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Uwe Fraunholz
Mit diesem Essay soll vor dem Hintergrund des Begriffs der Reflexiven Modernisierung ein Überblick über
den Beginn und das Ende der fordistischen Gesellschaftsformation gegeben werden. Der Niedergang des
Fordismus wurde durch Faktoren verursacht, die selbst Teil dieser Formation waren: Durch die
Radikalisierung immanenter ökonomischer Tendenzen und gesellschaftlicher Konfliktpotenziale, die latente
Nebenfolge der fordistischen Eigenlogik waren, wurden weitgehender gesellschaftlicher
Transformationsprozess eingeleitet, der zum Zerfall der fordistischen Gesellschaftsordnung führte.
Die Ausbreitung des liberalen Konsenses in Westeuropa gründete auf dem Verbund von Marktwirtschaft
und parlamentarischer Demokratie, der nach 1945 zur politökonomischen Norm werden sollte. Er wurde
von dem Glauben getragen, dass soziale Spannungen durch Produktivität und Wachstum überwunden
werden können. Die Idee von Klassenkampf und Revolution verlor an Aktualität angesichts der Subsumtion
der gewerkschaftlichen und unternehmerischen Interessen durch die marktwirtschaftliche Ordnung, die als
Rahmen für die Aushandlung der unterschiedlichen Interessen diente; die Aushandlungen vollzogen sich in
Anbetracht der verschiedenen korporatistischen und arbeiterischen Traditionen der Länder der
entstehenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht auf gleiche Weise.
Die graduelle Etablierung der fordistischen Arbeitsorganisation hatte eine Steigerung der
Arbeitsproduktivität zur Folge [vgl. ebd., 50]; sie resultierte aus einer weitgehenden Präzisierung und
Standardisierung der Produktionskomponenten, einer Zerlegung des Arbeitsprozesses bei gleichzeitiger
Vertiefung der Arbeitsteilung und einer Dequalifizierung der Produktionsstellen zugunsten der
Managementebene. Die Massenproduktion von Konsumgütern basierte auf dem arbeitsorganisatorischen
und technologischen Modell des Taylorismus. Aufgrund des nun merklich höheren Reallohnniveaus, das
sich „mit einer weitgehenden ökonomischen und sozialstrukturellen Homogenisierung und Egalisierung der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verband“ [ebd., 51], konnten die industriell erzeugten
Massenprodukte von relevanten Teilen der Arbeiterklasse abgenommen werden.
Die Rekordhöhen erklimmenden Wachstumsraten zwischen 1958 und 1967 führten zum einen dazu, dass
der Ertrag des Aufschwungs bis in die unteren Gesellschaftsschichten durchsickern konnte, und zum
anderen zu einem immer größer werdenden Reformdruck. Das selbsttragende fordistische
Produktionsmodell westeuropäischer Gesellschaften gründete auf der standardisierten, auf Zerlegung von
Privater Wohlstand und Massenkonsum waren Kennzeichen der zum Wirtschaftswunder stilisierten
Installation des neuen, fordistischen Produktionsregimes, Von 1957/58 bis 1973/74 kam es zu einer
Veränderung der Lebensformen und der materiellen Erwartungshaltung, während die Erinnerungen an den
Krieg verblassten. Es herrschte Aufbruchsstimmung: neue Jugendkulturen entstanden, das Stadtbild und
der Wohnraum wurden funktionalistisch umgestaltet und die Infrastruktur auf allen Ebenen der
Gesellschaft ausgebaut. Es herrschte eine gewisse Form von Arbeitsteilung: der niedrigbezahlte, nur niedrige
Qualifikationen verlangende Arbeitssektor wurde mit Arbeitsmigranten aus dem Mittelmeerraum besetzt,
während die Durchlässigkeit von hiesigen Arbeitnehmer hin zu besseren, höher-qualifizierteren Positionen
erweitert wurde; der Bedarf an ausgebildetem Fachpersonal stieg, weil qualitatives Wachstum sich nur über
technische Modernisierung, Automatisierung und Effizienzsteigerung von Industieranlagen realisieren ließ.
Die Politik arbeitete sich an einer umfangreichen Modernisierung und Reform der Gesellschaft ab, die auf
den Übergang von Industrieproduktion zu Wissensproduktion und Expertenwissen zulief; von staatlicher
Seite wurde diese sozioökonomische Entwicklung weniger moderiert als umfassend geplant. Während
Kapital und Arbeit in Deutschland miteinander arbeiteten, arbeiteten jene in Frankreich, Italien und
Großbritannien gegeneinander – das durch Streiks, politische Gewalt, leerlaufende Reformvorhaben und
massive Inflation gezeichnete und Italien bildete den Gegenpol zum deutschen Model von Globalsteuerung
und wirtschaftlicher Stabilität, das durch den sozialliberalen Konsens der Großen Koalition ermöglicht und
durch das 1967 verabschiedete Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft
beschlossen wurde.
Genanntes Gesetz enthielt Maßnahmen zur Stabilisierung des Preisniveaus, des Beschäftigungsgrades, der
Außenhandelsbilanz und des Wirtschaftswachstums; dieses Vorhaben war „Ausdruck einer technokratischen
Utopie, die meinte, den Fortschritt normieren und dauerhaft gestalten zu können“ [ebd., 42]. Die
Reformära stand im Zeichen einer Realutopie: nicht nur die Wirtschaft war Anwendungsfeld staatlicher
Steuerung und Modernisierung, sondern auch die Rechts- und Gesellschaftspolitik, die sich der
Emanzipation und Liberalisierung verschrieb; Fortschrittsoptimismus und der Glaube an die totale
Machbarkeit einer klassen- und schichtenübergreifenden, ideologiefreien, pragmatischen Modernisierung
bildeten die Leitprinzipien jener Zeit. Die sich in Formierung begriffene Neue Linke trat als
Gegenprotagonist auf, indem sie Zweifel an der Dauerhaftigkeit dieser Fortschrittssequenz anmeldete. Der
Klassenkampf kehrte zurück, wenn auch in anderer Form: in Ländern, in denen der liberale Konsens weniger
wirkmächtig und die gesellschaftliche Ungleichheit auch während des Aufschwungs deutlich sichtbar war,
verbanden sich die gegen die etablierten sozialen Normen aufbegehrenden Studentenproteste mit denen der
unqualifizierten Arbeiter, die für höhere Löhne kämpften und die Einlösung des kapitalistischen
Glücksversprechens einklagten. Die ‘68er-Bewegung „verkörperte den Aufbruch in eine offene, andere
Zukunft als die, welche die Planer der Globalsteuerung auf Dauer stellen wollten und mit dem Fortschritt
identifizierten“ [ebd., 44]; der politische und kulturelle US-amerikanische Führungsanspruch wurde in
Frage gestellt, während man gleichzeitig mit dem Kommunismus liebäugelte, bevor die Entspannungspolitik
vorankam. Die integrative Kraft westlicher Gesellschaften nahm seit dem Ende der 1960er-Jahre ab, ihr
innerer Zusammenhalt wurde geschwächt.
Auch die 1970er-Jahre standen im Zeichen von Modernisierung, die sich im Rahmen des etablierten
marktwirtschaftlich-liberalen Systems vollzog; die Aufgaben des Staates wurden ausgeweitet und dessen
Aufgabenfelder mit rationaler Planung und wissenschaftlichen Expertentum zu gestalten versucht. Man
verfolgte die Vision einer Gesamtpolitik: zentral waren die Expansionen im Bildungswesen und im
Gesundheitsbereich, außerdem Städtebau, Raumordnung und Verkehrswesen wie auch Energie und
Umwelt. Das modernisierende Reformprogramm einte die liberalen und sozialdemokratischen Parteien,
doch es kam auch in gemäßigten konservativen Parteien zur Geltung, was als Zeichen für die Stärke dieses
modernistischen Paradigmas gewertet werden kann. Charakteristikum der Reformzeit von 1969 bis 1975
war die massive Beschleunigung des sozialstaatlichen Ausbaus, der wiederrum den gesellschaftlichen
Anspruch auf staatliche Leistungen vergrößerte. Die sozialpolitische Expansion leitete die finale Phase des
westeuropäischen Modernisierungsmodells ein; kritische Stimmen, die auf die veränderten
demographischen und zunehmend unsicher werdenden ökonomischen Rahmenbedingungen hinwiesen,
blieben ungehört. Die Erdölkrise von 1973/74 wurde zum ersten längeren Stresstest für das westeuropäische
Modell der Sozialpolitik. Jenem gelang es, die Gesellschaftsordnung des Booms für weitere drei Jahrzehnte
zu stabilisieren; rechtlich abgesicherte Leistungen und kollektive Erwartungen an individuelle
Zukunftssicherheit und Besitzstandswahrung wurden zur Selbstverständlichkeit. Konjunkturelle Umbrüche
wie auch der wirtschaftliche Strukturwandel konnten in den Folgejahrzehnten von den, nach dem
westeuropäischen Sozialmodell operierenden Gesellschaften einigermaßen abgefedert werden.
Der stabile Rahmen der internationalen Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit zeigte bereits mit dem
Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods im Jahre 1971 Risse: dabei wurde von
amerikanischer Seite die Dollar-Gold-Konvertibilität aufgehoben und die Wechselkursbindung an den
Dollar beendet. Im Zuge der darauffolgenden Inflation kam es zu Verteilungskämpfen zwischen Arbeit und
Kapital, die Intensität der Arbeitskämpfe stieg im Vergleich zu den zwei vorigen Jahrzehnten; die soziale
Reformpolitik verlor an Handlungsmöglichkeiten und die Keynesianistische Ordnungspolitik an
Legitimität, da jenes Steuerungskonzept der in den meisten westeuropäischen Staaten auftretenden Preis-
Lohn-Spirale nicht im ausreichendem Maße entgegenwirken konnte. Mit dem Modell staatlicher
Globalsteuerung wurde gebrochen, vielmehr sollte die monetäre Stabilität über ein kontrolliertes Wachstum
der Geldmenge gesteuert werden; die geldpolitische Verantwortung wurde von der Regierung zur
Zentralbank verschoben. Es bahnte sich eine Ablösung des sozialliberalen Wirtschaftsmodells zugunsten des
monetaristischen Konzepts der wirtschaftsliberalen Chicago School an, welches auf eine Verminderung der
staatlichen Einflussnahme drängte; nach 1970 kam es zu einem Erstarken der seit Kriegsende in
Vergessenheit geratenen ordnungspolitischen Konzepte von Hayek und Friedman, die die „Agenturen zur
Verbreitung der marktradikalen Freiheitsideologie“ [DOERING-MANTEUFFEL / RAPHAEL, 2012, 50]
anführten. Hayek erhielt 1974 den Nobelpreis, die Auszeichnung Friedmans folgte 1976: Keynes wurde
begraben und der Neoliberalismus gefeiert.
Der Monetarismus schien als probates Mittel, um die globalen strukturellen Veränderungen des
industriellen Produktionssystems unter Kontrolle zu bringen. Mit dem Ende der Kohlegewinnung, der
Werften, Eisenhütten Webereien und Spinnereien endete auch die industrielle Moderne; verschiedene
Industriezweige konnten ihre Produktion nicht mehr gewinnbringend absetzen. Die beiden Ölkrisen in den
1970er-Jahren erfassten auch die Krisenbranchen und verstärkten damit den gesellschaftlichen
Strukturwandel:
Gestiegene Energie- und Rohstoffpreise, Unsicherheit auf den Finanzmärkten und zurückgehende
internationale Nachfrage schlugen jetzt auf jene Krisenbranchen durch, die ohnehin schon mit
Absatzschwierigkeiten zu kämpfen hatten. Die Wirtschaft mußte Kosten senken, rationalisieren, neue Märkte
erschließen. [ebd., 54]
Dieser strukturelle Bruch zwang die Menschen zu einem Mentalitätenwandel, ihr Erfahrungsraum und
Erfahrungshorizont strukturierten sich neu. Das Aufkommen der Mikroelektronik veränderte den
Charakter der Erwerbsarbeit: diese war nicht mehr durch körperliche Schwerstarbeit geprägt, da diese durch
verfahrenstechnische Neuerungen und EDV-gestützte Prozesssteuerung marginalisiert wurde; der
Industriearbeiter wurde vom höherqualifizierten Facharbeiter abgelöst, dessen Arbeit aus „Überwachen,
Steuern, Optimieren“ [ebd., 54] bestand. Rationalisierung und Marginalisierung führten zu Arbeitslosigkeit
und zu einem Gefühl existenzieller Unsicherheit; die Arbeitsmigranten waren davon in besonderem Maß
betroffen. Die Reform und Expansion des Bildungswesens sollten auf den Übergang in eine neue Ära des
Kapitalismus vorbereiten; die lange Tradition technischer Fach- und Fachhochschule in Deutschland sowie
das industrienahe, duale Ausbildungssystem zeigten sich hierbei als vorteilhaft, doch stellte Deutschland
unter den westeuropäischen Ländern eher eine Ausnahme dar. Durch die Expansion der
Bildungseinrichtungen entstand ein großer öffentlicher Sektor, dessen „arbeitsrechtliche und sozialpolitische
Privilegien“ [ebd., 57 f.] die dort beschäftigten Menschen vor den Turbulenzen und Instabilitäten des
Arbeitsmarkts schützten. Die Zahl der Beschäftigten nahm insbesondere im sozialen und öffentlichen Dienst
in den Jahren von 1970 bis 1985 zu; von allen Dienstleistungssektoren verzeichnete genannter Sektor
zwischen 1960 und 1990 den größten Zuwachs in den westeuropäischen Ländern.
Auf die sozialliberale Hegemonie des Fordismus folgte die Epoche des Finanzkapitalismus, welche durch die
Verlagerung der Wertschöpfung weg von der Industrie hin zu den Finanzmärkten charakterisiert ist. Die
damit zusammenhängende Entfesselung der Finanzmärkte durch die Politik und die neoliberalen think
thanks stellte einen, aus systemischen Gründen notwendigen Schritt dar: Den Finanzmärkten wurde vor
dem Hintergrund des fordistischen Zusammenbruchs implizit die Aufgabe aufgetragen, die Reproduktion
des Systems zu sichern und die dazugehörige Ideologie von Wachstum und Fortschritt zu gewährleisten.
Wert wurde und wird seitdem durch die Auslösung von Schuldzyklen produziert, da die Realwirtschaft
keine großflächigen Investitionsmöglichkeiten mehr für die kapitalistische Produktionsweise bietet. Die
Monetarisierung der Welt durch eine global agierende Kreditökonomie ermöglichte den kapitalistischen
Gesellschaften wieder, sich zu reproduzieren. Das fordistische Akkumulationsmodell wurde durch ein neues
Akkumulationsmodell abgelöst, welches in der Finanzsphäre lokalisiert ist und bis zum heutigen Tag zu
funktionieren scheint – abgesehen von den regelmäßigen Finanzkrisen. Die hegemonialen Strukturen
moderner finanzkapitalistischer Gesellschaften scheinen zu keinem Zeitpunkt in fundamentaler Weise
gefährdet [vgl. Quent et. al, 2016]; das Wachstumsparadigma und der Fortschrittsglaube bestimmen
weiterhin relevante Teile von Politik, Ökonomie und Gesellschaft [vgl. Lukas, 2013].
Literaturverzeichnis
Beck, Ulrich. Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 1993.
Doering-Manteuffel, Anselm und Lutz Raphael. Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte
seit 1970. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012.
Hirsch, Joachim und Roland Roth. Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-
Fordismus. Hamburg: VSA, 1986.
Luks, Fred. Die Zukunft des Wachstums. Theoriegeschichte, Nachhaltigkeit und die Perspektiven einer
neuen Wirtschaft. Marburg: Metropolis, 2013.