erfolglos wie die Vorgänger, ist
dennoch mit der Dialektik die Guckkasten-Schranke erstmalig
übersprungen und ein Zugang zur Empirie, freilich nur für den
romantischen »Weltgeist« geschaffen worden; es war ein erster
Ansatz, aber einer von einer gewissen Zwitterhaftigkeit: ob
wohl Marx bloß das Methodische der Dialektik als notwendige
(und noch heute in voller Uberzeugungsstärke wirkende) Plau
sibilitätsgrundlage beibehielt, hingegen durch »Materialisie
rung« des Weltgeistes die Autonomie der - ökonomischen -
Empirie zu wahren suchte, so war doch das eine wie das andere
noch immer dem überkommenen Guckkasten-System zuge
ordnet, und so auch blieb das inhaltlich Dogmatische, das mit
solcher Dualität unlösbar verbunden ist, im letzten unentrinn
bar, ungeachtet der hier bereits eingeschlagenen Richtung zur
Realitätsplatonisierung.
Wäre das transzendentale Bewußtsein mit den von der mo
dernen Naturwissenschaft zutage geförderten »subjektoiden«
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Elementen, die freilich in ihm zu »objektoiden« geworden wä
ren, ausgestattet gewesen, so daß u. a. das transzendentale Ich
den abstrakten Sehakt als solchen oder [die] durch ihn reprä
sentierte »physikalische Person« in den eigenen Ich-Bestand
aufgenommen hätte, es wäre der Philosophie leichter gefallen,
den von ihr angestrebten Zugang zur empirischen Welt zu fin
den. Doch das war aus sozusagen inner-philosophischen G rün
den, nicht zuletzt infolge der überkommenen Kategorial-Aus-
stattung des Bewußtseins schlechterdings unmöglich. Auch das
philosophische Denken kann und darf über die Grenzen seiner
Autonomie nicht hinausgelangen.
Um so wichtiger erscheint es, daß die Philosophie, eben in ih
rer Autonomie, jenen Gegenstands- und Begriffsbereich, der je
nach der eingenommenen Sicht »subjektoid« oder »objektoid«
zu nennen ist, auf ihren eigenen Wegen gleichfalls erreicht hat.
Wenn der Ausdruckspositivismus die Welterkenntnis am
Sprachlichen zu ergründen trachtet, weil Welt wie Erkenntnis
ausschließlich im Sprachlichen zu Bewußtsein und zur Vermitt
lungsmöglichkeit gelangen können, so wird damit die »Welt«
zwar als »objektives« - und sohin als »positivistisch« zu neh
mendes - Beobachtungsfeld abgesteckt, aber es wird zugleich
der »subjektoide« Weltbestandteil, nämlich die Sprache, die
»Sprache an sich« als das Hauptbestimmungsstück herausge
hoben: die Sprache spielt also hier genau die gleiche Rolle wie
die Lichtgeschwindigkeit im physikalischen Beobachtungsakt,
und gleichwie hier alle Aussagen über den vom Licht bestimm
ten Beobachtungsakt einzig und allein aus dem Objektfeld ge
wonnen werden, so ist dieses auch der einzige Aussagequell für
Sprache und Erkenntnisakt. Daß dabei, unter philosophischer
Sicht, die Sprache nicht als »subjektoides«, sondern als »ob-
jektoides« und objektiv-positivistisches Element fungiert, än
dert nichts an dem Tatbestand als solchem.
Doch ist dies nicht (wie so viele Positivisten behaupten) ein
fach eine Auslöschung des transzendentalen Bewußtseins und
damit der idealistischen Philosophie überhaupt? Sicherlich
nicht. Die Ausnahmsstellung, fast möchte man sagen Absolut
heitsstellung, die da einerseits der Lichtgeschwindigkeit, ande
rerseits der Sprache zugewiesen wird, beruht für beide in ihren
Zugehörigkeiten zum beobachtend-erkennenden Ich, nur daß
dieses als bloßes Noumenon behandelt werden kann und muß,
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als die rein abstrakte »physikalische Person«, der man nun die
nicht minder abstrakte »sprachliche Person« zuzugesellen
hätte. Was aber dahinter steht, das bleibt trotz aller noumena-
len Unerforschlichkeit das Ich, das Bewußtsein an sich in seiner
platonischen Struktur.
Es sei hiezu bloß auf die Wiederaufnahme des Idealismus in
den Spätwerken Husserls hingewiesen. War nämlich bis dahin
die Phänomenologie - gleich dem Sprachpositivismus, mit dem
sie freilich nicht verwechselt werden darf, obwohl sie mit zu sei
nen Ahnen gehört - streng auf den Objektbereich gerichtet ge
wesen, um in ihm die für sie »objektoiden« Gebilde, d. h.
»Strukturen an sich« zu erforschen, so sah sich Husserl am
Ende dieser »Ent-Kantianisierung« (die freilich niemals Ent-
Platonisierung war) veranlaßt, auf einer neuen Ebene wieder
eine Art »Kantianisierung« vorzunehmen und zu zeigen, wie
hier das »Objektoide« des Subjektbereiches und das »Subjek-
toide« des Objektbereiches in eins zusammenfließen. Hiedurch
wird der Kategorial-Ausstattung des transzendentalen Be
wußtseins, deren reine Apriorität sich in der Kantschen Form
nicht hatte aufrechthalten lassen, die von ihr benötigte Ergän
zung und Erneuerung gebracht und der platonisch-idealistische
Zustand wieder voll hergestellt. Und was in der Phänomenolo
gie vor sich gegangen ist, wird in ihren Parallelgebieten kaum
unberücksichtigt bleiben können; gerade vom Sprachpositivis
mus wären wichtige Beiträge zur transzendental-idealistischen
Position zu erwarten, und ebenso ist es durchaus möglich, daß
die Struktur-Logik ihm darin nachfolge.
Die Analogie zwischen den Vorgängen in den empirischen
Wissenschaften und denen in der Philosophie ist auffallend, und
sie ist um so auffallender, als die beiden Autonomien, in denen
sie sich entwickelt hat, trotz allem Zueinanderstreben bisher
scharf getrennt geblieben sind, also auch diese analogische Ge
meinsamkeit ohne gegenseitige Beeinflussung hervorgebracht
haben. Es ist eine Gemeinsamkeit der Methoden, und sie resul
tiert in der beidseitigen Aufdeckung eines gemeinsamen Ge
genstandsbereiches, des »objektoiden« der Philosophie, des
»subjektoiden« der empirischen Wissenschaft. Die Philosophie
wurde hiezu von der Pflicht zur niemals erlahmenden, niemals
unterbrechbaren Weiterrevision ihres apriorischen Bestandes
getrieben, und sie hat dabei, wie eben bei jeder derartigen Re
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vision, sicherlich an Realitätsstärke gewonnen; der empirischen
Wissenschaft hingegen war durch die ihr von der Realität ge
stellten Aufgaben eine Revision ihres Axiombestandes aufer
legt worden, und sie ist mit diesen, beinah wider Willen, in
transzendente Absolutheitssphären hineingewachsen: fast hat
es den Anschein, als bereite sich ein methodologisches Zusam
menrücken, vielleicht sogar ein methodologischer Zusammen
schluß von philosophischer und empirischer Erkenntnis vor,
wie er bisher bloß im Mittelalter und unter aristotelischer Lei
tung stattgefunden hat. Und wenn auch, die Zeiten theolo
gisch-inhaltlicher Unifikation können nicht wiederkehren, die
allgemeine Wissenschaftsunifizierung, um die es heute geht,
soll ja auch keine der Inhalte, sondern im Gegenteil eine der
Methode werden, und hiezu ist die engste methodologische Zu
sammenarbeit und gegenseitige Kontrolle von Philosophie und
Empirie der erste Schritt.
Es gibt aber kein Generalrezept für Methode und Methoden
unifizierung; es gibt bloß sachgebundene, sach-autonome For
schungsarbeit, und die vollzieht sich in unzähligen, sachgebun-
denen Wissenschaftsakten. Und ist der Ansatz zur methodolo
gischen Einheit, wie er heute schon konstatierbar scheint,
tatsächlich vorhanden, so ist er gleichfalls aus solcher Unzahl
separierter, sach-autonomer, nüchterner Wissenschaftsakte
hervorgegangen; sie sind es, welche Einheitssymptome nach
Art der »subjektoiden« und »objektoiden« Elemente produ
ziert haben. Gerade aber die Fülle der daran beteiligten, nüch
ternen Einzelakte berechtigt heute zu der Hoffnung auf die
kommende allgemeine Unifizierung: sie kann bloß im Wege
unendlich vieler, nüchterner Einzelarbeiten kommen und wird
selber den Charakter solcher Nüchternheit tragen.
Ethische Konsequenzen
Einsicht in eine Realität ist noch nicht diese selber, und Einsicht
in die einheitliche Grundstruktur des Menschengeistes könnte
zwar als säkularisiert-wissenschaftliche Basis für die bisher le
diglich theologisch begründete These von der allgemeinen
Menschengleichheit fungieren, aber diese noch nicht zur mora
lisch-politischen Realität bringen.
Es handelt sich um die Menschenrechte, auf die das Indivi
duum pochen darf, pochen soll, so oft es sich gegen die Ober
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macht der Institutionen zu verteidigen hat. Einstens war diese
Verteidigung - durchaus logischerweise - der Kirche übertra
gen, und wenn diese nicht gleicherweise zur weltlichen Institu
tion geworden wäre, so hätte sie solche Aufgabe wohl auch voll
erfüllt. Heute ist die Aufgabe mitsamt der sonstigen ekklesia-
stischen Erbmasse zur Gänze auf die weltlichen Institutionen
übergegangen, die nunmehr - grotesk unlogischerweise - gegen
sich selber zu handeln haben, wenn sie für die Verteidigung der
Menschenrechte eintreten sollen. Die Menschenrechte in der
Hand von Institutionen, also vor allem der Staaten sind für
diese nichts als ein Instrument, das bei passenden Gelegenhei
ten sich in den Machtdiskussionen verwenden läßt.
Das Menschenrecht des Untertanen war gleich dem Königtum
des Herrschers von »Gottes Gnaden« verliehen; das eine ge
hörte zum andern, stellte in Gemeinsamkeit mit dem andern
das Residuum dar, in welchem Gottes Rechtswille sich ver
wirklicht, und ebendeshalb galt im Feudalsystem dem Volk der
König alles, der Feudalherr nichts und der Staat weniger als
nichts. Heute ist - und das ist keine Blasphemie, sondern ein
Faktum, mit dem man rechnen muß - an die Stelle des Gottes
willens ausschließlich der Menschenwille (oder der seiner Insti
tutionen) getreten, und hinter dem Naturrecht, das nun, abge
sondert von seinem Schöpfer, fortbestehen soll, auf daß auch
weiterhin das Menschenrecht aus ihm erfließe, steht keinerlei
Wille: es existiert nicht.
Existiert also auch die Demokratie nicht? Ihr Dilemma wird
ja gerade an dem der Menschenrechte sichtbar: aus den gegen
die Institutionen revoltierenden Menschenrechten hervorge
gangen, hat sie diese in ihre Obhut genommen, und ist nun doch
selber zur Institution geworden. Menschenrecht und Demo
kratie bedingen einander im Wechselverhältnis; wenn eines von
beiden zu existieren auf hört, geht auch das andere zugrunde,
zugleich aber auch der von beiden bedingte Weltfriede. Und
von den Menschenrechten existiert nicht mehr viel auf dieser
Welt.
Das gilt auch für den kommunistischen Staat und den von ihm
den Menschenrechten versprochenen Schutz. Denn es handelt
sich um die Praxis, nicht um die geschriebenen Worte einer
Konstitution. Bereits die Französische Revolution stand vor
dem nämlichen Problem: auf gebaut auf dem Naturrecht und
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den Menschenrechten, hatte sie trotzdem deren christlichen
Schöpfer dethronisiert, konnte aber seines Gesetzeswillens
nicht entraten und hat ihn daher durch den einer »Göttin der
Vernunft« ersetzen wollen. Dies war eine damals noch mögli
che Farce, weil das Weiterwirken der Christlichkeit durch kein
Dekret abzuschaffen war. Heute hat es sich selber abgeschafft,
und die Farce könnte nicht wiederholt werden; weder ist die
Welt vernunftbestimmt, noch sind es die Menschenrechte und
das Naturrecht, sind es umsoweniger, als für beides nicht einmal
eine klare Definition zu geben ist, sondern alle Erklärung aus
dem hier wirkenden, rechtssetzenden Willensakt herstammt.
Selbst wenn die Demokratie sich entschlösse, zu ihrer Eigen
rettung einen Versuch zur Wiederinstallierung der Menschen
rechte zu unternehmen, sie müßte hiezu fürs erste den hinter
dem derzeit nicht-existenten Naturrecht stehenden konkreten
Rechtswillen auffinden. Und da dieser Wille unauffindbar blei
ben wird, ist für die Institution die Wiedererweckung der Men
schenrechte eine eher unlösbare Aufgabe.
Allerdings, es gibt den Menschenwillen, und es gibt nur den
Menschenwillen. Soll also der Mensch als solcher es nochmals
versuchen? Soll er zur Wahrung seiner Menschenrechte sich
nochmals zu einer blutigen Revolution erheben und die beste
hende Demokratie zerschlagen, auf daß daraus wieder Demo
kratie werde? Soll er nochmals diesen revolutionären Versuch
unternehmen, obschon die neue Demokratie, ist sie sodann
wieder Institution geworden, ihn aufs neue verraten wird? Auf
kein göttliches und kein Naturrecht, die ihm beide entglitten
sind, würde er sich mehr dabei berufen; es wäre die erste recht
lich ungedeckte Revolution, ihm aber könnte es gleich sein: er
hat das Recht seines Menschentums, und das kann fordern was
es will, denn es ist der einzige existierende Wille und hat nie
mandem Rechenschaft abzulegen.
Trotzdem würde es ihm nicht gleich sein. Denn der Mensch
schreckt vor solch absoluter Freiheit seines Willens zurück; der
Zwang zur absoluten Freiheit ist ihm die weitaus ärgste Tyran
nei, da er ihm die Auslieferung an die eigene Unbekanntheit
bedeutet: er erträgt nicht, daß seine Handlungen bloß in seinem
Willen begründet sein sollen, und er muß sie, damit sein Wille
nicht gelähmt sei, vor sich selber begründen können; die Be
gründung und Rechtfertigung vor dem Nebenmenschen folgt
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erst in zweiter Linie. So sehr es ihm zusteht, die Menschen
rechtsanerkennung zu fordern, er will die Forderung in begrün
deter Freiheit und nicht in unbegründeter Willkür durchsetzen,
da er sonst seiner selbst unsicher werden würde. Und so befin
det er sich in derselben beinahe aussichtslosen Lage wie die von
ihm bekämpften Institutionen; ohne den Bestand eines Natur
rechtes vermag er nichts zu begründen, am allerwenigsten die
Handlungen, die zu seiner Freiheit führen sollen; er muß seine
Freiheit von G ott empfangen, damit er sie erringen kann.
Diese immer wieder sich anmeldende Notwendigkeit, den
durch Glaubensverlust entstandenen Leerplatz Gottes aufs
neue auszufüllen, ist mit dem Gottesbedürfnis des Ignoramus
verwandt und manchmal sogar identisch: es ist im Grunde
nichts anderes als die alte Frage nach dem drahtziehenden Pup
penspieler, die wieder einmal von dem vor dem Guckkasten sit
zenden Zuschauer erhoben wird; denn vermag er keine Ge
setzlichkeiten in den Bewegungen der Puppen zu entdecken, so
fragt er nach dem Urheber solcher Willkür, und hat er die Be
wegungsgesetze erkannt, so will er den Gesetzgeber kennenler
nen, weil ihm sonst das ganze Spiel unheimlich, leer und unver
bindlich vorkommt.
Wie aber, wenn er entdeckt, daß er selber auf der Guckka
stenbühne agiert, ja daß er selber es ist, der das ganze Spiel in
Gang hält? Fürs erste wird es ihm eine nutzlose Entdeckung
sein. Daß Gott des Menschen Ebenbild und der des Negers
schwarz ist, diese alte Erkenntnis wird höchstens als Zeichen für
die Begrenztheit der menschlichen Vorstellungskraft empfun
den, kann jedoch dem ebensowohl gefühls- wie logikgebunde
nen Bedürfnis nach dem göttlichen Lenker keinen Abbruch
tun. Und mag der Mensch auch erkennen, daß Naturrecht und
Menschenrechte ausschließlich von seinem eigenen Willen ab-
hängen, weil es - vielleicht einem noch höheren Gottesgebot
folgend - keinen andern als den menschlichen auf Erden gibt,
er vermag nicht sich damit abzufinden.
Oder richtiger: er wird erst dann gelernt haben, sich damit ab
zufinden, bis seine allgemeine Erkenntnis von der Einziggültig
keit des menschlichen Willens, die ihm in solcher Allgemeinheit
etwas Gleichgültiges oder gar Erschreckendes ist, sich in un
zählige empirische Einzelerfahrungen, in nüchterne Einzel
handlungen und nüchterne Einzelerkenntnisse aufgelöst haben
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wird; erst im Konkreten erlebt der Mensch seine Erkenntnisse
wirklich. Und weil es sich hier um das Recht handelt, so werden
diese konkreten Einzelfälle in bestimmten konkreten Geset
zesmaßnahmen bestehen, nämlich in solchen, welche einstmals,
als dem Gottes- und Naturrecht angehörig, außerhalb der
menschlichen Gesetzgebung lagen, wahrscheinlich aber sehr
bald ihr von den Realverhältnissen aufgedrängt sein werden.
Z. B. schien es den Männern der amerikanischen Revolution
vollkommen ausreichend, die Menschenrechte und deren
Gottverliehenheit lediglich als Kampfansage gegen die engli
sche Tyrannei zu benützen; dahingegen schien ihnen für den
neuen Staat die Geltung solchen Gottesgebotes so überaus
selbstverständlich, daß sie nichts davon in die Konstitution auf-
nahmen. Erst nachträglich wuchs das Mißtrauen gegen das In
stitutionelle der neuen Demokratie und gegen die von ihr etwa
doch ausübbare Tyrannis; erst dann, erst in der mißtrauensge
borenen Bill of Rights fand das durch die Menschenrechte ge
gebene regulative Grundprinzip aller Demokratie und Huma
nität expliziten Ausdruck. Den demokratischen Konstitutionen
Kontinentaleuropas, die von da an allesamt dem amerikani
schen Beispiel folgten, wurden die Menschenrechte in Präam
belform vorausgeschickt.
Doch das Mißtrauen galt bloß der Institution, nicht dem Indi
viduum; von diesem glaubte man auch weiterhin annehmen zu
können, daß es - bei Fortdauer seiner Vollsinnigkeit - niemals
anders als gemäß den von Gott befohlenen Grundprinzipien
denken und handeln werde: man erwartete vom Menschen für
alle Zukunft ein unentwegtes Eintreten für die gottverliehenen
Menschenrechte.
Das Gegenteil alles dessen, was damals vorstellbar gewesen
war, ist eingetreten: die Fascismen haben gezeigt, daß die Ma
jorität eines Volkes - seiner Vollsinnigkeit wie seines Gottes
offenbar verlustig - sich aus freien Stücken gegen die Men
schenrechte auszusprechen vermochte. Gibt es da noch Mög
lichkeiten für ihre Wiederinstallierung?
Sicherlich kann die Wiederinstallierung der Menschenrechte
nur von den Noch-Vollsinnigen vorgenommen werden; doch da
der Gottesglaube sich nicht dekrethaft erneuern läßt, kann das
bloß mit den regulativen Grundprinzipien als solchen gesche
hen. D. h. das Mißtrauen, das sich einstmals auf die staatliche
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Institution beschränkt hatte, muß auf das Individuum ausge
dehnt werden, und die Pflichten, die dem Staat durch die »Bill
of Rights« auferlegt wurden, sind nun in Gestalt einer »Bill of
Duties«3 desgleichen dem Individuum aufzuerlegen.
Dies ist keine Phantasie und kein wishful thinking; in dem rus
sischen Gesetz gegen den Antisemitismus4 zeigt sich eine erste,
wenn auch noch lange nicht vollausgebaute Verwirklichungs
form hiefür.
Kurzum, es zeichnet sich ein neues, in Bildung begriffenes
Gebiet des Rechtes ab, und zwar hauptsächlich in jenen Fällen,
bei welchen die regulativen Grundprinzipien des Staats- und
Rechtslebens, die einstmals, wie eben vor allem die Menschen
rechte, infolge ihrer Selbstverständlichkeit keines Rechtsschut
zes bedurft hatten, nun aber diese Selbstverständlichkeit verlo
ren haben und infolgedessen unter Rechtsschutz gestellt
werden müssen, wenn das Zeitalter der höchsten technischen
Entwicklung nicht das der tiefsten Barbarei werden soll:
Rechtsschutz schafft Recht - der Nürnberger Prozeß5 weist
beispielhaft in diese Richtung-, und durch Rechtsschutzwerden
die naturrechtlichen Inhalte, ohne die weder die Demokratie
noch der Friede noch die Humanität aufrecht zu halten sind, so
weitgehend präzisiert, daß sie zu einem vom Menschenwillen
getragenen und der Menschenvernunft zugänglichen irdisch
nüchternen Recht werden können.
Die Guckkastenbühne der Erkenntnis folgt neuen Regie
methoden; der Zuschauer ist zum Akteur geworden, und im
naturwissenschaftlichen Stück steht er als »physikalische Per
son«, im erkenntnistheoretischen aber als »sprachliche Person«
auf der Szene. Die »legislatorische Person« ist ebenfalls bereits
sichtbar, sogar sichtbarer als die beiden anderen, weil das Sze
narium des Rechtes nicht nur das der wissenschaftlichen Er
kenntnis, sondern auch das der konkreten Gesetzesvorfälle ist,
und die legislatorische Rolle hier im Richtertalar gespielt wird.
Doch auf der abstrakten Szene der Rechtstheorie ist die »legis
latorische Person« nicht weniger abstrakt als die »physikali
sche« oder die »sprachliche«, denn da ist sie ausschließlich Trä
ger der »regulativen Grundprinzipien« aller Gesetzgebung,
und wenn auch solch ethische Prinzipien unzweifelhaft zum
Altbestand der transzendentalen Kategorien, mithin also auch
ins »subjektoide« Gebiet gehören, es muß die empirische, die
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»objektoide« Absolutheit - wie es die der Lichtgeschwindigkeit
für den Sehakt ist - hinzutreten, auf daß das »regulative
Grundprinzip« aus der erhaben transzendentalen Sphäre her
abgeholt und in irdisch-rationaler Erfaßbarkeit zu jener
Brauchbarkeit gebracht werde, kraft welcher es zum ständigen
Begleitereines jeden konkreten gesetzgebenden Aktes werden
kann, und eben hiezu scheint nur ein Zugang mit Hilfe der
neuen logischen Strukturanalysen ethischer Kategorien ge
schaffen zu werden.
Bei aller Abstraktheit der Guckkasten-Metapher, sie ist die
Metapher einer Realität, zumindest einer im Werden befindli
chen Realität, nämlich die der sich vorbereitenden Unifizierung
der Erkenntnismethoden. Und so theoretisch diese methodo
logische Unifizierung auch sein mag, durch sie und allein durch
sie wird die Verbindung zwischen philosophischer und empiri
scher Erkenntnis hergestellt, und allein durch diese Verbindung
und in ihr wird der Mensch befähigt - selbst wenn es ihm zu
meist unbewußt bleibt - seine praktischen Verhaltungsweisen
und Willensentschlüsse vor sich selber zu begründen. Das aber
ist das Wesentliche. Denn damit erreicht die methodologische
Unifizierung der Erkenntnis die praktisch-ethische Sphäre; die
Wieder-Begründbarkeit der Menschenrechte wird hier zur Sä
kularisation des Naturrechtes, und so bedeutete dies geradezu
Wieder-Installierung des humanen Wertzentrums für eine
Welt, die ihrer Humanität verlustig gegangen ist.
Institutsaufgaben
Neben dem hier vorgeführten Versuch zu einer Annäherung an
das Problem der Wissenschaftsunifikation gibt es sicherlich
noch manche andere Annäherungsmöglichkeiten. Doch wel
cher Weg auch immer hiezu gewählt werden möge, es ist mit
einiger Sicherheit zu behaupten, daß die Symptome für eine
kommende Wissenschaftsunifizierung sich zu häufen beginnen,
und daß dies, stimmen die Symptome, nicht nur eine wissen
schaftliche, sondern eine Haltung der Gesamterkenntnis, des
Gesamtdenkens, des Gesamtlebens wäre. Denn es gibt keine
isolierten Phänomene. Und da die Haltung einer unifizierten
Gesamterkenntnis sich notwendigerweise auf die Gesamt
wahrheit richtet, ist sie ethische Haltung: Unifizierung der E r
kenntnis und des Denkens bedeutet im letzten ethische Unifi-
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zierung der Welt. Selbst wenn die Symptome, aus denen zu
schließen ist, daß die Realitätsrichtung heute zur Unifizierung
der erkenntnismäßigen und ethischen Haltungen hinläuft, nur
mit äußerster Skepsis zu betrachten wären, es ist nicht zuletzt
diese Skepsis, die nach Symptomuntersuchung verlangt.
Es wurde hier zu zeigen versucht, daß die Wissenschaftsunifi
zierung vor allem eine der Methode, also der Denkweisen, nicht
der Denkinhalte sein müsse. Trifft dies zu, so hat das »Institut«
im Arbeitsgebiet seiner »Klasse für Methodologie und Wissen
schaftsunifikation« alles Augenmerk den Fragen der Grundla
genforschung zuzuwenden, da diese den Hauptausgangspunkt
für jedwede Wissenschafts- und Erkenntnismethodologie bil
det.
Innerhalb der empirischen Wissenschaften, einschließlich der
Mathematik und der dazugehörigen mathematischen Logik, ist
der Bereich der Grundlagenforschung leicht abgrenzbar. Dar
aus ergibt sich ebenso leicht der Kreis jener Arbeiten, die vom
»Institut« gefördert werden sollen.
Schwieriger liegen die Verhältnisse auf philosophischem Ge
biet, denn da gibt es eigentlich keine einzige Untersuchung, die
nicht, wird sie nur radikal genug durchgeführt, am Ende in einer
Erforschung der Erkenntnismethoden und ihrer Grundlagen
münden würde. Gewiß, eine ganze Reihe philosophischer Dis
ziplinen braucht ihre Berücksichtigungswürdigkeit nicht ei
gens nachzuweisen. Dazu gehören vor allem alle Abarten der
Erkenntnistheorie, ebenso die der Logik, insbesondere soweit
sie Strukturanalyse der Wissenschaft betreiben, und ebenso alle
jene Bemühungen, welche mit der erkenntniskritisch-metho
dologischen Durchleuchtung der politischen Theorien, der So
zialwissenschaften sowie des Rechtes befaßt sind. Doch dane
ben, und in der Methodenhierarchie vielleicht sogar darüber,
steht die Ethik als solche, sie ist ihrerseits wieder umfaßt vom
System einer allgemeinen Werttheorie, so daß das »Institut«
wohl eine gewisse Arbeitsauslese wird treffen müssen, wenn
sein Programm nicht zu dem einer Akademie für Philosophie
im weitesten Sinn werden soll.
Alles in allem freilich wird es immer wieder die Empirie mit
ihren Bedürfnissen sein, die dem Institutsprogamm, unbescha
det seiner einmal festgelegten Grundprinzipien, die befruch
tenden Anstöße zur Weiterentwicklung geben wird. Denn die
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Autonomie der empirischen Realität ist wie die der Wissen
schaften durch keinerlei Institutsprogramm zu durchbrechen.
Was nicht in der Realitätsrichtung liegt, ist nicht zur Realität zu
bringen; das gilt auch für die Institutsziele, ebensowohl für die
Wissenschaftsunifizierung wie für die Säkularisierung des Na
turrechtes. Erkenntnis, die nicht steril ist, folgt den Realitäts
forderungen (im letzten auch den logischen), folgt ausschließ
lich der Realitätslogik.
Sicherlich soll jedoch damit nicht einer Art Erkenntnisfatalis
mus das Wort geredet werden. Gerade ein Institut, das sich als
eine Akademie für Demokratie, die ein Gegenstück zur russi
schen des Kommunismus sein könnte, konstituieren will, darf
nicht vergessen, daß im Hegelschen Sinn das Vorbestimmte ge
wollt werden muß: wenn der Sozialismus an die Vorbestimmt
heit der Revolution glaubt und sie will, so muß die Demokratie
an die der Evolution glauben und diese wollen, muß es um so
mehr tun, als es um die demokratische Freiheit des Menschen
geht, und die Freiheit sich mit keinerlei Fatalismus verträgt.
Das Idealbild vom »vollkommen humanen Menschen« ist das
prekärste und dabei das haltbarste, das die Menschheit hervor
gebracht hat. Von seiner Haltbarkeit aus ist zu schließen, daß
es in der Realität begründet ist, und eben hierauf die Realität
zu untersuchen, ist die wichtigste Aufgabe einer »Internationa
len Akademie«, die sich die Wiederherstellung der Humanität
als Erziehungsideal zum Ziel gesetzt hat.
Appendix A
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chen Teil dieser Bedingungen. Die »Internationale Lehran
stalt« hat ihren Hörern die Resultate jener Forschungen zu
übermitteln, hat aber auch die Prinzipien, die das »Institut« zur
Friedenserziehung aufgestellt hat, sozusagen als erste Erpro
bung im Rahmen der Universität zur Anwendung zu bringen.
A. Allgemeine Ziele
Die »Internationale Lehranstalt« hat Universitätscharakter,
und demgemäß verfolgt sie gleich anderen Universitäten ein
doppeltes Ziel: einerseits dem jungen Menschen eine möglichst
vollkommene Geistesausbildung zu geben, andererseits ihm
den Weg zum Beruf zu eröffnen.
Aber sie unterscheidet sich auch von andern Universitäten,
und zwar hinsichtlich beider Ziele: als allgemeine Bildungs
stätte hat sie ihre Lehr- und Erziehungstätigkeit aufs tunlichste
den Forderungen der »Theorie vom Frieden« anzupassen, als
berufsvorbereitende Fachschule ist sie auf Tätigkeiten, vorwie
gend solche des öffentlichen Lebens ausgerichtet, die außerhalb
des derzeit geltenden Ausbildungsschemas liegen.
Eben in diesem Unterschied von anderen Universitäten liegt
die Existenzberechtigung der Internationalen Universität; mit
ihrer Gründung wäre ein erstes Beispiel für den in ihr zu ver
körpernden Forschungs- und Unterrichtstypus geschaffen.
Voraussichtlich würden ihr ähnliche Anstalten nachfolgen, und
das wäre insbesondere für die lateinamerikanischen und die eu
ropäischen Länder wünschenswert; jedenfalls ist anzunehmen,
daß die bestehenden Universitäten sowohl in Europa als in
Amerika sich Fakultäten angliedern werden, deren wissen
schaftliches Zentrum gleichfalls in der »Theorie vom Frieden«
liegen wird.
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1. die Gruppe der empirischen »Theorie vom Frieden«, um
fassend
(I) die Geschichtswissenschaften mit ihren Nebenfächern
wie Religionsgeschichte, Archäologie etc.,
(II) die Sozialwissenschaften,
(III) die politischen und Staatswissenschaften mit Nebenfä
chern wie politische Geographie, Geopolitik etc.,
(IV) die Finanz- und Wirtschaftswissenschaften,
(V) die Rechtswissenschaften mit besonderer Berücksichti
gung des internationalen Rechtes,
(VI) die psychologischen und pädagogischen Wissenschaf
ten, besonders in Verbindung mit Massenpsychologie,
(VII) die neuen Disziplinen wie Traditionslehre, Institu
tionskritik und Zivilisationskritik, die sich aus dem Zusam
menhalt der vorangeführten Fächer ergeben,
(VIII) die theoretischen Naturwissenschaften, also vor allem
physikalische und biologische Theorie, ebenso aber auch
mathematische Grundlagenlehre;
2. die Gruppe der rein philosophischen Fächer, sohin
(I) theoretische Philosophie, also Erkenntnistheorie, Wis
senschaftslehre, Methodologie, Logik, logische Struktur
analyse und mathematische Logik,
(II) praktische Philosophie, und zwar vor allem allgemeine
Werttheorie, Ethik und politische Ethik.
Von einer Einbeziehung der eigentlichen Sprachwissenschaften
im engeren Sinn darf abgesehen werden, da sie mit der »Wis
senschaft vom Frieden« nicht in unmittelbarem Kontakt ste
hen. Man wird sich da auf den einfachen Unterricht von Fremd
sprachen, die allerdings für eine internationale Universität
unerläßlich sind und daher wohl zu den Pflichtfächern gehören
werden, beschränken können.
C. Lehrziele
Die »Internationale Lehranstalt« würde ihren Zweck verfeh
len, wenn sie bloß dazu da wäre, dem Hörer ein Doktorat in Hi
storie oder Jus oder Soziologie zu verleihen. Das läßt sich an
jeder anderen Universität ebensogut finden; die Etablierung
der internationalen Anstalt würde sich hiedurch von allem An
fang als überflüssig erweisen.
Die »Internationale Lehranstalt« kann ihren Zweck also bloß
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dann erfüllen, wenn sie dem Studenten das Ganze ihrer Lehr
materie vermittelt und umgekehrt von ihm deren volle Kennt
nis zur Erlangung akademischer Grade fordert.
Demgemäß kann also auch die Anstalt nicht darauf angelegt
sein, den gesamten hochspezialisierten Stoff eines jeden ihrer
Fachgebiete zum Vortrag zu bringen. Sie hat sich mit dem We
sentlichen der einzelnen Gebiete zu begnügen. Die Gefahr des
Dilettantismus, die in einem solchen Verfahren liegen könnte,
ist von vorneherein ausgeschlossen, da es sich ja nicht um eine
schöngeistige Auslese handelt, sondern um eine, die auf einen
bestimmten Zweck gerichtet ist: die »Theorie vom Frieden« als
solche. Ebendeshalb ist es auch so überaus wichtig, daß die
»Lehranstalt« dem »Forschungsinstitut« zugeordnet bleibe,
denn nur von diesem aus kann die sachgemäße, wissenschaftli
che Selektion des Lehrstoffes vorgenommen werden.
Sofern es dem »Institut« vermöge seiner eigenen Arbeiten
wirklich gelingt, das Unterrichtsprogramm der »Lehranstalt«
auf solch selektionshafter Basis zu entwickeln - wobei sich frei
lich vieles erst aus der Lehrtätigkeit als solcher ergeben wird-,
so ist damit auch ein wichtiger Schritt zur praktischen Verwirk
lichung der Wissenschaftsunifizierung getan, denn ein junger
Mensch, dem während seiner Studienzeit sozusagen ab ovo eine
Gesamtübersicht über einen sehr großen Teil des menschlichen
Erkenntnisstoffes geliefert wird, mag sehr wohl, setzt er seine
wissenschaftliche Arbeit fort, zu weiteren Einsichten und Ent
deckungen im Gebiet der Erkenntniseinheit gelangen.
Unzweifelhaft werden durch solch ein umfassendes Lehrpro
gramm sehr hohe Anforderungen an den Hörer gestellt. Mag
es ihm auch gestattet sein - und man wird nicht umhinkönnen,
ihm das zu gestatten - in seinem Studium das Hauptgewicht auf
eines oder andere der empirischen Fächer zu legen, so darf er
doch nicht die anderen darüber vernachlässigen oder etwa Phi
losophie und Wissenschaftslehre ausschalten. Ebensowenig
aber kann der Student bei einer Spezialisierung auf den philo
sophischen Teil des Lehrprogramms - die ihm wohl gleichfalls
gestattet werden müßte - einer recht eingehenden Kenntnis der
empirischen Programmteile enthoben werden.
Ein Student, der solch umfassendes Programm bewältigt, wird
einen neuen Typus des Wissenschaftlers darstellen und ver
mutlich den, der jetzt der Welt notwendig ist. Es wird daher si
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cherlich ganz richtig sein, dies auch in den von der »Internatio
nalen Lehranstalt« verliehenen akademischen Graden, die ja
mit den sonst bestehenden wenig gemein haben, zum Ausdruck
zu bringen und so z. B. die Würde eines »doctor rerum huma-
narum« in Aussicht zu nehmen.
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E. Praktische Lehrziele und Fachschule
Welche praktischen Vorteile aber kann die »Internationale
Universität« dem Studenten bieten? Was kann der Titel eines
»Dr. rer. hum.« ihm nützen?
Man muß zwei Studentenkategorien unterscheiden, erstens
die rein wissenschaftlich orientierte, und zweitens jene, welche
durch ihr Studium unmittelbar zu Broterwerb gelangen will.
Die erste, die wissenschaftlich orientierte Kategorie mag der
»Internationalen Universität« recht viele Hörer beistellen, aber
nur wenige von ihnen werden wohl ihre ganzen Studienjahre an
der Anstalt verbringen. Die meisten von ihnen werden erst nach
Durchlaufung irgendeines normalen wissenschaftlichen Fach
studiums als bereits fertige Physiker, Soziologen oder Mathe
matiker an der »Internationalen Universität« inskribieren,
vorausgesetzt natürlich, daß ihnen hier tatsächlich die von ih
nen gesuchte Gesamtschau der Wissenschaften geboten werden
kann. Aus ihren Kreisen ist die fruchtbarste wissenschaftliche
Mitarbeit zu erwarten.
Die zweite Kategorie, also jene, die - wissenschaftlich sicher
weniger interessiert - die »Internationale Universität« zum
Brotstudium benützen will, muß an ihr die hiefür erforderlichen
Einrichtungen finden. Und das ist möglich.
Denn das Lehrprogramm ist durchaus geeignet, für eine ganze
Reihe von Berufen eine geeignete Vorbildung zu liefern. Es
sind die Berufe des öffentlichen Lebens. Die Umgestaltung der
internationalen Beziehungen - gleichgültig ob sie heute dem
Frieden zugewendet sind oder nicht - ist so durchgreifend, daß
sie in allen Ländern einen neuen Typus von Regierungsbeam
ten, Diplomaten und Politikern notwendig machen wird; der
Wirkungskreis der UNO sowie anderer internationaler Orga
nisationen erweitert sich ständig und wird sich noch mehr er
weitern, so daß mit einem ebenso ständig wachsenden Bedarf
an entsprechend vorgeschultem Personal zu rechnen sein wird.
Das sind Karrieren, die für viele Studenten allen Anreiz haben
könnten.
Demzufolge ist Vorkehrung zu treffen, daß das Lehrpro
gramm und insbesondere das der Sozialwissenschaften, der
Staats- und Rechtswissenschaften und der Volkswirtschafts
lehre mit entsprechenden Fachkursen wie z. B. denen der di
plomatischen Fächer ausgestattet werde.
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Das soll aber nicht heißen, daß die »Internationale Universi
tät« in einer Fachschule aufzugehen habe, oder daß der Fach
student etwa am allgemeinen Studium nicht teilzunehmen
brauchte. Würde dies erlaubt werden, so wäre dem Frieden, um
dessentwillcn die Universität errichtet werden soll, ein schlech
ter Dienst erwiesen. Denn mehr als jeder andere benötigt der
künftige Regierungsbeamte, Diplomat, Politiker, usw., kurzum
jeder, der zu öffentlicher Funktion berufen sein wird, eine volle
Einsicht in die Ganzheit der Friedensprobleme.
F. Studentenaustausch
Es ist nicht zuletzt der voraussichtlich allüberall in der Welt ein
setzende Bedarf nach einem in »Internationalität« geschulten
Regierungspersonal, der zu offiziellen Studentenentsendungen
an die »Internationale Universität« führen könnte.
Und es liegt überdies im Interesse der Weltdemokratie, sol
ches zu fördern. Denn es ist für diese besonders wichtig, daß
junge Leute aus den ehemals fascistischen oder heute noch
mehr oder minder fascistischen Ländern wirklich mit dem Sein
und der Wesenheit der Demokratie vertraut gemacht werden.
Nicht nur, daß ein Aufenthalt in den USA ihnen die Funktion
der Demokratie, die sie bloß vom Hörensagen kennen, leben
dig vor Augen führen würde, es würde ihnen die »Internatio
nale Universität« auch die hiezu nötige theoretische Ergänzung
bieten. Soferne diese jungen Leute richtig, d. h. als die Begab
testen aus sämtlichen Bevölkerungsschichten und -klassen aus
gewählt werden, so ließe sich wohl vorstellen, daß der amerika
nische Aufenthalt imstande sein würde, manchen von ihnen zur
Demokratie zu erwecken und ihn zu einem künftigen demokra
tischen Führer des Heimatlandes zu machen.
Die im Interesse der Weltdemokratie zu gründende »Interna
tionale Universität« hätte also allen Grund, einen derartigen
Studentenaustausch in die Wege zu leiten und möglichst zu in
tensivieren. Die Schaffung einer solchen Austauschorganisa
tion und regen Austauschbewegung wäre unzweifelhaft eine
der demokratischsten Aufgaben einer demokratischen U nter
richtsanstalt.
Hiezu gehört allerdings noch eine zweite Austauschaktion,
nämlich die mit inländischen Universitäten. Denn ein aus dem
Ausland nach Amerika kommender Student soll nicht seine
106
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ganze Aufenthaltszeit in einer einzigen Stadt verbringen; nur
wenn er mit der ganzen Vielfalt und Verschiedenartigkeit des
amerikanischen Lebens in Berührung kommt, kann er eine
wirkliche Einsicht in das Wesen der Demokratie und in das die
ses Landes gewinnen. Das sind Kenntnisse, die sich auch nicht
bei einer sightseeing tour, auf die man ihn etwa schicken
könnte, gewinnen lassen. Es wäre daher wahrscheinlich recht
empfehlenswert, die Semesterzahl des Austauschstudenten auf
verschiedene Universitäten aufzuteilen, z. B. ihn zuerst an der
»Internationalen Universität« für Einführungskurse zu inskri
bieren, ihn sodann für je ein Semester in den Mittelwesten und
Westen oder in den Süden zu entsenden, und ihn sodann wieder
an die »Internationale Universität« zwecks theoretischer Zu
sammenfassung seiner Erfahrungen zurückzuholen.
Es versteht sich, daß derartige Austauschbewegungen an ge
wisse administrative Voraussetzungen und eben besonders im
Verkehr mit dem Ausland gebunden sind. So z. B. wäre mit den
ausländischen Universitäten ein Gegenseitigkeitsverhältnis in
der Anrechnung der Studienzeit des Studenten und seiner in
den verschiedenen Anstalten abgelegten Prüfungen herzustel
len. Nicht minder dringlich wäre es, von den ausländischen Re
gierungen die Anerkennung der von der »Internationalen Uni
versität« verliehenen akademischen Grade zu erhalten, da ja
sonst der ausländische Student mit seinem »internationalen«
Doktorat, das er zur Erlangung eines diplomatischen oder sonst
eines einschlägigen Regierungspostens erworben hat, nichts in
seinem Heimatland anzufangen wüßte.
G. Professorenaustausch
Je internationaler durch Studentenaustausch die Zusammen
setzung der Hörerschaft an der »Internationalen Lehranstalt«
wird, desto mehr wird damit dem Geist der Internationalität
und des Friedens gedient.
In womöglich noch weiterem Ausmaß gilt dies auch für den
Lehrkörper der Anstalt, denn der ist der eigentliche Träger des
wissenschaftlichen Lebens an der Universität und muß daher
auch der ihrer Internatidnalität werden.
Nichts ist schwieriger, als zu verstehen, wie schwierig es ist,
einander zu verstehen. Innerhalb einer Gruppe, die durch ge
meinsame Abstammung oder gemeinsame Tradition oder
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gemeinsamen Bildungsgang aneinander gebunden ist, gibt es
fast im m er- freilich auch nicht immer-irgendwelche Verständi
gungsmöglichkeiten; doch Verständnis für irgendeine andere
Gruppe, mag auch der beste Wille hiefür vorhanden sein, bleibt
theoretisch, muß theoretisch bleiben, und nicht eher kann der
gute Wille sich erproben und bewähren, ehe nicht eine reale
Verbindung von Mensch zu Mensch zwischen den beiden
Gruppen hergestellt ist.
Das Gemeinsame für die Wissenschaftler aller Länder ist die
Wissenschaft, ist die Einheit der zur wissenschaftlichen W ahr
heit hin orientierten Forschungsmethoden. Aber das ist ab
strakte Feststellung, ist noch nicht menschliches Erlebnis. So
sehr Gemeinsamkeit im Objekt die unerläßliche Basis jeder
Verständigung ist, sie wird erst dann zu solcher Basis, wenn sie
vom Menschen in aller Konkretheit erlebt wird. Konkrete ge
meinsame Wissenschaftsarbeit im Rahmen einer internationa
len Fakultät ist ein derartiges Verständnis-Erleben; es ist - so
fern sich so sagen läßt - Erleben von Internationalität an seiner
echtesten Quelle.
Eine Universität, die sowohl in ihrer Hörerschaft wie in ihrem
Lehrkörper international zusammengesetzt ist und außerdem
noch beide in einem auf Internationalität und Frieden gerichte
ten, einheitlichen Wissenschaftsprogramm zusammenbindet,
ist nicht nur das Idealinstrument des Friedens, sondern auch der
wissenschaftlichen Wahrheit; denn das eine gehört zum andern,
und in beiden ruht die Humanität, zwar von der Irrealpolitik des
Tages nicht bemerkt, dennoch immer wieder aufgenommen, so
oft die Politik sich gezwungen sieht, der Platonischen Forde
rung zu folgen und zur Realität zurückzukehren.
Appendix B
Spezielle Forschungsaufgaben
Zivilisationskritik
Zu jedem Zeitpunkt mündet der anonym-irrationale Tradi
tionsstrom in die jeweilige Zivilisation, zu jedem entspringt er
[in] ihr aufs neue, angereichert mit den von ihr hervorgebrach
ten neuen Zivilisationselementen, und durch sie büßt er hiebei
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jedesmal einen Teil seines Irrationalcharakters ein. Während
des letzten Jahrhunderts wurde er von den rationalen und oft
mals institutionalen Neu-Elementen in einer Weise überflutet,
daß das Alt-Traditionelle beinahe völlig verschwand und mu
seal wurde. Diese zunehmende Rationalisierung der Zivilisa
tion und des Traditionsstromes wird Fortschritt genannt.
Bis daß das Rationale selber wieder ins Irrationale zurück
schlägt. Der Menschengeist besitzt Unendlichkeitskraft, und
wenn er mit seinen Schöpfungen bis zur Unendlichkeitsgrenze
vorstößt, werden sie trotz ihrer Rationalität ihm selber un
durchschaubar. Es ist quantitative Irrationalität. Damit ist we
niger die Quantumsgröße als solche gemeint (etwa die Erzeu
gung einer Energiemenge, mit der die Menschheit ihren
eigenen Planeten zersprengen kann) als die »logisch unbe
schränkte Kombinationsmöglichkeit der Elemente«, wie sie
paradigmatisch in der Mathematik zutage tritt: nicht die (aller
dings gleichfalls vorhandene und unausrottbare) Insuffizienz
des Menschengeistes macht diesem die Mathematik zu etwas
niemals zur Gänze Ergründbarem, sondern ihre echte und ob
jektive Unbekanntheitsqualität tut dies.
Heute sind nahezu sämtliche menschliche Institutionen ins ra
tional-quantitative Hypertrophische geraten; die ihm imma
nente »objektive Unbekanntheitsqualität« ist auch die ihre ge
worden. Das vorkapitalistische Wirtschaftsleben z. B. war
strengen Bindungen und Simplifikationen unterworfen, und
das hat seine Kombinationsmöglichkeiten aufs äußerste einge
engt, hat es im wahrsten Wortsinn rational »berechenbar« ge
macht; die vollkapitalisierte, vollindustrialisierte Wirtschaft
hingegen kennt diese »Endlichkeitsschranken« nicht mehr:
ihre technischen und finanziellen und kommerziellen Elemente
haben eine Kombinationsentfesselung entwickelt, die ihr, be
sonders anläßlich der hiedurch verursachten Krisen, den Cha
rakter einer unbändigen und unbändigbaren Naturkraft ver
leiht. Und ebenso geht es mit den staatlichen, mit den sozialen
und all den andern Machtgebilden; das anonym »Unvermut-
bare«, das Unberechenbare hat in ihnen die Oberhand gewon
nen. Kein Wunder also, daß die modernen Großdemokratien,
die überdies selber - entgegen ihrer ursprünglichen Rational
anlage - zu hypertrophisch-anonymen Riesenmechanismen
und daher sich selber irrational undurchschaubar geworden
109
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sind, solche Fragekomplexe nicht mehr zu bewältigen vermö
gen; was dem Menschen nicht glückt, kann dem Parlamentspo
litiker kaum besser glücken. Und drohend steht selbst für die
Westdemokratien die noch ärgere Irrationalität des konti
nental-europäischen Führerprinzips mitsamt all seinen Kriegs
gefahren vor der Türe.
Das Gesamtbild der modernen Zivilisationen setzt sich aus
diesen Irrationalitäten und Rationalitäten der Quantumshy
pertrophie zusammen und ist außerdem von den irrationalen
Alt-Elementen der Tradition durchtränkt. In alldem steckt
»objektive Unbekanntheitsqualität« und damit jedwede Mög
lichkeit »objektiver« Kriegsverursachungen. Es kommt also
auf Gewinnung dieses Gesamtbildes an. Was bisher zu seiner
Skizzierung geleistet worden ist - Journalismus, Essayismus
und sogenannt philosophische Kulturausdeutungen waren
daran beteiligt - , reicht selten über die Sphäre bloßer Meinung
hinaus, hat also mit wissenschaftlicher Erkenntnis und deren
Streben nach Gesichertheit und Beweisbarkeit wenig zu schaf
fen. Jedenfalls hat die Wissenschaft hiezu noch fast keinen Zu
gang gefunden. Selbst die modernen soziologischen Methoden
scheinen nicht zu genügen, um die da offenbar klaffende Lücke
zu schließen: voraussichtlich sind hiefür neue Methoden, viel
leicht sogar eine neue Disziplin notwendig.
Massenpsychologie
Wo immer der Mensch gezwungen ist, einer ihm von außen auf
erlegten Handlungsverursachung zu folgen - und das geschieht
unaufhörlich - da ist er unfrei. Die Begründungen, mit denen
er seine Handlungen begleitet, auf daß sie ihm plausibel und le
gitim werden, sind Bemäntelung dieser Unterwerfung und sind
dabei doch selber auch schon Teil der Unfreiheit. Für den an
geblich freien Primitivmenschen gibt es überhaupt nichts ande
res als Unterwerfung, nämlich Unterwerfung unter das Uner-
forschliche, aber des heutigen Menschen Haltung ist hievon
auch nicht wesentlich verschieden: zwar darf das Verursa
chende, dem er zu folgen hat, heute als Gesetzlichkeit erkannt
werden, als die Gesetzlichkeiten seiner wirtschaftlichen, politi
schen und sonstigen Institutionen, seiner selbstgeschaffenen,
allerdings ihm undurchschaubar gewordenen, eigenen Institu
tionen, doch das bedeutet nur, daß er sich seine Unfreiheit sel-
110
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her verschärft hat, daß er aus seiner eigensten innersten Ge
setzlichkeit hiezu genötigt worden ist, kurzum, daß alle jene
scheinbar äußeren Gesetzlichkeiten letztlich innere sind und als
psychologische aufgefaßt werden müssen.
Die Gegenwartsverhältnisse haben diesen Tatbestand selber
enthüllt. Denn das moderne Leben, also vor allem das in den
Industrieländern, ist von den großen Volksmassen bestimmt,
und da in der Masse sich der Mensch als das Primitivwesen
zeigt, das er von Anbeginn war und eben noch immer ist, wird
am Massenverhalten die Beziehung zwischen Mensch und In
stitution, zwischen Begründung und Verursachung deutlicher
als anderswo sichtbar. Und im besondern: auf die Massen wir
ken die Kriegsverursachungen ein, in den Massen werden sie zu
handlungsauslösenden Begründungen umgeformt.
Was in der Masse geschieht, ist Grenzfall für das individuelle
Geschehen. Auch hier sind die Beweggründe des Handelns ob
schon nicht ausschließlich, so doch vielfach rein emotionaler
und triebhafter Art, auch hier wird das Handeln, und zwar öfter
als der Mensch glaubt, prälogisch motiviert oder auf magische
Zwecke abgestellt, und auch hier besteht die Tendenz, die ei
gentlichen Verursachungen bloß in mythisierter, magie-geeig
neter Gestalt zur Kenntnis zu nehmen. Niemand weiß dies bes
ser als der Propagandist, dem es obliegt, den Menschen zu
bestimmten Handlungen zu veranlassen, und [der] daher ihm
die hiezu nötigen Begründungen in einer Form liefern muß, daß
sie seine emotionale Sphäre treffen. Aber der Propagandist
weiß auch, daß das Primitivmenschliche mit all seinen Akzesso-
rien am klarsten in der Masse zum Vorschein kommt und hier
am leichtesten zu aktivieren ist.
Der urhafte Primitivmensch, ein von Naturgewalten dunkel
umgebenes Wesen und ihnen ausgeliefert, ist in Furcht und ste
ter Panikbereitschaft. Seine einzige Sicherheit ist die der Tradi
tion, in der er lebt. Würde er plötzlich in ein höherentwickeltes
und physisch weniger gefahrbedrohtes Kulturstadium versetzt
werden, es wäre seine Tradition in keiner Weise darauf einge
richtet, und seine Furcht würde ihn nicht verlassen.
Genau dies aber ist auch die Lage des modernen Menschen im
Rationaldschungel seiner Zivilisation. Was ihm seelischer Halt
gewesen war, seine jahrtausendealte Tradition mitsamt ihrer
Religiosität, ist in der Rationalflut untergetaucht, und wie ein
111
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stens im Urwald ist er wiederum von einer Unerforschlichkeit
umgeben, die er sich ins Magische umdeuten muß, wenn das ihr
versklavte Handeln einen Sinn für ihn erhalten soll: der »ob
jektiven Unbekanntheitsqualität« der Umwelt hat sich seine
subjektive zugesellt. Und wiederum ist der Mensch in Furcht.
Es versteht sich, daß mit der Konstatierung von Furcht und
Aggression - Avers- und Reversseite des nämlichen Phäno
mens - die massenpsychologische Beobachtung keineswegs er
schöpft ist, und daß selbst das primitivste Primitivdenken und
-handeln sich damit nicht auf einen gemeinsamen Nenner brin
gen läßt. Aber zu mancherlei ist damit doch schon ein Zugang
gegeben. So läßt sich beispielsweise vertreten, daß das hyper
trophische Sicherheitsbedürfnis des modernen Menschen ein
unmittelbarer Ausfluß der Institutionshypertrophie ist, daß de
ren objektive Unbekanntheitsqualität, die er durch seine sub
jektive verdoppelt hat, ihn zur bedingungslosen Unterwerfung
unter das Ökonomische treibt, ja ihn bemüßigt, diesem gera
dezu mythische Züge zu verleihen: gleichgültig ob seine Wirt
schaft kapitalistisch oder sozialistisch von ihm betrieben wird,
er hat in seiner Todesfurcht das Ökonomische zu einem gott
haften Gesetzgeber erhoben, für den zu sterben er jederzeit be
reit ist.
All das sind Erscheinungen, die sich in dem Grenzgebiet zwi
schen dem Rationalen und Irrationalen abspielen und die Pro
bleme der Verursachung und Motivation nochmals aufrollen:
sie sind ohne massenpsychologische Untersuchungen nicht er
gründbar.1
1 »Karl Marx Institut«. Gemeint ist das 1920 in Moskau gegründete »Marx-En-
gels-Institut« (heute »Marxismus-Leninismus-Institut«).
2 Gemeint ist die »Unschärferelation«.
3 Vgl. Brochs Aufsatz »Bemerkungen zur Utopie einer international Bill of
Rights and of Responsibilities<« im Politik-Band dieser Ausgabe.
4 Durch Lenin veranlaßt, veröffentlicht in Izvestiya am 27. Juli 1918.
5 Nürnberger Prozesse, Sammelbezeichnung für die 1945-1950 in Nürnberg ge
gen führende Personen und Organisationen des nationalsozialistischen
Deutschlands durchgeführten Prozesse wegen Kriegsverbrechen und Verbre
chen gegen die Menschlichkeit.
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Positivismus-Kritik
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Z um Begriff
d er G eistesw issenschaften
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gibt er die Antwort selber: in der positivistischen Methode. D a
mit aber eröffnet sich unser allgemeines Problem, fragend, ob,
respektive wann positivistische Kulturwissenschaft den Cha
rakter reiner Philosophie und deren reinen Geltungswert besit
zen könne.
Oder mit andern Worten: wie konnte Diltheys Leistung trotz
der positivistischen Methode erreicht werden? Denn niemand
oder nur sehr wenige werden bezweifeln, daß der Positivismus
als solcher das langweiligste philosophische System darstelle,
und wenn dies zwar schon viel, jedoch noch nicht alles ist, so
darf hinzugefügt werden, daß man ihn überhaupt nicht als Phi
losophie im eigentlichen und strengen Sinne nehmen kann und
darf: Positivismus ist Materialismus, und alle jene Schwächen,
geistigen Ohnmächtigkeiten und auch Verlogenheiten, die dem
sogenannten reinen Materialismus anhaften, spiegeln sich in
der positivistischen Methode wider.
Wir haben hier nicht neuerdings den Nachweis zu führen, daß
Materialismus keine Philosophie sei. Daß wir diese Meinung
auch auf den Positivismus ausdehnen können (denn daß umge
kehrt Materialismus Positivismus ist, ist eo ipso einleuchtend),
legitimiert sich schon in der einfachen Tatsache, daß eine ein
wandfreie Abgrenzung der materialistischen Bestände unmög
lich ist, so daß vieles, was noch unter der (richtigen) Bezeich
nung Materialismus geführt wird, bereits die Merkmale des
allgemeinen Positivismus aufweist. Inhaltlich genommen ist
bloß im Umfange des objektiven Gültigkeitsbereiches eine
Differenz aufzuweisen, die also lediglich skalierend, keines
wegs wesenhaft ist; für den reinen Materialisten ist der Hori
zont mit der naiven Realität abgeschnitten, für den allgemeinen
Positivismus ist er entsprechend weiter. Methodologisch ist
aber demgemäß die Identität eine vollkommene: da wie dort
bleibt der Blick an dem gültig Angenommenen hängen, hof
fend, daß aus der Fülle und der Sammlung der mehr oder min
derwissenschaftlich gesicherten Gültigkeiten jene Totalität der
Weltinhalte erreicht werde, die als »Weltanschauung« das Phi
losophische dieses Vorganges offenbaren soll, da wie dort be
steht der Glaube, daß dieser Vorgang ein ametaphysischcr und
wissenschaftlicher sei, da man ja einfach den Weg der Einzel-
wisscnschaften fortzuschreiten hätte, um zu jener Fülle der
Welterkenntnisse zu gelangen, und da wie dort wird man sich
116
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nie darüber klar sein, daß das Wesen des Wissenschaftlichen
nicht Herbeischaffung neuer, positiver Inhalte sei, sondern daß
es sich lediglich um die kritische Frage handelt und handeln
darf, ob der jeweilige ontische Inhalt logisch möglich sein
könne, und daß nur in dieser logischen Ermöglichung, die
durchaus nicht positivistisch, vielmehr durchaus »negativi-
stisch« erfolgt —noch niemandem ist es gelungen, den positiven
Primärinhalt »rot« anders als in negativer Form zu sichern und
zu definieren - , die wissenschaftliche Gültigkeit des Positivisti
schen gelegen sein darf. (Daß von hier aus mancherlei Verbin
dungsfäden vom Positivismus zu den phänomenologischen
Strebungen zu ziehen wären, ist offenkundig.) Wollte aber je
mand trotz alledem die Gleichsetzung der positivistischen Me
thode und Weltbetrachtung mit der materialistischen anfechten
und sich darauf berufen, daß der Materialist ein absolutes Kon
kretum setzt, während der Comtesche Positivist eben die Leug
nung des Absoluten sich zum besondern Verdienste rechnet, so
darf darauf verwiesen werden, daß diese scheinbare Differenz
ja doch nur wieder eine skalierende, eben in der »Erweiterung«
des Gültigkeitsbereiches liegende, ist: der naive Materialist ak
zeptiert das vorhandene Weltbild und sagt hier schon »Ja«,
während der andre immerhin den wissenschaftlichen Erkennt
niswechsel sieht, begreifend, daß das naturwissenschaftliche
Weltbild durch jede neue Entdeckung, das historische durch
jede neue Urkunde verändert werden kann, kurzum, daß die
verite de fait nicht ohneweiters zu einer eternelle gemacht wer
den könne. Daß aber mit dieser »Hinausschiebung« des Ja-
Sagens, das dann ebenso simpel bei den empirischen evolutioni-
stischen und relativistischen Anschauungen erfolgt, nichts
anderes geschehn ist als eine einfache und ebenso naive Um
kehrung des dogmatischen und primären Ja-Sagens, ist evident,
und daß dieser »materialistische Skeptizismus«, der die ihm
präsentierten Gültigkeiten zwar hinnimmt, sie aber mit einem
achselzuckenden »Eigentlich ist es doch nicht so« quittiert, sich
hierbei auf dieses Achselzucken (das selbst bei Nietzsche ver
werflich ist) noch etwas Besonderes zu Gute tut, war schon
Kant ein Dorn im Auge.
Es ist selbstverständlich, daß solch geradlinige, einfältige
Kraßheit mit Diltheys Streben nichts zu tun hat, wenn auch
leicht einzusehn ist, daß eben der Comtesche Evolutionsskepti
117
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zismus vor allem sich im Historischen fundieren muß und daß
dessen Züge in jenem Evolutionismus des Geistigen, wie er
Dilthey vorschwebte, durchschimmern. Auch die prinzipielle
Übereinstimmung jener »Wirklichkeit«, die Dilthey zum Ob
jekte der Philosophie machte und die sich in der seinen entfal
ten sollte, mit dem, was wir das positivistisch Gültige, den onti-
schen Inhalt schlechthin, nennen durften, tritt klar zu Tage und
ebenso, wie sich aus all diesen Elementen eine durchaus mate
rialistisch-positivistische Vertrauensseligkeit zur »Erfahrung«
herausbilden mußte, die, wie eben bei jeder geschichtsschrei
benden Kulturphilosophie, zum primären Fundament gemacht
wurde und aus der sich, von gewissen heuristischen Hilfen ab-
gesehn, die Idee des Philosophischen geradezu automatisch zu
entwickeln hatte. Dies alles muß nicht erst bewiesen werden,
sondern war Dilthey absolut klar - , sonst hätte er seine Me
thode nicht eine positivistische genannt - wie es ihm auch voll
kommen klar war, daß sie sich eben in Ansehung der Begriffe
der Erfahrung und der Idee des Philosophischen durchaus in
Gegenstellung zu Kants Wort befindet: »Es liegt gar viel daran,
den Begriff, den man durch Beobachtungen aufklären will, vor
her selbst wohl bestimmt zu haben, ehe man seinetwegen die
Erfahrung befragt; denn man findet in ihr, was man bedarf nur
alsdann, wenn man vorher weiß, wonach man suchen soll.«8
Wenn er trotzdem an seiner Methode festgehalten hat und
wenn sie trotzdem Einsichten von höchster wissenschaftlicher
Gültigkeit hervorbringen konnte, so stehn wir neuerdings vor
unsrer ersten Frage nach der Möglichkeit dieses Erfolges trotz
der positivistischen Methode.
Die Antwort wird uns jetzt erheblich leichter. Begreifen w ir-
und damit nehmen wir auch Kants Satz von der Voraussetzung
des Begriffes auf - , daß Wissenschaftlichkeit, identifiziert mit
rein-logischer Abstraktion und Deduktion, stets nur die logi
schen Möglichkeiten ontologischer Setzungen, niemals diese
selber, also niemals »Wirklichkeit« geben kann, oder, um mit
HusserE zu sprechen, daß sie Erkenntnis aus dem (logischen)
»Grunde«, manifestiert in einer übergeordneten logischen
Gruppe, die die Seinsbedingung des gefragten ontologischen
Phänomens in sich schließt, sein müsse, so enthält jedes ontolo
gische Urteil, sei es ein praktisches Einzelurteil des täglichen
Lebens, sei es ein ontologisches Urteilsystem, wie etwa die em
118
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pirische Kulturwissenschaft als Ontologie der Kulturwerte,
oder die Medizin als Ontologie der Krankheiten, oder der Phil-
atelismus als Ontologie der Briefmarken, soviel »Wissen
schaftlichkeit« als sie methodische Deduktion, das heißt kri
tische Analysierbarkeit ihres Gesamt-Begriffes, also ihrer
»Axiomatik« zur Sicherung und logischen Ermöglichung ihrer
ontologischen Einzelurteile enthalten kann. Ob es sich hierbei
um wirkliche Wissenschaften oder um Pseudo-Wissenschaften,
letzteres ist meist das Näherliegende, handelt, ist für die wis
senschaftliche »Form« ganz nebensächlich, sondern betrifft die
Fundierung ihrer Axiome. Je philosophischer, das heißt je um
fassender der Wissenschaftsbereich sein soll, desto höher hin
auf muß die Fundierung seiner Axiomatik reichen, und desto
weniger ontologischen eigenen Inhalt darf sie besitzen, um
schließlich in der Position des reinen kritischen Idealismus die
ametaphysische, philosophische Allgemeinheit zu erlangen. -
Auf welcher Stufe der Wissenschaftlichkeit aber auch immer:
stets handelt es sich bloß um logische Ermöglichung des Wirk
lichkeitsurteils, niemals um dieses selber: seine Verifizierung ist
innerhalb dieses Logischen eine Angelegenheit maximaler
Wahrscheinlichkeit.
Stellt man die ungeheuere Gruppe eben dieser ontologischen
Urteile unter solchen Aspekt, so ist ihnen allen die spezifische
Eigentümlichkeit anzumerken, daß sie diagnostisch vorgehn,
das heißt es wird in ihnen vom Symptom auf den gesetzmäßigen
Zustand geschlossen, vom Symptom auf die Krankheit, von der
Ausgrabung auf die »Kultur«, vom Zwischenkieferknochen auf
die Metamorphosenlehre. Kurzum es geschieht das, was wir als
Stigma des Positivistischen und eben Unwissenschaftlichen
aufwiesen: die Erfahrung und ihre »Data« werden vorausge
stellt, und der Kantische »Begriff« folgt nach. Ist aber der »Zu
stand« einmal induktiv hypostasiert, der als solcher stets eine
Einheit höherer Ordnung darstellt, und ist sein Begriff einmal
als gültig angenommen, dann kann die wissenschaftliche, das
heißt inhaltslogische Analyse dieses begrifflichen Einheitsphä
nomens einsetzen und als wissenschaftliches Resultat die logi
sche Seins-Möglichkeit des primären Symptomes ergeben: aus
dem (hypothetischen) Bestand der Krankheit ist die logische
Möglichkeit, nicht Notwendigkeit der Symptome abzuleiten,
aus dem Bestände einer Kultur die von Bauwerken, und so wei
119
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ter. Man sieht hierbei, daß die Setzung der höhern Einheit so
wie die Rückableitung zur Seinsmöglichkeit des Symptoms als
geschlossener Kreislauf innerhalb eines gleichen Hypothesen
bereiches vollzogen werden muß, wie er eben in der ersten und
positivistischen Gültigkeitsannahme sich ergibt: eine solche
Diallele wäre aber vollkommen haltlos - mit welchem Rechte
wurde das Symptom überhaupt und überdies als Krankheit er
kannt? selbstverständlich soferne man nicht einfach mit We
senschau und Intuition antwortet - , wenn nicht der ganze Be
reich an einem Wahrheitskriterium verifiziert werden kann, das
in der autonomen Unkontrollierbarkeit des Bereiches selber
unmöglich, als außerhalb desselben lokalisiert gedacht werden
muß.
Da aber Erweisen stets im Rationalen, das heißt also in der
kausalen Fortsetzbarkeit eingeschlossen ist, so kann diese
Außen-Verifikation doch nur eben wieder durch eine Erweite
rung des Hypothesenbereiches erfolgen und zwar in zweifacher
Richtung (nachdem von einem Begriffe mittlerer Allgemein
heit, also irgendeinem »Symptom« und nicht von einer höch
sten Denkkategorie ausgegangen wurde):
erstens, sozusagen in der gleichen Ebene, durch Aufstellung
von Nachbarsymptomen neben das ursprüngliche, sagen wir
Auffindung von Waffen bei den ausgegrabenen Bauwerken,
welche Nachbarsymptome die gleiche logische Ableitbarkeit
aus der Einheit höherer Ordnung besitzen wie das Ursprung
symptom, so daß man hier von einer Erwahrscheinlichung er
ster Ordnung sprechen dürfte;
zweitens, sozusagen in der Richtung einer dritten Dimension,
und zwar, wenn man es so bezeichnen will, sowohl nach oben
als nach unten, nämlich einerseits durch Einreihung der hypo-
stasierten höheren Einheit selber in eine darüberstehende (etwa
die troische Kultur in den mykenischen Kulturkreis) und an
derseits durch Aufweisung von Untersymptomen, Symptom
attributen, am Ursprungsymptom (etwa Ornamentalformen
und so weiter), wobei die logische Ableitbarkeit nach oben und
unten gewahrt bleibt. Diese »Erwahrscheinlichung zweiter
Ordnung«, wie wir sie nennen dürften, zeigt besonders deutlich,
wie sehr der Vorgang im kritischen Denken eingewurzelt ist:
denn mit dem Augenblicke, da die Hypothese zum Denkresul
tat wird, ist sie auch schon sofort und automatisch zum Objekt
120
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des kritischen Denkens geworden, kann also selber nur mehr
die Funktion eines ontologischen Symptoms erfüllen, das er-
wahrscheinlicht werden muß und zu seiner logischen Seins-Er
möglichung die Setzung einer höheren Einheit, kurzum seines
Seins-Begriffes unabweislich fordert. An dem Werden jeder
wissenschaftlichen Disziplin ist diese schrittweise Sicherung der
ursprünglich naiven Wirklichkeitsurteile bekanntlich ohne
weiters nachzuweisen, man denke beispielsweise, um im Bilde
zu bleiben, nur an die Entwicklung der Medizin und an den
Vorgang ihrer Krankheitsdiagnosen, die einzig und allein durch
die Multiplität der nachträglich zuzuordnenden Nachbarsym
ptome und deren, mehr oder minder apodiktischen, jedenfalls
analysierenden Rückableitungsmöglichkeit aus dem »Begriffe«
der Krankheit, als dem »logischen Grund« des Symptoms, sich
und damit der ursprünglichen Arznei-Kunst den Formcharak
ter wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verleihen vermag.
Es darf hier gleichgültig bleiben, daß Comtes »drei Stadien«10
diese genetische Verwissenschaftlichung der Erkenntnis eben
falls aufweisen, denn es kommt in ihnen ja doch nur auf den on-
tischen Inhalt dieser Erkenntnisse an, ebenso, daß diese Ver
wissenschaftlichung das primär-ontologische Urteil in ein
notwendig unendliches System von Symptombeiordnungen
und Erweisen wissenschaftlicher Form verknüpft und, den Ge
danken einer »höchsten« zusammenfassenden Einheit und
Axiomatik, wie er sich in der Idee eines »Seins an sich« einstellt,
als maximale Seins-Erwahrscheinlichung involvierend, sich
philosophisch in der Neukantischen Fassung des unendlichen
Regressus wiederfindet, aber auch an Bolzanos11 ontologischen
Ideen zu illustrieren wäre. Denn wir haben aus diesen Sachver
halten nur die auf das vorliegende Problem zu beziehende
Frage herauszuheben, die sich nunmehr formuliert: wie kann
und wie konnte in der empirischen und inhaltlichen Historie die
Diltheysche Kulturwirklichkeit zu solch maximaler Wahr
scheinlichkeit gebracht werden, daß sie im Sinne einer wissen
schaftlichen Evidenz zu wirken befähigt ist?
Daß diese Frage damit zu außerordentlicher methodologi
scher Wichtigkeit gelangt, mag schon daran zu ermessen sein,
daß Dilthey, und mit ihm Rickert, Windelband und deren ganze
Schule, für sie im Begriff der Geistes- resp. Kulturwissenschaf
ten ein eigenes methodologisches System aufgerichtet haben,
121
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das heißt also den Begriff des Wissenschaftlichen selber in An
sehung der historischen Erkenntnisse verschoben oder zumin
dest erweitert wissen wollen.
Um nun hierzu, wenn auch - wie besonders betont sein möge
- nur skizzenhaft Stellung nehmen zu können, müssen wir uns
erinnern, was wissenschaftliche Begründung heißen darf. Aus
dem hier Vorgebrachten würde sich leichthin ergeben, daß das
dogmatisch-positivistische oder ontologische Urteil, das vom
Symptom auf die Einheit höherer Ordnung schließt, synthetisch
genannt werden möge, während das begründende, das den Be
griff eben voraussetzt (und zur möglichsten Begründbarkeit
immer auf einen Begriff maximaler Apriorität zurückzugreifen
hätte), als das analytische anzusprechen wäre. In diesem Au
genblicke gerät aber das ganze Problem in eine schiefe Be
leuchtung. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß der Kern al
ler naturwissenschaftlichen Begründung, nämlich das mathe
matische Urteil selbst synthetisch ist, also niemals Begrün
dungsfähigkeit haben dürfte, während das ontologische Urteil
- und zwar bevor es vom Symptom aus auf die höhere Einheit
hin hypostasiert - zur Individuation des Symptoms aus der G e
gebenheit, also im Akt der Symptomsetzung, eine immerhin
analysierend-abstrahierende Arbeit verrichtet hat. Der nicht
zur Ruhe kommen wollende Streit um den »synthetischen oder
analytischen Charakter der Mathematik« weist darauf hin, daß
diese Terminologie noch nicht mit der wünschenswerten Präzi
sion festgestellt ist.
Eine genaue Abgrenzung des mathematisch-Wissenschaftli-
chen und damit, wie anzunehmen ist, des Wissenschaftlichen
schlechthin, ist selbstverständlich bloß im Rahmen einer Revi
sion des gesamten Urteilproblems, also der Logik überhaupt,
zu bewerkstelligen. Wir haben nicht die Präpotenz, dies von
hieraus erledigen zu wollen und dürfen, uns hierbei sowohl auf
die neukantischen als die phänomenologischen Strebungen be
rufend, kurz andeuten, daß das Einteilungsprinzip nach synthe
tischen und analytischen »Aufgaben« des Urteils nicht nur für
dessen mathematische Funktion versagt, sondern überhaupt -
und damit ist auch ein Teil der Erklärung vorgezeichnet - für
sein logisches Wesen sowenig von Belang ist, als seine Katego-
risierung nach dem bejahenden oder verneinenden Inhalt. Wir
haben es nur mit »gültigen« oder »ungültigen« Urteilen zu tun,
122
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und das logische Problem tritt in engste Verwandtschaft zum
Problem der Gültigkeit.
Das wissenschaftliche Urteil ist uns also vor allem das gültige,
das heißt begründbare Urteil, und wenn trotz seiner »analysie
renden Intention«, an der sich eben seine Gültigkeit verifiziert,
durchwegs die Neigung besteht, es »synthetisch« zu nennen, so
geschieht dies nicht nur in Hinblick auf die Autorität der Kant-
schen Rubrizierung der Mathematik, sondern viel eher unter
Berufung auf den dahinter stehenden synthetischen Charakter
der logischen Einheit (abgesehen von der synthetisierenden des
logischen Aktes), wie sie beispielsweise durch Natorps12 »Lo
gik in Leitsätzen« angedeutet wird.
Oder mit andern Worten: das wissenschaftliche Urteil »analy
sierender Intention« bewegt sich im vorgegebenen logischen
Bereich und kann in seiner kausalen Synthese nur solche Ele
mente zur Verbindung bringen, die in jenem Bereiche, in dem
wir eben den Kantschen »Begriff«, die Einheit höherer Ord
nung, wiedererkennen, bereits involviert sind. Ist also einmal
eine logische Einheit höherer Ordnung, sei es nun aus dogmati
schen, intuitiv sicheren oder bewußt fiktiven Motiven, als gültig
angenommen, so kann die kausale, das heißt wissenschaftlich
logische Ermöglichung und ontologische Erwahrscheinlichung
des Symptoms nur durch Verkettung jener Elemente erfolgen,
die für die gesetzte höhere Einheit als konstituierend gelten.
Die kausale Ermöglichung des nassen Steines, »weil« es regnet,
bedarf der Voraussetzung des eidetischen Bestandes des Re
gens und seiner Konstituanten, und so weiter. - Dabei wird es
klar: je undifferenzierter und inhaltsentblößter die über das
Symptom gesetzte höhere Einheit ist, desto weniger Verbin
dungselemente stehn zur kausalen Ermöglichung des ontologi
schen Symptoms zur Verfügung, desto weniger sind aber auch
hierzu notwendig, und desto weniger Nachbar- und Untersym
ptome bedarf es zu seiner Erwahrscheinlichung, mit andern
Worten: desto »eindeutiger« wird die wissenschaftliche Arbeit.
Betrachtet man aber unter diesem Gesichtspunkt die letztuni
versale Zusammenfassung des Seins, richtiger der Gegeben
heit, in der Idee eines Seins an sich, wie es etwa im Aristoteli
schen Seins-Begriff erscheint, so sieht man, daß zu dem rein
intuitiven Urteil »dies ist« - ohne Rücksicht darauf, ob dieses
Einzel-Seiende ein konkretes oder ein Gedankending sei -
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überhaupt keine logische und erweisende Brücke mehr not
wendig ist, sondern daß hier das Einzelurteil mit dem katego-
rialen, das synthetisch-ontologische mit dem logisch-erweisen-
den einfach und evident identisch sind. »Bezeichnet« man das
auf das »inhaltlose Etwas« gerichtete ontologische Urteil als
das mathematische (die Legitimierung dieser »Bezeichnung«
fällt in den Rahmen einer weiteren Untersuchung der transzen
dentalen Logizität des Mathematischen), so erhellt vor allem,
daß die mathematische Erkenntnis als ein auf Seins- respektive
Gegebenheitsbestände gerichtetes Existentialurteil durchaus
das ist, was im Ontologischen synthetisch genannt werden
mußte und die »synthetische Aufgabe« auch des Wissenschaft
lichen involviert, daß sie aber nichtsdestoweniger Schritt für
Schritt, identisch eben ihrer konstruktiven Einheit, die »analy
sierende Intention« des Wissenschaftlichen offenbaren kann
und zu offenbaren hat. Und weiters erhellt, daß jene Region der
reinen Gegebenheit an sich auch die der reinen Erfahrung ist,
ohne die kein mathematisches Urteil denkbar ist, und daß in ihr
das ontologische Einzelurteil »dies ist«, den mathematischen
Bestand - will man ihn nun auf die Zählbarkeiten der Einheit
oder auf die »Schnitte« im Kontinuum zurückführen - ohne
weitere Erwahrscheinlichung zu treffen hat, ihn gleichzeitig von
jeder konkretisierenden Ding-Empirie loslösend. Die Mög
lichkeit des mathematischen Seins ist die reinste ontologische
Erkenntnis, und wenn man unter reiner Naturwissenschaft die
mathematische Physik verstehen will (soferne man von ihren
praktischen Auswirkungen und Schlüssen absieht und sie auf
die Setzung der logischen Möglichkeiten beschränkt), auch die
absolut naturwissenschaftliche Erkenntnis: in ihr ist Seinsnot
wendigkeit und logische Möglichkeit zur vollen identischen
Evidenz gebracht. Daß sie sich auch in der physikalischen E r
füllung des Seins verifiziert, geht, wie gesagt, über den Rahmen
und den Zweck dieser Untersuchung hinaus.
Immerhin wird es an der praktischen Physik schon deutlich,
daß in dem Augenblicke, da die universale Seins-Kategorie
irgendwie verkleinert und spezialisiert wird - hier ins
»Konkrete« - , zur Verifikation der Möglichkeiten sofort der
Wahrscheinlichkeitsbeweis - hier durch das Experiment - an-
getreten werden muß; mit andern Worten, es tritt die Notwen
digkeit der Einführung des Nachbarsymptoms auf. Es ist nun
124
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durchaus lehrreich, daß bei der einfachsten Einschränkung der
allgemeinen Seins- und Gegebenheitskategorie, nämlich eben
die auf die konkrete »Wirklichkeit«, auch prinzipiell genom
men, und wenn man von den subjektiven Täuschungsfaktoren
absieht, ein einziges, richtig ausgeführtes Experiment zur wis
senschaftlichen Verifikation genügt, während der Zwang zur
Häufung der Experimente, also der Nachbarsymptome, sofort
dann eintritt und fühlbar wird, wenn durch eine forschreiten
dere »Verwirklichung« des Geltungsbereiches, die in ihm ge
gebene »höhere Einheit« qualitativ verkleinert und einge
schränkt wird. Denn jede qualitative Einschränkung ist nur
durch Häufung der Konstituanten der eidetischen Wesenheit
des Oberbegriffes zu erreichen, welch neue Elemente in der
kausalen Ableitung und Seinsermöglichung des Unterbegriffes
naturgemäß wieder zur Geltung kommen müssen. So verlangt
die höhere Einheit »biologische Gesetzlichkeit«, wie sie, um
Rickerts Beispiel zu gebrauchen, Baers13 Theorie der Ei
entwicklung vorausgesetzt und überordnet ist, schon eine grö
ßere, wenn auch noch beschränkte Anzahl von Experimenten-
das Gleiche gilt in der Metamorphosenlehre, in der Bakteriolo
gie, kurzum in der ganzen Reihe der biologischen Disziplinen.
Es kommt hierbei keineswegs auf den Begriff des »Experimen
tes« an, vielmehr ist dieses bloß eine Form der Symptombei
ordnung, eine gewisse Modalität der Rekursion auf die »Erfah
rung« unter vielen andern. In der Psychologie, in der Medizin
und so fort ist ein ständiger Wechsel zwischen der willkürlich
experimentierenden und der, sagen wir natürlichen Symptom
beiordnung zu beobachten, wobei allerdings nicht außer acht
gelassen werden darf, daß auch diese, aus der »natürlichen«
Erfahrung gewonnene Symptombeiordnung selektiv willkür
lich verfährt, indem eben nur jene Data zugelassen werden,
welche den Konstituanten des Oberbegriffes entsprechen.
Auch die Differenz zwischen Experiment und natürlicher Sym
ptombeiordnung ist lediglich eine skalierende und keine we
senhafte, lediglich abhängig von der Konstitution des axiomati-
schen Oberbegriffes. So werden unter der Einheitsordnung des
»Rechtes« zur Fällung und zur - zumindest unter der Ambition
der Wissenschaftlichkeit stehenden - Erweisung des jeweiligen
Rechtsurteils, das eben auch durchaus ontologisch sich in die
eidetischen Konstituanten des Rechtsbegriffes systemisiert,
125
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eine ganze Reihe von Symptomen benötigt, die trotz ihrer Fülle
bloß einen kleinen Teil des unendlichen Komplexes »menschli
che Handlung«, dem sie entnommen werden, repräsentieren,
während dessen übrige Attribute und Inhalte - als zur logischen
Verbindung unnötig - abstrahierbar bleiben. Je lebendiger,
»wirklicher« aber, wie gesagt, der Oberbegriff gewählt wird,
desto weniger kann von den möglichen Attributen der Erfah
rung allerdings abstrahiert werden. Eine Papstgeschichte sub
spccie medicinae oder juris würde naturgemäß ungleich typi
schere Einzelfakta ergeben als Rankes Papstgeschichte, die,
unter der Idee der »Kulturhistorischen Einheit« stehend, zu ih
rer logischen Ermöglichung und wissenschaftlichen Erwahr-
scheinlichung bereits ein unendliches Maß von Wirklichkeits
attributen benötigt, und die demgemäß das Einzelsymptom mit
all seinen Nachbar- und Untersymptomen, kurzum in seiner
ganzen individuellen »Wirklichkeit« zur Manifestation bringen
muß.
Damit entwickelt sich auch für uns die scheinbare methodolo
gische Differenz zwischen den sogenannten Natur- und Gei
steswissenschaften in Übereinstimmung mit der Rickertschen14
Präzisierung von der »Typisierung« des Gemeinsamen einer
seits und der »Individualisierung« des Einmaligen andererseits,
gleichzeitig aber auch aufzeigend, daß diese Differenz keine
gegensätzliche ist und keine gegensätzliche sein darf. Denn jene
Formen, die einmal Typisierung, ein andermal Individualisie
rung heißen, erfüllen stets die gleiche logische Funktion, die wir
als die wissenschaftliche überhaupt bezeichnen konnten, er
weisend, daß nur eine und einzige Form des Wissenschaftlichen
möglich ist, wie es eben auch nur eine einzige und einige Lei
denschaft des Wissens geben kann. Und dies offenbart sich auch
in der aufgezeigten Genetik der kontinuierlichen Verwissen
schaftlichungen: jener Erkenntnistypus, dessen radikale Sim-
plifikation jetzt als der der Geisteswissenschaft angesprochen
werden soll, ist in dem, wenn schon nicht längst, so doch immer
hin überwundenen Stadium der Naturwissenschaften wieder
zuerkennen, in dem sie noch alle Natur-Geschichte waren und
sich in der Deskription des quasi Einmaligen erschöpften und
begnügten.
Wenn Rickert nun trotzdem diesen methodologischen Riß in
nerhalb des Wissenschaftlichen statuieren zu können glaubt, so
126
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ist dies sicherlich darauf zurückzuführen, daß er, seiner eigenen
Aussage gemäß, im Interesse einer scharfem Definierbarkeit
nur die beiden Extremfälle ins Auge faßt. Hier macht sich aber
die schärfere Definierbarkeit durch die Gefahr der, auch tat
sächlich erfolgten, Oppositionsdefinition bezahlt, die dort eine
gegensätzliche Polarität sieht, wo es sich bloß um Pole einer
durchaus gleichgerichteten Urteilssystem-Reihe handelt, die an
der Struktur ihres jeweiligen Geltungsbereiches sich nach ihren
Polen hin graduiert und deren Definition wir damit resümieren
können: je einfacher jener Geltungsbereich und je näher der
leeren Gegebenheitsannahme er postuliert wird, desto abstrak
ter, »typischer« und »inhaltsloser«, das heißt formaler, muß die
zur logischen Bindung an den analysierten Zustand isomorph
herauszuhebende Struktur des Symptoms werden, um schließ
lich die sogenannt rein »formale« Natur des Mathematischen
als »Pol des Naturwissenschaftlichen« zu erreichen. Je weiter
aber die Fiktion der höhern Einheit vom leeren und einfachen
Gegebenheitszustand sich entfernt und dabei inhaltserfüllt und
selber »wirklich« wird, desto kleiner wird die naturwissen
schaftliche und unbedingte Wirklichkeitskomponente, und
desto größer muß, im Sinne des eingangs Gesagten, zur Auf
rechterhaltung der Wirklichkeitswahrscheinlichkeit die hinzu
gebrachte Außenverifikation werden, das heißt desto »indivi
dualisierender« und mannigfaltiger muß das Einzelsymptom mit
seinem parallel abgeleiteten Nachbar- und Untersymptom zur
wissenschaftlichen Erweisung und logischen Ermöglichung des
hypostasierten Einheitszustandes in Tätigkeit treten.
Es soll hier nicht entschieden werden, ob jene inhaltserfüllten,
höhern Einheiten - in welchen wir unschwer die positivistischen
Wissenschaftspostulate eben wiederfinden - für die histori
schen Wissenschaften unbedingt in dieser Form vonnöten sind,
und ob nicht eben in den »geisteswissenschaftlichen« Metho
den bloß Vorstadien für eine künftige reine Geschichtswissen
schaft zu sehen wären. Sind sie aber als gültig angenommen, und
unsere Ursprungsfrage beschränkte sich auf diese Annahme,
und soll in ihnen die Diltheysche Wirklichkeit manifestiert wer
den, dann treten jene Bedingungen ihrer »Erwahrscheinli-
chung«, in denen sich uns das Prinzip des Geisteswissenschaft
lichen bildete, rigoros in Kraft, verlangend, daß das
Strukturgebilde der höhern Einheit durch ein Maximum von
127
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Symptomen und Erfahrungsdaten zu erfüllen ist. Daß diese,
durchaus inhaltliche Aufgabe in ihrer konkreten Unendlichkeit
eine physische Unmöglichkeit beinhaltet, kann - abgesehn von
Comteschen Utopien - an der Unvollendung des Werkes Dil-
theys ermessen werden.
Nichtsdestoweniger wird hier der Mangel auch zum Träger des
Vorzuges, ja vielleicht der Größe.
Denn die Fülle von Wirklichkeit, welche nunmehr dem histo
rischen Begriffe und all seinen erweisenden Inhalten abgefor
dert wird, verlangt im höchsten Maße nach jener stets zu erneu
ernden, lebendigen Schauung, die das Wirkliche im Spinozisti-
schen Sinne völlig adäquat erfaßt und es in seinem G e
samtbegriffe wie in seinen konstituierenden Teilen mit völli
ger Sicherheit durchdringt. Dieser nur im Begriff der Persön
lichkeit zu lokalisierende Akt der lebendigen Wirklichkeitser
fassung, primären Anschauung und letzt-fraglosen Bejahung
ihrer Evidenz, präzisisert in der zwar mystischen, aber hier doch
deutlichen Vorstellung von der Intuition, wird um so notwendi
ger, je weiter sich der Wissenschaftsbereich vom Pol des
Mathematischen entfernt und je mehr Akte der erweisenden
Symptombeibringung aus dem empirischen Material er erfor
dert: innerhalb der reinen und inhaltslosen Gegebenheit ist le
diglich eine - zu vernachlässigende - Gesamtintuition des Seins
an sich anzunehmen: die Schauung und Problemstellung der
empirisch-kulturwissenschaftlichen Einheit ist eine derart dif
ferenzierte Angelegenheit, daß sie sehr an die Durchdringung
ontologischer Gegebenheit durch künstlerische Intuition ange
nähert, nur mehr als Schaffensakt der singulär-individualen
Persönlichkeit, als Schöpfung und geistige Intensität des histo
rischen Genies zu denken ist.
Und hier setzt die Meisterschaft Diltheys ein, gleichzeitig auf
weisend, daß der Begriff des »Meisters«, der ästhetischen Ter
minologie entnommen und das Menschlich-Schaffende mitbe
zeichnend, an diesem künstlerisch intendierten Wirken mit
Berechtigung angewendet werden kann. Nicht die Durchdrin
gung mit idealistisch-philosophischen Elementen adelte den
Positivismus. Denn wenn auch der Gedanke der Projizierung
der idealistischen Position in die historischen Gebilde, um sie
solcherart, gleichsam innerlich sie begleitend, aus ihrem eige
nen Ich heraus zu verstehen, von äußerstem Reiz und sinnvoll
128
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stem Interesse ist, so müßte dieses Vorhaben, wäre es lediglich
angewiesen auf seine rationalen Tendenzen, die durchaus im
positivistischen Materialismus stecken bleiben, dennoch zu
sammenbrechen, würde nicht die ungeheure Gabe des histori
schen Genies und seiner Subjektivität, die »den Gegenstand
und sich mit ihm durchdringt und alles Unbestimmte, Ge
drückte, Kleine und Gemeine ausscheidet«15, in ihm zur Ent
faltung kommen. Rational und objektiv ist der Plan Diltheys,
durch Zusammensetzung der empirischen Struktur-Geistigkei
ten die philosophischen Gesamtpositionen zu gewinnen, trotz
der Betonung des Geistigen wie alles Positivistische materiali
stisch und dies erweist sich auch an seiner psychologisierenden
Auffassung des Idealismus - subjektiv hingegen und zuge
wandt dem Sein und dem Wirklichen ist sein Werk von solcher
Fülle und Abgerundetheit, daß seine Geltung und sein Wert
denen der reinen und rationalen Philosophie ungeschmälert zur
Seite gestellt werden können.
Allerdings: es steht wie das Werk eines jeden Künstlers allein
und auf sich selbst angewiesen. Die Gabe des historischen Ge
nies ist sowenig übertragbar wie die des künstlerischen, und an
dem Torso seines Schaffens wird niemand weiter arbeiten kön
nen. Es gibt so wenig historische »Schulen«, als es im eigentli
chen Sinne künstlerische gibt; was so genannt wird, ist Tradition
von Manieren.
Damit ist aber neuerlich die wissenschaftliche Gefahr für die
empirische Kulturwissenschaft angedeutet: ist schon jedes
dinglich-ontologische Urteil »dies ist so« in seiner rationalen
Begründung an Wahrscheinlichkeitsmaxima, also an »Versu
che« gebunden, so ist dies in der Mannigfaltigkeit und Indivi
dualisierung dieses rein Geisteswissenschaftlichen und seiner
stets tätigen und neu einsetzenden Intuitionsnotwendigkeit
doppelt und dreifach der Fall - der »Versuch« kann hier zum
Essayismus werden, und daß dieser Vorwurf die Diltheysche
Methode, oder richtiger deren Voraussetzungen, immerhin mit
Berechtigung trifft, kann an all dem Feuilletonismus ersehen
werden, der, und manchmal nicht einmal grundlos, sich auf Dil-
they zu berufen erlaubt.
129
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1 Wilhelm Oncken (1838-1905), deutscher Historiker.
2 Max Weber (1864-1920).
3 Heinrich von Treitschke (1834-1896).
4 Heinrich Friedjung (1851-1920), österreichischer Historiker.
5 Felix Dahn (1834-1912), deutscher Schriftsteller und Historiker.
6 Adolf Menzel (1815-1905).
7 Friedrich Theodor Vischer (1807-1887), deutscher Schriftsteller und Philo
soph. Vgl. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Dritter Teil »Die Kunst
lehre« (Stuttgart 1854), S. 122, Anfang des § 527.
8 Vgl. die ähnlich lautenden Formulierungen bei I. Kant am Anfang der »Vor
rede zur zweiten Auflage« der Kritik der reinen Vernunft.
9 E. Husserl, Logische Untersuchungen, Erster Band, Achtes Kapitel.
10 Comte lehrte, daß der menschliche Geist in seiner Entwicklung drei Stadien
durchlaufe, das theologische, das metaphysische und das positive Stadium.
11 Bernhard Bolzano (1781-1848), Prager Philosoph und Mathematiker. Vgl.
Wissenschaftslehre (4 Bde. 1837).
12 Paul Natorp (1854-1924), deutscher Philosoph, Vertreter der neukantiani
schen Marburger Schule. Vgl. Logik in Leitsätzen. Grundlegung und logischer
Aufbau der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft (1904).
13 Karl Ernst von Baer (1792-1876), Naturwissenschaftler und Naturphilosoph
aus Estland; einer der Begründer der modernen Entwicklungslehre. Vgl.
Über die Bildung des Eies der Säugegiere und des Menschen (Leipzig 1927).
Rickert geht ein auf Baers Theorie in Kulturwissenschaft und Naturwissen
schaft (Tübingen 1915), S. 119.
14 H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (Tübingen 19153),
Kapitel XII »Die quantitative Individualität«, S. 128-144.
15 Vgl. Fußnote 7.
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Die sogenannten philosophischen Grundfragen
einer empirischen Wissenschaft
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Aprioritätscharakter der irreduziblen Reste zurückzuführen:
vermag eine Wissenschaft irgendwelche ihr zweifellos zugehö
rige Bestände mit ihren eigenen Methoden nicht mehr aufzulö
sen, so stehen diese dem übrigen Wissenschaftsinhalt »a priori«
gegenüber; ihre Auflösung muß mit Hilfsmitteln aus einem an
deren, inhaltlich »benachbarten« Wissensgebiete geschehen.
»Apriorität« ist aber stets, wenn auch nicht ein stets richtiger,
Hinweis auf Ursprünge, die man im Philosophischen zu plazie
ren gewohnt ist.
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die mathematischen Konsequenzen dieser Problemgruppen, so
gilt:
ad 1) Der Ausbau der nicht-euklidschen Geometrie als Kon
sequenz der Wirklichkeitsverifikation des Parallelenaxioms ist
zu wohlbekannt, um hier wiederholt werden zu müssen. Ebenso
kann die, wenn auch lange nicht so umwälzende, Entwicklung
der Wahrscheinlichkeitsrechnung hier genannt werden, die
gleichfalls, unbekümmert um den, ihrer Objektivität geltenden,
Streit, dennoch durch ihn befruchtet, ihren Weg genommen
hat.
ad 2) Es ist offenkundig, daß die sub 1) angedeuteten meta
physischen Probleme mit den eigentlichen Axiomsproblemen
im engsten Kontakt stehen. Die Aufstellung der nicht-euklid
schen Geometrie verlangte gleichzeitig eine rein formal
mathematische Überprüfung ihrer Axiome. Die Frage nach der
Verwurzelung der Wahrscheinlichkeit, sei es in der »Ignoranz«
des Subjektes, sei es im »Zufall« des Objektes, führte zu einer
Axiomatisierung ihres rein mathematischen Inhaltes.
Von hier aus beginnt die rein mathematische Behandlung der
philosophischen Bestände. Die Aufstellung der Axiomatik, wie
sie von H ilbert1 durchgeführt wurde, steht allerdings aller
Wirklichkeitsgeltung uninteressiert und neutral gegenüber und
will ausschließlich darlegen, daß ein mathematisches Gebiet,
auf seine irreduziblen axiomatischen Reste richtig skelettiert,
sich aus diesen Resten rekurrent eindeutig wieder aufbauen
lasse; nichtsdestoweniger ist in dieser Konstruktion, sofern sie
die Absichten ihres Schöpfers restlos erfüllt, zumindest unbe
wußt ein über-mathematisches Element enthalten: Die Hil-
bertsche Axiomsmechanik arbeitet nur mit Symbolen, denen
kein anschaulicher Begriff entsprechen soll (allerdings nur
soll); ihr Gesamtsystem entspricht zwar dem Umfang und der
Form nach der Geometrie, aber sie braucht nicht unbedingt mit
geometrischen Vorstellungen erfüllt werden. Sie ist also ein wi
derspruchsfreies System von Dingen schlechthin, die miteinan
der in Beziehung treten und stehen, ist also nicht mehr und nicht
weniger als ein Versuch zu einer, wie man sie wohl nennen
dürfte, »automatischen Logik«, oder ist, wie man wohl in be
zug auf ihre Abstinenz von jeder Wirklichkeitsgeltung sagen
dürfte, erkenntnistheoretisch der Typus einer mathematisch
logischen Skepsis (die ausdrücklich auf eine wirklichkeitsgül
133
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tige Definition des Zahlbegriffes verzichtet).
ad 3) Ein Schritt weiter, und wir befinden uns mitten in der
mathematischen Logistik. In ihr tritt die Mathematik bewußt
und selbstbewußt an die Lösung philosophisch-logischer Fra
gen. Sie nimmt dabei auch jene Probleme auf, die sub 1) und
2) angedeutet wurden. Der Anstoß war in dem Problemkreis
gegeben, aus dem sich die Infinitesimalmethode entwickelt hat,
und in dieser selber gegeben.
Die Infinitesimalmethode als Brücke zwischen dem Diskreten
und dem Stetigen, dem statisch Gegebenen und dem dynamisch
Fließenden hatte die als eindeutig vermeinten Begriffsbildun
gen der Mathematik in eine sonderbare, fast romantische Vag
heit verwandelt. Man hatte eine Methode an [der] Hand, mit der
man wundersames Neuland erschloß, aber man wandelte in ihm,
nicht wissend, woher gekommen, nicht wissend, wohin gehend.
Während Zahlentheorie, Algebra, soweit sie auf ihrem eigenen
Boden standen, immerhin noch ein festes Gefüge zeigten, ver
lor sich die Analysis in der Wunderwelt ihres Traumlandes, ge
führt von einem irrlichternden Funktionsbegriff, für den es kei
nen verbotenen Weg mehr gab; als man diesen Funktionsbe
griff, dem man so lange und mit Glück gefolgt war, endlich
definieren wollte, zeigte sich, daß er zu einer Zuordnung
schlechthin zwischen zwei Dingen zerrann.
Die Schule Cauchys2 hatte bereits kritische Postulate aufge
stellt, die den ungebändigten Fluß in reguliertere Bahnen len
ken sollte, unabhängig von ihr Bolzano, der die künftige Lösung
vorausahnte. Aber erst viel später - wenn auch der Boden von
Du Bois-Reymond3, von Kronecker4 (der als erster den radika
len Versuch zu einer Rückkehr zum reinen Zahlbegriff und sei
nen Eigenschaften macht), von Weierstraß5 und vielen anderen
vorbereitet war - war es Cantor Vorbehalten, mit der Begrün
dung der reinen Mengenlehre den entscheidenden Schritt zu
tun. Mit den Theorien der Mengenlehre war es möglich, dem
Funktionsbegriff eine scharfe, inhaltlich eindeutig erfüllte For
mulierung zu geben; sie gestattete, den Limesbegriff eindeutig
zu begründen, ja noch mehr zu verschärfen und verfeinert zu
zerlegen, und sie erlaubte, dem Integral eine bisher nicht ge
ahnte Präzision zu verleihen. Neben diesen Erfolgen in der rein
mathematischen Sphäre verblaßte fast die eigentliche Großtat
Cantors, die Einführung der transfiniten Kardinal- und Ordi
134
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nalzahlen, als ein metaphysischer Nebenerfolg, obwohl gerade
dieser Einführung die eigentlichen mathematischen Erfolge zu
verdanken sind. Und ebenso wird fast vergessen, daß mit dem
Mengenbegriff, verbunden mit den Cantorschen Erzeugungs
prinzipien, eine eindeutige Definition des Zahlbegriffes einge
führt war.
An der Einführung der transfiniten Zahlen (die überdies von
Cantor mit metaphysischen Bemerkungen begleitet wurde)
mag ersichtlich sein, wie sehr die Bewegung von den »irreduzi
blen Resten« genährt worden ist. Das System des Transfiniten
- in Verbindung mit der Theorie der Häufungspunkte - gibt
Aufschluß über die sachhaltigen Verhältnisse im Kleinen und
Großen, und sie gibt mit der Topologie und Metrik der Punkt
mengen eine Fundamentierung der Raumanschauung.
Mehr aber noch als dieses: mit der Aufstellung des Begriffes
der »Menge« als Kollektionierung von Dingen »gleicher Ei
genschaft (gleicher Gesetzlichkeit)« wurde die Evidenz gege
ben, daß jedes Ding, sei es nun Gedanken- oder reales Ding mit
dem Mengenbegriff abgefaßt werden kann. Die Verknüp
fungstheorien der Mengenlehre ergeben sich damit als die
Theorien aller möglichen, zwischen Dingen überhaupt stattha
benden logischen Verknüpfungen. Der Identifizierung der
Mengenlehre mit der Logik überhaupt schien damit der Weg
gebahnt. Die Auflösung der angeblich irreduziblen Reste durch
rein mathematische Mittel schien also, gegen alle Vorausset-
zung, gelungen zu sein.
Bald aber zeigte es sich, daß der Triumph doch nicht vollstän
dig war, daß man - wie immer in der Wissenschaft - wohl eine
Position erobert hatte, daß sich aber der Feind ungebrochen auf
die nächste zurückgezogen hatte.
Das Unendlichgroße und das Unendlichkleine zeigte sich
durch die transfiniten Zahlen rational erfaßt und lösbar; man
konnte sie nunmehr durch »mathematische Materie«, also, wie
wir sagten, »sachhaltig« erfüllt denken; die Schwierigkeit der
Infinitesimalen kehrte [aber] allsogleich statt in sachhaltiger,
diesmal in methodologischer Form wieder.
Als Symptom dieser Schwierigkeit wurden die sogenannten
Antinomien der Mengenlehre sichtbar. Diese Antinomien: die
Ordnungszahl der Menge aller Ordnungszahlen, die Menge der
Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, weisen vor
135
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allem mit dem Wörtchen »alle« auf eine methodologische
Unendlichkeit hin: es wird mit der Eigenschaftsaussage über
Dinge über jede Grenze hinausgegangen, diese Eigenschaft
also (ähnlich wie die Eigenschaft Zahl-sein) ins Transfinite
übertragen. Dies wäre natürlich noch zulässig. Hier handelt es
sich aber nicht um eine gewöhnliche Eigenschaft (mit Weyl6 zu
sprechen um ein Urteil mit einer Leerstelle), also um eine sta
tische sachhaltige Eigenschaft, sondern um eine »konstru
ierende« Eigenschaft, um eine Relationseigenschaft (ein Urteil
mit mindestens zwei Leerstellen). Mit dieser Art von Eigen
schaften ist der Schritt transfinite von einem Unendlichkeitsbe
reich hinüber zum nächsten nicht mehr zu machen: ich darf Er
zeugungsprinzipien in einem Bereich anwenden, aber es ist mir
nicht mehr gestattet zu behaupten, daß es im übergeordneten
Bereich auch noch derart konstruierte Mengen gäbe. M. a. W.,
die Existenzialurteile sind nicht ohneweiters von der Teilmenge
auf die übergeordnete Muttermenge zu übertragen.
Es erschien daher plausibel, daß Russell7 die Anwendung der
Existenzialurteile auf die jeweilige logische »Stufe« ein
schränkte, das ist also ein Bereich von Mengen, in denen wohl
die Induktion, nicht aber die transfinite Induktion Anwen
dungsnotwendigkeit besitzt. Eine gewisse Vorbereitung zu die
sem Postulat ist wohl in der Russellschen methodologischen
Unterscheidung zwischen Begriff und Menge dieses Begriffes
gegeben; hingegen wird eine ausdrückliche Begründung dieses
sehr plausiblen logischen Postulats aber nicht vollzogen: die
Begründung besteht in der Notwendigkeit, Antinomien auszu
weichen und im gesunden Menschenverstand (der z. B. »ein
sieht«, daß der Begriffstypus »Durchschnittsfranzose« einer
anderen logischen Stufe gehört als das oder jenes wirkliche
Franzosenexemplar). Auch Weyl8, der die Russellsche Stufen
theorie noch wesentlich präzisiert hat, gibt keine Begründung
dieses Sachverhaltes; auch sein Aufbau ist ein Aggregat von
»Vorschriften«: auf eine oder mehrere einzelne Kategorien von
Gegenständen, sogenannte »Grundkategorien« (charakteri
siert durch unmittelbar gegebene oder einzusehende Eigen
schaften oder Relationen) dürfen acht Erzeugungsprinzipien
angewendet werden (wobei angenommen wird, daß sich der
Gesamtmechanismus der Logik durch diese acht Erzeugungs
prinzipien konstituieren läßt). Der durch die Urrelationen -
136
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deren Leerstellen auf die Grundkategorien bezogen werden -
statuierte Mengenbereich wird solcherart zu neuen Bereichen,
Mengen von Mengen enthaltend, erweitert. Es wird jedoch die
Vorschrift gegeben, daß in den neu entstandenen Bereichen die
Leerstellen der Relationen nicht ohneweiters auf alle den Be
reich ausmachenden Elemente, das sind also sowohl Ur-Ele-
mente als bereits die durch die Vorbereiche gebildeten Men
gen, sich beziehen dürfen, sondern daß diese immer wieder auf
Grundkategorien bezogen werden müssen. Die Begründung
der Vorschrift liegt, wie gesagt, auch hier lediglich in der Not
wendigkeit, Antinomien zu vermeiden; daß das Mittel hiezu
auch hinreichend ist, wird durch die Möglichkeit gezeigt, das
Kontinuum mit Hilfe jener Prinzipien aus den natürlichen Zah
len lückenlos entwickeln zu können.
Der Bereich der natürlichen Zahlen wird hier als eine Grund
kategorie eingeführt, die zusammen mit ihrer die Induktion an
zeigenden Grundrelation F (des Aufeinanderfolgens der Ele
mente) jedem Operationsbereich einer mathematischen
Disziplin assoziiert wird. Die natürliche Zahl wird also durch
den Begriff des »Folgens« definiert; ihre ausgezeichnete Stel
lung im Aufbau der Mathematik aber wird durch ihre »Auf-
findbarkeit« in jeder mathematischen Disziplin angezeigt. Mit
dieser Fassung des Zahlbegriffes - analytisch aus dem Mengen
begriff, synthetisch die Menge als Folge konstituierend - bringt
Weyl die Definition Russells, mittelbar also die Ansätze Fre-
gesy, auf eine sehr knappe Formel. Die Identifikation der
Mathematik mit der Logik bleibt als eine der unwandelbaren
Errungenschaften der Mengenlehre bestehen.
Es ist kein Zweifel, daß unter dem Zwang der Antinomien der
Schritt von der reinen Mengenlehre zur Stufenlehre Russell-
Weyls gemacht werden mußte. Der Mathematiker wird den
Schritt aber nur mit Widerwillen tun. Er wird gegen diese ganze
logisierende, oftmals philosophierende Methode den Vorwurf
erheben, unmathematisch zu sein und wird diese Unmathema
tik auf die Mengenlehre zurückprojizieren, aus der sie ja eben
notwendig entstanden ist.
Geht man diesem Unbehagen des Mathematikers auf seine
Wurzeln nach, so wird man in ihm die Abneigung des gesunden
Menschenverstandes gegen alles Philosophische im Leben fin
den. Eine Fachwissenschaft, ja selbst die Philosophie, wird wie
137
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jedes andere menschliche Gewerbe realistisch betrieben, d. h.
der Mensch muß das Objekt seines Tuns als real voraussetzen,
da es ihn sonst überhaupt nicht mehr interessiert. Der reine
Mathematiker beschäftigt sich demnach überhaupt nicht mit
den sub 1) vorgelegten Fragen; er setzt die Existenz seiner
Zahlenobjekte ebenso real voraus, wie der Physiker seine Ex
perimentsubstrate und der Biologe die Existenz von Lebewe
sen. Dieser Forderung nach Realität entspricht gerade noch die
Mengenlehre, immerhin aber doch in so auffallender Weise,
daß Poincare10 übertreibend von ihr sagen konnte: »Für den
Realisten existierte die Welt schon vor Erschaffung des Men
schen, sogar ehe Gott an irgendein denkendes Wesen dachte.
Und die Cantorianer sind selbst Realisten in bezug auf die G e
bilde der Mathematik; diese Gebilde haben für sie eine selb
ständige Existenz; der Mathematiker erfindet sie nicht, er ent
deckt sie. Und da diese Gebilde in unendlicher Zahl vorhanden
sind, so glauben diese Realisten fester an das Unendliche als die
Idealisten; ihr Unendlich ist kein Werden, denn es existierte,
ehe der menschliche Geist es entdeckte. Sie glauben also an das
Aktual-Unendliche, mögen sie es zugeben oder nicht.«11
Es mag dahingestellt sein, ob Poincare bei diesem Urteil die
»Erzeugung« der Cantorschen Mengen einfach übersehen hat.
Wohl aber steht fest, daß auch die Frege-Russellsche Logistik
den »Cantorismus« als ein Gebilde betrachtet, dessen Antino
mien aus seinem realistischen Charakter entstanden sind, und
das daher auf idealistischem Wege, nämlich durch die auf We
sensschau und sonst auf volle Freiheit begründete Einführung
von »Konstruktionsprinzipien« korrigiert werden müsse. Daß
sich hinter jeder »Intuition«, wie Poincare wittert, erst recht ein
Realismus verbirgt, kann vorderhand außer Betracht gelassen
werden: wichtig ist, daß durch die Einführung der »freien«
Konstruktionsprinzipien ein sozusagen subjektives (und auch
metaphysizierendes zu den Fragen sub 1) Stellung nehmendes)
Moment in die Mathematik eingeführt ist, daß mit ihm die
Mathematik daran geht, den zahlenmäßigen Sachbestand in ei
nen funktionellen Erzeugungsbestand aufzulösen, nicht anders
als die Infinitesimalrechnung, allerdings in weit größerem Um
fange und mit weit größerer Amplitude, es mit dem überkom
menen starren System der Antike machte.
Der gesunde Menschenverstand des Durchschnittmathemati
138
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kers wehrt sich, wie gesagt aus Gründen der Realistik, derartige
»subjektive Momente« im objektiven Bestand seiner Materie
[anzuerkennen]. Und er wird in diesem Mißtrauen noch ver
stärkt durch die philosophische Einkleidung der neuen Theo
rien. Er nimmt gegen sie beiläufig die gleiche Stellung ein wie
Poggendorffs Annalen12, welche Helmholtz’ Aufsatz über die
Erhaltung der Kraft als zu philosophisch und daher als zu un
physikalisch zurückgewiesen haben; für ihn ist dies Unmathe
matik.
Überflüssig aber zu betonen, daß philosophische Besinnung
insolange nicht Unmathematik geschmäht werden darf, als sie
im eigentlich mathematischen Aufbau nicht als rationales Glied
mitverwendet wird, sondern wie hier [als] richtunggebende
Überlegung und als Überblick über das eigene Tun wirkt.
Es war daher angezeigt [, sie], soweit sie sich mit Philosophie
der Mathematik beschäftigt, oder eine solche zu sein vermeint,
zu jenen Strebungen zu rechnen, welche die Fragen mit rein
mathematischen Mitteln zu lösen versuchen. (Daß daneben von
den Logistikern und anderen Mathematikern philosophische
Untersuchungen angestellt werden, hatte an dieser Stelle vor
derhand außer Betracht zu bleiben.)
a) Der Positivismus
Positivismus und Idealismus sind in dem Bestreben einig, eine
ametaphysische, hypothesenfreie Erkenntnistheorie aufzustel
len. Das Beobachtungsobjekt für sie beide ist das Gebiet der
empirischen Wissenschaften; beide nehmen an, daß es Wirk
lichkeit und Erkenntnis von Wirklichkeit nur als wissenschaftli
che Erkenntnis gibt. Aber sie scheiden sich gegensätzlich in der
Bestimmung des Erkenntnissubjektes: Ist das Erkenntnisob
jekt des Idealismus das Ich schlechthin, so darf der Positivist -
den Blick ausschließlich auf die empirische Tatsachenwelt ge
richtet - im Empirischen bloß ein einziges, für ihn legales Er
kenntnissubjekt anerkennen, nämlich den empirischen Men
schen, der für den Idealismus höchstens als Subjekt in der
Psychologie fungieren kann.
Mit dieser Scheidung des Erkenntnissubjektes schied sich
139
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auch die erkenntnistheoretische Grundfrage des Positivismus
von der des Idealismus. Lautet sie für diesen: »In welcher Form
ist Wissenschaft möglich?« so für jene: »Welche Erkenntnis ist
wirklichkeitstreu?« Der Begriff der Wirklichkeit ist dem Ich
gegenüber m üßig- Wirklichkeit gibt es nur um den Menschen.
Die so gefaßte Stellung des Wirklichkeitsproblems zeigt an,
welch tiefe, unüberbrückbare Kluft zwischen dem »reinen«
Idealismus und allen »andern« sich befindet. Mit einiger Be
rechtigungdarf dies »alles andere« mit Positivismus bezeichnet
werden: unter seiner Flagge in ungezählten Nuancierungen se
geln wirklich die meisten gemeinten Systeme; und für die ande
ren ist die Berechtigung der Benennung unschwer nachzuwei
sen, daß ihnen keinesfalls etwa gar die Benennung Idealismus
zukommt. Es ist dies um so erforderlicher, als der Positivismus
doch nicht jeden Kritizismusses bar ist und auch auf empiri
schem Wege finden mußte, daß die Erkenntnis subjektive Ele
mente enthalte. Eine ganze Reihe derartiger empirischer Idea
lismen hat sich solcherart gebildet: sie alle sind dadurch zu
charakterisieren, daß sie die »Subjektivität« der Erkenntnis
dem empirischen Menschen zuschreiben, daß sie einem G e
hirn-Idealismus, also einem Pseudo-Idealismus, zustreben, der
in letzter Rigorosität Solipsismus heißt.
Der Positivismus ist an den Begriff »Wirklichkeit« gebunden,
die er skeptisch mehr oder minder relativieren kann, auf die [er]
aber immer wieder reflektieren muß. Er umfaßt also in sich alle
Systeme, die zwischen naivem Realismus einerseits und Solip
sismus andererseits plaziert werden können. Man könnte sie
unter diesem Aspekt ihren Möglichkeiten nach gliedern, etwa:
nach dem ontischen Gehalt des Objektes: vom Materialismus,
etwa über den Energetismus, zum Spiritualismus (z. B. Vo
luntarismus);
nach dem Zweck der Erkenntnis: von der reinen Erkenntnis
passivität zum Pragmatismus;
nach dem Wahrheitsgehalt der Erkenntnis: von der unbeding
ten Abbildung, etwa über die »Empfindungswelt«, bis zum
Relativismus;
nach der Methode der Erkenntnis: von der einfachen Apper
zeption bis zum Fiktionalismus (z. B. der Spezialfall des
Denkens nach dem kleinsten Kraftausmaß);
nach der Gesetzlichkeit des Erkennens: von der Naturgesetz-
140
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lichkeit im Objekt bis zum Psychologismus im Subjekt.
Daß diese simplifizierten Schemen in den mannigfachsten
Kreuzungen und Kombinationen in den verschiedenen Syste
men auftreten und durch weitere Exempel ins Unendliche ver
mehrt werden können, liegt auf der Hand. Der Fiktionalismus
ist z. B. solcherart eine Kombination aus dem methodologi
schen Fiktionsbegriff mit einem stark skeptisch gefärbten Spiri
tualismus pragmatischer Tendenz usf. All die Empirio-Kritizis-
men, Ideal-Realismen, Ideal-Positivismen und wie sie alle
heißen, lassen sich mit geringer Mühe in die Rubriken unseres
Schemas aufteilen und aus ihnen zusammensetzen.
Eines aber ist all diesen zusammensetzenden Elementen ge
meinsam, seien sie nun auf die Weltinhalte als solche direkt me
taphysisch bezogen, seien sie als Theorie über die Denkfunk
tion gegeben, seien sie ein Urteil über den Wahrheitsgehalt des
Erkenntnisbildes: sie alle reflektieren letzten Endes aus
schließlich auf den Inhalt der Erkenntnis als jenen Inhalt, der
sich schließlich im Begriff »Wirklichkeit der Welt«, also als
Wirklichkeit ihrer Inhalte, begreift und als solcher von der phi
losophischen Betrachtung nichts anderes abverlangen kann als
metaphysische Ausdeutung.
Im Grunde genommen hat also der Positivismus, so ideali
stisch und kritizistisch er sich auch manchmal gebärdet, immer
noch die engste Verwandtschaft und Bindung mit dem naiven
Realismus und Materialismus. Er mag wohl zur Einsicht ge
kommen sein, daß die dem Menschen gegebenen Weltinhalte
nicht ohneweiters mit der Wirklichkeit zu identifizieren sind, er
mag diese Inhalte auf Empfindungsinhalte oder auf pragma
tische Verfälschungen, Konstruktionen oder Fiktionen umtau
fen, das Fazit bleibt immer das gleiche: erkenntnistheoretisch
wird dem Menschen die legendäre Welt und ihre noch legendä
rere Wirklichkeit gegenübergestellt und je nach der kritischen
Höhe dekretiert, daß diese Wirklichkeit sich zur Gänze oder
teilweise oder überhaupt nicht adäquat im Kopfe des Erkennt
nissubjektes wiederfinde. Es ist eines der sonderbarsten Phä
nomene der Geistesgeschichte, daß der Positivismus, der die
Voraussetzungslosigkeit auf seine Fahne geschrieben hat, es
übersieht, daß auch eine negierende Aussage eine Aussage ist,
und daß er mit der Unerkennbarkeit der Wirklichkeit von die
ser genau so viel behauptet wie der naive Materialist, welcher
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allen seinen Wirklichkeitserkenntnissen ontischen Wert bei
mißt. Und daß es unter diesem Aspekt völlig gleichgültig ist, ob
man sich erkenntnistheoretisch mit der vermeintlichen Wirk
lichkeit als solcher direkt befaßt oder mit einer solchen, die
etwa auf Empfindungswelt umgetauft ist. Es ist unter diesen
Umständen verständlich, daß der Positivismus das erkenntnis
theoretische Problem rein dualistisch auffaßt. Die Gegenüber
stellung von Denken und Wirklichkeit wird ihm zu einem
Zwiespalt im Sachlichen, zu einem Zwiespalt zwischen Mensch
und Welt, den er nur dann überbrücken kann, wenn er, mehr
oder minder versteckt, einem materialistischen Monismus
[sich] hingibt, etwa die Materie beseelt, oder eingestanden oder
nicht eingestanden, die ärgste aller Hypothesen, die vorausset
zungsvollste aller Voraussetzungen, die metaphysischeste aller
Metaphysiken, nämlich die Intuition heranzieht, so und so aber
zum Mystiker wird. Daß der Positivismus Diltheys sich zur In
tuition bekennen mußte, ist ein Zeichen seiner wissenschaftli
chen Ehrlichkeit; daß der Positivismus Comtes und Saint-Si-
mons13schließlich im Mystizismus endigte, ist alles andere denn
ein Wunder.
Ein Einwand muß nun an dieser Stelle gleich erledigt werden:
es scheint fast, daß auch dem kritischen Idealismus der Vorwurf
des Intuitionismus nicht erspart werden könne. Es ist leichthin
zu vertreten, daß mit Hinzusetzung des Wörtchens »rein« fak
tisch noch nichts gewonnen sei und daß etwa »reine Anschau
ung« und »reine Erfahrung« ebenso typische Objekte der In
tuition seien, wie jeder Weltinhalt, der vom Positivismus ohne
weitere dialektische Verklausulierung ehrlich intuitiv erfaßt
sein will. Und selbst, wenn man jene Begriffskonstruktionen
aus dem System des Idealismus als überflüssige Hilfslinien völ
lig ausmerzen wollte, so bliebe dennoch der reine Logos übrig,
der einzige Erkenntnisgrund des Idealismus, und [die Tatsache,
daß] das Wissen um ihn nur auf Grund einer Ur-Intuition erfol
gen könne.
Dieser Einwand, soweit er den reinen Logos betrifft, besteht
zu Recht. Es hieße die Welträtsel gelöst zu haben, könnte eine
Philosophie das Wunder des Bewußtseins überhaupt im Ratio
nalen auseinanderlegen. Aber das Bewußtsein überhaupt, die
Tatsache des Denkens ist zugleich die letzte und vorausset
zungsloseste Tatsache des Denkens, und hinter sie kann nicht
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zurückgegangen werden. Die Intuition, mit der sie erfaßt wird,
ist von ganz anderer Art oder richtiger von ganz anderem
Zweck als jene, mit welcher der Intuitionismus operiert: sie ist
nicht aufbauendes Element im System der rationalen Wissen
schaft, die zu sein Aufgabe der Philosophie ist, sie tritt vielmehr,
als einmal anerkannte Voraussetzung, in dieser Wissenschaft
überhaupt nicht mehr zu Tage. Sie ist überhaupt nicht Angele
genheit dieser Wissenschaft, sondern Angelegenheit des die
Wissenschaft betreibenden Menschen, sie ist vielleicht sein
persönlichstes Manko, aber sie fällt zusammen mit seiner Per
son aus der Wissenschaft, ist das Werk vollbracht, wieder her
aus. Anders der intuitionistische Positivismus: da er die Ur-In-
tuition des Logos ignoriert, den idealistischen Weg der
Deduktion aus dem Logos als leere und metaphysizierende
Dialektik ablehnt, nichtsdestoweniger aber zur philosophi
schen Einheit der Erkenntnis fortschreiten will, so muß er ver
suchen, diese Einheit aus den sozusagen positiven Weltinhalten
zu erschließen. Er hat dabei das für ihn unverhoffte Glück, die
Weltinhalte in Gestalt von Einzelwissenschaften vorliegen zu
haben, von denen sich manche, wie eben etwa die Mathematik,
durch Skelettierung auf gewisse, unreduzible Grundlagen zu
rückführen lassen. Diese unreduziblen Grundlagen haben nun
allerdings aprioristisches Aussehen und zwingen zur Herstel
lung einer Verbindung mit dem Erkenntnissubjekt. Und schal
tet man dann auch noch so viel Zwischenerklärungen und Zwi
schenglieder ein, um das Erkenntnissubjekt, wenn schon nicht
zu eliminieren, so doch wenigstens zu verstecken, rekurriere
man also wie immer auf das Prinzip der maximalen Ökonomie
für diese Grundlagen oder auf psychologische Gesetze, es bleibt
für einen logischen Verstand letzten Endes dann doch nur die
Intuition übrig, die das Rätsel der Erfassung der unreduziblen
Reste zu übernehmen hat. An unendlich vielen Punkten wird
die Intuition dem logisch-philosophischen Gebäude eingefügt,
immer dort, wo der rein logische Ziegel fehlt, sie wirkt in ihm
als ein beständig und bewußt angewandtes Instrument und
Agens, statt wie im Idealismus nach Erledigung des ersten An
satzes ein für allemal eliminiert zu werden und zu bleiben.
Diese Kritik des positivistischen Standpunktes, welche hier in
kurzen Zügen angedeutet wurde, ist im Rahmen der idealisti
schen Philosophie so eingehend begründet worden, daß sich
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hier eine weitere Ausführung erübrigt. Es galt auch bloß, eine
Übersicht über die Probleme zu gewinnen. Nichtsdestoweniger
soll auf einen gewichtigen, möglichen Einwand hingewiesen
werden, nämlich auf die Autorität der großen Forscher, deren
Namen den Positivismus tragen. Nicht der historisierende Posi
tivismus eines Comte und eines Spencer ist hiebei von solcher
Bedeutung, als die positivistischen Systeme und Gedanken ei
nes Mach und eines Helmholtz, ja vielleicht sogar eines Düh-
ring14. Und es ist dies um so bemerkenswerter, als z. B. Helm
holtz aus der klassischen Schule des Idealismus hervorgegangen
ist und sich sogar, allerdings eben mit einer gewissen Verfär
bung des Tatbestandes, stets einen Kantianer genannt hat. Es
können also, so mag eingewendet werden, die aufgewiesenen
scheinbaren Schwächen des Positivismus nicht stichhältig genug
sein, um ihn zu Gunsten des reinen Idealismus abzudanken.
Zur Erklärung dieser immerhin bedeutsamen Tatsache sind
eher persönliche und historische denn sachliche Momente her
anzuziehen. Es versteht sich vor allem, daß ein den positiven
Wissenschaften hingegebener Forscher vor allem von seinem
eigenen Wissensgebiet Aufklärungen erwartet, dies auch in
Fragen, die eigentlich über dieses Wissensgebiet hinausreichen.
Sein Blick ist also von allem Anbeginn an positivistisch gerich
tet. Er wird ferner mit einer gewissen Verachtung auf die zu
meist höchst dilettantischen Versuche schauen, mit denen der
»reine Philosoph« nicht nur in sein, sondern womöglich [inj je
des Spezialfach der Wissenschaft hineinzugreifen trachtet,
Versuche, die ihm, wenn er noch so milde ist, feuilletonistisch,
fast sogar journalistenhaft anmuten müssen, wenn er seine ei
gene, mühevolle, geduldige Facharbeit dagegen betrachtet.
Die Diskreditierung der reinen Spekulation darf zum großen
Teil auf dieses Konto geschrieben werden. Dazu kommen noch
gewisse logische Schwächen der idealistischen Konstruktion als
solche, über welche späterhin noch zu reden sein wird. Im sach
lichen Belange aber täuschen die Aprioritäten und Subjektivis
men, die, wie gezeigt, auch im Positivismus, soferne er halbwegs
kritisch ist, ihren Platz behaupten, einen sozusagen scheinbaren
Idealismus vor, welcher, wie bei Helmholtz, leicht verleitet, ihn
mit dem Idealismus schlechthin zu verwechseln. Und schließ
lich noch eines: der kritische Idealismus, der, seiner Weisung
und Sendung treu, wirklich ametaphysisch ist, ist rein auf die
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Form der Weltgegebenheit verwiesen, kann und darf sich also
nicht mit dem, was man gemeiniglich als »Inhalte« benennt, be
fassen. Er hat also scheinbar, allerdings nur scheinbar, ein sehr
begrenztes Wirksamkeitsgebiet, denn die Erfassung des Inhal
tes durch die formschaffende Methode mag für den ersten Blick
in der Mathematik noch angehen, sie wird aber vor der Fülle
der Weltinhalte, so scheint es eben, sicherlich versagen müssen.
Es mag daher auch nicht verwunderlich sein, daß der Positivis
mus aus jener Wissenschaft hervorgewachsen ist, in der die
Fülle des Geschehens und der Weltinhalte am sichtbarsten
wirkt, nämlich aus der Historie. Und ebenso mag es nicht ver
wunderlich scheinen, daß auch der positive Naturwissenschaft
ler, der in seinem eigenen Fach durchaus es mit Inhalten, nicht
mit Formen zu tun hat, sich, drängt ihn philosophisches Streben
nach Zusammenfassung, auf jenen, eben positivistischen Weg
begibt, der ihm in der Gesamtheit das verspricht, was ihm in den
Grenzen seiner Fachwissenschaft deren Inhalte bedeuten.
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3 Paul Du Bois-Reymond (1831-1889), deutscher Mathematiker. Seine A r
beiten beziehen sich besonders auf die Integration der partiellen Differential
gleichungen und die Fourierschen Reihen. Vgl. Über die Grundlagen der Er
kenntnis in den exakten Wissenschaften (Tübingen 1890).
4 Leopold Kronecker (1823-1891), deutscher Mathematiker; arbeitete auf
dem Gebiet der Systematisierung der Algebra. Vlg. Grundzüge einer rein
arithmetischen Theorie der algebraischen Größen (Berlin 1882) und Zahlen
theorie (Leipzig 1901). Er versuchte, die Irrationalzahlen vollständig aus der
Analysis zu verbannen und alles auf ganze Zahlen zurückzuführen. Mit Wei
erstraß und später allein gab er Grelles Journal für die reine und angewandte
Mathematik heraus, eine Zeitschrift, die Broch las und in seinem Roman Die
Unbekannte Größe erwähnt.
5 Karl Weierstraß (1815-1897), deutscher Mathematiker; arbeitete auf dem
Gebiet der Funktionentheorie. Vgl. Karl Weierstraß, Mathematische Werke
(6 Bde. Berlin 1894-1915).
6 Hermann Weyl (1885-1955), Schweizer Mathematiker. Vgl. Philosophie der
Mathematik und Naturwissenschaft (München und Berlin 1927), Kapitel 1
»Relationen und ihre Verknüpfung. Struktur der Urteile«, S. 4r7. (Mit Weyl
stand Broch während seines amerikanischen Exils auch in persönlicher Ver
bindung.)
7 Bertrand Russell (1872-1970). Vgl. Problems of Philosophy (New York,
London o. J.), Chapters VII und XII; ferner; Our Knowledge of the External
World (Chicago, London 1915), Lecture II.
8 H. Weyl, Das Kontinuum. Kritische Untersuchungen über die Grundlagen der
Analysis (Berlin u. Leipzig 1918), besonders S. 19 u. 30.
9 GottlobFrege (1848-1925),deutscher Mathematiker und Logiker. Schuf ne
ben G. Boole die Grundlagen der Logistik, indem er die Gedankengänge
Bolzanos fortführte; faßte den Begriff als Funktion mit einer oder mehreren
Variablen. Den Funktionen (Begriffen) stellt Frege die »Gegenstände«, die
für diese Funktionen wahre oder falsche Werte sind, gegenüber. Russell
knüpft z. T. an Frege an. Vgl. G. F., Begriffsschrift, eine der arithmetischen nach
gebildete Formelsprache des reinen Denkens (1879).
10 Henri Poincare (1853-1912), frz. Mathematiker. Beschäftigte sich besonders
mit der Frage der Herkunft der wissenschaftlichen Grundüberzeugung.
11 H. Poincare, Wissenschaft und Methode. Autorisierte deutsche Ausgabe mit
Erläuterungen von F. und L. Lindemann (Leipzig, Berlin 1914), S. 279. (Das
Zitat stammt aus den »Erläuternden Anmerkungen« von F. Lindemann.)
12 Johann Christian Poggendorff (1796-1877), deutscher Physiker. Gab seit
1824 die Annalen der Physik und Chemie heraus.
13 Claude Henri Saint-Simon (1760-1825). Vgl. Nouveau Christianisme (1825).
14 Eugen Dühring (1833-1921), deutscher Philosoph und Volkswirtschaftler,
Materialist. Vgl. Logik und Wissenschaftstheorie (1878).
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Z u r G eschichte d er Philosophie
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rabel wie die beiden absurden Extremfälle Solipsismus und
Materialismus es auch tatsächlich sind.
Man braucht sich nicht auf die inhaltliche Absurdität des Ma
terialismus und des Solipsismus berufen, um zu erkennen, daß
eine radikale Aufspaltung der geistigen Tendenzen in zwei po
lare sinnlos ist. Weder gibt es, noch gab es je eine »reine« Philo
sophie, die nicht Bedacht auf den Realgehalt der Welt, also auf
die empirische Forschung genommen hätte, noch gab es Wis
senschaft - als Ganzes genommen - die nicht mit »Vernünftig
keitsurteilen« operiert hätte, also nicht irgendwo über den em
pirischen Bestand hinausgegriffen und Anleihen bei der
sogenannten Apriorität der Dialektik gemacht hätte. Dazu wa
ren »Wissenschaft« und »Philosophie« viel zu lange zur Einheit
verschmolzen, zu einer Einheit, die tausende von Jahren währte
und erst im 16. Jahrhundert - und vielleicht bloß scheinbar -
sich zu lockern begann.
Wenn man nun trotzdem, sowohl im Ganzen des Geistesle
bens als in einzelnen seiner Teilabläufe jene idealistisch-positi
vistische, positivistisch-idealistische Wellenbewegung zu er
kennenvermag, so handelt es sich immer um Mischformen und
um die Prävalenz, sei es des einen, sei es des anderen der beiden
Momente innerhalb der Mischformen. Man kann die Periode
des Platonismus, die seit zweitausend Jahren währt, und so
lange als es christliche Religion gibt und vielleicht noch darüber
währen wird, als den idealistischen Wellenberg nach dem vor
hergehenden eleatischen Physizismus betrachten, man kann in
nerhalb des Platonismus selbst die wechselnde Phasenverschie
bung zwischen der rein idealistischen Richtung und dem
Aristotelismus betrachten, kann betrachten, wie sich dieses
Spiel innerhalb der stoischen oder christlichen Teilperiode wie
derholt. Aber nicht minder ist dieses Spiel in der vorplatoni
schen griechischen Philosophie und in allen jenen religiösen
Bewegungen des Altertums zu beobachten, die wie etwa das
alexandrinische Judentum oder die Mithrasreligion nach lang
dauernden dogmatisch-metaphysischen Perioden im Platonis
mus endigten.
Es ist selbstverständlich kein Zufall, daß der Platonismus für
die religiösen Anstrengungen der Menschheit so unerhört auf
nahmsbereit gewesen ist, und daß aus seinem Schoß das größte
geistige Geschehen des Abendlandes, die Christianisierung,
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sich entwickeln konnte. Wie schon angedeutet, ist auch inner
halb jeder engeren religiösen Bewegung der idealistisch-positi
vistische Wellenschlag wahrzunehmen, wenn auch naturgemäß
hier der empiristisch-naturwissenschaftliche Einschlag nur
höchst eingeschränkt zur Geltung kommt und die positivi
stische Phase einen anderen Charakter annimmt. Denn an der
Wiege des Religiösen stehen —aus der Angst der Kreatur gebo
ren - die beiden gleichen Urprinzipien: die Einsamkeit des Ichs
und die Frage »woher die Welt?« mit der gemeinsamen Erlö
sung und Antwort: Gott. Und es wird einerseits zum mystischen
Aufschwung zu Gott, andererseits zur Kosmogonie.
Zweifellos stehen die Kosmogonien stark unter empiristisch-
naturalistischen Direktiven, und die Ansicht, daß sie den Aus
gang der naturwissenschaftlichen Empirie darstellen, ist
scheinbar nicht abzuweisen, so daß man verleitet sein könnte
- akzeptiert man für die religiöse Entwicklung die idealistisch
realistische Wellenbewegung - , einen Wechsel von kosmogo-
nischen und mystischen Phasen anzunehmen. Dies würde aber
den wahren Sachverhalt bloß in einem sehr eingegrenzten Sinne
treffen. Denn der mystische Aufschwung, der am Eingang jeder
religiösen Bewegung und jeder religiösen Erneuerung steht,
besteht nicht im schweigenden Versenken in den Gott, im
stummen Hinströmen ins All - diese Mystik des erleuchteten
Subjektes bleibt auf das Subjekt beschränkt und ist nicht reli
gionsbildend - , sondern sie verlangt als notwendiges Korrelat
die rationale, logische Legitimierung, die »Glaubhaftmachung«
des mystischen Erlebnisses. Dieses Korrelat kann aber bloß
durch eine Gesamtanschauung der Welt erfließen, durch eine
Gesamtanschauung, die die Möglichkeit dartut, wie die Welt
und der Mensch in seinem Gesamtcharakter aus dem göttlichen
Urprinzip abzuleiten ist. Das mystische Erlebnis verlangt also
nach der Kosmogonie, m. a. W. nach der logisch-dialektischen
Entwicklung des Alls aus sich selbst, und von hier aus gesehen
sind die Kosmogonien alles andere denn Naturalismus, obwohl
sie die Initiatoren - allerdings eben die antithetischen - der Na
turwissenschaften sind und mit ihnen die nüchterne, unpathe
tische Form des Logischen teilen, nicht anders wie sie vom Pri
mitiven (wie vom Kinde) mit ebensolcher Nüchternheit gehört
und begehrt werden, nicht anders wie naturwissenschaftliche
Resultate vom sogenannt Gebildeten. Was die Kosmogonien so
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völlig, ja geradezu antithetisch von den Naturwissenschaften
unterscheidet, ist ihre dialektische Wurzel. Sie sind dialektische
Konstruktionen, sind Versuche, die Frage »was ist die Welt?«
mit der Errichtung eines einzigen, vernunftgeborenen Gedan
kengebäudes, das alle logischen Hilfsmittel der Epoche zu sei
ner Konstruktion heranzieht, zu beantworten. Und so zeigt es
sich, daß die dialektischen Kosmogonien nicht minder dem
idealistischen Kreis verhaftet sind wie das mystische Erlebnis,
mit dem gemeinsam sie aus der idealistischen Grundeinstellung
erfließen, so daß diese, wie bereits angedeutet, von hier aus ge
radezu mit der religiösen zu identifizieren ist.
Die religiöse Entwicklung erhält solcherart ihr eigentümliches
Gepräge. Immer wieder leuchtet das große mystisch-kosmogo-
nische Geschehen auf. Die Horusreligion Ägyptens, die jüdi
sche Gnosis und das Vorchristentum, der neuplatonische Mi-
thraismus - sie sind alle Zeugen tiefgreifender Aufwühlung und
weitfassender Neubildung der Anschauungen über den Kos
mos. Gewiß handelte es sich in jenen Zeiten bloß zum gering
sten Teil um ontologische Kosmogonien; es waren Kosmogo
nien des Moralischen. Denn die Problematik des antiken
Menschen war weit weniger eine ontische als eine ethische: die
Angst vor der Unbegreiflichkeit der Welt führte weit weniger
zu dem Bestreben, die Unbegreiflichkeit in Begreiflichkeit zu
verwandeln, als zum Bestreben, eine Instanz zu finden, die den
Menschen vor dem Unbegreiflichen zu schützen vermöchte.
Jede Kosmogonie, auch die primitivste, verquickt aufs engste
ontische und ethische Elemente - noch in der Kosmogonie des
Spinoza zeigt sich solche Verquickung in aller Deutlichkeit - ,
aber das ethische Element zeigte sich für die Antike wesentlich
entwicklungsfähiger als das ontologische. Dazu mag nicht we
nig beigetragen haben, daß die metaphysischen Bedürfnisse
weitgehend vom Aristotelismus befriedigt waren und befriedigt
sein mußten, weil sein System sich ins platonische einfügte und
von ihm getragen wurde, der Platonismus es aber war, der all
diesen Strebungen Form und Richtung zu geben vermochte.
Hinzu trat aber noch eine weitere Leistung des Platonismus.
Jede mystische und kosmogonische Periode endigt in einer
Art Übermüdung. Diese Übermüdung ist - von allen übrigen
äußeren Umständen abgesehen - keine rein psychische; sie hat
einen sehr realen logischen Kern. Betrachtet man bloß den on
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tologischen Kern der Kosmogonien, an denen dies besonders
sichtbar wird, so braucht man kein Freidenker zu sein, um ein
zusehen, daß sie einer rationalen Kritik schwer standhalten.
Dialektik wird der Wirklichkeit niemals gerecht. Es ist der
Punkt, wo sich die empirisch-naturwissenschaftliche Betrach
tung von der kosmogonischen abzuspalten beginnt. Die reli
giöse Entwicklung nimmt aber an dieser Abspaltung nur zum
geringsten Maße teil. Drängt die Insuffizienz dialektischer
Konstruktionen vom Idealismus weg und zu einem nüchternen
Positivismus, so ist der religiöse Positivismus doch wesentlich
anderer Art als der naturwissenschaftliche, mit dem er bloß den
reaktiven Charakter gemein hat. Richtet sich aber diese Reak
tion gegen den idealistischen Pol, so vermag das Religiöse doch
seine eigene idealistische Wesenheit nie zu verleugnen, ohne
einfach irreligiös zu werden. Hieraus erklärt sich die sonderbare
und oftmals fast unverständliche Kompliziertheit der religiösen
Entwicklung, die den bon sens des religiösen Positivismus nicht
zur Kritik im eigentlichen Sinne, wie dies sonst für den bon sens
die Regel ist, sondern zum Gegenteil der Kritik, zum Dogma
tismus führt.
Den religiösen Dogmatismus als religiösen Positivismus zu
bezeichnen, liegt nicht fernab. Schließlich enthält jeder Positi
vismus in seinen erkenntnistheoretischen Grundlagen dogma
tische Elemente. Unter religiösem Dogmatismus aber wird et
was Spezielles verstanden. Im allgemeinen bedeutet Positivis
mus Hinwendung zum empirischen Objekt: das Objekt des
Religiösen kann aber immer nur wieder die Religion sein. Reli
gion, soweit sie empirisch ist, ist aber Überlieferung, Glaubens
und Moralsatzung und Kosmogonie. Jede empiristische Phase
der Gläubigkeit bedeutet Befassung mit dem empirischen
Glauben in seiner überkommenen Form, wird also im weiteren
Sinne zur Theologie. Jede Wendung [zum] Objekt, jedes »Stu
dium« des Objektes verlangt aber trotz alldem Kritik, denn dies
ist die Form des Rationalen: und auch eine positivistische Pe
riode des Religiösen kann nicht der Kritik entraten, entsteht sie
ja geradezu in Kritik eines vorhergehenden Mystizismus.
Hier nun entwickelt sich ein höchst eigentümlicher Ablauf des
Geistigen. Es wurde bereits erwähnt, daß die ursprünglichen
Kosmogonien als durchaus nüchterne und logische Gedanken
konstruktion zu betrachten sind und daß ihre Plausibilität und
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Akzeptierung zum allerwenigsten als mystische Schau, sondern
in ebensolcher logischer Nüchternheit erfolgte. Diese logische
Überzeugungskraft ging aber mit der Differenzierung der logi
schen Kraft verloren: die Glaubenssetzungen und Kosmogo-
nien wurden rational unglaubwürdig und anzweifelbar. Und
hier setzte etwas ein, was für alle geistige Entwicklung und nicht
nur für die religiöse eigentümlich ist: eine Wahrheit, die ein
stens einfache nüchterne Wahrheit war, die aber einer vorge
schrittenen Logizität nicht standhalten kann, trotzdem aber
nicht fallengelassen werden soll, wird mit einem neuen, mit
»mythischem« Sinn erfüllt. Keine Materie aber war so präde
stiniert zur Mythisierung wie die religiöse, weil es ja eben bei
ihr darauf ankam, sie zu konservieren. Es ist erstaunlich, mit
wieviel Unglauben die Funktion der Religion aufrecht erhalten
wird und wieviel Energie trotzdem darauf verwandt wird, im
mer wieder davon zeugend, daß die religiöse Sehnsucht, so sel
ten sie auch befriedigt wird, eine unerhörte Bewegungskraft für
die menschliche Seele besitzt. Alle theologischen Perioden
sind, paradox gesprochen, ungläubig, und alle geistigen Kräfte,
die in ihr wirksam sind, scheinen es bloß auf einen Zweck hin
angelegt zu haben: den Enkeln eine glücklichere Zukunft vor
zubereiten und ihnen den Weg zur neuen Gläubigkeit zu eröff
nen.
Und hier zeigt sich nochmals die Macht des Platonismus. Er
hatte - und nicht zuletzt im Wege der Religion - den antiken
Menschen gelehrt, die Irrealität des Wirklichen zu erfassen und
ein höhergeordnetes Abbild und Urbild darüber zu setzen. Die
mannigfachen Wandlungen und teilweise Vergröberungen,
welche die platonische Erkenntnislehre im Laufe der Zeit er
fahren hatte, führt zu einem weitausgedehnten System von
Symbolen —wie es etwa im 12. und 13. Jahrhundert wieder zu
finden ist - , das stets bereit und fähig war, alles Mögliche und
Unmögliche als immateriales oder aber auch materiales Symbol
für eine fernere und unausdrückbare Wahrheit zu nehmen. D a
mit war aber der Prozeß der Mythisierung ungeheuer erleich
tert: es war ein Prozeß, der bald nach dem Zusammenbruch des
alexandrinischen Reiches einsetzte und etwa bis ins erste vor
christliche Jahrhundert währte, und der geradezu als ein Prozeß
der Platonisierung aller antiken Religionsüberlieferungen zu
bezeichnen wäre. Der griechisch-ionische Kult unter stoisch
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positivistischer Leitung, die ägyptische in Reaktion zum Ho-
rusmystizismus, das Judentum in der gräco-saduzäischen Bi
belrenaissance, der Mithraismus - sie alle waren von dem
platonischen Auslegungssymbolismus erfaßt worden, erhielten
in ihm jene gemeinsame Sprache, die das große, kommende
Ereignis, die große Synthese des Christentums vorzubereiten
half.
Die symbolische Weltsprache war aber noch nicht die tiefgrei
fendste Leistung des Platonismus; denn man könnte recht wohl
die Auslegungskunststücke, die unter seiner Ägide am alten
Religionsbestande vorgenommen [wurden] als ziemlich dünne
und gezwungene Restaurationsarbeit bezeichnen. Aber wenn
sie uns Nachgeborenen auch als gezwungen erscheinen, so ge
zwungen, daß wir ihnen fast ebensowenig Wahrheitsgehalt zu
messen können wie den primitiven Kosmogonien, so waren sie
zu ihrer Zeit dennoch von gleichem lebendigen Wahrheitsge
halt wie eben jene Kosmogonien zu der ihren. Und eben in die
ser Symbolisierung auf höherer Ebene, in diesem Wahrheits
gehalt mit breiterer Geltung, dieser Wiedererlangung einer
verlorengegangenen Logizität - so trocken auslegungsmäßig
und scholastisch auch all dies vor sich ging - lag die Vorberei
tung zum neuen mystischen Aufschwung: die Sprache des Pla
tonismus versuchte das Material so umzuformen, daß es für die
neue, höhere Kosmogonie aufnahmsbereit wurde. Und dies ist
nicht verwunderlich, da der Platonismus ja aus der gleichen
Quelle stammt wie die neue religiöse Bewegung - aus der Ein
samkeit des Ichs, Wegbereiter und Löser der Angst zugleich.
Jene positivistische Periode, die man recht wohl als die der
Hochstoa bezeichnen könnte und die zum Neuplatonismus hin
führte, war stigmatisiert durch die steigende Angst, die die Welt
erfüllte, eine Angst, die sich schließlich in die Arme des Chri
stentums flüchten durfte.
Es ist, als ob die Entstehung des Christentums der stärkste
Wellenschlag in jener idealistisch-positivistischen Wellenbe
wegung des Geistigen gewesen wäre, eine Flutwelle des Plato
nismus, deren langsame Verebbung wir erst jetzt erleben. Den
noch gibt es nun auch wieder innerhalb des Christentums
Bewegungen, die mit viel Berechtigung als eine Wiederholung
jener Grundphasen anzusprechen sind. Allerdings kompliziert
sich ihre Struktur um so mehr, je mehr sie Unterbewegungen
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größerer Bewegungen sind, je mehr ihr Eigenleben von dem,
in dem sie eingebettet sind, bedingt ist. Bis zu einem gewissen
Grade spiegelt sich darin der »Fortschritt« von Formen größe
rer zu solchen geringerer Primitivität, doch darf man sich etwa
nicht vorstellen, daß die Zeit der Christianisierung schlechthin
»primitiver« war als die des Mittelalters. Die Komplizierung
fortschreitender geschichtlicher Ereignisse wird nicht zuletzt
durch ihre zunehmende Dokumentierung und Verdeutlichung
bedingt, und außerdem verlangt jedes Schema eine gewisse
Abstraktion und Vernachlässigung anderer Momente.
Immerhin kann mit ziemlicher Gewißheit ausgesprochen wer
den, daß die Zeit des verfallenden weströmischen Reiches, also
die Zeit der Völkerwanderung, wieder eine Epoche des religiö
sen Positivismus brachte, der neuerdings die Formen eines ver
schärften Dogmatismus annahm. Hiezu haben auch die äußer
lichen Umstände nicht wenig beigetragen: es war die Zeit
intensiver innerer und äußerer Mission und eines Proselytis-
mus, der sich bloß dann durchsetzen konnte, wenn er sich auf
fixe, unveränderliche Glaubensformen stützte. Auf Diskussio
nen konnte man sich nicht einlassen, und eine Bekehrung durch
Feuer und Schwert war nicht darauf angelegt, einen mystischen
Aufschwung bei den Bekehrten hervorzurufen. Ebensowenig
durfte damals die Christenheit, allen Anstürmen der Völker
wanderungszeit ausgesetzt, sich selbst mystischer Kontempla
tion hingeben. In vergrößerter Dimension erinnern diese Ver
hältnisse an die des Judentums nach der Zerstörung Jerusalems
und der damals vollzogenen Rückwendung zum Dogmatismus
zur Rettung der Nation. Die Zeit vom Jahre 400-900 war also
sicherlich eine ebenso starr dogmatische, und die Not der Zeit
ließ weder da noch dort nicht einmal jene Mythisierung des
dogmatischen Materials zu, die die vorchristianische Periode
auszeichnete. Aber das 10. Jahrhundert - noch hatten sich die
Wogen der Völkerwanderung kaum beruhigt - zeigte schon den
neuen mystischen Rückschlag auf den Dogmatismus. Ein Tau
mel des Glaubens ergriff die Welt, wieder getragen von der
furchtbaren Angst des Individuums, äußerlich gekennzeichnet
und geklammert an das mystische Jahr 1000. Doch wie der vor
hergehende Dogmatismus der mythenbildenden Kraft entriet,
so fehlte in dieser neuen Mystik die einheitliche große Sprache
- es war eine Mystik des Panischen, ein Irren und Wirren und
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ein hilfloses Anranken an den überlieferten Formen. Wieder
suchte man nach dem neuen Heilsbringer, nach dem neuen
Christus, aber das mythische Material versagte, bot nichts als
einzelne mythische Helden, so daß die religiöse Energie fast
restlos verpuffte, wenn sie auch ein wundersames, doch an der
spätantiken Mystik gemessen karges Ergebnis zeitigte: die gro
ßen mythischen Gesänge und Heldenlieder.
Bald nach dem Jahre 1000 setzte die Reaktion ein. Es folgte
die Zeit der Konzile zur Neukanonisierung des Glaubens, ge
stützt auf die theoretischen Erwägungen der scholastischen
Theologie. Und nun ist es überaus interessant, diese neue Form
positivistischer Glaubensauslegung mit der rein platonischen
und patristischen und vorpatristischen Philosophie zu verglei
chen. Waren die vorchristlichen Religionen auch schon weitge
hend platonisiert, so war es das neue Glaubensmaterial nun
mehr sozusagen in zweiter Potenz. Eine Mythisierung des
Mythisierten war nicht mehr leicht möglich, und so entstand ei
nes der merkwürdigsten Gebilde des Positivismus: der Nomi
nalismus der Scholastiker, ein realistischer Übermythus des
Wortes. Es ist außerordentlich bemerkenswert, daß im 14. und
15. Jahrhundert das Platonische mit dem Wort Realismus be
legt wurde. Neuerdings wurde die Kosmogonie schematisiert,
aber nicht nur die Kosmogonie, sondern auch das ganze System
magischer Zusammenhänge, die die Realität des Überirdischen
mit der Realität des Irdischen zusammenbinden sollte. Die mit
telalterliche Welt wurde - so sonderbar es klingt - durch diese
Steigerung und Absolutierung des Symbols im tiefsten Sinne
enthumanisiert: ihr Zweck war im Gebäude der Symbole be
schlossen, sie war so sehr architektural, daß es mehr als eine
bloß äußerliche Analogie ist, wenn wir eben in der Bautätigkeit
dieser Zeit den Ausdruck und das Symbol ihrer selbst zu sehen
uns gestatten. Aber eben dieses im weitesten Sinne ekklesia-
stische Leben war in seiner Inhumanität sicherlich auch zutiefst
irreligiös. Die Religiosität des Individuums war eine ausgespro
chen ketzerische Angelegenheit geworden, da sie nicht, wie in
der Spätantike, an dem neuen Mythos ansetzen durfte. Man
könnte mit mancher Berechtigung sagen, daß die positivisti
schen Religionsperioden abseits vom lebendigen Leben, die
mystischen Perioden aber in diesem stehen und von ihm erfaßt
sind. Nun denn: aus dem mythisierenden Positivismus der
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Spätantike führte der Weg zwanglos zum mystischen Leben zu
rück und damit aber auch zur Bildung der neuen Religion; von
dem Dogmatismus des Frühmittelalters, der auf sich selbst be
schränkt und abseitig war, führte keine Brücke hinüber, doch
[die] Mystik des Jahres 1000 konnte sich neben ihm entwickeln
und die dogmatischen Formen des Dogmatismus in Überstei
gerung noch benützen: die Scholastik, die in den Realismus ih
res ekklesiastischen Gebäudes die ganze reale Welt eingefan
gen hatte, konnte eine humane Religiosität nicht mehr dulden.
Was im Hoch- und Spätmittelalter innere Religion war, mußte
sich gegen die kirchliche Idee durchsetzen, war ketzerisch und
lebte abseitig versteckt neben ihr, den Scheiterhaufen im Hin
tergrund, bis sich ihre Strebungen - unterstützt von den übrigen
positivistischen Erfolgen der Geistigen - zur Vehemenz der
Reformation zu verdichten vermochten.
Die Reformation, die dritte große mystische Welle seit der
Entstehung des Christentums, aber wird zur Revolution des
platonisch-religiösen Inhaltes. Jede der früheren mystischen
Phasen war von Kosmogonie - und eben idealistischer Kosmo-
gonie - begleitet, und jede darauffolgende positivistische Zeit
phase dogmatisierte zwar weniger die Mystik, wohl aber die
Kosmogonie. Die Reformation sah sich der scholastischen
Kosmogonie gegenüber - und sah keine Möglichkeit, ihre neue
Mystik an ihr anzusetzen. Die Scholastik war der letzte und su-
premste Versuch gewesen, die Mythisierung des bereits mythi-
sierten Stoffes nochmals durchzusetzen: das Resultat war die
einer doppelten Negation, eine Materialisierung, Verdingli
chung und Hierarchisierung, nicht viel anders wie die Errei
chung einer Konstanten nach der zweiten Differentiation. Man
kann daher auch die Reformation nicht als rein mystische Phase
betrachten. Sie enthält starke rational-kritische, ja sogar positi
vistische Elemente vielleicht, wie ja im übrigen stets und überall
nur Mischformen auftreten. Gewiß hat jede mystische Strebung
Kritik an der bestehenden kosmogonischen Religiosität üben
müssen, um die Notwendigkeit der mystischen Erneuerung be
gründen zu können: aber während es sich sonst immer auch um
das Bemühen handelte, die Kosmogonie zusammen mit der
idealistischen Mystik selbst zu erneuern, fehlt dies Bestreben in
der Reformation. Die rationale Komponente der Reformation
ist das Fallenlassen der Kosmogonie.
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Dieses Fallenlassen der Kosmogonie gibt der Reformation ih
ren materialistischen, sonderbar bürgerlichen Aspekt. Die
Durchdringung des täglichen Lebens mit symbolischen Formen
des Geistigen, die Einordnung des Menschen, all seiner Hand
lungen, all seiner Habe in die Hierarchie und das Gefüge des
Kirchlichen war mit einem Schlag aufgehoben: von außen gese
hen war der Mensch nun kein Exponent der Gesamtkirche
mehr, sondern ein sehr materiales, zweibeiniges Wesen, das
sich mit seiner »Natur« ebenso abfinden konnte und mußte, wie
es ihm von dieser vorgeschrieben war. Am deutlichsten mag
dies im Verhältnis zu den asketischen Idealen des Mittelalters
sichtbar werden. Man mag in dieser vollen Akzeptierung des
Materialismus Luthers menschliche Zwiespältigkeit sehen;
aber das wäre sicherlich eine sehr enge Geschichtsauffassung.
Die Motive liegen und müssen in der allgemeinen Entwicklung
des Geistigen liegen. Daß die »Überplatonisierung« der Scho
lastik zu diesem Standpunkte drängte, wurde bereits aufgewie
sen. Immerhin wäre dagegen einzuwenden, daß man durch den
Abbau der Scholastik und eine Rückkehr zum patristischen
Platonismus zu einer positiven kosmogonischen Lösung hätte
gelangen und den Verfall in den Materialismus hätte vermeiden
können. Tatsächlich hat ja Luther teilweise versucht, diesen
Weg zu beschreiten, zumindest sind seine Versuche, zu einem
Urchristentum zurückzugelangen, in mancher Beziehung so
auszudeuten. Aber dieser Versuch, wenn er es tatsächlich ge
wesen ist, mußte ja aus zweifachem Grunde scheitern. Eine
einfache Rückkehr zur Patristik hätte Dogmatismus, hätte
Wiederherstellung des Zustandes bedeutet, der im 5.-8. Jahr
hundert herrschte. Wesen der mystischen Erneuerung ist aber
Erleben von innen heraus, produktiver, radikaler Neuaufbau
der Religion. Und auch das Mystische selbst ist unter die Lei
tung des Rationalen gestellt. Mag man auch die Reformations
mystik auf Paulus zurückführen, so wäre der ekstatische Gehalt
des Paulinismus von der Reformation kaum erfaßt worden,
hätte sie ihn nicht kritisiert. Die überrationale und wahrhaft
mystische Komponente solcher rationaler Kritik aber liegt in
dem tiefen Bewußtsein, daß die alte Form zu eng sei und ge
sprengt werden müsse. Niemals genügt ja irgendeine Form ei
nem wirklichen Erleben, und immer bricht die Hoffnung auf,
neue und endgültigere Form finden zu können. In mystischer
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Beziehung mußte also der Paulinismus eine Radikalisierung er
fahren, zumindest eine solche versucht werden. Dies aber
konnte bloß durch weitere »Verinnerlichung« erreicht werden,
d. h. die antike Außensymbolik mußte dorthin gerückt werden,
wohin Plato sie noch nicht und erst Kant sie zu rücken wagte,
ins Ich, das letzte und symbolistischeste und zugleich abstrak
teste Symbol und zugleich einzige und letzte Realität. Mit dieser
radikalen Verlegung der religiösen Kategorie in die Ich-Sphäre
hat Luther zweifelsohne ein Stück des Kantianismus vorweg
genommen, wie ja auch aus Kants Persönlichkeit, wenn nicht
gar aus seinem Werke, seine protestantisch-pietistische E r
ziehung nicht wegzudenken ist.
Doch hatte die Radikalisierung des Paulinismus noch einen
zweiten und für viele sinnfälligeren Grund. Der Paulinismus
war wie die ganze Christologie mit seiner ethischen Kosmogo-
nie eng der naturalistischen verwachsen, d. h. die Weltschöp
fungsmythen, mehr oder minder platonisiert, späterhin aristo-
telisiert, hatten volle Geltung behalten. Diese Kosmogonie war
in der Scholastik so gut wie alles andere der »zweiten Platoni-
sierung« unterworfen worden; die Bindung zwischen ethischer
und naturalistischer Kosmogonie war nun ein derartig dichtes
Netz symbolischer Beziehungen, daß eine Auflösung kaum
mehr möglich schien. Und nun fiel die ethische Kosmogonie
plötzlich in sich zusammen - konnte die naturalistische beste
hen bleiben? oder richtiger: mußte die Geistesbewegung, wel
che die Mystik der Reformation trug, nicht so beschaffen sein,
daß sie das ganze ethische und naturalistische Weltbild reno
vierte? sicherlich läßt sich nicht eine einzige Bewegungskom
ponente allein herausgreifen, und wir wissen, daß das 16. Jahr
hundert für das kosmogonische Weltbild nicht weniger geleistet
hat wie für das religiöse.
Nun hat es aber den Anschein, als ob hier völlig disparate
Tendenzen am Werke gewesen seien: in der Religion die stärk
ste Verinnerlichung und Vergeistigung, im äußeren Weltbild
die mit Macht einsetzende naturwissenschaftliche Positivierung
und damit, wenn man so sagen will, Entgeistigung. Gewiß
könnte man mit den Marburgern vertreten, daß die Tat des Ko-
pernikus ein Sieg des Geistes über die »Sinne« gewesen sei, daß
also auch hier die Platonisierung via facti fortgeschritten sei,
aber dies wäre doch eine rechte Vergröberung des Tatbestan
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des. Denn sicher ist: was die Naturwissenschaftler des Huma
nismus leisteten, war nicht darauf angelegt, das Wirken des Lo
gos in der Natur darzulegen, sondern ihre Arbeit stützte sich auf
eine höchst reale, ja durchaus materialistische Beobachtung der
empirischen Gegebenheit. Man kann also leichthin zu der
Überzeugung kommen, daß die Reformation eine sehr deutli
che Zerspaltung des Geisteslebens dartue, hie die höchst-pla-
tonisierte Mystik, dort die höchst-positivierte neue Naturwis
senschaft, so daß man es nicht mehr mit einer einfach-idealisti
schen Phase in der angenommenen Wellenbewegung des
Geistigen zu tun hätte, mit der Entstehung einer neuen Mystik,
der sich eine entsprechende Kosmogonie zur Seite zu stellen
hätte, sondern mit einer Vermischung der idealistischen und
positivistischen Phase.
Diese Ansicht läßt sich sicherlich weitgehend vertreten, dies
um so mehr, als ja anzunehmen ist, daß die gewünschte Klarheit
und Einfachheit der Phasenbewegung niemals wirklich vorhan
den war, sondern bloß in der größeren optischen Entfernung so
aussieht, während die relative Nähe der Reformation den wah
ren Zustand schon viel leichter erkennen läßt. Aber eben dies
bestätigt auch wieder die Vermutung, daß die alten Kosmogo-
nien alles andere denn idealistische Gebilde waren, vielmehr als
nüchterne, positivistische Tatsachen gegolten haben.
Von hier aus ist es verständlich, daß sich die Kirche so un
beugsam gegen eine Naturanschauung wehren mußte, die fürs
erste das festgefügte System zu sprengen schien. Und fast un
verständlich ist es, daß im Schoße dieses festgefügten Systems,
das in seiner Geschlossenheit dem Bedürfnis des Menschen
scheinbar aufs Beste angepaßt war, seine Destruktion entste
hen konnte. Ein Verständnis ist vielleicht in der Areligiosität
der Scholastik zu finden, jener Areligiosität, die schließlich in
die reformatorische Mystik Umschlägen mußte. Nun, es er
scheint paradox, daß [die] Areligiosität einer Weltanschauung
zu einer Renovierung geführt haben soll, die womöglich noch
materialistischer aussieht und von der Kirche auch geradezu als
das Antireligiöse gebrandmarkt wurde. Und dennoch: das We
sen des Religiösen liegt in seiner Radikalität, mit der rück
sichtslos alle Konsequenzen aus der Gegebenheit und Nichtge
gebenheit der Welt gezogen werden. Eine Welt wie die
scholastische ist aber nicht radikal, zumindest nicht in der Lö
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sung der metaphysischen Frage, sondern bloß radikal im Sy
stemwillen (weil eben jeder Dogmatismus seine Radikalität auf
den Ausbau und die Festigung des akzeptierten Dogmenmate
rials beschränkt - sonst wäre es nicht Dogmatismus - und alles
andere, sogar das, was Substrat jenes Dogmenmaterials ist, von
der direkten Betrachtung ausschließt). So können in einem sol
chen System wohl Wahrheitspunkte in Fülle vorhanden sein,
aber mindestens auch ebenso viele, die bloß per analogiam ge
setzt worden sind.
Radikalität der Fragestellung aber war es, was die neue Zeit
auszeichnete. Vielleicht - und vieles spricht dafür - ist die Zu
nahme des Radikalismus im logischen Denken der einzige
Gradmesser für den sogenannten »Fortschritt« in der G e
schichte, zumindest in der des Geistigen (wenn auch nicht ein
zusehen ist, wo es andere Historie geben soll), und vielleicht
übertrifft der religiöse Radikalismus der Reformation den des
Frühchristentums an Intensität. Das Auflösen jeglicher ethi
scher Kosmogonie ließe wenigstens solchen Schluß zu.
Man besitzt vielerlei Gründe, die zur Zersprengung des scho
lastischen Weltbildes geführt haben sollen: die zwingende Not
wendigkeit zur schärferen Naturbetrachtung, die Entdeckung
Amerikas, die Erfindung des Schießpulvers und des Buch
drucks, die Emanzipation der wirtschaftlich erstarkten Städte,
die Wiederentdeckung der Antike. Und man vergißt, daß alle
diese Fakten ohneweiters auch ins Scholastische sich hätten
einfügen lassen müssen, wenn die Scholastik nicht durch ein be
sonderes Stigma sich eben dazu [als] ungeeignet erwiesen hätte.
Die scholastische Symbolwelt hätte für Indianer, Kanonen,
Drucklettern ebensowohl Platz geboten wie für asiatische Hei
den, Hellebarden, Holzschnitte - und sie hätte die kopernika-
nische Welt nicht minder als die ptolemäische aufnehmen kön
nen. Nein, das Spezifische der Reformation liegt nicht in diesem
oder jenem Faktum - jede Geschichtsauffassung, die an sol
chem Symptom haften bleibt, ist im vorhinein verdammt,
Grund und Folge, Ursache und Wirkung, Apriorisches mit
Aposteriorischem zu verwechseln und zu vermengen (eine G e
fahr, der im übrigen keine Geschichtsbetrachtung völlig aus
dem Wege zu gehen vermag) - , und am allerwenigsten vermag
die »Zerrissenheit« jenes Zeitalters etwas zu erklären: denn er
stens war noch jedes Zeitalter zerrissen, und zweitens hatte das
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frühe Mittelalter die disparatesten Elemente in seiner Kosmo-
gonie miteinander verträglich gemacht. Aber es handelt sich
hier überhaupt nicht um Verträglichkeit oder Unverträglich
keit, weil ja der Rahmen, in dem sich etwas vertragen oder nicht
vertragen könnte, einfach nicht mehr vorhanden war, sondern
radikal zerstört worden ist. Der letzte Nenner all dieser Ereig
nisse ist die religiöse Radikalität, mit der die Kosmogonie an
nulliert wurde, weil sie für die Mystik nicht mehr aufnahmsfähig
war.
Von geringerer Bedeutung ist es, nachzuweisen, daß diese
Radikalität nicht auf das religiöse Erleben beschränkt bleiben
konnte. Das Niederreißen der Kosmogonie war ja geradezu wie
eine Aufforderung, das naturwissenschaftliche Denken, das
sich der bisherigen symbolischen Bindung angepaßt hatte, in
voller Radikalität auswirken zu lassen, oder richtiger: der Ra
dikalismus, der zur Mystik führte, fand auch im naturwissen
schaftlichen Denken eine parallele Realisation. Und wie die
Mystik auf das religiöse Urmaterial zurückgriff, auf die Angst
der einsamen Seele, so mußte auch das naturalistische Denken
dem Urmaterial sich zuwenden, der empirischen Materie, der
empirischen Erfahrung. Schließlich ist die religiöse Mystik
nichts anderes als unmittelbare empirische Erfahrung des Ichs.
Da wie dort war es die nämliche kopernikanische Wendung,
wenn auch die Welt durch die Art dieser beiden Wendungen
den Aspekt der Zerspaltung und der Zerrissenheit bekam.
Daß das Leben trotz dieser höchst radikalen Zerspaltung,
trotz der Aufhebung aller früheren Gebundenheit weitergehen
konnte, mag fürs erste verwunderlich erscheinen und ist es doch
durchaus nicht. Das Leben des Durchschnittsmenschen ist
stumpf genug, um ärgste und gröbste Widersprüche unbemerkt
zu ertragen. Man muß nicht einmal auf die gigantischen Wider
sprüche im Leben der Renaissance überhaupt verweisen, dieser
weitesten Amplitude von Verworfenheit und Büßertum, Sin
nenfreude und Christendemut, einem Leben, das eben alle
Merkmale jener Radikalität besaß, es genügt, sich darauf zu
berufen, daß der Bürger es allezeit verstanden hat, in seinen
kleinen Grenzen eine gewisse Tugend und eine gewisse Untu
gend, eine große Portion Gutmütigkeit und eine noch größere
Bestialität zu vereinen, gelang es der Scholastik doch sogar,
diese Disparatheit zu systemisieren. Man könnte angesichts
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dieser Tatsachen also durchaus versucht sein, die bisher vertre
tene These einer unbedingten Korrelation zwischen Mystik und
Kosmogonie aufzulassen, denn scheinbar gab es nach Auflassen
des scholastischen Rahmens doch überhaupt keine Kosmogo
nie mehr, es sei denn, daß man den kleinen rationalen Dogma
tismus, mit dem man die Bücher des alten Testamentes und da
mit die Weltschöpfung akzeptierte, als Kosmogonie werten
wollte.
Aber diese radikalisierte Anarchie war nicht vorhanden. Vor
erst wußte man ja nicht einmal, was geschehen war. Lange noch
glaubte man, im Rahmen des alten Weltbildes zu leben und
bloß es auszugestalten. Noch war die Trennung der »Wissen
schaften« nicht durchgeführt, noch waren sie alle Philosophie
und mit ihr im theologischen Weltbild eingebettet: wenn Des-
cartes mathematische Lehrsätze aufstellte, so waren es für ihn
doch immer Entdeckungen göttlicher Symbole, und was er
trieb, hieß Philosophie; eine naturalistische Kosmogonie wurde
von Spinoza »Ethik« genannt; Kepler stellte Spekulationen
[an], deren Formen alles andere denn nach Begründung einer
neuen Astronomie aussahen, so sehr waren sie noch theogo-
nisch-eschatologischer Spekulation verhaftet. Der Gesamt
aspekt wich also offenbar ganz erheblich von unserem schema
tisierten Bilde ab: zwar haben die reformatorischen Theologen
die Kosmogonie eingerissen und schienen sich dabei ganz
wohlzubefinden; die Naturwissenschaftler, wohl auch freige
lassen, arbeiteten abseits der alten Kosmogonie, glaubten es
aber innerhalb der alten Formen zu tun. Der erste, dem die Dis-
paratheit dieser Verhältnisse auffiel, war eigentlich Bruno.
Bruno bildet eine ganz exzeptionelle Erscheinung, nicht ei
gentlicher Theologe, nicht Naturforscher, war er gewisserma
ßen ein Vorläufer des philosophischen Essayismus, der Feuille
tonphilosophie, des Redens über die Wissenschaft, statt
Wissenschaft zu treiben, kurzum er hatte alle jene Eigenschaf
ten bereits an sich, die die Philosophie späterer Jahrhunderte
ins Unseriöse zu heben vermochten. Aber er hatte den Atem des
Jahrhunderts, und weil er ein Essayist war, fühlte er, worum es
ging: eine neue Kosmogonie war zu bilden - Brunos Pantheis
mus, entzündet an der Idee der Wissenschaft, kein Dichter also,
sondern ein Essayist. Ungleich bewußter als bei Spinoza wird
hier die Kosmogonie gesucht, die das gemeinsame Band um das
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neue mystische Erleben und um die neue Naturwissenschaft
schlingen soll, absolut klar wird erkannt, daß von der Naturwis
senschaft diese einende Leistung nicht zu erwarten ist oder
höchstens in unendlicher Ferne; Bruno wird häufig als »feurig«
und als »Feuergeist« bezeichnet - das besagt im allgemeinen
nicht viel und ist eher ein kulinarischer Backfischausdruck,
doch hier ist etwas zweifellos Zutreffendes gemeint: Bruno re
präsentiert die philosophische Ungeduld, die kosmogonische
Ungeduld, mit einem einzigen Akt des Denkens die Welt im
ganzen Umfang zu erfassen, heute das, wenigstens dem Prinzip
und dem Schema nach zu besorgen, was die Wissenschaften in
hunderten von Jahren doch kaum erreichen werden. Die »Phi
losophie« als selbständige Disziplin, wenn auch nicht als Wis
senschaft, hatte das Licht der Welt erblickt.
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mystischer und positivistischer Tendenzen macht sich früh ge
nug bemerkbar. Es sei bloß auf Kepler nochmals gewiesen, des
sen kosmogonisch-philosophische Strebungen bereits erwähnt
[wurden], und von denen der damalige Katholizismus nicht all
zuweit entfernt war, vor allem aber auf Leibniz: Leibniz [ist]
ausgesprochener Mystiker und ausgesprochener Rationalist,
und seine Philosophie ist ausgesprochen kosmogonischen Cha
rakters- um dies zu erkennen, muß man bloßden Aufbauseiner
Philosophie mit der Kants vergleichen - , sie trägt in allem und
jedem den Stempel ihrer Entstehung aus dem Bedürfnis des
Mystikers, ein rationales kosmogonisches Korrelat neben das
mystische Erleben zu setzen. So erscheint Leibniz in vieler Hin
sicht als Repräsentant des kosmogonischen Protestantismus, ja
vielleicht als der letzte Repräsentant des christlich-kosmogoni-
schen Denkens überhaupt: sein Verhältnis zum Katholizismus,
sein gemutmaßter »Kryptokatholizismus«, kann solche Auf
fassung bestätigen.
Dennoch kann nicht unbedingt behauptet werden, daß die
kosmogonische Leistung des Protestantismus damit erschöpft
gewesen ist. Wohl hat - so wurde gesagt - die »weltliche« Dis
ziplin der Philosophie die frühere kosmogonische Aufgabe
[übernommen], und wohl darf die Leibnizische Philosophie als
ein letztes, nochmaliges Aufblühen der alten kosmogonischen
Formen gewertet werden (vielleicht sogar in diesem Zusam
menhang als eine Art Atavismus), so ist doch festzuhalten, daß
Kosmogonie und religiöses Erleben jene allerengste Bindung
nicht vonnöten haben, daß aber trotz alledem die Philosophie,
eben weil sie den Platz der alten Kosmogonie eingenommen
hat, dem gleichen metaphysischen Bedürfnis entspringt wie
jene Kosmogonie. Und daß dieses metaphysische Bedürfnis
sich aus dem neuen religiösen Denken herleiten lassen müßte,
ist alles andere denn verwunderlich - wo[her] denn sollte es
[sonst] erneuerbar [?] sein?
So ist es also - nebenbei bemerkt - sicherlich nicht nur Zufall
und auch nicht nur Hinüberspielen einer alten Bildungstradi
tion, daß die neue Philosophie in so weitem Außmaße von pro
testantischen Theologen und Männern, die der protestanti
schen Kirche nahegestanden sind, inauguriert wurde. Selbst
verständlich ließen sich Gegenbeispiele anführen, etwa Hume
(oder Kants Abspringen vom theologischen Studium), doch
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sind schließlich hier weder individuelle Beispiele noch Gegen
beispiele beweiskräftig. Die neue Philosophie mußte sich so
vielfältig verzweigen, daß es mehr als gleichgültig war, ob sie
von Gottesgelehrten oder Weltlichen betrieben wurde, aber die
These kann festgehalten werden, daß sie immer wieder zu ei
nem ethisch-ästhetisch-naturalen Weltgebäude führte und füh
ren mußte, und daß sie letzten Endes immer wieder in die Reli
gionsphilosophie mündete. Und daß ein solches Gebäude eben
nichts anderes ist als: Kosmogonie.
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rer wissenschaftlichen Basen und der Ausdehnung ihres Wis
sens genannt werden - war im vorhinein zur Sterilität ver
dammt. Etwas anderes ist der Gedanke jener Überwissen
schaft, wenn er nicht auf Wissenschaftsinhalte als solche
bezogen, sondern als Theorie der Wissenschaftstheorien ge
dacht wird. Diese Aufgabe ist, wenn sie auch in dieser Form viel
zu vage gestellt wäre, tatsächlich auf dem Wege zur Verwirkli
chung, benötigt aber zu ihrer Erstellung nicht des positivisti
schen Weges: es ist die alte Aufgabe der Erkenntnistheorie und
Logik. Nichtsdestoweniger bedeutet von hier aus gesehen die
Wendung zum Positivismus einen unleugbaren Fortschritt und
zwar auf jener Bahn, die von der naturalistischen Kosmogonie
zur empirischen Wissenschaft führte, auf jener Bahn, auf der es
ebenfalls darauf ankam, Erkenntnisse, die ihre Plausibilität le
diglich aus der logischen Spekulation, also der logischen W ahr
scheinlichkeit bezogen, durch solche der empirischen Erfah
rung zu ersetzen. Und es besteht kein Zweifel, daß auch ein
Gebiet wie das der Logik der Wissenschaften, das man vor noch
nicht allzu langer Zeit völlig dem Dialektischen unterworfen
glaubte, Stück um Stück der empirischen Analyse abzugeben
haben wird.
Nun kann man sich zwar vorstellen, daß die Theorie der Wis
senschaftstheorien mit der Zeit selbst zur empirischen Wissen
schaft werden könnte, die dann aber selber in ihr eigenes Sub
strat entweder zu fallen hätte, oder wieder eine eigene Theorie
der Theorie erfinden würde. Im ersten Fall ergibt sich ein Sach
verhalt, der stark an bekannte Antinomien erinnert, im zweiten
zeigt sich ein unendlicher Regreß, der, so weit man ihn auch
fortgeführt denkt, immer wieder einen außerempirischen Rest
lassen muß. Ob man diesen Rest dem Apriorismus überant
worten will oder sonst etwas anderes oder bloß ein Ignorabimus
an dessen Stelle setzen will, braucht nicht entschieden [zu wer
den]: hingegen mag kein Zweifel darüber herrschen, daß jenes
Restgebiet jene Probleme umschließt, die als spezifisch »philo
sophische« gelten.
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D as U n m ittelb are
in P hilosophie und D ichtung
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stisch-platonische Betrachtungsweise (von gewissen Schwan
kungen abgesehen) es während des ganzen Mittelalters getan
hat. Konnte sich die Philosophie solcher allgemeinen Methode
entziehen? sicherlich nicht; und so wenig sie sich während des
Mittelalters der allgemeinen Denkmethode entziehen konnte,
besonders da ihr selbst es oblag und obliegt (dies ja ein Teil ih
res circulus), die allgemeine Denkmethode aufzudecken und
zur Geltung zu bringen. Die Philosophie hatte, da sie »wissen
schaftlich« werden wollte, wissenschaftlich werden mußte, sich
auf die positivistische Blickrichtung einzustellen.
Wollte man dagegenhalten, daß trotz dieser behaupteten all
gemein positivistischen Methode des Denkens die neuere Phi
losophie eine eigentümliche Pendelbewegung zwischen Positi
vismus und Idealismus aufweise, daß sie stets wieder zu ihrem
idealistisch-platonischen Urquell zurückkehren müsse, so
würde es naheliegen, diese Pendelbewegung als ein Nachzittern
nach jenem übergroßen platonisch-christlichen Ausschlag auf
zufassen, wohl aber auch, daß in ihr ein verhältnismäßig sehr
verkleinertes Spiegelbild einer weitaus umfassenderen Pendel
bewegung zu sehen wäre, die sich nicht nur im großen Wechsel
idealistischer und positivistischer Geistesperioden manifestiert,
sondern - Funktion der antithetischen Struktur des Denkens -
in schlechthin jedem Teilablauf der Erkenntnis bis herab zum
einzelnen Erkenntnisakt in Erscheinung zu treten hat. Darüber
hinaus aber kann gezeigt werden, daß selbst der Idealismus die
ser Periode seine positivistische Methodik nicht verleugnen
kann, daß er eben dadurch »kritischer« und »ametaphysischer«
Idealismus [ist], der seine Kraft vom Pathos der objektiven E r
fahrung beziehen will und bezieht. So auch ist es bloß zu verste
hen, daß eine Teilperiode dieser Pendelbewegung (vielleicht
die letzte) mit dem Rufe Liebmanns »Zurück zu Kant«1 einge-
Icitet werden konnte, und daß damit wohl der metaphysischen
Selbstdestruktion Hegelscher Dialektik ein Riegel vorgescho
ben werden konnte, nicht aber, wie gehofft wurde, die aus dem
Westen heranrollende positivistische Woge zu brechen war,
vielmehr der Neukantianismus - der sich übrigens von positi
vistischen Neben- und Unterströmungen niemals freihalten
konnte - selber zum Wegbereiter der positivistischen Entfal
tung in all ihren Derivaten geworden ist: ohne seine kritische
Vorarbeit wäre weder die Phänomenologie noch der Russell
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sehe Positivismus zu jener Schlagkraft gekommen, die es (aller
dings wieder nicht in dem allzu simplifizierten Comteschen
Sinne) [erlaubt,] von einer positivistischen Phase des europä
isch-amerikanischen Geistes zu sprechen, einem Faktum, das
vorhanden ist - mag man es als Verirrung nehmen oder als Se
gen - , und das sich sogar zu einer gewissen Endgültigkeit zu sta
bilisieren scheint, zumindest in jener Pendelbewegung einen
positivistischen Ausschlag darstellt, wie er bisher nicht zu kon
statieren gewesen war. Und wollte man schließlich gegen all
dies einwenden, daß der Positivismus im angeführten Sinne
bloß eine Angelegenheit der Methode sei, daß aber der idea
listische Grundinhalt der Philosophie trotzdem niemals aufge
geben werden könne, so gelangt man wieder zu jenem aufge
wiesenen circulus: nirgends ist Inhalt und Methode so sehr eins
wie in der Erkenntnistheorie, und die positivistische Methode
muß notgedrungen auch der Philosophie positivistischer Inhalt
werden, genau so wie sie in der finalistischen Methode zum
theologischen Inhalt, zur Deologie selber werden mußte. Phi
losophie als Wissenschaft ist positivistische Wissenschaft von
der Methode, [und die] positivistische Methode [ist] Repräsen
tant der geistigen Haltung dieser Zeit.
Der Idealismus [ist der] Urquell der Philosophie: in ihm das Er
schrecken des Ichs vor seiner mystischen Einsamkeit und Ab
geschiedenheit seines Bewußtseins, aus ihm die ethische Tat der
Schrankendurchbrechung, aus ihm das ethische Primat des Le
bens. Kann es eine »positivistische Phase« geben, die im Stande
wäre, solch letzte Dignität abzubauen und als endgültig für
überwunden zu erklären? Trägt die aggressive Verdammung
des Platonischen, wie sie in allem Positivismus immer wieder zu
Tage tritt, wie sie - sinnfälligstes Stigma der Zeit - in Rußland
von Staats wegen angeordnet wird, trägt diese höchst merkwür
dige Haltung, in der Nietzsche und der Bolschewismus sich fin
den, nicht den Keim ihrer eigenen Widerlegung in sich? Man
wäre sehr geneigt, solchem zuzustimmen angesichts des völli
gen Unvermögens des Positivismus, sich den Fragen der ethi
schen und der religiösen Haltung überhaupt bloß anzunähern.
Was hier sichtbar wird, geht im Prinzip über Comte und Spen
cer nicht hinaus, flüchtet ins Soziologische, ins Pragmatistische,
ins Konventionelle. Vom »Wissenschaftlichen« in jenem höch
sten Sinne, wie es von der positivistischen Methode angestrebt
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wird, ist hier keine Spur mehr zu sehen, wohl aber eine Menge
»Populärwissenschaftliches«, das für diese Zonen, für den Posi-
tivisten Russell nicht ausgenommen, gerade gut genug zu sein
scheint. Wittgensteins2 Haltung, der [die] dem Positivismus
nicht zugänglichen Gebiete kurzerhand als mystische Region
erklärt, über die nicht legitim geredet werden darf, ist hier noch
vorbildlich zu nennen (wenn es auch ein wenig nach »Religion
ist Privatsache« klingt). Am Bestände der Ethik gemessen, ist
die positivistische, »wissenschaftliche« Philosophie keine Phi
losophie mehr.
Solch sonderbare Verarmung und Verödung, Entvölkerung
des einst fruchtbarsten Landstriches, diese neuerliche Zerrei
ßung der Erkenntnis in eine double verite, hat sicherlich vieler
lei Hintergründe und Verursachungen, deren wichtigster wohl
in der Wandlung des Gottesbewußtseins liegt: in dem parallelen
Durchbruch der Reformation als Wendung zum Mystisch-Un
mittelbaren der Seele und der neuen naturwissenschaftlichen
Weltanschauung der Renaissance als Wendung zum Unmittel
baren der Sinne hat sich der Riß wohl zum erstenmale offen
kundig aufgetan und konnte (trotz Leibniz’ Bemühen um eine
neue Kosmogonie) nicht mehr geschlossen werden. Der unmit
telbare Anlaß zur Herstellung des heutigen Zustandes aber ist
in der Logistik zu sehen.
In gewissem Sinne könnte dies als eine Überschätzung der Lo
gistik angesehen werden. Man kann sagen, daß sie bloß eine
Technik sei, die unabhängig von der erkenntnistheoretischen
Basis in dem Augenblick entstehen mußte, da ihr die mengen
theoretische neue Mathematik die Hilfsmittel lieferte. Und in
der Tat: nicht nur die Anfänge Russells oder auch Couturats3
liegen im Kantschen Gebiet, sondern (und das ist wichtiger) die
Logistik strebt, wie das Beispiel Wittgensteins zeigt, unver
kennbar ins Aprioristische zurück, wenn sie sich mit ihren er
kenntnistheoretischen Grundlagen befaßt. Aber cs kommt hier
gar nicht darauf an, ob die Logistik ein positivistisches oder
idealistisches Produkt ist - ihre Technik ist unverkennbar auf
beiden Gebieten anwendbar - , wesentlich ist vielmehr, daß
Wittgenstein zu zeigen vermag, wie weit der legitime »wissen
schaftliche« Ausdruck überhaupt reichen kann, reichen darf.
Selbst also wenn man aprioristische, ja idealistische Grundla
gen akzeptiert, kann man über die durch die logistische Reich
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weite abgesteckte Grenze des Aussagbaren nicht hinaus: was
dahinter liegt, ist »Mystik«, ist mit wissenschaftlichen Mitteln
nicht mehr aussagbar, kann bloß mit anderen lyrischen oder
musikalischen Mitteln zum Ausdruck kommen, und wenn
trotzdem darüber geredet wird, so ergibt es bestenfalls eine Po-
pularphilosophie, eine empiristische Aufklärerei, wie sie von
Russell4 in seinen außerlogistischen Büchern eben betrieben
wird, eine Popularethik, eine Popularästhetik, von Religions
philosophie oder Theologie ganz zu schweigen.
So ist die Logistik zwar nicht selber Umwälzung des geistigen
Weltbildes, wohl aber eines ihrer wichtigsten Symptome. Wis
senschaft kann bloß so weit Wissenschaft sein, soweit sie
Mathematik enthält. Dieses Wort Kants5, sehr positivistisch in
seiner Richtung, wirkt in all der angestrebten »Verwissen
schaftlichung« des Lebens und der Philosophie. Doch von hier
aus ist auch die sonderbare Verarmung zu verstehen, der die
Philosophie unterworfen ist, während alle anderen Disziplinen
durch die Mathematisierung eine unerhörte und stets fort
schreitende Bereicherung erfahren haben: in allen empirischen
Wissenschaften wirkt die Mathematisierung sozusagen von
oben herab, dringt sie mit der Vielfältigkeit des mathemati
schen Ausdruckes in Gebiete bedeutend geringerer empiri
scher Mannigfaltigkeit als »Errechenbarkeit der Erscheinun
gen« ein, während die Logistik notgedrungen den umgekehrten
Weg einschlagen mußte, von »unten herauf« in die Philosophie
eindrang, ein engbegrenztes Gebiet der mathematischen Er
kenntnis (wahrscheinlich bloß ein Teilgebiet von ihr), das in das
Gebiet äußerster Mannigfaltigkeit der Erkenntnistheorie ein
dringt und sie überlagernd von ihr Besitz ergreift - jener Vor
gang, den Wittgenstein selber als die Absteckung der Grenzen
von »innen«6 bezeichnet.
Ein Resultat aber, das zu solcher Verengung des Erkenntnis
theoretischen führt, das für die größten Gebiete der Philoso
phie kein wissenschaftliches Ausdrucksmittel mehr zuläßt,
muß, auch wenn der Urstandpunkt ein idealistischer wäre,
positivistisch genannt werden und zeigt, wie zwingend der posi
tivistische Gedanke in das gesamte Geistesleben eingedrungen
ist, erlaubt, von einer positivistischen Phase des Geistes zu
sprechen. Und wenn auch diese restringierende Art der Witt-
gensteinschen Logik sicherlich nicht das ist, was Leibniz in der
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lingua universalis vorgeschwebt hat, so ist es trotzdem unver
kennbar, daß hier eine Erfüllung der ahnenden Forderung vor
liegt, die der größte positivistische Geist dieser Zeit an ihrem
Eingang aufgestellt hat. Und es mag als wichtigstes Symptom
gelten, daß es überall dabei darauf ankommt, den sprachlichen
Ausdruck zum Verstummen zu bringen, ihn durch eine Be
griffssprache zu ersetzen, ihn nur mehr in jenen Gebieten zuzu
lassen, wo das Rationale und Beweisbare und Wissenschaftli
che nichts mehr zu tun hat, sondern bloß das Irrationale und
Mystische ihren Platz angewiesen erhalten haben.
Verstummen der Philosophie? die Bücher der Phänomenolo-
gen bilden schon eine mit jedem Jahre wachsende Bibliothek,
und die Tatsache allein, daß eine auf der Logistik basierende
»wissenschaftliche Weltanschauung« mit der Phänomenologie
im Streite liegt, gibt der Phänomenologie ein Daseinsrecht. Nun
ja, könnte die Logistik dazu sagen, Daseinsrecht gewiß, aber
das Daseinsrecht der Mystik (obwohl doch auch Husserl Philo
sophie »als Wissenschaft« gefordert und sich gegen den »Tief
sinn in der Philosophie« gewandt hatte).
Es soll nicht für die Logistik, nicht für die Phänomenologie
Partei ergriffen werden, doch steht fest: über die Elementar
dinge, »Namen«, »Elementarsätze«, kurzum jene Gegeben
heiten, die bloß unmittelbar aufgewiesen werden können, über
die Individualitäten, vermag und will die Logistik keinen Auf
schluß mehr geben; sie gelten ihr als Tabu; über sie zu sprechen,
gehört schon zum Mystischen. Was aber die Phänomenologie
letzten Endes anstrebt, ist eben Erfassung, rationales Erfassen,
abtastendes Umschreiben solcher Tiefst-Unmittelbarkeiten
(wobei sie folgerichtig dem Unmittelbaren auf jedem Gebiete
nachspürt, ebensowohl das Phänomen der Farbe »Rot«, als den
unmittelbaren Inhalt des Begriffs »Farbe«, sowohl das unmit
telbare Phänomen des Gewissens, als das der Zahl zum Objekte
ihres Studiums macht). Es sei dahingestellt, ob sie mit ihrem
Streben zu gesicherten »wissenschaftlichen« Ergebnissen
kommt oder ob die Gefahr des dialektischen Leerlaufes um ein
unangreifbar Gegebenes unüberwindbar bleibt, sicher aber ist,
daß die Wendung zum Unmittelbaren, durch die die phäno
menologische Bewegung ausgezeichnet ist, die gleiche ist, die
alle positivistische Wissenschaftlichkeit und auch die Logistik
leitet, und daß eben in dieser Wendung zum Unmittelbaren das
172
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Zeitdokumentarische der Phänomenologie gesehen werden
darf. (Ob in dem einen oder anderen phänomenologischen
Buch die Husserlsche Grundtendenz von aller möglichen Me
taphysik überwuchert wird, ist, von hier aus gesehen, neben
sächlich; außerdem kann man niemandem verbieten, schlechte
Bücher zu schreiben.)
Die Wendung zum Unmittelbaren war die Einleitung der
neuen Zeit. Die mittelalterliche Mystik trat wie eine Rebellion
des Religiösen gegen die theologische, im Grunde areligiöse
Dogmatisierung und Hierarchisierung eines Lebens auf, gegen
die Schematisierung des Lebens zu einem System von Symbo
len. Es war der Beginn des neuen Durchbruchs des Unmittel
baren.
Aus einer finalistisch eingestellten Naturkunde, die sich im
mer weiter von ihren unmittelbaren Grundlagen entfernte,
wuchs plötzlich eine Rückwendung zum unmittelbaren Sinnes
objekt, entstand neue Wissenschaft, die allein in der Beobach
tung ihrer Objekte am Himmelsgewölbe und auf der Erde ihre
Erkenntnisgrundlage suchte.
Abstraktive und symbolisierende Mal- und Skulpturformen
der Romanik und Frühgotik wandelten sich in naturimitative
Unmittelbarkeit.
Die Scholastik, zum ersten Male von Occam erschüttert, diese
großartigste Metaphysizierung der Welt, zerbröckelt im Streit
der Nominalisten und Realisten; was sie sein wollte: die Kon
servierung des (platonistischen) Christentums mit Hilfe des
Aristoteles wird plötzlich zur leeren Dialektik und die Rück
kehr zum unmittelbaren Idealismus.
Luther: der Exponent des Unmittelbaren. Sein Glaube ist der
Eckeharts, nicht der der Konzile, seine Theologie ist die des
Paulus, nicht die des Augustinus, sein Denken ist nicht mehr das
des Intellektualismus, sondern des gesunden Menschenver
standes, sein Priestertum ist nicht mehr das des Vorgesetzten
seiner Gemeinde, sondern das des Delegierten, sein Wort ist
nicht mehr das Wort der Dialektik, sondern sein Wort will Tat
sein, sein Leben ist nicht mehr das des Asketen, sondern das des
irdischen Leibes.
Luther ist der Durchbruch des Unmittelbaren. Er war alles,
was seine Zeit erforderte, und wäre er auch noch der Träger ih
rer Metaphysik gewesen, so wäre er ihr Religionsstifter gewor
173
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den. So war er bloß ihr Reformator, mußte es bleiben, denn das
Unmittelbare duldet keine Metaphysik, duldet keine umfas
sende Kosmogonie, in der das Sinnliche zum Teil des Übersinn
lichen wird, das Übersinnliche zur Gänze in jeder sinnlichen
Erscheinung stecken soll. Diese Unmöglichkeit und Unfähig
keit zu einem neuen Zusammenschluß der Werte war dem R e
naissancebewußtsein derart eingegangen, daß überhaupt kein
Versuch der Überbrückung gemacht wurde: unvermittelt und
unverbunden stand die stärkste religiöse Mystik neben stärkster
Erdverbundenheit, stand ein humanistisches Bildungsideal ne
ben rohester Machtpolitik, stand eine Kunst voller Lebens
schönheit neben Rad und Scheiterhaufen.
Mit dem Durchbruch der Unmittelbarkeit sind die Werte ent
fesselt worden, [ist] jedes Wertgebiet zum autonomen Bereich
erhoben worden.
Fast ist es, als ob die neue Philosophie, die nun mit dem be
scheidenen Anspruch auftrat, bloß Wissenschaft unter Wissen
schaften, bloß Wertgebiet unter Wertgebieten zu sein, eine nur
imitative Funktion erfüllen, irgendwie das gleiche leisten
wollte, was die ecclesia für den Katholizismus geleistet hatte,
und es ist bezeichnend genug, daß es nicht Protestanten waren,
die die neue Philosophie als Verbindung des Mystischen mit
dem Wissenschaftlichen einleiteten, sondern die katholischen
Mathematiker Pascal7, Descartes und Bruno, bezeichnend, daß
der polyhistorische Mystiker der Reformation, er, der seiner
ganzen Anlage nach durchaus ihr Augustinus hätte werden
müssen, daß Leibnizens protestantische Kosmogonie nicht nur
wie [ein] erratischer Block vereinsamt blieb, an dem die Ent
wicklung vorbeirauschte (bis er von den katholischen Priestern
Bolzano und Brentano neu entdeckt wurde), sondern daß er
auch in den Verdacht des Kryptokatholizismus geriet. Und be
zeichnend ist es, daß die kritische Philosophie nicht nur zur
Fortsetzung Dcscartcs geworden war, sondern bis zu den H e
gelschülern fast ausschließlich von protestantischen Theologen
betrieben worden war: immer mit dem stillschweigenden Ziel,
zur kosmogonischen Theologie des Protestantismus zu werden,
eine Einheit des göttlichen Weltbildes wiederherzustellen, das
dennoch mit dem Augenblick der Reformation endgültig ge
sprengt und verloren war. Was nachkam, war ein stetes Ver
blassen, war ein stetes Erlahmen des metaphysischen Elans,
174
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eine fortschreitende Verengung, die am deutlichsten am Un
terschied des Bereichsumfanges zwischen Leibnizens Kosmo-
gonie und Wittgensteins Erkenntnistheorie abgelesen werden
kann. Was aber bei solcher Verarmung gewonnen wurde, war
die fortschreitende Autonomisierung der Philosophie, unver
lierbar seit Kant, ihre Unmittelbarkeit als Wissenschaft in sol
cher Autonomie.
Autonomie der Werte als Erfolg der Unmittelbarkeit, Unab
hängigkeit jedes einzelnen Wertgebietes des Lebens von jedem
Nachbargebiet, nicht anders wie jeder Elementarsatz unabhän
gig von jeder anderen Wahrheit ist: diese Zersplitterung, diese
Führung in unzähligen parallelen Kanälen statt in einem ge
meinsamen Strom, diese Auffaserung des Lebens dieser Zeit:
diese Verwandlung der Gestalt in eine Summe ist nicht minder
der Geist des Positivismus, ist nicht minder Erfüllung positivi
stischer Unmittelbarkeit wie das Verstummen des metaphysi
schen Ausdruckes.
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telbarkeit mag es am Anfang der Menschheitsgeschichte gege
ben haben und sollte es an deren Ende wieder geben: aus ihr
brach stammelnd und singend der erste Ausdruck des erwa
chenden Bewußtseins, in ihm verebbt und erschweigt die letzte
dithyrambische Wahrheit altgewordener Weisheit. Und es ist,
als ob das, was einstens war und doch nie gewesen ist, und das,
was einstens kommen soll und doch nie kommen wird, dennoch
stets vorhanden sei: zwei Pole des Unendlichen, ewig gegen
wärtig, mitschwingend in allem Leben, Grenzen des Rationa
len, deren Dasein stets zu ahnen ist, beide so ferne, daß der ra
tionale Weg, der zwischen ihnen liegt und auf dem der
diesseitige Mensch sich bewegt, zum unendlichen Kreis sich
schließt, auf dessen jenseitiger unsichtbarer und irrationaler
Hälfte die beiden Pole stets näher zusammenzurücken schei
nen, zusammenfallend in letzter Unendlichkeit, Schweigen des
Tierischen zum Schweigen der Weisheit wird, Unmittelbares,
das zum Unmittelbaren zurückkehrt.
Auf jener jenseitigen, vom magischen, unfaßbaren Licht des
Irrationalen [bestrahlten] Hälfte des Kreises, auf jener kurzen,
vielleicht nur für den Menschen kurzen und verkürzten Strecke
zwischen den beiden Polen des Schweigens ist der logische Platz
der Idee des Dichterischen, obwohl noch kein Dichter wahrhaft
dort gewandelt ist. Und dennoch ist es, als ob dort die unsicht
bare Wand der Welthöhle wäre, als ob von dort ein Echo käme,
das früher ist als der Ruf, dem es antwortet, als ob in jener magi
schen Spannung zwischen Schweigen und Schweigen ein Re-
sponso wäre, das zeitlos ist, herausgehoben aus dem Empiri
schen und dem Zeitlichen, daß es die Wand ist, an die die
unsichtbare Hand des Propheten ihr Menetekel schreibt und
»durch einen Spiegel in einem dunklen W ort«9, wie der Apostel
sagt, das Unfaßbare schauen läßt.
ln der mittelalterlichen Mystik, die zur Reformation führte,
war jene Stummheit enthalten, und in der Gewalttätigkeit der
Renaissance war die Stummheit der äußeren Tat. Und wenn
diese Zeit Entfaltung jener Keime ist, so ist sie es nicht zuletzt
in ihrer Stummheit, eine Stummheit, die allerdings nicht die der
Mystik zu sein scheint, sondern die der Tat und des Lebenshun
gers, die so weit geht, auch das Wort selbst nur so weit gelten
lassen zu wollen, als [es] »Tat« darstellt.
176
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Geist als Tat! Wort als Tat! dieses militante Ideal aller Morali
sten und (seit Nietzsche) Amoralisten, diese heroische Devise
des schreibenden Menschen, der damit die Männlichkeit seiner
femininen Betätigung beweisen will, diese vielleicht sogar ge
fährliche und faszinierende Akzentuierung der »Tat« als das
wesentlich geistige Prinzip der Welt, diese etwas fatale Verach
tung, die dem »Wort« damit zuteil wird, all dieser Aufwand
verliert ein wenig an Bedeutung und verdämmert ein wenig ins
Scheinsubtile, wenn man sich wirklich an die erkenntniskri
tische Arbeit heranmacht, »Tat« und »Wort« auseinanderzu
halten: denn dann wird wohl sichtbar, daß die Tat der Sphäre
des »Lebens« angehört und das Wort der der »Erkenntnis«,
beides Realisierungsakte des Ichs in dieser und jener Sphäre,
aber gleichzeitig wird auch klar, daß das Leben im Denken ein
gebettet ist wie das Denken im Leben, und daß es kein Denken
und kein Wort gibt, das nicht Tat wäre, keine Tat, die nicht ge
schwängert wäre von kognitiven Elementen.
Allerdings ist hier einzuwenden, daß es sich um eine ethische,
nicht um eine erkenntniskritische Auseinanderhaltung handle,
um eine durchaus legitime Einstellung, seitdem Nietzsche ge
zeigt hat, daß Fragen der Erkenntnis vom ethischen Standpunkt
aus angesehen werden dürfen. Und daß nicht das »Wort« als
solches getroffen werden soll, sondern das leere Wort, die leere
Dialektik, die Scheinsubtilität, die Gefahr des Bösen, die im
Worte ist. Und es besteht die Vorstellung, daß die »Tat« etwas
sei, das niemals so weit wie das Wort degenerieren könne, daß
das stumme Leben, sei es noch so sehr mit Fiktionen, Verzivili-
sierungen oder sonstwie verballhornt, niemals so weit vom Ur
sprünglichen und Unmittelbaren abweichen könne wie das
Wort und das Kognitive an sich. Und es ist, als ob man das Wort
und die Erkenntnis immer wieder ermahnen müßte, zu ihren
eigentlichen Quellen des Lebens, das auch das ihre ist, zurück
zukehren, den Mutterleib immer wieder zu berühren, um von
ihm die Kraft zu beziehen, die die Erkenntnis vor dem Verdor
ren schützen soll.
Gleichgültig also ob die phänomenologische Metaphysik noch
als wissenschaftlich gelten darf oder ob sie (nach der Logistik)
ins Gebiet des Irrationalen und Mystischen gehört, sie erhebt
keinesfalls den Anspruch, eine Kosmogonie zu liefern, noch
viel weniger tritt sie mit dem Anspruch der Wertkonstituierung
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und Normung auf: sie ist alles andere denn kosmogonisch ein
gestellt, sondern ihr Name allein besagt es schon, daß sie die
punktuelle Unabhängigkeit und Unmittelbarkeit der Einzelge
gebenheit akzeptiert, und daß sie selber bloß beobachtende
Wissenschaft unter allen anderen positivistischen Wissensge
bieten sein will. Sie entspricht damit der Aufgabe, die Kant der
metaphysischen Arbeit mit dem Augenblick zuwies, da er die
alte Metaphysik aus der Wissenschaft eliminierte: Raum für
eine künftige zu schaffen, während der eigentliche metaphysi
sche Aufbau einer ganz anderen, durchaus nicht wissenschaftli
chen, sondern sicherlich religiösen Kategorie überlassen wurde.
Damit aberzeigte sich die ganze Hoffnungslosigkeit des Begin
nens: gäbe es eine kosmogonische Religiosität mit der wirken
den metaphysischen Kraft etwa des Mittelalters, so wäre die
Verwissenschaftlichung der Welt aufgehoben, dann wäre die
protestantische Theologie und kritische Philosophie überflüs
sig, wäre (soweit das Christlich-Platonische in Geltung bleibt)
einfach jener Zustand wiedereingetreten, dessen Fiktion von
Rom auch heute noch aufrechtgehalten wird, daß nämlich die
Wahrheit der ganzen Welt unter die Kontrolle des Dogmas und
der päpstlichen Unfehlbarkeit gestellt zu werden hätten: die
Polyhistorie wäre wieder die Kirche und ihre Kosmogonie, die
Wertzersplitterung der Renaissance wäre aufgehoben, die Welt
wäre wieder ein einheitlicher Wert.
Das Gegenteil ist eingetreten. Die Wertzersplitterung ist fort
geschritten, ist absolut geworden, und Kant war es selber gewe
sen, der solcher Entwicklung den Weg gewiesen hat. Soll [es]
Metaphysik geben, so kann sie nur wieder ein Wertgebiet - ra
tionales oder irrationales, beredtes oder schweigendes - zwi
schen allen anderen autonomen Wertgebieten sein. Ein Z u
stand, der sich teilweise in der Meinung »Religion ist
Privatangelegenheit« verwirklicht hat. Aber Metaphysik ist
nicht Privatangelegenheit, sie ist ein soziales Phänomen ersten
Ranges, ja sie ist es vor allem: innerhalb der einzelnen Wertge-
bicte wirken nichts anderes als aufgesplitterte, autonom gewor
dene Teilmetaphysiken - die Angehörigen eines Wertgebietes
können sich überhaupt bloß auf dem Boden ihrer gemeinsamen
Metaphysik verständigen, denn in dieser Metaphysik ist ja der
Wert, sei er [als] der wissenschaftliche, kaufmännische, künst
lerische oder [als] sonstweicher konstituiert. Ihr oberster G el
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tungsanspruch: das Bedürfnis des Lebens in seiner Beängsti
gung, sich um einen ethischen Zentralwert zu gruppieren, es
unterzustellen einer ausgezeichneten Instanz, die den Tod auf
hebt und ihn zeitlos macht, ist in Relativierung des Objektiven
auf unzählige Wertgebiete, von denen jedes innere Objektivi
tät, jedes ein internes Part pour Part ihres eigenen Zentralwer
tes verlangt, aufgespalten.
Was bleibt also für die Metaphysik? das Leben selber, stumm
und vielfältig, das schweigende Gefühl? Metaphysik aber ist
Ausdruck, ist rationale Konstituierung des Ethischen, verlangt
nach dem Verständlichmachen, nach der Verständigung im So
zialen: soweit es stumm war, vermochte es sich ins Mystische
zu retten, in jene pietistische Mystik, die die reformierte Kirche
(aber auch die katholische Kirche, soweit sie lebendig bleiben
wollte) immer noch offen hielt. Aber mit dieser stummen Kom
ponente war immer weniger das Auslangen zu finden, das me
taphysische Bedürfnis, kurz das Bedürfnis nach dem Lebens
wert spaltete sich selber auf, mußte auf verschiedenen Gebieten
heimisch werden, um erst in einer Gesamtheit seine Lebensbe
friedigung zu erlangen. In dieser Obdachlosigkeit des Meta
physischen, in diesem Suchen nach seinem rationalen Ausdruck
erhielt das Ästhetische seine besondere Bedeutung für den
Geist der neuen Zeit.
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dem der Künstler geworden, von denen es bloß einen esote
risch-technischen Beigeschmack erhalten hat. Was aber das
Publikum von der Kunst nun in jeder ihrer Gestalten verlangte,
war gewiß ästhetischer »Genuß«, also Manifestation der fort
schreitenden Materialisation der Zeit (obwohl das Mittelalter
gewiß nicht weniger genußhungrig gewesen war), aber es war
auch mehr, war die Forderung, daß die Kunst etwas von jenem
metaphysischen Lebensinhalt hergebe, den sie aus ihrer kirch
lichen Periode doch mitgenommen haben mußte: niemals frü
her war die Kunst so sehr »höherer Lebensinhalt« geworden
wie im Zeitalter des Bürgers; an der Ausübung der Kunst und
noch mehr in der Aufnahmsfähigkeit für Kunst begann man
seinen eigenen menschlichen Wert zu messen.
Klar ist aber, daß das Bedürfnis nach rationalem metaphysi
schen Ausdruck weder von der bildenden Kunst noch von der
Musik befriedigt werden konnte, ja nicht einmal vom stets vor
handen gewesenen Dichterischen: es mußte etwas kommen,
das aus der Irrationalität des Künstlerischen die Rationalität
des Reflexiven entstehen läßt, das zwischen der Grenze des
Wissenschaftlichen und der Grenze des Mystischen einge
schlossen liegen soll, ein neues autonomes Wertgebiet und logi
scher Ort des Metaphysischen: es war das Gebiet der Literatur,
das im Laufe des 18. Jahrhundertes aus dem Dichterischen ent
wachsen ist, es wurde der Roman. Nicht Kant wurde der meta
physische Führer der neuen Geistigkeit, sondern Goethe wurde
es. Fast im gleichen Jahre10, da die Kritik der reinen Vernunft
die Metaphysik aus der Wissenschaft verbannte, fand sie mit
dem Wilhelm Meister in der Literatur das für sie gebaute Haus.
In dem in sich abgeschlossenen Bereich der Literatur findet im
wahren Sinne des Wortes die Stummheit dieser Zeit ihre Spra
che wieder. Auch dies offenbar ein Zeichen der Wertzerspal
tung und Wertautonomie, die die Sprache nur mehr dort gelten
lassen will, wo sie wesenhaft und konstituierend hingehört. Al
lerdings: warum dann Literatur und nicht Dichtung? oder prä
ziser ausgedrückt: mußte dem Dichterischen, Sprachkünstleri-
schen, wie es bestanden hat, seitdem Kunst existiert, also
immer, tatsächlich ein neuer Wesenszug aufgedrückt werden,
damit es für das metaphysische Bedürfnis aufnahmsfähig
werde? sinnlose Umgestaltung, da Dichtung stets Vermittlerin
metaphysischer Tiefenerkenntnis gewesen war? das ist nun
180
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trotz allem eine rhetorische Frage angesichts der Tatsache, daß
das Dichterische in die Kategorie des Unmittelbaren fällt, daß
sein Ausdruck ein Aufzeigen, ein Hinweis, ein Hindeuten und
Auf deuten des unmittelbaren Erlebnisses ist, niemals aber des
sen Beweis: Metaphysik aber ist Beweis, und an dem einzelnen
Erlebnisfall kann nichts bewiesen werden, ehe er nicht in den
Zusammenhang eines Systems sich gegenseitig stützender Teile
gestellt ist-M etaphysik ist Kosmogonie, ist das polyhistorische
Organon aller Tatsachen, verbunden und eingebaut in das Sy
stemgerüst der Ratio. Und in dem Augenblicke, da das Dichte
rische, kraft seiner sprachlichen Befähigung, auserkoren wird,
zum metaphysischen Ausdruck zu werden, mußte eben dessen
Wesentlichstes hinzutreten: das polyhistorische System, die re
flexive Verbundenheit der Tatsachen, kurz das Prinzip der
»Bildung« (im wahren Doppelsinn dieses Wortes!). Der Begriff
der Bildung scheidet die Literatur von der Dichtung.
»Bildung« als Polyhistorie war einst die ausschließliche Do
mäne der Philosophie, und daß sie dies zu sein habe, ging aus
der metaphysischen Form der mittelalterlichen Philosophie
hervor, deren Tradition ja trotz allem lebendig geblieben war.
Dieses polyhistorische Ideal war nicht nur noch im deutschen
Idealismus in voller Stärke lebendig, um so lebendiger, je meta
physischer er mit Hegel wurde, er ging von hier aus, wenn auch
verblaßter schon, in die strengere Auffassung des Neukantia
nismus ein, sondern war auch das geradezu verheerende Ideal
Comtes und eines Positivismus, der das Positivistische zu einem
inhaltlich-metaphysischen Prinzip verdrehte und zur Vorstel
lung einer Philosophie als Generalwissenschaft gelangte: Vor
stellung einer Philosophie als Wissenschaftsenzyklopädie und
Ehrgeiz des Philosophen, seine Bildung auf alle Gebiete aus
dehnen zu können, Fachmann auf allen Gebieten zu sein. Und
da dies bei der Entwicklung der Wissenschaften stets unmögli
cher wurde oder bloß um den Preis zunehmender Verflachung
zu erreichen war - Spencer und Wundt wandelten auf diesem
ebenen aber breiten W eg-, so wurden für das 19. Jahrhundert
jene merkwürdigen Fachmanns-Philosophien charakteristisch,
jene sonderbaren Naturphilosophien von Naturforschern, Ge
schichtsphilosophien von Historikern, Wirtschaftsphilosophien
von Bankfachleuten, Kunstphilosophien von Kunsthistorikern,
die eigentlich zusammen »die Philosophie« hätten darstellen
181
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müssen, eine summa rationaliae, dennoch aber, reiht man sie
aneinander, bloß eine Summa der Platitüden sind. Nietzsche
hat dies vielleicht als erster mit der vollen Eindringlichkeit des
positivistischen Metaphysikers erkannt, und die Wendung sei
ner Philosophie ins Literarische, ins Dichterische, ins Irratio
nal-Hymnische ist so offenkundig, daß es nicht weiter aufge
wiesen werden muß, wohl aber, daß er es war, der erkannt
hatte, daß der Bildungsbegriff nicht eine Summe rationalen
Wissens bedeuten dürfe, die ihn zum bloßen zivilisatorischen
Instrument der Volksschule herabdrückt, sondern daß, in aller
contradictio von Zivilisation und Kultur, auch die Rationalität
der Bildung von einer organischen, produktiven Einheit getra
gen und durchtränkt zu sein habe, die vielleicht in der Sprache
liegt, mit der Bildung vermittelt wird, sicherlich aber - und dies
liegt in der besonderen Art der Selektion, unter der die Bildung
zusammengesetzt wird - eine Manifestation des Stiles ist, des Le
bensstiles oder auch nur des Sprachstiles, dessen Hervorbrin
gung in die Sphäre des Künstlerischen und Dichterischen fällt.
Auch an dieser Wiege steht die Renaissance. Die Hoffnung
auf die neue metaphysische Kosmogonie, die aus der Verbin
dung von Dichtungs- und Bildungselementen hervorgehen soll,
war plötzlich auf gebrochen, und 1587 erschien Das Volksbuch
vom Dr. Faust, der »alle Gründ am Himmel und Erden erfor
schen«11 will. Wenn es trotz der Vehemenz des Einsatzes den
noch fast zwei Jahrhunderte noch dauern sollte, bis die neue
metaphysische Form gefunden war, so lag es vielleicht nicht nur
an den bekannt widrigen Zeitumständen des dreißigjährigen
Krieges, der auf den anderen geistigen Gebieten wesentlich un
bemerkter geblieben ist, sondern wohl daran, daß das prote
stantische Denken fürs erste sich jeder Metaphysik verschloß.
Auch hier mußte der Umweg über den Katholizismus genom
men werden, und das allerchristlichst gebliebene Frankreich
wurde nach der Hugenottenvertreibung zum eigentlichen Va
terland der Literatur und damit auch der europäischen Bildung.
Es ist, als ob der Katholizismus mit der fiktiven Aufrechthal
tung seiner unveränderten Kosmogonie bloß kleine Teile zur
Umformung abgeben würde, gewisse unverbindliche Ästheti
zismen, für die er nun in Umkehrung des Verhältnisses sich auf
die Konzilianz: »Kunst ist Privatsache«, ja auch »Bildung ist
Privatsache« zurückzog (dies ist ja das Rückzugsgefecht des
182
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Katholizismus gewesen: »Alles ist Privatsache, bloß die Religion
ist es nicht!«), und daß in dieser scheinbaren Toleranz der
Übertritt der Metaphysik auf das Gebiet der Literatur und das
der Bildung nun rasch, reibungslos und deutlich sichtbar vor
sich gegangen wäre. Die naive und rationalistische Methode,
mit der der humanistische Eklektizismus mit alten Formeln
hantierte, kam diesen Tendenzen wesentlich entgegen oder
richtiger, mußte von ihnen geradezu aufgesucht werden, und
ebensowenig ist es ein Zufall zu nennen, daß diese Entwicklung
im Umkreis eines skeptischen, ästhetisierenden Hofes und sei
ner Aristokratie vor sich ging. Hier erhielt die Literatur und
mittelbar durch sie auch die Metaphysik schon jene dilettan
tische Anfärbung, mit der sie seitdem ausgezeichnet ist. Der
Begriff des Dilettantismus wäre für das Mittelalter unfaßbar
gewesen: innerhalb des einen großen Wertsystems, in dem das
Leben statthatte, gab es keine Nebengleise, gab es keine Ver
kleinerungen, und am weitesten vom Dilettantismus stand der
geistige Träger des Geistes, stand der Kleriker. Nun, da die me
taphysische Last von seinen Schultern abzugleiten begann und
die Literatur zu ihrer Trägerin werden sollte, sie bloßer Einzel
bereich unter allen anderen Wertbereichen, statt über ihnen al
len zu thronen, da mußte auf dem verkleinerten Gebiet die Me
taphysik nicht minder verkleinert werden, Verkleinerung, für
die es bloß sinnfälliger Ausdruck ist, daß die Literatur als
Kunstdisziplin nicht mehr imstande ist, ein System wie die alte
Metaphysik zu bilden, sondern ihr System bloß im Einzelkunst
werk verkleinert widerspiegeln kann, Verkleinerung, die den
Geist der Gotik zu etwas verdünnte, das bestenfalls spirituell
war, Verkleinerung, die die kosmogonische Konstruktion
durch den Atheismus der Bildung ersetzen zu können glaubte.
Der Atheismus war das Wesen der katholischen Literatur, sie
fand erst zum Gott und zum Geist zurück, als sie wieder im Pro
testantismus einmündete. Hier erhielt nun der »Geist« im lite
rarischen Sinn, dieses ominöse Wort, seinen definitorischen
Gehalt: Bildung, die vom Dichterischen und Unmittelbaren her
ihre organ-selektive Formung empfangen hat, oder, weil es sich
um bipolare Begriffe handelt, Dichtung, die sich am Bildungs
inhalt manifestiert und ihn ins Unmittelbare rückverwandelt
hat. Nicht anders eben, wie einst Metaphysik zwischen dem Ra
tionalen und dem Unmittelbaren gespannt war, und die beiden
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Pole zur Einheit verbindend, in dieser Einheit des Zeugenden
und Gezeugten nicht nur zum Geiste der Epoche, sondern in
letzter kosmogonischer Konsequenz zum heiligen Geiste ge
worden war. Dichtung wurde durch Formbildung zur verdich
teten Welt, und durch verdichtende Dichtung wurde Bildung
zum geformten Geist. Dieses Bildungsproblem im höchsten
Sinne des Polyhistorischen durchzieht das gesamte Goethesche
Schaffen: der höfische Dilettantismus hatte sich durch die Bil
dung und in der Bildung zu jenem Dilettantismus gewandelt,
den zu besitzen Goethe sich rühmt und der nichts anderes [ist]
als die »göttliche Ironie« des klassisch-romantischen Lebens
stiles.
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errichtet und in ihm plausibel gemacht werden.
Wie groß diese Schwierigkeiten sind, zeigt schon der Wilhelm
Meister, zeigt die Unabgeschlossenheit der moralischen Hal
tung des Buches und das Bemühen Goethes um das Problem
der Bildung in diesem Werke, seine eigene Unbefriedigtheit,
die ihn dazu trieb, das Problem sodann nochmals im zweiten
Teil des Faust wiederaufzunehmen. Niemand wird behaupten
können, daß die Schwierigkeiten seitdem geringer oder die Lö
sungen vollkommener als bei Goethe geworden seien. Es gibt
zwei Möglichkeiten, um Bildungselemente im literarischen
Ausdruck unterzubringen: entweder werden sie von der beglei
tenden Stimme des Autors vorgetragen, sind also ein Motiv der
Beschreibung und ein Regiebehelf, oder sie gehören zum Cha
rakteristikum der handelnden Personen, die in irgendeine Be
ziehung zur Bildung gestellt werden. Man wundert sich gera
dezu, daß hundert Jahre nach Goethes Tod derartig naive
Lösungen wie von G ide12 versucht werden, welcher seine han
deinen Personen einfach rezente Forschungsergebnisse der
Wissenschaft vortragen läßt, um das notwendige polyhistori
sche Niveau festzuhalten. Diese direkte Übertragung von Bil
dungselementen in das Kunstwerk, nicht viel anders wie die
Verwendung von Originalzündhölzern auf gewissen Gemälden,
wurde bereits von Zola geübt, sicherlich sogar mit stärkerem
künstlerischen Gewissen, da die Bildungsmotive nicht punk
tuell über das Werk verstreut waren, sondern dieses selbst zum
Exempel irgendeiner wissenschaftlichen Theorie machen.
Ähnliches läßt sich am Zauberberg13 zeigen, dessen künstleri
sche Architektonik in der einheitlichen Durchführung dieses
Prinzipes besteht: nicht nur in seiner Gesamtheit demonstriert
er einen medizinisch-neurotischen »Fall«, sondern auch fast je
des Einzelkapitel bekommt sein eigenes wissenschaftstheore
tisches Gesicht, und wenn die Einzelperson zum Sprecher ir
gendwelcher wissenschaftlicher Lehrmeinungen gemacht wird,
so verhindert die durchgängige Architektonik, daß derlei Aus
sprüche so punktuell wirken wie bei Gide.
Was hier vor sich geht, ist eine allerdings verwischte Wieder
holung.
Aber wahrscheinlich kommt es auf diese Art der Wissen
schaftlichkeit hier gar nicht an. Es ist als ob in vielen dieser Bü
cher immer wieder zwei Prinzipien verwechselt würden, näm-
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lieh das Prinzip einer möglichst großen Lebensbreite, in die
auch alle wissenschaftlichen Ergebnisse einzugehen hätten, und
das Prinzip der moralischen Haltung, die sich in dem Wissen um
die Welt zu begründen hat. Gewiß gehören beide Prinzipien zu
sammen zu einer kosmogonischen Metaphysik, aber für den
Roman steht das ethisch metaphysische Problem dennoch im
Vordergrund, und was mit dem handelnden Menschen nicht
unmittelbar verbunden ist, und zwar bestimmend verbunden,
das mag trotz aller Lebensbreite wie als Beiwerk wirken, wäh
rend jene Bildungselemente, die für die Handlung und die ethi
sche Haltung determinierend sind, ihren legitimen Platz behal
ten. Es ist eine Art Bildungsarchitektonik, die damit verlangt
wird: etwa eben so, daß die Aufspannung eines gewissen wis
senschaftlichen Rahmens (wie der der Vererbungstheorie bei
Zola oder der Neurosenlehre im Zauberberg) dann legitim
wird, wenn sie das ethische Problem des in dem Rahmen han
delnden Menschen zu bestimmen geeignet ist. Wo dies nicht der
Fall ist, wo wie bei Gide die Neurosenlehre bloß als G e
sprächsthema eingeflochten wird, wirkt sie sinnlos.
Diese Beziehung zur ethischen Haltung hat eine, vielleicht be
dauerliche, sicherlich aber notwendige Auswahl der wissen
schaftlichen Inhalte geschaffen. Denn es ist klar, daß soziologi
sche, psychologische, ökonomische Einflüsse eine andere
moralische Wichtigkeit besitzen, als etwa Ergebnisse der Elek
tronentheorie, die im Roman wohl niemals eine andere als eine
periphere Rolle wird spielen können. Allerdings will es schei
nen, als ob in diesen eigentlichsten Belangen des Romans der
Bildungscharakter höchst überflüssig wäre und hinter der
schöpferischen dichterischen Arbeit zurücktrete, ja als ob sich
das Verhältnis geradezu umkehre und nicht die Wissenschaft
das Material zum Roman, sondern der Roman das Material zur
Wissenschaft liefere: zwar ist es kein Zufall, daß Balzac die so
ziale Struktur seiner Periode aufrollte und gleichzeitig Comte
die Soziologie begründete, aber sicherlich hat er von Comte
nichts gewußt, und wahrscheinlich hätte die Comedie hu-
maine14 nicht anders ausgesehen, wenn er von der Soziologie
etwas gewußt hätte; ja auch von Zola wäre zu behaupten, daß
sein Werk nicht wesentlich anders ausgefallen wäre, wenn er
auf den theoretisch-sozialistischen Unterbau verzichtet hätte.
Und weder für Stendhals noch für Dostojewskis Tiefenpsycho
186
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logie war die Kenntnis der Psychoanalyse vorausgesetzt. Ist
dem so, so wäre die These von der Bildungsdurchsetzung der
Literatur falsch, und auch Goethes Bestreben wäre ein frustra-
nes gewesen: der Roman hätte Dichtung ohne irgendwelche
polyhistorische Ambitionen zu bleiben, Dichtung, wie eben
Lyrik Dichtung und nur Dichtung ist. Und noch etwas ergäbe
sich aus dieser Umkehrung des Verhältnisses: daß nämlich die
Literatur hier bloß ein vorwissenschaftliches Stadium darstelle,
daß sie etwa psychologische Typen insolange schildern dürfe,
als nicht eine wissenschaftliche psychologische Typentheorie
geschaffen ist, daß sie aber in diesem Augenblick das Thema an
den berufenen Wissenschaftler abzugeben habe, wenn sie nicht
zur Banalität werden will. Die literarische Thematik stünde sol
cherart zwischen einem »Noch nicht« und einem »Nicht mehr«,
das ihr die Wissenschaft zur Erledigung überläßt.
Abgesehen davon, daß der Erfolg des Ulysses15 auf die offiziell
bestätigte Unsittlichkeit des Buches zurückgeführt werden
könnte, daß der Wert der Bilder Chiricos16 als Spekulation
eines Kunsthandels betrachtet werden darf, die an die Hausse
des Impressionismus erinnert, daß die Bejahung der atonalen
Musik einem Publikum zuzuschreiben wäre, das von einer
Nachwelt nicht so widerlegt zu werden wünscht, wie es seinen
Vätern im Fall Wagner geschehen ist, abgesehen von solchen
rationalen, spekulationsmäßigen oder snobistischen Motiven,
ist hier zweifellos ein Prinzipielles zu sehen: die soziale Aner
kennung des Esoterischen in der Kunst, eine Anerkennung, die
sich sogar an dem allgemein gültigen Wertmaßstab dieser Zeit,
am finanziellen Erfolg ablesen läßt.
Die Wendung zum Esoterischen in der Literatur hat sich ge
genüber der der Malerei um etwa zwanzig Jahre verspätet; da
mals hieß es Part pour Part, und dieses verhältnismäßig einfache
Schlagwort genügte für ein Gebiet geringer Intellektualität.
Gewiß wurden schon damals Versuche gemacht, das Part pour
Part auf die Literatur zu übertragen, aber diese Versuche, die
das Farbentechnische einfach ins Worttechnische übersetzen
wollten, mußten in einer gewissen kunstgewerblich sakralen
Simplifizierung steckenbleiben, wie sie der Stern des Bundes17
trotz allem ist, oder bei Baudelaire, oder bei Huysmans18. Die
kognitiven und intellektuellen Möglichkeiten des Literarischen
187
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sind viel zu umfassend, um ohne weiteres in das 1’art pour l’art-
Schema ohne eine außerordentliche Verarmung und Ver
schneidung, die bis zum Dadaismus zu radikalisieren wäre, ein
gespannt werden zu können, und es mußte ein Genie kommen,
um die längst fällig gewesene Wendung tatsächlich herbeizu
führen, ein Genie, das aus den unendlichen Möglichkeiten des
Literarischen jene letzt-radikalen Konsequenzen zu ziehen
vermochte, die es auf sich selbst stellen und es von jedem ande
ren Gebiet und von allem Publikumsmäßigen unabhängig ma
chen. Dieses Genie war Joyce.
Sowohl die Unmittelbarkeit als die Stummheit der Zeit haben
die Metaphysik in das Gebiet der Literatur gedrängt und sie zu
einer Art glänzenden Aschenbrödels gemacht; haben sie nicht
nur in die Aschenbrödelkammer abgeschoben, sondern werten
sie auch demgemäß ein. Der Angriffspunkt liegt im Begriff des
Polyhistorismus, ohne den kein metaphysisches System errich
tet werden kann, ohne sofort in sich zusammenzufallen, im Be
griff der »Bildung«, ohne die Polyhistorismus nicht denkbar ist
und die für die Literatur etwa die gleiche Rolle spielt, wie der
Polyhistorismus für die »wissenschaftliche« Metaphysik. »Bil
dung« ist es, was die Literatur vom Dichterischen scheidet; sie
ist hier das polyhistorische Element, das in aller Metaphysik
zwischen dem Unmittelbaren und dem Rationalen steht. Man
könnte es auch so ausdrücken: die Stelle, welche in der alten
Metaphysik das Unmittelbare einnimmt, wird in der Literatur
vom Dichterischen eingenommen, die Stelle des Wissenschaft
lichen aber von der Bildung. Und so wie echte Metaphysik bloß
als kosmogonisches Organon der unmittelbaren und rationalen
Elemente entstehen kann, so ist Literatur ein Organon von
Dichtung und Bildung, beides Formungsprinzipien ihres Aus
druckes, dennoch beide auch ihr Inhalt.
Wir wissen es nicht, ob es eine Stufung des Unmittelbaren gibt
oder können eine solche Stufung bloß durch eine komplizier
tere Werttheorie fiktionieren. Aber wir wissen, daß der, der
Unmittelbarkeit zu besitzen vermeint, von stärkster Aggression
gegen alles erfüllt ist, was von solcher Unmittelbarkeit, die ihm
Gnade des »Geistes« ist, abweicht: Kunst ist gewiß weitge
hende Unmittelbarkeit, und dennoch war der von der mysti
schen Unmittelbarkeit erfüllte Savonarola ihr Verfolger; aber
der vom Geist des unmittelbar Künstlerischen erfüllte Mensch
188
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wird fast mit dem gleichen verständnislosen Haß das Tun des
mystischen Bilderstürmers betrachten. Sicher aber ist, daß je
der, der vom Hauch des Unmittelbaren getragen ist, tiefe Ab
neigung gegen das Nicht-Unmittelbare, gegen das Rein-Ratio
nale hegen wird, mit jenem Haß, der das Unmittelbare zur
Revolution und Destruktion alles bereits Geformten antreibt.
Denn im Unmittelbaren lebt die Überzeugung, berechtigte
Überzeugung, wertschaffender und kulturschaffender Geist zu
sein, und die bestehenden rationalen Werte wird er stets als zi
vilisatorische Formen betrachten, deren Vernichtung nur posi
tive Konsequenzen haben kann. Solche Kräfte sind gegen die
»Bildung« besonders leicht zu mobilisieren und werden um so
leichter mobilisiert, je mehr eine Zeit auf »Tat« eingestellt ist.
Der gesunde Menschenverstand braucht keine Bildung, sein
»Geist« liegt im Unmittelbaren, und so ist jede Revolution
gleichzeitig auch bildungsfeindlich, antiintellektuell, genauso
wie der Protestantismus, dem Humanismus äußerlich verbun
den, antihumanistisch war, vielfach »mittelalterlicher« als er
sich den Anschein gab, sicherlich eine antiintellektuelle Fär
bung besaß, die bloß auf dem Boden der Tat gedeihen kann. Im
vollkommensten Sinne war Luther der Tatmensch.
An dieser Verachtung des Intellektuellen, der Bildung, des
Wortes hat die literarische Metaphysik zu tragen. Ragt die Li
teratur mit ihrer dichterischen Komponente in die Kultur, mit
ihrer Bildungskomponente in die Zivilisation dieser Zeit, so ist
sie in beiden Polen der Verachtung des Tatmenschen ausge
setzt.1
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10 Kants Kritik der reinen Vernunft erschien 1781, Goethes Wilhelm Meisters
Lehrjahre jedoch erst 1796. Allerdings arbeitete Goethe 1781 bereits an dem
Roman Wilhelm Meisters theatralische Sendung, den er 1785 fertigstellte.
11 Historia von D. Johann Fausten (1587), in: Das Volksbuch vom Doctor Faust
(Halle 1878), Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII.
Jahrhunderts No. 7 u. 8, S. 13.
12 Andre Gide, Les Faux-Monnayeurs (1925).
13 Thomas Mann, Der Zauberberg (1924).
14 Honore de Balzac, La Comedie Humaine (1829-1854).
15 James Joyce, Ulysses (1922).
16 Giorgio de Chirico (geb. 1888), Mitbegründer der »Pittura metafisica«.
Broch sah in Chirico einen Geistesverwandten und wünschte sich für den
Schutzumschlag seines Romans Der Tod des Vergil eine Darstellung im Stil
seiner Malerei.
17 Stefan George, Der Stern des Bundes (1914).
18 Joris-Karl Huysmans (1848-1907), frz. Schriftsteller.
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T heologie, Positivism us
und D ichtung
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kognitiv begleitet: es gibt auch für den Ungläubigen keinen
Schritt ohne ein »ich glaube«, ein »ich glaube«, das die Welt
wirklichkeit (sei sie nun als 2 X 2 = 4, sei sie als Schlafen, Es
sen, Häuser, Bäume gegeben) bejaht, eine Bejahung und ein
»ich glaube«, das als Generalnenner vor jedem Erlebnisakt
steht und wie jeder derartige Generalnenner automatisch her
ausfällt. Daß er überhaupt vorhanden ist, kann wie beim reli
giösen Glauben bloß infolge introspektiver Gewißheit und In
tuition erkannt werden.
Akzeptiert man eine derartige übergeordnete, rein erkennt
nistheoretische oder richtiger noumenale Glaubenskategorie,
so sind religiöser Glaube und religiöser Unglaube bloß zwei
Spezialfälle. Und da diese beiden Unterbegriffe komplementär
definiert werden können, so füllen sie den ganzen logischen
Raum des übergeordneten allgemeinen Glaubensbegriffes aus.
(Was nicht hindert, daß man auch noch andere Spezialfälle
darin aufstellen könnte.) Da ferner die beiden Begriffe kom
plementär sind, würde es genügen, einen von ihnen zu definie
ren, um auch den andern zu kennen. Und da es sich schließlich
um weitgehend absolutierte Begriffe handelt, so ist eigentlich
weder der eine noch der andere als solcher zu erkennen, es sei
denn durch intuitive Erfassung, oder aber durch die Vorgänge,
die sich an der Grenzscheide zwischen Glauben und Unglauben
abspielen, d. h. im Empirischen, also im Zeitlichen, jene Vor
gänge, die vonstatten gehen, wenn Glauben in Unglauben,
wenn Unglauben in Glauben umschlägt. M. a. W.: Unglauben
ist invertierter Glaube, Glaube ist invertierter Unglauben, und
Glaube wird erst dann zum bemerkbaren Phänomen, wenn er
bekämpft wird.
Es handelt sich dabei sicherlich nicht um »Bekehrungen«,
nicht um den Ersatz eines Gottes durch einen andern, und auch
nicht um eine Bekehrung zu Gott, noch um eine solche zum
Freidenkertum. Und auch die Bezeichnungen »Glauben« und
»Unglauben« sind recht arge Vergröberungen des ziemlich
komplizierten Sachverhaltes. Historisch kann gesagt werden,
daß für die asiatisch-europäische Religionsgeschichte zwei
Wellenphasen miteinander abwechseln: die positivistische und
die platonische, eine Wellenbewegung, die sich auch in jedem
kleineren geistesgeschichtlichen Ablauf wiederholt. Ob es sich
hiebei um ein echtes historisches Gesetz handelt, ist natürlich
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sehr fragwürdig, um so fragwürdiger als nicht einmal Natur
gesetze einwandfreie Wirklichkeitsbilder geben. Wohl kann
unschwer gezeigt werden, daß positivistische und platonische
Geisteshaltungen so komplementär sind, wie die Bereiche des
Glaubens und Unglaubens als komplementär angenommen
wurden, doch die Beweiskraft einer erkenntnistheoretischen
Überlegung ist nicht minder fragwürdig wie die Existenz von
Gesetzlichkeiten.
Über die Geburt neuer platonischer Glaubenshaltungen aus
dem Geiste des Positivismus können die beiden letzten vor
christlichen Jahrhunderte mit ihrem Übergang von der aristo
telischen Stoa zum Neuplatonismus reichlich Aufschluß geben.
Im näheren Blickfeld und für uns übersichtlicher ist das Beispiel
des Umkehrungsprozesses, das sich im Zerfall der mittelalterli
chen Scholastik zum neuen Positivismus bietet. Besonders weil
die erkenntnistheoretischen Gründe des Zerfalls nicht nur an
der spätmittelalterlichen Periode, sondern in letzter Auswir
kung erst in der Gegenwart sichtbar werden.
Werturteile, die von der »scholastischen Erstarrung« spre
chen, treffen den Sachverhalt bloß zu einem sehr geringen Teil.
Gewiß »erstarrt« der Glauben innerhalb seiner Theologie: die
Ansicht aber, daß die Theologie der Feind des Glaubens sei,
daß der Glaube eine Sonderexistenz innerhalb des Gefühls und
außerhalb des Theologischen führen könne, ist wahrhaft ketze
risch, und nichts ist so verständlich wie das Mißtrauen der Kir
che gegen die Mystiker und ihren Gefühlsüberschwang. Denn
der Glaube ist, so sehr er auch alle irrationalen Lebensäuße
rungen des Gläubigen durchflutet, letzten Endes rational und
kognitiv: wäre er dies nicht, so könnte er zur Not im Gefühlsle
ben eine Rolle spielen, aber er könnte nimmer als Evidenz
punkt für die rationale und gedankliche Welterfassung gelten.
Dies aber muß er tun, dies tat er, denn bloß in dieser Alldurch
dringung des Rationalen und Irrationalen mit seiner Plausibili
tät und Evidenz wurde er eben zu dem, was er ist, nämlich zum
Glauben.
Die Theologie nun ist die rationale Zusammenfassung aller
kognitiven Elemente des Glaubens. Sie umfaßt in gleicher
Weise die Gotteserkenntnis, als die Kosmogonie der irdischen
Welt, als die Skala aller Werte, nach denen das Leben des
Gläubigen sich richtet: die Theologie ist das rationale Apper
193
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zeptionsschema, in welchem der Gläubige die Welt erblickt, er
kennt, und in dem sie ihm die Welt ist. Diese Welt, wahrhaft
vom transzendentalen Bewußtsein, das hier Gott ist, gesetzt,
von jenem heiligen Geist, dem das Einzelbewußtsein bloß Wi
derglanzist, diese Welt ist ohne Bruch, sie ruht mit jedem ihrer
Teile auf ihrer rationalen Plausibilitätsbasis. Diese durchgän
gige Rationalität, deren höchste Steigerung noch immer in der
echten Mystik sichtbar ist, diese [Rationalität] alles Denkens
und Welterfassens auf der Plausibilitätsebene des Glaubens
gibt dem theologischen Weltbild sein eigentümliches Stigma:
das Stigma der Beweisbarkeit. Alle Überlegungen des theolo
gischen Denkens gehen von der Plausibilitätsebene aus und
kehren zu ihr zurück: radikalisiert und zugespitzt ließe sich sa
gen, daß Deduktion und Dialektik bloß im theologischen Den
ken möglich sind, ja, daß derjenige, der deduktiv denkt, auch
schon theologisch denkt.
Religiöse Bewegungen endigen und regenerieren sich durch
die Erschöpfung ihrer Dialektik. Die deduktiven Beweisfüh
rungen stimmen, und dennoch stimmt plötzlich das ganze Sy
stem nicht mehr. Diese Erschöpfung des Logischen einer be
stimmten Stufe (wie man es wohl nennen dürfte) ist sehr
komplexer Natur, ist noch weitgehend undurchsichtig - ob
gleich man es von allerlei empirischen Ursachen des Psycholo
gischen, des Ökonomischen, des Soziologischen abhängig zu
machen suchte - und hängt erkenntnistheoretisch sicherlich
weitgehend von den Unendlichkeitsbegriffen ab, die selbst im
deduktiven System immer wieder die Grenze der Beweisbar
keit darstellen. Von außen besehen, zeigt sich dieser Sachver
halt als Diskrepanz zwischen den logischen Überlegungen und
den empirischen Tatsachen der Welt. D. h. das ptolemäische
System wird einfach nicht mehr geglaubt, obwohl es deduktiv
nach wie vor stimmt. Dieser scheinbare Schub, den die E r
kenntnis innerhalb einer Krisenzeit von den empirischen
Tatsachen her erfährt, wird Positivismus genannt. Der Positi
vismus ist die Krisenerscheinung der Theologie schlechthin; er
ist ein Wellental der Deduktion, ein Tal, das nicht überbrückt
werden kann, sondern durchschritten werden muß. Es ist ziem
lich gleichgültig, ob tatsächlich im historischen Ablauf und in
nerhalb des empirischen Geschehens das Debäcle der Dialektik
an den Unendlichkeitsproblemen den Anstoß zum Aufkom
194
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men des Positivismus bildet, oder ob hier eine überindividuelle
Zustandsänderung des Weltgeistes vor sich geht, für die jenes
Debäcle bloß ein Symptom unter anderen darstellt. Im allge
meinen schert sich das positivistische Denken um die Feinhei
ten des von ihm überwundenen dialektischen recht wenig, denn
- theologisch »ungelehrt« wie es ist und sein will - begnügt es
sich mit der Verachtung der Dialektik, begnügt sich mit der
Binsenwahrheit: mit Reden kann nichts bewiesen werden; bloß
Tatsachen beweisen. Allerdings kann sich der Positivismus in
der Auswertung der Tatsachen bloß sehr sukzessive von den
dialektischen Denkformen freimachen: ob dieser Loslösungs
prozeß heute schon vollendet ist, kann kaum behauptet wer
den; sicher ist, daß das 19. Jahrhundert trotz allem Materialis
mus noch unter der Herrschaft der Mischform steht, wofür etwa
die marxistische Konstruktion das prägnanteste Beispiel liefert.
Es kann kein Zweifel bestehen, daß es in dem post-dialekti
schen Denken, wie es eben das 18. und 19. Jahrhundert aus
zeichnet, wesentlich unreiner und »unwissenschaftlicher« zu
gegangen ist als in der »dunklen« Scholastik, und daß etwa vom
Induktionsschluß, der von irgendeiner empirischen Tatsache
auf ganze Reihen solcher Tatsachen schließt, in einer ganz un
verantwortlichen Weise Gebrauch gemacht wurde. Es zeugt
von einer ungeheueren Elastizität der Wirklichkeit, daß sie sich
jedem Apperzeptionsschema, und auch dem abstrusesten, un
terwerfen läßt, und daß etwa der Marxismus mit allen Denk
fehlern imstande ist, die Welt zu »formen«, resp. die Formung
der Welt unter seiner Betrachtungsweise zuläßt. Die Welt ist
darin nicht viel anders als der menschliche Organismus, der sich
auch von den abstrusesten medizinischen Theorien »heilen«
läßt. Erst das 20. Jahrhundert brachte eine letzte Konsequenz
der nunmehr 300jährigen positivistischen Entwicklung mit dem
Mißtrauen gegen jegliche »Gesetzlichkeit« (wobei es durchaus
fraglich ist, ob damit schon die letzte Etappe der Entwicklung
erreicht ist). Mag also auch die Beobachtung durchaus richtig
sein, daß auf den Intellektualismus platonisch-dialektischer
Glaubensperioden stets der Antiintellektualismus positivisti
scher Epochen folgt, so kann ein solcher Satz (der in seiner Anti-
thetik einen Beweis für die dialektische Schlußform und das
Primat des Denkens implizite mit sich führen würde!!) nicht als
Gesetz angesprochen werden, ohne damit in die unreinen
195
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Mischformen der induktiven Methoden zurückzufallen.
Von diesem methodologischen Exkurs abgesehen: der Positi
vismus ist Abkehr von der Spekulation und Wendung zum Ob
jekt. Es entspricht der empirischen Natur des Menschen, daß
diese Wendung in zwiefacher Beziehung stattzufinden hat, in
einer introspektiven und einer extrospektiven, und es ent
spricht dem Wesen des mittelalterlichen Menschen, daß die in
trospektive Schau der extrospektiven vorausgegangen ist.
Die introspektive Wendung zum Objekt ist die Erkenntnis des
Gottesbewußtseins in der Seele, des Glaubensgrundes im eige
nen Ich. Diese »ketzerische« Wendung zum unmittelbaren
Gott zeichnete bereits das Spätmittelalter aus, ja, es ist nicht
ausgeschlossen, daß sogar schon die Ereignisse des Jahres 1000
einen Impuls dazu gegeben haben. Diese Vordatierung der
scholastischen Auflösung, die also schon begonnen hätte, ehe
noch die Scholastik ihre Hochblüte erreichte, wird von ka
tholischer Seite sicherlich zum großen Teil mit Recht angegrif
fen, kann aber für die mystischen Bewegungen des 14. Jahr
hunderts bereits mit ebensolchem Recht - siehe Troeltsch2 -
verteidigt werden. Dasausgehende 15. und das 16. Jahrhundert
entfalteten die Ansätze zur Reformation und zum Protestantis
mus, und mit gleicher Vehemenz setzte die extrospektive O b
jektwendung mit der Geburt der neuen Naturbeobachtung und
der neuen Naturwissenschaft ein.
Die radikale Wendung zum innern Objekt im Protestantismus
und die zum äußern in der neuen Naturwissenschaft bilden bloß
die beiden äußersten Pole für die Zersprengungsbreite des
neuen Weltbildes. Sie sind sozusagen die beiden äußersten E n
den, von denen aus das mittelalterliche Organon zerrissen
wurde. Statt einer Kosmogonie, die in unmittelbarer Beziehung
zu Gott und in steter Rückbeziehung zu ihm gestanden ist, sind
zwei völlig gesonderte Bereiche entstanden, ein Bereich eines
innerlich Göttlichen und einer [einer] völlig entgöttlichten Na-
turkosmogonie. Mit diesem Hauptriß ist aber die Zersprengung
keineswegs beendet. Denn mit dem Augenblick, da der plato
nische Zentralpunkt des Ichs aufgehoben und der Blick auf die
unendliche Vielfalt der Außenpunkte der Welt gerichtet wurde,
mußte, entsprechend dieser Vielfalt, die Atomisierung der Welt
in Einzelgebiete unbeschränkt weiterschreiten. Nicht nur der
Mensch als Einzelindividuum wurde herausgehoben aus dem
196
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theologischen System, in dem er bloß Stellenwert gewesen ist,
nicht bloß er wurde zum Subjekt und Objekt des neuen »Indi
vidualismus« (unter dem man lange Zeit das Phänomen der
Renaissance als zur Gänze subsummierbar sich vorstellte), son
dern jede einzelne menschliche Lebens- und Ausdrucksform
wurde zur gesonderten Individualität. Das Gesamtwertge
biet des Lebens, im Mittelalter eine Einheit, wurde zu Einzel
werten aufgelöst, und neben den Wertbereichen des Glaubens
und der Wissenschaft entstanden, ebenso gesondert, ebenso
ohne Beziehung des einen Bereichs zum andern, die Wert
gebiete der Kunst, des ökonomischen, des kriegerischen und
staatlichen Lebens. Es entstand der Machiavellismus der ein
zelnen Wertgebiete, die Autonomie des politischen wie jedes
andern Wertes proklamierend, im Grunde nichts anderes als
das Prinzip des Part pour Part, das auch für die Kunst eigentlich
schon in der Renaissance in Geltung stand und bloß 300 Jahre
zu seiner Formulierung benötigt hat.
So disparat nun diese Strebungen waren, ihr Antiintellektua
lismus war ihnen doch einigendes Band. Die Renaissance war
bekanntlich eine Zeit der »Tat«, und diese Prävalenz der »Tat«
ist überaus bezeichnend, denn schließlich ist auch vorher gerade
genug getan worden, soferne man darunter Kriegführen, Mor
den, Bauen, Niederbrennen etc. versteht. Auch Luther ist
durchaus als Tatmensch aufzufassen. Und diese Prävalenz der
Tat liegt nicht daran, daß mehr getan wurde, sondern liegt in
der Verachtung des Wortes und seiner Beweiskraft. Das Wort
bekam eine andere Bedeutung: die Sprache Gottes (die die
Sprache der Scholastik war) sollte umgestaltet werden zur Spra
che der Dinge (auf die der neue Blick gerichtet war). Und wenn
die Sprache Gottes bestand, so sollte sie es selber sein, sollte sie
sozusagen nur mehr als Original, nicht mehr als Reflexion gel
ten, wurde sie in der Luther-Bibel selber zum autonomen Ob
jekt, das keine Dialektik mehr duldete. Der dialektische Beweis
existierte nicht mehr. Und der Beweis, den die Dinge selber lie
ferten, lag in ihrer Zähl- und Meßbarkeit, so daß - radikal ge
sprochen - nur mehr eine einzige Möglichkeit der Deduktion
übrigblieb: die mathematische und geometrische. Mit dem
neuen Positivismus begann die Stummheit der Welt. (N. B. Daß
aus dem Positivismus auch die Demokratie entstehen mußte
und entstand, also die Erlösung des politisch stummen Indivi
197
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duums zum politisch demagogischen, widerlegt die These nicht:
denn das Wesen der Demokratie ist nicht sprachlicher Beweis,
sondern Wissen darum, daß es keine Beweise, sondern bloß
Meinungen - des »gesunden Menschenverstandes« - geben
kann, und daß man den sprachlichen Beweis durch Statistik
resp. durch ein Kollektivum ersetzen muß.)
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist es durchaus ver
ständlich, daß das Phänomen, das man im engeren Sinne als
Renaissance betrachtet, und jenes, das Reformation genannt
wird, in so auffallende Beziehungslosigkeit zueinander geraten
konnten, ja, daß trotz ihrer gemeinsamen Akatholizität, oder
richtiger Antikatholizität, die Renaissance unter den Schutz der
katholischen Kirche sich begeben und im Grunde deren Fort
bestand sichern konnte. Denn die Autonomie der einzelnen
Wertsysteme enthält gleichzeitig deren Absolutierung: außer
halb des Organons, außerhalb des theologischen Verbandes
stehend, verlangt jeder einzelne Wert die unumschränkte
Herrschaft sowohl über das Individuum, das sich ihm unter
worfen hat, als über die Welt, in der es keinen Nebenwert mehr
gibt, und die Bilderstürmerei des radikalen Reformatismus ist
nicht bloß die Auslegung einer zufällig vorhandenen Bibel
stelle, sondern tiefste Konsequenz der stummen Abgeschie
denheit des mystischen Wertes, in dem sich die neue Gottes
schau vollzieht und die sein Ethos ausmacht. Gewiß war es
bloß eine Scheinherrschaft, die die Kirche (und besonders der
Jesuitismus, der sich dieses Rückzugsgefechtes durchaus be
wußt gewesen ist) errichtete, als sie gegenüber dem Reforma
tismus die übrigen Wertgebiete unter ihre Fittiche nahm, also
das mittelalterliche Organon scheinbar fortsetzend; und daß
[sie] sie bloß unter Kämpfen und bloß stückweise in dieses O r
ganon einließ, entspricht dem Charakter dieses Rückzugsge
fechtes, das trotzdem eine volle Offensive gegen den Reforma
tismus darstellt. Die Kirche wurde nicht nur zur Hüterin der
Renaissancekunst, sah nicht einmal, daß ihr diese überall ins
Gesicht schlagen mußte, sondern auch, so grotesk dies nach der
neuen Sachlage war, für lange Zeit zur Mündungsstelle der
neuen Wissenschaft: Descartes und Pascals philosophische Be
strebungen waren durchaus auf das katholische Organon ge
richtet, wenn es auch nicht mehr die Methoden der dialekti
schen Scholastik waren, die sie anwandten, sondern eine
198
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Methode, die zur Regenerierung der Beweisführung dienen
sollte: more geometrico. Allerdings zeigt schon das Beispiel
Spinozas3, wie fernab vom Katholizismus und wie innerlich
diese Bestrebungen [waren], ja, daß sie eigentlich viel eher dem
Reformatismus unterzuordnen gewesen wären als der katholi
schen Theologie. So ist es auch verständlich, daß die neue
Theologie der Kirche, die Jesuitentheologie des Barocks, vom
mittelalterlichen Organon so weit entfernt ist wie die roma
nisch-gotische Gotteshalle von jenem Theaterinterieur, das
sich dann noch Kirche nannte.
Es war sicherlich richtiger Instinkt für dieses zeitgegebene
Verhältnis, daß der Reformatismus auf der Autonomie der
Werte bestand und die Bildung einer eigenen Theologie, eines
eigenen Organons, das doch von Rechts wegen das Erbe des
mittelalterlichen unter protestantischer Führung hätte sein
müssen, nicht zuließ; sowohl aus Verachtung der Dialektik, als
aus Verachtung der Gelehrtheit, als aus der neudemokratischen
Akzentverlegung des Glaubens vom Priester in die »Ge
meinde« nicht zulassen konnte. Sicherlich ist es aber auf diesen
Sachverhalt zurückzuführen, daß der Protestantismus nicht zu
einer neuen Religion werden konnte, daß Luther niemals
Heilsbringer und Religionsstifter, sondern nur Reformator und
Revolutionär werden [konnte], trotz aller Entfesselung der my
stischen Kräfte. Keiner hat dies klarer als Leibniz erkannt.
Leibniz, vollkommener Positivist, daher vollkommener Mysti
ker und vollkommener Wissenschaftler, er, das Genie des Ba
rocks, das als erstes die Autonomie der einzelnen Wertbereiche
in seiner Person vereinigte, versuchte, diese Einheit der Person
auch auf die Einheit des Systems zu übertragen und es zum
neuen Organon zu bringen. Alles, was Leibniz - unter dem Na
men seines Kryptokatholizismus bekannt - in dieser Richtung
unternahm, nicht nur in eigener religionsphilosophischer, son
dern auch in organisatorischer Arbeit, diente diesem gesamt
theologischen Zweck. Und konnte trotzdem nicht gehört wer
den. Nicht nur, weil sein Genie seiner Zeit voraus war und seine
theologische Forderung ebenso wenig verstanden werden
konnte wie seine vorwegnehmende Forderung nach der Logi
stik, noch wie seine Ahnung von mengentheoretischen Ver
hältnissen, sondern auch, weil die positivistische Auflösung des
Weltbildes noch lange nicht genug vorgeschritten war, ist sie es
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ja auch heute noch nicht, damit die Teile sich wieder zu einem
platonisch-religiösen System fügen konnten. Die Zwischen
schaltung der Monade zwischen der positivistischen, »weltli
chen« Welt und dem platonisch-intelligiblen Ich war selber
derartig scholastisch gedacht, daß der Protestantismus nimmer
imstande war und niemals imstande sein wird, sie in sich aufzu
nehmen. Denn wenn der Protestantismus auf Grund seiner po
sitivistischen Schau ins Innere und seinem idealistischen Sinn
als mystischer Glaube durchaus den positivistisch-idealisti
schen Doppelcharakter der Leibnizschen Monade trägt (si
cherlich auch zu deren Hypostasierung beigetragen hat), so wi
derstreben dennoch beide Komponenten der Theologisierung
in gleicher Weise: weder erlaubt die autonomisierte Mystik ihre
dialektische Rationalisierung, noch erlaubt der autonomisierte
positivistische Tatsachengeist eine Rückkehr zur Dialektik.
Nichtsdestoweniger und trotz aller positivistischer Auflösung
des Weltbildes ist die Sehnsucht des Menschen nach Universa
lität und Totalität unauslöschlich. Und waren Glaube und Wis
senschaft, waren alle Wertgebiete auseinandergerissen worden,
fanden sich alle irrationalen Kräfte immer mehr entfesselt, her
ausgehoben aus einer Ethik, die früher einen organischen Platz
im Gesamtgeschehen innehatte, war die Ethik bestenfalls auf
den Hinweis auf ein quäkerhaftes Leben nach der Schrift einge
engt worden (denn darauf verweist letzten Endes der Prote
stantismus), so war die Sehnsucht nach der Einheit der Welt,
auf daß in ihr auch wieder die Einheit der Persönlichkeit und
ihres ethischen Wirkens werde, nicht zum Verstummen zu
bringen. M. a. W. das Bedürfnis nach »philosophischer« Z u
sammenfassung des gesamten Weltbildes, nach dieser kognitiv
rationalen Totalität wie sie bisher in seltener Einmaligkeit das
Mittelalter bot, ist aufrecht geblieben, vielleicht aus Angst vor
den eigenen irrationalen Kräften, vielleicht in romantischer
Erinnerung an eine Zeit der innern Befriedigung, sicherlich
aber aus dem tiefsten metaphysischen Trieb des empirischen
Menschen heraus, der ihn zum Philosophieren zwingt, weil hin
ter ihm der Tod steht.
Aus diesem Sachverhalt heraus ergab sich eine überaus merk
würdige Konsequenz: die alte Scholastik war durchaus Philoso
phie gewesen, Philosophie und Beweisbarkeit war ihre Me
thode, Philosophie und Universalität war ihr Inhalt. Als sie
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zersprengt war, gab [es] mit ihrer Zersprengung eigentlich
keine Philosophie mehr. Descartes versuchte, sie durch Ände
rung der Methode noch einmal zu retten; es gelang nicht, weil
die mathematischen Mittel - more geometrico - nicht ausreich
ten. Soweit es noch Philosophie gab, mußte sie von den Resten
der alten dialektischen Methode, die nicht mehr galt, zehren;
die alte Scholastik war durchaus Philosophie gewesen, und sie
war es in ihrer Totalität. Als sie zersprengt wurde, konnte es
Philosophie, sofern es überhaupt noch Philosophie unter dieser
geänderten Voraussetzung genannt werden konnte, bloß als
Einzeldisziplin unter Einzeldisziplinen, also Philosophie als
»Wissenschaft« unter den anderen Wissenschaften, als Spreng-
stück unter den anderen Sprengstücken geben. Leibniz machte
einen letzten Versuch, gegen diese Entwicklung anzukämpfen
und die theologische Gesamtheit wiederherzustellen; auch die
ser Versuch mußte mißlingen; so blieb ein Gebilde übrig, ledig
lich getragen von dem unstillbaren metaphysischen Drang des
Menschen, der auch in der protestantisch-positivistischen Zeit
noch weiter nach der kognitiven Totalität schrie, blieb ein Ge
bilde voller Zwiespältigkeit: die idealistische Philosophie mit
dem Anspruch auf Totalitätsgeltung, obwohl sie keine Totalität
besaß, sondern selber bloß Einzelwissenschaft unter Einzelwis
senschaften sein und nichts anderes anstreben konnte, die ideali
stische Philosophie mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Be
weisbarkeit, obwohl sie selber—geboren im positivistischen Zeit
alter - genau wußte, daß die dialektische Methode, an die sie
gebunden war, keine Beweiskraft mehr hatte und es bloß eine ein
zige Beweisbarkeit, nämlich die mathematische, gab,die idealisti
sche Philosophie mit dem Anspruch, den irrationalen Kräften
des Menschen noch einmal die universale Wertgebung zu verlei
hen und die Theologie neu zu errichten, obwohl sie selber wußte,
daß eben das theologische Gebäude zersprengt war und es nur
mehr Einzelwissenschaften gab. Diese idealistische Philosophie
wurde, konnte nicht anders als es werden, die Theologie des Pro
testantismus, oder richtiger sie wurde der grandiose Versuch,
eine rein protestantische Theologie zu errichten.
Es kann durchaus nicht als Zufall angesehen werden, daß die
große idealistische Philosophie, die aus der Gärung des Barock
hervorgegangen war, von den protestantischen Theologen
Kant, Fichte, Schleiermacher, Hegel getragen wurde, sowenig
201
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wie es Zufall war, daß die Neuentdeckung Leibniz’ von katholi
schen Theologen wie Bolzano und Brentano geschehen mußte,
und es ist vielleicht am allerwenigsten ein Zufall zu nennen, daß
beide Richtungen schließlich in eine Abstraktionsform einlie-
fcn, die nicht nur durch ihre Träger Cohen und Husserl, son
dern aus ihrer Entwicklung heraus zu ihrer jüdischen G rund
form zurückkehren mußten: zur jüdischen Abstraktionsmystik
(der Cohen vielleicht näher stand, als er selber ahnte) und zur
Talmudik. Und ebensowenig ist es Zufall, daß neben dieser
Entwicklung im protestantischen Deutschland der lateinisch
katholische Geist sich immer wieder um positivistische Lösun
gen bemühte, daß, wenn auch rudimentär und unzulänglich
(und schließlich sich in Gefühlsmystik verirrend) Saint-Simon
und Comte den »Positivismus« begründeten, ungeschickte
Vorläufer dessen, was erst zur Entfaltung kommen konnte,
wenn nach völliger Erschöpfung des idealistisch-dialektischen
Denkens dieses selber aus sich heraus die nun wahrhaft wissen
schaftliche Wendung zum Positivismus vorzunehmen befähigt
ist.
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dings wesentlich anders aus als Comte und seine Nachfolger
sich vorgestellt haben. Von dem polyhistorischen Charakter der
Philosophie (den übrigens auch der deutsche Idealismus als
Nachfahre und Erbe der scholastischen Theologie für sich be
ansprucht und angestrebt hatte, so daß er in seinen letzten Aus
läufern sozusagen eine Art Wissenschaftspositivismus gewor
den ist) ist keine Spur mehr zu erblicken, und eine Regelung des
Wertsystems, die metaphysische Gründung der Ethik - die Äs
thetik wurde eigentlich schon früher fallen gelassen ist nicht
mehr zu erhoffen. Wittgenstein läßt keine Illusionen über [die]
Hoffnungslosigkeit der erkenntnistheoretischen Ignoranz zu.
Dort, wo die neue Philosophie - wie bei Russell - pour l’hon-
neur du drapeau sich noch mit den alten Problemen befaßt, ist
sie auf einen ziemlich dürftigen Empirismus verwiesen.
Manches spricht dafür, daß diese Entwicklung ihre Schatten
vorausgeworfen hat. Es handelt sich natürlich nicht darum, daß
die Philosophie schon vorher skeptische Beobachter gefunden
hat, selbst ein Achselzucken von der Monumentalität Nietz
sches ist da ohne Gewicht, es handelt sich nicht um die oder jene
Meinung über die Philosophie, sondern um die Frage, ob sich
das metaphysische Bedürfnis des Menschen noch auf andere
Weise als in seiner Philosophie Luft zu machen befähigt ist, ob
es noch einen andern Platz gibt, den die metaphysische Er
kenntnis außerhalb der Philosophie finden könnte, um sich zu
äußern, ob Phänomene in der Geschichte aufzuweisen sind, die
dieser Frage Rechnung tragen, und ob es schließlich erkennt
nistheoretische Gründe (wenn schon nicht Gesetze) gibt, die
diese Phänomene plausibel machen könnten.
Es wäre verlockend, die These aufzustellen, daß mit dem Ver
sagen der Philosophie das metaphysische und universalistische
Thema aus dieser rein rationalen Sphäre zurückzuwandern
hätte in die halbrationale Dichtkunst. Daß also mit Zerfall des
Glaubens und seiner rationalen Theologie wieder jene vorreli
giöse Epoche beginne, in welcher die Dichtkunst die Wegberei
terin, der Mutterboden, der Kochtopf für einen neuen Glauben
werde.
Die Aufstellung einer solchen These besagt natürlich nicht,
daß ein Entweder-Oder vorhanden sein müsse: entweder ein
theologisches Weltbild oder ein dichterisches. Dem, der die
Dinge in so kategorischer Weise zu sehen wünscht, kann leicht
203
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entgegengehalten werden, daß die Geburtsstunde der Divina
Commedia5 um das Jahr 1300 gefallen ist, daß also die voll
kommenste dichterische Erfassung des menschlichen Univer
sums eben in die Hochblüte des theologischen Weltbildes fällt.
Natürlich lassen sich im Historischen (leider) sowohl die The
sen als die Tatsachen entsprechend zurechtbiegen. Man könnte
sagen, daß jede Bewegung innerhalb der Geschichte sowohl
ontogenetisch als phylogenetisch vor sich gehe, daß also auch
die große Wellenbewegung Platonismus-Positivismus in un
zähligen Unterwellen sowohl während des Platonismus als des
Positivismus reproduziert werde. Man braucht bloß den kleinen
Ausschnitt der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts zu
betrachten, um zu erkennen wie hier kleine idealistische und
positivistische Phasen miteinander abwechseln. Und ebenso
erging es zweifelsohne während des Mittelalters, wofür der
Streit der Nominalisten und Realisten genügend Zeugnis ab
legt. Es ließe sich also immerhin vertreten, daß die Divina
Commedia in ein positivistisches Wellental gefallen sei, und
diese Ansicht ließe sich noch durch ihren Zusammenhang mit
der höfisch-ritterlichen Dichtung stützen, die in ihrer antik
symbolisierenden Atmosphäre eine art Prä-Renaissance inner
halb des Mittelalters darstellte, ja in gewissem Sinne sich sogar
in bewußten Gegensatz zum Weltbild der Kirche stellte. Oder
man könnte Dantes Nationalismus für eine Vorwegnahme des
Renaissancegeistes erklären. Aber alle derartigen Überlegun
gen, zum überwiegenden Teil auf den Rang von Philologismen
herabsinkend, reichen nicht im entferntesten an die Überle
bensgroße des Phänomens Dante und stehen daher knapp an
der Kippe zu Geschichtsverbiegungen. Und ebensowenig kann
die übrige poetische Produktion des Mittelalters als Beweis für
oder gegen unsere These herangezogen werden. Zwar wäre es
reizvoll, die Entstehung der Heldenlieder aus den religiösen
Erschütterungen der Heidenbekehrungen und den Ereignissen
des Jahres 1000 herzuleiten, den Roman de la Rose6 mit der be
ginnenden Auflösung des scholastischen Weltbilds in Verbin
dung zu bringen, aber das Dichterische besitzt derart viel Ab
schattungen, seine lyrischen und volksliedhaften Komponenten
gehören so durchaus einer andern und a priori autonomen E r
lebniskategorie an, die analphabetische Zeit, in [der] diese Er
eignisse vor sich gingen, gab von vorneherein einen so schmalen
204
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Untergrund ab für die Bildung einer Literatur, die sich neben
dem theologischen Gebäude sehen lassen könnte, daß jede
Hypothese, die sich auf diese Ereignisse bezieht, mit dem Au
genblicke ihres Aussprechens schief werden muß.
Wichtiger erscheint es wohl, daß die Auflösung der mittelal
terlichen Wertgebundenheit auch das Wertgebiet der Literatur
über das Lyrische hinaus autonom machen mußte, wie diese Li
teratur aus der »restitution des bonnes lettres«7, wie Rabelais
sagt, mit den Mitteln, die der Humanismus ihr lieferte, sich
gleich der bildenden Kunst selber dem positivistischen Geist
unterwerfen mußte, selber von ihm durchdrungen wurde, und
aus diesem Positivismus heraus jene Umwandlung der Sehform
erfuhr, die schon Vasari8 als Realismus bezeichnete. Gewiß
sind auch dies keine einwandfreien Begriffsbildungen. Es gibt
vor der Renaissance mindestens ebenso viele Beispiele natura
listischer Darstellung in der Literatur und in [der] bildenden
Kunst, als es innerhalb und nach der Renaissance Abweichun
gen vom Realismus gibt. Hier kann nur wieder auf Dante und
seine spezifische Form der Realistik verwiesen werden, auf
Giotto9 und Cimabue10, die von der Renaissance selber als
»Väter« ihres Realismus verehrt worden sind, kann an alle
Realismen in der gotischen Plastik erinnert werden, nicht min
der an die Bemühungen um eine realistische Darstellung bei
den van Eycks11 und ihrem Kreis. Und es wäre absolut verfehlt
zu meinen, daß der Gotik oder später dem Barock jeder Sinn
für das »Natürliche« abgegangen wäre, daß zu diesen Zeiten
eine »Durchstilisierung« aller Lebensäußerungen vor sich ge
gangen wäre, die das Leben zu einer Summe pathetischer Ge
sten umgestaltet. Dazu kommt das Problem, inwieweit die stili
sierte Darstellung selber Produkt einer Sehform gewesen ist,
die für den damaligen Beschauer realistisch erschienen sein
mag. Denn wenn [es] auch im Mittelalter wie im Barock reali
stische resp. naturalistische und stilisierte resp. supra-naturali
stische Darstellungen nebeneinander gegeben hat, so ist das
Apperzeptionsschema, durch das sie gesehen worden sind, jetzt
nicht mehr eruierbar: bei der Wohlvertrautheit mit den Symbo
len - zu denen auch die stilisierten Haltungen selber zu zählen
sind - ist die Darstellungssprache derart doppelt geworden, daß
sie sowohl in ihrer naturalistischen als stilisierten Abwandlung
in gleicher Weise verständlich geworden war, d. h. man »er
205
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kannte« das Dargestellte unterschiedslos in beiden Darstel
lungsformen. Die Theorie der »kleinen« Wellen Positivismus-
Platonismus könnte einer solchen Meinung recht geben, denn
bei der Kürze dieser Wellenbewegung, die oftmals nicht länger
alseinen Generationenwechsel währt, kann [man] bei dem G e
dächtnis der Menschen fast von Gleichzeitigkeit reden. Klar ist
es aber, daß selbst für das eingeengte Problem des Realismus
das Problem sofort auf eine derartige Komplexheit von Phäno
menen stößt, daß aus diesen selber heraus kaum eine Theorien
bildung möglich ist.
Betrachtet man dagegen die Grundhypothese der Wertzer
sprengung und der Autonomie der Werte, so findet sich für das
Realismusproblem immerhin ein möglicher Angriffspunkt. Gilt
nämlich diese Hypothese, so ergeben sich zweierlei Konse
quenzen: erstens die inhaltliche, daß der Realismus infolge der
positivistischen Wendung zum Objekt eine Färbung, mehr
noch, eine neue Begründung erhalten hat, zweitens aber die
formale, daß dieser Realismus (als Wert genommen) nun die
gleiche Autonomie zugeteilt bekam wie alle anderen Werte, die
aus der Zersprengung des mittelalterlichen Weltbildes hervor
gegangen sind. Beides scheint nun weitgehend zu stimmen. War
der Realismus des Mittelalters neben den andern stilisierenden
Ausdrucksformen sozusagen akzidentiell, so wurde er jetzt zum
alleinig tragenden Kunstprinzip, einem Kunstprinzip, das be
wußt aus dem Objekt herausgearbeitet [wurde], und das deutli
cher denn vieles andere (weil es eben am realen Material, am
realen Objekt geschieht) oder mindestens ebenso deutlich wie
die neue mathematische Physik zeigt, daß es im Gegensatz zu
den kanonisch-hieratischen Kunstprinzipien des Mittelalters
darum geht, die Sprache der Dinge statt der Sprache Gottes zu
sprechen, mochte auch dies zum Preise Gottes geschehen. Ne
ben diesen inhaltlichen Primat des Realismus trat aber nun auch
das formale, getragen von der Autonomie der Werte. Und darin
mag der Hauptunterschied zwischen dem Renaissance-Realis
mus und dem des Mittelalters erblickt werden. Der Realismus
der Renaissance war autonom und damit war er dem Gesetz der
Absolutierung, dem jeder autonome Wert unterworfen ist (hier
könnte man ausnahmsweise wirklich von einem echten Gesetz
sprechen), gleichfalls unterworfen: nicht bloß, daß der Raum
die Fläche überwand - das wäre vielleicht auch noch im Rah
206
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men des Mittelalterlichen möglich gewesen sondern daß die
ser neue Realismus kein Realismus der Oberfläche mehr war,
sondern von innen heraus gestaltet wurde, machte seine Inten
sität aus. Dies »Von-innen-heraus-Gestalten« kann man fürs
erste völlig banal-materialistisch auffassen und [läßt] andie ana
tomischen Studien Leonardos und Dürers denken oder an den
Bildaufbau, der von dem räumlichenBildinnern, vondessensta-
tischem Mittelpunkt aus erfolgt. Aber darüber hinaus ist die
Intensivierung der Natur überall wenn schon nicht rational er
kennbar, so doch spürbar. Dürer ist sicherlich kein Renais
sancemensch pur sang, steht sicherlich den gotischen Anschau
ungen wesentlich näher, aber man vergleiche den Hasen mit
irgendeiner Partie von van Eyck, und man merkt, daß es hier
gar nicht auf den zufälligen Inhalt ankommt, sondern daß hier
eine Intensivierung des Naturobjektes erfolgt ist, die vielleicht
bloß im Vergleich des Pantagruel12 mit Dante in solcher Klar
heit zum Ausdruck kommt. Allerdings sind dies bloß gefühls
mäßige W ertungen-die nur insoweit sich über das Gefühlsmä
ßige erheben und greifbar werden, soweit die Darstellung wie
etwa eben bei Dürer von rationalen Theorien begleitet wird
und diese Wertungen leiden wie jede historische Betrachtung
unter dem Faktum, daß zu jedem Gedanken auch der Gegen
gedanke ein Realisat im historischen Objekt finden kann. Der
Gegengedanke ist hier freilich etwas oberflächlicher, aber im
merhin wird es Leute geben, die den Realismus aus der Renais
sance in eine spätere Zeit verlegt zu sehen wünschen, die das
Harmonieideal des italienischen Renaissancebildes, seine hu
manistische Ruhe und Ausgeglichenheit, die den literarischen
Stil des Erasmus (um irgendeinen Namen zu nennen) nicht mit
dem Namen Realismus decken mögen und ihn lieber für die
späteren Holländer reservieren wollen. Eine Widerlegung die
ser Ansicht würde in Spezialuntersuchungen führen; es genügt
darauf hinzuweisen, daß neben jeder historischen Umschich
tung selbstverständlich auch ein Strom der Tradition weiter
läuft (daß dieser Verschneidung von Umschichtung und Tradi
tion von außen besehen beiläufig das entspricht, was man
historischen »Fortschritt« zu nennen pflegt), weiters aber wohl,
daß jener »Voll-Naturalismus«, wie er etwa bei den Holländern
zutage tritt, ohne den vorhergegangenen Renaissance-Realis
mus niemals möglich gewesen wäre; im Gegenteil: was hier vor
207
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sich geht, kann eben als direkter Ausfluß jener formalen A uto
nomie des Realismus gelten, der sich innerhalb seines eigenen
Wirkungsbereiches nicht nur zum Voll-Naturalismus steigern
mußte, sondern darüber hinaus eine Übersteigerung kraft sei
nes inneren Wachstums erfuhr, in der das Reale die eigene
Form sprengte und zu der Stilform wurde, die [als] Barock be
zeichnet wurde.
Auch hier muß der Gedanke zurückgenommen werden. Eine
Erklärung des Barocks aus Übersteigerung der naturalistischen
Form würde an das Phänomen nicht heranreichen. Es ist viel
mehr sicherlich eine Einmündung in eine umfassendere Bewe
gung, die sich hier vollzieht, aber daß die Einmündung an eben
dieser Stelle vonstatten geht, das darf als starke Bekräftigung
der These von der Neuaufrichtung der kirchlichen Plausibili
tätsbasis, der Neuaufrichtung einer neuen Alltheologie durch
die Jesuiten gelten. Gewiß ist das jesuitische Barock nicht nur
eine romantische Neuauflage der mittelalterlichen Theologie -
obwohl diese Romantik in ihrer Überlebensgroße und Über
steigerung gewiß nicht geringer ist als die Übersteigerung des
Naturalismus - , sie ist vielmehr, und dafür spricht die straffe,
wissenschaftliche, geradezu »weltliche« Organisation, die die
Jesuiten dem platonischen Geiste gaben, eine durchaus positi
vistische Angelegenheit: ja, man könnte förmlich von einer po
sitivistischen Übersteigerung der theologischen Methode in
diesem Sinne reden. Daß innerhalb des Barocks der Versuch
gemacht wurde, gleichwie in der letzten romantischen Welle,
aufs neue gotische Kirchen zu bauen, ist also bloß ein sehr ge
ringes Symptom für diesen Zustand und diesen Versuch zu ei
ner Normung, die in den - genugsam aufgedeckten - Zusam
menhängen zwischen dem architektonischen Willen des Barock
und dem der Gotik einen viel deutlichem Hinweis erhalten hat.
Über die soziologischen und ökonomischen und politischen
Komponenten dieser Geistesrichtung braucht nicht weiter ge
handelt zu werden, so wenig wie über ihre Aufrechthaltung
durch ihren Anschluß an den Ständestaat: hingegen soll auch
hier nicht vergessen werden, daß trotz der positivistischen Um
wälzung die mittelalterliche Tradition des Katholizismus nicht
ohneweiters gebrochen werden konnte, und daß die H aupt
stütze der neuen Theologie nach wie vor die noch bestehende
alte Gläubigkeit gewesen ist. Was also zur schließlichen Auflö
208
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sung des Barocks führen mußte, war nicht nur der Umstand,
daß die neue Theologie disparate autonome Werte unter sich
zu vereinigen suchte, die in ihrer Autonomie auch schon den
Absolutierungswillen in sich trugen und damit schließlich zu
einander in Widerstreit kommen mußten, sondern der noch viel
wichtigere, daß der Glaube innerhalb dieser Theologie dennoch
nie zum zentralen und umfassenden Wert gesteigert werden
konnte, daß er in ihr als Wert neben den andern Werten stand,
und daß er solcherart mit jenen andern Werten (von denen der
des »gesunden Menschenverstandes« der französischen Revo
lution bloß der sinnfälligste war) in Kollision kommen mußte.
Das 18. Jahrhundert bedeutet innerhalb der großen Ära des
von der Renaissance eingeleiteten Positivismus eines jener
kleineren positivistischen Wellentäler, umfassend genug aller
dings, um diese Nachgotik endgültig zu vernichten. Von da ab
gab es Katholizismus nicht mehr als Weltidee: er wurde zu einer
Sekte der Christlichkeit, die neben der reformierten Kirche in
größerem oder kleinerem Ausmaße bestehen oder nicht beste
hen konnte. Der Leibnizsche Regenerationsversuch war von
vorneherein zum Scheitern verdammt. Was noch zu tun übrig
blieb, war ein letzter Versuch der reformierten Kirche, das Erbe
des Katholizismus anzutreten, eine nochmalige und letzte Be
sinnung auf die humanistische Nebenwurzel ihrer Entstehung,
ein nochmaliges rationales Zurückgreifen auf die platonischen
Grundlagen ihrer Mystik, m. e. W. der Versuch, ihre eigene
Theologie als Wissenschaft unter Wissenschaften in Gestalt der
idealistischen Philosophie zu bilden.
Alle diese Überlegungen waren notwendig, um zu einer Er
klärung zu gelangen, daß erst der Ausgang des Barock dem
dichterischen Ausdruck seine wahre Autonomie und seine neue
Form brachte. Auch hier brauchen die Ökonomischen und son
stigen äußern Gründe nicht berücksichtigt zu werden, denn
wenn man die literarische Blüte des 18. Jahrhunderts für
Frankreich auf den Glanz von Versailles zurückführen will, so
zeigt sich für Deutschland gerade das entgegengesetzte ökono
misch-soziale Bild, und wenn auch die Art der Literatur eine
verschiedene war, so bleibt das 18. Jahrhundert da wie dort die
Geburtszeit der literarischen Moderne; es sind also übergeord
nete Ursachen am Werke. Dieser merkwürdige Tatbestand hat
nun zweifelsohne auch sehr starke historisch-genetische Ursa
209
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chen: das Dichterische besaß stets eine viel größere Variabili
tätsbreite als jeder künstlerische Ausdruck, es war weit weniger
»stilgebunden« als die Malerei und noch viel weniger als die
Architektur. Seine lyrische Grundkomponente konnte ohne
Realismus niemals auskommen, denn Lyrik ist einfach G e
fühlsrealismus, so daß man über das Hymnische kommend die
Mystik geradezu als Grenzfall des Lyrischen deklarieren
könnte (allerdings ohne deren Wesensart damit zu treffen), und
die dramatische Komponente des Dichterischen war schon in
folge ihrer Bindung an die realen Darstellerpersonen und an die
Dreidimensionalität der Bühne dem Naturalistischen verhaftet,
mochte der Gestus und das Wort und die Choreographie noch
so sehr symbolbeladen, kultisch und ornamental sein. Das Rea
listische, um nicht zu sagen das Naturalistische, und das Symbo
lische und Kognitive waren innerhalb des Dichterischen mit viel
größerer Prägnanz nebeneinander gestellt, griffen viel inniger
als anderswo ineinander, und die Unterordnung des Dichteri
schen unter die Ordnung der Theologia (sei es im Gebet, sei es
im Hymnus, sei es als kultisches Theater) stand mit viel größe
rer Natürlichkeit neben der Prosadichtung als in jeglicher an
dern Kunstgattung. Es war also beim positivistischen Um
schwung der Renaissance die dichterische Tradition auch in viel
größerer Breite aufrechtzuerhalten, und der neue Naturalis
mus, wie er bei Boccaccio auftrat, hatte eher den Charakter ei
ner Akzentverlegung, der noch überdies durch die humanisti
sche Neustilisierung und Verschnörkelung eher verwischt
wurde. Selbst der Realismus des Elisabethianischen Dramas
ließe sich unter solchem Aspekt betrachten. Dazu kommt noch,
daß das Material der Sprache als solches den Übergang von der
»Sprache Gottes zu der Sprache der Dinge« ganz wesentlich er
schwerte, und so alles danach angetan war, um reibungslos wie
der in die Theologie des Barocks einzumünden. Paradox ausge
drückt dürfte man sagen, daß mit dem Barock das Schweigen
des Mittelalters, gemildert durch die Kenntnis des Lesens und
Schreibens und die Buchdruckerkunst, sich wieder auf die Welt
herabgesenkt hätte, und wenn man dagegen das »große« 17.
Jahrhundert in Frankreich anführt, so kann man einesteils dar
auf hinweisen, daß das französische Barock und die französi
sche Renaissance, daß der Louvre und Versailles eine bedeu
tend innigere Gemeinschaft darstellen als Bernini13 und
210
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Palladio14, andernteils aber mit einigem Recht behaupten, daß
von einer neuen autonomen Dichtung bloß insoweit die Rede
sein kann, als die realistische Renaissanceform und ihre Rabe-
laissche Überdimensionierung nachwirkt. Denn trotz Racine ist
es nicht dessen Genie sondern das Molieres, von dem [das]
französische Theater begründet wurde. Gerade das literarische
17. Jahrhundert in Frankreich zeigte sich, wieder paradox aus
gedrückt, von merkwürdiger Sterilität, fast blaß gegenüber den
Vorboten einer neuen literarischen Bewegung, die sich in Eng
land, in den Niederlanden bemerkbar machte, wenn auch »nur«
im Abenteuerroman, im Eulenspiegel15, bei Grimmelshausen,
Erscheinungen, deren Prosaismus eine gewisse Nachbarschaft
zum Voll-Naturalismus des holländischen Landschaftsbildes
ahnen läßt.
Aber hinter all diesen Phänomenen steht, sie zu Symptomen
herabdrückend, das große Faktum der endgültigen Liquidie
rung der Theologia, unter deren negativem Zeichen die Welt
ins 18. Jahrhundert eintrat. Vieles spricht dafür, daß eben in
Frankreich dieses Erlöschen klarer und früher denn überall zu
Tage getreten war, vielleicht, weil eben in Frankreich die Be
mühungen um Aufrechterhaltung eines zentralistischen christ
lichen Weltbildes früher und intensiver denn anderswo einge
setzt hatten: unter diesem Aspekt kann man die Ereignisse in
der Zeit des Sonnenkönigs weitgehend als eine sehr bewußte
Skepsis betrachten, als eine Resignation auf die alte französi
sche politisch nationale Zentralisation an Stelle der göttlichen.
Das ist natürlich eine höchst hypothetische Bemerkung, soweit
sie aber zutrifft - und bis zu einem gewissen Grad trifft alles im
Historischen zu - , würde sie die dichterische Sterilität jener
Epoche erklären. Die Hypothese festigt sich aber noch weiter,
da nun, eben zuerst in Frankreich, das Fiasko der barocken
Theologia nun alsbald mit aller Bewußtheit ans Tageslicht tritt,
etwa während der Regence16, deren sogenannte Frivolität
nichts anderes ist als die höfisch gewendete Erkenntnis, vis-ä-
vis de rien zu stehen. Und weil in Frankreich diese Erkenntnis
früher denn anderswo durchbrach, so wurde auch hier früher
denn anderswo die Frage brennend, an welchem Ort des Ratio
nalen und Kognitiven der Mensch seine metaphysischen Be
dürfnisse werde unterbringen können.
Fürs erste sieht es danach aus, als hätte das damalige Frank
211
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reich auf solche Frage bloß eine Antwort bereit gehabt: es gibt
weder metaphysische Bedürfnisse und noch viel weniger einen
logischen Ort, um sie unterzubringen. Diese starke Negation
war zweifelsohne das Hauptcharakteristikum, wenn schon nicht
des französischen Sensualismus, so doch jenes Geistes der Auf
klärung, aus dessen Radikalisierung der Sensualismus notwen
dig hervorgehen hatte müssen. Es war eine Negation der reli
giösen Einstellung und aller religionsphilosophischer Proble
matik, Negation von solcher Reinheit, wie sie bisher nicht
gekannt war und die zum ersten Mal seit dem vorchristlichen
Jahrhundert wieder einen vollen Pendelausschlag vom platoni
schen zum positivistischen Pol anzeigte: die positivistische Phi
losophie des 18. Jahrhunderts repräsentiert sich geradezu als
getreue Reversseite der Scholastik, nicht nur als deren Nega
tion, sondern auch umfangsgleich mit ihr in einer negativ ge
wendeten Totalität - aus der thomistischen »Summa« wird die
addierbare Summe, aus der Ganzheit der Welt wird das addier
bare Wissen des Enzyklopädischen, in dem das 18. Jahrhundert
sein wissenschaftliches Ziel sah. Ganz deutlich wird in diesen
Bestrebungen der Umriß jener positivistischen Philosophie
sichtbar, die sich 100 Jahre später selber als Summe des Wissens
und der Wissenschaften deklariert hat. Aber nicht minder
deutlich wird dieses enzyklopädische Streben als Spiegelbild
des positivistischen Weltzustandes erkennbar, als Spiegelbild
eines Zustandes, in dem Wert autonom neben Wert, Wissen
schaft autonom neben der Nachbarwissenschaft steht, eine re
gionale Aufteilung der Außenwelt und deren Absolutierung,
wie sie vielleicht am deutlichsten in den Condillacschen »figu-
res« zu Tage tritt. Für diese addierte Philosophie, die es nur
berechtigt erscheinen läßt, daß nun auch empirische Wissen
schaften oder Wissenschaftsansätze »Philosophien« genannt
werden durften (Voltaires »Philosophie de Thistoire«17, La-
marcks Philosophie zoologique18), für diese ihres ethischen
Zentralwertes beraubte Philosophie ist es durchaus bezeich
nend, daß sie trotz aller Negation der Belange sehr wohl wußte,
[daß] das metaphysische Problem so lange nicht verschwinden
wird, so lange der Tod nicht aus der Welt geschafft wird, daß
das ethische Problem so lange nicht erledigt sein wird, so lange
der Wunsch nach einem Lebenswert im Menschen nicht erlo
schen sein wird, diese Philosophie, welche sehr genau wußte,
212
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daß sie mit der Ignorierung des Ethischen sich selbst den letzten
Rest Kredits abschnitt, diese Philosophie mußte etwas für ihre
humane Daseinsberechtigung tun, aber weil sie keine Ethik
mehr hatte, geriet sie auf den fürchterlichsten Ausweg, nämlich
den des Moralisierens, durch welches sich das 18. Jahrhundert
auszeichnete, jenes sattsam bekannte Moralisieren, das den
noch die einzige Bindung des 18. Jahrhunderts an die Kirche
darstellte (wobei es nicht uninteressant ist, daß selbst in solch
rein dogmatischen und rudimentären Resten von Bindungen
lebensfähige Wurzeln sich befinden können, wenn sie keine
Beziehungen ins Leere sind: so ist z. B. aus jenem äußerlichen
Moralisieren innerhalb der protestantischen Welt etwas höchst
Lebenskräftiges entsprossen, der Puritanismus, in seiner Art
gewiß ein Bilderstürmen, nichtsdestoweniger Hinweis auf die
ursprüngliche Mystik). Zweifelsohne war auch das »Moralisie
ren« altes Erbgut, hängt z. T. mit dem Begriff der mittelalterli
chen »Tugend«, also dem Ritterroman zusammen. Und selbst
die laszivsten Renaissancegeschichten glaubten ohne eine ge
wisse moralisierende Haltung nicht auskommen zu können. Die
Theologie als solche aber kannte kein Moralisieren, eher neig
ten fried- und bußfertige Mystiker geringeren Grades wie Tho
mas a Kempisly dazu (ob man die Danteschen Strafgerichte un
ter den Begriff des Moralischen subsummieren darf, ist
keineswegs ausgemacht); die theologische Haltung gestattet
der moralischen Vorschrift so wenig ein Eigenleben wie irgend
einen andern Wert, und dort, wo die moralische Vorschrift als
apriorisches Material in die Theologie eingeht, ist sie aufs äu
ßerste bemüht, sie ins deduktive System des Ethischen einzu
bauen. Das Moralische als Fülle von Anweisungen, als Beru
fung auf Anweisung und Vorschriften ist in ihrem Verhältnis
zur Ethik auch nichts anderes als eine enzyklopädische Summe,
die trotzdem niemals in ihrer Gesamtheit eine Philosophie oder
Ethik darstellt.
Mag sein, daß der französische Geist jeglicher Kodifizierung
und damit auch jeder moralisierenden Vorschriftensammlung
an und für sich zuneigt, mag sein - und dies ist wahrscheinli
cher-, daß nach Auflösung der Scholastik überhaupt kein an
derer Ausweg übriggeblieben ist, als sich in die Arme des Em
pirischen zu werfen, das sich eben hier unter dem Aspekt des
Moralischen und Anthropologischen darbietet. Zu diesen
213
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anthropologischen Moralisten gehört ebensowohl Montaigne20
als La Rochefoucauld21, und der Sensualismus des 18. Jahr
hunderts ist bloß eine Haltestation auf dem Marsch von diesem
Anthropologismus zur Psychologie als Grundprinzip des Philo
sophischen, ein Marsch, der von der französischen Philosophie
ja auch tatsächlich ausgeführt worden ist. Sogar das Moralisie
ren hat sie, wenn auch in stetig abgeschwächtem Maße, dabei
mitgenommen.
Daß angesichts des Verlöschens der Theologia und der Unfä
higkeit zur Bildung einer neuen Philosophie das metaphysische
Bedürfnis in den dichterischen Ausdruck abwandern mußte,
diese These erhält für das französische 18. Jahrhundert ihre ei
gene Bedeutung, als die Philosophie, die ein Denken des bon
sens war und im Grunde höchlich ungelehrt, nicht mehr in den
Händen der Wissenschaft lag, aber auch nicht in denen von
Fachphilosophen, sondern ein weitläufiges »schriftstelleri
sches« essayistisches Gepräge erhalten hat. Es fand also viel
fach eine Personalunion zwischen dem »Denker« und dem
»Dichter« statt. Auch zu späteren Zeiten zeigte sich das
Schrifttum des Dichterischen von den philosophischen Über
zeugungen der Zeit beeindruckt, eine derart enge Bindung war
aber fast nie mehr zu konstatieren. Die moralisierenden und
psychologisierenden Tendenzen wurden direkt übertragen, und
diese Tendenzen lassen sich bis in so entlegene Gebiete hinein
verfolgen wie es die Fabeldichtung Gellerts22 ist. Wichtiger
aber noch als diese schwächliche und bürgerliche Tugendillu
stration ist aber wohl, daß damit die einzige Möglichkeit gege
ben war, die Moralen zu begründen: Moralen, die auf sich selbst
gestellt sind, sind unbeweisbar, und eine Zeit, die ihre Ethik
verloren hat, muß sich unentwegt an Beispielen vor Augen füh
ren, daß ihre Moral berechtigt ist, daß das Gute auch wirklich
belohnt und das Schlechte bestraft wird. In der Renaissance
konnte man sich am Triumph des Schlechten und Amoralischen
recht kräftig freuen, es war im Gegenteil des öftern das Wesen
der Komik dieser Zeit - das 18. Jahrhundert hätte solche Amo-
ralität niemals gestattet, und Voltaires Satire wendet sich kei
neswegs gegen die Hochschätzung von Tugend und Jungfräu
lichkeit, sondern er zeigt bloß, daß hinter der Jungfrauschaft
der Pucelle23 nichts steckte, daß die Tugend ein Bündel von
Heuchelei sei, kurzum seine Skepsis sieht die Dinge nicht
214
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anders als La Rochefoucauld. Das beweist natürlich nichts,
weder für noch gegen Voltaire, so wenig wie Choderlos de
Laclos24 kraft seiner Moral oder Unmoral zum Dichter ge
worden ist: wohl aber beweist es für den Dichter des 18. Jahr
hunderts, daß er - und gerade hier müssen die Gefährlichen
Liebschaften genannt werden - in fortgesetzter Suche nach dem
Ethos sich befunden hat, daß der Begriff Gottes, der in der Phi
losophie keinen rationalen Platz mehr hatte, hinter allem steht,
was damals Dichtung heißen durfte, daß Voltaire seine ganze
tiefere Beziehung zum Philosophischen bloß daher leiten
konnte, daß er sich ein ganzes und sehr langes Leben mit Gott
herumgeschlagen hat (was ja nach dem damaligen Stand des
Denkens gar nicht mehr nötig gewesen wäre).
Und eben in diesem Augenblicke hatte die Dichtung jene
neue und ihr autonome Form gefunden, deren sie seit der Re
naissance entbehrt und die sie wahrscheinlich gesucht hatte,
jene Form, die sich nun über die alten Formen des Lyrischen
und Dramatischen erhob, die Form, die zwar im protestanti
schen Westen schon vorbereitet war, dennoch aber jetzt erst
ihre wahrhaft französische, rationale Gestalt erhalten sollte: die
Form des Romans wie es die Gefährlichen Liebschaften, wie es
der Candide25 ist. Und was eben für Voltaire so eigentümlich
ist - diese Neuformung des Romans, diese wahrhafte Revolu-
tionierung der Literatur mußte von einem Manne ausgehen, der
über das Gesamtwissen der Zeit verfügte, der das Organon des
Wissens zwar nicht als Wissenschaftler, wohl aber als »Schrift
steller« beherrschte, als Schriftsteller, der hier zum ersten Male
als Philosoph auftrat.
Der Positivismus wäre im 18. Jahrhundert nicht schon so weit
zur Entfaltung und Auswirkung gelangt, wie es tatsächlich
schon geschehen war, wenn die Einzelbewegungen und Stre
bungen des Lebens nicht schon ihre eigenen Gesetze herausge
bildet und sich verselbständigt hätten. Die literarischen Vor
gänge des 18. Jahrhunderts lassen sich bestimmt nicht unter
dem Gesichtswinkel eines einzigen Prinzipes betrachten: man
greife welchen Zeitabschnitt immer aus der Geschichte heraus,
fast könnte man auch sagen, welches geographische Gebiet im
mer, und man wird dessen »Kulturmittelpunkt«, wird das An-
und Abschwellen der spezifischen Werthaltungen und das
schließliche Verlöschen und Übergleiten in ein neues Wertge
215
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bilde aufweisen können. Auch für das französische 18. Jahr
hundert, dieses sehr mannigfaltige Gebilde, gilt dies: es er
schöpfte sich nicht in seinen moralisierenden und antimorali-
sierenden Haltungen, so wenig wie der Sinn der Revolution mit
der moralisierenden Haltung Robespierres zu erschöpfen ist,
vielmehr war auch dies bloß ein Symptom unter vielen, und die
Erkenntnis, am Ende einer der größten geistigen Gläubigkeits
epochen zu stehen, dokumentierte sich in einer Fülle von R e
aktionen, von denen die Rückkehr zur Natur, das Gefühl, von
vorne beginnen zu müssen, nicht die geringste ist. Auch dies ist
nicht eindeutig: denn die Romantik des utopischen Naturzu
standes ist eine andere als die heroische Romantik des Barocks,
in dessen Formen man noch lebte, eine Verschneidung zweier
romantischer Ideengruppen, deren doppelter Inhalt zwar abge
schwächt, dennoch in dieser Verdünnung erst deutlich mit der
»gotischen« Freiheitsromantik nach der Jahrhundertwende
sichtbar wird. Daneben ergeben sich Verschneidungen mit den
ihrerseits autonomen Wertgebieten des Nationalismus und der
Humanität, beide durchaus rational gestützte Gebilde, dennoch
einander kontradiktorisch, und wäre die Wirklichkeit nicht so
widerstandsfähig und voll Elastizität gegenüber allen Ideen, die
an sie herangetragen werden, man könnte sich bei dieser Dis-
paratheit der Ideen eigentlich gar nicht vorstellen, daß es einen
einheitlichen Fluß des Geschehens geben könne. Was hier mit
aller Breite zum Durchbruch gelangt, nachdem es scheinbar
durch die Theologia des Barock ein Jahrhundert lang gebunden
und gebändigt gewesen war oder zumindest nicht in dieser Zer
splitterung in Erscheinung treten konnte, war der »Individua
lismus«, dessen Wurzeln man richtig stets in die Renaissance
verlegt hatte (allerdings mit etwas verändertem Sinngehalt),
und der nichts anderes ist als die Autonomie und die Absolutie
rung der Wertgebiete, resp. die nunmehr erfolgte deutliche Re
präsentation der einzelnen Gebiete durch die individuellen
Wertträger. Aus dieser Erkenntnis, die mit dem 18. Jahrhun
dert ins allgemeine Bewußtsein oder richtiger Unterbewußtsein
getreten ist, aus dieser Erkenntnis, daß die disparatesten W ert
haltungen nebeneinander bestehen und rational begründet
werden können, aus diesem allgemeinen Relativismus - daran
kann kein Zweifel mehr sein - ergab sich für das 18. Jahrhun
dert ein neuer Wert, den man vielfach als das Hauptcharakteri
216
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stikum dieser Zeit anzusehen geneigt ist: seine Skepsis, die sich
dennoch so sonderbar mit seiner Modernität verträgt.
Die Skepsis des 18. Jahrhunderts als »frivol« zu benennen, hat
sich eingebürgert, und die Benennung ist nicht einmal unbe
rechtigt, da es nicht die platonische Skepsis des Descartes mehr
ist, sondern eine höchst empirische Skepsis, ein Derivat für den
Hausgebrauch, nicht anders wie die Moral der Zeit das schwa
che Derivat der platonischen Ethik ist. Nichtsdestoweniger war
dieser Zustand wohl notwendig, um die wahre philosophische
Skepsis wieder aufleben zu lassen, in der der Protestantismus
den Grundstein zu seinem neuen theologischen Platonismus
legte. Das geistige Ereignis dieser neuen Philosophie ist so groß,
daß es fast unverständlich ist, wie daneben die literarische Aus
drucksform mit den Materialien, die das Jahrhundert ihr gelie
fert hat, noch hat weiter bestehen können. Kant steht gegen
über diesen geistigen Strömungen und Strebungen des
Jahrhunderts wahrhaft als der Alleszermalmer: in die kritische
Philosophie schien nochmals die Universalität des Denkens
eingehen zu wollen, schien nochmals das Organon der Welt ih
ren rationalen Ausdruck finden zu wollen, und verheißungsvoll
stand der Ausspruch, daß der »Weg zu einer künftigen Meta
physik«26 freigemacht werden sollte. Noch einmal entrollte
sich, »klirrend im Winde«, die strenge Fahne des Platonismus,
und obgleich sich Kant selber darüber klar war, daß seine Phi
losophie bloß als Wissenschaft unter den Wissenschaften auf-
treten durfte, so schien ihr Geltungsbereich so weit gezogen,
war ihre Größe so überwältigend, daß die Sammlung alles
geistigen Ausdruckes unter ihrer Ägide geradezu zur Notwen
digkeit hätte werden müssen. Zu einer solchen Ansicht müßte
man um so eher gelangen, wenn man sieht, wie der vorrevolu
tionäre geistige Ausdruck über das empirische Ergebnis der
Revolution nicht hinausgelangte, wie die angesponnenen Fä
den über alle Erwartung rasch abrissen, wie es keine Nachfolge
Voltaires, keine Nachfolge Rousseaus gab, ja, wie die französi
sche Philosophie plötzlich erschwieg. Dies mit dem Wirbel der
Revolutionsereignisse zu begründen, wäre höchst kurzsichtig:
es war, als hätten sich die spezifischen Ausdrucksmittel des
Jahrhunderts erschöpft, als wäre tatsächlich ein Hiatus einge
treten, der Hiatus zwischen Rokoko und Empire.
Natürlich gehört es zu den gewagtesten Behauptungen, von
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der Welt auszusagen, daß sie so oder so ausgesehen hätte, wenn
nicht ein bestimmtes Ereignis eingetreten wäre. Und daß man
von der Kantschen Philosophie eine Auferstehung des positi
vistischen Geistes erwarten hätte können, daß es zu einer All
geltung der platonischen Dialektik hätte kommen können, die
die Wirksamkeit der Naturiwssenschaft aufgehoben hätte - et
was derartiges schwebte allerdings Schelling in seiner mittleren
Periode und Hegel während seines ganzen Lebens vor - , das
wäre wohl von Kant selber nicht zugegeben worden. Nichts
destoweniger und trotz aller Einschränkung, unter der man die
Position der kritischen Philosophie innerhalb des Wissen
schaftsgetriebes sehen muß, drängt sich der Gedanke auf, daß
der neue Platonismus zwar nicht die positivistischen Naturwis
senschaften im Sinne Schellings und Hegels hätte vergewaltigen
können, daß er aber zu einer Dominante innerhalb des allge
meinen Geisteslebens geworden wäre, die jede andere auto
nome und besonders jede dichterische Ausdrucksform zer
malmt hätte, wenn - vielleicht durch eine magische
Gerechtigkeit des Weltgeistes - neben die Größe Kants nicht
eine Erscheinung gleichen spezifischen Gewichtes getreten
wäre: Goethe.
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wegleugnen, daß Goethes Denken und Wirken unter all jenen
Leitmotiven vor sich ging, die das 18. Jahrhundert bewegten
und es zu dem spezifisch literarischen machten, das es war,
mehr noch, daß er seiner eigenen persönlichen Tendenz gemäß
den empirischen Naturforscher in sich über alle seine andern
Möglichkeiten stellte. Was die ungeheuere Bedeutung Goethes
ausmachte, war nicht zuletzt, daß er in seiner einigen und einzi
gen empirischen Person alle jene disparaten Wertstrebungen,
von denen seine Zeit erfüllt war, zu einem einheitlichen Strom
vereinigte, daß [er] den »Individualismus« der Zeit, der aufge
teilt war in individuierte Werthaltungen des Geistigen und auf
geteilt war auf einzelne Individuen, in sich zusammenband, und
daß er so zu dem großen »Individualisten« wurde, als welcher
er bereits in die Geschichte eingegangen ist. Goethes Instinkt,
der es nicht immer bewußt, stets aber unbewußt wußte, welche
Kräfte in ihm am Werke waren, band ihn untrüglich an die
Quellen seines Wesens, die die Quelle des Positivismus war,
band ihn an die Renaissance, und daran verschlägt auch nichts,
ja, nach allem Gesagten braucht es nicht erst erwiesen werden,
daß er es sein mußte, der das lebendige Formwirken des Goti
schen27 neu entdecken mußte, mochte er auch diese Leistung
späterhin gering geschätzt, vielleicht sogar verworfen haben.
Denn die »klassische« Periode Goethes war alles andere denn
Platonismus: sie war so reiner Positivismus, so sehr die Renais
sance Positivismus gewesen ist.
Man spricht von Goethes Pantheismus, man kennt sein Ver
hältnis zu Spinoza, und sicherlich ist der Gedanke von der Natur
»nicht Kern, nicht Schale«28ebenso Leibnizisch zu nennen, wie
der Gedanke von der Monade Goetheisch genannt werden
dürfte. Was das »positivistische Genie« [Goethe] von dem nicht
minder positivistischen Genie Leibniz unterschied, war sicher
lich zum großen Teil eine Akzentverlegung der wissenschaftli
chen Begabung, die sich am ehesten in der Gewichtsdifferenz
zwischen der Infinitesimalrechnung und der Farbenlehre aus-
drücken ließe, aber sie ist vielleicht auch im »Fortschritt« des
positivistischen Geistes zu sehen, in seiner Entfesselung in dem
18. Jahrhundert, das zwischen Leibniz und Goethe lag. Das
theologisch-gotische Ideal, das für das Barock noch immer
heroisch vorhanden war, konnte nicht mehr realisiert werden
- seine einzige Realisierungsmöglichkeit lag nur mehr auf der
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Kantschen Linie, und die war eben für den Positivisten Goethe
nicht mehr beschreitbar. Sicherlich spielt dabei auch eine Rolle
-obw ohl dies außerhalb des Beweisbaren liegt daß das my
stische Erlebnis, daß der Begriff des durch Innenschau erlebten
Gottes für Leibniz eine ganz andere und tiefere Bedeutung als
für Goethe haben mußte, dessen Mystik sozusagen extrapoliert
und in der Schau nach außen gelegen ist. In diesem Punkte steht
Leibniz zweifelsohne viel näher zu Kant als zu Goethe. Und
wahrscheinlich griff damit Leibniz um Jahrhunderte weiter hin
aus als Goethe. Für den Beginn des 19. Jahrhunderts aber wa
ren Leibniz wie Kant gleich unzeitgemäß: für diese Zeit war -
in einem tieferen Sinne - Goethe weniger gemäß als Kant, oder
paradox gesprochen: Schleiermacher war wesentlich zeitgemä
ßer als der »Heide« Goethe, der entgegen der kritischen Philo
sophie das Organon des Universums nicht mehr rational zu
sammenfassen und »beweisbar« zu erfassen suchte, sondern -
hierin eben Leibniz gleichend - die entfesselten autonomen
Wertgebiete wie ein föderalistisches System unter dem einigen
den Band einer einzigmaligen »Persönlichkeit« des positivisti
schen Genies vereinigte und jedem der Wertgebiete innerhalb
dieses persönlichen Systems den Raum zur autonomen Entfal
tung gewährte.
M. a. W.: Leibniz zeichnete den Weg des Geistes auf Jahrhun
derte voraus, seine Mystik wußte von einer dereinst kommen
den neuen Religiosität und von einer neuen Theologie, und er
wußte, daß der Weg dorthin gleichzeitig durch eine Mathcmati-
sierung und Radikalisierung der Wissenschaften begleitet wer
den müßte; Goethe ist das Genie des Zwischenzustandes, der
zwischen der Auflösung des alten Wertsystems und der Errich
tung jenes kommenden Reiches des Heils liegen mußte; gewiß
war auch er seiner Zeit voraus, aber er war doch das Genie des
Heute, das den geistigen Ausdruck für die bewegenden Kräfte
seines eigenen Erlebens, das schon das Erleben des Morgen
war, mit aller Vehemenz suchte und fand. Das Irrationale und
Unbezwingliche,das die Fesseln des Glaubens gesprengt hatte,
das aber nach seinem neuen und noch irrationalen Ausdruck
drängte, es fand diesen Ausdruck in ihm und nahm die Form
der autonomen Dichtung an. Und hier - geboren aus all den
disparaten Strebungendes 18. Jahrhunderts, die Goethe miter
lebend in sich vereinigte - hat die neue Form des Romans, hat
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der Wilhelm Meister jene historische und überhistorische Stel
lung, die eigentlich wesentlich über die Bedeutung hinausragt,
die dieses Buch in Goethes eigenem Leben einnahm, und die
er ihm zumaß.
Es wäre lächerlich, um der These willen, daß der Roman die
neue Form der autonomen Dichtung geworden, den Wilhelm
Meister gegen den Faust ausspielen zu wollen. Es ist sogar
durchaus fraglich, ob das Goethesche Schaffen mit absoluter
Eindeutigkeit in eine dramatische, epische und lyrische Pro
duktion geteilt werden kann - es ist vielmehr so, als ob in den
spätem Lebensjahren Goethes die überkommenen Dichtungs
formen bloß Grenzfälle seien, zwischen denen sich in absoluter
Freiheit der dichterische Ausdruck bewegte (schließlich nur
mehr bei nebensächlichen Gelegenheitsdichtungen des Canons
der überkommenen Grenzfälle sich bedienend). Und soweit
man hier also überhaupt von Dichtungsformen sprechen kann,
es besteht innerhalb einer jeden von ihnen eine mit Goethes
Alter gleichfalls zunehmende Variabilitätsbreite. Man ver
gleiche bloß den Stilwandel innerhalb der Ausgewanderten29
oder auch nur in der kleinen Novelle30 oder aber in den Wan
derjahren, um die formaltechnischen Gründe zu verstehen, die
Goethe die Lehrjahre als ergänzungsbedürftig erscheinen lie
ßen. Aber bei aller Wichtigkeit, die dem Formalen in der Kunst
zukommt, es steht der Inhalt darüber, von dem aus gesehen der
Meister auch nur einen Teil der Gesamtaufgabe darstellt, die
das Goethesche Schaffen überhaupt erfüllte (soweit man bei
diesem von bewußter »Aufgabe« sprechen kann), nämlich ei
nen rationalen Gesamtausdruck der gesamten Lebensinhalte
unter Benützung aller zu Gebote stehenden rationalen Aus
drucksmittel zu finden: diese Prävalenz des Rationalen (zu der
übrigens auch die Mitbenützung überkommener Dichtungsfor
men gehört - denn das Kanonisierte ist stets rational) kann im
merhin als ein Erbe des 18. Jahrhunderts angesehen werden,
ebenso der Begriff der »Bildung«, der von so zentraler Bedeu
tung für Goethe geworden ist. In dieser Prävalenz der Ratio
steckt überdies ein gewisser Parallelismus zur kritischen Philo
sophie. Aber schon der Bildungsbegriff zeigt die Divergenzen.
Denn wenn auch der Wissenschaftspositivismus der kritischen
Philosophie zu einem Polyhistorismus drängt, und wenn auch
dieser Polyhistorismus mit zu den Grundtendenzen des engeren
221
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Positivismus (Comtescher Richtung) gehört, nicht minder aber
der Bildungsidee Goethes innewohnt, so ist diese Richtung der
absolutierenden Richtung entgegengesetzt: in der kritischen
Philosophie handelt es sich um die Absolutheit der (logischen)
Methode, die sich an dem polyhistorischen Wissen und dessen
Inhalten verifizieren soll, beim engeren Positivismus handelt es
sich um die additive Ansammlung der Inhalte, deren Gesamt
heit die »oberste Idee« der Philosophie zu zeitigen hätte; bei
Goethe aber handelt es sich um die »reine Bildung«, um die
Bildung der Persönlichkeit, die im Leben und in der Natur
steht, ins Leben und in die Natur wirkt, aus Leben und Natur
ihre Bildung empfängt und kraft ihrer Bildung wieder ins Leben
wirkt und mit ihm zur Einheit wird. Solcher Bildung Ausdruck
zu verleihen, steht wie ein Gesetz über Goethes Werk, wird im
mer gelöster und freier, immer irrationaler in den Mitteln, zer
sprengt die überkommenen Formen, sie dennoch in sich auf
nehmend und aufbewahrend, und ist gesteigert bis zum Faust.
Der Wilhelm Meister hat also bloß einen Bruchteil solcher To
talität in sich, aber er ist der erste geschlossene Ausdruck des
Gesamtstrebens, enthält alle dessen Tendenzen, wesentlich
vollkommener und vollständiger als die etwa zur gleichen Zeit
entstandenen Dramen, konnte sie enthalten, weil er die neue
autonome Form der Dichtung mit einem einzigen Griff erfaßt
hat: das Erscheinungsjahr des Meisters war das Geburtsjahr des
modernen Romans geworden.
Die Frage, warum es gerade die Romanform sein mußte, die
den neuen Ausdruck zu tragen hat, ist sicherlich nicht bloß ein
technisches Problem (die soziale Funktion der »Lektüre« istz. B.
nicht zu übersehen), und sie gestattet auch nach ihrer techni
schen Seite hin bloß sehr hypothetische Beantwortungen: etwa,
daß der polyhistorische Charakter, daß der Wechsel zwischen
Schilderung und Aktion, zwischen theoretischem Wissen um
die Inhalte der Welt und dem praktischen Wirken in ihr, daß
dieser notwendige konstante Wechsel erst in dem Durcheinan
derleben des Autors mit seinen Gestalten in Erscheinung treten
kann, oder, daß der Durchbruch des Irrationalen erst in einer
Elastizität des Stils produziert werden kann, erst in jener Span
nung zwischen Worten und Zeilen, die, aus dem Lyrischen
übernommen, innerhalb des epischen Geschehens seine Ein
deutigkeit aufgegeben hat, oder, daß die Realistik des Dramas
222
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stets von der Bühne eingeschränkt, andererseits an eine ganz
andere Realistik, nämlich die des leibhaftigen Schauspielers
gebunden sei, während der Realismus des Epischen weitaus nä
her an das Objekt heranzutragen sei, oder schließlich, daß allein
in der Vielfalt des Romans den Dingen zu ihrer eigenen Sprache
verholfen werden kann. Dies alles ist reichlich hypothetisch,
und am allerwenigsten darf behauptet und prophezeit werden,
daß der Roman die definitive Form der Dichtung für alle Ewig
keit bleiben müsse. Wahrscheinlich kann nicht mehr gesagt
werden, [als] daß der Roman gegenüber dem Drama und dem
Lyrischen eine Variabilitätsbreite besitzt, mit deren Hilfe er
prädestiniert ist, bis auf weiteres den polyhistorischen und me
taphysisch-ethischen Problembestand des Menschen darzustel
len. Daß es aber dabei nicht bleiben muß, das zeigt die Ent
wicklung Goethes über den Meister hinaus.
Für das Geschlecht nach Goethe genügte allerdings die Ro
manform als solche. Es war das romantische Geschlecht voll
Freiheit und Katholizismus, voll Griechentum und Gotik, ein
sentimentales und manchmal heroisches Geschlecht, als dünne
intellektuelle Schicht über ganz Europa verbreitet, zumeist mit
recht verwirrten Gehirnen. Dieses höchst antipositivistische
Geschlecht hätte sich gerne einem übergeordneten Organon
eingefügt; aber das war nicht vorhanden: es stand ausgeschlos
sen vor der positivistischen Welt Goethes, von der es diesen
Zipfel, niemals eine Ganzheit erfaßte, die unheimlich zu ahnen
war, es stand ausgeschlossen vor der Welt einer instinktmäßig
abgclehnten Wissenschaft, die jedem Versuch zur Mystizisie-
rung naturgemäß unüberwindlichen Widerstand leistete. Wäre
der Platonismus der Kantschen Philosophie echter Antipositi
vismus gewesen, wäre die Kantsche Philosophie nicht bloß
Wissenschaft unter Wissenschaften gewesen, sondern jenes
echte Organon, deren letztes, zwar schärfstes, dennoch bloß
methodologisches Abbild sie war, so hätte sich die ganze Ro
mantik unter ihre Fittiche flüchten müssen. Daß dies aber selbst
bei den besten Köpfen nicht angegangen ist, das zeigt der Ver
such Schellings. Zweifelsohne war eine gewisse gemeinsame
Zeitgebundenheit für den Kantianismus und die Romantik
vorhanden - für diese ausgedrückt in ihrem Antipositivismus,
für jenen in dem Zurückkehren zum theologischen platoni
schen Welterfassen - , und es mag für die Stärke der gemeinsa
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men Wurzel sprechen, daß der engere Positivismus Saint-Si-
mons oder Comtes resp. Enfantins31 mit dem Augenblick, da
er sich wirklich des Philosophischen zu besinnen begann, aus
dem Positivismus sich herausbog und zwar nicht im Kantianis-
mus, wohl aber in der Scheinmystik der Romantik mündete.
War es also auch nicht zulässig, die beiden Äste am gemeinsa
men Stamm einfach zusammenzubinden, wie Schelling es zu tun
versucht hatte, und wenn auch der Kantianismus infolge seines
Charakters als autonome Wissenschaft durchaus nicht in der
Lage war, den Gesamtausdruck der Zeit zu bestimmen, wie es
die mittelalterliche Theologie getan hatte (wonach er übrigens
auch niemals aspirierte), und wenn also auch der durchaus ro
mantische Versuch Schillers, die Dichtung in den Dienst der
kritischen Philosophie zu stellen, ebenso scheitern mußte wie
der Schellingsche Versuch, der gewissermaßen ein Pendant
dazu bildete, war also das Mißtrauen der Romantiker gegen
Schiller vollauf berechtigt, so liegt trotzalledem eine merkwür
dige und durchaus bemerkenswerte [Parallele] des dichteri
schen Ausdrucks vor, die als eine, wenn auch entfernte, Paral
lele zu dem Zustand theologischer Zeiten gewertet werden
kann: gilt die These, daß der Goethesche Roman als Form der
neuen autonomen Dichtung anzusprechen ist, so war diese Form
nun sonderbar verblaßt-der dichterische Ausdruck der Roman
tik war wieder die Lyrik geworden, und daneben stand die D ra
matik Schillers, stand Kleist, stand die Shakespeare-Überset
zung. Der Roman selber war zwar nicht mehr wegzudenken,
aber er wurde abseitig und erhielt eine Färbung, die ihn von sei
ner positivistisch-realistischen, von seiner polyhistorisch
ethischen Basis weit entfernte; er flüchtete sich in ein Pastelland
des Traumes, ja er wurde - manchmal unter der Maske einer
neuen Ironie - wieder so moralisierend, wie es das 18. Jahrhun
dert gewesen ist. Jean Paul und Immermann, E. T. A. Hoffmann
und Hauff stecken die Grenzen des romantischen Romanes in
Deutschland ab.
Allerdings: dies war bloß Deutschland, dies lag im engeren
Bannkreis des Protestantismus, lag in der Reichweite der kriti
schen Philosophie und im Schatten Goethes. Nun war allerdings
der Kantsche und Goethesche Geist trotz aller europäischen
Auswirkung in Deutschland zentralisiert, nicht aber die Roman
tik, auf deren Überwindung es vor allem ankam - soll unsere
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These stimmen um zum Roman im Goetheschen Sinne zu
rückfinden zu können. Der romantische Geist in Europa um
faßt nun eine Menge Abschattungen, beginnend mit der roman
tischen Sehnsucht nach dem Rousseauschen Naturzustand bis
zur romantischen Verkleidung des neuen und positivistischen
Nationalismus. Dazwischen liegt ein Zurückwenden zum Ka
tholizismus, das für die protestantischen Länder manchmal wie
eine Miniaturausgabe des frühen Kryptokatholizismus aussieht,
für die französische Romantik unter Führung Chateaubriands32
aber richtunggebend ist, liegen die politischen Romantismen,
deren Heroismus invölligerUnklarheitsichsowohlanFreiheits-
als an Reaktionsideen heftet und sie in der sonderbarsten Weise
vermengt. Wie dem nun aber auch sei: kann der katholische
Gläubigkeitszerfall im positivistischen 18. Jahrhundert Frank
reichs mit der Geburt der neuen autonomen Dichtung und mit
der Geburt des Romans in Zusammenhang gebracht werden,
konnte dies zu einer Zeit hier geschehen, in der manche Wurzeln
der neuen Romantik hier schon deutlich sichtbar waren, so
könnte vermutet werden, daß hier - entrückt der idealistischen
Einwirkung der protestantischen Theologie des Kritizismus -
die Entwicklung zur neuen Romanform unbehinderter weiter
gegangen wäre, daß also hier sich eine Atmosphäre erhalten
hätte, in der sich ungeachtet alles romantischen Antipositivis
mus eine positivistische Atmosphäre erhalten hätte, die nicht nur
die autonome Entwicklung der neuen Romanform auch weiter
hin zu begünstigen fähig war, sondern auch der Goetheschen
Anregung geöffneter hätte sein können als [die]»theologisierte«
Atmosphäre der deutschen Romantik.
Es ist nun durchaus fraglich, ob der außerdeutsche roman
tische Roman solcher Forderung besser genügt als [der]
deutsche, ob also etwa Chateaubriand oder Walter Scott der
neuen autonomen Romanform »besser« als Jean Paul genügen.
Was dafür spräche, wäre die ungebrochene Linie der Entwick
lung, die vom alten Abenteuerroman zur historischen Fabel
Scotts führt oder von den Rousseauschen Anfängen der Ro
mantik über Bernardin de Saint-Pierre33 zur Atala34. Aber tra
ditionsgemäße Elemente lassen sich auch in der deutschen Ro
mantik aufweisen, und wenn man Scott die besondere
historische Realistik, Chateaubriand einen neuen heroischen
Naturalismus nachrühmt, wenn man also von hier besondere
225
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positivistische Elemente deduzieren wollte, so kann mit Leich
tigkeit nicht nur auf realistische Komponenten bei Jean Paul
oder bei E. T. A. Hoffmann hingewiesen werden, sondern mit
noch größerem Recht behauptet werden, daß es auch eine Rea
listik in der Darstellung des Supranaturalen und Traumhaften
geben könne, ja daß in dieser Ausdehnung des realistischen
Blickes sich erst die Autonomie des Dichterischen erweise. Sind
also solcherart kaum Differenzen festzustellen, so ergäbe sich
eher etwas Gemeinsames für alle romantische Produktion: es
fehlt ihr das Polyhistorische und die ethische Tendenz der »Bil
dung« aus der Gesamtheit, wie sie dem Goetheschen Roman
vorschwebt. Daran ändert nichts, daß historische Darstellung
historische Bildung voraussetzt, aber auch nichts, daß Chateau
briand einen christlichen Weltanschauungsroman mit edukato-
rischer Tendenz schreiben wollte: das Wesen der Romantik war
eben zu jener Zeit, daß die katholische Idee nicht mehr Polyhi
storie gewesen ist, nicht mehr sein konnte, weil sich eben die
letzte Renaissance der katholischen Theologie mit dem 18.
Jahrhundert aufgelöst hatte. Versteht man unter Romantik das
Beharren in Werthaltungen, deren Geltung bereits aufgehoben
oder deren Geltungsgebiet eingeschränkt ist, so ist die Darstel
lung des Supranaturalen und Traumhaften (soferne es nicht zu
einem dogmatischen Mystizismus hinüberblinzelt - was aber
höchstens Hauff vorgeworfen werden könnte) weit weniger ro
mantisch als die katholische Propaganda Chateaubriands. Und
nebenbei gesagt: die nordische protestantische Gläubigkeit
dieser Zeit ist, soweit und weil sie sich auf die platonische Theo
logie und Ethik des Kantschen Kritizismus stützt, weit weniger
romantisch als der gleichzeitige Katholizismus, selbst wenn die
ser mit so realen politischen Aspirationen auftritt wie der Cha
teaubriands oder Giobertis35. Dies besagt natürlich nichts ge
gen die Glaubensintensität dieser Katholiken; sondern es ist
bloß gesagt, daß es sich um einen individuellen Glauben han
delt, der in kein theologisches System mehr eingebaut ist.
Kann man also auch nicht behaupten, daß der romantische
Roman außerhalb Deutschlands fruchtbarer war als der
deutsche selber, und könnte man es sogar vertreten, daß dieser
Romantismus in baldiger Degeneration - die ihren Ausgang bei
Dumas36 nahm - zum Ahnen des gewöhnlichen Unterhal
tungsromans geworden ist, so ist es doch Frankreich, das eben
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um diese Zeit, mitten aus dem Romantismus heraus, die Wen
dung zum autonomen Roman hervorbrachte. Ob damit ein Er
weis für unsere Grundthese erbracht ist, mag dahingestellt blei
ben: historische Regeln mögen für große Tatsachengruppen
noch schlecht und recht gelten, wenn es sich aber um indivi
duelle Erscheinungen handelt, spielen allzu viele rein persönli
che Momente mit, als daß man die Persönlichkeit zum Thesen
beweis anführen dürfte. Was für den außerdeutschen Roman
der Romantik spricht, ist seine repräsentative Geltung, die ihn
einigermaßen neben die nationale Repräsentation Goethes
stellt: Chateaubriand zwar in geringerem Maße, obwohl sein
Einfluß im vormärzlichen Frankreich ungeheuer gewesen ist,
wohl aber Scott für England oder Manzoni37 (den zwischen
Scott und Chateaubriand zu klassifizieren einige Befugnis be
steht) für Italien. Daß aber in Koinzidenz mit dieser Romantik
Balzac die Comedie humainc schuf, daß Stendhal wenige Kilo
meter von Manzoni entfernt saß, und Le Rouge et le Noir38 das
gleiche Erscheinungsjahr wie die Promessi sposi3‘} hatte, ob
diese Koinzidenz auf die Zufallserscheinung einer hier lokali
sierten Künstlerpersönlichkeit oder auf Wesensbedingungen
der romantischen Zeit beruhen, dies kann nicht entschieden
werden, wohl aber, daß hier Strebungen zur Realisation gelan
gen, die der eigentlichen Romantik fremd, hingegen dem Goe-
theschen Roman innig verwandt sind.
Dies aufzuzeigen fällt bei Balzac verhältnismäßig leicht. Schon
die Breite der Anlage der Comedie hamaine weist auf das Be
streben, einen Gesamtdurchschnitt des Lebens zu geben und
über das Episodenhafte hinauszugreifen. Gewiß spielt dabei für
Balzac die Intensität der theoretischen Welterkenntnis die ge
ringste R olle; Esser und Verdauer der Welt größten Maßstabes,
wird ihm die Darstellung eher zur physiologischen Funktion
und Sensation als zu einer geistigen Sublimierung. Das ist na
türlich so weitgehend schief, als Bilder stets schief sind: der
richtige Kern darin ist dennoch von Wichtigkeit, vielleicht von
größerer Wichtigkeit als man bisher ahnte, weil es nahezu 100
Jahre gedauert hat, bis dieses Balzacsche Darstellungsprinzip
des womöglich wahllosen Zusammenraffens der Welt, dieses
Prinzip des Nicht-Auslassens aus der Erscheinungsfülle, wieder
zu einem Eckpfeiler der dichterischen Produktion geworden ist.
Balzac selbst war zweifelsohne von diesem Prinzip besessen,
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war aber viel zu sehr zeitgebunden, mußte dies auch sein, um
über Ansätze zur Erfassung der Totalität hinausgelangen zu
können. Daß diese Totalität vor allem sozusagen makrokos
misch, d. h. soziologisch gesehen wird, daß es vor allem das Pro
blem der gesellschaftlichen Schichtung ist, von dem Balzac be
wegt wird, daß es also vor allem das gesellschaftliche Material
ist, das er mit der Geste des Riesen einfängt, das ist sowohl von
den persönlichen Lebensumständen des Dichters bedingt (der
aber darin eben auch Exponent der Zeit ist), ist aber überdies
in einer Zeit, in der die Soziologie Comtes geboren wurde, nicht
nur nicht verwunderlich, sondern rückt Balzac - trotz mancher
romantischer Diktion - aus der Sphäre der Romantik in die des
Positivismus, der er aber durch seinen neuen, draufgängeri
schen »unintellektualisierten« Realismus noch viel mehr zuge
hört (einen Realismus, der sich zu dem der Romantik etwa so
verhält wie Courbet40 zu Ingres41). Man könnte geradezu von
einem Antiintellektualismus sprechen, von einer Geradlinig
keit des bon sens, dessen Elementarität ebensowohl nach
rückswärts zu den Explosionen der großen Revolution als nach
vorwärts in die modernste Moderne weist, gleichzeitig aber
Balzac von Stendhal im wesentlichsten unterscheidet.
Denn Stendhal ist im wesentlichen intellektualisiert. Es ist
nicht die Intellektualisierung der Romantik, der nichtsdesto
weniger auch er entstammt, es ist eher die Intellektualität
Goethes, zu der Stendhal übrigens in einer durchaus direkten
Beziehung steht, freilich in einer spezifisch französischen Um
biegung: gleichwie Balzac als Reflex auf die Soziologie des Po
sitivismus gewertet werden kann, darf Stendhal als literarischer
Gegenpunkt zu jener Entwicklung aufgestellt werden, die in di
rekter Erbfolge von Condillac über Maine de Biran42 zur neuen
französischen Psychologie hinführt. Derartige Parallelen kön
nen natürlich bloß cum grano salis genommen werden: weder
besteht eine unmittelbare Berührung zwischen Balzac und der
Soziologie, noch eine solche zwischen Stendhal und der Psy
chologie (eher z. B. eine solche zwischen Manzoni und dem
Psychologismus Rosminis43 - eine Tatsache, die für die Bezie
hung der italienischen Romantik zu einem katholisch umge
wandelten Kantianismus immerhin aufschlußreich ist), viel
mehr können solche Parallelerscheinungen bloß zur Festhal
tung des Charakterbilds einer bestimmten Epoche wichtig sein.
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Viel wichtiger ist es, daß der Blick des Dichters sich ebenso po
sitivistisch auf gesellschaftliche Zustände als auf psychologische
Haltungen zu richten begann, und daß damit ein Novum gegen
über dem Goetheschen Roman geschaffen wurde, dem die ei
gentliche Romantik nichts zur Seite zu stellen hat, und mit dem
sowohl Balzac als Stendhal nicht minder richtunggebend für die
autonome neue Dichtung geworden sind als Goethe selber.
Goethes Totalitätswillen und Stilmannigfaltigkeit, Balzacs so
ziologisches Interesse und Naturalismus, Stendhals Psycholo
gie: damit waren die Grundpfeiler des autonomen Romans ge
schaffen. Es wäre müßig zu prophezeien, ob sich der Roman
künftighin bloß auf diese Pfeiler stützen werde, ob er aus sich
heraus noch eine neue Ausdrucksmöglichkeit schaffen wird, ob
er noch andere, außenstehende und exotische Elemente auf
nehmen wird. Sicherlich ist der russische Roman nicht ohne
weiteres innerhalb dieser Abgrenzungen zu lokalisieren, si
cherlich liegt für Rußland eine gesonderte und ihrerseits auto
nome Entwicklung vor, wenn sie auch vielfach per analogiam
zur westlichen zu verstehen ist, zumindest insoweit, als man von
einem verlängerten russischen Mittelalter sprechen kann, nie
mals aber von einer spezifisch-orthodoxen Scholastik, von der
dieses Mittelalter seine einheitliche Färbung erhalten [hat], daß
also weder Bemühungen zur Regenerierung einer solchen
Scholastik, noch solche zur Neuerrichtung einer Theologie im
Sinne des neuen kritizistischen Platonismus möglich waren.
Dieser Mangel eines »organisierten« Mittelalters vermag eini
ges über die Eigentümlichkeit der russischen Entwicklung aus
zusagen, vor allem wohl auch, daß es keine russische Philoso
phie, sondern bloß mystisierende Theoreme gibt, dann aber,
daß der Roman, dessen Form überdies aus dem Westen impor
tiert ist, hier einen ganz andern Boden als den westlichen vor
fand, einen Boden, den er weder einer alten Theologie, noch
einer neuen Philosophie abringen mußte, sondern der ihm a
priori als Pflanzstätte autonomer Entwicklung überlassen
wurde. Was sich also im Westen im Kampf der historischen Pe
rioden und Disziplinen abspielt, das konnte in Rußland inner
halb des Romans selber ausgetragen werden: der mystische
Protestantismus Tolstois - den man je nach seiner Phase eben
sowohl mit Luther als mit Rousseau vergleichen kann - spielt
sich zum großen Teil in Tolstois literarischer Produktion ab, um
229
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schließlich in einem notwendig auch gegen sich selbst gekehrten
Bildersturm zu endigen; die nationale Romantik des Pansla
wismus kam mit und im Roman zur Realisation, war also eine
Eisscholle, die im Gewässer des Romans trieb und durchaus
nicht jene romantische Klippe, an der sich die Flut der autono
men Dichtung im Westen brach. Aber eben weil dem so ist, hat
der russische Roman für seine Mission - die an sich die gleiche
wie die des westlichen ist - eine raschere Erfüllungsmöglichkeit
gehabt als die westliche Dichtung: die Totalität des Lebens und
seiner Irrationalität zu erfassen, in dieser Erkenntnis das eigene
ethische und metaphysische Gewissen und Bedürfnis zu beru
higen; dieses Ziel wurde von Dostojewski zwar nicht erreicht,
weil es niemals und von niemandem erreicht werden kann, aber
es wurde soweit angenähert, soweit menschliche Kraft über
haupt reicht. Und wenn auch die Elemente des russischen Ro
mans keine anderen waren und sind als die des westlichen, von
dem er seinen Ausgang genommen hat, wenn auch der Realis
mus Realismus bleibt und sich auch hier zum Naturalismus stei
gert, wenn auch der Abstand zwischen der Psychologie Sten-
dhals und der Dostojewskis nicht größer ist als der räumliche
und zeitliche Abstand, der zwischen ihnen liegt, so ist durch die
Zusammenfassung aller autonomen Kräfte des Romans in dem
CEuvre Dostojewskis bereits jene metaphysisch-ethische Ebene
erreicht, die der westlichen Dichtung bisher noch unerreichbar
war.
Denn die Zeit war für den Westen noch nicht reif. Der gro!3e
europäische Roman, von den Franzosen getragen, bot bloß
Partiallösungen. Es ging die Linie des Naturalismus von Balzac
zu Zola, es zeigten sich bei Zola gewisse, sehr vergröberte A n
sätze zum Polyhistorismus, sicherlich auch ein Wille zur Totali
tät; Stendhals Konstruktivismus und Psychologie reichen zu
Flaubert und noch weit darüber hinaus, doch nirgends - trotz
aller europäischen Repräsentation - zeigt sich jener inhaltliche
und formale Gesamtausdruck des Erlebens, wie er dem Wil
helm Meister innewohnt und wie er (eben innerhalb der aufge
wiesenen russischen Umfärbung) über das Gesamtwerk Dosto
jewskis gelagert ist. Die (so spezifisch »westliche«) Idee der
»Bildung« scheint völlig verflogen zu sein, es sei denn, daß man
den Grünen Heinrich44 als deren Repräsentation zuließe, und
die Verzettelung der großen Dichtungsaufgabe ins Unterhalt
230
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liehe und Episodische scheint unabänderlich: im Grunde bleiben
bloß Zola und Flaubert bestehen.
Es ist vielleicht mehr als ein Zufall, daß Zola von allen bösen
Ideen des Freidenkertums und des bon sens besessen war, daß
er als durchaus amusische Gestalt im Gefilde des Ästhetischen
ragt, daß er, ein dicker Lateiner, der das ethische Gesetz wo
möglich in einer Reform des Justizwesens gesucht hätte, mit
immer größerer Vehemenz sich gegen alles theologische Den
ken wendet, als wüßte er, daß der Bestand dieses Denkens ihm
noch immer seine eigene Wesenheit schmälerte und verküm
merte. Was Zola dabei ein wenig lächerlich macht, ist, daß er
in einer Zeit der dümmsten Philosophie, nämlich in der mate
rialistischen Antiphilosophie der nach-hegelschen Periode,
lebte und sich solcherart zum Sprecher dieser Ungeistigkeit
oder zumindest zu ihrem Reflex machte. Betrachtet man bloß
Deutschland um diese Zeit, so erscheint [ein] Wiedererwecken
des theologischen Denkens innerhalb des Neukantianismus ge
genüber der Dummheit des materialistischen Vorstoßes mehr
als berechtigt und begrüßenswert - das war noch kein Gegner,
von dem sich das platonische Denken den Todesstoß versetzen
lassen mußte. Und daß die vorläufige Unbesiegbarkeit des
theologischen Denkens für Zola instinktmäßig fühlbar gewesen
sein konnte, daß er um die Notwendigkeit der Niederringung
wußte, um den Platz für die autonome Dichtung freizubekom
men, das könnte immerhin hypostasiert werden und würde den
Kampf Zolas gegen die Scheingegner der »Kuttenträger« (die
längst keine echten Gegner mehr waren) verständlich machen.
Aber es mußte erst der Krieg kommen, um die letzten Reste
jenes Denkens wegzuschwemmen. Die Autonomie aller Werte,
die Brückenlosigkeit, mit der jedes Wertsystem neben allen an
deren steht, die Zersprengung des übergreifend Humanen, so
daß der Kaufmann nicht das Wertgebiet des Soldaten, der Sol
dat nicht mehr das Wertgebiet des Wissenschaftlers versteht,
nie mehr verstehen kann, diese letzte Hinwegschwemmung der
letzten Reste der Theologia, die einst die Werte und die Men
schen zusammenband, die Stummheit des Krieges, diese
furchtbare Stummheit, in der es nur mehr die Sprache der
Dinge gab, und die Sprache Gottes erloschen war, dies alles
mußte erst kommen, um den letzten Rest der Hoffnung zu ver
löschen und die Resignation herbeizuzwingen. Denn Resigna
231
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tion ist es, trotz Zola. So großer Ereignisse bedurfte es, um den
Platonismus wenigstens für einige Zeit mundtot zu machen.
Es ist ein Zustand eingetreten, der bereits skizziert wurde. Die
Philosophie hat mit einiger Deutlichkeit erkannt, daß alles
Denken tautologisch sei, daß also Deduktion bloß innerhalb
des geschlossenen Systems (der Mathematik und Logistik)
möglich sei, und daß keine dialektische Spekulation zu meta
physischen Ergebnissen führen kann. Diese Philosophie, Aphi-
losophie, hat sich selbst abdanken müssen, denn sie mußte not
gedrungen alle echt philosophischen Probleme, mußte alle
metaphysische und ethische Sehnsucht in das Reich und in den
Bereich der Mystik verweisen. Es gehörte Mut zu dieser E r
kenntnis, Mut, um diesen Standpunkt eines radikal positivisti
schen Positivismus zu beziehen. Mut allerdings bloß für den
Philosophen, der philosophiert, weil ihn die Welt und sein D a
sein und sein Sterben bedrängt: denn mit der Verweisung all
dieser Fragen ins Mystische weiß er zugleich, daß diese mysti
sche Lösung und Erkenntnis ihm nicht mehr durch die Kirche
gewährt werden kann, weil diese Kirche als platonisches G e
bilde eben nicht mehr existiert, nicht mehr existieren kann, da
der Philosoph selber die Axt an ihre letzte platonische Hoff
nung gelegt hat. Soferne die Hoffnung nicht auf eine außer
kirchliche persönliche Gnade Gottes noch besteht - eine ge
ringe Hoffnung, und sicherlich von wenigen getragen - , ist die
Verweisung des Menschen auf die mystische Erkenntnis, in der
er Antwort auf seine unbezwingbare metaphysische Frage fin
den soll, eine Verweisung auf das Nichts und auf die Stummheit.
Denn diese Zeit der autonom nebeneinander gestellten W ert
gebiete, die sich untereinander bloß durch Geschäftsbriefe ver
ständigen können, ist vollkommen stumm geworden, so stumm
wie das Geistige selber, das zu seinem Ausdruck sich auf die
mathematische Formel beschränkt hat. Vielleicht, jedoch bloß
vielleicht, schwebt irgendwo die Hoffnung, daß ein pantheisti-
sches Naturgefühl von irgendwo den Sinn des Lebens stumm
herbeitragen könne, und vielleicht ist das geradezu explosions
mäßigentstandene neue Naturgefühl des modernen Menschen,
dieser auf der ganzen Welt nach dem Krieg bemerkbare Hunger
nach Sonne, Berg und Wasser auf diese Sehnsucht zurückzu
führen, mag es noch so sehr physiologisch und sportlich be
gründet sein. (Denn ohne metaphysische Angst bewegt sich
232
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nichts auf dieser Welt!) Und ebenso mag aus der ungeheueren
Stummheit der Welt ihr ungeheuerer Hunger nach Musik er
klärt werden, dieser industrielle Musikbetrieb, der die Stumm
heit erfüllt und sie übertäuben soll, die Ahnung und die Verhei
ßung und das Gefühl einer Erkenntnis in sich tragend, auf die
alle warten und warten müssen.
Die autonome Dichtung, autonomer Wert unter autonomen
Werten, hat allerdings den ganzen philosophischen Bestand
von der Philosophie und von der Theologie freibekommen. Sie
hat im Roman ihre eigene autonome Form gebildet und die
Aufgabe auf sich genommen, für sich eine Totalität des Welt
bildes wieder zu erzeugen, in der jene mystische Erkenntnis
vom Metaphysischen und Ethischen, diese letzte Stellung
nahme des Menschen in der Nacht seiner Irrationalität, im
Strome seines dunklen Geborenwerdens und Sterbens, Stel
lungnahme zum rationalen Sinn seines Lebens, noch einmal ge
sucht werden soll. Die platonische Aufgabe der Welterfassung
vom Ich aus ist vom überindividuellen Ich der Wissenschaft auf
das überindividuelle, trotzdem kategorisch individuelle Ich der
Dichtung übergegangen, und die Dichtung hat diese Aufgabe
auf sich genommen. Sie hat durch dreihundert Jahre ihre Mittel
dazu vorbereitet, und sie weiß - ihrem positivistischen Sinn ge
mäß, der ihr von der Renaissance verliehen worden ist - , daß
auch für sie bloß das Pathos der Erfahrung als fruchtbarer
Nährboden gelten kann, einer Erfahrung, deren Realismus sich
ebensowohl auf das äußere als das innere Geschehen richten
muß, auf jenen mystischen Urgrund menschlicher Abgeschie
denheit, in dem das unverlierbar Göttliche zu erahnen ist, als
auf das Tun in einer geformten Welt, in der die Dinge ihre Na
men haben, doch nicht minder auf jenes halb erfaßbare, halb
unerfaßbare Geschehen, das unter der Gestalt des Psychischen
zwischen den Schichten des Erlebens vorhanden ist und sie ver
bindet. In diesem Blick, der von Schicht zu Schicht wandert, von
Bereich zu Bereich, in diesem Abtasten der Bereiche und dem
Suchen nach der Sprache der Dinge, die sich in jedem Bereich
befinden (denn die Regel, daß die Sprache der Dinge gefunden
werden muß, gilt für das Dichterische eo ipso, bildet ja die For
derung nach dem Realismus), darin ist der Quell zu jener Tota
lität gelegen, die der neuen autonomen Dichtung abgefordert
werden muß, gleichzeitig zu jener Polyhistorität, die schon in
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Goethes »Bildung« vorausgenommen worden ist. Denn auch
der bildungsmäßige, rationale Ausdruck ist eine Schicht unter
den unendlich vielen Schichten des Erlebens. (N. B. dieses er
neute Eindringen des »Bildungsmäßigen« bei Gide, bei Hux-
ley, bei Mann, bei Musil.) Mit solcher Vielfalt der Blickpunkte
wird für den modernen Roman eine Vielfalt der Annäherungs
methoden notwendig, deren Elemente sich im Laufe des 19.
Jahrhunderts zusammengefunden haben und eine Polyhistorie
des Stils ergeben, der durchaus nicht Eklektizismus ist, sondern
sich eigentümlich mit der Polyhistorie des Inhalts verwebt, eine
Stilpolyhistorie, die die ganze Skala vom reinen Naturalismus,
und sei es selbst der exzessive der homophonen Nachahmung,
bis zur Irrationalität des Lyrischen und Hymnischen, ja bis zur
schweigenden Spannung zwischen den Worten und Zeilen zu
umfassen hat. Für die philosophische Dichtung gilt das nämli
che wie für die Erkenntnistheorie: Objekt und Methode durch
dringen sich unausgesetzt, nur daß in der Philosophie die D ar
stellung unwandelbar die »stilfreie« Sprache Gottes zu
sprechen sucht, während die Dichtung eine geradezu punk
tuelle positivistische Anschmiegung an das Objekt ihrer D ar
stellung erforderlich macht. Ob diese Elastizität der Darstel
lung als absolute Forderung aufzustellen ist, ob nicht der alte
Roman, der noch immer die einheitliche »Sprache Gottes«
spricht, seine Lebensberechtigung erhalten wird, das kann na
türlich nicht entschieden werden. Wenn man aber das Wirken
Goethes über den Meister hinaus betrachtet, sieht, wie hier die
Form immer mehr und mehr gesprengt wird, um schließlich zu
der großen Freiheit des Faust zu gelangen, so erscheint es zu
mindest wahrscheinlich, daß jene Elastizität, ja, wenn man will,
die Verdehnung der Romanform, wie sie von Joyce eingeleitet
wurde, die neue Phase der Dichtung bedeutet.
Man müßte das ganze Problem des Positivismus nochmals
aufrollen, um die Wahrscheinlichkeitsgründe aufzuzählen,
warum gerade England das Geburtsland der neuen Logistik
und des neuen Positivismus und gleichzeitig das des neuen Ro
mans werden mußte. Soweit es sich um die wissenschaftlich
philosophische Entwicklung handelt, könnte man, um an der
äußersten Oberfläche zu bleiben, auf den bekannten positivi
stischen Tatsachensinn der Engländer verweisen, der sich schon
mit Occam gegen die Scholastik gewandt hat. Aber dieser Tat
234
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sachensinn war immer zwiespältig: er führte auf der einen Seite
bis zu den Platitüden Spencers, andererseits aber zu einer Hef
tigkeit des religiösen Erlebnisses, wie es in Europa sonst kaum
mehr anzutreffen war - die Bekehrung und das Wirken Kardi
nal Newmans45 ist keineswegs auf Romantik zurückzuführen.
Und während auf der einen Seite die ökonomischen und sozia
len Verhältnisse durchaus auf eine Radikalisierung des Lebens
und auf die Autonomie der Werte hindrängte, wenn der Ma
chiavellismus der einzelnen Wertsysteme nirgends zu so rascher
Blüte als in England gelangt ist, wenn dieses Autonomieprinzip
der einzelnen Gebiete, Berufe, geistigen Haltungen in England
schon frühzeitig geradezu systemisiert worden ist, so bildete
sich - vielleicht eben durch diese frühzeitige Anerkennung der
tatsächlichen Existenz dieser Verhältnisse - eine Art Burgfrie
den zwischen diesen Autonomien, ein föderatives Zusammen
wirken, das mit dem, was man den »Konservatismus« Englands
nennt, so ziemlich identisch ist und dies durch eine Prävalenz
des Kirchlichen auch formal nach außen dokumentierte, indem
es - auch dies ein höchst interessanter Kompromiß - unter
Herausarbeitung der demokratischen Komponente des ur
sprünglichen Protestantismus die Hochkirche als demokra
tische Institution in den Parlamentarismus einfügte und veran
kerte. Sicherlich liegen die Dinge noch wesentlich komplizier
ter, aber selbst in ihrer Vereinfachung kann es verständlich
werden, daß England sich gegen eine neue Theologie, die mit
dem vergewaltigten Anspruch auf Allgemeingeltung von einer
einzelnen Wissenschaft erhoben wurde, daß es sich gegen den
Kantianismus sträuben mußte und ihm tatsächlich weit weniger
Einlaß gewährte als die katholischen Länder. So merkwürdig es
klingt: bei aller Konzilianz, mit der die Gegensätze zu einer
mittleren Resultante zusammengeführt [wurden], nirgends sind
die Gegenpole so weit von einander liegend wie im englischen
Leben, und am deutlichsten mag dies an dem Zusammenbeste
hen der nüchternen Vernunft und ihrem steten Umschlagen ins
Mystische und Sektenhafte sichtbar sein. Dies aber und nichts
anderes ist der Inhalt der neuen englischen Philosophie46 (so-
ferne man, was aber wohl erlaubt ist, Wittgenstein47 zu ihr
rechnet), dies ist der Positivismus, der von England seinen
Ausgang nahm und dessen Antiplatonismus so merkwürdig
mit dem Antiplatonismus der russischen Marx-Dogmatik
235
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zusammentrifft. Es ist aber auch der Geist, der mit der Entfes
selung außerhalb seines britischen Mutterbodens sich zu jenem
Amerikanismus wandelte, zu jener brüllenden Stummheit
der Maschine, deren Glorifizierung und Mystifizierung sich
Rußland womöglich noch mehr angelegen sein läßt als Amerika
selber.
Die Richtigkeit dieser Annahmen vorausgesetzt, würden sie
die natürlichen Bedingungen darstellen, die notwendig vorhan
den sein mußten, damit die englische Literatur die Führung des
autonomen dichterischen Ausdruckes erringen konnte. Sicher
lich gehörten auch interne historische Voraussetzungen hiezu,
so ein seit dem Abenteuerroman stetig festgehaltener Realis
mus, eine seit Sheridan48 niemals verloren gegangene soziale
Ironie, es mußten Dickens und Thomas Hardy vorangehen, und
wenn auch nirgends die europäische Durchschlagskraft Zolas
oder Dostojewskis erreicht war, so besaß die englische Dich
tung ein Element von stärkster Ausprägung, das für das Kom
mende von größter Bedeutung werden sollte: sie besaß Humor,
und in diesem Humor war sie von vorneherein die Hüterin einer
platonischen Weltanschauung. Denn das Witzige entsteht erst,
wenn die verschiedenen Dinge der Erscheinungswelt aus ihrer
scheinbaren Hierarchie der dogmatischen Gegebenheit her
ausgehoben werden, wenn ein idealistisch wirkender Verstand
sie paritätisch nebeneinander stellen kann und zwischen ihnen
jene sonderbaren Kurzschlüsse zustande kommen können, die
als das Komische empfunden werden. Dieser wahrhaft platoni
sche Humor, der vielleicht seit Jahrhunderten von Oxford her
deriviert, dieses Griechentum im englischen Leben, ordnet die
englische Literatur unter ganz andern Gesichtspunkten als die
kontinentale, und er war es wohl, der sie für die Endaufgabe des
Dichterischen aufnahmebereit machte und den neuen Roman
auf ihrem Boden entstehen ließ, einem Kulturboden, der aller
dings gleichmäßiger und sorgsamer durchpflügt war als an
derswo, so daß auch die gleichmäßige, stetige und autonome
Entwicklung gesicherter denn anderswo zu jenem Ziel und je
ner letzten Entfaltung gelangen konnte, wenn ihre Zeit gekom
men war: und die war mit dem Amerikanismus in der anglo-
amerikanischen Welt eher und deutlicher gekommen als
anderswo. Aber dennoch wäre diese Besinnung auf Totalität,
wäre die Besinnung auf das stets faustisch absolute Ziel des
236
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Dichterischen nicht so zwingend gewesen, wäre - abgesehen
von der Dichterpersönlichkeit, die dazu vorhanden sein mußte
- die englische Geistigkeit nicht vom irischen Katholizismus
stets aufs neue befruchtet worden. Es kann, soweit man hier von
Beweisen überhaupt sprechen kann, als Beweis oder zumindest
als schöne Abrundung unserer Grundthese dienen, daß Joyce
aus der scholastischen Schule des Jesuitismus stammt, und daß
der Ulysses eine stete Auseinandersetzung mit der Scholastik
und mit dem Primat des Geistigen innerhalb des Irrationalen
darstellt.
Die Werte sind zersprengt. Kein Wertgebiet kann sich mit
dem andern verständigen. Die Welt ist stumm. Zwar ist die
Gabe der Rede und der Erkenntnis dem Dichter so restlos von
allen andern Wertträgern abgetreten worden, als es sich der
Dichter nur wünschen konnte. Er wurde sozusagen einstimmig
zum »Fachmann« des Erkenntnismäßigen ernannt. Aber ist in
dieser Autonomie der Wertsysteme, innerhalb deren das Dich
terische seine eigene Autonomie bewahrt und entfaltet, ist hier
das Dichterische überhaupt noch hörbar? Ist Dichten nicht ein
l’art pour l'art geworden, eine Erkenntnis, eine faustische An
gelegenheit, aber eingesperrt im schwarzen Raum des Esoteri
schen? Oder konkreter gesprochen: kann es gegen den neuen
Pantheismus der Natur, gegen das Gefühlige der Musik, gegen
das Motorische des Sports aufkommen? hat das Kognitive
heute noch eine soziale Bedeutung? Wir sagten, daß das meta
physisch-ethische Bedürfnis des Erdgeborenen unauslöschlich
sei, und daß sein Cogito stets nach der platonischen Erlösung
schreien müsse - ist die Hoffnung auf das pantheistische Gefühl
nicht dennoch stärker als der Wunsch nach dem Kognitiven? Es
sind Fragen, die keine prophetische Antwort zulassen. Die Exi
stenz des Faust, des Ulysses würde das Hinstreben zur Esoterik
wahrscheinlich erscheinen lassen. Und, um im Äußerlichsten zu
verbleiben, daß die soziale und materielle Stellung des Dichters
wie des Künstlers überhaupt innerhalb der Gesellschaft immer
prekärer wird, würde gleichfalls zeigen, daß sie für die dichteri
sche Produktion und Erkenntnis keinen Bedarf hat, es sei denn,
daß er bürgerliche Unterhaltungsromane oder, was dasselbe ist,
in Rußland politische Zweckkunst erzeuge. Was gegen solchen
Pessimismus spricht, ist einzig und allein das Wissen um das
platonische Bedürfnis des Menschen, sein Leben aus dem
237
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Wirrsal des Irrationalen herauszuführen, sich kognitiv und
ethisch zu ordnen, zu wissen, für welchen Lebenssinn sein ein
sames Ich sich zum Sterben bereit halten soll, und möge sich
solches Sehnen auch nur in dem unausrottbaren Bedürfnis des
Menschen [ausdrücken], lachen zu dürfen, ein Bedürfnis, das
innerhalb der Nacht des Irrationalen bloß vom platonischen
Denken befriedigt werden kann, und dem also auch die neue
Form der Dichtung Rechnung trägt.
1 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Elementarlehre II. T. II. Abt. II. Buch
I. Hauptstück »Von den Paralogismen der reinen Vernunft«.
2 Ernst Troeltsch (1865-1923), deutscher Theologe und Philosoph. Vgl. Ge
sammelte Schriften, 4 Bde. (1912-1925), Bd. IV: Gesammelte Aufsätze zur
Geistesgeschichte und Religionssoziologie, S. 172ff.
3 Vgl. Spinoza, R. des Cartes Principiorum philosophiae partes I et II more geo-
metrico demonstratae und Ethica ordine geometrico demonstratae.
4 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, »Vorrede zur zweiten Auflage«, Anmer
kung: »[...] so bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen
Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns [...] bloß auf Glauben
annehmen zu müssen [...]«
5 Dante, Divina Commedia (1307-1321).
6 Frz. Versroman des 13. Jahrhunderts; Verfasser des allegorischen ersten Teils
ist Guillaume de Lorris, des didaktischen zweiten Teils Jean de Meung.
7 Francois Rabelais, La vie tres horrificque du grand Gargantua Pere de Panta-
gruel, Chapitre IX: »Les couleurs et livree de Gargantua«.
8 Giorgio Vasari (1511-1574), ital. Maler, Architekt und Kunstschriftsteller.
Vgl. Vite de' piü eccellenti pittori, scultori ed architetti (1550).
9 Giotto di Bondone (1266-1337), ital. Maler und Baumeister in Florenz,
Schüler von Cimabue.
10 Giovanni Cimabue (1240-1302), ital. Maler, Begründer der neueren ital.
Malerei.
11 Hubert van Eyck (1370-1426), Jan van Eyck (1390-1441), niederländische
Maler, Begründer der altniederländischen Schule.
12 Hauptfigur in Rabelais’ Romanfolge Gargantua et Pantagruel (1532ff.)
13 Giovanni Lorenzo Bernini (1598-1680), ital. Baumeister und Bildhauer, füh
render Meister des römischen Hochbarock.
14 Andrea Palladio (1508-1580), ital. Baumeister. Vgl. sein Hauptwerk Quattro
libri dell’ architettura (1570).
15 Volksbuch, erschien 1515 in Straßburg.
16 Regence-Stil: in Frankreich Bezeichnung für die unter der Regentschaft (re-
gence) des Herzogs Philipp von Orleans auftauchende Stilrichtung, die in Ge
gensatz zu dem schwerfälligen Barockstil der letzten Zeit Ludwigs XIV. trat
und sich bald zum Rokoko ausbildete.
17 Der Ausdruck »Philosophie de l'histoire« wurde von Voltaire geprägt.
18 Jean Lamarck, Philosophie zoologique, 2 Bde. (1809).
19 Thomasa Kempis(1379-1471), deutscher Mystiker. Vgl. De imitatione Chri
sti.
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20 Michel de Montaigne (1533-1592), vgl. Essais (1580).
21 Francois de La Rochefoucauld (1613-1680), frz. Schriftsteller. Vgl. Maximes
(1665).
22 Christian Fürchtegott Geliert (1715-1769). Vgl. Fabeln und Erzählungen,
2 Bde. (1746-1748).
23 Vgl. Voltaire, La pucelle d'Orleans (1755).
24 Pierre Choderlos de Laclos, Les liaisons dangereuses, 4 Bde. (1782).
25 Voltaire, Candide (1759).
26 Vgl. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wis
senschaft wird auftreten können.
27 J. W. Goethe, Von deutscher Baukunst (1772).
28 Vgl. J. W. Goethes Gedicht »Gott und Welt. Allerdings«: »Natur hat weder
Kern / Noch Schale, Alles ist sie mit einem Male.«
29 J. W. Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1794).
30 J. W. Goethe, Novelle (1826).
31 Barthelemy Prosper Enfantin (1796-1864), frz. Philosoph, Hauptvertreter
des Saint-Simonismus. Vgl. Economic politique, et politique Saint-Simo-
nienne (1831).
32 Vgl. Fran^ois-Rene de Chateaubriand (1768-1848), Le genie du christia-
nistne (1802).
33 Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre (1737-1814), frz. Schriftsteller,
Vorläufer der Romantik. Vgl. Etudes de la nature, 3 Bde. (1784ff.), die auf
Anregung Rousseaus hin entstanden.
34 Werk Chateaubriands von 1801.
35 Vincenzo Gioberti (1801-1852), ital. Staatsmann und Schriftsteller. Vgl. Del
primato morale e civile degli Italiani (1843).
36 Alexandre Dumas (1802-1870). Vgl. Madame et la Vendee (1832).
37 Alessandro Manzoni (1785-1873), ital. Dichter, bedeutendster Vertreter der
ital. Romantik. Vgl. Inni sacri (1812-1822).
38 Stendhal (1783-1842), Le Rouge et le Noir (1830).
39 A. Manzoni, I Promessi sposi, 3 Bde. (1827).
40 Gustave Courbet (1819-1877).
41 Jean Auguste Ingres (1780-1867).
42 Francois Pierre Gauthier Maine de Biran (1766-1824), frz. Philosoph, an
fänglich Sensualist im Sinne Lockes und Condillacs. Vgl. Memoire sur l’habi-
tude (Paris 1803).
43 Antonio Rosmini-Serbati (1797-1855), ital. katholischer Philosoph. Vgl.
Nuovo saggio sull' origine delle idee, 3 Bde. (Mailand 1835) und Filosofia del
diritto (Mailand 1841-1845); sein Briefwechsel mit Manzoni erschien in Mai
land 1901.
44 Gottfried Keller, Der grüne Heinrich (1854f., Neufassung 1879f.)
45 John Henry Newman (1801-1890), englischer kath. Theologe, 1879 zum
Kardinal ernannt. Vgl. Lectures on Catholicism in England (London 1851).
46 Gemeint ist vor allem die Philosophie von Bertrand Russell.
47 Wittgenstein lebte von 1929 bis zu seinem Tode 1951 in England.
48 Richard Brinsley Sheridan (1751-1816), englischer Schriftsteller und Parla
mentarier.
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Rezensionen
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E thik
U n te r H inw eis auf H . St. C ham berlains1 Buch
Im m a n u el K a n t2
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Herde zu leben. Wer so denkt, [...] ihm wird angst und bange
nicht so sehr vor dem Tode, als vor der Einsamkeit.«3
Die Erkenntnis der Einsamkeit, Quell und Prüfstein alles
Geistigen. Unter der Wucht dieses Erlebnisses wird kindischer,
rationalistischer Erklärungsdrang zu Denken eines Bewußt
seins, zur Philosophie, und wird die kleine platte Ekstase zur re
ligiösen Mystik des Gefühls. Erst die Demut einer unabänderli
chen Vereinsamung vermochte den Stolz und die Größe einer
sonst dem Menschen nicht verliehenen Erhabenheit zu wecken
und das Maßlose solcher Einsamkeit gestattete ein Pathos, das
im Weltlichen nur frech und beschämend war.
Der große Mystiker ist demütig; er hat die Grenzen (Eckharts
»Abgeschiedenheit«) erkannt und sein Ziel ist, durch Hingabe
an die Unerfaßlichkeit des Gefühls einer gotterfüllten Welten-
haftigkeit teilhaftig zu werden. Alle Liebe und Innigkeit wird
ihm zum Erschließen der Grenze, Erfühlen und ahnendes
Schauen jener Wahrheit, die im Absoluten unerreichbar und
schwebend, das All einigt.
Mystiker und Philosoph gehen verschiedene Wege und den
noch Hand in Hand. Auch der philosophische Geist ist demütig.
Während aber der Mystiker, sein Ich im Gefühl projizierend,
das Größere, Unfaßbare eines legendären Außen niemals auf
läßt, sondern bloß strebt, es in sein Ich cinzubeziehen, erlaubt
sich der Philosoph, sein Ich im Selbstbewußtsein fixierend, auch
diese Annahme, diese Voraussetzung nicht mehr (dies hat
wohlverstanden mit einem dogmatischen, etwa Berkeleyschen
Idealismus nichts zu tun!). Der Philosoph nimmt die furchtbar
ste Erkenntnis, die Einsamkeit des Geistes, ohne jede Ein
schränkung, ohne jede Hoffnung bewußt auf sich, eine Selbst
überwindung, die mir das Wesen des Philosophischen
auszumachen scheint. Hier erhebt sich jene größte philosophi
sche Weltanschauung, die man füglich die heroische Skepsis
nennen dürfte, die Weltanschauung Kants.
Während jede außerkantsche Philosophie an der Erde klebt,
sich von Welterklärungssucht nicht freimachen kann und zur
Ausfüllung der großen Unbekannten Anleihen bei mystischen
Gefühlsurteilen oder vag-analogen, materialen Theorien zu
machen sucht (man denke nur an den Schopenhauer’schen
»Willen«), um damit dem unendlichen Lauf des Denkens und
Fragens endlich einen, eben einen dogmatischen, Halt zu ge
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ben, ist Kant der erste und einzige, der diese willkürlichen Pro
visorien, dieses Vermischen von außen und innen, diese Inzucht
von Urteilen, als solche erkennt und verwirft. Er ist der Erste
und Einzige, der aus der Einsamkeit und Einheitlichkeit des
Geistigen die Konsequenz zu ziehen wagt, den Lauf des Den
kens und Fragens nicht aufzuhalten, ihn bis zu den Wirbel
schlüssen der Antinomien zu verfolgen, um von hier, von den
Grenzen aus, das Bewußtsein zu überblicken und aufzuzeigen,
daß es unendlich viele Betrachtungsarten des Objektes geben
kann, daß Theorie und Welterklärung unendlich viele Möglich
keiten der praktischen Vernunft ergeben, daß aber die Aufgabe
der Erkenntnistheorie in den Formen des Denkens, in der
schwebenden Gesetzlichkeit des Ichs liegt. Diese Einheitlichkeit
der Geistigkeit aber ist es, was er gemeinsam hat mit dem tief
sten Mystiker, ja mit dem Religionsschöpfer: nirgends erscheint
Kant mehr Rigorist als hier, da er das Denken zum reinen
Selbstbewußtsein zwingt, alles »Unbewiesene« - das Gefühls
urteil - ausmerzt und so eine, in ihrer Härte geradezu anorgani
sche, Klarheit erreicht, die sein Werk zum Prinzip des Philoso
phischen überhaupt erhebt. Seine Einheitlichkeit umfaßt den
Pol des Mystischen, wie die Größe des Religionsschöpfers den
Pol des Gedanklichen umfaßt.
In nichts wurde aber Kant mehr mißverstanden, als gerade in
diesem, dem Wurzelpunkte seiner Lehre, und niemand trug
mehr zu solchem Mißverständnis bei als Schopenhauer und
durch ihn Nietzsche; Schopenhauer unter dem Mantel der Ehr
furcht und Nietzsche mit der Geste des Überwinders.
Es mag hier darauf hingewiesen werden, daß der von Kant in
den Kritiken in Anwendung gebrachte große und subtile Appa
rat von Unterscheidungen, Bezeichnungen usf. ein Apparat ist,
der zur Demonstration der Denkform und ihrer Gesetze aufge
stellt ist, der aber nicht funktioniert, sowie seine Teile heraus
genommen werden, um, nach bewährtem Muster, zur Ausfül
lung von Unbekannten zu dienen. Niemandem ist es in dieser
Hinsicht schlechter gegangen als dem »Ding an sich«, das für
Kant etwas vollständig Außenstehendes, Unwirkendes ist, ein
»transzendentales Ideal«, ein Zielpunkt des Gedankens, wie
sein Ausgangspunkt das mathematische Ich; zwei Spiegel, die
einander das Bild unendlich und stets in weitere Ferne zuwerfen
(vgl. Kritik der reinen Vernunft, 2. Buch II 3). Was machte
245
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Schopenhauer aus dem Ding? Den Willen! Und seine Kritik der
Kantschen Philosophie beginnt mit den Worten »Kants größtes
Verdienst ist die Unterscheidung der Erscheinung vom Ding an
sich«.4
Nietzsche, der erkenntniskritisch zu ungleich tieferen Ein
sichten als Schopenhauer gelangt, hat aber die Kantauffassung
augenscheinlich von ihm übernommen, denn es wäre nicht
möglich, daß er, der bloß Schopenhauer überflügelnd Kant er
reicht, sonst glauben konnte, er hätte mit solch vertiefter Ein
sicht Kant überflügelt und ihn widerlegt; er könnte sonst in
Spruch 552 des Willens zur Macht (des Werkes seiner reifsten
metaphysischen Erkenntnisse) nicht entdecken: »[...] Es fällt
endlich auch das Ding an sich: weil das im Grunde eine Kon
zeption eines >Subjekts an sich< ist. Aber wir begriffen, daß das
Subjekt fingiert ist. Der Gegensatz Ding an sich und Erschei
nung ist unhaltbar; damit aber fällt [...] der Begriff Erschei
nung dahin.« - Und es mag daher auch nicht verwundern, daß
er mit dem wundervollen Anfang des dritten Buches5, in dem
er die Unsicherheit, das Ungesicherte alles Denkens und aller
kritischen Spekulation ausspricht - wie darf ich Umschau hal
ten im eigenen Denken, diesem Spiel von Verzerrungen und
Schematisierungen? - die Kantsche Lehre zu treffen vermeint,
um schließlich über den dogmenlosesten Philosophen, vorsich
tigsten und skeptischesten Zweifler zu resümieren: »Kant: ein
geringer Psycholog und Menschenkenner; grob fehlgreifend in
Hinsicht auf große historische Werte (Französische Revolu
tion); Moral-Fanatiker ä la Rousseau mit unterirdischer
Christlichkeit der Werte; Dogmatiker durch und durch, aber
mit einem schwerfälligen Überdruß an diesem Hang, [...] aber
auch der Skepsis sofort müde [...] ein Verzögerer und Vermitt
ler, nichts Originelles.« (Spruch 101.)
Staunend aber müssen wir erkennen, daß dieser »Dogmati
ker«, dessen Philosophie in den, man könnte sagen »zynischen«
Antinomien liegt, damit wohl einen gründlicheren Nihilismus
vorweggenommen und eine gründlichere Umwertung geschaf
fen hat, als eine, der die Skepsis der Erkenntnis, jener Null
punkt und Ursprung des Philosophischen, bloß zum Dreh
punkt eines Wertsystems wurde, das in seiner neuen Lage doch
nur wieder die Dogmen der früheren isomorph abbildet. - Und
gerade in dem von Nietzsche vertieften Sinn des Wortes »Skep
246
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sis«, kann man jene Arbeit, die Kant selbst seine »Doktrinen«
nannte, die Entwicklung des Wahrheitsbegriffes und seine ethi
schen Folgerungen der Freiheit als die gewaltigste Skepsis aller
Zeiten ansehen.
Der Kantsche Wahrheitsbegriff führt klar und zwingend den
Ausgangspunkt und die Grundlinie seiner Philosophie vor Au
gen, die manchen eben durch die großangelegte und vorsichtige
Apparatur der Kritiken verdeckt sein mögen: er führt zurück
auf die ewige Einsamkeit und Einheit des Ichs. »In allen Urtei
len bin ich nun immer das bestimmende Subjekt [.. .].«6 (Para
logismen der reinen Vernunft 1.) Kant wird hier durchaus zum
skeptischen Relativisten, und man begreift nicht recht, daß ein
scharfer Denker wie Husserl zwar nicht Kant selbst, aber doch
solche Denkweise als »freche Skepsis«7 bezeichnen konnte.
Die Bescheidenheit, Resignation vor einer transzendentalen,
absoluten Wahrheit mußte zur Gesetzlichkeit einer höheren,
individuellen Wahrheit werden (damit ist beileibe nicht sachli
che Evidenz gemeint, jedoch dem Nietzscheschen Einwand von
der inneren Schematisierung Raum genug gegeben) und zwar
- gleich dem »Dinge« - in transzendentaler Idealität als eine
limes: die Wahrhaftigkeit des Ichs, das sich nicht selbst belügen
kann. Ehrlichkeit des Selbstbewußtseins - Anerkennung des
idealen Denkgesetzes. Der Philosoph in diesem Sinne höchster
Ehrlichkeit kennt nur seine cogitatio: sein Ziel ist die Grenze
seiner Denkmöglichkeit, seiner Denkgebundenheit.
Und wieder ist es bezeichnend für den Ursprung seiner Philo
sophie, daß Kant in der Ethik und nicht in den Kritiken das Ziel
seines Werkes sieht; ihr Ursprung war die Einsamkeit des Ichs,
ihr Zweck also die Festigung des Menschen zu solcher Einsam
keit, die Ermöglichung seines Lebens als geistiger Mensch über
haupt. So erleben wir es, daß der kategorischeste Individualis
mus in seiner skeptischen Relativität schließlich zur Ethik wird
und damit zum soziologischen Gesetz. Die Wahrheit und Ge
setzlichkeit einer Realität, alle Naturgesetzlichkeit, spiegelt
Wahrheit und Gesetzlichkeit des Denkens.* Freieste und ge-
* Dieser (so oft mißhandelte) Imperativ von Chambcrlain in die konzise Formel
gefaßt »Subjekt, handle objektiv«8. Wie überhaupt seine Formulierungen von
»Grenzgedanken«, wie er sie nennt, sehr eindringlich sind. Hier muß aber auch
Dallagoy genannt werden, welcher mit seiner Erfassung Kants als »ersten Immo
ralisten« nicht nur dessen vorwegnehmendes Verhältnis zu Nietzsche, sondern
Kants ganzes Denken intuitiv erhellt.
247
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bundenste Moral zugleich: kenne ich das Gesetz meines D en
kens, so kenne ich das Gesetz meines Ichs, Freiheit und Gebun
denheit meines Handelns. Wer das Gesetz seines Denkens - nur
dieses und kein anderes - verletzt, ist unmoralisch; er wird zum
Wahnsinnigen und zum Verbrecher.
Weininger, der leidenschaftlichste Ethiker nach Kant, stand
durchaus auf dem Boden seiner Morallehre, er mußte an ihrem
furchtbaren neant zusammenbrechen, als er sie ins Dogma
tische wandelte. Denn die unheimliche, henidenlose Klarheit
der moralischen Architektonik Kants zeigt alle Gesetzmäßigkeit
der Form, aber sie vernichtet alles Dogmatische. In der Relati
vität ihrer Maße hat ein »so ist es« mit all seinen Folgerungen
keinen Platz.
Die Methode Kants ist eine »wache« und mathematische, und
nirgends wird die Ahnung des Fichteschülers Novalis »Reine
Mathematik ist Religion«10 wahrer als in diesem System. Lich-
tenbergs tiefer Witz, der Kants Passus »Da nun der Satz: Ich
denke, [...] die Form eines jeden Verstandesurteils [...] enthält
und alle Kategorien als ihr Vehikel begleitet [...]« 11 verwandelt
in die Form »>ich glaube< - so sollte man alles anfangen, was
man durch eignes Nachdenken herausbringt...«12, charakteri
siert die letzte Religiosität dieser Denkweise. Daß gerade der
Satiriker sich zu den höchsten Erkenntnissen, Mystik und Be
wußtseinsphilosophie hingezogen, sich ihnen verwandt fühlt,
mag notwendig erscheinen. Denn die Geistesanlage des großen
Satirikers führt (abgesehen von seiner Künstlerschaft) so nahe
an das Denken des großen Mystikers und Philosophen, daß es
Anmaßung ist, hier noch so einfache Klassifikationen walten zu
lassen. Ihr Gemeinsames: die Ablehnung des Ungeistigen,
Vernichtung des Dogmatischen (auf solcher Höhe jetzt viel
leicht nur Kraus); verschieden wohl nur die Ausgangspunkte:
für den Mystiker das Gefühl, für den Philosophen das Bewußt
sein, für den Satiriker der Gegensatz zu beiden, die crapule. Ih
rer aller letztes Ziel: Menschentum, Menschlichkeit in der Ein
samkeit des Geistes - Ethik.
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4 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zweiter Band, Erstes
Buch, Kapitel 17 (gegen Ende): »[...] jene Zerlegung der Erfahrung in Er
scheinung und Ding an sich, worin ich Kants größtes Verdienst gesetzt habe.«
5 F. Nietzsche, Der Wille zur Macht (»Prinzip einer neuen Wertsetzung«),
Spruch 466 ff.
6 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Elementarlehre II. T. II. Abt. II. Buch
I. Hauptstück »Von den Paralogismen der reinen Vernunft«.
7 Vgl. Fußnote 14 zum Aufsatz »Genesis des Wahrheitsproblems...«
8 H. St. Chamberlain, Immanuel Kant, a.a.O., S. 727.
9 Carl Dallago (1869-1949), österreichischer Schriftsteller. Vgl. C. D., Das
Buch der Unsicherheiten. Streifzüge eines Einsamen (Leipzig 1911), S. 104:
»Kant, nicht erst Nietzsche, ist bereits ein Immoralist der Deutschen. Kann
man gründlicher eine jede Moral abtun, als durch Verlegung des moralischen
Gesetzes in sich selber?« Über Nietzsche publizierte Dallago seinerzeit fol
gende Aufsätze: »Nietzsche und - der Philister«, in: Der Brenner, I. Jg., Heft
2(1910), S. 25-31; fortgesetzt in: Der Brenner, I. Jg., Heft 3 (1910), S. 49-53;
»Nietzsche und die Landschaft«, in: Der Brenner, II. Jg., Heft 23 (1912),
S. 831-840.
10 Novalis (Friedrich von Hardenberg), Werke - Briefe - Dokumente, Bd. 2,
Fragmente I (Heidelberg 1957), S. 126.
11 Wie Fußnote 6.
12 Georg Christoph Lichtenberg, Vermischte Schriften, Bd. 1 (Göttingen 1844),
S. 52.
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O tto K a u s1
D o sto jew ski2
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Die absolute und totale Formung des Erlebens, die Dosto
jewskis Genie von sich verlangte, bringt ihn mit gleicher Lei
denschaftlichkeit in die Position des subjektiven Ethikers reli
giös-politischer Prägnanz als in die der umfassenden
Darstellung dieser Konstellation innerhalb der objektiven Idee
des Kunstwerkes, dessen Absolutierung über jede parteipoli
tische und daher dogmatische Stellungnahme hinaus eine ethi
sche Größe und kosmische Einheit erreicht, wie sie seit Kants
Moralgesetz nicht mehr erlebt wurde.
Kaus’ Untersuchung setzt bei dieser Antinomie zwischen der
subjektiv-praktischen Theorie des Politikers und objektiv
theoretischen Praxis des dichterischen Genies Dostojewskis an.
Damit ist ihm sein Problem, das der Möglichkeit ethischer
Dichtung, eröffnet, und durch diesen Blick auf das Allgemein-
Gültige gewinnt die Analyse eine, selbst über den durch Dosto
jewskis Namen gegebenen bedeutsamen Anlaß hinausrei
chende, eigene und prinzipielle Bedeutung.
Daß sie, erfüllt von der philosophischen Größe ihres Objektes
und in sich geschlossener, schriftstellerischer Qualität mit se
kundärer Literaturmacherei nichts zu tun hat, ist selbstver
ständlich, muß aber, um Verwechslungen vorzubeugen, leider
gesagt werden.12
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Felix Weltsch1
G nade und Freiheit2
Nach langer Pause - 1913 erschien sein erstes, mit Max Brod3
gemeinsam herausgegebenes Buch Anschauung und Begriff4 -
läßt Felix Weltsch eine neue philosophische Arbeit folgen. Das
antinomische Problem, das jener Untersuchung zu Grunde lag,
der Gegensatz von Mystik und Ratio, ist auch dieser, und in
vertiefter Form, zum philosophischen Agens geworden: war es
damals nur Vorwurf zu deskriptiv-psychologischer Analyse, so
erscheint es nunmehr hier, in seiner vollen Bedeutung erfaßt
und erlebt, in den erkenntniskritischen Mittelpunkt, in den
»Ursprung« des Weltanschauungs-Begriffes schlechthin ge
stellt, notwendig zur radikalen, religions-ethischen Fragestel
lung sich entfaltend. Aus dem Wahrheitsbegriff, dem erkennt
nistheoretischen Fundament alles Philosophierens, folgt der
Begriff des Glaubens, denn Wesen der Wahrheit ist, daß sie be
jaht, daß sie »geglaubt« werden muß. Und wie sich im Geflecht
der kausalen Wahrheitsverknüpfungen deren System zu dem
des Kosmos [sich] ausweitet, so folgt ihm parallel das immer
umfassendere Glaubenserlebnis. In beiden aber lebt unvermin
dert der antinomische Gegensatz von Intuition und Ratio, sich
auswirkend, wie Weltsch sehr schön zeigt, in den Begriffspaa
ren5 »Leben und Einheit«, »Vitalität und Geist«, »Freiheit und
Notwendigkeit«, »Gnade und Freiheit«. Eine trotz ihrer knap
pen Fassungsehr eindringliche und vorsichtige Analyse der ka
tholischen, protestantischen und jüdischen Glaubenslehre, der
christlichen und jüdischen Mystik zeigt schließlich die ihnen al
len innewohnende letzte Vervollkommenung der Ur-Antino-
mie: im Gegensatz der Gnaden- zur Freiheitsreligion, aufwei
send, daß die lebendige Befruchtung des Religiösen schließlich
immer wieder aus dem ethischen Element der schöpferischen
Freiheit erfolgt. Die Beweisführung entspringt einem Kantisch
geschulten Denken und damit auch einer richtigen philosophi
schen Besonnenheit.
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2 Felix Weltsch, Gnade und Freiheit (München 1920).
3 Max Brod (1884-1968), Prager Schriftsteller, Dramaturg und Philosoph, starb
in Tel Aviv.
4 Max Brod, Felix Weltsch, Anschauung und Begriff. Grundzüge eines Systems
der Begriffsbildung (Leipzig 1913).
5 Die angeführten Begriffspaare sind die Kapitelüberschriften zu den Abschnit
ten des Buches Gnade und Freiheit, S. 28-45, 46-75, 76-95 und 96-116.
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Wilhelm Schäfer1
Drei B riefe12
Ich zitiere zwei Stellen: »Ich sah, daß Ihr [die Quäker] in diesem
Krieg als die einzige Gemeinschaft dastandet, die sich nicht der
Vergewaltigung fügte, daß Ihr mannhaft zueinander und zum
Glauben hieltet, als wir einsam blieben, daß Ihr als die ersten
aus dem Ring unserer Feinde als wahrhafte Freunde zu uns
kamt. Jetzt bin ich gewiß, daß es nicht Steine waren, die Ihr mit
Eurem Brot unsern Kindern brachtet, jetzt bin ich gewiß, daß
darin wie in Eurem sonstigen Sein und Tun - und ginge es noch
so unscheinbar daher - jene überirdische Macht der Wirklich
keit aufstand, die Jesus in seinem unermeßlichen Wort pre
digte: Liebe deinen nächsten wie dich selbst.« - Und: »Ist es
aber so, dann bleibt der einzelne für den ganzen Zustand der
Menschheit verantwortlich, in dem er lebet. Wer diese Verant
wortung nicht fühlt, braucht sich ihrer auch nicht zu entschla-
gen; wer sich aber dieser höchsten Verantwortung bewußt ge
worden ist, kann sich um des lieben Friedens willen, der nichts
als der stinkende Sumpf der Verantwortungslosigkeit und der
Lieblosigkeit ist, keine kleinere wählen. Weil ich es nicht kann,
mußte ich diese Briefe schreiben.« Sie sind aus der Erschütte
rung entstanden, als der Dichter Schäfer die Worte des Pfarrers
Gogarten auf der Wartburg vernahm: »Die Religion ist die Kri
sis dieser wie jeder Kultur!« und die Auseinandersetzung mit
dem Christentum, in der sich diese Erschütterung auswirkte,
gipfelt in dem Bekenntnis und der Bitte an die Quäker: »Längst
keiner Kirche mehr angehörig, weil es meinem Gewissen un
möglich war, ihr Dogma zu bekennen, bitt ich, in Eurer G e
meinschaft ein Christ und also ein Gottesfreund sein zu dür
fen.«
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Eine Neuausgabe Lorenz von Steins1
(L. v. Stein: G e s c h i c h t e d e r s o z i a l e n B e w e g u n g
in F r a n k r e i c h ) 2
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chen Studie eingeleitet worden ist. Selbst dem soziologischen
Studien Fernerstehenden bringt dieses Buch, schon als G e
schichtswerk allein, reichsten Gewinn: dem deutschen Idealis
mus und der idealistischen Geschichtsschreibung Rankes in
vielem nahestehend, zeigt es, daß eine soziologische Historik
keineswegs, ob links oder rechts, in die Einseitigkeit beispiels
weise eines Buckle hie, eines Mehring da, verfallen muß, son
dern in eben differenzierterer Theoretik recht wohl imstande
ist, die »Fülle« des historischen Lebens umfassend zu begreifen.
Und daß die Vergangenheit Spiegel der Gegenwart ist.
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D ie erk en n tn isth eo retisch e B edeutung
des Begriffes »R evolution«
und die W iederbelebung d er H egelschen D ialektik.
Z u den B üchern A rth u r L ieb erts1
(A . L., V om Geist der R evolutionen2,
Wie ist kritische Philosophie überhaupt m öglich?3)
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Aufgabe sofort und notwendig auf den Begriff der Antimonie
führt.
Die Antinomie, um welche es sich hier handelt, ist jene, die
allem geschichtlichen Leben, aller geschichtlichen Entwicklung
innewohnt und die im landläufigen und empirischen Sinne als
Kampf des »Neuen« gegen das »Alte« bekannt ist. Revolutio
nen, wo immer und wie immer sie stattfinden - das ist eben der
logische Gehalt des Begriffs »Revolution überhaupt« - , ob nun
auf politischem, religiösem, sozialem oder sonst welchem G e
biete, sind nichts als »Verdichtungen«4 und damit zugleich
Verdeutlichungen und Entblößungen jenes immerwährenden
Kampfes, dessen antinomischer Charakter als metaphysischer
Grundgehalt der »sonst immer irgendwie verkleideten Urbe-
dingungen des geschichtlichen Lebens in aller Nacktheit«5 in
der Revolution zu Tage tritt.
Jede Antinomie, soll sie im logischen Sinne wirklich eine sol
che sein, muß auf Absolutes zurückgehen. Kontraste wie
»Konservativ« und »Liberal«, »Kapitalistisch« und »Soziali
stisch« sind noch nicht die Antinomie6, sondern höchstens nur
deren bereits historisch bedingter Ausdruck. Und wenn es auch
nur im historischen Gebiete zur Auswirkung gelangt und gelan
gen kann, so muß das Absolute dennoch außerhalb dieses G e
bietes, eben im logisch Absoluten, seinen Ursprung und seinen
Rechtsgrund finden.
M. a. W.: auf dem geschichtlichen Gebiete spielt sich ein
Kampf mit etwas Un- und Übergeschichtlichem ab, ja man
kann gerade heraussagen: es ist der Kampf des geschichtlich
Gewordenen mit dem ungeschichtlich Absoluten. Dieses A b
solute ist aber gleichzeitig geschichtliche Erscheinung, und so
fällt es nicht schwer - Geschichte ist Geschichte des Men
schen-, es in der Gestalt des Menschen zu suchen und zu
agnoszieren, denn der Mensch, obzwar Träger der Geschichte,
tritt als Träger des Absoluten kämpfend dem Geschichtlichen
entgegen.
Das Geschichtliche ist das Gewordene, Relative, im System
gebundene - das Absolute ist die Autonomie, das ungebunden
Freie. Zwischen diesen beiden Begriffskomplexen spielt der
antinomische Kampf der Revolution. In zweierlei Formen tritt
die Autonomie des Menschen der Geschichte entgegen: in der
Autonomie irrationalen »Lebens« in seinen biologischen Aus-
258
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Wirkungen, in seinem Kampf ums nackte Dasein und seinen
Machtwillen, doch auch in seinen mystisch-religiösen Urtrieben
einerseits und andererseits in der Autonomie des »Geistes« und
ihrer ideellen Auswirkung in der Forderung nach »Freiheit«,
»Gerechtigkeit« und »Vernunft«. Im Zusammenwirken dieser
beiden Autonomieprinzipien entfaltet sich die Revolution.
Stellt die »Autonomie der sinnlichen Natur« auch noch keinen
objektiven Rechtsgrund zur Revolution dar, so enthält sie ihn,
wenn sie unter die »Autonomie der Vernunft« gestellt wird.
Denn diese, in reinster Ausprägung als »Autonomie des Ver
standes«, wohlgemerkt des kritischen Verstandes, vermag die
Realität und den Konventionalismus des jeweils historisch Ge
wordenen kritisch aufzulösen und in Synthese der revolutionä
ren Kräfte die »Idee der Flumanität« als letzte und »optimisti
sche« Forderung des geschichtlichen Fortschrittes zu erheben.
Damit aber, eben in dieser Synthese, wird im Begriff der Re
volution der bedeutungsvollere Sinn des Historischen sichtbar:
das, was Ranke die geschichtlichen »Ideen« nannte.7 In ihnen
faßt sich das historische Leben, trotz seiner Irrationalität, zu
gewissen Typen von »Weltbewertungen« zusammen, die nicht
nur erkenntnismäßig, etwa in metaphysischer Überzeugung,
ihren Ausdruck finden, sondern »das Erleben und das Tun der
großen geschichtlichen Persönlichkeiten wie die bescheidenste
Arbeit des kleinen Mannes«8 durchranken und tragen. Hier
tritt die »Vernunft« in das irrationale »Leben«, dem als sol
chem keine »erschöpfende Sprache« überhaupt genügen kann,
selber ein, um »Erkenntnisse, Lebensformen, Gewohnheiten,
Einrichtungen, Bestimmungen, Leistungen usw.«9 zur Einheit
der kulturbildenden »Idee« zusammenzufassen, die unabän
derlich vom »Absoluten der Vernunft«10 geleitet, nur vom Ab
soluten aus verstanden werden kann.
Von diesem Forum aus betrachtet, erscheint es auch müßig
danach zu fragen, ob geschichtliche Bewegungen und Revolu
tionen kollektivistisch oder individualistisch aufzufassen wä
ren: die Einheit der Idee weist darauf hin, daß jede Bewegung
nur in strenger Korrelativität zwischen dem einzelnen und der
Gemeinschaft durchzuführen ist und daß es ein ununterbroche
ner Strom ist, der innerhalb der Autonomie der Vernunft die
erkenntnismäßigen Erscheinungen mit den massenbewegen
den verbindet. Keine Revolution ohne leitende Ideen und da
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her keine Revolution, die nicht ihren letzten erkenntnismäßi
gen Rückhalt in der Philosophie und ihrer fortschreitenden
Arbeit fände! Und eben deswegen, gestützt auf diese letzten
Gründe des autonomen Verstandes, glaubt jede Revolution ein
radikal Neues, ein unweigerlich Unantastbares an Stelle des
Relativen, historisch Erstarrten und Dogmatischen aufrichten
zu können und alle destruktiven Kräfte zur Vernichtung dieses
Alten entfesseln zu dürfen.
In solcher Meinung aber liegt auch die Tragik aller Revolutio
nen. Denn nicht nur, daß die Kontinuität des geschichtlichen
Lebens eine solche radikale Zäsur nicht erlaubt, es ist auch die
Logik der Revolution, die diese hier selber aufhebt. Jede Revo
lution ist ihrem Wesen nach »Forderung«: doch der »Begriff
der Forderung setzt den Begriff eines Etwas, in bezug auf das
die Forderung gilt, und überhaupt einen Sinn hat, das, m. a. W.,
der Forderung untersteht«.11 Dieses Etwas aber ist eben wieder
nur das geschichtliche Leben, jener Komplex, der durch die
Revolution zerstört werden soll. Die Unbedingtheit des Revo
lutionismus - und das mag an der bolschewistischen Methode
sich illustrieren - »würde sich selbst um ihren Sinn bringen und
den Boden für die Wirksamkeit sich selbst fortziehen«12, wollte
sie sich zum Selbstzweck setzen, d. h.: die Revolution »formt«
das Geschichtliche: bilden aber damit die »Ausprägungen der
Autonomie ihre absoluten Formprinzipien, so bedeutet das
Geschichtliche das ihr nicht minder notwendige absolute In
haltsprinzip«13, und »keine Revolution vermag einen Neubau
des geschichtlichen Lebens von Grund aus aufzurichten, son
dern ihre schöpferischen Kräfte und Formprinzipien sind genö
tigt, sich an dem in der geschichtlichen Entwicklung angesam
melten Stoff zu betätigen«14. Hieran aber, in dem Aneinander
prallen der beiden Absolutheiten, zeigt sich die tiefste Wurzel
und der eigentliche Urgrund des antinomischen Prinzipes der
Revolution: es ist die logische Antinomie zwischen Form und
Inhalt. Kann diese noch gelöst werden?
Und auch hier zeigt sich das dialektische Gesetz in voller
Fruchtbarkeit. Denn auch das geschichtlich Gewordene ist
Ausprägung der Autonomie der Vernunft, und wenn es auch
»erstarrt«, »konventionell«, »tot« erscheinen mag, so ist dies
darauf zurückzuführen, daß in ihm zwei Ströme zur Vereini
gung und »Formung«, die eben »Erstarrung« ist, gezwungen
260
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worden sind. »Geformt« in ihm ist das irrationale »Leben«
durch einen, sagen wir vergangenen Akt der Vernunft, durch
eine gewesene Revolution, aber immer ist es die nämliche Ver
nunft, die am Werke war, am Werke ist und immer sein wird.
Die Revolution ersetzt nicht eine Vernunft durch eine andere:
es gibt nur eine einzige Vernunft. »Es ist [...] die ewige Dialek
tik der einen und unteilbaren Vernunft, die diesen Spannungs
zustand und Kampf herbeiführt«15, aber der Kampf spielt sich
innerhalb der nämlichen Vernunft ab. Und so ist die Kontinui
tät des geschichtlichen Lebens keine bloß empirische Fiktion,
sondern eine dialektische Notwendigkeit und hebt den »Opti
mismus« der Revolution auf ein sozusagen höheres und logi
sches Niveau. Indem sie zwar jede Revolution notwendig vom
Selbstzweck zur Evolution zwingt, verbürgt sie aber auch
gleichzeitig die Kulturkontinuität und sichert die Hoffnung, daß
die Revolution trotz der Unbedingtheit ihrer negierenden Ten
denz den geschichtlichen Wertbestand nicht zerstöre, wohl ihn
aber in eine neue und absolutere Form überführe.
Es ist Arthur Liebert hoch anzurechnen, daß er - u. zw. trotz
ihrer Strenge in durchaus neuer und lebendiger Form - die Kul
turphilosophie auf die Hegelsche Basis zurückstellt. Denn das,
was er im Geschichtsgange überhaupt nachweist, nämlich die
Kontinuität in der Einheit der Vernunft, muß auch für die Ge
schichte der Philosophie, ja für diese vor allem gelten. Und ge
rade die Kulturphilosophie ist von dieser Kontinuität in den
letzten Jahrzehnten mannigfach abgeirrt. Sein zweites, kürzlich
erschienenes und umfangreicheres Werk Wie ist kritische Phi
losophie überhaupt möglich? (Leipzig: Verlag Meiner) zeigt
seine, dieser einheitlichen und einheitsstiftenden Weltanschau
ung entsprungenen Gedanken auf dem eigentlichen und zen
tralen Gebiete der Philosophie entwickelt.
Auch hier, u. zw. hier in aller Schärfe, ist die prinzipielle Stel
lung der »Philosophie der Philosophie« eingenommen, und mit
der Frage »Wie ist kritische Philosophie überhaupt möglich?«
ergibt sich, gleichwie in der Geschichtsphilosophie, die Frage
nach der Möglichkeit des Fortschrittes, der Entwicklungsfähig
keit, des Revolutionismus überhaupt innerhalb der Philoso
phie. Denn eben die kritische Philosophie, die »zermalmende«
Tat Kants, trägt das unverkennbare Merkmal einer umfassen
den und aufwühlenden Revolution.
261
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Deutlicher als auf dem Gebiete der Geschichtsphilosophie
zeigt es sich auch hier, daß auf letzt-logische Argumente zu
rückgegangen werden muß, auf ein letzt-logisches, im Denken
selbst verankertes »Bildungsgesetz«, dem alle Philosophie,
nicht nur die kritische, zu unterstehen hat. Liebert weist leicht
hin nach, daß dieses Gesetz nicht in psychologischen, nicht aus
philosophiegeschichtlichen oder sonst welchen empirischen
Fakten gefunden werden kann, so wenig wie eben geschichts
philosophische Gesetze aus den empirischen Fakten des »Kon
servatismus« und »Liberalismus« herauszulesen sind, sondern
daß, eben notwendig, dieses Gesetz aus dem logisch kritischen
System zu folgern ist, in ihm nur enthalten sein kann.
Dieses System aber ist in aller Klarheit das der »transzenden
talen Dialektik« Kants. Es ist jene Absolutheit der Vernunft,
die sich hier in voller Reinheit entfaltet. Aus der »Freiheit« ih
rer absoluten Autonomie entspringt ihre Kraft, aber auch der
ethische Zwang, die geschichtlich gewordenen Gedanken und
Wahrheiten, m. e. W. das gewordene System, kritisch zu be
leuchten und zu untersuchen. Da aber sie selber dieses System
darstellt, sich also selber kritisieren muß, so erscheint damit
jene Antinomie zwischen Form und Inhalt, die wir bereits in der
Geschichtsphilosophie wahrnahmen, zur prinzipiellen und prä
zisen Geltung gelangt. Die Lösung der Antinomie tritt demnach
auch in voller Reinheit zutage: es ist jenes Zurückwenden auf
das eigene Bewußtsein, das in Kants »kopernikanischer Wen
dung« zum kritischen Idealismus seine klassische Formulierung
gefunden hat.
Solche dialektische Voraussetzung des kritischen Idealismus
stellt nun aber auch die Kantsche Revolution in die Kontinuität
der philosophischen Erkenntnis. Die Methode des Fortschrei-
tens der Vernunft ist stets ein und dieselbe, und wenn sie das
Gegebene kritisch »zermalmt«, so baut sie dennoch aus seinen
Elementen die höhere Synthese wieder auf, es im schönen He-
gelschenDoppelsinn »aufhebend«. »Die Geschichte der Philo
sophie ist ein ewiger, systematischer Zusammenhang, in dem
das Prinzip unendlicher vernünftiger Erzeugung von Sache aus
Sache waltet«16, und wenn auch diese Kontinuität keine unbe
dingt zeitliche, sondern eine logische ist, so ist dennoch - und
dies ist Liebert eben im Besonderen zu verdanken - auf Grund
der transzendentalen Dialektik auch der notwendige Fort
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schritt von Kant zu Hegel zu statuieren, ein Zusammenhang,
der lange genug übersehen wurde.
Die philosophische Begründung des Marxismus ist - was auch
Masaryk17 in seinem Buche über den Sozialismus gezeigt hat -
eine vielfach mangelhafte. Neuere Theoretiker, so Vorländer18,
Max A dler19 u. a., haben das Problem aufgegriffen, den An
schluß an die strenge Philosophie im Kantschen Sinne herzu
stellen. Was die Untersuchungen Lieberts vor diesen Bestre
bungen auszeichnet, ist die Loslösung von aller speziellen
soziologischen Theorie und damit das Zurückgehen auf die
prinzipielle und logische Sphäre. In ihr gelingt es, jene kardi
nale geisteswissenschaftliche Fundierung zu finden, die allen
»Fortschritt«, wie immer er auch aufscheinen mag, umfaßt und
die geistige Revolution im gleichen Maße zu begreifen vermag
wie die politisch-soziale. Das Wort Liebmanns »Es muß auf
Kant zurückgegangen werden«20 bewahrheitet sich immer wie
der und sollte gerade in revolutionären Zeiten nicht vergessen
werden, die allein hier auch ihren ethischen Hintergrund finden
können.
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M ax A d le r1
M a r x a ls D e n k e r , E n g e l s a ls D e n k e r
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schäften mit allem Nachdruck in jene Richtung ein, welche
schon Kant für sie gefordert hatte, nämlich in die ausschließli
che Blickrichtung auf das Objekt ihrer Erkenntnis. Die For
schergeneration nach Hegel, welche eigentümlicherweise
durchwegs vermeinte, Hegel »überwunden« zu haben, ver
dankte ihre empirische Gewissenhaftigkeit und Präzision si
cherlich zum Großteil der Hegelschen Logik, durch deren
Schule sie gegangen ist. Wir sehen dies in gleicher Weise bei
Ranke und Mommsen als bei Marx und Engels, in einiger Ent
fernung auch in den religionspsychologischen Forschungen
Feuerbachs.3
Im gewissen Sinne scheint Hegel damit dem Positivismus den
Weg bereitet zu haben, denn die Einstellung auf das Objekt ist
unverkennbar eine positivistische, ist ja selbst Kant in seiner
Einstellung auf sein Objekt, das das Phänomen des Denkens
überhaupt ist, ein Positivist im weitesten Verständnis zu nen
nen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Marx den positivisti
schen Anregungen, die er beispielsweise von Saint-Simon er
fahren hat, sich gerne öffnete. Was ihn aber über die allgemeine
positivistische Arbeitsweise in den Geisteswissenschaften, etwa
der Buckles, hinausführte, war jener philosophische Blick aufs
Ganze und die bewußte, prinzipielle Herausstellung der neuen
Methode, die jeden großen Denker, es sei bloß Kepler oder
Newton angeführt, auszeichnete. Sozialismus als Logik vom
»vergesellschafteten Menschen« ist, wie Kelles-Krauz4 formu
lierte, kein »Dogma«, sondern eine »Forschungsmethode«,
und diese neue und durchaus idealistische Arbeitshypothese
zum wirkenden Agens der Soziologie gemacht zu haben, ist die
Tat Marx’.
Es ist nun allerdings die Frage, ob die idealistische Grundten
denz einer positivistischen Arbeitsmethode auch schon die Be
rechtigung gibt, den »Inhalt« solcher Arbeit als Philosophie an
zuerkennen. Soziologie und Geschichtsphilosophie laufen so
eng ineinander, daß es immer nahe liegt, es sei auf Barth5 ver
wiesen, die beiden zu identifizieren, und daß die materiali
stische Geschichtsauffassung vielfach als »die« Geschichtsphi
losophie schlechthin gilt, ist bekannt. Es muß nicht neuerdings
betont werden, welche Gefahren der philosophische Positivis
mus für die reine Philosophie in sich birgt, so vielfältig seine Er
scheinungsformen sind, seien diese nun psychologistisch-ener-
265
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getisch, pragmatistisch oder sonstwie gefärbt, sie enthalten als
letzte Möglichkeit doch immer die Gefahr eines groben Mate
rialismus. Für Marx besteht diese in doppelter Beziehung.
Denn erstens ist sein und Engels’ Verhältnis zu Feuerbach in
diesem Sinne auszudeuten, ebenso seine Bejahung Dietzgens6
als »Philosophen der Sozialdemokratie«; andererseits, wenn
auch nur rein äußerlich, verleitet das Wort »Materialistische
Geschichtsauffassung« leichthin dazu, diese mit dem naturali
stischen Materialismus zu verwechseln. Adler sucht nun, in ei
ner ausgezeichneten und tiefgründigen Polemik gegen Stamm
ler7- in der vorliegenden Broschüre nur auszugsweise - diesen
drohenden Vorwurf gegen Marx zu entkräften und, eben auf
Grund der idealistischen Reinheit der methodischen Prinzipien
in der Marxistischen Einstellung, auch deren logische und phi
losophische Reinheit nachzuweisen. Eine wesentliche U nter
stützung findet er dabei in dem ethischen Gehalt, der dem So
zialismus innewohnt und jedenfalls über den des Positivismus
hinausgeht und der auch anderen Kantianern, wie Lange, Co
hen, Staudinger8, Woltmann0, Vorländer Anlaß gegeben hat,
die innere Verbindung zwischen Kant und Marx, resp. Engels
aufzusuchen. Daß die materialistische Geschichtsauffassung
mit naturalistischem Materialismus nicht in einen Topf gewor
fen werden darf, kann daher, und vor allem in Ansehung der
scharfen Untersuchungen Adlers als ausgemacht gelten. Hin
gegen darf deren positivistische Tendenz, wie wir glauben, nicht
übersehen werden. Schon Masaryk reklamierte Marx als Posi-
tivisten, und A dler10 selber hat in einer schönen Studie über
Marx und einen so positivistischen Denker wie Mach es war, die
geistige Verwandtschaft dieser beiden Männer hervorgehoben.
Die Folgerungen, welche aus diesem Tatbestände zu ziehen
wären, gehen aber über den Rahmen dieser bescheidenen Be
sprechung weit hinaus.
In einer Zeit, in welcher »Marxismus« allzuoft zum Schlag
wort herabgezogen wird, bestenfalls zu einer »Überzeugung«,
die wie jede politische nicht mehr von sich weiß, als daß sie »re
spektiert« werden will, und vor einer Popularisierung, die,
wenn es hoch geht, den Sozialismus in eine sozusagen philoso
phische Verbindung mit Darwinismus und Dietzgenismus
bringt, erscheint es als ein tieferes, menschliches und wissen
schaftliches Verdienst der Adlerschen Forschungen, immer
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wieder auf das rein Geistige der Quelle hingewiesen zu haben
und sie aufzudecken.
1 Max Adler, Marx als Denker {Wien 19212), Engels als Denker (Berlin 1921).
2 M. Adler, Marxistische Probleme. Beiträge zur Theorie der materialistischen
Geschichtsauffassung und Dialektik (Stuttgart 1913).
3 Ludwig Feuerbach (1804-1872). Vgl. Das Wesen der Religion (1851).
4 Casimir von Kelles-Krauz( 1872-1905), Soziologe. Vgl. Die Sociologie im 19.
Jahrhundert (Berlin 1902), S. 4.
5 Paul Barth (1858-1922), deutscher Pädagoge und Philosoph. Vgl. Die Ele
mente der Erziehungs- und Unterrichtslehre auf Grund der Psychologie der
Gegenwart (Leipzig 1906), Die Geschichte der Erziehung in soziologischer
und geistesgeschichtlicher Beleuchtung (Leipzig 1911).
6 Josef Dietzgen (1828-1888), deutscher Philosoph und Schriftsteller. Vgl. Das
Wesen der menschlichen Kopfarbeit (1869). Gemeint ist wahrscheinlich ein
Zitat aus dem Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals, wo es heißt: »Die
gelehrten und ungelehrten Wortführer der deutschen Bourgeoisie haben >Das
Kapital zunächst totzuschweigen versucht, ...fanden aber in der Arbeiter
presse - siehe z. B. Joseph Dietzgens Aufsätze im >Volksstaat< - überlegene
Kämpen, denen sie die Antwort bis heute schuldig.« Zitiert nach Karl Marx.
Friedrich Engels, Werke, Bd. 23 Das Kapital (Berlin 1962), S. 22.
Brieflich äußerte sich Marx kritischer zu Dietzgen. Vgl. Karl Marx. Friedrich
Engels, Werke, Bd. 32 (Berlin 1965), S. 195.
7 Rudolf Stammler (1856-1938), deutscher Rechtsphilosoph. Vgl. Wirtschaft
und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung (1896).
8 Franz Staudinger (1849-1921), deutscher Philosoph, neukantianischer So
zialist. Vgl. Ethik und Politik (Berlin 1899).
9 Ludwig Woltmann (1871-1907), deutscher Philosoph, neukantianischer So
zialist. Vgl. Der historische Materialismus. Darstellung und Kritik der marxi
stischen Weltanschauung (Düsseldorf 1900).
10 Max Adler, »Mach und Marx«, in: M. A., Marxistische Probleme, a.a.O., S.
255 f. (9. und letztes Kapitel des Buches).
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A lb ert Spaier
L a p e n s e e e t la q u a n t i t e 1
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A lfred P olgar
H a n d b u c h d e s K r itik e r s 1
Theaterkritik hat mit den Stücken, die sie kritisiert, etwas ge
mein: sie verträgt und braucht Reprisen, sie erhärtet erst in der
Reprise ihren Bestand, und diese Ansicht wird auch durch das
Handbuch des Kritikers, den kürzlich erschienenen fünften
Band der kritischen Schriften Polgars bestätigt; das Buch, z. T.
eine Auslese aus früheren Veröffentlichungen, ist infolge Neu
inszenierung und neuer Regie, infolge neuer (bisher unge
druckter) Einlagen und Ergänzungen zu einem neuen Kunst
werk geworden. Dabei wird wieder einmal sichtbar, daß das
kritische Kunstwerk, als welches sich das Polgarsche (Euvre
mehr denn jedes andere darstellt, ein durchaus einmaliges Phä
nomen ist, mit keiner sonstigen Theaterkritik vergleichbar,
eher noch mit recht fernabliegenden Produktionsformen, etwa
mit denen der Liedvertonung: es gibt Künstler, deren Schaf
fenslust sich nicht an der gewöhnlichen Reibfläche, wie sie ih
nen von der Welt als solcher oder vom Hosenboden geboten
wird, zu entzünden vermag, sondern hiezu eine gewissermaßen
vorpräparierte, nämlich die Reibfläche eines andern Kunst
werkes benötigt, freilich um dann um so heller aufzuflammen,
den Anlaß zu überleuchten und mit ihren Strahlen zu durch
dringen, ja, zu verklären; es ist ein Weg, der über das Mittelbare
zum Unmittelbaren führt, ohne daß hiedurch die unmittelbare
Welterfassung beeinträchtigt wird, es war der Weg Hugo Wolfs2,
der erst vom Liedtexte her die Sicht auf das Endgültige und All
gemeingültige gewann, und unter diesem Aspekte verstanden,
ist es zweifelsohne auch der Weg Alfred Polgars. Für solch
merkwürdige Optik, die das Urbild erst in der Brechung durch
das Sinnbild erkennt, wären vielerlei Gründe aufzuzählen,
wahrscheinlich hängen sie allesamt mit dem Wesen der Lyrik
und der Philosophie zusammen, und wenn irgendwo, so könnte
dies am Polgarschen Schaffen gezeigt werden, an seiner Grund
einstellung, die überall zum Urbild vordringt, unbestechlich,
konzessionslos, unbeirrbar, und die überall Lyrik und Philoso
phie ist, aber eben in dieser Verdoppelung - zwangsläufig gera
dezu - sich stets dem Mystischen annähert, dem Urquell jedwe
der Werthaltung und jeder Bewertung. Und vielleicht ist es
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gerade die wissende Scheu vor der mystischen Zone und deren
ewiger Unerreichbarkeit, die den Kritiker zum Satiriker macht
und ihn immer wieder, im letzten und oftmals im allerletzten
Augenblick, ins Witzige abbiegen läßt. All dies ergibt einen
ganz ungemeinen, einen geradezu kaleidoskopischen Facetten
reichtum, ergibt jene Mischung von blitzartiger Weitsicht, von
Witz, von Sprachhingegebenheit, von schmerzlicher Heiterkeit,
ethischer Festigkeit und humanster Haltung, Spiel an der
Grenze des Spieles, Ernst an der dämmernd-äußersten Grenze
des Ernstes, kurzum, ergibt jene Einheit von Anmut und
Würde, die das Werk Polgars in einem Maße auszeichnet, daß
es, um in seiner allerdings unnachahmlichen Diktion zu reden,
vor Leichtigkeit in die Tiefe sinkt. So sehr Polgar von der Reali
tät gefangengenommen und ihr zugewendet ist, so sehr er die
Realität des Theaters liebt, und so sehr das reale Jugenderlebnis
der großen Wiener Theaterzeit auch heute noch in ihm nach
wirkt und fast in jeder seiner Zeilen erinnerungshold aufschim
mert, sein Blick drang und dringt stets durch die reale Szene
hindurch, es war die Decke des Theaterraumes, in dessen Par
kett er saß, stets zu den Sternen geöffnet, und so ist auch dieses
Handbuch des Kritikers, das sich so vergnüglich, so heiter, so
unbeschwert lesen läßt, letztlich ein wahres »Handbüchlein der
Moral« geworden, nicht nur der künstlerischen, sondern weit
darüber hinaus der menschlichen schlechthin.12
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M aurice B erg m an n 1
D ie Lage der arbeitenden Klasse
in D eutschland
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1 Maurice Bergmann, Sozialwissenschaftler. Vgl. Maurice Bergmann (et alia),
Handbuch der Arbeit. Die deutsche Arbeiterklasse in Wirtschaft und Gesell
schaft (Jena 1931). Die hier begutachtete Studie wurde nicht publiziert.
2 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England (Leipzig 1845).
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H anns Sachs
F re u d , M a s te r a n d F r ie n d 1
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der als erster den neuen Gedanken auf genommen hat, das Bild
einer in Heim und Familie verwurzelten simplen Bürgerlich
keit, die dennoch über alles Bürgerliche weit hinausreichte und
nichts als das Dienen an der Wahrheit kannte, und schließlich
das Bild einer Einsamkeit, die das Los jedweder echten Genia
lität ist, ihr Verhängnis und die Gnade des Genies. Diese Schil
derung des Freudschen Charakters in seiner Größe, seiner
Strenge, seiner Güte, in seiner Einsamkeit bildet (in dem Kapi
tel »All I know about him«) den Höhepunkt des Buches.
Es ist ein liebendes und darum liebenswertes Buch, das Buch
einer Freundschaft, zu deren Kennzeichnung der Autor zwar
das Lehrer-Schüler-Verhältnis unterstreicht, die aber sicherlich
- anders hätte Freud sie nicht geduldet - auf geistig-menschli
cher Gleichwertigkeit und Affinität gegründet war: gerade der
verhaltene Ton bescheidener Ergriffenheit, der das ganze Buch
so rührend menschlich durchklingt, legt Zeugnis hierfür ab.
Diese Ergriffenheit wird sich jedem mitteilen, der trotz einer
mit Gewalt und Mord erfüllten Zeit weiß, daß geistige Größe
bestehen bleibt, jedem, der um die Bedeutung der Freudschen
Entdeckungen weiß, jedem, dem echte Menschlichkeit noch am
Herzen liegt.1
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Jean -P au l S artre
L ’E t r e e t le N e a n t 1
Die große Bedeutung dieses Buches ist eine zwiefache: sie be
ruht einerseits auf seinem Wert als philosophischer Selbstaus
sage seines Autors, andererseits aber in dem breiten Umfang,
den jene von diesem Buche propagierte philosophische Bewe
gung angenommen hat, welche unter dem Namen Existentialis
mus allgemein bekannt geworden ist.
Ich brauche hier nicht eigens den philosophischen Gehalt des
Existentialismus und seine theoretischen Grundlagen zu erklä
ren oder zu erörtern, denn diese Schule hat heute bereits eine
so ausgedehnte Gefolgschaft gewonnen, daß sie von Bedeutung
auch für außerhalb der eigentlichen Philosophie stehende
Kreise geworden ist, ein Phänomen, das unmittelbar Sartre sel
ber und im besonderen seinem literarischen Erfolg zuzuschrei
ben ist.
Es ist dies durchaus nicht das erste Mal, daß ein bedeutender
Schriftsteller sich zum Wortführer einer neuen philosophischen
Strömung erhoben und zu deren Verbreitung beigetragen hat:
das bejahende Echo, das die Philosophie Kants bei seinen Zeit
genossen gefunden hat, ist zumindest teilweise den Bemühun
gen Schillers, diese geistige Bewegung zu fördern, zuzuschrei
ben, auch wenn eine solche Propagierung zu jener Zeit selbst
redend nur in einem relativ sehr beschränkten Maße möglich
war, während heutzutage das Erscheinen einer ideologisch
neuen Erkenntnisströmung den ganzen Apparat der modernen
Werbetechnik mobilisiert und intensiv einzusetzen weiß.
Dies genau ist es, was als Folge der allgemeinen Anerkennung
des Schriftstellers Sartre im Falle der Existenzphilosophie ein
getreten ist, ohne daß deren philosophische Bedeutung durch
solche reklamemäßige Befürwortung in irgendeiner Weise ge
schmälert worden wäre. Jede wahre Philosophie hat letztlich
das Schicksal der Menschheit zu beeinflussen gewußt; dem
gleichen Entwicklungsprinzip gehorchend, das dem Kantschen
Denken das Flegelsche folgen und aus diesem wiederum den
Marxismus mit all seinen politischen Begleiterscheinungen sich
entfalten ließ, mag mit ziemlicher Sicherheit angenommen
werden, daß auch der Existentialismus in absehbarer Zeit ähn-
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liehe Entwicklungen nach sich ziehen wird: eine Welt, die - wie
gerade unsere heutige - zutiefst von den Wehen einer morali
schen, politischen und wirtschaftlichen Wende zerrissen ist, be
nötigt eine neue philosophische Grundlage für ihre neuen Rea
litätserfahrungen, und es kann wohl kein Zweifel bestehen, daß
angesichts der nahen Verwandtschaft zwischen jenen und dem
Existentialismus diese geistige Bewegung sehr wohl dazu beru
fen sein mag, der neuen Wirklichkeit weitgehend zu ihrer For
mulierung und Bewußtwerdung zu verhelfen.
Ebenso sicher aber kann angenommen werden, daß im Laufe
dieser Entwicklung der Existentialismus selber gewisse Ände
rungen und Abwandlungen erfahren wird, und es erscheint
nicht unwahrscheinlich, daß diese gerade jene Verbindungen
wieder klarer hervortreten lassen werden, durch welche diese
Bewegung an ihrem Ursprung mit dem Idealismus verbunden
war, ungeachtet des Umstandes, daß der Existentialismus in
seiner jetzigen Form - und zwar selbst von manchen seiner ei
genen Verfechter - geradezu als die Antithese des Idealismus
angesehen wird. So ist es bemerkenswert, daß selbst Husserl,
der Gründer des Existentialismus, durch die Errichtung seines
epistemologischen und logischen Unterbaues in seinen letzten
Lebensjahren bemüht war, seine eigenen Theorien erneut mit
der idealistischen Denkstruktur zu versöhnen und in Einklang
zu bringen, hierin auch seinen Vorgängern Leibniz und Bolzano
gleichend, in deren Denken sich vielfache und bedeutsame
Spuren von sowohl idealistischen wie »existentiellen« Konzep
ten finden lassen.
Spürt man diesen gedanklichen Verbindungsbrücken weiter
nach, so ließe sich sogar füglich behaupten, daß Kant selber
dem existentiellen Denken nicht gänzlich fremd gegenüberge
standen ist, da seine philosophische Kritik - wie er selber er
klärt hat - darauf hinzielte, den Boden zu ebnen und Raum zu
schaffen für eine »künftige Metaphysik«2. Der Existentialis
mus, so wie er nach Husserl von Heidegger, Scheler und Jas
pers3 entwickelt wurde, ist durch eine vornehmlich metaphysi
sche Haltung gekennzeichnet, und ebenso bewegen sich die
Theorien und die Arbeiten Sartres in eine metaphysische Rich
tung: mit dem Existentialismus und durch ihn hat die abend
ländische Philosophie in den Schoß der Metaphysik zurückge
funden.
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Die existentielle Bewegung wurde gelegentlich als »Theologie
ohne G ott«4 gekennzeichnet, und es mag durchaus sein, daß
eben diese Eigenschaft letztlich ihre größte Stärke und Wirk
samkeit beinhalten wird. Denn wenn die Welt ein System gülti
ger und beständiger Werte wiederfinden soll - und es ist dies
die absolut unerläßliche Vorbedingung für ihren ethischen
Weiterbestand - so muß sie durch eine ihr adäquate Theologie
getragen werden. Der Existentialismus scheint vorbestimmt,
diese Rolle zu übernehmen, und daher ist auch eine tiefere Be
deutung in dem Umstand zu sehen, daß die metaphysische
Orientierung dieser Bewegung gerade in dem Lande der klas
sischen Theologie, dem Lande des Thomismus, in Frankreich, zu
voller Blüte gediehen ist.
Sartre bezeichnet sich selber als einen ethischen Philosophen,
un philosophe moraliste - und genau das ist er auch.
Gestattet man eine gewisse Vereinfachung der Begriffe, so
könnte man wohl behaupten, daß das deutsche Denken der
Mystik zugeneigt sei, während das französische Denken mehr
von scholastisch-theologischen Einsichten gelenkt scheint, ein
grundlegender Unterschied, der auch von den linguistischen
Modellbildungen und dem ganzen Kulturgut dieser beiden
Länder bestimmt wird und sich in eben diesen widerspiegelt.
Der Existentialismus ist deutscher Herkunft, und in seinen
deutschen Ausdrucksformen finden sich auch tatsächlich eine
Unzahl mystischer Anklänge und Abschattungen. So benützt
der deutsche Philosoph Heidegger5 - ebenso wie sein Vorgän
ger Hegel - in seinem Stil und in seiner Terminologie immer
wieder ungemein dichterisch anmutende Metaphern und stößt
derart gelegentlich in bisher völlig ungeahnte und neue Tiefen
der Erkenntnis vor. Im Gegensatz hiezu drückt sich der Dichter
Sartre mit nüchternster Klarheit und Schärfe aus, und zwar
nicht nur in seinem philosophischen, sondern auch in seinem
schriftstellerischen Schaffen. Dieser Art hat Sartre zwar nie
mals ganz jene Ergründungen letzter Tiefen erzielen können,
die Heidegger Vorbehalten bleiben, doch vermag er im Gegen
satz zu den, der romantischen Neigung des deutschen Geistes
so nahe stehenden, intuitiven Ahnungen des Letzteren, mit der
klinischen Präzision des gallischen Geistes aufzuzeigen, inwie
weit rein rationelle Denkmethoden die komplexen Probleme
des metaphysischen Bereiches erhellen können.
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Dem lateinischen und angelsächsischen Geiste, insonders dem
im philosophischen Denken ungeschulten, dürfte es unter der
Führung Sartres viel leichter gelingen, sich mit den Theorien
des Existentialismus vertraut zu machen als unter jener Hei
deggers, dem zu folgen sich wohl als überaus schwierig erweisen
dürfte.
Dies alles sind mehr als genug Gründe, die nachhaltig für eine
Veröffentlichung einer englischen Übersetzung von UEtre et le
Neant sprechen. Sartres Werk stellt nicht nur an und für sich
eine philosophische Leistung ersten Ranges dar, sondern ist au
ßerdem als eine fast virtuos anmutende Übersicht der ganzen
existentiellen Bewegung anzusprechen, beides Qualitäten so
hoher Güte, daß es nachgerade zwingend erscheint, dieses Buch
der englisch-sprechenden Welt vorzulegen, einer Welt, die be
anspruchen darf, sowohl über die geistige Bedeutung des Exi
stentialismus als auch über jene der philosophischen Persön
lichkeit von Jean-Paul Sartre voll unterrichtet zu werden.
(Aus dem Englischen übersetzt von H. F. Broch de Rothermann.)
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E rn st Bloch
Das Prinzip H o ffn u n g 1
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abgesehen von dem beachtlichen Beitrag, den Blochs Entdek-
kung für die Psychologie im allgemeinen darstellt, weist diese
auch neue Wege für das Verständnis des schöpferischen Gei
stes, der schöpferischen und erfinderischen Tat und aller damit
verwandten geistigen Vorgänge. Darüber hinaus aber soll nicht
vergessen werden, daß eine wissenschaftliche Analyse der
menschlichen Wünsche und Hoffnungen eine fast unerläßliche
Notwendigkeit gerade in einer Zeit darstellt, die wie die unsere
im Zeichen einer politischen Propagandisierung steht, deren
vornehmlichste Waffe eben in der Erweckung von Wünschen
und Hoffnungen besteht. Von dieser Warte aus gesehen, könn
ten Blochs Untersuchungen daher praktische Auswirkungen
von weitgehender Bedeutung nach sich ziehen.
Blochs bisheriges Werk hat ihm bereits den Platz eines der
hervorragendsten Philosophen unserer Epoche zugesichert;
seine Schriften stellen den Niederschlag eines ebenso tiefschür
fenden wie originellen Intellekts dar, ein Geist, der sich auf ein
schlechterdings enzyklopädisches Wissen berufen kann. Sein
Stil aber - und auch hier drängt sich erneut der Vergleich mit
Schopenhauer auf - ist als wahrhaft klassisch anzusprechen. Es
kann also kein Zweifel darüber bestehen, daß Ernst Bloch voll
berufen und auch befähigt ist, der großen Aufgabe gerecht zu
werden, die er sich gestellt hat.
Diese meine Einschätzung fußt auf meiner langjährigen Be
kanntschaft mit Ernst Bloch, während welcher ich einesteils das
Wachstum dieser der Wahrheit verhafteten Persönlichkeit und
seiner geistigen Potenz beobachten konnte, andersteils aber
auch mit Interesse die vorbereitenden Arbeiten für sein neues
Werk verfolgt habe.
(Aus dem Englischen übersetzt von H. F. Broch de Rothermann.)1
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B em erkungen zu K arl K erenyis Schrift
D e r g ö ttlic h e A r z t 1
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das römische Asklepieion eingerichtet werden sollte, so hatte
die Ortswahl eine Parallele in den griechischen Vorbildern: das
athenische Asklepieion z. B. lehnt sich an den Dionysos-Bezirk
der Akropolis an. Asklepios war ursprünglich, d. h. in seiner
Heimat Epidauros, eine rein chthonische Gottheit, ja er war die
Unterweltsschlange selber.
Aber die chthonischen Götter sind zur Oberwelt emporge
stiegen, und dieser Aufstieg aus dem Dunkel zum Licht, vom
ewigen Tod zum ewigen Leben gibt der antiken Glaubenswelt
den ihr eigentümlichen mystischen Gehalt. Die Tötungsfunk
tion ist von den Dunkelheitsgöttern, wie etwa dem Vediovis auf
den Lichtgott Apollon übergegangen, und demgemäß wird ihr
nun auch die der Heilung beigegeben. Apollon tötet und heilt,
Asklepios wird zum Apollon-Sohn, und die Schlange, nun
gleichfalls aus dem Dunkel emporgestiegen, gleichfalls »phoe-
bisch« geworden, ein Spieltier des Gottes und auf dem ihm ge
weihten Sonnenbaum, der Palme hausend, die Schlange hat
Heilbedeutung erhalten.
Dies sind die Voraussetzungen, unter denen Asklepios nach
den Pestjahren 295-293 als Retter nach Rom eingeholt worden
ist. Apollon gibt selber durch das sibyllinische Orakel den Be
fehl zur Einholung des »Sohnes« - Kerenyi folgt da der in den
Ovidschen Metamorphosen enthaltenen Darstellung - , es wird
eine Abordnung nach Epidauros geschickt, und Asklepios, der
für die Reise wieder Schlangengestalt annimmt (während in
Wirklichkeit sicherlich bloß eine der heiligen Schlangen der
Epidauros-Kultstätte übernommen worden ist), nimmt nach
kurzem Zwischenaufenthalt im Apollon-Tempel des Lan
dungshafens Aktium den Weg nach Rom, um hier in seine G öt
tergestalt zurückzukehren, d. h. in das ihm errichtete Bildwerk,
das ihn zeusgleich thronend zeigte, die Schlange zu seiner
Rechten und den Wolfsabkömmling, nämlich den Hund - sehr
merkwürdigerweise nun ein Analog-Tier zur Schlange - unter
dem Thron.
Chthonischer Schlangengott und daher selber Schlange, zu
gleich aber Lichtgestalt, der die Schlange bloß Attribut ist, ein
»Sohn« Apollons und daher ewiger Knabe oder Jüngling, zu
gleich aber der schier zeushafte Ahnherr des alle Ärzte umfas
senden Geschlechts der Asklepiadai, denen er im Irrationalen
die visionär-mythische Heil-Schau vererbt, dagegen im Ratio
282
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nalen die »Techne«, die ärztliche Lehre hinterläßt, ein Kran
kengott, da er vor allem dem Kranken erscheint, zugleich der
Ärztegott, da in seiner Epiphania die Krankheit aufgehoben
wird: aus solch antinomischen Elementen - durchgängig struk
tur-ähnlich dem Gegensatz von Tod und Leben - ist die askle-
piossche Gestalt zusammengesetzt und ist trotzdem einheitliche
Gestalt, also gelöste Antinomie. Wie jedoch ist das möglich?
gibt es überhaupt lösbare und gelöste Antinomien? Nun, im ir
disch-rationalen Bereich gibt es (außer für Schein-Antinomien)
keine Möglichkeit hiezu; die stellt sich erst ein, wenn eine
zweite Erlebnissphäre erreicht wird, wenn der Mensch über sich
selbst hinaustranszendiert: nur im Akt des Mysteriums, nur in
der Erfassung des Unendlichen vollziehen sich Antinomie-Lö
sungen, nur hier werden Tod und Leben zur Einheit, und eben-
hiedurch wird der asklepiossche Heilungsakt, der ein »Durch
gang« durch die Krankheitsdunkclheit ist, mit dem Mysterien-
Teil der antiken Religionen verknüpft. Die Verbindung
zwischen Asklepios-Kult und dem Eleusinischen ist solcherart
eine geradezu zwangsläufige; man mußte geradezu die askle-
piosschen »Epidauria« in die eleusinischen Mysterien einrei
hen, freilich bloß als »Vorstufe« zu ihnen, denn der Heilungs
prozeß als solcher ist noch nicht vollkommene Einweihung, der
geheilte Kranke noch kein Voll-Myste.
Die mystische »Begehung«, das Absteigen in die Unterwelt,
um durch die Dunkelheiten und Verhüllungen wieder zur
Sonne aufzusteigen, kommt auch in der Architektur der askle-
piosschen Kultstätten zum Ausdruck, nicht zuletzt in den ge
heimnisvollen Tholos-Rundbauten, deren Kellergeschoß eine
Art kreisförmiges Schnecken-Labyrinth bildete, also dem My-
sten, der zum Mittelpunkt und zum Wiederaufstieg gelangen
wollte, einen symbolbeladen langwierigen Ritualweg vor
schreibt. Und zur gleichen Symbol-Kategorie gehört wohl auch
der Tempelbrunnen, ein unerläßliches Akzessorium jedes
Asklepieions - wer denkt da nicht an das der Volksphantasie
unauslöschlich verhaftete Bild vom »Gesundbrunnen« der
die wasserspendende Erde mit ihrer aus chthonischer Tiefe
aufsteigenden Klarheit unmittelbar an der »Heilwendung« be
teiligt. Daß also die Spitalskirche San Bartolomeo als einstiges
Asklepieion diesen (fast unchristlichen) Brunnen bewahrt hat,
ist daher nur selbstverständlich.
283
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Das sind die Grundzüge des Abschnittes »Asklepios in Rom«,
allerdings nur die Grundzüge des schier überreichen Inhalts.
Denn Reichtum ist ein Spezifikum des Kerenyischen Denkens.
Die mythische Welt tut sich in Spiegelung und Gegenspiegelung
auf; die unendlichen Verschränkungen der mythenbildenden
Assoziationslogik werden nacherlebt, können nacherlebt wer
den, da Kerenyi das ganze hierzu nötige Assoziationsmaterial
beibringt, und die fortwährenden Aufspaltungen der Figuren,
ebenso ihr Wiederverschmelzen und Ineinanderverschmelzen
zeigen sich als das, was sie sind, als Symbol-Notwendigkeiten.
Aus dem Reichtum dieses einen Bruchstückes läßt sich also
schon entnehmen, wie vielversprechend die »promenades my-
thologiques« als Ganzes sind. Die »promenades« führen nach
Aussage des Vorwortes in fünf Stationen zeitenrückwärts: von
(1) der Gründung des römischen Filialkults um 291, zu (2) »Die
Heilungen in Epidauros«, also zur ersten Blütezeit des Epidau-
ros-Heiligtums von 500 bis 300; sodann wird (3) unterdemTitel
»Die Asklepiossöhne auf Kos« die 600 bis 400 währende Blü
tezeit der Asklepiaden auf Kos, wo auch Hippokrates von 460
bis 377 lebte, zur Darstellung gebracht, und von hier aus führt
(4) der Weg zu dem Kapitel »Arzt-Heroen und der Arzt der
Götter bei Homer«, d. h. zu den zwischen 1000 und 600 ent
standenen Homerischen und Hesiodischen Dichtungen, welche
die ersten niedergeschriebenen Nachrichten vom Arzt Askle
pios geben, zugleich aber auch auf die wohl lange vor dem Jahr
1000 entstandene thessalische Mythologie und auf den sagen
haften Lehrer des Asklepios, den Kentaur Chiron hinweisen, so
daß also das (5) letzte Kapitel »Die Ursprünge in Thessalien«
sich mit der Prähistorie der ärztlichen Kunst beschäftigt.
Es sei schließlich noch betont, daß der Referent Laie auf reli
gionshistorischem und archäologischem Gebiet ist. Doch ge
rade als Laie darf er sagen, daß die Publikation Kerenyis ein In
teresse erweckt, das unzweifelhaft weit über die fachwissen
schaftlichen Kreise hinausreicht.1
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Julie B raun-V ogelstein
G e is t u n d G e s ta lt d e r a b e n d lä n d is c h e n K u n s t1
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des Begrifflichen, sondern ureigene Äußerung der sonst zur
Stummheit verdammten inneren Wirklichkeit. Auch bei voll
entwickeltem Denkvermögen und vollentwickelter Wortspra
che kann nichts den künstlerischen Ausdruck ersetzen, nichts
ihm den Rang streitig machen. Kunst ist die Aussage des, auf
jede andere Weise, in jedem anderen Idiom schlechthin Unsägli
cherl « 6 M. a. W., das Kunstwerk enthüllt sich selbst und nie
mals anders als in seiner eigenen Sprache: was Julie Braun-Vo-
gelstein beabsichtigt, ist also Ubersetzungsarbeit, Übersetzung
und sogar Nachdichtung der von den bildenden Künsten ge
sprochenen visuellen Sprache; der wissenschaftliche Apparat,
den sie hierbei mitverwendete, hat demgemäß in den Hinter
grund zu treten.
7. Der Inhalt
Nach einer kurzen Übersicht über die vier asiatischen Grund
stile, den indischen, den chinesischen, den persischen und den
klein-asiatisch-christlichen, sowie über den Ägyptens, wird ih
nen ein sechster Menschheits-Stil, der des europäischen Gei
stes, gegenübergestellt, eine Ganzheit in sich, scharf abgehoben
von jenen fünf anderen und offenbar von weitaus größerer Be
weglichkeit und Abwandlungsweite. Denn die künstlerische
Form Europas, der europäischen Seele entstammend, ist deren
»Gegebenheiten abgerungen, sie war weder in ihnen zu finden,
noch ist sie das Werk freischaffender Phantasie«, vielmehr »aus
dem Verworrenen der Zustände und Vorgänge, aus dem einan
der Fremden und Feindseligen, aus dem Starren und rastlos
Regsamen, aus den Spannungen zwischen dem allzeit Unzu
länglichen des Daseins und dem menschlichen Verlangen nach
Erfülltheit erstand im schöpferischen Akt stets von neuem G e
stalt«7, und eben diese - schlechthin gewaltigen —Moventien
des europäischen Kunstausdruckes, eben ihre gewaltige Dyna
mik und gewaltige Einheitlichkeit haben ihm den Stempel ste
ter Einheitlichkeit bei stärkster Abwandlungsfähigkeit und
-notwendigkeit aufgedrückt.
Gleichgültig ob diese seelischen Konflikte als metaphysische
oder psychologische aufgefaßt werden, der Ausdruck, den sie
in der Architektur und in den bildenden Künsten finden, voll
zieht sich im Raume, mit den dreidimensionalen Mitteln der
Architektur und Skulptur, mit den zweidimensionalen der Ma-
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Ierei. Stil ist ein Raumphänomen. Denn alles Konflikt- und Be
ziehungsträchtige, das als Problem von der Kunst ausgedrückt
und zur Lösung gebracht wird, löst sich im künstlerischen
Gleichgewicht, und das sichtbare Gleichgewicht ist das des
Raumes, ist Gestaltung eines bestimmten Raumausschnittes.
Die malerische Raum-Aufgabe erschöpft sich mit solcher
Raumgestaltung innerhalb des Bildrahmens, doch das archi
tektonische und skulpturale Bildwerk ist noch überdies mit dem
physischen Raum, in den es eingebettet ist, und der es umgibt,
unmittelbar konfrontiert; wenn es, z. B. als Architekturstück,
einen bestimmten Raumausschnitt zum Gleichgewicht umge
stalten will, um damit selber zum Kunstwerk zu werden, so kann
das nur dann gelingen, wenn auch der umgebende Raum in die
ses Gleichgewichtsspiel einbezogen wird, und zwar entweder in
passiver Weise, nämlich durch Einschmiegung in den aktiv ge
dachten Raum, oder aber in eben aktiver Weise, indem der Ge
samtraum vom Kunstwerk beherrscht und zu seinem Teil ge
macht wird, wie dies etwa durch die gotischen Kathedraltürme
geschieht. Nicht nur also, daß zur Erzielung des inneren künst
lerischen Gleichgewichtes Baumassen gegen Baumassen,
Skulpturformen gegen Skulpturformen, Farbengewichte gegen
Farbengewichte, Schattenkörper gegen Belichtungskörper, das
Tragende gegen das Lastende gegenübergestellt werden, und
nicht nur, daß in jeder dieser Antithesen, werden sie gelöst, ein
dynamisches Moment sichtbar wird, das seinerseits wieder ge
gen die materialen Gewichte, doch auch gleichzeitig gegen an
dere zum Vorschein gekommene dynamische Spannungen ins
Gleichgewicht sich setzen läßt, es hat auch diese ganze Gleich
gewichtskomplexheit ihr Widerspiel im Raum als solchem auf
zusuchen und seine Gleichgewichtsganzheit gemeinsam mit
ihm zu gewinnen. Die unendliche Mannigfaltigkeit der sich
hieraus ergebenden Kombinationen und Variationen von For
malbeziehungen ist leicht einzusehen, und eben in diese Man
nigfaltigkeit projiziert sich die der seelischen Konflikte, die zum
künstlerischen Ausdruck drängen. Und gäbe es nicht solche
Formalmannigfaltigkeit des Gleichgewichtes, es könnte die
Menschenseele nicht immer wieder neue, ihrer jeweiligen Kon
fliktsituation adäquate Stile schaffen: ein Stil ist eine bestimmte
Gleichgewichtsfixation in der unendlichen Mannigfaltigkeit.
Und gerade diese Fixationen werden vom Braun-Vogelstein
287
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sehen Werk aufgewiesen und festgehalten.
Um zu sehen, wie das gemeint ist, vergleiche man z. B. die
Ausführungen Julie Braun-Vogelsteins zum römischen, byzan
tinischen, romanischen und barocken Kuppelbau, oder aber
ihre Darstellung der Säulenformen in den verschiedenen Stilen.
(Und nebenbei, Gültigeres ist wohl noch niemals über die grie
chische Säule ausgesagt worden.8) In neunzehn Kapiteln wird
solcherart Stil um Stil des europäischen Kunstausdruckes, be
ginnend mit dem des archaischen Griechentums - dieses mit
ungemein aufschlußreichen Ausblicken zur ägyptischen Kunst
- bis zu den Kunstbemühungen des 20. Jahrhunderts im wahr
sten Wortsinn »betrachtet«, wird aus der Mannigfaltigkeit der
möglichen Formkombinationen der jeweilige »Sinngehalt« er
faßt, von dem es heißt: »Ist der Sinngehalt einmal erfaßt, dann
läßt sich die innere Ordnung, von der er getragen wird, aufspü
ren. Der umgekehrte Weg, mit dem Schema gewisser Merk
male beginnend, dringt nicht zum Wesentlichen vor. Er ent
deckt nur, was leere und schülerhafte Gebilde weit besser als
sinnerfüllte bestätigen.«9 Es geht also um diesen »Sinngehalt«,
d. h. um sein physisches »Erschauen«.
Das Werk schließt mit - mindestens teilweise zutreffenden -
pessimistischen Betrachtungen über eben jenen Sinngehalt in
der modernen Kunst. Das wäre freilich noch viel überzeugen
der, wenn deutlicher, als es geschehen ist, gezeigt worden wäre,
wie sich der Verlust des Sinngehaltes in den vorangegangenen
Stilen graduell vorbereitet hatte. Mit einem zusammenfassen
den zwanzigsten Kapitel könnte solchem Mangel abgeholfen
werden.
2. Die Methode
Durch die Beschränkung auf die »visuelle« Darstellung wird
eine außergewöhnliche Konzisität zustande gebracht. Wäre das
Buch »wissenschaftlich« geschrieben, d. h. würde es sich fort
laufend auf die Ergebnisse ähnlicher Untersuchungen, sei es
zustimmend, sei es ablehnend, beziehen wollen - und bei der
Fülle der hier vorgetragenen Gesichtspunkte wären ausge
dehnte Polemiken wahrscheinlich unvermeidlich - , kurzum
wäre der ganze in das Werk eingearbeitete wissenschaftliche
Apparat dem Leser vorgeführt worden, es wäre der Umfang
leichthin aufs Doppelte angewachsen. So wurde der ungeheure
288
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Stoff immerhin mit etwa 120000 Worten bewältigt.
Die »visuelle Methode« ist »Übersetzungsarbeit«, ja gera
dezu »Nachdichtung«: gerade weil sie den wissenschaftlichen
Apparat zu einem versteckten Beiwerk degradiert und ihn als
bloßes Baugerüst behandelt, das nach Fertigstellung des Hau
ses entfernt wird, gerade weil solcherart auf die wissenschaftli
che Überzeugungskraft (oder Schein-Überzeugungskraft) ver
zichtet wird, gerade darum muß die Überzeugungskraft aus
anderen Quellen hergeleitet werden, und das können bloß die
künstlerischen sein, denn der Wahrheitsgehalt der Kunst ist -
soferne der Stoff die Darstellung durch sie zuläßt - sicherlich
nicht geringer als der von der Wissenschaft vorgetragene. M. a.
W., es gilt hier die »visuelle Sprache« der einzelnen Kunst
werke, von denen die Untersuchung ihren Ausgang nimmt, in
diskursive Rede zu übertragen, und wenn Julie Braun-Vogel
stein hierzu den wissenschaftlichen Apparat beiseite gestellt
hat, so geschah das nicht zuletzt, weil er für solche Aufgabe un
zureichend ist: »Den Sinngehalt künstlerischer Werke in Wor
ten wiederzugeben, ist ein dreistes Beginnen. Um der sachli
chen Klärung willen wurde es hier gewagt.«10 Und an anderer
Stelle fragt sie: »Ist Kunst die Aussage des sonst Unsäglichen,
wie soll denn anders als poetisch das Wesentliche ihrer Bot
schaft überbracht werden?«11 Merkwürdigerweise glaubt sie
selber nicht an das Dichterische, das in ihrer Methode steckt,
und hätte sie daran geglaubt, oder hätte sie es gar bewußt beab
sichtigt, es wäre das Dichterische bestimmt nicht geglückt; so
aber ist es geglückt: kraft ihrer »Nachdichtung« sind hier
Kunstwerke durch ein bedeutendes Kunstwerk dargestellt
worden, und wenn man es recht bedenkt, enthält alle produk
tive Kunstkritik und -auslegung ein Stück solcher »Nachdich
tung« ; nur daß sie hier - und das ist wohl noch niemals gesche
hen - einheitlich und mit zwingender Folgerichtigkeit auf ein
ganzes Kunstgebiet angewendet worden ist.
Man mag also ruhig von lyrischer Überzeugungskraft reden
und sogar als hohes Lob nehmen. Die Gründe dieser Überzeu
gungskraft sind mannigfaltig: sie liegen - selbstverständlich -
vor allem in der persönlichen Ergriffenheit, mit der Julie
Braun-Vogelstein in die Phänomene der Kunst eindringt und
sie »sieht«; doch Ergriffenheit allein macht noch kein eigenes
Kunstwerk aus, im Gegenteil, mit Ergriffenheit gelangt man
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höchstens zu einem staunenden »Ah«, während das Kunstwerk
viel weiterreichende Anforderungen stellt, in erster Linie die
nach präziser Stoff-Auswahl (woraus immer der Stoff eines
Kunstwerkes bestehen mag) und nach wohlabgewogen präziser
Stoff-Anordnung im Vortrag, d. h. nach präziser Stoff-Archi
tektonik. Und eben diesen Anforderungen geschieht hier G e
nüge. Gewiß ist das keine naive Kunst. Aber ein Kunstwerk, mit
dem Kunstwerke dargestellt werden, kann und darf nicht naiv
sein, ja darf sogar alles Recht auf Raffinement - gerade große
Kunst ist raffiniert - für sich voll in Anspruch nehmen. Jedes
einzelne der neunzehn Kapitel ist Musterbeispiel für raffinierte
Stoffauswahl und raffinierte Stoff-Architektonik, und das Raf
finement ist um so größer, als nirgends das Gebiet des Rationa
len überschritten wird: der Vortrag ist zwar apodiktisch, wie
eben jedes lyrische Gedicht apodiktische Aussagen macht, geht
aber an keiner Stelle ins Irrationale über; man könnte von einer
»lyrischen Beweisbarkeit« sprechen, die hier allüberall gewahrt
wird.
Auch die Sprache ist poetisch gehoben. Das ist eine Konzes
sion ans Irrationale, ans rein »Poetische«, und könnte daher
fast als ein Verstoß gegen die Rationalität dieses Kunstwerkes
aufgefaßt werden. Sonderbarerweise entkräftigt sich der Vor
wurf an dem (ebenfalls mit künstlerischer Sorgsamkeit ausge
suchten) Bildmaterial des Buches: das Bild gestattet eine ge
wisse pathetische Unterstreichung, weil es nämlich selbst
pathetisch ist. Reicht das Wort in seinem Pathos nicht an das
des Bildes heran, so wird dieses zur bloßen »Illustration« redu
ziert.
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»erweitern«. Im Gegenteil: als das Kunstwerk, das es selber ist,
stellt es einige Anforderungen an den nicht vorgebildeten
Laien. Nichtsdestoweniger: als das Kunstwerk, das es ist, kann
es damit rechnen, daß es von jedem, der nur ein einigermaßen
positives Verhältnis zur Kunst besitzt, verstanden werden muß,
verstanden wird, denn dieses verständnisvolle Mitklingen-Ma-
chen ist eben das Wesen der »künstlerischen Überzeugungs
kraft«.
Solches Verständnis vorausgesetzt, hat das Buch einen außer
ordentlichen edukatorischen Wert: es lehrt den Laien die Kunst
zu sehen; es lehrt ihn, deren innere Zusammenhänge zu begrei
fen und mit dem jeweiligen Sehakt zu verbinden; es lehrt ihn,
das Wunder des Stiles und der Stile wahrzunehmen. Und eben
darin liegt die Wichtigkeit dieser »Nachdichtung« von Kunst
werken, liegt die Wichtigkeit der Publikation eines solchen
Werkes.
Und wahrscheinlich liegt darin auch eine recht solide Bürg
schaft für einen mit diesem Buch erzielbaren Verkaufserfolg.
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F rankreichs R eg en eratio n sk raft.
W ern er R ic h te r1
F r a n k r e ic h . V o n G a m b e t t a z u C l e m e n c e a u 2
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marck war ein viel zu scharfer Beobachter der politischen Stre
bungen seiner Zeit, um nicht zu wissen, daß ein Krieg ohne ir
gendeine »Befreiung« für die internationale öffentliche
Meinung nicht mehr schmackhaft zu machen war. Er warb um
die öffentliche Meinung, besonders um die Englands. Sein Affe
Hitler versuchte ihm auch darin nachzufolgen.
Warum zeigte sich England schließlich doch nicht gewillt, das
Bismarcksche Konzept gutzuheißen? Warum hat es sich gleich
Rußland schließlich von der traditionellen Deutschlandfreund
schaft abgewandt? Warum haben die beiden ihren sonstigen
Antagonismus beiseite gelassen, um sich gegen den ehemaligen
Freund zu verbünden? Kurzum, warum erwies sich die von Bis
marck gedachte neue europäische Gleichgewichtskonstruktion
als so brüchig, daß sein ganzes staatliches Aufbauwerk daran
scheitern mußte? Diese Fragen bilden den Inhalt der von Rich
ter vorgetragenen Geschichte der Dritten Republik, und seine
Antwort lautet: gewiß gehörte zur Inganghaltung der Bis-
marckschen subtil-brutalen Konstruktion eine politische Vir
tuosität, die keiner der Nachfolger mehr besaß (also auch durch
keinerlei Biederkeit wie die Caprivis3 oder diplomatische Ge
wandtheit wie die Bülows4 sich ersetzen ließ), und doch, wie
immer die deutschen Fehler, so der Bombast Wilhelms II., so
die Machenschaften des Phantasten Eulenburg5 und der von
ihm geleiteten Hofkamarilla, so der Einfluß des düster-natio
nalistischen Holstein6 auf den senilen Reichskanzler Hohen
lohe7, so die überschlaue Plumpheit Kiderlen-Wächters8-w ie
immer sie das Mißtrauen Englands und Rußlands erregt haben,
sie waren nicht die eigentlichen Zerstörer des Bismarck-Erbes-,
ebensowenig wie die anfänglich recht schwächlichen Balkan
aggressionen Österreichs oder später die Intrigen, die das Ab
schwenken der Türkei ins Dreibundlager zur Folge hatten, da
für verantwortlich zu machen waren. Nein, dies alles hätte
wahrscheinlich nicht ausgereicht, um die englisch-russische
Einheitsfront gegen Deutschland zusammenzuschweißen,
wenn nicht die Schweißarbeit von Frankreich selber besorgt
worden wäre, wenn nicht der französische Lebenswille, der so
fort nach, ja sogar schon inmitten der Niederlage von 1871 wie
mit einem Schlage wieder vorhanden war, mit wundersamer
Beharrlichkeit all seine Energien eben darauf, auf diese Ge-
gen-Einkreisung gerichtet hätte, um eben hiedurch zum eigent-
293
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liehen Agens der Ereignisse zu werden. Das ist Richters wohl
begründeter Standpunkt. Und in seiner Wohlbegründetheit ist
er nicht Frankophile, mögen auch die wirtschaftlichen Verhält
nisse, die Wirtschaftskonkurrenz zwischen Deutschland und
England unbedingt der französischen Politik, die Richters
Hauptthema ist, zu Hilfe gekommen sein.
Allerdings hat Bismarck selbst den Initialfehler begangen; all
seinen Berechnungen zum Trotz hat sich die Annexion Elsaß-
Lothringens als tief verhängnisvoll erwiesen. Und gerade
darum nimmt Richter an, daß der Bismarcksche Entschluß -
wie dies eben auch bei genialsten Staatsmännern immer wieder
vorkommt - vom Emotionalen her bestimmt war, hier von der
Tradition seines Junkertums, da diesem ein Sieg ohne Macht-
und Landzuwachs für den preußischen König schlechterdings
unsinnig gewesen wäre. Doch ob es nun so oder so war, es hatte
jedenfalls der Landbesitz oder der Landraub für den französi
schen Bauern keine geringere symbolische Bedeutung als für
den preußischen Junker. Schon die Invasion als solche war
Landraub, war es um so mehr, als sie sich Paris’ zu bemächtigen
trachtete, der Stadt, die - im Gegensatz zu allen anderen Welt
kapitalen, die vornehmlich Verwaltungszentren sind - das G e
samtland repräsentiert, ja mit ihm geradezu identifiziert wird.
Mit der Belagerung von Paris wußte jeder Franzose, daß seine
eigene, seine spezifisch französische Lebensgestaltung nun
plötzlich gefährdet war, und mit der Abtretung Elsaß-Lothrin
gens im Frankfurter Frieden wußte er, daß diese Gefährdung
zu einer dauernden gemacht werden sollte. Und da geschah das
nämliche, was im Mittelalter während der englischen Invasion
geschehen war, was in der Renaissance geschah, als das Heilige
Römische Reich Habsburgs Frankreich immer enger umklam
merte, und es wiederholte sich das Geschehen von 1793, die le-
vee en masse: es erwachte die ungeheure Verteidigungsenergie
des französischen Volkes, es erwachte das Französische an sich,
gallisch in seiner Impetuosität, lateinisch in seiner kühlen Sy
stematik, egoistisch und fremdenfeindlich, im letzten aber zivi
lisatorisch und zutiefst antibarbarisch. Das war 1871.
Solch nationale Bewegungen vollziehen sich, zumindest in ih
rem Beginn, instinkthaft und weitgehend unbewußt. Aber sie
haben die Kraft, jene Männer - in Domremy9 war es allerdings
ein junges Mädchen - emporzutragen, die imstande sind, der
294
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instinkthaften Auflehnung ein klarumrissenes Ziel zu setzen,
den unbewußten Trieb zu bewußtem Wollen umzugestalten.
Wenn es irgendwo eine derartige Impulsiv-Demokratie gab, so
in Frankreich, und wenn sie sich je bewährte, so im Jahre 1871,
da sie dem Halbgenuesen G am betta10 das nationale Geschick
überantwortete. In und unter Gambetta fand die Nation wieder
zum Vertrauen zu sich selber, und in diesem Vertrauen konnte
sie darangehen, die staatliche Existenz Frankreichs, allen Bis-
marckschen Plänen zuwider, frisch aufzubauen. Was von Gam
betta als Immediataktion unmittelbarer Gefahr eingeleitet
worden war, das wurde in stetig zunehmendem Umfang ein
einheitliches System innen- und außenpolitischer Maßnahmen,
und trotz den anonymen Unberechenbarkeiten eines von un
zähligen Einzelinteressen, Einzelmotiven, Einzelereignissen,
Einzelmenschen abhängigen Parlamentarismus und trotz den
Berechenbarkeiten einer durchaus bemerkenswerten und, be
sonders in Friedenszeiten, unentwegt wuchernden parlamenta
rischen Korruptibilität, der von Gambetta beschrittene Weg
der Liberation wurde eingehalten: von Thiers11 zu MacMa-
hon12 und Freycinet13, von Ferry14 zu Sadi Carnot15, und so fort
bis zu Caillaux16, Poincare17 und schließlich Clemenceau18, ih
rer aller Ziel war die Befreiung Frankreichs aus der ihm von
Bismarck zugedachten Isolierung und dauernden Aktionsge
hemmtheit; sie alle arbeiteten an der Wiedergewinnung der
französischen Großmachtstellung. Außenpolitisch ist es die
Schaffung der Entente cordiale geworden.
Dieses höchst dynamische, oftmals wildbewegte Gemisch aus
Volksstimmung, parlamentarischer Debatte und politischer
Führungsbewußtheit wird von Richter mit außerordentlicher
Anschaulichkeit geschildert. Auf den ersten Blick hin würde
man sein Buch für eine lose Aneinanderreihung biographischer
Skizzen halten, aber bald entdeckt man, daß sie eine Ganzheit
bilden, eine in all ihren Einzelheiten straff zusammengehaltene,
wohldurchdachte Selektion, in der jeder Teil im Dienst der Ge
samtdarstellung und keiner isoliert steht. Mit dem Untertitel
»Von Gambetta zu Clemenceau« wird angedeutet, daß es sich
um eine biographische Geschichte dieser für Frankreich so ent
scheidenden Periode handelt, doch richtiger hätte es vielleicht
»Clemenceau und seine Vorgänger« und noch richtiger »Bis
marck und Clemenceau« heißen können; denn für Richter gip-
295
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feit - mit Fug - die Zurückweisung und Annullierung der Bis-
marckschen Vernichtungspläne, gipfelt der ganze Liberations
prozeß in der Gestalt Clemenceaus. Das ist sicherlich keine
Unterschätzung der Clemenceauschen Vorgänger durch Rich
ter; im Gegenteil, er läßt ihnen durchwegs volle und sogar (ein
Charakteristikum der Richterschen Betrachtungsweise) durch
wegs liebevolle Gerechtigkeit widerfahren, nicht zuletzt der
Persönlichkeit Gambettas, die kaum weniger machtvoll als die
Bismarcks geradezu vom Schicksal vorherbestimmt war, das
Duell mit dem genialischen Riesen aufzunehmen. Die Sonder
stellung, die Richter Clemenceau zuweist, hat also tiefere,
beinahe mystische, dennoch plausible Gründe, da hinter ihnen
der Glaube an die Regenerationskraft des französischen Volkes
steht; und das bedeutet, daß der französische Nationalcharak
ter als die Quelle seines Endsieges genommen werden muß, und
daß daher dieser nur von einem Manne errungen werden
konnte, in dem sich die in ihrer Undurchdringlichkeit und Kon
tradiktion beinahe unfaßbaren, beinahe unbeschreibbaren
Grundwesenszüge des Franzosentums, des französischen Ty
pus, des französischen Geistes tatsächlich verkörperten: das
war Clemenceau, ein Revolutionär und zugleich ein Mann der
Ordnung, ein passione des humanen Gedankens und zugleich
ein kalt rechnender Tatsachenmensch, ein Pazifist und zugleich
ein soldatischer Patriot, kurzum der Vertreter all der irrationa
len und rationalen Kräfte, deren ganz einmaliger Zusammen
klang das spezifisch Französische ausmacht. »Sein Charakter
war der Charakter Frankreichs, das in allen stürmischen Tu
multen seiner Geschichte immer wieder nach der Mitte zielte,
weil es die Mitte ist, die ihm Erhaltung des Lebens bedeutet.«19
Das war Clemenceau, der Inbegriff des französischen Lebens
willens und der französischen Freiheit, der Inbegriff Frank
reichs, der fast legendär gewordene pere de la victoire.
Aufgebaut auf gediegenster historischer Arbeit und einer ganz
außerordentlichen Materialkenntnis (die sich u. a. auch in einer
Bibliographie von etwa 200 Quellenwerken dartut) präsentiert
Richters Buch drei Grundschichten, eine biographische, eine
politisch-historische und - eine dichterische. Selten noch hat
ein Historiker das Atmosphärische seines Themas mit solch de
likater Korrektheit getroffen, wie er es trifft. Und eben hieraus
entspringt die ungewöhnliche Wärme seiner Darstellungs
296
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weise: die Wärme eines Menschen, der mit klarstem Blick das
Leben und das Geschehen sieht und trotzdem liebt, ja gerade
aus dieser Liebe heraus es darstellen kann, darstellen muß, weil
er Recht von Unrecht zu unterscheiden vermag.
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G eschichte als m oralische A n th ro p o lo g ie
E rich K ahlers >Scienza Nuova<
(E. K., M an the M easure)
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entstammt zugleich dem geöffneten Auge des Wissenschaftlers
und dem geschlossenen des Dichters, und in schöner Stete um
faßt er allzeit die Ganzheit des vor ihm Hingebreiteten. Bei sol
cher Anlage ist es im wahrsten Wortsinn natürlich, daß unmit
telbare Simultaneität zu einem Hauptziel seines Schaffens hatte
werden müssen. Freilich würde das allein noch nicht genügen.
Denn Wissenschaft wird erst zur Wissenschaft, wenn ihre Ziel
setzungen eine praktikable, technische Methode zeitigen; erst
hieran vermag Sehertum heute sich zu legitimieren. Kahler ist
dieser Aufgabe gerecht geworden; er tat es in seinem engern
Arbeitsgebiet, der Historie, mit einer neuen Art der Ge
schichtsbetrachtung und -darstellung: durch ständige Einbe
ziehung der Vergangenheit in die Gegenwart, durch ständige
Rückerstreckung der Gegenwart in die Vergangenheit läßt er
in jedem Geschehnis, das er vorführt, Fern und Nah sich gegen
seitig durchleuchten und bringt eben damit das Geschichtsbild
zu jener zeitlosen Ganzheit, aus der, zumindest in Grundzü
gen, das Bleibende und sohin das Zukünftige selber aufschim
mert.
Immer haben die Menschen nach dem »Bleibenden« in ihrer
wandelbaren eigenen Wesenheit, nach ihrer eigenen Unwan
delbarkeit gefragt, um von hier aus die Entwicklung und Ziele
des geschichtlichen Ablaufs zu erkennen - und zu lenken; wer
nämlich meint, die wahre Natur des Menschen entdeckt zu ha
ben, der fühlt sich auch berechtigt, eine Ethik, eine Moral, eine
Metapolitik darauf zu errichten. Augustinus ist von der Gottes
natur des Menschen ausgegangen, Hegel von der überpersönli
chen logisch-dialektischen Struktur des Bewußtseins, Marx
vom ökonomischen Charakter, den dieses Bewußtsein in der
empirischen Welt und bei dem in ihr lebenden realen Menschen
annimmt, und die Nazi haben die Menschengestalt zu einem
biologischen Zerrbild simplifiziert. Während aber das »Blei
bende« sich in all diesen Bestrebungen, ja sogar auch noch in
den sogenannt materialistischen des Marxismus, fast aus
schließlich aprioristisch formuliert, also als ein Dogma wirkt,
das bloß nachträglich in die Geschichte hineinprojiziert wird
(und damit zu allerlei bösen Geschichtsverfälschungen Anlaß
gibt), versucht Kahler die bleibende »Grundnatur« des Men
schen, das eigentlich »Menschliche«, dogmenlos aus den nüch
tern verbürgten Geschichtsdaten selber abzuleiten: es ist eine
299
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Entdogmatisierung der Geschichtsphilosophie, auf die er hin
zielt; er zielt auf ihre »Entmetaphysizierung«, auf ihre »Ent-
ontologisierung«, ebenso aber auch auf die der geschichtsphi
losophischen Metapolitik und ihrer dogmatischen Unduldsam
keit, denn - gleichgültig ob der Geschichte oder der Natur
zugewandt - ontologische Metaphysik in all ihrer Fragwürdig
keit entsteht immer dann, wenn die Welt ihres Eigenrechtes be
raubt wird, wenn ihr empirischer Gehalt zu bloßem Illustra
tionsmaterial für ein hineinprojiziertes Dogma gemacht und
außerdem noch hierdurch erklärt werden soll.
Aber wird da nicht ein circulus vitiosus eingerichtet? Will da
Kahler nicht in die Geschichte das wieder hineinprojizieren,
was er aus ihr herausprojiziert hat? Und wird hierdurch nicht
ein peinlicher Relativismus konstituiert, der die Kahlersche
Methode zu der einer rein willkürlichen Geschichtsausdeutung
herabmindert? Denn - so kann ohne weiteres argumentiert
werden - nur durch Einprojizierung ist Erkenntnis aus dem
empirischen Material zu gewinnen, ja schon der erste Erkennt
nisansatz, die Selektion des empirischen Materials, ist spezifisch
projektionsdurchtränkt, steht also insolange in Verdacht sub
jektiver, fast möchte man sagen privater Willkürlichkeit, als das
hierbei angewandte Selektionsprinzip sich nicht auf überper
sönlich absolute und sohin apriorische Evidenzen zu berufen
vermag: das Apriorische allein besitzt Absolutheitskraft. Und
nicht nur, daß jeder wissenschaftliche Ausspruch um seiner
Wissenschaftlichkeit willen technisch-methodologisch ein
Höchstmaß an Evidenz in sich tragen muß, es geht hier, bei
Kahler wie bei seinen Vorgängern, überdies auch inhaltlich um
Absolutes, nämlich um das »Bleibende« in der Menschennatur.
Trotzdem verwirft Kahler die apriorischen Spekulationen, mit
denen die Vorgänger den schier unausweichlichen circulus vi
tiosus zu durchbrechen trachteten: gibt er statt dessen andere
Evidenzen, von denen er sich in der Selektion und Sichtung sei
nes historischen Materials leiten läßt?
In diesen Fragen ist der wahrscheinlich schwerste Einwand
enthalten, den die Methodologie gegen Kahler erheben kann.
Nichtsdestoweniger provozieren sie Gegenfragen: selbst die
überragende Geltung apriorischer Evidenz zugegeben, bleiben
denn nicht auch all die spekulativen Systeme, die der konkrete
Mensch sich schon errichtet hat, unabänderlich dem Bereich
300
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des Relativistischen und »Privaten« verhaftet? Hat der kon
krete Mensch, so sehr er zur absoluten Erkenntnis verpflichtet
ist, sich nicht in einem höheren Sinn eben damit zu bescheiden?
So oft er spekulativ nach dem Absoluten greifen will, degene
riert ihm das kleine Stückchen Logos, das er zu erhaschen
glaubt, ins unheilvoll Dogmatische; und immer wieder hat die
Menschheit unter dem Widerstreit ihrer Dogmen zu leiden ge
habt. Einst sind auch die Naturwissenschaften, einschließlich
der Medizin, apriorisch-spekulativ betrieben worden, standen
unter der Leitung »absolut-ewiger« Wahrheiten, waren dem
nach in »Schulen« und einander bekriegende »Überzeugun
gen« zerrissen, bis endlich die reine Empirie solchem Zustand
und seinen Schäden den Schlußpunkt setzte. Niemand wird es
heute als einen Mangel der Naturwissenschaft empfinden, daß
sie ihre Theorien unter äußerster Ausschaltung alles Apriori
schen bildet, daß sie sich hierbei tunlichst auf die empirischen
Tatsachen allein stützt. Oder ist es gar erlaubt, ihr einen circulus
vitiosus vorzuwerfen, weil sie die aus den empirischen Fakten
induktiv gewonnenen allgemeinen Theorien folgerichtiger
weise zur Erklärung und Behandlung jener Fakten verwendet?
Nicht anders steht es um den Einwand, mit dem der Empirie
Unfähigkeit zur Lieferung absoluter Data vorgeworfen wird:
gerade hier zeigt sich, daß lediglich spekulative Überlegungen
und apriorische Begründungen hierzu keinesfalls ausreichen:
wollte man bloß diesen vertrauen, so gäbe es im physikalischen
Bereich weder eine Kälte- noch eine Geschwindigkeitsgrenze,
»dürfte« sie nicht geben, da sich im Gedanken jede Skala ohne
weiteres zur Unendlichkeit hin erstrecken läßt; erst die empiri
schen Fakten haben zur Deduktion des absoluten Nullpunkts
und zu der des Absolutheitscharakters der Lichtgeschwindig
keit geführt. Das ist ein Sachverhalt, der unzweifelhaft - und
vielleicht nicht nur per analogiam - zugunsten Kahlers und sei
ner Ansichten zu sprechen geeignet ist. Denn eben die apriori
sche Würde des Logos fordert nach einem unbedingten Fest
halten an der Einheit der Erkenntnis überhaupt, und wenn
diese durch die (allerdings unvermeidlich gewesene) Zerspal
tung in Natur- und Geisteswissenschaften jetzt auch von nur
sehr wenigen gesehen wird, so ist es deren Aufgabe, die beiden
wieder einander anzunähern, auf daß dereinst daraus eine Ein
heitsmethode erstehen könne, die Methode der Wissenschaft
301
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an sich und ebendarum auch die einer neuen Metapolitik, die
nicht mehr von dem unglücklichen, unglückschaffenden Dog
menwiderstreit ihrer geschichtstheoretischen Hintergründe
belastet wäre.
Kahler imitiert nicht die Naturwissenschaft; hingegen hofft er,
daß die Legitimation, die sie von der Empirie erfahren hat, des
gleichen seiner Methode beschieden werde. Die Frage nach
dem von ihm verwendeten Selektionsprinzip ist daher für ihn
fast müßig. Er unterstreicht einfach das Gemeinsame in aller
wissenschaftlichen Forschung und agnosziert es, zumindest der
Hauptsache nach, eben in der Objektgerichtetheit; daß ihm
selber diese erst dann vollgültig wird, wenn sie die »Ganzheit«
des Beobachtungsfeldes wahrzunehmen fähig ist, entspricht nur
seiner persönlichen Grundanlage und deren Erkenntniszielen.
Freilich ordnen die sich wieder ins allgemein Wissenschaftliche
ein, und da bedeutet Ganzheit eben nichts anderes als eine
möglichst weitgehende, technisch-rationale Totalitätserfas
sung: der Astronom beispielsweise - um beim Vergleich mit
den Naturwissenschaften zu bleiben - wird sich gewöhnlich
kaum mit Ganzheitserwägungen beschäftigen und dennoch die
technische Totalität der Himmelserscheinungen zum Ziel sei
nes Ehrgeizes machen. In einem ähnlichen Sinn ist Kahlers ra
tionale Arbeit ganz auf Geschichtstotalität abgestellt: das und
nur das ist sein Selektionsprinzip, und damit trachtet er nicht
nur die spekulativen Prinzipien der alten Geschichtsphiloso
phien zu ersetzen, sondern auch ihre dogmatischen, beinahe
statischen Starrheiten zu vermeiden; das neue Prinzip will ela
stisch, will dynamisch sein. Denn das Material der empirischen
Welt ist in steter Veränderung begriffen und kann jederzeit
Abänderungen oder Erweiterungen in der Auffassungsme
thode notwendig machen. Was immer also aus solch dynami
schem Material herausprojiziert wird, es hat —auch dies eine
Parallele mit den Naturwissenschaften - in seiner Darstellung
bloß Wahrscheinlichkeitswert, obzwar einen hohen. Eine her
ausprojizierte Konstante, wie die des »Bleibenden« in der
Menschennatur es sein soll, entspricht daher nicht vollständig
der Naturkonstanten der Physik; obwohl der Konstanzcharak
ter erhalten bleibt, ist er mit einem unaustilgbaren Unsicher
heitskoeffizienten behaftet, der allerdings, und besonders in der
Kahlerschen Methode, sich ständig zu vermindern hat, so daß
302
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man wohl mit Fug von einer »Annäherungskonstanten« spre
chen darf.
Auf diese Annäherungskonstante kommt es Kahler an; ihre
Heraushebung aus dem empirischen Material ist ihm der
Hauptzweck der historischen Forschung - die historischen Spe
zialprobleme, wie Geschichtsfortschritt, sind für ihn bloß als
Nebenresultate interessant - denn nicht zur Rückprojizierung
(im circulus vitiosus) wird die Konstante herausprojiziert, viel
mehr bildet solch empirische Gewinnung des »Bleibenden« in
der Menschennatur einen Zweck in sich selbst: es werden damit
die ersten Grundelemente für den Aufbau einer wahrhaft all
gemeinen Anthropologie [geschaffen], deren »absolutes« oder
richtiger »annäherungs-absolutes« Axiomensystem aus
schließlich in der »Ganzheit« der menschlichen Qualitäten, in
der Struktur des Menschengeistes als solchem, kurzum in der
Menschengestalt als Totalitätsphänomen zu suchen ist. Und
eben darin sieht Kahler auch die einzig gültige Basis einer allge
meinen Metapolitik; ohne allgemeine Anthropologie ist sie
nicht möglich.
Daß trotz solcher Umlagerung des methodologischen Interes
ses sich die Forschung auch weiterhin auf dem Boden der Ge
schichtsbetrachtung abspielt, ist nur selbstverständlich. Denn
die menschliche Handlungsweise kann nur im Geschichtlichen
beobachtet werden; alles Getane ist im Augenblick seines Tuns
auch schon vergangen und wird als empirisches Datum zum Be
standteil der Geschichte. Was immer zur empirischen Totalität,
aus der in Kahlers Sinn das Menschenbild zu erstehen hat, ge
hören mag, das kulturhaft Menschen-Geformte wie das natur
haft Menschen-Formende bis hinab zu den physisch-biologi
schen Bedingungen, es ist dem historischen Ablauf eingereiht,
findet in der historischen »Ganzheit« seinen bedeutungsvollen
Platz: aus dem Boden der (rationalen) Geschichtstotalität
wächst die Geschichtsganzheit, aus dem Polyhistorismus (dem
Irrweg des philosophischen Denkens im 19. Jahrhundert)
wächst ein neuer Panhistorismus, in dem die gegenseitige Ent
sprechung von Mensch und Geschehen, ihrer beider »organi
sche« Struktur, sichtbar werden soll, und Kahler ist bemüht, die
für solche Sichtbarmachung erforderliche, neue »organische«
Methode zu präsentieren.
Kahlers empiristischer Platonismus hat einen langen Erbgang
303
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hinter sich - Bergson steht in dieser Reihe, denn stets bringt das
philosophische Denken die gleichen Grundtypen wieder her
vor-; doch neu sind die praktischen Konsequenzen, die hier aus
dem philosophischen Standpunkt gezogen werden. So hat auch
Comte eine neue Wissenschaft, die Soziologie, als Konsequenz
seiner Philosophie begründet. Noch mehr aber läßt sich Kahler
mit Vico vergleichen; nicht nur daß Vico die Prinzipien der em
pirischen Naturwissenschaft (wie sie damals - vor nahezu 250
Jahren - von Bacon formuliert Vorlagen) auf die Geschichte
übertragen wissen wollte, es war ihm diese auch schon nur ein
Hilfsmittel zum Aufbau einer »neuen Wissenschaft«, einer
Wissenschaft vom Menschen, und mit vollem Recht darf daher
in ihr, die er füglich Scienza nuova1betitelte, ein früher und iso
lierter Ansatz zu einer allgemeinen Anthropologie, ein Vorläu
fer der Kahlerschen Bestrebungen gesehen werden. Vico war
ein Vorausahner; was er im 18. Jahrhundert vorgeahnt hatte,
ist erst heute in den Zeitgeist eingegangen, wird erst heute vom
Zeitgeist neu produziert. Es ist durchaus kein Zufall, daß ein
Dichter von der Tiefsicht eines Joyce sich in seiner Menschen-
und Weltgestaltung ständig auf Vico beruft, und daß in Speng
lers2 Lehre von den Kulturorganismen und indirekt auch in
Toynbees3 Zivilisationentheorie die Vicoschen Ideen wieder
verwendet werden. Indes, nicht Wiederverwendung wird vom
Zeitgeist verlangt, sondern Neuschaffung, und eben da setzt
Kahler ein, zwar ein Zeitgenosse, aber zugleich auch, voll Op
positionswillen, ein Antipode Spenglers. Wenn sich Spenglers
Anthropologie oder Un-Anthropologie mit der Konstatierung
der menschlichen »Raubtiernatur« begnügt, so errichtet dage
gen Kahler eine Wissenschaft vom Menschen, die man gera
dezu als die »Wissenschaft vom Menschen, für den Menschen,
durch den Menschen« bezeichnen könnte (um so mehr als tat
sächlich der Gegensatz Faschismus-Demokratie darin steckt);
und wenn Spenglers »Kulturorganismen« sich recht bald als
ziemlich oberflächliche Analogien zu dem nicht ganz unbe
kannten Lebensprozeß des Geborenwerdens und Sterbens er
weisen, so trachtet die Kahlersche Methode sich von allen Ana
logieschlüssen fernzuhalten, also auch Begriffsbildungen wie
die vom »Organischen«, von der »organischen Methode«, von
den »Ganzheiten« streng zu fassen und unmittelbar aus dem
empirischen Material zu schöpfen. Mit anderen Worten, wäh
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rend Spengler lediglich nach Geschichtsgesetzen Ausschau hält
und daher, vollkommen im alten Stil, bloßer Geschichtsaus-
deuter und Geschichtsgruppierer bleibt, ordnet sich Kahler mit
seiner Faktualgerichtetheit den Exaktheitsansprüchen des mo
dernen Wissenschaftsbetriebes unter, und da er sich damit auch
einordnet und in eine Wechselwirkung stellt, ohne die es keine
Wissenschaft, geschweige denn eine Einheitswissenschaft gibt,
darf er hoffen, einen wichtigen Beitrag zu der im Zuge befindli
chen Umorientierung des modernen Erkenntnissystems zu lie
fern.
Denn an einer solchen Umorientierung kann nicht mehr ge-
zweifelt werden. Sie hat - wie immer - in den exakten Wissen
schaften und in deren Grundlagenforschung angehoben, nicht
etwa nach einem vorgefaßten Programm, wohl aber weil es die
empirischen Fakten unabweislich so verlangt haben. Daß die
physikalischen Phänomene mehr und mehr als »Wahrschein
lichkeitsfakten« (mit ihrer merkwürdigen und vorderhand noch
nicht gelösten Verquickung »objektiver« und »subjektiver«
Elemente) interpretiert werden müssen, daß das Heisenberg-
sche4 Unsicherheitsprinzip den zwar abstrakten, dennoch sozu
sagen »subjektoiden« Experimentator in das Experiment ein
bezieht, daß die Relativitätstheorie den nicht minder
»subjektoiden« Sehakt als physikalischen Grundkoeffizienten
in alle Berechnungen einsetzt, dies alles zeigt, daß die Schranke,
die im Glauben des 19. Jahrhunderts zwischen dem Menschen
und den von ihm untersuchten Naturphänomenen noch bestan
den hatte, die Schranke zwischen dem Beobachtungssubjekt
und dem objektiven Beobachtungsfeld bereits gefallen ist; der
Mensch ist heute als »physikalische Person« (wie man solch ab
straktes Subjekt in Anlehnung an die in ihrer Art ebenso ab
strakte »juristische Person« wohl nennen dürfte) ständig im
Objektbereich anwesend. Es findet also innerhalb der Physik
ein »Sich-selbst-als-Objekt-Sehen« des Menschen in höchst
abstrakter Form statt, und wenn der Mensch in einem Haupt
gebiet seines geistigen Verhaltens, eben in dem der wissen
schaftlichen Weltbewältigung, unter dem Diktat der Realität
ein derart völlig neues Phänomen produziert, so scheint der
Schluß nicht unerlaubt, daß es in seiner Bedeutung weit über
das rein Physikalische hinausreicht und als Symptom für eine
allgemeine Umorientierung des menschlichen Erkenntnissy
305
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stems genommen werden kann.
Durchaus im Einklang hiermit steht Kahlers Grundthese von
der Selbstbewußtwerdung des Menschen: der Mensch besitzt
die wundersame Kraft - und eben darin ist die spezifisch
menschliche Eigenschaft zu sehen, die Eigenschaft, die sich von
allem Tierischen grundsätzlich unterscheidet - über sich selbst
hinauszulangen, und vermöge dieser stetig in ihm arbeitenden
Kraft des »Transzendierens«, die ihm, dem schwächsten aller
Geschöpfe, zur Lebensbewältigung verliehen worden ist, wird
er sich nicht nur der Welt, sondern auch seiner selbst bewußt;
je weiter die Erkenntnis fortschreitet, desto mehr verschmelzen
die beiden Bewußtseinsformen, verschmelzen die beiden Be
wußtseinsinhalte, desto mehr geht die Welt in den Menschen,
der Mensch in die Welt ein, desto inniger wird die gegenseitige
Zugehörigkeit, so daß (voraussichtlich niemals erreichbar,
dennoch ewig angenähert) als letztes Ziel sich ein einheitlich
umfassendes Erfahrungs- und Erlebenssystem abzeichnet. Das
ist, in vereinfachenden Umrissen, das Bild der Vision, von der
das Schaffen Kahlers geleitet wird, eine sozusagen empirische
Vision, da sie ihm aus der empirischen Welt entgegengetreten
ist, und sie wird zu seiner Zukunftsvision von der menschlichen
Ratio und ihrer Entwicklung, wenn er von einer dem »Men
schen als Idee« zugekehrten »Einheitswissenschaft« spricht, in
der sich einerseits die gegenwärtige Wissenschaftszersplitte
rung sukzessive aufheben, andererseits aber die Möglichkeit
ergeben soll, den einzelnen mehr und mehr an der Ganzheit-
Erkenntnis teilnehmen zu lassen. Gewiß, keine Entwicklung,
auch nicht die so gesehene, und mag sie noch so sehr der - von
Kahler immer wieder unterstrichenen - Einheit der Erkenntnis
gemäß sein, kann willkürlich und künstlich heranbefohlen wer
den; eine jede muß aus der objektiven Forschung und »unter
dem Diktat der Realität« selbsttätig heranreifen; doch gerade
die Wendung, welche die Physik in eben diesem Sinne genom
men hat, und nicht minder Kahlers eigene wissenschaftliche
Leistung in der Gestaltung seiner Methoden und Strukturen,
weisen in die von ihm angegebene Richtung.
Kahlers wissenschaftliches Schaffen hat früh begonnen, be
zeichnenderweise mit methodologischen Erwägungen {Der
Beruf der Wissenschaft5), hat aber das Feld der Kritik mit dem
Augenblick verlassen, als er seine eigene inhaltlich-konstruk-
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tivc Grundtheorie, die Zentrierung der Gesamterkenntnis um
die Gestalt des Menschen, gefunden hatte. Nach einem kurzen
Vorversuch, in dem er es unternahm, einen Familientypus (den
der Habsburger)6zu charakterisieren, ging er sofort an sein bis
heriges Hauptwerk, an die wissenschaftliche Ergründung und
Beschreibung des deutschen Menschen. Der deutsche Charak
ter in der Geschichte Europas7 hat alles Recht, ein klassisches
Buch genannt zu werden: viele Generationen noch werden ihr
Wissen über die enigmatische Natur des Deutschen fortab aus
dem Reichtum dieses außerordentlichen Werkes beziehen, das
alles was deutsch ist in seiner Darstellung vereinigt, obwohl es
- ein unersetzlicher Verlust - infolge der Hitlerkatastrophe und
des Autors Flucht hatte unvollständig bleiben müssen. Indes,
auch die Katastrophe trug ihre Frucht, denn unter dem Ein
druck des jüdischen Unglücks veröffentlichte Kahler, immer
die gleiche Darstellungsmethode anwendend, eine Typologie
des Juden {Israel unter den Völkern8), um sodann, als Emigrant
in Amerika, alle Spezialprobleme hinter sich zu lassen und so
fort sein zweites Hauptwerk Man the Measure9 in Angriff zu
nehmen: hier werden nun nicht mehr die Qualitäten einer ein
zelnen Menschenspezies untersucht, sondern es wird radikal
das »Ganze« aufgenommen und - eben als eine allgemeine,
wenn auch historisch aufgefaßte Anthropologie - das
»Menschliche an sich« als Vorwurf gewählt und analysiert.
Man the Measure ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die für
ein Laienpublikum bestimmt waren; infolgedessen ist der da
zugehörige theoretische Hintergrund nur mit leichten Strichen
angedeutet. Nichtsdestoweniger gibt das Buch ein Gesamtbild
des Kahlerschen Denkens und seiner Welt- und Geschichtsbe
trachtung. Stofflich aber ist es eine Darstellung voll der er
staunlichsten Schilderungen, Durchblicke, Einsichten - und
Prophezeiungen. Denn wer sich mit solcher Intensität der Ge
stalt des Menschen zugewendet hat, der besitzt auch ein per
sönliches Verhältnis zu den Menschen, zu ihrem Aussehen, zu
ihren Verrichtungen, zu ihren Leistungen und Mängeln, kurz
um, er sieht sie mit den seherisch geschlossenen Augen des
Dichters. Jede Gestalt wird bei Kahler zu äußerster Plastizität
erweckt, wird in die ihr eigene Atmosphäre gestellt, und diese
wiederum zu einer Ganzheit-Erfühlung des Lebensraumes, in
dem solches vorgeht, seltsam erweitert und umgezaubert.
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Überall bricht das »Seherische« durch, und wo immer die
Schilderung ansetzt, ob sie das ökonomische, das literarische,
das naturwissenschaftliche, das technologische Bild einer Epo
che zeichnet, es wird mit fast unmerklichen Mitteln - Kahlers
Schriftstellertum ist von raffiniertester Sorgsamkeit - der ganze
innere Beziehungsreichtum angedeutet, es wird das Linienge
wirr in einer Weise verknüpft und zugleich aufgelöst, daß die
darin enthaltenen Zukunftslinien sichtbar werden. Denn wem
die Gabe der Simultan-Schau verliehen ist, der besitzt auch die
der Simultan-Darstellung. Und eben in dieser Simultan-Schau
alles Menschlichen ersteht nun auch das Gebäude jener empiri
schen und doch zeitüberdauernden Metapolitik, um deren mo
ralische Position es bei Kahler im letzten immer gegangen ist
und wohl immer gehen wird: daß es die Position der Humanität
ist, wird niemanden wunder nehmen.
Doch wer viel schenkt, der bleibt noch mehr schuldig, und kei
ner noch hat solche Differenz aufgeholt. In dem von Kahler zur
Abtragung seines Schuldkontos angestellten Programm, das
leider den ausständigen zweiten Band des Deutschen Charak
ters vorderhand nicht enthält, ist neben dem Projekt einer So
ziologie sicherlich das einer Wissenschaftslehre am wichtigsten,
da von ihr eine erkenntnistheoretische Ergänzung zu Kahlers
historisch-anthropologischen Theorien zu erhoffen ist. Denn
bei aller Anerkennung des empirischen Ausgangspunktes jed
weder wissenschaftlichen Forschung, bei aller Anerkennung
der antispekulativen Gründe, die Kahler zur Konstruktion sei
ner Methode bewogen haben, und bei aller Anerkennung der
antiaprioristischen »empiristischen Dialektik«, mit der er (in
Annäherung an naturwissenschaftliche Arbeitsweisen) seinen
Platonismus in praktisch-wissenschaftliche Tat umsetzt, er
scheint es trotzdem unstatthaft, eine Anthropologie zu errich
ten, die nicht von allem Anfang an das Verhältnis des Menschen
zum »Bleibendsten«, das er besitzt, nämlich zum Logos, voll
würdigt und klarstellt, um so mehr als sie - sie selber Men
schenwerk - nur hieran ihre logische Legitimation zu finden
vermag.
Mit diesem Verlangen wird das Absolutheitsproblem noch
mals aufgenommen. Kahler hat die Problemlösung der aprio-
ristisch-spekulativen Geschichtsphilosophien mit Recht ver
worfen und hat den dogmatischen Selektionsprinzipien das der
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wissenschaftlichen »Materialtotalität« entgegengestellt; aber
das Problem als solches bleibt unverwerfbar, und es taucht mit
jeder neuen Methodologie stets aufs neue auf, manchmal un
mittelbar, manchmal - so auch hier - auf Umwegen. Wenn
Kahler die Forderung nach historischer Simultanschau erhebt,
weil nur in ihr es möglich wird, die Annäherungskonstanten aus
dem Geschichtsablauf zu heben, und wenn er sich zu diesem
Zweck um eine Angleichung zwischen geistes- und naturwis
senschaftlichen Arbeitsweisen bemüht, und wenn er eben
darum prinzipiell die besonders in der Physik sichtbare, wach
sende Objektverwobenheit von Beobachtung, Beobachter und
Beobachtetem zu akzeptieren sich bemüßigt fühlt, so sind dies
Parallelismen, die erkenntnistheoretisch-methodologisch nicht
konsequenzlos bleiben können, nicht konsequenzlos bleiben
dürfen: und solche Konsequenz ist hier offenbar noch nicht ge
zogen. Denn es liegt nahe, nach einer Parallele zu der für die
Physik stipulierbaren »physikalischen Person« zu fragen, also
nach bestimmten abstrakt-subjektoiden Aufbauelementen im
historischen Bereich, die ihm integral angehören, und deren
Gesamtheit die gesuchte »geschichtstheoretische Person«
wäre.
Die Konstituierung der »geschichtstheoretischen Person« hat
nichts mit den »subjektiven Faktoren« zu schaffen, die - im
Gegensatz zu den mathematik-gebundenen Disziplinen - allem
Historischen wesensgemäß anhaften; nein, sie fällt unter die er
kenntnistheoretische Erforschung der »Bedingungen jeder
möglichen empirischen Erfahrung«, und zwar insbesondere je
nes Teils von ihr, der sich als »historische Erfahrung« anspre
chen läßt. Es würde über den Rahmen der vorliegenden Be
trachtung hinausführen, die (einerseits allgemeinen, anderer
seits Kahlerschen) Ansatzpunkte zur Bewältigung solcher
Aufgabe eingehend aufzuweisen; doch es ist leicht einzusehen,
daß die Konstituierung der abstrakten »geschichtstheoreti
schen Person« von zwei Bedingungsgruppen abhängt: erstens,
ganz im Sinne Kahlers, von der genauen Analyse der Ge
schichtsstruktur, zweitens aber von der nicht minder struktu
rellen Analyse des Bewußtseins als solchem. Die Physik
braucht diese zweite Bedingungsgruppe nicht zu berücksichti
gen, da sich ihre »physikalische Person« auf die Sehakt-Funk-
tion reduziert, also auf etwas, das mathematisch zu definieren
309
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und zu verifizieren ist. Eine derartige Beschränkung auf das
Objektfeld ist bei der Gewinnung der »geschichtstheoretischen
Funktion« unerlaubt; es fehlt die mathematische Verifika
tionsmöglichkeit, und sie muß daher durch eine andere ersetzt
werden: die »geschichtstheoretische Person« geht in der »er
kenntnistheoretischen Person« auf. Mit anderen Worten, an
Stelle der Mathematik, die für die Naturwissenschaften das
Verifikationsgeschäft besorgt, wird für die Geisteswissenschaf
ten der hierzu nötige Apparat von der Erkenntnistheorie mit
samt all ihren Neben- und Unterdisziplinen wie Logik und Lo
gistik, Sprach- und Begriffskritik (positivistischer, semantischer
oder sonstweicher Art) beigestellt; die Verifikation geisteswis
senschaftlicher Aussagen beruht auf erkenntnistheoretischer
»Systemevidenz«.
Damit endlich vollzieht sich die radikale Abkehr von der
aprioristischen Spekulation und ihrer »inhaltlichen Absolut
heit«, dem ewigen Quell jedweden Dogmatismus; es wird der
entscheidende Schritt zur rein formalen Absolutheit hin getan,
und nicht nur, daß erst von hier aus eine gesicherte Sinngebung
für Begriffe wie etwa »Epoche«, »Totalität«, »Geschichtsein
heit«, dem ewigen Quell jedweden Dogmatismus; es wird der
kann, es zeichnen sich hier auch die Konturen einer »allgemei
nen Theorie der Materialselektion« ab, einer Theorie, die das
»Selektionsprinzip« in eines der »Ordnungserzeugung« zu ver
wandeln hätte, um hierdurch - Ordnungsschöpfung stammt
immer aus dem Logos - die aller Wissenschaft (nicht zuletzt der
Kahlerschen) vorschwebende »Materialtotalität« zu ihrem ei
gentlichen Wahrheit-Sein zu verhelfen: und das ist das Sein als
»geordnete Totalität«. In ihr, in der »geordneten Totalität«,
erfüllt sich der Logos, an ihr, dem Erkenntnisziel an sich, defi
niert sich die »erkenntnistheoretische Person« als oberstes A b
straktionsschema der Menschengestalt, und so gewinnt auch
erst hier, in solcher Transzendenz zum Logos, die von Kahler
dem Menschen beigemessene Transzendierungskraft ihren
vollen Sinn und ihre volle Gültigkeit. Und anders kann eine
Anthropologie und gar eine moralische Anthropologie nicht
bekrönt werden.
Mit seiner projektierten Wissenschaftslehre10 hat Kahler
diese Bekrönung versprochen, und alle Ansätze in seinem
Werk deuten darauf hin, daß sie ihm glücken wird. Denn ob
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wohl es eine wissenschaftstheoretische Bekrönung sein wird, ist
sie zugleich eine durchaus humane. Und nur derjenige, der sel
tner von tiefster und weitester Menschlichkeit erfüllt ist, vermag
sich der Menschengestalt zuzuwenden, vermag sich wahrhaft
mit ihr zu beschäftigen und sie so echt zu erfassen, wie es eben
durch Kahler geschieht.
1 Giovanni Battista Vico, Principi d ’una scienza nuova d'intorno alla commune
natura delle nazioni (1725).
2 Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umriß einer Mor
phologie der Weltgeschichte (2 Bde. 1918 und 1922).
3 Arnold Joseph Toynbee (1889-1976), engl. Historiker und Geschichtsphilo
soph. Vgl. A Study of History (10 Bde. 1934-1955).
4 Werner Heisenberg (1901-1975). Entdecker der Quantenmechanik und der
»Heisenbergschen Unschärferelation«.
5 E. v. Kahler (1885-1970), Der Beruf der Wissenschaft (Berlin 1920).
6 E. v. Kahler, Das Geschlecht Habsburg (München 1919).
7 E. v. Kahler, Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas (Zürich
1937).
8 E. v. Kahler, Israel unter den Völkern (München 1933 und Zürich 1936).
9 E. Kahler, Man the Measure. A New Approach to History (New York 1943).
10 Diese Wissenschaftslehre hat Kahler nicht geschrieben.
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Bibliographischer Nachweis
Essays
1. » K u ltu r 1 9 0 8 /1 9 0 9 « , uv. Y U L .
2. » O rn a m e n te ( D e r F a ll L o o s )« , u v. Y U L .
3. » P a m p h le t gegen d ie H o c h s c h ä tz u n g des M e n s c h e n « , uv. Y U L .
4. » L eb e n o h n e p la to n is c h e Id e e « , in : H e rm a n n B ro c h , D ie U n b e
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(Z ü ric h : R h e in -V e rla g , 1 9 6 1 ), S. 2 7 6 -2 8 2 .
5. » D ie K u n s t am E n d e e in e r K u ltu r « , uv. Y U L .
6. » E rw ä g u n g e n zu m P ro b le m des K u ltu rto d e s « , in : H B , E r k e n n e n
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7. » P h ilo so p h isch e A u fg a b e n e in e r » In te rn a tio n a le n A k a d e m ie « , in :
H B , Z u r U n iv e r s itä ts r e fo r m , hrsg. v. G ö tz W ie n o ld ( F r a n k fu r t am
M a in : S u h rk a m p , 1 9 6 9 ), S. 7 -6 1 .
8. » Z u m B e g r iff d e r G e iste sw isse n sch a fte n « , in : H B , D ie U n b e
k a n n te G r ö ß e , a .a .O ., S. 2 6 1 -2 7 5 .
9. » D ie so g e n a n n te n p h ilo s o p h is c h e n G ru n d fra g e n e in e r e m p ir i
schen W is s e n s c h a ft« , uv. Y U L .
10. » Z u r G e s c h ic h te d e r P h ilo s o p h ie « , uv. Y U L .
11. »Das U n m itte lb a re in P h ilo s o p h ie u n d D ic h tu n g « , uv. Y U L .
12. » T h e o lo g ie , P o s itiv is m u s u n d D ic h tu n g « , uv. Y U L .
Rezensionen
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3. » F e lix W e lts c h , G n a d e u n d F r e ih e it« , uv. Y U L .
4. » W ilh e lm S c h ä fe r, D r e i B rie fe « , u v. Y U L .
5. » E in e N eua u sg ab e L o re n z v o n S teins ( L . v. S te in , G e s c h ic h te d e r
s o z ia le n B e w e g u n g in F r a n k r e ic h )« , uv. Y U L .
6. » D ie e rk e n n tn is th e o re tis c h e B e d e u tu n g des B e g riffe s >R evolution<
und die W ie d e rb e le b u n g d e r H e g e lsch e n D ia le k tik . Z u den B ü
ch e rn A r t h u r L ie b e rts ( A . L ., V o m G e is t d e r R e v o lu tio n e n , W ie ist
312
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14. » B e m e rk u n g e n zu K a r l K e re n y is S c h rift D e r g ö ttlic h e A r z t« , uv.
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K u n s t« , uv. Y U L .
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(M ä rz 1 9 4 9 ), S. 1 0 3 1 -1 0 3 3 .
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Nuova< (E . K ., M a n th e M e a s u r e ) , in : H a m b u r g e r A k a d e m is c h e
R u n d s c h a u , 3. Jg., N r. 6 (1 9 4 9 ), S. 4 0 6 -4 1 6 .
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H erm a n n B roch
K o m m e n t i e r t e W e r k a u s g a b e in 1 3 B ä n d e n
( L e i n e n u n d s u h r k a m p ta s c h e n b u c h )
H e r a u s g e g e b e n v o n P a u l M ic h a e l L ü tz e ie r
III. Briefe
Band 13/1: Briefe 1913-1938 (st 710)
Band 13/2: Briefe 1938-1945 (st 711)
Band 13/3: Briefe 1945-1951 (st 712)
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Brochs >Verzauberung<
Herausgegeben von Paul Michael Lützeier
stm. suhrkamp taschenbuch 2039. 1983
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