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Carlo Ventre

Ich liebe die dunklen,


seelentiefen Charaktere...

Barbara Röder traf den sympathischen Tenor in der


von Künstlern beliebten italienischen Weinbar
„Incantina“ in der Nähe des Frankfurter Opernhauses

Es war soweit: Der lebensfrohe italienische Tenor Carlo Ventre


(geboren wurde er übrigens in Uruguay) sang wieder in der Oper
Frankfurt. In diesem Jahr gab er Verdis Don Carlo. Nach seiner ful-
minanten Interpretation des San-Lui in Franco Leonis L’Oracolo
und dem Roberto in Puccinis Erstlingswerk Le Villi, zwei selten
aufgeführte Einakter, die im November 2009 Premiere hatten,
versprach Carlo Ventre für die Leser des orpheus für ein Interview
zur Verfügung zu stehen.
Wann spürten Sie, dass Sie das Talent, die Begabung zum Singen
besitzen?
Ich entdeckte schon sehr früh meine Liebe zur Musik. Als Kind sang ich
begeistert in meiner Heimatstadt Montevideo in der Kirche, und nach
meinem Stimmbruch (ich hatte ihn mit 12 Jahren) war ich dann mit einer
Tenorstimme ausgestattet.
Per Zufall hörte mich eine Dame, die am Teatro del Sobre (dem Staatsthe-
ater von Montevideo) arbeitete. Sie hat praktisch mein Talent entdeckt.
Sie empfahl mir, nein, sagte mir, ich solle mit solch einer Stimme unbedingt Jahren gewann ich dann beim berühmten Gesangswettbewerb„Concurso
studieren. Also habe ich sehr früh, schon mit 14 Jahren, meine Stimme aus- Francisco Viñas“ in Barcelona den Gino Bechi Preis.
bilden lassen. Gut in Erinnerung ist mir noch die Carmina burana. Mit 20
Mit welchen Arien?
„Amarilli, mia bella...“ von Giulio Caccini, glaube ich. Das ist eine sehr schöne
alte italienische Canzonietta und natürlich „La Donna e mobile“. Mit dem
Rigoletto-Duca hatte ich ein wenig später (1994) dann auch mein Rollen-
debüt an der Mailänder Scala, Ricardo Muti dirigierte. Der gefeierte Bariton
Gino Bechi saß übrigens in der Jury des Concurso in Barcelona. Bei ihm, das
war ein Glücksfall, habe ich in Florenz studieren können. In Mailand war ich
bei der Opernlegende Magda Olivero. Danach wagte ich den Sprung über
den Großen Teich. Meine Studien konnte ich dann bei Armand Boyajian
in New York fortsetzen. New York faszinierte mich. Es ist eine gigantische
Kulturmetropole, ein fantastischer Melting pot, der mit der Met eine enorme
Operngeschichte beheimatet und repräsentiert.
Nach diesem Preis in Barcelona war für mich klar, dass ich aus Uruguay
eines Tages weg muss, das sagte ich auch meinem Vater.
In Uruguay gab es für mich keinerlei Entwicklungschancen, keine Opern,
nichts. Das war eine sehr schwierige Zeit. Innerhalb eines Monats habe ich
mir mein Flugticket verdient und bin dann nach Florenz gegangen. Au-

als Riccardo in Oberto conte di S. Bonifacio in Bilbao;


oben als Andrea Chénier am Liceu in Barcelona (Fotos CV)
daneben beim Interview in der italienischen Weinbar (Foto Röder)

9+10. 2010 orpheus Journal 75


genblicklich lebe ich in Verona und bin auch für die
Festspiele dort. Zu Ehren von Franco Zeffirelli werden
in diesem Jahr in der Arena alle seine Inszenierungen
wieder aufgenommen. Ich singe den Pinkerton, den
Don José und den Radames. Auch in den Caracalla
Thermen in Rom wird es eine Aida mit mir als Ra-
dames geben.

Sie lieben Traditionen, Alte Welten?


Sicher, aber auch die Moderne, wenn der Inhalt und
die Idee des Kunstwerks für mich stimmig sind. Die
Musik einer Barockoper entspricht nicht so sehr
meinem Charakter, kommt meiner Stimme nicht so
entgegen, wie etwa die Musik von Verdi oder Puccini.
Manche Tenöre wollen alles singen, das halte ich aber
für sehr unklug.

Ihre Lieblingskomponisten sind Verdi und


Puccini?
Ja, aber Bizets Carmen oder Die Perlenfischer liebe ich
auch sehr.

Sie singen hier an der Oper Frankfurt den Don


Carlo. Wie ist sein Charakter, wie fühlt er, wie
agiert er? Vaters nach Flandern ziehen, für die Freiheit kämpfen. Fünfzehn Sekun-
Don Carlo ist für mich eine kranke Seele. Er eine schwächliche Person, psy- den Mut! Danach wird er wieder schweigsam. Don Carlo ist musikalisch
chisch angegriffen. Don Carlo ist umgeben von großen Persönlichkeiten, gesehen eine diffizile Rolle. Er singt zwar einen schwierigen Part, aber nie
starken Charakteren – seinem Vater, Posa und Elisabeth. Vielleicht fühlt er eine Romanze. Dadurch verliert er. Ähnlich gelagert ist der Alfredo in der
sich von ihnen eingeengt. Es scheint mir, dass Don Carlo zwischen ihnen Traviata, die Aufmerksamkeit des Publikums aber richtet sich immer auf
zerrieben wird. Germont oder Violetta.
Ein einziges Mal nimmt er allen Mut zusammen, begehrt auf und erhebt
seine Stimme: während des großen Autodafé! Er will gegen den Willen des Und wie ist es mit Renato in Le Villi oder San-Lui in L’oracolo?
San-Lui ist ein junger Mann, ein Knabe der furchtbar verliebt ist. Am
Ende wird er vom Bariton umgebracht. Das ist sehr einfach darzustellen,
denn es handelt sich bei San-Lui um einen gradlinigen Charakter. In Le
Villi ist es ganz anders. Roberto ist verliebt und verlässt seine Heimat,
um sein Erbe anzutreten. Ihn zieht eine ungewisse Sehnsucht fort. Ins-
tinktiv spürt er, dass außerhalb des Schwarzwaldes (in diesem spielt der
Einakter) eine andere, bessere Welt auf ihn wartet. Er fühlt sich schuldig,
da er gegen Konventionen verstößt. Roberto lebt egoistisch sein Leben
und wird dann von den Villis wie ein böser Schatten verfolgt. In dieser
Produktion umarmt er die Bühnenwände, seine alte gewohnte Welt
und singt eine der schönsten Arien der Opernliteratur „Torna ai felici
di“ („Zurück zu den glücklichen Tagen“). Sein Erbe ist verprasst und die
Villis/seine Erinnerungen treiben ihn in den Wahnsinn.
Generell möchte ich nie nur eine Story, mit der ich mich anfreunden, die
ich verstehen muss, singen. Ich peile immer das Innere einer Figur an.
In dieser Produktion, die in einem TV Studio spielt, habe ich versucht
die verschiedenen emotionalen, psychischen Ebenen von Roberto
aufzuzeigen.
Eine Regiekonzeption sollte natürlich auch in den Charakter einer Figur
einfließen. Ich kenne immer alle Rollen eines Stücks. Das muss sein. Ich
möchte mit meinem Part reagieren und agieren können.

Die Musik Verdis und Puccinis – wie unterscheiden sie sich sänge-
risch, interpretatorisch voneinander?
Die Musik Verdis stellt sich für mich wie eine Radiographie/Röntgenauf-
nahme dar. Die Sänger formen die Melodie, die Linie. Sie kreieren die Ge-
schmeidigkeit einer Phrase und färben die Stimmung des Gesungenen
ein. Bei Puccini ist alles ineinander verwobener, das Orchester richtet sich
nach dem Sänger, es verdoppelt ihn quasi. Puccini können Viele singen.
Verdi erfordert ein großes technisches, gestalterisches Können.

Welchen Charakter hat Ihre Paraderolle, der Duca di Montova?


Einen schrecklichen! Er ist ein wirklicher, pardon, „Mistkerl“ (lächelt
verschmitzt)!

Aber die Damen mögen das, sie lieben ihn, beten ihn an für seinen
miesen Charakter!
Ja, für mich ist er aber ein armseliger Wicht, der die schönsten Arien
singt!

oben als Pinkerton in Madama Butterfly


und links als Radames, beides in San Diego (Fotos Ken Howard)

76 orpheus Journal 9+10. 2010


Unterscheidet er sich in seiner Skrupellosigkeit vom Jago im Otello?
Jago ist für mich die Inkarnation des Bösen. Duca ist wie ein Fisch. Schwer zu
fangen. Der Duca nimmt sich, was er kriegen kann. Er liebt die Zerstreuung,
denkt nur an sein Amüsement. Ein schwierig darzustellender, indifferenter
Charakter. Er ist ein kalter Mensch mit oberflächlicher Gesinnung.„An Ice-
Man“ würden die Amerikaner sagen. Ich liebe die dunklen, seelentiefen
Charaktere!

Eine ebenso starke Figur, mit der Sie bald debütieren und die Sie bei
Ihrer Rückkehr nach Frankfurt darstellen, ist der Otello.
Ja, der Otello ist auch eine getriebene, kranke Person. In ihm lauern viele
Abgründe. Er beherbergt kontrastreiche Emotionen, vor allem unzählig
unkontrollierte. Im Grunde (ver)traut er nicht einmal sich selbst. Er ist
schwarz, lebt in Venedig als Ausländer. Otello füllt eine besondere Macht-
position aus, er liebt eine weiße, schöne Frau. Und, natürlich hat er Feinde.
Ich möchte Otellos Licht- und Schattenseiten darstellen, ihn in all seinen
Facetten aufzeigen. Spannend ist zu sehen, von wem er beeinflusst, mani-
puliert wird. Jeder drängt ihn, Entscheidungen zu treffen, schubst ihn mal
da, mal dort hin. Dann kommt es zur Katastrophe. Seine wahre Tragik ist
sein mangelndes Selbstvertrauen.

Mögen Sie lieber die Liebe oder die Verbrechen in der Oper?
Lieber die Verbrechen (lacht), die düsteren, tiefen Abgründe, die in der Seele
der Menschen rumoren geben/gaben immer einen herrlichen Opernstoff
her. Il Tabarro oder auch Madama Butterfly sind für mich schaurig-dunkle
Opern.
Im Bajazzo z.B. (leider habe ich ihn noch nicht gesungen) wird der Titelheld
von seiner Ehefrau schändlich betrogen und wird aus dem Affekt zum Kri-
minellen. Man versteht ihn...

...und Cavaradossi?
Der ist vor allem ein Patriot mit ungebändigtem Kampfgeist und sehr ver-
liebt in Floria Tosca. Er stirbt für sie und aus Liebe zum Vaterland. Cavaradossi

Carlo Ventre privat und als Don José mit Nora Sourouzian als Carmen
in Lausanne (Fotos CV)

verkörpert den italienischen Freiheitsgedanken. Er ist ein reifer Mann, der die
Liebe und zugleich die Kampfeslust in den Adern spürt.

Welche Opern würden Sie gerne singen und welche singen Sie gerne?
Otello natürlich. Den Grieux in der Manon Lescaut, die Rolle singe ich sehr bald
in Hamburg. Der Don Giovanni wäre fantastisch, für den hege ich eine große
Liebe, auch wenn ich ihn nicht singe. Mozart ist ein Genie. Ich habe noch nie
Mozart gesungen.

In welcher Zeit würden sie gerne leben?


In der Zukunft. Ich stehe mit den Füßen im Jetzt, mit meinen kulturellen Wurzeln
in der Vergangenheit.

Haben Sie ein Lebensmotto?


Carpe Diem.

Fühlen Sie, was Ihnen gut tut?


Sicher, dafür habe ich ein gutes Gespür. Ich denke positiv, auch wenn es banal
klingt. Wenn ich singe, fließt unglaublich viel Energie zu mir zurück. Ich möchte
viel, viel singen, ohne mich zu verbrauchen. Plácido Domingo singt schon sehr
lange und seine Karriere ist von einer ungeheuer langen Dauer. Er ist ein gutes
Beispiel, wie ein Sänger mit seiner Stimme umgehen sollte.
Außerdem möchte ich Gutes bewirken. Das liegt mir sehr am Herzen. Den
Kindern in in Uruguay helfen, denn viele Menschen in Südamerika haben
keine Möglichkeiten besser zu leben, existieren unterhalb des täglichen
Lebensminimums.

Was wünschen Sie sich für ihre musikalische Zukunft?


Vielleicht leite ich mal ein Opernhaus – in Deutschland natürlich. Wer weiß? Ich
bin ein Vernunft-Mensch, ich kenne mich mit Stimmen und Rollen gut aus. Dieser
Wunsch aber liegt in weiter Ferne, ist jedoch ein schöner Gedanke, oder?

(Übersetzung: Elfriede Preisner)


9+10. 2010 orpheus Journal 77
Carlo Ventre

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