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Festschrift für Otto Pöggeler
zum 70. Geburtstag
Kultur - Kunst - Öffentlichkeit
Philosophische Perspektiven auf
praktische Probleme

Herausgegeben von
Annemarie Gethmann-Siefert
und Elisabeth Weisser-Lohmann

Wilhelm Fink Verlag


PVA
2001. Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.

5870 Umschlagabbildung:
Rolf Gutbrod, Entwurf für den Neubau der Berliner Gemäldegalerie, 1968.
Museumsfoto Gemäldegalerie Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme


Kultur - Kunst - Öffentlichkeit: philosophische Perspektiven auf praktische Probleme ;
Festschrift für Otto Pöggeler zum 70. Geburtstag / Hrsg.: Annemarie Gethmann-Siefert;
Elisabeth Weisser-Lohmann. - München : Fink, 2001
ISBN 3-7705-3609-6

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.


Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und
der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung
einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung
und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien,
soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.

ISBN 3-7705-3609-6
© 2001 Wilhelm Fink Verlag, München
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn

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INHALT

Vorwort 7
Einleitung 9

I. ÖFFENTLICHKEIT

HERMANN LÜBBE
Modernisierung und Folgelasten. Kulturelle Aspekte 21

O T T O PÖGGELER
Kultur, Kunst, Öffentlichkeit 37

H E N N I N G BOCK
Kunstpräsentation im Wandel 47

II. KULTUR

A. Die praktischen Grundlagen kultureller Selbstverständigung

LUDWIG SIEP
Hegels Holismus und die gegenwärtige Sozialphilosophie 69

ERZSEBET RÖZSA
Bildung und der »rechtschaffene Bürger« 81

WALTER SCHWEIDLER
Spengler und der moderne Begriff der Kultur 95

ORRIN SUMMERELL
Dianoetische Tugend in der existenzialen Analytik? 115

STEPHANE MOSES
Rosenzeig und Levinas: Jenseits des Krieges 127

B. Die hermeneutische Reflexion auf Geschichte und Kultur

FRIEDRICH WILHELM VON HERRMANN


Heideggers Grundlegung der Hermeneutik 143
HELMUT VETTER
Heidegger im Kontext der dialogischen Philosophie - mit Blick auf E. Griesbach . . 157

T H E O D O R E KISIEL
Gibt es eine formal anzeigende Hermeneutik nach der Kehre? 173

FRITHJOF R O D I
Probleme mit der »Zugehörigkeit« - Zum Geschichtsbegriff des Grafen Yorck. . . 181

CHRISTOPH DEMMERLING
Vom Sein des Sinns. Überlegungen zu einer hermeneutischen
Philosophie der Sprache 193

ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT
Hegel, Heidegger und die Griechen 207

III. KUNST

WALTER BIEMEL
Der Künstler als Herrscher: Picasso 225

KLAUS VIEWEG
Romantische Ironie als ästhetische Skepsis. Zu Hegels Kritik am Projekt
einer »Transzendalpoesie« 249

M O N I K A SCHMITZ-EMANS
Literarische Bilder-Bücher als imaginäre Museen 265

KARL LEIDLMAIR
Computertechnik und Kunst 279
Vorwort

Der vorliegende Band enthält Vorträge und Diskussionsbeiträge zu einem Kolloquium


anläßlich des 70. Geburtstags von Herrn Professor Dr. Otto Pöggeler. Das Kolloquium
wurde durch die Fritz Thyssen Stiftung und die FernUniversitat Hagen ermöglicht, die
Publikation des vorliegenden Bandes von der Fritz Thyssen Stiftung unterstützt. Bei-
den Institutionen sei für die Chance zu philosophischer Arbeit gedankt. Den Teilneh-
mern des Kolloquiums danken wir für eine kooperative Diskussion der philosophi-
schen Probleme, deren Bearbeitung Otto Pöggeler in zahlreichen Publikationen ange-
regt hat, und vor allem für den Versuch, über das Kolloquium hinaus in der vorliegen-
den Publikation Lösungen aktueller und historisch interessanter Probleme des
Themenbereichs Kultur - Kunst - Öffentlichkeit zu entwickeln, für die Publikation zu
Verfügung zu stellen und damit unser Anliegen zu stützen, die öffentliche Relevanz
philosophischer Arbeit unter Beweis zu stellen.
Einleitung

Betrachtet man Kultur, Kunst und Öffentlichkeit unter philosophischer Perspektive, so


zeigen sich diese Sphären weniger als voneinander isolierte Formen menschlicher
Selbstverwirklichung, vielmehr wird der immanente Bezug dieser Lebensbereiche her-
ausgestellt. Kultur bestimmt sich als das Ensemble menschlicher Naturbewältigung
und ihrer Resultate, deren Werden und Gewordensein auch zukünftige Gestaltungs-
möglichkeiten freigeben soll. Kunst erscheint nicht als isoliertes Kulturphänomen, son-
dern wird thematisierbar im Hinblick auf ihre Repräsentanz und Relevanz in und für
das kulturelle Selbstverständnis des Menschen. Unter dieser Perspektive erweist sich
ihre spezifische Form der Öffentlichkeit als Repräsentation eines anschaulich vermit-
telten geschichtlichen Selbstverständnisses und als Sicherung eines gemeinsamen Le-
bens- und Traditionsraumes. Kunst gewinnt eine praktische Funktion im Selbstver-
ständigungsprozeß kultureller Gestaltung. Öffentlichkeit erweist sich durch die philo-
sophische Problematisierung nicht mehr bloß als die Allpräsenz des Vorhandenen, son-
dern wird zu einem »praktischen Problem« unter der Hinsicht, daß Öffentlichkeit als
Kulturgestaltungsfaktor verantworteter Organisation bedarf. Die hier angesiedelten
praktischen Probleme sind die Gestaltung der Bildung und das Bemühen um ein Ver-
ständnis des Sinns wie des Lebensraums der Geschichte.
Die Komplexität dieses Themas, die gegenseitige Implikation der Bereiche und des
jeweiligen Begriffs von Kultur, Kunst und Öffentlichkeit unter der hier gewählten phi-
losophischen Perspektive auf praktische Probleme nötigt zu einer weiteren Präzisie-
rung der hier intendierten Problemkonstellation. Dabei ist auch die Legitimität der
Konzentration auf praktische Probleme zu rechtfertigen, setzt man die philosophische
Reflexion doch üblicherweise mit der Lebensfremdheit einer Theoretisierung der Welt
aus dem »Elfenbeinturm« gleich. Diese Verortung der Philosophie wie die Bestimmung
ihres Sinnes und ihrer spezifischen Leistungsfähigkeit im Problemfeld »Kultur - Kunst
- Öffentlichkeit« wird in den Beiträgen dieses Bandes jeweils durch die Akzentuierung
bestimmter philosophischer Positionen implizit mitentschieden und weist sich in der
gewählten Problemexposition aus.
Da die folgenden Überlegungen mit der Thematisierung der Öffentlichkeit einen
Rahmen geschaffen haben, der sowohl die Trias »Kultur-Kunst-Öffentlichkeit« als
auch Kunst und Kultur jeweils konzentriert auf praktische Probleme reflektiert, wird
aus systematischen wie präsentationstechnischen Gründen dem Aspekt der öffentli-
chen Präsenz philosophischer Vernunft und der Thematisierung ihrer unterschiedli-
chen Wirkungsbereiche der Vorrang eingeräumt.
»Öffentlichkeit« - für Kant unter dem Begriff der »Publizität« Bedingung für die
»Einhelligkeit der Politik mit der Moral« - gehört zu den konstitutiven Faktoren mo-
derner Gesellschaften, insofern die Partizipation an dem »allgemeinen Willen« allein
unter der Bedingung möglich ist, daß jedermann zu den das Allgemeine betreffenden
Entscheidungen und Handlungen Zugang hat. Die Notwendigkeit, diesen Zugang für
einen fundamentalen Bereich moderner Lebenswelt, dem der Wissenschaft, bereitzu-
stellen, zeigt sich in der zunehmenden Schwierigkeit, die in der (naturwissenschaftli-
chen) Forschung geschaffene Wirklichkeit in einem wissenschaftlichen Weltbild allge-
in EINLEITUNG

mein zugänglich zu machen. Denn die wissenschaftlichen Weltbilder sind, wie


mann Lubbe in seinem Beitrag zur kulturellen Relevanz der Modernisierung und (ihrer)
Folgelasten zeigt, einem eminenten Bedeutungswandel unterworfen. Dieser Wandel er-
weist sich als Bedeutungsverlust, damit als »Folgelast des Modernisierungsprozesses«.
Der Grund hierfür ist: Je mehr die Wissenschaften sich über ihren tatsächlichen Fort-
schritt in die Dimension des »Sehr-Großen« oder »Sehr-Kleinen« hineinarbeiten, d.h.,
je mehr sie sich von der Lebenswelt entfernen, desto weniger kann ausgemacht werden,
welche Konsequenzen es hat, ob wir uns an den heute oder an den gestern gültigen wis-
senschaftlichen Weltbildern orientieren. Es kann lebenspraktisch nicht viel von dem ab-
hängen, was zwar heute gilt, morgen aber schon nicht mehr gilt. Weltbildentwurfe und
Reflexionen verlieren ihre Brisanz, weil und insoweit sie praktisch konsequenzlos blei-
ben. Diese Entwicklung hat Folgen für die Legitimationsstruktur der Wissenschaft. Ge-
genwärtig dominiert das »wissenschaftspraktische Legitimationsprinzip der Relevanz«
die »Curiositas« als das allgemeinere und allgemein plausible Stimulans wissenschaftli-
cher Untersuchungen. Für die Schaffung von Öffentlichkeit bleibt auch die zweite
»Folgelast« nicht ohne Konsequenzen. Die Wendung zum »Sehr Großen« bzw. »Sehr
Kleinen« führt zu einer Schrumpfung der Gegenwart wissenschaftlich gesicherter und
damit verläßlicher Orientierung mit der Folge einer Überforderung des historischen
Sinns. Eine hohe Dichte von Innovationsmengen pro Zeiteinheit macht es zunehmend
schwieriger, aus der Mannigfaltigkeit des Wißbaren und Gewußten Verläßliches zu fil-
tern. Der Bestand des Wissens wird für den Einzelnen, damit für die Summe der Rezi-
pienten wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse zum Nicht-mehr-Rezipierbaren, zum
Unbekannten. Das Unbekannte aber ängstig. Die Folge ist, daß die Zivilisation nicht
mehr vom aufklärerischen Impetus der Macht der Vernunft und des Wissens getragen
ist, sondern sich zu einer angstbekundungsbereiten Zivilisation gewandelt hat:
Schreckensutopien lösen die Heilsutopien der Vergangenheit ab.
Eine weitere Hypothek für die Konstitution von Öffentlichkeit in modernen Gesell-
schaften bildet die dritte Konsequenz des Modernisierungsprozesses, der Verlust kul-
tureller Homogenität. Die Existenz der Massenmedien führt - folgt man der Deutung
Lübbes - keineswegs wie gemeinhin befürchtet zu einer Nivellierung des geschichtli-
chen Bewußtseins. Vielmehr tragen die Massenmedien in besonderer Weise zur kultu-
rellen Differenzierung bei. Entscheidend für die Dissoziation moderner Gesellschaften
ist allerdings noch ein weiterer Aspekt. Aus systemtheoretischen Gründen kann Infor-
mation produktiv nur dann aufgenommen werden, wenn diese Information in Hand-
lungszusammenhänge integriert wird. Die Fähigkeit aber, aus einer Masse von Infor-
mationen die für die Handlungszusammenhänge relevanten auszulesen - die Fähigkeit
des Eklektikers -, ist als Maßstab moderner Bildung nicht jedermann einsichtig zu ma-
chen, geschweige denn selbstverständlich verfügbar. Diese Unfähigkeit zur gezielten
Auslese ist die Ursache des Verlustes kultureller Homogenität. Lübbes Fazit auch die-
ser Überlegungen ist bedrückend: Die Folgelasten des Modernisierungsprozesses re-
stringieren als Kosten des Fortschritts den zivilisatorischen Gesamtprozeß von einem
Fortschreiten auf ein Abnehmen. »Öffentlichkeit« als zentraler konstitutiver Faktor
des praktisch-relevanten Wissens moderner Gesellschaften, die Übersetzung begründe-
ten Wissens in begründendes, in Orientierungswissen wird erschwert, wenn nicht un-
möglich.
EINLEITUNG 11

Neben den in und durch die (Natur-)Wissenschaft konstituierten Weltbildern, die


nach der Auflösung gemeinsamer religiöser Verbindlichkeiten maßgeblich ein gemein-
sames, für alle und jedermann zugängliches Wissen, also eine kulturell relevante »Öf-
fentlichkeit« herzustellen hatten, kam der Bildung in der Vergangenheit eine den (Na-
tur-)Wissenschaften vergleichbare Funktion zu. In seinem Beitrag Kultur, Kunst,
fentlichkeit erinnert Otto Pöggeler daran, daß unser Staat nicht nur in der Gegenwart
sondern in der Vergangenheit schon einmal vor die Aufgabe gestellt war, eine neuge-
wonnene Einheit durch »Öffentlichkeit« zur Gemeinsamkeit werden zu lassen. Der
Rückgriff auf eine eigene Geschichte, in der die Gemeinschaft ihren Ursprung und Bil-
dungsprozeß erfahren konnte, war bereits in dieser Situation verwehrt. Preußen ver-
mochte nicht wie andere europäische Staaten auf einer eigenständigen Tradition aufzu-
bauen; »Intelligenz« und »Geist« mußten - so Hardenberg - an die Stelle von Tradition
treten. In einer gemeinsamen Bildung und einer effizienten Verwaltung sollte für Preu-
ßen diese Einheit öffentlich, d.h. zum tragenden Grund der Konstitution einer Ge-
meinschaft werden.
Pöggeler rekonstruiert mit Hegels Reflexionen zur politischen Verfassung und sei-
ner Integration der Kunst wie der Religion in die Repräsentation der bürgerlichen Welt
und ihres Selbstverständnisses eine Bestimmung der Konstellation »Religion«, »Kunst«
oder Bürgersinn, die - später an Heidegger oder die Hermeneutische Philosophie an-
knüpfend - bis heute diskutiert wird. Die Grundfrage, ob Religion und Kunst in der
aufgeklärten wie der gegenwärtigen Welt zu den Institutionen des Staates zu rechnen
sind, in der er dem Bürger seine Geschichte repräsentiert, oder ob sie nur eine Privat-
sprache sprechen ohne Anspruch auf öffentliche Anerkennung ist kontrovers und
zeigt, wie problematisch auch Kunst und Religion für die Konstitution von Öffentlich-
keit geworden sind.
Ausdruck für die Fragwürdigkeit speziell der Kunst in Bezug auf ihre öffentliche
Relevanz sind die Diskussionen und Kontroversen, die seit dem 19. Jahrhundert die
Präsentation von Kunst in den Museen begleiten. Henning Bock verweist in seinem
Beitrag über die Kunstpräsentation im Wandel darauf, daß der vielleicht folgenreichste
Wandel des Museums herkömmlicher Art einen Wandel des gesellschaftlichen An-
spruchs an die Kunst widerspiegelt. Diese Entwicklung läuft über die bildungspoliti-
schen Aufgaben der öffentlichen Museen bis hin zur Zurechnung des Instituts Museum
zu einem »gehobenen Bereich der Freizeitindustrie«. Wie Bock an gegenläufigen Muse-
umskonzeptionen demonstriert, hat die Entlassung der Museen aus den Pflichten des
Staates, die Übergabe dieser Institution in privatwirtschaftliche Hände erhebliche Kon-
sequenzen für das Selbstverständnis und den Wirkungskreis der Institution »Museum«,
das sich zunächst als Instrument der öffentlich wirksamen Selektion relevanten Kultur-
gutes verstand. In neuerer und neuester Zeit ist nicht nur die Kunst in stetem Wandel
begriffen, sondern auch die Konzeptionen ihrer öffentlichen Präsentation. Exempla-
risch rekonstruiert Bock die gegenläufigen Einrichtungen des Bodischen Renaissance-
museums und des Pergamonmuseums auf den Hintergrund der Kontroverse zwischen
Wilhelm von Bode und Hugo von Tschudi als den Gegensatz zwischen historischer,
auf die Vermittlung des historischen Kontextes orientierter Präsentation und ästheti-
scher Komposition, die über den Genuß des empfänglichen Betrachters die Erkenntnis
fördert. Diese für die Zeitgenossen unlösbare Kontroverse löst sich auf der Zeitschiene.
12 EINLEITUNG

Der durch die »Dynamisierung der Moderne« unumgängliche Vertrautheitsschwund


ermöglicht es, daß unterschiedliche Konzepte der Kunstpräsentation »mit Erfolg
gleichzeitig existieren«, weil die Variationen der Präsentation eine »ausgleichende Hin-
wendung zu den Traditionswelten« eröffnen.
Die Überlegungen zur Konstitution und praktischen Bedeutung von »Öffentlich-
keit« zeigen an wesentlichen Momenten der Kultur und speziell der modernen Kultur
die Relevanz des in die geschichtliche Praxis umgesetzten Wissens, das vom allgemei-
nen im Sinne des in seiner Geltung ausgewiesenen Wissens zum allgemeinen im Sinne
des allen verfügbaren verläßlichen Wissens werden muß. Zugleich zeigt sich, wie wenig
die Momente der Trias »Kultur-Kunst-Öffentlichkeit« voneinander isoliert sind. Denn
die praktische Bedeutung der »Öffentlichkeit« gesicherter Orientierung, von der die
Beiträge dieses Bandes ausgehen, setzt ein ebenfalls geschichtlich entwickeltes Ver-
ständnis von Kultur voraus.
Als ein eigenständiges Thema der Philosophie etablierte sich die Reflexion über Kul-
tur erst im Zusammenhang geschichtsphilosophischer Konzeptionen. Unter Kultur ist,
so könnte man generell feststellen, das vom Menschen der Natur zum Zweck seiner
Vervollkommnung Hinzugefügte zu verstehen. In diesem Sinn definiert Kant Kultur
als die »Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken, wozu die Natur von
ihm (sc. dem Menschen) gebraucht werden könne« (Kritik der Urteilskraft, § 83). Kul-
tur ist für Kant Ausdruck und Resultat der autonomen Selbstbestimmung und Verant-
wortlichkeit des Menschen. In Abgrenzung von Kants Deutung der Kultur als autono-
mer Selbstrealisation entwickelt Herder einen Kulturbegriff, in dem es weniger um Be-
urteilung vollzogener Selbstrealisationen als um ein Verstehen der jeweiligen Kulturen
aus ihren eigenen Prinzipien geht. Führt Kants Ansatz über die Rechtsbestimmung und
die Staatsverfassung zu einem normativen Kulturbegriff mit kritischer Kompetenz, so
bleibt Herders Kulturbegriff tendentiell eher immanent-deskriptiv auf einzelne Kultu-
ren bezogen, ohne daß aber die Idee eines allgemeinen Fortschritts preisgegeben wer-
den müßte.
Kultur läßt sich im philosophischen Blick auf praktische Probleme nur in der Span-
nung dieser Zugangsweisen fassen: normativ unter der Frage ihrer Tauglichkeit zur Er-
füllung ihres primären Zweckes - der Selbstverwirklichung des autonomen Menschen
und einer diesem Zweck entsprechenden Einrichtung (Institution) der Lebenswelt -
und deskriptiv im Sinne einer »pragmatischen Geschichtsschreibung« wie Hegel sie in
Weiterführung der Aufklärung forderte, nämlich einer Geschichtsbetrachtung unter
der Perspektive der Bildung, des für die geschichtliche Entwicklung notwendigen un-
voreingenommenen Lernens vom Anderen, Fremden sowohl auf der Zeitschiene un-
terschiedlicher Epochen, als auch auf der der Koexistenz der Kulturen. Es geht daher in
den Beiträgen des zweiten Teils dieses Bandes, in der Frage nach den praktischen
Grundlagen kultureller Selbstverständigung und in der Analyse der hermeneutischen
Reflexion auf Geschichte und Kultur, um Versuche, die in diesem Spannungsfeld des
doppeldeutigen Kulturbegriffs angesiedelten Deutungsprobleme der geschichtlichen
Lebenswelt zu gewichten.
Der historische Rückgriff, der sich an Hegels wie an Heideggers philosophischem
Ansatz affirmativ oder kritisch orientiert, zielt nicht auf eine Deutung großer Denker,
auch nicht auf eine Beschränkung des Geschäfts der Philosophie auf die Auslegung
EINLEITUNG 13

vorhandener Problemaufrisse oder Lösungen. Vielmehr wird mit dem im Blick auf die
Geschichte und Gestaltungsform der Philosophie aufgegriffenen Verständnis von Kul-
tur und Geschichte in bestimmter historischer Färbung die Tragfähigkeit der »Perspek-
tiven auf praktische Probleme« erhärtet. Geschichte als komplexes Situationsgefüge
menschlicher Interaktion und deren Institutionalisierung erscheint nicht allein als das
Auszulegende, sondern die begrifflich differenzierenden Analysen verstehen sich als
Beiträge zu bzw. verdanken sich einem Verständigungswillen im Sinne menschlicher
Selbstverwirklichung. Dafür steht sowohl das systematische Interesse an der enzyklo-
pädisch erschlossenen Kulturgeschichte qua Menschenwerk (sc. als Geistesgeschichte)
bei Hegel als auch der phänomenologisch-hermeneutische Ansatz Heideggers. Beide
verschreiben sich in unterschiedlicher Weise der fundierenden Rückfrage nach dem
konkreten Dasein. Belegt ist dies in der Frage Hegels, wie man durch die Philosophie
»fürs Leben lernen« könne, und in der methodischen Einsicht Heideggers, daß es kei-
nen »rein« theoretischen Ansatz der Philosophie, kein »rein« destillierbares Funda-
ment des Denkens gebe. Denken ist Moment und Motor geschichtlicher Lebenswelt
bzw. der Kultur. Die »praktischen Probleme« eröffnen damit nicht nur eine auch und
neben Wichtigerem mögliche, sondern die formal wie inhaltlich notwendige Perspekti-
ve der Philosophie.
Die Reflexionen über die praktischen Grundlagen kultureller Selbstverständigung
und deren Konsequenzen stützen sich durch den Rückgriff auf Hegel auf einen philo-
sophischen Ansatz, der beide Dimensionen von Kultur, ihre normativ-praktische wie
die deskriptiv-geschichtlich orientierte Bedeutung berücksichtigen will. Ludwig Siep
fragt in seinem Beitrag Hegel und die gegenwärtige Sozialphilosophie in Anknüpfung
an Hegel nach einer tragfähigen Konzeption für das Verständnis moderner Gemein-
schaftsformen und konzentriert sich auf den holistischen Aspekt des Hegeischen An-
satzes, der die Rechtsphilosophie in den Kontext einer systemtheoretischen Sozialphi-
losophie (Luhmann) rückt. Systeme werden nicht ausgehend von Individuen sondern
durch ganzheitliche Leistungen beschrieben. Mit diesem Ansatz gelingt Hegel die Re-
konstruktion der politischen und sozialen Existenz des Menschen. Es ist, so Siep, der
Vorzug dieses Modells gegenüber einem transzendental-deduktiven Vorgehen, wie es
von O. Hoffe in Anspruch genommen wird, daß politische, soziale Interessen und Di-
mensionen zugleich erfaßt werden können. Die Schwierigkeiten im Rahmen eines ho-
listischen Ansatzes die Eigenständigkeit von Normen oder subjektivem Handeln her-
auszuarbeiten, vermag die Bedeutung, die der Bildungsgedanke im Rahmen dieser
Konzeption gewinnt, zu veranschaulichen.
Erzsebet Rösza rekonstruiert in ihrer Untersuchung Bildung und der
ne Bürger^ das Anliegen Hegels, den Ort der Bildung in den modernen sozialen, wirt-
schaftlichen und politischen Strukturen und der ihnen entsprechenden Lebensformen
aufzuweisen. Für den Bildungsbegriff ist zunächst entscheidend, daß Hegel Bildung als
Vereinigung von theoretischem und praktischem Verhalten bestimmt. Sie ist die Wis-
sensform, mit der sich das Subjekt die ihm zuerst äußerlich und fremd erscheinende
Kultur einprägen kann, um sie als eigene Lebenswelt hervorzubringen. Bildung als
Identifikationsprozeß zwischen der besonderen Subjektivität und der Sittlichkeit im
modernen Kultur- und Lebenszusammenhang impliziert eine Umdeutung des Kultur-
begriffs wie der Bestimmung des handelnden Individuums.
14 EINLEITUNG

Auf die Weiterungen des Kulturbegriffs geht Walter Schweidler in seiner Auseinan-
dersetzung mit Spengler (Spengler und der moderne Begriff der Kultur) ein. Schweidler
setzt dem neuzeitlichen einen »modernen« Kulturbegriff entgegen. Bereits der neuzeit-
liche Begriff der Kultur konstituiert sich aus dem doppelten Gegensatz zu einem ent-
sprechenden Naturbegriff als dem Inbegriff der Gesetze und Kräfte und zur antiken
Konzeption von Natur wie Kultur, die als eine Entfaltung der natürlich angelegten
Möglichkeiten einen »akzidentiell-pluralen« Sinn gewinnen. Die Neuzeit hingegen
kennt aus der Konsequenz ihrer Naturkonzeption nur eine »substantiell-universale«
Verwendung des Kulturbegriffs: Kultur als Fortschritt, als Zustand der Menschheit be-
nennt mit dem Spezifikum eines Handlungsresultats (nicht der wesensmäßigen Entfal-
tung) ein universales Ziel der Menschheit. Kulturdifferenzen werden zu Fortschritts-
differenzen. Gegen diesen neuzeitlichen Kulturbegriff setzt Schweidler unter Berufung
auf Spengler eine Neudefinition, einen »modernen« Kulturbegriff, der in die Lage ver-
setzt, Substantialität und Differenz der Kulturen zu denken. Gelungene Versuche,
einen solchen Kulturbegriff, der an Pluralität und Substantialität festhält, auf eine
objektive Grundlage zu beziehen, entdeckt Schweidler in Spenglers Begriff der Land-
schaft und Watsuji Tetsuros Begriff des Klimas. Diese markieren entscheidende Kreuz-
punkte zwischen Ich, Wir und Welt, die in der Vergangenheit am Kulturbegriff über-
sehen wurden.
Die folgenden Überlegungen, die zur hermeneutischen Interpretation von Ge-
schichte und Kultur im zweiten Abschnitt des zweiten Teils dieses Bandes überleiten,
akzentuieren ein fundamentales Problem des hermeneutischen Ansatzes, nämlich den
drohenden Verlust des normativen, damit eines konstitutiven Elements im Kulturbe-
griff. Dies Problem läßt sich in der Konfrontation der Heideggerschen Daseinsanalytik
mit dem aristotelischen Gedanken der dianoetischen Tugenden verdeutlichen. Omn
Summereil weist in seinem Beitrag Dianoetische Tugenden in der existentialen Analytik
den für den Verlust des normativen Elements typischen Übergang von der Tugendlehre
als einer praktischen zur Daseinsanalytik als einer theoretischen Disziplin anhand der
von Heidegger zum Gewissen umgedeuteten Tugend der Phronesis nach. Für Aristote-
les bestimmt die Phronesis das Handeln in einer Situation in Beziehung auf ein Gut,
während sich das Gewissen bei Heidegger auf das Dasein vor jeder faktischen Hand-
lung bezieht. In der Frage nach dem Ganzsein des Daseins löst Heidegger Ethik in On-
tologie auf.
Dieser Auflösung der Ethik bei Heidegger setzt Franz Rosenzweig die Konzeption
einer Ethik entgegen, die auf den Begriff einer ursprünglichen Subjektivität gegründet
ist. Stephane Moses rekonstruiert in seinem Beitrag Rosenzweig und Levinas: Jenseits
des Krieges diesen Ansatz. In diesen Überlegungen wird die Todesangst zum konstitu-
tiven Element einer dialogischen Ethik. In der Angst erfährt der Mensch seine primor-
diale Autonomie, erreicht damit seine Identität als »meta-ethisches« Selbst. Da das Ich
sich zugleich aber nur in der Antwort auf den Anruf eines Du selbst findet, kann die
Ethik nicht im Kantischen Sinn als die Beziehung eines autonomen Subjekts auf das
moralische Gesetz rekonstruiert werden, sondern ist wesentlich durch Heteronomie
mitbestimmt. Da die dialogische Beziehung durch die Asymmetrie eines der Ich-Per-
spektive vorgängigen Du bestimmt ist, wird diese Struktur auch für die Ethik maßgeb-
lich, und zwar als die Unterordnung unter ein Gebot als die Unterwerfung unter ein
EINLEITUNG 15

anderes. Ebenso wie in der dialogischen Existenz als ganzer ist aber auch diese Bezie-
hung des heteronom bestimmten Subjekts zum Gebot konstitutiv für die Identität des
Subjektes als meta-ethisches Selbst.
Zwar lassen sich diese beiden Versuche zur Ethik in dem Sinn als komplementär ver-
stehen, daß die Heidegger vorgeworfene Ausblendung des Mitseins zurückgenommen,
damit die praktische Perspektive in der Begründung einer Ethik aus der Befindlichkeit
des Daseins wieder thematisiert, die ontologische Auflösung der Ethik zurückgenom-
men wird. Dennoch bleibt auch Rosenzweigs Versuch, setzt man seine Bestimmung
der dialogischen Ethik in Bezug zu einer Konzeption der geschichtlichen Kultur
menschlicher Lebensgemeinschaften, zu abstrakt. Kultur erscheint lediglich - theore-
tisch strukturell - als das das Subjekt konstituierende Andere im Sinne einer Fülle von
Handlungsgeboten. So bleibt die normative Dimension auf die durch Heteronomie ge-
prägte Interaktion von Individuen beschränkt. Die zweite Möglichkeit der Kultur, die
Freisetzung zu Handlungsoptionen, wird von diesem Ansatz einer Ethik im dialogisch
Inter-personalen aus nicht erreichbar. Kultur als Inbegriff möglicher und faktisch reali-
sierter Interaktion ist dem Begründungsmodell ethischer Normen entzogen.
Eine Revision dieses Bedeutungsverlustes von Kultur läßt sich, wie die folgenden
Beiträge zur Auseinandersetzung mit Heidegger zeigen, allein über die Analyse des
Geschichtsbegriffs auf der Basis des fundamental ontologischen Ansatzes gewinnen.
Eine systematische Analyse der epistemologischen Bedingungen geschichtlicher Er-
kenntnis leisten die Überlegungen von Friedrich Wilhelm von Herrmann zu
gers Grundlegung der Hermeneutik und Helmut Vetter über Heidegger im Kontext
der dialogischen Philosophie. Die Hermeneutik - ein methodisches Element der Funda-
mentalontologie - ist abgeleitet von dieser Bedeutung zugleich eine Hermeneutik der
geschichtlichen Welt und ihres Verstehens. Texte und Werke sind gewordene existenti-
elle Daseinsmöglichkeiten des geschichtlichen In-der-Welt-seins und lassen sich me-
thodisch wie diese erschließen. Außerdem, so führt H. Vetter diese Überlegungen in
Anknüpfung an Heideggers letzte Marburger Vorlesung aus dem Jahr 1926 weiter, ist
der Egoismuseinwand gegen die Daseinsanalytik nicht triftig, da diese nicht dem (ver-
einzelten) Individuum, sondern dem Wesen von Selbstheit gilt. An diese ontologische
Konzeption von Selbstheit kann die dialogische Philosophie anknüpfen, wobei Vetter
bei Heidegger selbst die Möglichkeit einer Gleichursprünglichkeit von Egoität und
Selbstsein entdeckt, die der Dialogizität zugrunde liegt. Eine weitere Perspektive gilt
der mit der phänomenologischen Hermeneutik im Sinne von Sein und Zeit möglich ge-
wordenen Grundlegung einer Geschichtsphilosophie. Theodore Kisiel verfolgt in sei-
nem Beitrag Gibt es eine formal anzeigende Hermeneutik nach der Kehre? den Begriff
der »formalen Anzeige«, der als wichtiges methodisches Instrument - O. Pöggeler hat
ihn als wahrhafte Logik des ganzen Denkweges apostrophiert - der Analysen von Sein
und Zeit eine entscheidende Rolle für die Bestimmung der Faktizität spielt. Kisiel ana-
lysiert die Bedeutung formal-anzeigender Begriffe als sprachlicher Zeichnung, die die
Jeweiligkeit des Daseins zu seiner geschichtlichen Allgemeinheit bringen können so-
wohl für Heideggers frühen Ansatz als auch für die Philosophie nach der sogenannten
»Kehre«. Auch die Sprache des Seins wird durch eine formal anzeigende Hermeneutik,
damit im Sinne allgemeiner Verstehbarkeit ausgelegt, obwohl sie gerade die Einmalig-
keit der jeweils eigenen Zeit und Geschichte indiziert.
16 EINLFITUNG

An einer konkreten historischen Situation greift Frithjof Rodi diese Problematik auf
und weist in seinem Beitrag Zum Geschichtsbegriff des Grafen Yorck zunächst auf Pa-
rallelen zwischen dem § 77 von Sein und Zeit und den Überlegungen Yorcks bzw. Dil-
theys hin. Ein für Heidegger wesentliches Moment der Geschichtsauffassung des Gra-
fen Yorck ist die Einsicht, daß Geschichtserkenntnis sich auf das Leben der Gegenwart
richtet, von dort ausgehend auf das der Erscheinung nach Vergangene, der Kraft (dyna-
mis) nach aber Aufrechterhaltende ausgreift. Nur letzteres gehört zum Bereich der Ge-
schichte im Vollsinn; der Blick auf das »Nur Vergangene« läßt Geschichte antiquarisch
werden. Indem Yorck die primordiale Lebendigkeit als in der Selbstempfindung er-
fahrbar aufweist, diese Erfahrung sich aber dirimiert in Ich und Anderes, wird die in
der Vereinzelung strukturierte Lebendigkeit in psychischen Strukturen und Funktio-
nen explikabel. Auf dieser Basis wird eine Verknüpfung der Geschichtsauffassung mit
der politischen Realität möglich.
Die Hinführung zu einer hermeneutischen Philosophie der Sprache als Alternative
zur gegenwärtigen Sprachphilosophie ist das Ziel des Beitrages Vom Sein des Sinns von
Christoph Demmerling. Sinn entsteht im Geschehen der Sprache (im Äußerungsge-
schehen). Als offenes und unabgeschlossenes Geschehen konstituiert dies zugleich die
Geschichtlichkeit sprachlichen Sinns in dem doppelten Sinn, daß Ausdrücke jeweils ei-
ne historische Bedeutungskomponente haben, aber auch jeweils konkreten Geschich-
ten zugehören. Sprache als geschichtliches Phänomen menschlichen Existenzvollzuges
läßt sich in der hermeneutischen Reflexion nur im Blick auf den situativen Kontext wie
die kulturelle Einbettung als ihren Horizont rekonstruieren.
In ihrem Beitrag Hegel, Heidegger und die Griechen rekonstruiert Annemarie Geth-
mann-Siefert anhand eines Hegel wie Heidegger gemeinsamen Themas, nämlich der
Bedeutung einer vergangenen für die gegenwärtige Kultur, Möglichkeiten, kulturelle
Repräsentationen - hier vordringlich im Kunstwerk - über Heidegger hinausgehend,
aber im Sinn seiner Überlegungen als ein historisch-deskriptives wie normativ-orien-
tierendes Verfahren zu deuten.
Der Brückenschlag von der Theoretisierung des Praktischen zurück zur integrativ
betrachteten Kultur, den die Kunst in diesen Überlegungen leistet, wird zum expliziten
Thema der Beiträge des dritten Teils dieses Bandes.
Für den hier gewählten Bezugsrahmen erscheint Kunst in der Perspektive ihrer
praktischen, kulturellen wie öffentlichen Funktion zugleich in ihrer produktions- wie
rezeptionsästhetischen Deutung. In der Gestaltung ihrer Präsentation und Repräsenta-
tion erscheint die Kunst überdies als Moment wie als Promotor geschichtlicher Bil-
dung und erfüllt damit die im Hegeischen Sinn aus der Geschichtsreflexion gewonnene
Orientierung auf den Menschen hin. Kunst wird deshalb in diesem Zusammenhang
erstens thematisiert als Versuch einer Ortsbestimmung zwischen »Autonomie« und öf-
fentlicher Wirksamkeit. Dies ist gleichsam die in der Reflexion auf die Kunst selbst ge-
wonnene aus der Produktions- wie Rezeptionsperspektive integrierte Betrachtungs-
weise. Kunst erscheint desweiteren - und dies ist die zweite hier relevante Perspektive -
in der Form ihrer kulturellen Präsenz und Repräsentanz. Der Repräsentationsrahmen
und seine Gestaltung zeigen Kunst als Kulturphänomen. Beide Aspekte bestimmen die
Überlegungen der Beiträge dieses dritten Teils und werden jeweils mit unterschiedli-
cher Akzentuierung entwickelt.
EINLEITUNG 17

In seinem Beitrag Der Kunstler als Herrscher analysiert Walter Biemel Picassos Kon-
zeption künstlerischer Weltgestaltung in der Phase seiner Auseinandersetzung mit dem
Kubismus. Biemel ergänzt Überlegungen Henry Kahnweilers dahingehend, daß nicht
allein die Entsprechung zur Sichtbarkeit - damit die bislang leitende Konzeption der
Nachahmung der Natur - umformuliert werden muß in eine künstlerische Re-Kon-
struktion von Seh- und Anschauungsstrukturen, sondern daß gleichursprünglich die
Kraft der Verwandlung das Werk des Künstlers bestimmt. Der Kubismus führt als das
(Er-)Finden einer neuen malerischen Darstellung daher zu einen neuem Selbstver-
ständnis der Kunst.
Die in die Kunstgestaltung selbst integrierte kritische Reflexion auf das künstleri-
sche Selbstverständnis steht auch im Zentrum der Beiträge von Klaus Vieweg über Ro-
mantische Ironie als ästhetische Skepsis und Monika Schmitz-Emans über Literarische
Bilder-Bücher als imaginäre Museen. In der Integration von Kunst und Reflexion -
bis hin zur methodisch durchgestalteten Reflexion der Philosophie - erweist sich die
poetische Artikulation diskursiver Anschauung als Möglichkeit einer reflektierten,
nämlich einmal einer ironisch-skeptischen, zum anderen einer durch die Vielfalt des
Historisch-Möglichen initiierten Infragestellung selbstverständlicher Weltanschauung.
Auf diese Weise knüpfen die selbst-reflexiven Überlegungen zur Funktion der
Kunst und die Hinweise auf den Durchschlag dieser funktionellen Selbstbestimmung
auf die jeweilige Kunstgestalt an die anfangs gestellte Frage nach der Öffentlichkeit
wieder an. In seinem Beitrag Computertechnik und Kunst entwickelt Karl Leidlmair
die neuen Perspektiven künstlerischer Präsentation zunächst auf der Basis der medialen
Bedingungen, dann in Anknüpfung an Heideggers Überlegungen zum In-der-Welt-
sein. Es zeigt sich dabei erneut, daß Kunst und Kunstpräsentation entweder - wie es H.
Bock darstellte - »im Wandel« bleiben, oder sie verlieren ihre Wirksamkeit in der De-
generation zu bloß musealer Präsenz im öffentlichen Leben. Zugleich wird die Frage
nach der kulturellen Bedeutung geschichtlicher Änderung und ihrer Folgelasten, mit
der H. Lübbe die Überlegungen dieses Bandes einleitete, in dieser Perspektive auf die
Kunst nochmals zu stellen sein. Ist nicht gerade die Kunst, sind nicht die Künstler, die
sich explizit der Aufgabe einer Auseinandersetzung mit der Tradition stellen, bereit
und in der Lage, eine sowohl reflektierte kritische als auch bewahrende Umgangsweise
mit der Tradition vorzuführen und in seiner Bedeutung für das geschichtliche Selbst-
verständnis eines jedermann plausibel zu machen?

Annemarie Gethmann-Siefert Elisabeth Weisser-Lohmann


I. ÖFFENTLICHKEIT

HERMANN LÜBBE
Modernisierung und Folgelasten. Kulturelle Aspekte

OTTO PÖGGELER
Kultur, Kunst, Öffentlichkeit

HENNING BOCK
Kunstpräsentation im Wandel
HERMANN LUBBE

Modernisierung und Folgelasten. Kulturelle Aspekte


»Modern« ist der Name eines Begriffs mit großer theoretischer Ladung. Die Geschich-
te dieses Begriffs ist wohlerforscht. Daraus ist hier nichts mitzuteilen. Vielmehr seien,
vorweg, analytisch drei geschichtsphilosophische Bedingungen vergegenwärtigt, die er-
füllt sein müssen, wenn die Regeln des üblichen, wissenschaftsinternen wie sonstigen
Gebrauchs des Prädikators »modern« und seiner bewegungsbezogenen Abwandlung
»Modernisierung« nicht verletzt werden sollen. Erstens finden Modernisierungen im
Kontext von Abläufen statt, die eine Richtung haben, so daß ephemere Zustände in
diesen Abläufen einigermaßen eindeutig temporal gemäß der Unterscheidung von
»früher« und »später« einander zugeordnet werden können. Im Kontext einer dynami-
schen Zivilisation muß man nicht Historiker sein, um solche temporalen Zuordnungen
vornehmen zu können. Jeder Nutzer technischer Geräte, der schon aus betriebswirt-
schaftlichen Gründen gezwungen ist, die richtungseindeutige Leistungssteigerung sol-
cher Geräte investiv zu berücksichtigen, kann das und der Kunstfreund desgleichen,
der gelernt hat, die Avantgarde - und sei es die Avantgarde von gestern - richtungsein-
deutig von derjenigen Kunst zu unterscheiden, von der die Avantgarde sich zukunfts-
orientiert abgesetzt hatte. Zweitens ist beim Gebrauch des Prädikators »Modernisie-
rung« vorausgesetzt, daß die gerichtete Bewegung, auf die man sich mit diesem Ge-
brauch bezieht, als überwiegend zustimmungsfähige, gar zustimmungspflichtige Bewe-
gung gilt, was nicht ausschließt, daß sie zugleich als kostenträchtig erfahren wird. Die
bekannten »Modernisierungsopfer« repräsentieren solche Kosten, menschliche Kosten
nämlich, die aber unbeschadet ihrer sogar wachsenden Auffälligkeit die überwiegende
Zustimmungsfähigkeit jenes Prozesses, deren Opfer sie sind, nicht dementieren. Drit-
tens ist ihre dominante Zustimmungsfähigkeit zwar nicht der einzige, aber ein beson-
ders wichtiger Faktor der Dynamik, mit der Modernisierungsvorgänge ablaufen. Ex-
klusiv kulturelle Evolutionen sind somit als Modernisierungsvorgänge auszeichnungs-
fähig. Über naturale Evolutionen modernisiert sich nichts, und zwar unbeschadet der
auch hier stets gegebenen Unterscheidbarkeit von Zuständen nach »früher« und »spä-
ter«. Aber auch kulturelle Evolutionen, die wir als Modernisierungsvorgänge feiern
und damit beschleunigen mögen, sind Evolutionen, das heißt Prozesse, die sich unbe-
schadet ihrer Gerichtetheit nicht als zielgerichtete Abläufe auffassen lassen. An kultu-
rellen Evolutionen sind wir, individuell, gruppenspezifisch oder institutionell, gewiß
handelnd beteiligt. Aber niemals läßt sich, was wir, individuell oder kollektiv, jeweils in
Abhängigkeit von unserer Herkunftsgeschichte sind, als das Resultat unseres tätigen
Willens zu sein, was wir sind, verständlich machen.

Soviel zu den geschichtstheoretischen Bedingungen der Verwendbarkeit des Moder-


nisierungsbegriffs, von dessen Folgelasten jetzt zu reden ist. Die Menge dieser Folge-
lasten ist Legion, und sie sind, sagen wir in Rousseauistischer Tradition bis hin zur po-
pulär gewordenen »Dialektik der Aufklärung«, Thema der Kulturkritik. Aus gutem
Grund finden heute, bis in den Schulunterricht hinein, die ökologischen Folgelasten zi-
vilisatorischer Modernisierungsvorgänge die größte Aufmerksamkeit. Andere Folge-
lasten wirken weniger aufdringlich und verändern nichtsdestoweniger unsere kulturel-
22 HERMANN LÜBBE

le Befindlichkeit tiefreichend und irreversibel. Vier solcher Folgelasten sollen hier zu-
nächst benannt und dann erläutert werden.
Worum handelt es sich also? Erstens: Kultureller Bedeutungsverlust wissenschaftli-
cher Weltbilder oder die Pragmatisierung der Forschungspolitik. Zweitens: Zukunfts-
gewißheitsschwund oder empirische Apokalyptik. Drittens: Gegenwartsschrumpfung
oder die Überforderung des historischen Bewußtseins. Viertens: Abnehmende kultu-
relle Homogenität oder die Ungleichheitsfolgen der Chancenegalität. - Soweit die
Kennzeichnung der fraglichen Folgelasten, an die sich ihre Erläuterung jetzt anschlie-
ßen soll.
Erstens somit: Kultureller Bedeutungsverlust wissenschaftlicher Weltbilder oder die
Pragmatisierung der Forschungspolitik. - Was »kultureller Geltungsverlust wissen-
schaftlicher Weltbilder« heißen soll, läßt sich vor dem Hintergrund einer wissen-
schaftskulturgeschichtlichen Lage anschaulich machen, in der die Kulturbedeutsamkeit
wissenschaftlicher Weltbilder, anders als heute, noch jedermann evident zu sein schien.
Die Epoche, in der das noch der Fall war, liegt nicht einmal weit zurück - erst gut ein-
hundert Jahre. Das lehrt uns exemplarisch ein Ereignis aus der preußischen Parla-
mentsgeschichte. Im Februar des Jahres 1883 fand im Abgeordnetenhaus des Preußi-
schen Landtags über zwei Tage hin eine lebhafte, schließlich erregte Debatte statt. Auf
der Tagesordnung stand der Etat des Kultusministers, näherhin der Universitätshaus-
halt. Aber nicht die Etatansätze, ihre überzogene oder zu geringe Höhe waren der Aus-
löser der Erregung, vielmehr das Faktum, daß ein preußischer Professor sich öffentlich
zur Deszendenztheorie Darwins bekannt hatte. Das war natürlich damals gar keine
Singularität. Aber der fragliche Professor war nicht irgendwer, vielmehr der Sekretär
der angesehensten Wissenschaftseinrichtung in Preußen, der hochberühmten Akade-
mie der Wissenschaften, überdies Rektor der kaum minder berühmten Friedrich-Wil-
helms-Universität zu Berlin, nämlich der inzwischen seinerseits weltberühmte Physio-
loge Emil Du Bois-Reymond. Wenn der Professor wissenschaftlichen Theorien anhän-
ge, die dem klaren Wortlaut der Heiligen Schrift widersprächen und dem Sinn des
ersten Glaubensartikels dazu, so sei das, fand der Hofprediger Stöcker, bei der in Preu-
ßen herrschenden Wissenschaftsfreiheit unbeachtlich, wenn anders der Professor seine
glaubenszersetzenden wissenschaftlichen Ansichten privatim bekenne. Aber Du Bois-
Reymond hatte seinen Darwinismus gerade nicht privatim kultiviert, vielmehr in einer
Gedenkrede auf Darwin bei der herausragenden Gelegenheit der Stiftungsfeier der
Akademie unter den Titel »Darwin und Kopernikus«. Das wissenschaftskulturhistori-
sche Resümee, das provozierend Du Bois-Reymond aus seinem Rückblick auf die Wis-
senschaftsgeschichte der Neuzeit zog, lautet im Zitat folgendermaßen: »Während das
Hl. Offizium des Kopernikus Anhänger mit Feuer und Kerker verfolgt, ruht Charles
Darwin in Westminster Abbey.«
Höher hinauf kann man den Wissenschaftsstolz schwerlich treiben, und die Provo-
kation, die das enthielt, reichte aus, die Debatte im Parlament eines großen europäi-
schen Staates für zwei volle Tage zu bestimmen und auf einen hohen Pegel der Erre-
gung zu treiben. An der vollständigen Unvorstellbarkeit, daß dergleichen sich auch ge-
genwärtig noch, gute hundert Jahre später, in irgendeinem Parlament in freien, hoch-
entwickelten Gesellschaften sich abspielen könnte, kann man ermessen, was sich
inzwischen geändert hat: Wissenschaftliche Mitteilungen über die Welt, in der wir le-
MODERNISIERUNG UND FOLGELASTEN. KULTURELLE ASPEKTE 23

ben, haben jeden kulturellen und religiösen Aufregungswert verloren. Der Grund ist
keineswegs, daß Weltbildrevolutionen von der Größenordnung der Kopernikanischen
oder Darwinistischen gegenwärtig nicht mehr stattfänden. Der austro-britische Wis-
senschaftstheoretiker Karl Popper hat eindrucksvoll dargetan, daß, auf der kognitiven
Ebene, die Erkenntnisfortschritte moderner Wissenschaft sagen wir im Bereich des
Molekulardarwinismus oder der Hochenergiephysik von nicht geringeren revolutionä-
ren Dimensionen als es die Weltbildveränderungen sind, die sich mit den wissen-
schaftsgeschichtlichen Heroennamen des Kopernikus oder des Darwin verknüpfen.
Nichtsdestoweniger lassen wir uns heute jede Weltbildrevolution ungerührt gefallen.
Die exoterischen Berichte über sie sind schlechterdings kein Parteienstreitgegenstand
mehr. Sie finden sich auf hinteren Seiten des Wissenschaftsfeuilletons, gelegentlich auch
in den Wissenschaftssendungen der elektronischen Medien, deren Anteil an der Ge-
samtsendezeit über zwei bis drei Prozent selten hinausgeht, die im übrigen temporal
zumeist Nachtprogrammcharakter haben und nur höchst selten sehr hohe Einschalt-
quoten erreichen.
Wohlgemerkt: Kulturell neutralisiert ist der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt
allein auf der kognitiven Ebene. Soweit es sich um technologische Umsetzung und
wirtschaftliche Nutzung wissenschaftlichen Wissens handelt, kann von Indifferenz den
Wissenschaften gegenüber selbstverständlich gar keine Rede sein. Auf dieser prakti-
schen Ebene ist die moderne Wissenschaft wie nie zuvor Objekt ebenso unserer Hoff-
nungen wie auch unserer Befürchtungen geworden, und das prägt sich bis tief in den
politischen Lebenszusammenhang hinein aus. Im Unterschied zur wissenschaftskultu-
rellen Situation noch zu Beginn dieses Jahrhunderts gilt aber: Wir vermögen nicht mehr
zu sagen, welchen Unterschied es eigentlich in religiöser oder sonstiger kultureller
Hinsicht ausmacht, ob der Fall ist, was die Wissenschaften uns über das Bild der Welt,
in der wir leben, noch gestern berichteten, oder ob vielmehr der Fall ist, was wir statt
dessen heute für wahrscheinlicher halten.
Bei der berühmten britischen Naturforscherversammlung 1860 machte Darwins
Freund Huxley das anwesende Publikum, unter dem sich auch prominente Geistlich-
keit befand, mit der Darwinschen Deszendenztheorie bekannt. Die anwesende Frau
des Bischofs von Worcester erschrak dermaßen, daß sie in das Stoßgebet ausbrach: »Oh
Gott, laß es nicht wahr sein, und wenn es doch wahr ist, so sorge dafür, daß es nicht
weiter bekannt wird!« Was ist demgegenüber die heutige Lage? Bereits in den sechziger
Jahren, als er noch Professor war, hat der jetzige Kurien-Kardinal Ratzinger in einem
beiläufigen Aufsatz wie selbstverständlich bestätigt, daß die Evolution, deren Theorie
Darwin in klassischer Weise begründet hat, der Glaubenswahrheit der Gotteserschaf-
fenheit unserer Welt in keiner Hinsicht widerspräche. Gottes Schöpfung sei eben eine
solche, in der diese Evolution sich ereignet.
Auf einen wissenschaftskulturhistorischen Satz gebracht bedeutet das: Der christli-
che Glaube fungiert nicht mehr als Indikator für Irrtümer unter den Wirklichkeitsan-
nahmen der Wissenschaft. Das bedeutet ferner: Die Wissenschaften haben damit ihrer-
seits, sozusagen, ihre Häresiefähigkeit eingebüßt, und genau jenes aufregungsbereite
Interesse, das sich an den vermeintlichen Konflikten zwischen wissenschaftlicher Ein-
sicht in das, was der Fall ist, und religiöser Wirklichkeitsorientierung entzündete, ist
erloschen. Der eigentümliche Verlust der Pathosfähigkeit moderner Wissenschaft hängt
24 HERMANN LÜBBE

damit zusammen. Der weltberühmte Mathematiker David Hubert hielt es noch im Jah-
re 1943, dem Jahr seines Todes, für angemessen, der Nachwelt in Stein gemeißelt auf
seinem eigenen Grabstein die Botschaft zu hinterlassen: »Wir müssen wissen, wir wer-
den wissen«. Das war eine granitene Replik auf das berühmt-berüchtigte »Ignoramus -
ignorabismus« des schon zitierten Du Bois-Reymond. Es ist evident, daß man sich
schwerlich einen noch lebenden Wissenschaftler vorstellen kann, der von Todes wegen
sich zu jenem Hilbertschen Pathos aufschwingen würde. Wir sind heute nicht einmal
mehr in der Lage zu sagen, welches denn eigentlich die Frage war, auf die die Antwort
zu finden Hüben, nämlich um des Wissens willen, für eine grabsteinfähige Notwendig-
keit hielt.
Man wird einwenden: Es gibt doch, vor allem in den USA, die sogenannten Creatio-
nisten, und jüngst noch haben sich, gleichfalls in den USA, zweiundsiebzig Nobel-
preisträger öffentlich gegen das Begehren der Creationisten gewandt, daß der biblische
Schöpfungsbericht im Unterricht öffentlicher Schulen als voll äquivalente Alternative
zum darwinistisch orientierten Biologieunterricht angeboten werde. In Wahrheit ist die
Existenz dieser Creationisten kein Einwand gegen die These von der progressiven kul-
turellen und religiösen Neutralisierung wissenschaftlicher Weltbilder, vielmehr ihre Be-
stätigung. Der Auftritt der Creationisten ist nämlich von höchst speziellen, nur in den
USA gegebenen kulturgeschichtlichen Voraussetzungen abhängig, näherhin von jener
Trennung von Staat und Kirche, die die USA von Anfang an religionskulturell geprägt
hat. Diese Trennung von Staat und Kirche ist eine Trennung gerade nicht in laizisti-
scher Absicht, vielmehr eine Trennung aus dem Willen independentistisch gesinnter
Frommer, die, in Erinnerung an die Bedrückung durch den staatskirchenrechtlichen
Absolutismus europäischer Prägung, endlich keine Obrigkeit mehr über sich haben
wollten, die ihnen in Bekenntnisfragen oder gar in Sachen des Gebetbuchs hineinredet.
Das ist das Milieu, in welchem sich, anders als in der Mehrzahl der Länder europäisch-
geschichtlicher Prägung, biblizistische Fundamentalismen hochkulturell halten kön-
nen. Indem zugleich aber das Institut der Wissenschaftsfreiheit ebenso wie das Institut
der Religionsfreiheit in den USA von Anfang an rechtskulturelle Selbstverständlichkeit
war, indem überdies die fraglichen Fundamentalisten mehrheitlich an der Modernität
der amerikanischen Hochzivilisation in jeder Hinsicht teilnehmen, bestätigen sie durch
das Faktum ihrer Existenz die gemeinkulturelle Irrelevanz des Unterschieds, den es
macht, ob man sich in bezug auf die Gesamtwirklichkeit biblizistisch oder darwini-
stisch orientiert oder ob man, statt dessen, eben dieses, etwa mit Kardinal Ratzinger,
gar nicht für eine echte Alternative hält.
Was insoweit am traditionsreichen Konflikt zwischen religiöser und wissenschaftli-
cher Wirklichkeitsorientierung erläutert worden ist, gilt generell: Eine kulturelle Neu-
tralisierung wissenschaftlicher Weltbilder hat stattgefunden. Wieso ist das so?
Die Vermutung liegt nahe, daß die abnehmende Kulturbedeutsamkeit wissenschaft-
licher Weltbilder eine Folge der zunehmenden Schwierigkeiten sei, die Ergebnisse mo-
derner Wissenschaftsforschung zu Weltbildern zu synthetisieren, die über die engen
Grenzen fachwissenschaftlicher Kommunitäten hinaus sich gemeinverständlich ver-
mitteln, also zu Bestandteilen exoterischer Bildung sich machen lassen. Die weltan-
schauliche Neutralisierung des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts wäre somit
ein kultureller Effekt des inzwischen erreichten Spezialisierungsgrads wissenschaftli-
MODERNISIERUNG UND FOLGELASTEN. KULTURELLE ASPEKTE 25

eher Erkenntnispraxis. Je mehr die Wissenschaften in die Dimensionen des sehr Klei-
nen, sehr Großen und sehr Komplizierten vorstoßen, um so anspruchsvoller werden
die Voraussetzungen, die beim gebildeten Publikum erfüllt sein müssen, um die welt-
bildverändernde, ja weltbildrevolutionierende Bedeutung heutiger wissenschaftlicher
Erkenntnisfortschritte überhaupt ermessen zu können.
Hinzu kommt, daß heute gerade die sehr teuren, aufwendigen Unternehmungen der
Großforschung in ihren dem Laien verständlichen kognitiven Bedeutung vollendet ba-
nal erscheinen. Das ist nicht zuletzt in solchen Fällen so, wo der vermeintliche Sensati-
onscharakter wissenschaftlicher Innovationen dazu veranlaßt, über sie, statt auf hinte-
ren Seiten des Wissenschaftsfeuilletons, auf den Titelblättern der Weltpresse zu berich-
ten. So geschah es, als zum ersten Mal von einer sowjetischen Raumsonde ein Bild von
der Rückseite des Mondes, der uns seit Menschengedenken seine Vorderseite so be-
harrlich zugewandt hält, aus Tiefen des Weltalls nach Hause gefunkt wurde. Was mach-
te dieses Photo von der Rückseite des Mondes in der Weltpresse titelblattfähig? Die
Antwort lautet: Der Sensationscharakter dieses Photos beruht exklusiv auf der De-
monstration eines unerhörten technischen Könnens, das mit diesem Photo unter Be-
weis gestellt war. Auf der kognitiven Ebene betrachtet ist dagegen der innovative Ge-
halt des Photos für Laien gänzlich uninteressant. Was sah man denn? Man sah - als Laie
-, daß der Mond von hinten im wesentlichen so aussieht wie von vorn. Und dafür ein
Milliardenaufwand? - Das ist die relevanzkritische Frage, die daran sich anschließen
mußte und somit im Endeffekt zusätzlichen kulturellen Geltungsverlust der Wissen-
schaft bewirkte.
Im britischen Fernsehen wurde vor einigen Jahren eine eindrucksvolle Aufbereitung
jener Bilder unserer Planeten jenseits der Erdbahn gezeigt, die eine amerikanische
Raumsonde aufgenommen hatte. Der Kommentator traf indessen unsere gegenwärtige
wissenschaftskulturelle Befindlichkeit nicht. Er tat nämlich so, als sei die Astronautik
ein zeitgenössisches Äquivalent der Entdeckungsfahrten in der Epoche der frühen
Neuzeit. Er schwärmte von den Lieblichkeiten der Wolkenbänder des Jupiter und ver-
suchte, Empfindungen zu verbreiten, wie sie Cook beim Betreten insularer pazifischer
Strände gehabt haben mag. Was sich in der Astronautik - von ihren technischen Aspek-
ten abgesehen - in Wirklichkeit kulturell ereignet, ist etwas ganz anderes. Indem wir
zum ersten Mal der Erde aus Weltraumperspektive ansichtig geworden sind - als blau
vor dem Dunkel des Kosmos schimmernden Planeten -, ist sie in unserem kulturellen
Bewußtsein erneut in eine Mittelpunktstellung, nämlich lebensweltliche Mittelpunkt-
stellung eingerückt -: ringsum endlos gähnende Weiten, eisige, staubige, giftige Wüsten
und nur ein einziger Ort, der irdische Dauer verstattet, eben unsere Erde. »Geotrope
Astronautik« - so hat Hans Blumenberg das genannt, und es gibt kaum eine eindrucks-
vollere exemplarische Illustration des kulturellen Bedeutsamkeitsverlustes wissen-
schaftlicher Weltbilder, den wir erlitten haben. Das ist natürlich ein Bestand, der indi-
rekt seinerseits eine religiöse Bedeutung hat. Wir mögen wohl fasziniert den Fernseh-
debatten folgen, in denen sich Experten über Vorzüge der kosmologischen Urknall-
theorie vor konkurrierenden kosmogonischen Theorien verständigen. Auch berührt es
uns wohl zu hören, wie unwahrscheinlich die kosmische Bedingungskonstellation ist,
unter der wir uns auf der Erde befinden, oder wie klein die Wahrscheinlichkeit ist, daß
eine andere biologische Evolution auf geeigneten Planeten anderer Sterne eine Gattung
26 HERMANN LÜBBE

nach Analogie unsere eigenen Gattung hervorgebracht haben oder je hervorbringen


könnte. Aber was uns in der medialen Konfrontation mit wissenschaftlichem Wissen
dieser Art berührt, ist nicht sein Inhalt im Unterschied zu irgendeinem anderen denk-
baren Inhalt einschlägigen wissenschaftlichen Wissens, vielmehr seine Gleichgültigkeit
im Hinblick auf solche Unterschiede. Kurz: Das wissenschaftliche Wissen wirkt, sofern
es uns überhaupt berührt, ja fasziniert, als Kontingenzerfahrungsmedium.
Der insoweit skizzierte Vorgang der Neutralisierung wissenschaftlicher Weltbilder
verändert die kulturelle und überdies die wissenschaftskulturpolitische Stellung der
Wissenschaft tiefgreifend. Die Wissenschaft wird zum Beruf wie jeder andere, und die
Erkenntnispraxis verliert allmählich ihre Sondergeltung als diejenige theoretische Pra-
xis, in der der Mensch, nach aristotelischer Maßgabe, sich mehr als in jeder anderen
Praxis spezifisch menschlich betätigt. Wenn nicht mehr angebbar ist, welchen Unter-
schied es eigentlich, jenseits technischer Konsequenzen, für unsere Lebensorientierung
ausmacht, ob wir in kosmologischen oder molekularbiologischen Fragen noch auf dem
Forschungsstand von gestern verharren oder bereits auf dem heutigen angelangt sind,
verliert die theoretische Neugier, die Curiositas, rasch die kulturelle Sondergeltung, die
sie im Prozeß der Aufklärung einst gewonnen hatte. Sie gewinnt sogar Züge eines La-
sters zurück - nicht freilich aus dem alten christlichen Argwohn, wir könnten, neugier-
verführt, die Wahrheit des Heils verfehlen, vielmehr aus dem Blickpunkt von Rele-
vanzkontrolleuren, die ihre Forschungsinvestitionen schließlich durch einen nutzbaren
Erkenntnisgewinn gerechtfertigt wissen möchten. Welchen Rechtfertigungsgrund soll-
te es denn auch sonst noch für eine apparativ und personell immer aufwendigere For-
schungspraxis geben, wenn der Erkenntnisgewinn, rein auf der kognitiven Ebene
betrachtet, kulturell gar nicht mehr validierbar ist? Wenn es weder religiös noch exi-
stenziell, weder weltanschaulich noch in der Ästhetik unseres Wirklichkeitsverhältnis-
ses einen angebbaren Unterschied ausmacht, ob unser Schulwissen vom Aufbau der
Materie im subatomaren Bereich noch up-to-date oder bereits arg veraltet ist, genügt
zur Rechtfertigung der Kosten, die uns die Betätigung des Erkenntniswillens auf dem
einschlägigen Forschungssektor abverlangt, die Berufung aufs Recht freier Betätigung
der Curiositas immer weniger. In der Tat läßt sich wissenschaftskulturgeschichtlich bis
in die Parlamentsprotokolle hinein verfolgen, wie gegenwärtig das wissenschaftsprakti-
sche Legitimationsprinzip der Relevanz rasch gegenüber dem Legitimationsprinzip der
Curiositas an Dominanz gewinnt, und gerade auch unsere Grundlagenforscher pfle-
gen, übrigens zu Recht, bei der Einwerbung ihrer Mittel sich in erster Linie auf die po-
tentielle Nutzbarkeit ihrer Forschungen zu berufen. Die Curiositas, anstatt, wie im
Zeitalter der Aufklärung, als wissenschaftspraktisches Legitimationsprinzip gegenüber
dem Prinzip der Relevanz Vorrang zu haben, wird der Relevanz nunmehr funktional
dienstbar -: die Motivationskraft der theoretischen Neugier bleibt nötig, um die Wis-
senschaft relevant halten zu können.

Es mag sein, daß viele Zeitgenossen nicht einmal finden werden, der insoweit skiz-
zierte kulturelle Bedeutsamkeitsverlust wissenschaftlicher Weltbilder habe den Cha-
rakter einer Folgelast. Wer unter dem Druck der Erfahrung harter, insbesondere öko-
logischer Folgelasten technisch-ökonomisch genutzter Wissenschaft ohnehin von der
Relevanzkontrollbedürftigkeit wissenschaftlichen Tuns überzeugt ist, wird den Prag-
matisierungseffekt der Kulturbedeutsamkeit wissenschaftlicher Weltbilder, statt für ei-
MODERNISIERUNG UND FOLGELASTEN. KULTURELLE ASPEKTE 27

ne Last, für einen Vorzug halten. Der Lastenaspekt der Sache betrifft aber die Angehö-
rigen der wissenschaftlichen Kommunitäten. Ihre im erfolgreich gewesenen Aufklä-
rungsprozeß gewonnene Geltung als Lichtbringer, als Erleuchter der Welt, in der wir
leben, verflüchtigt sich. Übrig bleibt eine rechenschaftspflichtige Profession der Bereit-
stellung potentiell schadensnebenfolgenträchtiger Nutzbarkeiten. Man mag sich, was
sich insoweit wissenschaftskulturgeschichtlich geändert hat, am Wandel des populär-
wissenschaftlichen Bestsellerwesens vergegenwärtigen. Haeckels vor einhundert Jahren
zuerst erschienenen »Welträtsel« erreichten in der endlosen Folge ihrer Neuauflagen
schließlich einen Millionenabsatz, und das bei einem damals ungleich geringeren Anteil
der Leser unter den Bürgern. Die Zahl der Titel, die zum Genre populärwissenschaftli-
cher Literatur zu zählen sind, ist heute eher größer, aber die Absatzzahlen bewegen
sich zumeist in den Dimensionen einiger weniger Prozente des quantifizierten Erfolgs,
den Haeckel erreichte. Wie erklärt sich das? Haeckels Bestseller bot ein Weltbild an,
das als progressive Alternative in Weltanschauungskämpfen erschien. Es war eine geis-
tige Waffe im Kampf gegen die geistliche Schulaufsicht. Kulturkämpfe, die um kogniti-
ve Gehalte sogenannter Weltbilder geführt werden würden, gibt es heute nicht mehr,
und nachdem der real existent gewesene Sozialismus auch als System einer wissen-
schaftsideologischen Ideologie untergegangen ist, können wir, so scheint es, auf die
Epoche, in der der wissenschaftliche Fortschritt schon nach seinem puren kognitiven
Gehalt den Menschen kulturevolutionär hinaufhob, als auf eine definitiv vergangene
Epoche zurückblicken.
Zweitens jetzt: Zukunftsgewißheitsschwund oder empirische Apokalyptik. - Die
Gewißheit von einem schlimmen Ende der Dinge hienieden gehört bekanntlich zu den
kulturellen und näherhin religionskulturellen Selbstverständlichkeiten der christlich
geprägten Welt. Immerhin ist unsere Kultur auf ein Buch gegründet, und das letzte
Buch dieses Buches der Bücher handelt in zwanzig von insgesamt zweiundzwanzig
Kapiteln vom künftigen Untergang der Stätten und Gegebenheiten, in denen unsere Zi-
vilisation sich bis heute eingerichtet hält. Da wir alle die Bibel kennen, erübrigt sich
hier die Schilderung der Schrecken der Zukunft. Modernitätsabhängig wird heute die
Unausweichlichkeit solcher Schrecken mit Rekurs auf Prognosen mittels empirisch ge-
haltvoller Theorien wahrscheinlich gemacht. Wieso ist das so? Die Sache ist die: Noch
nie zuvor hat es eine kulturelle Gegenwart gegeben, die über die Zukunft, die ihr be-
vorsteht, so wenig gewußt hätte wie unsere eigene. Man kann denselben Bestand auch
mit Blick auf die Vergangenheit umgekehrt formulieren. Alsdann lautet die Behaup-
tung: Was immer die Menschen in früheren Zivilisationsepochen belastet haben mag -
sie hatten, immerhin, den relativen Vorzug, über die Zukunft, die ihnen damals bevor-
stand, ungleich Verläßlicheres sagen zu können als wir heute.
Das klingt im Zeitalter einer blühenden Zukunftsforschung und angesichts der man-
nigfachen Dienstleistungen, die uns Institutionen anbieten, die, zum Beispiel, den Na-
men »Prognos« führen, paradox. Nichtsdestoweniger ist die These von der moderni-
tätsabhängig abnehmenden Vorhersehbarkeit der Zukunft keine rhetorisch gemeinte
Behauptung. Es handelt sich vielmehr um einen objektiven, praktisch überaus folgen-
reichen Bestand, der nicht einmal schwer zu erkennen ist. Um noch einmal an die Zu-
kunftsvoraussicht unserer Vorfahren anzuknüpfen -: Sie hatten es mit ihrer Zukunfts-
voraussicht deswegen soviel leichter als wir, weil damals die Wahrscheinlichkeit un-
28 HERMANN LÜBBE

gleich größer als heute war, daß die Zukunft der Gegenwart in wesentlichen Lebens-
hinsichten gleichen werde. Man kann dasselbe auch folgendermaßen ausdrücken: Wenn
die Menge der unsere Lebenssituation strukturell verändernden Ereignisse pro Zeitein-
heit sehr klein ist, wird sich die Lebenswelt der Kinder und Kindeskinder von der Le-
benswelt der gegenwärtig Erwachsenen nur sehr wenig unterscheiden. Exemplarisch
heißt das: Die beruflichen Anforderungsprofile im Handwerk wiesen eine hohe Kon-
stanz auf; aus der bäuerlichen Welt, in der sich noch im 18. Jahrhundert auch bei uns
drei Viertel aller Menschen befand, führten nur wenige Wege heraus; die soziale Mobi-
lität war gering, und die räumliche Mobilität ohnehin.
Demgegenüber ist also unsere zivilisatorische Gegenwart durch eine historisch bei-
spiellose evolutionäre Dynamik bestimmt. Meßbar wächst - von der Wissenschaft über
die Technik bis hin zur avantgardistischen Kunst - die Menge der unsere Lebenssituati-
on in ihren Strukturen irreversibel verändernden Innovationen pro Zeiteinheit. Genau
komplementär dazu bemühen wir heute die Dienstleistungen jener Prognose-Institu-
tionen. Je geringer die Wahrscheinlichkeit wird, daß wir für die Zukunft mit gegen-
wartsanalogen Lebensverhältnissen rechnen können, um so mehr finden wir uns für
unser zukunftsbezogenes Entscheiden und Handeln auf Auskünfte darüber angewie-
sen, womit wir künftig zu rechnen haben werden - von den demographischen Gege-
benheiten bis hin zu vorherrschenden kulturellen Lebensorientierungen. Erst in kom-
plexen, dynamischen Systemen wird Planung nötig, und zugleich wird es objektiv
schwieriger, sie in Nutzung verläßlicher Annahmen über die Zukunftsrealität rational
zu halten.
Es gibt sogar einen Grund zu sagen, daß in einer sogenannten wissenschaftlichen Zi-
vilisation deren Zukunft in komplexen Dimensionen prinzipiell nicht vorausgesagt
werden kann. Das ist sehr eine anspruchsvolle Behauptung. Ihre Begründung stammt
vom prominenten austro-britischen Wissenschaftstheoretiker Karl Popper. Das Pop-
per-Theorem, wie ich es nennen möchte, lautet: Wir mögen ja immerhin, und sei es mit
den Mitteln der sogenannten Zukunftsforschung, allerlei über die Zukunft wissen, und
etliches wissen wir in der Tat auch heute recht genau - demographische Verläufe zum
Beispiel. Eines hingegen können wir prinzipiell nicht wissen, nämlich was wir künftig
wissen werden, denn sonst wüßten wir es bereits jetzt. Das bedeutet: Je umfänglicher
forschungspraktisch erzeugtes neues Wissen, nämlich über seine technische Umset-
zung und ökonomische Nutzung, unsere Lebenssituation verändert, um so weniger ist
diese prognostizierbar.
Das alles sind nicht Weisheiten aus dem philosophischen Seminar, die man den dort
Beschäftigten überlassen könnte. Es handelt sich vielmehr um Einsichten in Vorausset-
zungen moderner Lebenspraxis, die sich heute von der Wirtschaft bis zur Verwaltung
und Politik aufdringlich zur Geltung bringen. Das sei mit einem beliebigen, wenn auch
gewichtigen Exempel, mit einem Hinweis auf die jüngere Stadtgeschichte und näherhin
auf die jüngere Geschichte der Städteplanung demonstriert. Deutsche erinnern sich:
1959 erschien Hans-Bernhard Reichows sehr bekannt gewordener Titel »Die autoge-
rechte Stadt«. Im Feuilleton pflegt man sich darauf heute nur noch ironisch zu bezie-
hen. Aber diese Ironie ist wohlfeil. Die Frage lautet: Hätte man es denn damals besser
wissen können? Die zeitgenössischen Kommentare zu Rudolf Hillebrechts Leistungen
in Hannover klangen seinerzeit bewundernd. Inzwischen wissen wir es besser. Aber
MODERNISIERUNG UND FOLGELASTEN. KULTURELLE ASPEKTE 29

wir sollten eben auch wissen, daß man damals gar nicht wissen konnte, was man hätte
wissen müssen, wenn die maßgebenden Konzepte der Stadtplanung, statt für zehn Jah-
re, für die Dauer einer ganzen Generation hätten maßgebend bleiben sollen. Analoges
gilt auch für das Konzept der gegliederten, aufgelockerten Stadtlandschaft, das stadt-
baugeschichtlich noch in den frühen sechziger Jahren wirksam war. Es dauerte nur we-
nige Jahre, bis man die Verödung der Innenstädte nach Büro- und Geschäftsschluß zu
beklagen begann. Komplementär dazu entwickelte sich dann die Idee der Rekonstruk-
tion von Urbanität durch innerstädtische Verdichtung. Wertvollste innerstädtische
Areale wurden als Zentren sogenannter kommunikativer Verdichtung hergerichtet,
und daß sie statt dessen dann zu Zentren sozial destruktiver Subkulturbildung verka-
men, ist abermals schlechterdings nicht vorhersehbar gewesen.
Man erkennt: In einer dynamischen Zivilisation sind Prognosen sowie, auf Progno-
sen gegründet, Visionen schwer zu haben. Es gehört zu den prägenden Erfahrungen
unserer Gegenwartszivilisation, daß es fortschreitend schwerer fällt, sich durch Aufbie-
tung verläßlicher Auskünfte über das, was wir zu erwarten haben, Mut zu machen. Ge-
nau dazu paßt das kulturelle Faktum, daß die Visionen, die heute, zumindest in den
hochindustrialisierten Teilen der Welt, die Szene beherrschen, nahezu ohne Ausnahme
den Status von Unheilsvisionen haben. Damit das keine leere Behauptung bleibt, ver-
weise ich exemplarisch auf einige Phänomene, an den sich die gegenwartsspezifische
Intellektuellen-Präferenz für Unheilsvisionen ablesen läßt. Zur Hochkultur gehört die
traditionsreiche Literaturgattung »Utopie«, die seit Thomas Monis' berühmtem Werk
unter diesem Namen auftritt. Bis in unser eigenes Jahrhundert hinein waren Utopien
stets Entwürfe eines besseren, ja vollendeten Zustands der irdischen Dinge. Zunächst
wurden diese Entwürfe auf utopische ferne Inseln projiziert. Seitdem aber der Globus
umrundet war und es somit unbekannte Weltgegenden von literarisch vermutbarer
Vorzüglichkeit nicht mehr gab, nachdem die moderne Zivilisation überdies ihre Histo-
rizität, das heißt ihre Änderungsdynamik entdeckt hatte, projizierten die Intellektuel-
len ihre Heils-Visionen an den Horizont der Zukunft, und die Groß-Ideologen der to-
talitären Mächte sind ihnen darin gefolgt. In der nun zu Ende gehenden zweiten Hälfte
des Jahrhunderts ist der alte Typus der Heilsvision nahezu vollständig durch den Typus
der Unheilsvision abgelöst worden. Orwells »1984«, 1948 zuerst erschienen, ist dafür
das prominenteste und immer noch wirkungsreiche Beispiel. - Nicht zur Hochkultur,
vielmehr zur Trivialkultur gehört ein nicht unerheblicher Teil der Filmproduktion in
Hollywood. Die Schreckens- und Katastrophenfilme aus dieser Produktion belegen
abermals die Aktualität der Unheilsvision. Die Herstellung der fraglichen Katastro-
phenfilme ist überaus kostenträchtig, und sie würden nicht hergestellt werden, wenn
sie den erwartungsgeprägten Geschmack des modernen Publikums nicht genau träfen.
Das extremste Beispiel dieser Schreckensfilme ist übrigens ein Werk, das uns den Zu-
stand des Globus im Endstadium seiner von der Bevölkerungsexplosion bewirkten
Verstädterung zeigt. Die Lebensumstände sind schlechterdings grauenhaft. Die
Menschheit lebt von einem Fett- und Eiweißprodukt, das aus Leichenrecycling gewon-
nen wird, und es gibt nur eine einzige Möglichkeit, dem Elend zu entkommen, indem
man sich nämlich freiwillig fürs Recycling zur Verfügung stellt. Alsdann wird einem
die unwahrscheinliche Gunst zuteil, noch einmal in einem weißbezogenen Klinikbett
liegen zu dürfen. Man sieht auf die Wand projizierte Szenen aus Tagen der Erde, die
30 HERMANN LÜBBE

längst definitiv vergangen sind - Butterblumen, die sich im Frühlingswinde auf einer
Wiese wiegen, und dazu erklingen Weisen aus Beethovens Pastorale, während unser
Freiwilliger nach Applikation einer definitiv einschläferndes Wohlbehagen bereitenden
Spritze dem Recycling entgegendämmert. - Dazu paßt als Element der Alltagskultur
unserer Städte die universell verbreiteten Sprayer-Sprüche, die gelegentlich witzig, stets
aber trist sind - von »Ich geh kaputt, gehst Du mit?« bis hin zu »No future«.
Die Nähe des Unbekannten ängstigt bekanntlich. In einer dynamischen Zivilisation
ist das Unbekannte, das uns bedrängt, die Zukunft unserer Zivilisation. Der Grad ihrer
Unbekanntheit wächst mit der Komplexität unserer zivilisatorischen Lebenslage -: Mit
der Menge der unsere Lebenssituation verändernden Faktoren pro Zeiteinheit nimmt
ihre theoretisch valide Prognostizierbarkeit ab. Und der Bedrängnischarakter der un-
bekannten Zukunft unserer Zivilisation nimmt überdies mit der Dynamik der Evolu-
tion dieser Zivilisation zu -: Je rascher sie sich änden, um so mehr schrumpft das Aus-
maß der Zeit, über die hin wir mit einiger Fondauer der uns lebensweltlich vertrauten
Gegenwart rechnen können.
Drittens ist jetzt, als weitere Modernisierungsfolgelast, die hier sogenannte Gegen-
wartsschrumpfung zu erläutern, die jenseits ungewisser Grenzen die Leistungsfähig-
keit historischer Kultur überfordert. - »Gegenwartsschrumpfung« ist ein Neologis-
mus, der aus zwei vertrauten Nomen kombiniert ist, aber eben in dieser Kombination
unvertraut. Was ist gemeint? Gemeint ist, daß in einer dynamischen Zivilisation in Ab-
hängigkeit von der zunehmenden Menge von Innovationen pro Zeiteinheit die Zahl
der Jahre abnimmt, über die zurückzublicken bedeutet, in eine in wichtigen Lebenshin-
sichten veraltete Welt zu blicken, in der wir die Strukturen unserer uns gegenwärtig
vertrauten Lebenswelt nicht mehr wiederzuerkennen vermögen, die insoweit eine uns
bereits fremd, ja unverständlich gewordene Vergangenheit darstellt.
Innovationsabhängige Gegenwartsschrumpfung bedeutet überdies, komplementär
zur Verkürzung des chronologischen Abstands zu fremdgewordener Vergangenheit,
zugleich fortschreitende Abnahme der Zahl der Jahre, über die vorauszublicken bedeu-
tet, in eine Zukunft zu blicken, für die wir mit Lebensverhältnissen rechnen müssen,
die in wesentlichen Hinsichten unseren gegenwärtigen Lebensverhältnissen nicht mehr
gleichen werden. Die Folgelasten dieses zukunftsbezogenen Vorgangs sind bereits un-
ter dem Stichwort »empirische Apokalyptik« erläutert worden.
Kurz: Gegenwartsschrumpfung - das ist der Vorgang der Verkürzung der Extension
der Zeiträume, für die wir mit einiger Konstanz unserer Lebensverhältnisse rechnen
können. Die Konsequenz, die sich daraus für die Wahrnehmung der Geschichtszeit er-
gibt, hat Reinhart Koselleck folgendermaßen beschrieben: Erfahrungsraum und Zu-
kunftshorizont werden inkongruent. Die Erfahrungen, die wir oder unsere Väter im
Umgang mit unseren bisherigen Lebensverhältnissen machen konnten, eignen sich in
Abhängigkeit von der Veränderung unserer Lebensverhältnisse fortschreitend weniger
als Basis unseres Urteils über das, womit wir oder unsere Kinder und Kindeskinder für
die Zukunft zu rechnen haben.
Gewiß läßt sich sagen, daß die menschliche Zivilisation bis in ihre Ursprünge hinein,
soweit wir sie kennen, evolutionären Charakter hat. Ob Machiavelli bei seinem vor-
herrschenden Interesse, aus der römischen Geschichte zu lernen, die kulturellen Evolu-
tionen zwischen dem Beginn unserer Zeitrechnung und seiner eigenen Gegenwart als
MODERNISIERUNG UND FOLGELASTEN. KULTURELLE ASPEKTE 31

Evolutionen gar nicht wahrgenommen hat, oder ob er sich für sie lediglich nicht inter-
essierte, mag hier unentschieden bleiben. Gewiß ist, daß es kulturgeschichtliche Evolu-
tionen gegeben hat, deren Dynamik so gering war, daß die Vorstellung absurd ist, sie
hätten als Evolutionen bemerkt werden können. Auch die ausgedehnten Zeiträume der
Ur- und Frühgeschichte waren ja nicht innovationsfreie Zeiträume. Aber die Zeitmaße
in diesen Geschichtsepochen hatten, wie Karl J. Narr in seiner einschlägigen Abhand-
lung eindrucksvoll gezeigt hat, sozusagen subgeologische Dimensionen, was trivialer-
weise bedeutet, daß, zum Beispiel, die außerordentlichen Fortschritte in der Schleif-
technik zur Herstellung feiner Steinklingen zwischen Jungpaläolithikum und Neolithi-
kum für die Subjekte dieses Prozesses schlechterdings kein Gegenstand reflexiver Auf-
merksamkeit sein konnten.
Es wäre durchaus spekulativ, etwas darüber vermuten zu wollen, wie groß innerhalb
der kulturellen Evolution der Grad der Innovationsverdichtung geworden sein muß,
damit diese als solche aufdringlich werden kann und ihre Thematisierung erzwingt. Le-
benspraktisch wird sie jedenfalls einen Grad erreicht haben müssen, der ausreicht, in-
nerhalb jener drei Generationen, die gleichzeitig existieren und in ihrer kulturellen Ein-
heit durch unmittelbaren Erfahrungsaustausch zusammengebunden sind, Erfahrungen
des Veraltetseins und der Gestrigkeit aufdringlich zu machen. Wie auch immer: Erfah-
rungen der Gegenwartsschrumpfung hängen an einem nur scheinbar paradoxen Effekt
der temporalen Innovationsverdichtung. Der hier gemeinte Effekt ist, daß komplemen-
tär zur Neuerungsrate zugleich die Veraltensrate wächst.
Die kulturellen Folgen dieser fortschrittsabhängig zunehmenden kulturellen Veral-
tensgeschwindigkeit sind erheblich. In einer dynamischen Zivilisation nimmt die Men-
ge der Zivilisationselemente zu, die noch gegenwärtig sind, aber über die sich schon die
Anmutungsqualität der Gestrigkeit oder Vorgestrigkeit gelegt hat. Anders ausgedrückt:
In einer dynamischen Zivilisation nimmt die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zu.
Diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen war vor einhundert Jahren ein Thema der
kulturtheoretischen Analysen Friedrich Nietzsches. Aber schon Friedrich Schlegel hat
sie bemerkt und beschrieben.
In Begriffen der Evolutionstheorie ausgedrückt heißt das: Mit der evolutionären
Dynamik wächst die Reliktmenge an. Genau das ist die gewiß nicht hinreichende, aber
notwendige Bedingung für den modernitätsspezifischen Vorgang der Selbsthistorisie-
rung unserer Zivilisation, wie sie exemplarisch im Vorgang progressiver Musealisierung
anschaulich ist.
Was sind denn Museen? Museen sind, unter diesem Aspekt betrachtet, nichts ande-
res als Schauhäuser von Zivilisationsrelikten, und jeder Museumsfachmann weiß, daß,
zum Beispiel in unseren blühenden Technik-Museen, ineins mit der temporalen tech-
nologischen Innovationsverdichtung sich auch die Zeitspannen verkürzen, innerhalb
derer die Eröffnung der jeweils neuesten Museumsabteilung fällig wird.
Freilich gilt, daß auch die skizzierte Gegenwartsschrumpfung, zu der sich der Pro-
zeß der kulturellen Museualisierung komplementär verhält, lediglich eine notwendige
und nicht eine hinreichende Bedingung des Musealisierungsprozesses darstellt. Die
Frage liegt ja nahe, warum wir, nach Analogie naturaler Evolutionen, die anfallenden
Kulturevolutionsrelikte nicht einfach naturwüchsigen Recycling-Prozessen überlassen.
Wieso verwahren wir, zumindest in repräsentativen Exemplaren, was doch gerade
32 HERMANN LUBBE

durch sein Veraltetsein, durch sein Ausgeschiedensein aus aktuellen funktionalen Zu-
sammenhängen charakterisiert ist?
Genau diese Frage ist, am kulturell repräsentativen Exempel der Musealisierung auf-
geworfen, die Frage nach der Funktion des historischen Bewußtseins in dynamischen
Zivilisationen. Die Antwort auf die Frage nach der Funktion des historischen Bewußt-
sein und damit der Leistungen der historischen Wissenschaften in modernen Zivilisa-
tionen soll uns hier nur beiläufig beschäftigen. Ich beschränke mich insoweit auf einige
wenige Bemerkungen. »Die Geschichte steht für den Mann« - auf diese knappe Formel
hat der Geschichtsphänomenologe Wilhelm Schapp die Einsicht gebracht, daß unsere
so genannte Identität, individuell wie kollektiv, das Resultat unserer jeweiligen Her-
kunftsgeschichte ist. Mit der Vergegenwärtigung dessen, wer wir sind, durch Erzählen
unserer individuellen und kollektiven Herkunftsgeschichten hat es vergleichsweise ge-
ringe Schwierigkeiten, wenn diese erzählten Geschichten Vergegenwärtigungen von
Vergangenheiten sind, über die wir nach den Mustern der Gegenwart und den auf sie
sich beziehenden Lebenserfahrungen urteilen können. Die Schwierigkeiten mit der
Vergegenwärtigung eigener individueller und vor allem kollektiver Vergangenheiten
wachsen aber, wenn in Abhängigkeit von der skizzierten Innovationsdynamik eigene
Vergangenheit einem immer rascher zur fremden Vergangenheit wird. Alsdann bedarf
es expliziter Leistungen eines schließlich sogar wissenschaftlich disziplinierten histori-
schen Bewußtseins, um eigene Vergangenheit in ihren fremd gewordenen Elementen
verstehen und damit aneignungsfähig halten zu können beziehungsweise die Vergan-
genheit anderer diesen zurechnungsfähig.
Funktional beschrieben heißt das: Die Leistungen des historischen Bewußtseins
sind Leistungen zur Kompensation eines änderungstempobedingten kulturellen Ver-
trautheitsschwundes. Die Nötigkeit dieser Leistungen nimmt modernitätsabhängig
zu. Der bereits erwähnte Denkmalschutz ist ein besonders anschauliches Beispiel, an
welchem wir diesen Zusammenhang von Modernisierung und historisierender Kon-
servierung ablesen können. Je rascher uns in Abhängigkeit von der wirtschaftlich und
technnisch bedingten Baudynamik unsere städtischen und dörflichen architektoni-
schen Lebensambientes vor unseren eigenen Augen Züge der Fremdheit annehmen,
um so mehr steigern wir die Intensität unserer konservatorischen Bemühungen in be-
zug auf das, was besonders geeignet ist, Erfahrungen einer sich durch die Zeit hin-
durch haltenden Selbigkeit möglich zu machen. Exemplarisch heißt das: Je mehr sich
die Skyline von Frankfurt der von Dallas oder Denver annähert, um so unerträglicher
ist uns der Gedanke, man hätte diesem Progreß nun auch noch das Großdenkmal ar-
chitektonischen Historismus, das alte Opernhaus, geopfert und seinerzeit gemäß dem
damaligen Vorschlag eines damals prominenten Politikers seine Ruine in die Luft ge-
sprengt.
Noch einmal also: Die historische Kultur ist eine spezifisch moderne Kultur, deren
Nötigkeit ineins mit der Dynamik der modernen Zivilisation zunimmt, und diese Nö-
tigkeit ist keine andere als die, unter Bedingungen der skizzierten Gegenwarts-
schrumpfung expandierende Vergangenheit mit dieser Gegenwart verknüpfbar zu hal-
ten. Unter Inanspruchnahme der in diesem Zusammenhang unvermeidlich geworde-
nen Kategorie der Identität läßt sich dasselbe auch so ausdrücken: Die Leistungen des
historischen Bewußtseins kompensieren Gefahren temporaler Identitätsdiffusion.
MODERNISIERUNG UND FOLGELASTEN. KULTURELLE ASPEKTE ,U

Um den in dieser Kennzeichnung der Leistungen des historischen Bewußtseins


zentral in Anspruch genommenen, vor allem von Odo Marquard prominent gemach-
ten Kompensationsbegriff hat sich bekanntlich ein Streit erhoben. Ich möchte diesen
Streit, dessen zum Teil mißverständnisvolle Gehalte hier nicht auszubreiten sind, ab-
schließend zum Anlaß nehmen, darauf aufmerksam zu machen, daß es in der Tat Gren-
zen der erläuterten kompensatorischen Leistungen des historischen Bewußtseins zu
geben scheint. Es gibt tatsächlich aktuelle kulturelle Phänomene, die auf eine Überfor-
derung unseres historischen Sinns schließen lassen. Um das plausibel zu machen, ver-
gegenwärtige man sich zunächst an einem weiteren Exempel, was die unter dem Stich-
wort »Gegenwartsschrumpfung« bereits erläuterte kulturelle Innovationsverdichtung
konkret bedeutet. In einem Kalendarium kunstgeschichtlicher Epochenbegriffe, mit
deren Hilfe wir die Entwicklung der bildenden Kunst zu beschreiben pflegen, ver-
zeichnet Hans Robert Jauß für das Halbjahrhundert zwischen 1850 und 1900 sieben
konventionelle Epochennamen - vom Realismus bis zum Sezessionismus. Demgegen-
über ist dann allein für das eine Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970 die doppelte Anzahl
gebräuchlich gewordener Stilepochennamen notiert - vom magischen Realismus bis
zum Environment. Das bedeutet eine Steigerung der künstlerischen Innovationsrate
um den Faktor zehn in einhundertundzwanzig Jahren.
Man erkennt leicht, daß, jenseits einer ungewissen Grenze, eine derartige Innova-
tionsverdichtung unsere Innovationsverarbeitungskapazitäten erschöpfen muß. Die
Logik des Avantgardismus hat uns eine Innovationsverdichtung beschert, die es un-
möglich macht, selbst temporal eng begrenzte Kunstentwicklungen in repräsentativen
Zeugnissen in herkömmlichen Ausstellungsräumen unterzubringen. Die exzellente
Ausstellung »Westkunst« in Köln erforderte entsprechend zur Dokumentation eines
knappen halben Jahrhunderts künstlerischer Entwicklungen zwischen dem Beginn der
dreißiger und dem Beginn der achtziger Jahre statt herkömmlicher musealer Ausstel-
lungsräume Messehallen.
Selbstverständlich stehen heute die Kennerschaften und fachwissenschaftlichen
Kompetenzen zur Verfügung, die imstande sind, auch derartige Mengen von Relikten
künstlerischer Evolutionen genetisch zu ordnen und so historisch verständlich zu ma-
chen. Aber zugleich nimmt unvermeidlicherweise der Anteil des Publikums zu, der in
seinen Fähigkeiten zur historischen Integration der Fülle, der das Publikum als Fülle
in der Zeit sich ausgesetzt findet, hoffnungslos überfordert ist. In der Konsequenz die-
ser Überforderung gewinnt das Ausstellungsgut eine Qualität zurück, die für Relikt-
sammlungen in vorhistoristischer Zeit charakteristisch war - die Qualität des Kurio-
sen nämlich. Man wandert durch die Hallen, und indem die Fülle des temporal und re-
gional höchst Differenten sich vor unserem Blick entwicklungslogisch nicht mehr
ordnen will, finden wir uns in die Souveränität des Eklektizismus zurückversetzt. Uns
bleibt nichts als die Freiheit, uns das Dargebotene gefallen zu lassen oder auch nicht,
und das bedeutet zugleich, daß die künstlerische Avantgarde das Geltungsprivileg ih-
rer aufmerksamkeitsprämienträchtigen Spitzenstellung in einer Entwicklung, die noch
als solche erkannt und verstanden werden könnte, verliert. Jede Vorliebe ist nun er-
laubt; alles geht. Die Richtung des Fortschritts ist unerkennbar geworden, und mit ih-
rer Unerfullbarkeit entfällt die intellektuelle Verpflichtung, kulturell up to date sein zu
sollen.
34 HERMANN LÜBBE

Eklektizismus als kulturelle Reaktion auf die Erfahrungen der Überforderung unse-
res historischen Sinns - das ist, weit über den exemplarisch zitierten modernen, der
Moderne gewidmeten Ausstellungsbetrieb hinaus, die Essenz der sogenannten Post-
moderne. Postmoderne Kultur ist Kultur in Reaktion auf die Überforderung durch die
Moderne und ihre historistischen Herausforderungen. Wer den Fortschritt nicht mehr
zu verarbeiten vermag, kann auf seinen jeweils neuesten Stand, indem dieser in der
Kulturgenossenschaft konsensuell gar nicht mehr feststellbar ist, auch nicht mehr ver-
pflichtet werden. »Das Ende der Avantgarde« ist erreicht - nicht, weil niemandem noch
etwas Neues einfiele, vielmehr genau umgekehrt deswegen, weil das Neue kraft seiner
unausschöpfbaren Fülle seine Verbindlichkeit eingebüßt hat. Der Eklektizismus er-
scheint als die rationale Art, sich zu eben diesem Bestand zu verhalten, und in der
Theorie der architektonischen Postmoderne ist entsprechend »Eklektizismus« das
zentrale Programmwort.
Die Behauptung lautet selbstverständlich nicht, die moderne Kultur entwickle sich
generell hin zu einer Kultur manifester Überforderung des historischen Sinns und da-
mit unserer Fähigkeiten, in die in der Tat schwer entwirrbare Realität evolutionsdyna-
misch zunehmender Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen die historische Ordnung
verstandener Genesen zu bringen. Die These lautet lediglich, daß inzwischen zum Hi-
storismus unserer Gegenwartskultur auch die Kultur überforderungsbedingter Weige-
rung gehört, die eigene Positionalität in der zivilisatorischen Evolution historisch über-
haupt noch indizieren zu wollen. Das historische Bewußtsein ist, wie skizziert, ein Re-
sultat moderner Zivilisationsdynamik, nachdem sie einen Grad erreicht hat, der sie auf-
dringlich und unübersehbar macht und damit ihre Thematisierung erzwingt. Jenseits
eines gewissen Ausmaßes der Dynamik unserer zivilisatorischen Evolution scheint die
Gewißheit des historischen Bewußtseins sich abzuschwächen, daß es in der Einheit sei-
ner wissenschaftlichen und sonstigen kulturellen Hervorbringungen Herkunft und Zu-
kunft überzeugungskräftig zusammenzubinden vermöchte und daß es noch in der La-
ge sei, der Gegenwart selbstgewiß ihren Ort im Ablauf der Geschichtszeit anzuweisen.
Viertens ist schließlich noch die Modernisierungsfolgelast abnehmender kultureller
Homogenität zu erläutern, die aus unvermeidlichen Ungleichheitsfolgen der Chancen-
gleichheit resultiert. - In der Epoche zwischen den beiden Weltkriegen hatte das Theo-
rem von der unaufhaltsamen Heraufkunft der Massengesellschaft Konjunktur. Ortega
y Gassets berühmtes Buch »Der Aufstand der Massen«, zuerst 1929 erschienen, wurde
in alle großen europäischen Sprachen übersetzt und gewann Bestsellerruhm. Auch Karl
Jaspers diagnostizierte Phänomene sozialer und kultureller Vermassung - vor allem im
berühmten Göschen-Bändchen Nr. 1000, das die »geistige Situation der Zeit« zum
Thema hatte - im Jahre 1930.
Inzwischen haben wir es, statt mit Vermassungstendenzen, mit Vorgängen der Diffe-
renzierung und Individualisierung zu tun. Wieso das so ist, sei mit einigen wenigen
Hinweisen auf die differenzierenden Wirkungen des Massensports anschaulich ge-
macht. Der Sport - das ist einerseits tatsächlich ein kulturelles Massenphänomen. In
Zahlen gespiegelt heißt das: Allein in der Bundesrepublik Deutschland sind über sech-
zigtausend Sportvereine existent und weit über dreißig Millionen Mitglieder sind in ih-
nen organisiert. Drängt es sich da nicht in der Tat auf, von »Masse« zu reden? Indessen:
Die fraglichen Millionen sind ja nicht ausnahmslos Fußballfans. Tennis und Tischten-
MODERNISIERUNG UND FOLGELASTEN. KULTURELLE ASPEKTE 35

nis, Wandern, Segeln und Schwimmen, Golf, ja Polo auch noch, überdies folkloristisch
angehauchte Regionalsportarten -: Für jeden gibt es hier etwas. Höchst differenziert
sind auch die Beteiligungsarten. Vor allem aber unterscheiden sich die Sportler nach ih-
ren Könnerschaften, und zwar driften diese Könnerschaften um so mehr auseinander,
je größer die Masse der Beteiligten und Konkurrierenden ist. Hohe Spitzen treiben auf
breiter Basis hervor. Im Exempel heißt das: Die Schachgroßmeister entstammen nicht
zufällig sehr oft der Nation, in der das Schachspiel den Charakter eines Massenvergnü-
gens hat, nämlich in Rußland.
Was sich am Sport ablesen läßt, läßt sich verallgemeinern: Gerade egalitäre Gesell-
schaften sind elitetreibende Gesellschaften. Wahr ist, daß Fernseh-Dauerkonsum, der
nachweislich vorkommt, das intellektuelle Aktivitätsniveau der Konsumenten dra-
stisch absenkt. Nichtsdestoweniger wirken eben auch die Massenmedien gesamthaft
nicht egalisierend, vielmehr differenzierend, und zwar kraft höchst unterschiedlicher
individueller Formen der Nutzung der Massenmedien. Gewiß: Es gibt die Studenten,
die den halben Montag mit Magazin-Lektüre verbringen, donnerstags auf allerlei Wo-
chenblätter abonniert sind und schon aus Berufsgründen sich für verpflichtet halten,
sich keine Trivialromanverfilmung im Fernsehen entgehen zu lassen. Das stiftet dann
gedrückte, depressive intellektuelle Befindlichkeiten. Aber es gibt jene anderen Studen-
ten eben auch, die wissen, daß fünfminütige Morgennachrichten zwischen sechs Uhr
dreißig und sechs Uhr fünfunddreißig für die Zwecke der Information übers Weltge-
schehen vollständig genügen. Der enorme Zeitgewinn, in den diese Einsicht sich um-
setzen läßt, wird dann zu produktiveren Betätigungen genutzt, und wie eine Rakete,
uneinholbar, zieht der zeitnutzungsbewußte Kommilitone seinem magazinlesenden
Bankgenossen davon, der sich nicht eingesteht, daß Nachrichtenkonsum nahezu aus-
schließlich Unterhaltungszwecken dient.
Gegen Unterhaltung ist selbstverständlich prinzipiell gar nichts einzuwenden. Inso-
weit hätte man lediglich die alte und unbeschadet ihres Alters nicht veraltete, also klas-
sische Tugend der Mäßigung zu beachten. Informationsrezeption hat im Regelfall eine
kompetenzerweiternde Bedeutung einzig dann, wenn sie im Kontext pragmatisch
wohldefinierter Handlungszusammenhänge erfolgt, sei es in Ausbildung, Weiterbil-
dung oder in Produktion, in der Planung und bei Entscheidungsvorbereitungen. Das
festzustellen heißt nicht, Nachrichten verbreitende Medien für kulturell oder politisch
irrelevant zu erklären. Es heißt lediglich zu ermuntern, den Nachrichtenkonsum nach
Umfang wie nach Inhalt einer tätigkeitsorientierten Selektion zu unterwerfen. Wer das
gelernt hat, hat dann freilich zugleich gelernt, daß ohne kompetente Nutzung auch der
Massenmedien wir zur aktiven Teilnahme an wichtigen sozialen und politischen, auch
beruflichen Interaktionen gar nicht fähig wären.
Der Differenzierungseffekt der Massenmedien wird sich unter den neuen techni-
schen Voraussetzungen, die wir zu erwarten haben, noch steigern. Je größer die Menge
der Medienangebote, je differenzierter diese Angebote in funktionaler Hinsicht sich
darstellen, je höher das von den neuen Medien den Mediennutzern abverlangte Aktivi-
tätsniveau, um so stärker macht sich zugleich der modernitätsspezifische Differenzie-
rungseffekt der Mediennutzung bemerkbar.
Kurz: Die sogenannte Massengesellschaft ist in Wahrheit die Gesellschaft der mas-
senhaft freigesetzten Individualismen.
36 HERMANN LUBBE

Für die industrielle Produktion materieller Güter gilt grundsätzlich nichts anderes.
Es lohnt sich zu fragen, wieso überhaupt die industrielle Produktion in den Ruf kom-
men konnte, vermassend zu wirken. Die Antwort scheint mir zu lauten: Handwerkli-
che Traditionen waren in der Tat kleinräumig variant, während demgegenüber die in-
dustrielle Massenproduktion großräumig invariant ist. An entfernten Örtern Demsel-
ben wie zu Haus zu begegnen - das war tatsächlich industriegesellschaftsspezifisch:
Überall dieselben Manchestertuche, während die handwerkliche Produktion kleinräu-
mig von Ort zu Ort variierte. In den kleinen Räumen, aus denen man im vorindustriel-
len Zeitalter geringer Mobilität allerdings selten herauskam, war die Produkt-Varianz
indessen ungleich geringer als sie es heute ist, wo wir uns doch über Manchestertuche
hinaus nach Belieben mit Tuchen aus aller Herren Länder bedienen und bekleiden kön-
nen. Das bedeutet: Die industriegesellschaftsspezifische Lust an der vorindustriellen
handwerklichen Produktion ist eine Lust aus städtisch-nostalgischer Perspektive. Da-
gegen ist gar nichts einzuwenden, wenn anders man nicht übersieht, daß inzwischen
die Industrie zum wirkmächtigsten Erzeuger kultureller Vielfalt geworden ist. Im 19.
Jahrhundert herrschte das Gesetz der großen Serie. Gerade am Beispiel der industriel-
len Weberei ließe sich das anschaulich machen. Heute ist Massenproduktion mit belie-
biger Kleinserienvielfalt verbindbar geworden. Die elektronische Steuerung der Pro-
duktion macht es möglich.
In der kulturellen Konsequenz bedeutet das: Herausforderungscharakter hat in der
industriellen Gegenwart, nämlich unter ästhetischem Gesichtspunkt, nicht die Unifor-
mität der Produkte, die wir in unsere Lebenskultur einzubeziehen haben, vielmehr ihre
historisch beispiellose Varietät, die unsere Selektionskompetenz überfordert. Nicht
durch Alternativlosigkeit ist die Ästhetik des Industriezeitalters charakterisiert, viel-
mehr durch die Fülle der Angebote, deren vollendete Nutzung geradezu ästhetisches
Genie erfordert.
Aber wer ist schon ein Genie? Wo man sich überfordert fände, bleibt man auf Er-
probtes und Bewährtes angewiesen. Darauf beruht auch die auffällige Konjunktur des
Klassischen im Zeitalter der hochdifferenzierenden Massenproduktion. Diese Kon-
junktur des Klassischen verhält sich zu den ästhetisch destruktiven Phänomenen über-
forderter Selektionskompetenz genau komplementär.
Was für den Sport, für den Medienkonsum, für die Gewinnung ästhetischer Kompe-
tenzen gilt, gilt selbstverständlich auch für den Bereich der schulischen und akademi-
schen Bildung: Förmlich und faktisch gewährleistete Chancengleichheit mehrt nicht
die Egalität unserer kommunikativen, beruflichen und partizipatorischen Fähigkeiten -
sie treibt ganz im Gegenteil die Niveaus individuell erreichbarer Kompetenzen immer
weiter auseinander. Im Lastenaspekt dieses Prozesses bedeutet das: Kompetenzdiffe-
renzierung, wie sie für alle modernen egalitären Gesellschaften charakteristisch ist, läßt
auch die jeweils Schwächeren, für sich selbst wie für andere, auffälliger werden. Es wä-
re ein neues Kapitel für sich, das bis in die sozialen Mechanismen hinein anschaulich zu
machen, über die sich in Modernisierungsprozessen und genau komplementär zu ihren
sie antreibenden Lebensvorzügen auch Lebenslasten erzeugen, unter deren Druck
man, wie eingangs erwähnt, sich selbst als »Modernisierungsopfer« erfahrbar wird.
O T T O PÖGGELER (Bochum)

Kultur - Kunst - Öffentlichkeit

Im Titel unseres Kolloquiums wird die Kunst auf die Öffentlichkeit bezogen und so in
den übergreifenden Zusammenhang der Kultur gestellt. Die Philosophie soll diese Ver-
flechtung erörtern und damit von unterschiedlichen Orten aus Perspektiven auf prakti-
sche Probleme öffnen. Die Aktualität dieser Aufgabe wird sofort deutlich, wenn man auf
Berlin verweist. Nach dort soll das Parlament der erweiterten und vollendeten Bundesre-
publik Deutschland gemäß den alten Vorsätzen umziehen. Man kommt dann nicht mehr
in die geteilte Stadt, die einst wie eine Wunde die Teilung der Welt nach Ost und West an-
zeigte, sondern in die alte Hauptstadt, die traditionsgemäß ihre Bedeutung auch in
großen Museen darzustellen hat. Als einst die französische Revolution und Napoleon als
ihr Erbe Europa umgestaltet hatten, konnten die deutschen Länder in den Freiheitskrie-
gen ihre Selbstständigkeit zurückgewinnen. Preußen rückte als neues Mitglied unter die
Großmächte auf, die nun eine Pentarchie bildeten. Vorher, in der Zeit der Not und Er-
niedrigung, hatte Berlin durch Wilhelm von Humboldt eine Universität bekommen, die
nicht mehr auf Fachhochschulen wie Theologie, Jurisprudenz und Medizin ausgerichtet
war, sondern in den Geisteswissenschaften einen neuen Schwerpunkt hatte. Mit der Be-
rufung Hegels bekam die Philosophie eine maßgebliche Rolle in der Integration aller Fa-
kultäten. Trotz des proklamierten Abschieds von Humboldt haben wesentliche Elemen-
te dieses Universitätstyps ihre Wirksamkeit - bis nach Kalifornien hin - behalten.'
Man kann schwerlich übersehen, daß die Jahrzehnte um 1800 eine »Sattelzeit« sind,
die durch ihre Höhe ein Vorher und Nachher trennt. Hegel hatte sich als Tübinger Stu-
dent für die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im revolutionären
Frankreich begeistert; als Hofmeister in Frankfurt hatte er das Elend der besetzten und
geplünderten rheinischen Länder kennengelernt und auf eine Wiederherstellung des
Deutschen Reiches unter der Führung Österreichs gehofft. Als sich Österreich aber
dem freiheitsungewohnten Rußland zuwandte, setzte Hegel auf die Reformen, die von
Napoleon im Rheinbund wenigstens versprochen wurden. Erst spät hat Hegel gelernt,
daß die neuen Verfassungen ein Schein waren und nur die Machtpolitik verdeckten. Als
der Nürnberger Gymnasialdirektor wieder zurückkehren konnte an die Universität,
sprach er in der Heidelberger Antrittsrede von der Rettung der »Nationalität« und
vom neuen Aufblühen der Interessen des Geistes neben den politischen Interessen. Am
Rande notierte er sich (wohl später bei der Ausarbeitung der Berliner Antrittsrede):
»Preußen auf Intelligenz gebaut«.2 Damit nahm Hegel ein Wort der preußischen Re-

1 Vgl. Nikolaus Lobkowicz, Geisteswissenschaften und Hochschulreform. In: Geisteswissenschaft als


Aufgabe. Kulturpolitische Perspektiven und Aspekte. Hrsg von Hellmut Flashar, Nikolaus L o b k o -
wicz, O t t o Pöggeler. Berlin, N e w York 1978. S. 21 ff.
2 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke (Akademieausgabe). Band 18. H a m b u r g
1995. S. 4. - Zum folgenden vgl. Reinhart Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen 1815-1848.
In: Moderne deutsche Sozialgeschichte. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler. Köln/Berlin 1966. S. 55-84,
vor allem S. 61, 65, 76.
38 OTTO PÖGGELER

former auf. So hatte der Kanzler Hardenberg 1817 zu einem Gutachten der Oberpräsi-
denten angemerkt: »Der preußische Staat muß allerdings durch Intelligenz und seinen
Geist vorherrschen...« Preußen konnte nicht wie andere europäische Staaten auf dem
Reichtum von Geschichte und Tradition aufbauen; es mußte die Einheit mit den neuge-
wonnenen Provinzen erst durch effiziente Verwaltung und gemeinsame Bildung ge-
winnen. Offenbar hatten Besucher aus Berlin wie Niebuhr und von Raumer, dann der
Minister von Altenstein Hegel die Augen geöffnet für den neuen Weg Preußens.
In Europa sind die einzelnen Länder nacheinander in eine kulturell führende Rolle
eingerückt: Italien mit Dante, Portugal und Spanien nach dem Ausgriff der Seefahrer
auf die Welt mit Camöes und Cervantes, das Elisabethanische England mit Shakes-
peare, Frankreich mit Ludwig XIV, Racine, Moliere, Pascal. Deutschland gewann erst
spät eine vergleichbare Kultur mit dem Kernbestand aus Dichtung und Musik, Philo-
sophie und geschichtlicher Besinnung. Wenn die Goethezeit noch einmal den Streit der
Modernen mit den Alten ausfocht, dann sah Friedrich Schlegel durchaus, daß es um ei-
nen bestimmten Ort in der unabgeschlossenen Geschichte gehe. Es ist dann vor allem
Hegel gewesen, der das Ringen um Verfassungen im politischen Bereich und den Bezug
zur Kunst verknüpft hat. Er erweist sich als Widersacher eines Wegbereiters der Fran-
zösischen Revolution wie Sieyes, wenn er vom altgermanischen Freiheitsbewußtsein
über das Lehnswesen zum modernen Repräsentationssystem führt, das der neuen
Macht des Bürgertums seinen Anteil an der Verwaltung der gemeinsamen Anliegen
gibt. Von der Selbstverwaltung in Kommunen und Korporationen in den nordeuropäi-
schen Gewerbebürgerstädten her soll eine konstitutionelle Monarchie möglich werden.
Gegenüber der Verachtung der Arbeit im klassischen Griechenland reklamiert Hegel
mit den englischen Nationalökonomen die Arbeit als eine Weise der Selbstverwirkli-
chung des Menschen. Zugleich kann er mit den Brüdern Boisseree in den Bildern aus
Brügge, Gent und Amsterdam den bürgerlichen Geist dargestellt finden. So gehört
denn auch die Gemäldegalerie in Berlin für ihn zur Selbstvergewisserung des neuen
Preußen.3 Galeriedirektoren wie die Hegelschüler Waagen und Hotho haben die Bilder
so angeordnet, daß zur italienischen Linie die niederländisch-deutsche Entwicklung
tritt, in der das religiöse Bild die Landschaft, das Portrait, aber auch das Stilleben als ein
Ende der großen Kunst aus sich entläßt.
Es verwundert uns heute, daß so bedeutende Staatsmänner wie Castlereagh und
Metternich durch den Wiener Kongreß dem erstarkten Preußen die Wacht am Rhein
gegenüber dem unruhigen Frankreich übertrugen. Mußte Preußen nicht versuchen,
die östlichen und die westlichen Gebiete zu vereinigen, also die anderen deutschen
Länder sich einzuverleiben? Als 1938 die deutschen Truppen in Österreich einmar-
schierten, sahen Wiener wie Karl Popper über ihnen den Geist Hegels: Philosophen
wie Piaton und Hegel hätten den metaphysischen Zugriff auf die Welt im Ganzen der
freiheitslosen Diktatur unterworfen. Der Deutsche Idealismus war an Wien vorbeige-
gangen, und so blieb dort auch zur Zeit der neuen Wege von Freud und Wittgenstein
nur ein Unverständnis ihm gegenüber. Längst aber war der romantische Aufbruch neu
gewichtet worden; Hölderlin war hundert Jahre nach seinem Sturz in die Krankheit

3 Vgl. den Ausstellungskatalog: Hegel in Berlin. Preußische Kulturpolitik und idealistische Ästhetik.
Hrsg. von O t t o Pöggeler. Berlin 1981.
KULTUR - KUNST - ÖFFENTLICHKEIT 39

erst richtig entdeckt worden. Hegel als Freund Hölderlins, als Generationsgenosse der
Romantiker, als Schüler Schillers und Gesprächspartner Goethes konnte nicht vom
Blickfeld Poppers aus gesehen werden. Als Hegel in Frankfurt wieder zum Freundes-
kreis Hölderlins gestoßen war, zitierte er Shakespeares Julia mit ihrem Satz: »Je mehr
ich gebe, desto mehr habe ich.« Du und Ich gewinnen sich selbst durch die Anerken-
nung des jeweils anderen und in der Wechselwirkung mit ihm. Hegels Deutung der So-
phokleischen Antigone zeigt, daß auch die Vertreter der großen sittlichen Mächte - im
Griechischen der Familie und des Staates - sich anerkennen und eine übergreifende
Einheit gewinnen müssen. In Hegels eigener Zeit muß die überkommene Staatlichkeit
sich mit der neu entstandenen Sphäre freien Wirtschaftens und Handelns (der »bürger-
lichen Gesellschaft« in ihrer Ausweitung zur Weltgesellschaft) verbinden.4
Gefahren für den weiteren Weg der deutschen Geschichte haben sich früh abge-
zeichnet. Ein Jurist und Dichter wie Karl Immermann hatte 1826 in Berlin sein juristi-
sches Examen abgelegt und fand dann im preußischen Düsseldorf seine Wirkungsstät-
te. Sein Roman Die Epigonen schildert das Problem, den Zwiespalt des 18. Jahrhun-
derts zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit durch einen neuen Lebensernst zu
überwinden. Immermann beschreibt, was dem widerfährt, der aus dem Osten
Deutschlands kommend durch die Westfälische Pforte in den Westen reist: das häusli-
che Leben in den adeligen Grundbesitzerfamilien mit dem Ausblick auf eine Beamten-
karriere bleibt zurück; das Gemisch von ehemaligen freien Reichsstädten, kleinen Resi-
denzen und einer freien Bauernschaft hat mit »so manchen Resten unabhängiger
Selbstregierung« den »größeren Sinn für das Öffentliche« bewahrt. Hegel konnte in
Berlin über diese Unterschiede noch hinwegsehen, weil er nach einer frühen Berührung
Rügens nur noch in den Süden und Westen, nach Wien, Gent und Paris reiste. Er hatte
die Tradition der württembergischen »Ehrbarkeit«, das städtisch-bürgerliche Denken
als Maßstab zu setzen, mit nach Berlin gebracht. Als 1830 die Unruhen in Paris ausbra-
chen, machte Hegel in einer neuen protestantischen Streitposition dafür die Unfähig-
keit traditionaler katholischer Religion für die Ausbildung eines modernen Staates ver-
antwortlich. Er wollte nicht sehen, daß es um bürgerliche Rechte, z.B. um die Freiheit
der Presse und um »Öffentlichkeit« ging. Wäre Hegel nicht so früh gestorben, dann
hätte er als Siebenundsiebzigjähriger noch die Revolution von 1848 miterleben können.
Wo hätte er gestanden, als seine Schüler oder Enkelschüler die revolutionären Forde-
rungen stützten, aber der fleißigste Nachschreiber seiner Vorlesungen, der Offizier und
General von Griesheim, die Revolution niederschlagen half mit Hilfe der sprichwörtli-
chen Wendung, daß gegen Demokraten nur Soldaten helfen?5
Jenes dritte Deutschland im Westen und Süden wurde mit seinen freien Bauern und
städtischen Bürgern mehr und mehr durch den Dualismus zwischen Preußen und
Österreich verdrängt. Als 1847 Vertreter der Provinziallandstände Preußens nach Ber-
lin gerufen wurden, konnte dort die Auffassung laut werden, es gelte anzuknüpfen an

4 Vgl Otto Pöggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. 2. erw. Aufl. Freiburg/München
1993. S. 440; Ludwig Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Freiburg/München
1979.
5 Über Hegels Begegnung mit Preußen vgl.: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der eu-
ropäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg. von Hans-Christian Lucas und Otto Pöggeler. Stuttgart-
Bad Cannstatt 1986. S. 311 ff.
40 OTTO PÖGGELER

die Reformen, mit denen Preußen seit 1806 auf die Französische Revolution geantwor-
tet habe. Doch der junge Gutsbesitzer Otto von Bismarck-Schönhausen setzte sofort
zu einer Berichtigung dieser Auffassung an.6 Der nachgeborene Sohn aus dem kleinen
preußischen Landadel hatte sich schon als Jugendlicher dem Versuch seiner Mutter wi-
dersetzt, ihn zum Beamten ausbilden zu lassen. Er wollte das weniger reglementierte
Leben eines Landjunkers beibehalten. Als Kanzler übernahm er die Reformen, die
nicht zu vermeiden waren, selbst. So konnte er gegen Österreich und Frankreich das
zweite deutsche Kaiserreich mit der Hauptstadt Berlin durchsetzen. Er selbst verlor
freilich nie die nötigen Balancen unter den europäischen Großmächten aus den Augen.
Ein Museumsdirektor wie von Bode konnte dann wie ein Minister das Vortragsrecht
beim Kaiser verlangen und den Glanz der Renaissancekunst nach Berlin bringen.
Der Biebricher Pfarrerssohn Wilhelm Dilthey hat damals die Theologie verlassen; so
gelangte er als Philosoph schließlich auf den Lehrstuhl Hegels in Berlin. Sein Werk
über Schleiermacher gibt ein faszinierendes Bild von dem romantischen Aufbruch, in
den auch der aufklärerisch gebildete Schleiermacher geriet. Dilthey sieht, daß nun »Ge-
nerationen« zum Zuge kamen, so die um 1770 Geborenen. Er zeigt dann, daß geistige
Zentren wie Berlin und Jena die maßgeblichen Schübe des Aufbruchs markierten.
Rückt seine Darstellung Schleiermachers aber nicht die romantischen Reden über die
Religion allzusehr vor die Glaubenslehre} Am Gardasee suchte Dilthey fern von den
Bibliotheken in einem kleinen Text Rechnungsabschluß der Gegenwart die Resultate
seiner Erörterungen zu ziehen. Dabei faßte er Schleiermacher als eine Gründergestalt,
nämlich als den Kant der protestantischen Theologie. In dem eigenen Rechnungsab-
schluß ging er davon aus, daß wir nicht mehr mit einem kantianisierenden Theologen
wie Ritschi und auch nicht mehr mit Schleiermacher glauben können. Es mag dem
Guten in dieser Welt schlecht gehen; muß deshalb die praktische Vernunft in Postula-
ten enden, die so etwas wie einen jenseitigen Ausgleich verlangen? Wenn Schleierma-
cher den christlichen Glauben von seinem Stifter her bestimmt und diesen als »unsünd-
lich« kennzeichnet, dann widerspricht das nach Dilthey der Bedingtheit alles ge-
schichtlichen Lebens. Bismarck, so betont Dilthey, sei zwar vom christlichen Glauben
ausgegangen, habe aber als Realpolitiker das politische Handeln autonom vom Zwang
zum Erfolg her gefaßt. Im Oktober 1901 hat Dilthey in Südtirol »Angesichts des Erha-
benen des Rosengartens« noch einmal ein abschließendes Fragment geschrieben: als et-
was Erhabenes schlägt das Massiv der Dolomiten uns nieder, um uns dann doch zu uns
selbst zu bringen! So findet Dilthey schon in der Blüte und im Tier, dann in den aufra-
genden Bergen mit Goethe und Schleiermacher die »Wahrheit von der Welt«. Auch bei
Schülern wie Spranger und Misch bleibt »Weltfrömmigkeit«, von Goethe her ausgelegt,
das letzte Wort.7
Dilthey und seine Schüler gingen mit der Theologie ihrer Zeit davon aus, daß das es-
chatologische Element des christlichen Glaubens in der Geschichte sich selbst aufgelöst
habe. Gegen die Dominanz der Berliner Universität konnte sich bald die Peripherie
neu zu Wort melden, etwa im Heidelberg Max Webers. In Basel hatte der Patristiker

6 Vgl. Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980 u.ö. S. 18 f.
7 Wilhelm Dilthey, Lehen Schieiermachers (Gesammelte Schriften. Band XIII und XIV). Berlin 1970
und 1966. Band XIV, 2. S. 589 ff, Band XIII, 1. S. 566 f. - Zu Misch vgl. die Bände XI und XII des
Dilthey-Jahrbuchs.
KULTUR - KUNST - ÖFFENTLICHKEIT 41

Overbeck sich mit Nietzsche verbündet und die liberale Theologie nach ihrer Christ-
lichkeit gefragt. Wurden Jesus und seine Gemeinde nicht geprägt durch die Aufforde-
rung, im Augenblick das Angebot des Heils zu finden und ein letztes Gericht zu erwar-
ten, das nicht zur moralischen Leistung des Menschen umgedeutet werden kann? Diese
Erwartung mochte sich schon bei den mittelalterlichen Mönchen in das Memento mori
aufgelöst haben; mit der griechisch geborenen Wissenschaft und Kultur war sie unver-
einbar. Als Spengler vom Untergang des Abendlandes gesprochen hatte, sagte Friedrich
Gogarten 1920 von der Hoffnung auf eine neue Kultur, dieser »Traum« sei »ausge-
träumt«. Doch wollte Gogarten des Unterganges froh sein, denn man lebe nicht gerne
»unter Leichen«. Wenn die Zeiten auseinanderträten, dann werde - »zwischen den Zei-
ten« - der Raum wieder frei für die Frage nach Gott und für das Hören auf den Zu-
spruch des ganz Anderen. Der Titel Zwischen den Zeiten wurde zum Titel der Zeit-
schrift der dialektischen Theologen. Für Gogartens Lehrer, Ernst Troeltsch, war dieser
Zuruf ein Apfel vom Baume Kierkegaards.8 Troeltsch nahm nun Hegels Lehrstuhl in
Berlin ein; doch wurde er auch von einem jungen Philosophen wie Martin Heidegger
unter die Leichen gezählt. Das Memento mori wurde bei Heidegger zum Hören des
Gewissensrufs im Vorlaufen zum Tod. Wenn eine formal anzeigende Hermeneutik die
leitenden Motive des Daseins herausstellt, kann sie den Antworten des Glaubens einen
gerechtfertigten Spielraum einräumen. So konnte die Zusammenarbeit zwischen Hei-
degger und Bultmann in Marburg zwei Generationen von Theologen prägen, die im
Verzicht auf eine metaphysische Theologie von der Geschichtlichkeit des Menschen
ausgingen.
Als Edmund Husserl 1928 Martin Heidegger als seinen Nachfolger nach Freiburg
zurückholte, verkannte er, daß die Zusammenarbeit immer stärker zu einem Gegenein-
ander geworden war. Piaton und Descartes waren für Heidegger nicht die Gründerfi-
guren einer endgültig wissenschaftlich werdenden Philosophie. Wenn die Frage nach
dem Sein in allem Seienden neuzeitlich verwandelt wurde in das Suchen des gewisse-
sten Zugangs zum Seienden, dann war das für Heidegger ein Weg, auf dem der Mensch
sich zum Herrn der Erde machte, aber selber auch nur Material einer universalen Tech-
nisierung wurde. Auch Husserl sprach in seinen späten Überlegungen zur Krisis der
europäischen Wissenschaften davon, daß der Traum einer Philosophie als strenger Wis-
senschaft ausgeträumt sei. Ludwig Landgrebe nahm Äußerungen dieser Art als »Hus-
serls Abschied vom Cartesianismus«. Doch zeigte Hans-Georg Gadamer mit einem
Historiker der Phänomenologie wie Spiegelberg, daß Husserl hier von Gegnern wie
Heidegger sprach.9 Heidegger hatte sich vor der Rückberufung nach Freiburg der Spät-
philosophie Max Schelers angeschlossen, die das transzendentale Ich aus seiner Stellung
im Kosmos konkretisierte und metaphysisch auf eine Polarität von Drang und Geist
bezog. Im Herbst 1929 wurde Nietzsches Kritik der europäischen Vernunft für Hei-
degger zur Entscheidung; die Vorlesung vom folgenden Wintersemester entfaltet aber
eine Philosophie des Organischen. Darin geht es nicht nur um eine Ontologie des Le-
bens, sondern metaphysisch um die Frage, wie der Geist, den Heidegger als geschicht-

8 Vgl. Anfänge der dialektischen Theologie. Hrsg. von Jürgen Moltmann. München 1963 u.ö. Teil II
S. 95 ff.
9 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke. Band III. Tübingen 1987. S. 129.
42 O I T O PÖGGELER

liehen Geist faßt, zum Leben steht, dem in uns und außer uns auf diesem Planeten ein
Raum zu bewahren ist - nach den Stahlgewittern des Ersten Weltkriegs und im Vor-
drängen des sog. »Amerikanismus« in der beginnenden Weltwirtschaftskrise.
Als Heidegger sich 1933 auch öffentlich der nationalen Revolution anschloß, beton-
te er in seiner Rektoratsrede, daß Nietzsches Wort »Gott ist tot« der Tradition das Ur-
teil spreche. Bald mußte Heidegger einsehen, daß der wirkliche Nationalsozialismus
anderes wollte, als er von ihm oder doch von Hitler erwartet hatte - daß z.B. der Ras-
segedanke dem verabscheuten Biologismus folgte. Im Winter 1934/35 las Heidegger
über Hölderlin; er wollte in den Empedokles-Entwurfen und in den späten Hymnen
die Bestimmung dessen finden, was eine wirkliche Revolutionierung aller Lebensver-
hältnisse sein könne. Gleich zu Anfang seiner Vorlesung sagte Heidegger, die prosaisch
klingende Sprache von Hölderlins Hymne Germanien sei »dichterischer als das glatte-
ste Versgehüpfe und Reimgeklingel eines Goethischen Liedes oder eines anderen Sing-
sangs«.10 Folgte Hölderlin nicht in der Tat einer anderen Sprache als Goethe? Wer früh
Georg Trakl gelesen hatte, sich dann mit George und Hellingrath Hölderlins Pindar-
Übersetzungen aneignete, dem mußten Goethes Verse und etwa die nachgoethische
Lyrik eines Eichendorff fremd bleiben. Wer mit Nietzsche zum tragischen Zeitalter der
Griechen zurückging, der konnte nicht Thaies sich durch die Reime aus der klassischen
Walpurgisnacht vorführen lassen. Sicherlich hat Heidegger immer wieder Goethe zi-
tiert, als er zum siebzigsten Geburtstag von Bremer Freunden eine Goethe-Ausgabe
geschenkt bekommen hatte. Auch die Noten zum West-östlichen Dwan interessierten
ihn; doch zuckte er zurück, wenn man aus dem Schenkenbuch zitierte, wie das Gedicht
Sommernacht das »Griechenvolk« von Aurora und Hesperus sprechen läßt. Sich gar
vorzustellen, daß Heidegger mit Moliere über sich selbst hätte lachen können, ist un-
möglich.
Heidegger konnte 1936/37 in den Beiträgen zur Philosophie seinen Ansatz ausgestal-
ten; das Gespräch mit Hölderlin führte zu dem hin, was man mit einem Ausdruck, den
Heidegger streng mied, »neue Mythologie« nennt. Gleichsam in letzter Stunde, im
Wintersemester 1937/38, veranstaltete er mit Freiburger Dozenten den Arbeitskreis
Die Bedrohung der Wissenschaft. Die Wissenschaft werde vor allem durch sich selbst
bedroht, wenn sie ihre Ansätze und Voraussetzungen unbedacht lasse und umso leich-
ter in den Dienst der Politik gestellt werden könne. Zwar bleibe es belanglos, wenn
Lehrstühle für Philosophie programmatisch zugunsten jener abgeschafft würden, die
dem Gewinn des »völkischen Wesens« dienen sollten. Wenn damit auch das Denken
getroffen werde, dann sei das der »weltgeschichtliche Selbstmord« der Deutschen." Im
Juni 1938 hielt Heidegger einen Vortrag, der später unter den Titel Die Zeit des Welt-
bilds in die Holzwege aufgenommen wurde. Doch 1938 sprach Heidegger noch davon,
daß der Wissenschaftler in den Bereich des Arbeiters und Soldaten drängte. Der Aus-
gang von Ernst Jünger ist deutlich, während später die Rede von Wissenschaft und

10 Vgl. Martin Heidegger, Hölderlins Hymnen "Germanien- und »Der Rhein'. Frankfun a.M. 1980.
S. 16.
11 Vgl. Martin Heidegger, Die Bedrohung der Wissenschaft. In: Zur philosophischen Aktualität Heideg-
gers (Symposium der A. von Humboldt-Stiftung). Band I. Frankfurt a.M. 1989. S. 5 ff, vor allem 27.
- Zum folgenden vgl. Silvio Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik.
Tübingen 1989. S. 36, 47; Martin Heidegger, Besinnung. Frankfurt a.M. 1997. S. 419 ff.
KULTUR - KUNST - ÖFFENTLICHKEIT 43

Technik die Auseinandersetzung mit Werner Heisenberg bevorzugt. Welchen Weg


Heidegger 1938 selber gehen wollte, zeigt die Beilage zu seinem Testament Wunsch und
Wille, die z. B. auf die Beiträge als »Nachlaß« zurückblickt. Wenn Heidegger doch wei-
ter lebte und arbeitete, dann suchte er mit den vorsokratischen Denkern und spätesten
Fragmenten Hölderlins nur noch kleine unscheinbare Anfänge oder andere Anfänge.
Wer würde ohne Kenntnis des Autors in der (oft geradezu mystisch-süßlichen) Sprache
der seinsgeschichtlichen Besinnung auf den Nihilismus noch den Verfasser der Beiträge
erkennen?
Können Piaton und Hegel, können die Geisteswissenschaften mit ihrem hermeneu-
tischen Ansatz in die eine Tendenz zum in sich selbst »technischen« Herrschaftswissen
eingerechnet werden? Hans-Georg Gadamer hat unter dem Titel Wahrheit und
de die Aktualität des hermeneutischen Anliegens bei Aristoteles und Vico, aber auch in
den recht verstandenen Geisteswissenschaften herausgestellt. Damals sprach Heideg-
gers Weggefährte Oskar Becker davon, daß der »Panhermeneutik« bei Heidegger und
Gadamer gegenüber der Sinn des Mathematischen, aber auch des ästhetischen Formen-
bezugs und des psychoanalytischen Rückgangs zum Archetypischen verteidigt und das
Recht von »Ideen« gewahrt werden müsse. Da Gadamer seine philosophische Herme-
neutik in Platon-Studien weiterbildete, kann dieser Einspruch nicht mehr gelten. Eine
späte Arbeit Gadamers bestimmt das »Angemessene«, von dem der Dialog Politikos
spricht, sowohl als das Gemessene wie als das Geziemende, als den günstigen Augen-
blick wie als das, was sein soll. So kann von Piaton eine Brücke geschlagen werden zu
dem Wort, in dem Goethe am Meer vor Venedig über Seeschnecken und Taschenkrebse
sagte: »wie wahr, wie seiend«. Von Piaton selbst her (und nicht etwa nur vom Neupla-
tonismus Shaftesburys her) werden die Grundbegriffe für das Verständnis von Natur
und Kunst, von Sittlichkeit und Geschichte gewonnen. Wenn man von Ideen sprechen
will, dann nur in dieser breiten Streuung.12
Das Zusammenspiel des bürgerlichen Geistes und einer neuen Kunst in der europäi-
schen Stadt mußte auch Thema kunstgeschichtlicher Forschung (im Anschluß an He-
gel) werden. So konnte Hans Belting unter dem Titel Bild und Kult »eine Geschichte
des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst« schreiben (München 1990 u.ö.). Wenn um 600
n. Chr. das gemalte Bild neben die alte Götterstatue trat, dann mußten diese Darstel-
lungen Christi und seiner Heiligen Wunder der Heilung und Tröstung wirken - zum
mindesten dann, wenn an den Festtagen der Vorhang vor dem Bild zurückgezogen
wurde. Wenn Raffael dann zur Sixtinischen Madonna den Vorhang auf dem Bild selbst
malte, war das Kultische in der Kunst aufgegangen. War damit die kultische Malerei
(ein barockes Nachspiel zugestanden) nicht an ihr Ende gekommen? Als die europäi-
schen Staaten im Zeitalter des Imperialismus um die Spitze in der Weltgeschichte
kämpften, entfaltete sich die moderne Kunst unter dem Vorrang der Malerei (sowie der
Lyrik und des Romans). Ist diese moderne Malerei nicht nur eine Privatsprache ohne
öffentliche Relevanz, angestoßen im Kubismus von neukantischen Philosophemen
oder bei Klee von der Gestaltpsychologie? Das war die Auffassung Arnold Gehlens.
Auch z. B. angesichts des Aufstandes der Intellektuellen in Prag 1968 blieb Gehlen bei

12 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke. Band 8. Tübingen 1993. S. 382 ff; Oskar Becker,
Dasein und Dawesen. Pfullingen 1963.
44 OTTO PÖGGELER

seiner Überzeugung, daß nur das Zusammenleben in den Institutionen des Staates dem
menschlichen Leben einen Sinn gebe. Dieser Sicht der Kunst hat Hans-Georg Gadamer
widersprochen: auch der attische Besucher eines Theaters, das zugleich religiöses Fest
war, dann der Betrachter der Bilderwelt in den europäischen Kirchen und an den
Höfen, reagierten durchaus mit einem reflektierten Kunstgenuß. So bestehe kein
grundsätzlicher Unterschied zwischen der griechischen Tragödie, dem Bild in den eu-
ropäischen Kirchen und Kunstwerken von Picasso oder Klee.13
Die Berliner Museen wurden seit dem letzten Weltkrieg hin und her geschoben und
finden heute wieder bleibende Plätze. Zu ihnen trat in Stühlers Garnisonsgebäude für
die Schloßwache in Charlottenburg eine neue Sammlung: Picasso und seine Zeit. Heinz
Berggruen, aus Berlin einmal nach Paris und Amerika vertrieben, zeigt die Moderne in
Malerei und Skulptur. Picassos Werke werden auf sein bewegtes persönliches Leben
bezogen; Klee führt eine Bereicherung um das Phantastische ein. Man hört Berggruens
Autobiographie, als Buch vorliegend, im Keller vom Band. Die Kunst erscheint darin
wie eine Droge, die in herausgehobenen Augenblicken das Erleben steigert. Heidegger
sah dagegen in Picasso und Klee alternative Wege. Von seinen Gedanken her zeigt Wal-
ter Biemel, daß Picasso die Gewalt des Krieges in seinem Guernica-Bild darstellt, aber
in seiner Kunst in paralleler Weise ein Verfügenwollen verabsolutiert. In den dreißiger
und vierziger Jahren wird die Frau bevorzugt Thema, weil ein besonders mächtiger
Zauber dem verfügenden Schaffen ausgeliefert werden soll. Kunst steht also nicht ohne
weiteres gegen die Technik; sie kann mit dieser zusammengehen - wie ja auch die Tech-
niken in ihrer Pluralität und innerhalb ihrer Grenzen hilfreich für den Menschen sind.
Die Kunst kann jedoch den Menschen gerade dann helfen, wenn sie - wie in Klees spä-
ten Bildern - von der Erfahrung der Sterblichkeit, der Verstoßung und der Emigration
herkommt.14
Gehört die Sprache der Kunst (wie Richard Rorty meinte) mit ihren »metaphysi-
schen« Ausgriffen in einen privaten Bereich, der unterschieden bleibt vom öffentli-
chen Bereich, in dem die nüchterne Einigung auf Solidarität gefordert ist? Als im
Deutschen Bundestag Paul Celans Todesfuge gelesen wurde, stürzte der Bundestags-
präsident Jenninger mit seiner inhaltlich untadeligen Rede, weil er zu wenig Sensibi-
lität zeigte. Erfahrungen, die in der Kunst gestaltet werden, reichen in herausgehobe-
nen Augenblicken wie dem öffentlichen Gedenken an die sog. »Kristallnacht« in die
Politik und deren Entscheidungen hinein. Nur allzu oft bleibt die nötige gemeinsame
Besinnung aus. Als nach dem letzten Weltkrieg in Ulm Inge Scholl in Erinnerung an
ihre hingerichteten Lebensgefährten die Hochschule für Gestaltung aufbauen durfte,
bot Heidegger an, dort über Paul Klee zu sprechen; auch riet er, Celan nach Ulm zu
berufen. Dem Schweizer Max Bill, der die Hochschule baute und leitete, blieb diese
Bemühung der Deutschen um ihr Schicksal fremd, da er eine neue Kunsttechnologie
suchte (das Spiel vielfarbiger Kreise und Quadrate, wie Celan in seiner neuen
ge, dem Gedicht Engführung, sagte).15 Wenn Celan später nicht in Paris zu Levinas
ging, sondern zu Heidegger nach Freiburg, zeigte er an, daß er das Gespräch mit je-

13 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke. Band 8. S. 311; zu Belting vgl. S. 398.
14 Vgl. Walter Biemel, Gesammelte Schriften. Band 2. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. S. 29 ff.
15 Celan bezieht sich (im Zusammenhang mit Benjamins Kritik an Kommerell) auf das »B-Bauhaus«;
vgl. die Gedichte aus dem Nachlaß. Frankfurt a.M. 1997. S. 187.
KULTUR - KUNST - ÖFFENTLICHKEIT 45

nem Denker suchte, der Hölderlin als den Dichter der Zukunft genannt hatte. Es gab
ein Gespräch von zwei verschiedenen Ufern; da es abbrach, bleibt heute die Aufgabe,
es zu erneuern und nicht Titel wie »Holokaust« (immer noch mit dem amerikanischen
»c« geschrieben und nicht ganz eingedeutscht) zur Gebärde der Drohung und Forde-
rung zu machen.
Die Berufung auf »Öffentlichkeit« verpflichtet dazu, Auseinandersetzungen nicht
als Streit um bloße Dominanz zu führen. Dabei muß unterstellt bleiben, daß sich viele
Dinge des verbindlichen Urteils entziehen (es brauchte ja hundert Jahre, ehe z.B. Höl-
derlins späte Hymnen anerkannt wurden). Doch auf welche Bereiche soll die Forde-
rung nach Öffentlichkeit sich beziehen? Immer noch kann die Nation wichtigste Le-
bensverhältnisse ordnen - nicht nur Steuer-, Sozial- und Rentenpolitik, sondern auch
die Bewahrung bedeutsamer Traditionen. Doch im Nordwesten und Südwesten
Deutschlands sind die wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen zu den benach-
barten Staaten sicherlich wichtiger als die Beziehungen zu nordöstlichen deutschen
Ländern. Heute muß sich Europa auch als Ganzes, wie immer es abgegrenzt werden
mag, in der Welt behaupten. Als der Eiserne Vorhang fiel, war die Tendenz zur »Globa-
lisierung« gegeben. Schon auf wirtschaftlichem Gebiet fehlen im globalen Bereich ord-
nende Instanzen. Das bedeutet, daß die Berufung auf Öffentlichkeit an eine Aufgabe
appelliert, nicht einfach an Gegebenheiten. Wie wenig sich heute nur Kulturen im Sin-
ne Huntingtons unterscheiden, zeigt sich daran, daß die arabischen Völker den hef-
tigsten Streit untereinander führen können. Als die Sowjetunion zusammenbrach,
konnte Fukuyama den Hegelianismus Kojeves für das State Department aktualisieren:
Markt und Demokratie schienen ein Resultat der Geschichte, das sich weltgeschicht-
lich durchsetzte. 16 Japan schien im Vorteil, weil es zu Markt und Demokratie auch noch
eine quasifamiliäre Einbindung des Wirtschaftens zeigte. Heute wirft man ihm Nei-
gung zu Korruption vor. Das aber heißt, daß die leitenden Überzeugungen dogmatisch
gefunden und geschichtlich in der Balance gehalten werden müssen. Ein »Ende der Ge-
schichte« ist nicht abzusehen.
Die vorgetragenen Gedanken sollten Hans-Georg Gadamer Gelegenheit geben, sich
noch einmal zu Hegel und Heidegger oder auch zu Arnold Gehlens Buch über die mo-
derne Malerei zu äußern. Immermann wurde angeführt, weil Gadamer (wie Rudolf
Bultmann) sich früh schon mit Immermanns Sonetten auseinandergesetzt hat. Leider
war es Hans-Georg Gadamer bei schwankendem Gesundheitszustand und schwierigen
Witterungsverhältnissen weder möglich, zum Hagener Kolloquium zu kommen, noch,
einen schriftlichen Beitrag zu formulieren. Vorweg schon hatte er sich zu einem Punkt
geäußert, der bei seinen Besuchen im Bonner und dann Bochumer Hegel-Archiv abends
in Thomasberg im Siebengebirge sowie in Bochum-Querenburg besprochen worden
war: zur rechten Auslegung von Celans Gedichten sowie zum Verhältnis Celan-Hei-
degger. Daß es dabei nicht nur um eine literarische Angelegenheit geht, zeigt Gadamers
Äußerung; deshalb mag sie hier die Einführung zur Tagung beschließen. Gadamer wie
ich selbst waren sowieso der Auffassung, daß das Entscheidende von den einzelnen Re-
feraten und ihrer Diskussion zu erwarten sei. Doch zu dem genannten Punkt äußerte
Hans-Georg Gadamer sich in seinem Brief vom 18. November 1998 ausführlicher:

16 Vgl. Otto Pöggeler, Ein Ende der Geschichte? Von Hegel zu Fukuyama. Opladen 1995
46 OTTO PÖGGELER

»Ich habe Zweifel, ob der Autor eines Gedichtes weiß, was er gemeint hat. Ich halte
es auch für falsch, wenn ein Leser beanspruchen will, das zu wissen. Ganz gewiß ist
Heideggers Verhalten auch in diesem Falle sehr schwierig zu ermessen. Sie werden aus
meinem Beitrag sehen, warum ich das nicht für menschliche Schwächen verantwortlich
mache, obwohl solche gewiß vorhanden sind, sondern daß da doch ein Grundfehler im
Ganzen vorliegt. Wer ein Gedicht schreibt, besitzt es gar nicht mehr, wenn es ein wirk-
liches Gedicht ist, und das ist auch an den Varianten in diesem Falle plausibel zu ma-
chen. Ich selber halte es für einen Fehler, wenn die Begegnung zwischen Heidegger und
Celan, die doch nun schon jahrelang vorbereitet war, nur auf dieses eine Thema kon-
zentriert wird, was für das >kommende Wort< in diesem Gedicht gemeint sein sollte.
In einem Vers seinen Ort zu haben, ändert die Aussagekraft, die etwa eine Äußerung
von Mann zu Mann gehabt hätte. Zu einer solchen ist es offenbar nicht gekommen, und
Sie haben Recht, wenn dies zu den großen Schwächen eines solchen genialen Denkers
gehört. Aber der nicht minder geniale Dichter wird wahrscheinlich im Geheimen auch
gedacht haben, daß sein Gedicht doch auch nicht einfach ein Brief ist, der an jemanden
gerichtet wird. Was bei einem anderen Verfahren herauskommt, sieht man bei den per-
sönlichen Äußerungen und Interpretationsansprüchen von Bollack. Es ist sicherlich
nicht ganz von der Hand zu weisen, daß hier jüdische Wunden neu zu bluten anfangen
und das auch vielleicht sogar für den Dichter gilt. Aber nein, Sie haben ja wohl selbst
erlebt, daß die Begegnung mit Heidegger von Seiten Celans im höchsten Grade ein-
drucksvoll und wohlgelungen war.
Die Sache ist aber weiß Gott von einem belastenden Ernst. Wie können wir das als
Menschen überhaupt ertragen, daß in einem kulturellen Lande, in dem es auch gläubige
Christen gab, dieser antisemitische Wahnsinn widerstandslos sich austoben konnte.
Gewiß, die Entartung des deutsch-russischen Krieges bleibt auch ein schwer zu verste-
hendes Unheil, und im Stile dieses Unheils ist wohl auch die für uns so quälend gewor-
dene Frage: Wie konnte das geschehen. Daß etwa Stalin mit der Ermordung der intel-
lektuellen Elite in Polen und überhaupt mit seiner Form der Machtausübung hem-
mungslos und fremd für uns ist, kann man sehr leicht verstehen. Aber was hat das in
Deutschland möglich gemacht? Ein wirklich entschlossener Antisemitismus kann doch
zum Beispiel kaum für den Holocaust verantwortlich gemacht werden. Es ist doch
auch Macht und Haß und Wahnsinn. Warum konnte das in Deutschland sich so unge-
stört ausbreiten? Ich kann mir natürlich die einzelnen Phasen dieses mit dem Röhm-
Putsch Einsetzenden einigermaßen rekonstruieren, aber man fragt sich doch er-
schreckt, daß erst ein halbes Jahr vor dem Ende durch Stauffenberg und nicht vielmehr
rechtzeitig vor dem ganzen Kriegsgeschehen deutsche verantwortliche Militärs nichts
getan haben. Daß ehrenwerte Militärs schon bei dem Sudeteneinmarsch ihr Amt nie-
dergelegt haben, steht doch in keinem Verhältnis zu der Duldsamkeit, die das war. Wie
konnte nach dem Bruch des Münchner Abkommens das Unheil nicht vermieden wer-
den? Meine Gedanken schweifen dann oft rückwärts, wie wenig Humanität im Zeital-
ter der Aufklärung sich ausgewirkt hat.«
HENNING BOCK (Berlin)

Kunstpräsentation im Wandel

Kunstwerke auszustellen, ist ebenso dem Wandel des Geschmacks und der wechseln-
den Konzepte unterworfen, wie die Tätigkeit aller anderen kulturellen Institutionen.
Mit einiger Unscharfe kann man sogar ihre Wirkung auf die Öffentlichkeit messen und
analysieren, d.h. mit statistischen Methoden und Besucherbefragungen ihre Attrakti-
vität für die Besucher und damit ihre Effektivität bewerten. So gab es 1996 in der Bun-
desrepublik Deutschland 5040 Museen, deren Ausstellungen von ca. 90 Millionen Per-
sonen besucht wurden.1 540 Museen waren reine Kunstmuseen mit den unterschied-
lichsten Traditionen ihrer Sammlungen und Gebäude, aber auch der Träger und ihrer
Finanzierung. Nicht eingeschlossen in diese Zahl sind die reinen Ausstellungshäuser
ohne eigene Sammlungen, bei deren Veranstaltungen zusätzlich etwa 4 Millionen Besu-
cher gezählt wurden. Es handelt sich also bei den Museen und Ausstellungshäusern um
Institutionen mit einer so breiten Öffentlichkeitswirkung, daß sie heute, wenn in der
Presse mehr von Finanzen als von inhaltlichen Programmen geredet wird, stets gefragt
werden, mit welcher Strategie sie ihre Botschaft am besten vortragen oder wie sie ihr
Produkt »Kultur« am erfolgreichsten vermarkten können. 2
Schon die Formulierung einer solchen Frage weist darauf hin, daß die Institution
Museum in der Meinung ihrer staatlichen oder kommunalen Träger zu einem - freilich
gehobenen - Bereich der Freizeitindustrie gerechnet wird, deren wirtschaftliche Effizi-
enz allerdings den Finanzhaushalt möglichst nicht übermäßig belasten sollte. Zwar ist
dieser Standpunkt nicht neu und bestimmte immer schon alle Diskussionen über öf-
fentliche Museen, aber die bürgerliche Institution »Museum« war im 19. Jahrhundert
aus der Einsicht entstanden, daß Kunstwerke für die Bildung des Staatsbürgers uner-
läßlich seien, und daß die sie bewahrenden und ausstellenden Institutionen den An-
spruch auf ausreichende Finanzierung erheben durften.
In welcher Weise, so müssen wir weiterhin fragen, hat dagegen heute der Anspruch
der modernen Freizeitgesellschaft auch die Präsentation von Kunstwerken im Museum
beeinflußt und den Wandel vom hohen Kulturgut als Offenbarung allgemeiner Wahr-
heiten zum Objekt der modernen Unterhaltungsindustrie unterstützt? Das Gedränge
der Besucher in den großen Sonderausstellungen von berühmten Künstlern läßt eine
Analogie zu Volksfesten gehobenen Anspruchs durchaus möglich erscheinen.3
Die folgenden Überlegungen beziehen sich vor allem auf die Museen der klassischen
Epochen europäischer Kunst, denn die zeitgenössische Kunst stellt heute andere An-

1 Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 1996.
Hrsg. v. Institut für Museumskunde Berlin. Heft 48, Berlin 1997.
2 Volker Kirchberg, Sozialforschung und Museumsmarketing. In: Museumsfragen. Museen und ihre
Besucher. Herausforderungen in der Zukunft. Tagung Haus der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland. Bonn 1997. S. 176-191.
3 Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/New York
1992.
48 HENNING BOCK

Sprüche an ein Museum als etwa eine Ausstellung von Bildern Rembrandts oder Botti-
cellis. Die einen sind Zeugnisse der Gegenwart in allen Spielarten moderner Kommuni-
kationstechniken, die anderen vergegenwärtigen die Vergangenheit. Aber wie - das ist
mit einem Rückblick auf die Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg zu fragen.

1. Tendenzen der Nachkriegszeit

Das autonome Kunstwerk


Ein frisch promovierter Kunsthistoriker, der in den 1950er Jahren von der Universität
an ein Museum wechselte, wurde mit einigen Grundprinzipien der Ordnung und Aus-
stellung in einem europäischen Kunstmuseum vertraut gemacht.
- Jedes einzelne Bild ist ein autonomes Kunstwerk, das von jedem Besucher gleich
welcher Schicht und Vorbildung erlebt werden kann. Das »gute« Museum muß für
das schauende Erfassen die bestmöglichen Voraussetzungen schaffen, also: jedes Bild
sollte einen gewissen Abstand zum nächsten haben, gut beleuchtet sein und vor
einem farbigen oder auch hellem Hintergrund hängen. Hauptwerke sollten die Mitte
einer Wand einnehmen, um hervorgehoben zu werden. Seit der Jahrhundertwende
allerdings haben Architekten und fortschrittliche Museumsdirektoren durchgesetzt,
nur ein schlicht weißer, kubischer Raum sei zeitgemäß, und farbige Wände seien
Ausdruck einer überwundenen Epoche. Die Farbe Weiß wurde zu einem ideolo-
gisch fixierten Argument in der Diskussion um die bestmögliche Ausstellung von
Kunstwerken überhaupt, auch wenn wahrnehmungspsychologische Untersuchun-
gen längst das Gegenteil beweisen könnten.
- Die Kunstgeschichte gibt in einem Kunstmuseum den verbindlichen Leitfaden für
die Anordnung. Die Ausstellung ist also der Spiegel einer Entwicklungsgeschichte
des europäischen Geistes.

Das Vertrauen in die Einmaligkeit eines Kunstwerks war grenzenlos. Es ging soweit,
daß ein bekannter Muscumsdircktor sein »ideales« Kunstmuseum so beschrieb: »Ich
könnte mir ein ideales Museum von bedeutenden Bildern denken, das überhaupt nur
aus einem großen Magazin bestünde und in dem der Besucher sich das, was er gerade
zu sehen wünscht, etwa auf Grund einer Photokartei, auswählte und sich dann in ei-
nen für ihn allein reservierten Raum bringen ließe, ähnlich wie man sich in einer Musi-
kalienhandlung Grammophonplatten vorspielen oder beim Kunsthändler Bilder vor-
führen läßt. Es wäre zweifellos die beste Methode ungestörter und vertiefter Betrach-
tung.«4
Das große Kunstwerk stand in seiner autonomen Einmaligkeit über der Geschichte,
obwohl diese doch in seiner Erhaltung und seinem Aussehen unübersehbare Spuren
der Vergänglichkeit hinterlassen hatte. Diese Überzeugung ging sogar soweit, daß man
versuchte, ein Kunstwerk in einen wie auch immer gearteten »Urzustand« zurückzu-

4 Fritz Schmalenbach, Ansprache im St.-Annen-Museum am 23. September 1965 zum 50)ahrigen Be-
stehen des St.-Annen-Museums in Lübeck, abgedruckt in: Lübeckische Blätter, 125. Jahrgang, Nr. 16,
Lübeck 1965, S. 252.
KUNSTPRÄSENTATION IM W A N D E L 49

versetzen. Der Archäologe Ohly, Direktor der Münchner Glyptothek, zerlegte die
frühklassischen Ägineten, um die originalen Bruchstücke aus dem 5. Jahrhundert von
den zwar ungemein sensiblen, aber wissenschaftlich nicht ganz korrekten Ergänzungen
Thorwaldsens vom Anfang des 19. Jahrhunderts zu trennen. Das Original - das grie-
chische Kunstwerk - sollte ungestört durch spätere Zutaten sichtbar werden, um in der
ergänzenden Vorstellung des gebildeten Betrachters korrekt erlebt zu werden. Diese
Vorstellung vom autonomen Kunstwerk geht davon aus, daß selbst in einem nur noch
bruchstückhaft erhaltenen Torso noch die künstlerische Idee des Schöpfers zu erken-
nen sei, so wie Winckelmann am Torso von Belvedere seine Vorstellung von dem
Schönheitsideal der Antike gewonnen hatte. Die Ergänzungen des frühen 19. Jahrhun-
dert waren daher für den Münchner Archäologen keine wahre Kunst und im Hinblick
auf das griechische Original nicht ausstellungswürdig.
Dieser Absolutheitsanspruch der alten Kunst hatte aber damals noch eine besondere
Aktualität. Nach dem Zusammenbruch Deutschlands 1945 und im hektischen Wieder-
aufbau vertraute man den gesicherten Werten der alten, traditionellen Kunst und ver-
langte vom Museum den sichtbaren Beweis für die Kontinuität geistiger Werte. Die
Präsentation solcher Kunstwerke hatte daher die Aufgabe, ich zitiere den Tübinger
Kulturhistoriker Gottfried Korff, »das Pathos einer heroisch-abendländischen Weltan-
schauung und eines ungetrübten Bildungshumanismus zu beschwören und Kunstwer-
ke nicht primär als historische Zeugnisse, sondern als Emanationen des Wahren, Guten
und Schönen darzubieten.«5

Das Museum als Lernort


Mit dem Vertrauen auf solche ewigen Werte des Abendlandes war es in den 1960er
Jahren vorbei, institutionell und ideell. Das Schlagwort vom Bildungsnotstand, zuerst
in der kritischen Presse formuliert, erreichte auch die traditionell konservativen Mu-
seen. Die deutsche Forschungsgemeinschaft nahm sich der Institution Museum an
und veröffentlichte 1974 eine Denkschrift, die in die Feststellung mündete: »Museen
- aller Fachrichtungen - sollen keine statischen Gebilde sein. Sie sollen sich in ständi-
ger Entwicklung, in ständigem Bezug auf die jeweilige Gegenwart befinden und ihre
Aufgaben - in Forschung, Lehre und sinnvoller Freizeitgestaltung wie auch in der
Erhaltung wertvollen Kunstgutes - aus dieser Gegenwart und mit Blick auf die Zu-
kunft herleiten. Ihnen kommt - im besten Sinn des Wortes - eine gesellschaftliche Be-
deutung zu, in der ihnen nur wenige Institutionen des öffentlichen Lebens gleich ste-
hen.« 6
Was aber bedeutete im letzten Satz der Begriff der gesellschaftlichen Relevanz für
die Präsentation von Kunstwerken? Wer erinnert sich nicht an die leidenschaftlichen
Diskussionen über das Historische Museum in Frankfurt, das zuerst in Deutschland

5 Gottfried Korff, Zielpunkt: Neue Prächtigkeit? Notizen zur Geschichte kulturhistorischer Ausstel-
lungen in der »alten« Bundesrepublik. In: Vom Elfenbeinturm zur Fußgängerzone: Drei Jahrzehnte
deutscher Museumsentwicklung. Versuch einer Bilanz und Standortbestimmung. Schriften des Rhei-
nischen Museumsamtes Nr. 61, Opladen 1996. S. 61.
6 Denkschrift Museen: Zur Lage der Museen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West.
Hrsg. von Deutsche Forschungsgemeinschaft. Boppard 1974. S. 9. Vgl. dazu Bernhard Graf, Auf dem
Weg ins 21. Jahrhundert: Veränderungen der Besucherstrukturen. In: Museumsfragen (Anm. 2).
50 HENNING BOCK

und am radikalsten in die traditionelle Präsentationsform von originalen Kunstwer-


ken eingegriffen hatte. Günter Busch, damals Direktor der Bremer Kunsthalle, hat
immer wieder darauf hingewiesen, daß Kunstwerke »sich, oft überraschend, dem
Fragenden nur im Anschauen selbst öffnen wollen. Nicht vorgewußte Begrifflichkei-
ten, nicht >kluge< Worte stehen am Beginn solchen Umgangs. Nicht allgemeine Theo-
rien führen zur Erkenntnis, sondern erst die genaue und wiederholte Betrachtung des
einzelnen Werks vermag den Weg zu weisen zum induktiven Begreifen der Kunst in
der Kunst, von Zusammenhängen dann auch stilistischer, historischer, gesellschaftli-
cher Art.« 7 Diese Art der Annäherung an ein Kunstwerk wurde von fortschrittlichen
Kunsthistorikern als hedonistische und damit überholte Entgleisung verachtet, weil
das Museum ein Lernort sein sollte. Der Besucher sollte über politische, ökonomi-
sche oder soziologische Zusammenhänge aufgeklärt werden, Kunstwerke sollten
dafür nur noch als Beleg herhalten für Thesen und artfremde Informationen auf den
langatmigen Schrifttafeln. 1970 nannte man den ehemaligen Leiter der Kunsthalle
Bern, Harald Szeemann, einen Che Guevara der Zunft, weil er aus einem »zuneh-
menden Horror vor unserer Tätigkeit als Besitzmehrer und -bestätiger« die Kunst-
halle verließ und als ambulanter Ausstellungsregisseur »die über den Erkenntniswert
rezipierbare Ausstellung« verwirklichen wollte.8 »Kunst für Jedermann« war der
Schlachtruf der jungen Wilden.
Weil die Akzeptanz eines verbindlichen abendländischen Kulturbegriffs schwand,
waren die Museen verunsichert und begannen, sich wissenschaftlich für das unbekann-
te Wesen, den Besucher, zu interessieren. Ich erinnere an die Grundlagenforschungen
von Heiner Treinen und Hans Joachim Klein zusammen mit dem Institut für
Museumskunde in Berlin.9 Man wollte sichere Auskünfte, was denn ein Museum für
den Besucher bedeute und welche Ansprüche er stelle. Der Besucher wurde ein wichti-
ger Faktor, für den man endlich etwas tun müsse, um ihn an die Kunst heranzuführen,
oft wichtiger als die Kunst selber. Seitdem sind ausführliche Beschriftungen, akustische
Führungen, Kinderkurse, Computergalerien, Ausstellungen für Blinde oder die Ein-
richtung einer Cafeteria und eines Museumsshops selbstverständliche Bestandteile des
Angebots im Museum.

Kunstausstellung contra Museum


Die Konkurrenz zum traditionellen Kunstmuseum mit seiner trotz allem statischen
Präsentation kam aber auch von einer anderen Seite, nämlich von den großen über-
regionalen Ausstellungen.10 Denken Sie an die Ausstellung »Werdendes Abendland an
Rhein und Ruhr« 1956 in der Villa Hügel in Essen, die mit ihrem kunsthistorischen
Rückblick auf die Geschichte durchaus im Hinblick auf die aktuelle Tagespolitik ver-
anstaltet wurde, nämlich mit Blick auf die Stellung der noch jungen Bundesrepublik im

7 Günter Busch, Das Gesicht. Aufsätze zur Kunst, Frankfurt/Main 1997, S. 8.


8 Kunst im Käfig. Thesen zum Thema Kunstausstellung. Hrsg. v. Gisela Bracken, Frankfurt am Main
1970. S. 7.
9 Heiner Treinen, Ansätze zu einer Soziologie des Museumswesens. In: Soziologie. Hrsg. von Günter
Albrecht. Opladen 1973. S. 336-53. Weitere Literatur in: Bibliographie-Report 1993 zu Museologie,
Museumspädagogik, Museumsdidaktik und Besucherforschung. Neu bearbeitet von Anette Noschka-
Roos, Veröffentlichungen des Instituts für Museumskunde Berlin SMPK, Berlin 1993.
10 Ausführlich dazu Korff (Anm. 5).
KUNSTPRÄSENTATION IM WANDEL 51

zusammenwachsenden Europa; denken Sie an die Landesausstellungen über »Preußen


- Versuch einer Bilanz« (1981), über die Staufer oder die Witteisbacher. Mit ihnen soll-
ten existierende föderalistische Strukturen von heute in die deutsche Geschichte einge-
ordnet und entweder kritisch (Preußen) oder auch affirmativ (Bayern) aus dem Blick-
winkel der Vergangenheit interpretiert werden.
Denken Sie aber auch an die großen Europaratsausstellungen über alle Epochen der
europäischen Kunstgeschichte von den Karolingern bis zum 20. Jahrhundert. Sie alle
waren so erfolgreich, weil sie entweder als ein »Musee imaginaire« auf Zeit die besten
Kunstwerke versammelten, oder weil sie im Gewand einer historischen Epoche poli-
tisch aktuelle Themen einer restaurativen Strömung aufnahmen. Durch ihre Aktualität
und ihre aufwendige Inszenierung entfalteten sie eine Dynamik, die überaus erfolg-
reich war und Maßstäbe der Kunstpräsentation setzten.
Diese Konkurrenz war und ist noch heute aus zweierlei Gründen überaus schwer
für solche Museen, die auf eine statische Präsentation angewiesen sind. Die Sonder-
ausstellungen werben mit dem Außergewöhnlichen der aus aller Welt zusammengetra-
genen Werke und der kurzen Zeit für diese Einmaligkeit. Und weil sie prestigeträchtig
sind und meist viel Geld haben, können die Architekten, Designer und professionellen
Ausstellungsmacher die temporäre Ausstellung oft in eine theatralische Inszenierung
verwandeln. Der Besuch wird zum spannenden Erlebnis, mit dem ein »normales« Mu-
seum kaum mithalten kann.

Die Erneuerung der Präsentation im Museum

Was soll also ein Museum diesem Angebot entgegenstellen? Da sind ganz praktische
Zwänge zu bedenken. Die meisten Museen werden von ihren kommunalen oder staat-
lichen Geldgebern finanziell so kurz gehalten, daß regelmäßige Umbauten, neue Insze-
nierungen oder sogar neue Wandanstriche bei allem guten Willen der zuständigen poli-
tischen Gremien einen ungeheuren Kraftakt erfordern, wenn sie nicht als zu teuer ab-
gelehnt werden. Ein weiteres Problem: Die meisten alten Kunstwerke, oft aus fragilen
Materialien, verweigern sich aus konservatorischen Gründen einer dauernden Verände-
rung. Man sollte auch nicht vergessen, daß viele der treuesten Besucher dasselbe Bild
immer am selben Ort sehen wollen. Es bedeutet für sie die Sicherheit einer Institution
im schnellen Wandel anderer Veranstaltungen, es ist die Sicherheit für ein emotional be-
friedigendes Erlebnis, das dann garantiert ist.
Ein altes Museum kann natürlich, sofern es Geld und für seine Sammlung einen re-
präsentativen Altbau hat, eine dynamische Inszenierung durch die denkmalpflegerische
Rekonstruktion der alten Architektur ersetzen. Was bedeutet das? Die alten Museums-
gebäude aus dem 19. Jahrhundert, wie z.B. die Alte Pinakothek von Klenze in Mün-
chen oder das Neue Museum von Stühler in Berlin, präsentierten sich vor ihrer Zer-
störung im Zweiten Weltkrieg als Einheit von Monumentalarchitektur, bildnerischem
Schmuck und ausgestellten Kunstwerken. Sie waren ein Gesamtkunstwerk und hatten
eine Botschaft von den idealen, erhabenen Werten der Menschheit zu verkünden.
Schon die Zeitgenossen brachten das Museumskonzept des Neuen Museums in Berlin
(eröffnet 1855) mit Hegels Konzept von einer unaufhörlichen Entwicklung zu stets
Höherem in Verbindung. Die dekorativen Malereien, die riesigen Fresken von Kaul-
52 HENNING BOCK

bach im Treppenhaus, originale ägyptische Monumente ebenso wie Gipsabgüsse und


Repliken sollten als Gesamtkunstwerk den Gang der Weltgeschichte erläutern." Ein
anonymer Zeitgenosse faßte zusammen: »Die Architektur entspricht in jedem der Säle
nicht nur der Natur der darin aufgestellten Sammlung im Allgemeinen, sondern sie
greift auch mit ihren Motiven teils ergänzend, teils deutend und erklärend (...) ein.«12
Auch wenn wir solche Museen und ihre Ausstellungsräume annähernd originalge-
treu rekonstruieren, glauben wir sicherlich nicht mehr an das Wirken eines Zeitgeistes
Hegelscher Provenienz, das in den historisierenden Formen der Dekoration sichtbar
wird. Das Ausstellungskonzept und die Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhun-
derts scheinen aber als dekoratives Gesamtkunstwerk authentischer zu sein als jede
moderne Inszenierung in einer temporären Ausstellung. Sie beeindrucken mit einer
scheinbaren Authentizität, mit der das historistische Dekor sich umgibt, und vertreten
den Anspruch zeitloser Gültigkeit, der für einen emotionalen Kunstgenuß unverzicht-
bar ist. Im Gegensatz zu den wechselnden Modeerscheinungen in der Museumsarchi-
tektur und den z.T. genialen, aber total individualisierten Entwürfen von Frank Gehry
bis Daniel Libeskind und vielen anderen zeitgenössischen Architekten verkörpern sie
die gesicherte Tradition einer großen Vergangenheit.
Die National Gallery in London hat daher die bauhausinspirierten Einbauten der
50er Jahre aus den alten Ausstellungsräumen des 19. Jahrhunderts entfernt und mit Er-
folg das prunkvolle Bild der viktorianischen Galerie aus der Glanzzeit des britischen
Empire restauriert. Ihre Bilder hängen auf reich gemustertem blauen, bordeaux-roten
oder grünen Samt, die Ornamente an den Vouten oder an den hohen Oberlichtern sind
frisch vergoldet. Diese glanzvolle Präsentation aus der Vergangenheit des Britischen
Empire wird jährlich von fast fünf Millionen Besuchern bewundert.
Noch zu Zeiten der DDR wurde im Ministerrat beschlossen, aus politischen Grün-
den das weitgehend zerstörte Neue Museum von Stühler auf der Museumsinsel in Ber-
lin möglichst originalgetreu zu rekonstruieren und die Fresken von Kaulbach im Trep-
penhaus nach den erhaltenen Kartons nachmalen zu lassen - ähnlich wie man es erfolg-
reich als Beweis einer ungebrochenen sozialistischen Traditionspflege beim Schinkel-
schen Schauspielhaus in Berlin oder in der Semperoper in Dresden getan hatte.13
In Berlin ging der sogenannte »Museumsstreit« nach der Wiedervereinigung 1990
nur vordergründig um die Restaurierung der Bauten auf der Museumsinsel und die
Rückkehr in die angestammten Häuser. In Wirklichkeit war man fasziniert von der
Idee, eine Ausstellungskonzeption der Jahrhundertwende als Gesamtkunstwerk von
Architektur, Dekor und Präsentation der Kunstwerke wiederzubeleben. Man mißtrau-
te den modernen Gebäuden, wie sie am Kulturforum teils realisiert, teils geplant waren.
Die neue Gemäldegalerie am Kulturforum könne den Wettbewerb mit der plötzlich

11 Annemarie Menke-Schwinghammer, Weltgeschichte als "Nationalepos-. Wilhelm von Kaulbachs kul-


turgeschichtlicher Zyklus im Treppenhaus des Neuen Museums in Berlin. Berlin 1994. Monica Wag-
ner, Allegorie und Geschichte. Ausstattungsprogramme öffentlicher Gebäude des 19. Jahrhunderts in
Deutschland. Tubingen 1989.
12 Zitiert nach Guido Messung, Historismus als Rekonstruktion. Die Ägyptische Abteilung im Neuen
Museum. In: Museumsinszenierungen. Hrsg. v. Alexis Joachimides et al. Dresden 1995. S. 53.
13 Monica Wagner, Wohin mit der verlorenen Geschichte? Kaulbachs weltgeschichtlicher Bildzyklus im
Neuen Museum. In: Berlins Museen, Geschichte und Zukunft. Hrsg. v. Michael Zimmermann, Ber-
lin/München 1994. S. 87-98, und weitere Beiträge in diesem Sammelband.
KUNSTPRÄSENTATION IM WANDEL 53

sich anbietenden Tradition der alten Museen auf der Museumsinsel nicht standhalten14
- zu Unrecht, wie sich zeigen sollte.

Das Museum als privatisierter Betrieb


Ich komme zur letzten, aber vielleicht folgenreicheren Veränderung des Museums her-
kömmlicher Prägung, die sich bis in die Präsentation der Kunstwerke auswirken kann.
Es sind der Staat oder die Kommunen selber als verantwortliche Träger der Museen,
die hier aktiv einen Wandel bewirken wollen. Eine Revolution auf leisen Sohlen voll-
zieht sich heute im ganzen Museumswesen, indem die staatliche Institution Museum
als Vermittler von Bildung für den mündigen Staatsbürger in ihrer bisherigen Struktur
aus politisch-ökonomischen Gründen in Frage gestellt wird. Der Staat möchte aus sei-
ner Verpflichtung entlassen werden und privatisieren, was bis dahin zu seinen unbe-
strittenen Aufgaben gehört hatte15, nämlich für die Bildung des Bürgers zu sorgen und
selbstverständlich auch für die Museen die angemessenen Rahmenbedingungen zu
schaffen.
Viele größere Museen sehen einen Vorteil, von der staatlichen Aufsicht und seiner
starren Bürokratie frei zu sein. Sie können, wenn sie vollrechtsfähig sind, privatwirt-
schaftlich handeln und sind nicht mehr nur eine nachgeordnete, weisungsgebundene
Dienststelle innerhalb der kulturpolitischen Bürokratie. Sie hoffen, durch geschickte,
marktorientierte Strategien sich besser auf den heutigen Besucher und seine Ansprüche
einstellen zu können. Die Hamburger Museen praktizieren ab Januar 1999 ein solches
Modell. In Holland, Österreich oder England ist die Entwicklung schon viel weiter
fortgeschritten. Man mag größere Erfolge verbuchen, aber diese sollten nicht über die
Privatisierung der Bildung und die Einordnung dieser Institutionen in die Reihen der
miteinander um Besucher konkurrierenden Freizeitangebote hinwegtäuschen.
Muß nicht dann das Museum als vielseitiger Erlebnisort mit digitaler Information
und einprägsamer Inszenierung der Ausstellung locken, um seine Existenz zu erhalten?
In Frankreich sind im Zuge der Dezentralisierung zahlreiche multidisziplinäre Kultur-
zentren entstanden, die ein den üblichen Kulturangeboten der Museen fernstehendes
Publikum interessieren sollen. Die privat finanzierte »New Art Gallery Walsall«, die in
den Midlands in England auf einem alten Industriegelände 1999 eröffnet worden ist,
hat daraus die Konsequenz gezogen. Hier kann man in der Kunstausstellung Bilder
von van Gogh und Constable, Skulpturen von Rodin oder Epstein anschauen, man
kann Kaffee trinken, in einem Atelier Bilder malen, in passender Umgebung heiraten,
man kann Bücher lesen, Konferenzen abhalten, Theater besuchen oder Konzerte
hören. Ist diese Konstruktion und diese Vernetzung der Erlebnissphären also das Spie-
gelbild der Umwandlung von Bildung in Freizeitbeschäftigung und zugleich die be-
rechtigte Forderung der modernen Erlebnisgesellschaft?
Fragen wir genauer: Was muß also die Präsentation von Kunst in einem Kunstmuse-
um heute zwischen Bildung und Vergnügen, Politik und Wirtschaftlichkeit leisten? Wie
kann das Museum in seiner Mittlerstellung zwischen Tradition und Gegenwart das ma-
terielle Kunstwerk dem Betrachter im wörtlichen Sinn nahebringen und ihn die Aura

14 Vgl. die Pressedokumentation in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz Bd. XXIX 1992, S. 55-112.
15 Noch im Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschrieben.
54 HENNING BOCK

des Kunstwerks erleben und dennoch in diesem Objekt auch den Abstand zu einer hi-
storisch anderen Gesellschaft begreifen lassen? Oder verbindet gerade diese Mittlerstel-
lung das Heute mit dem Gestern?

2. Rückblick

Vor etwa 150 Jahren war der Formenapparat der alten Kunst selbstverständlich Teil des
alltäglichen Lebens, in der Architektur ebenso wie im Kunstgewerbe, vom originalen
Rembrandt bis zum billigen Öldruck. Ich möchte also fragen, wer sich damals für neue
Museen und Sammlungen engagierte, und für wen diese gedacht waren?
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Deutschland von einem wahren Mu-
seumsboom heimgesucht.16 Allein zwischen 1860 und 1870, einem politisch schwieri-
gen Jahrzehnt, wurden 62 Heimat-, Kunst- oder Altertumsvereine und 33 private neue
Museen oder öffentliche Sammlungen gegründet, zwischen 1870 und 1880 waren es 78
neue Vereine und 55 private Museen aller Sammelgebiete, ebenso in den nächsten Jahr-
zehnten. Die Mitgliederzahl dieser Vereinigungen reichte von weniger als einem Dut-
zend bis zu mehreren Tausend - der Schlesische Zentral-Gewerbeverein hatte etwa
6.000 Mitglieder - und rekrutierte sich fast ausschließlich aus dem gebildeten Bürger-
tum und dem industriellen Unternehmertum, kaum aus dem Adel. Die Lektüre von
alten Sammlungskatalogen, Statuten von Altertumsvereinen, Jahresberichten von kul-
turhistorischen Gesellschaften und Gewerbevereinen bestätigt, wie groß die aktive
Mitwirkung einer breiten Schicht des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums an der
Entstehung neuer Museen und Sammlungen für die Öffentlichkeit war.
Man könnte fast von einer bürgerlichen »Volksbewegung« sprechen, für die die Re-
präsentation der engeren und weiteren Welt im Museum selbstverständlich Teil ihres
Alltages war. Zum Verständnis: Ich meine hier nicht die soziologische Beschreibung
dieser Minorität von 5-7% der Bevölkerung, sondern die Frage nach der Geschmacks-
bildung im täglichen Umfeld von Wohnung und Öffentlichkeit, die alle Schichten der
sozialen Hierarchie betraf. Trotz - oft auch wegen - aller nationalen Untertönen in der
Begeisterung für die nationale Vergangenheit, waren privat finanzierte Expeditionen
nach Mittel- und Südamerika oder Ausgrabungen in Ägypten oder im Vorderen Orient
ebenso wichtig für das Bewußtsein der eigenen Identität, wie kulturhistorische Samm-
lungen in Kleinstädten und Dörfern zu Hütern der eigenen Geschichte wurden.
Zur Geschmacksbildung haben dabei die vielen Vereine zur Förderung der heimi-
schen Industrie, die sog. Gewerbevereine, erheblich beigetragen. Sie sammelten histori-
sche Objekte, um sie als Vorbilder für eine international wettbewerbsfähige Produk-
tion den einheimischen Unternehmern und dem interessierten Publikum zum Studium
zur Verfügung zu stellen.17 Die nach englischem Vorbild gegründeten Kunstgewerbe-
museen nicht nur in Wien (1864), Hamburg oder Berlin (1867), sondern auch in vielen

16 Kunsthandbuch für Deutschland. Verzeichnis der Behörden, Sammlungen, Lehranstalten und Verei-
ne für Kunst, Kunstgewerbe und Altertumskunde. Hrsg. v. der Generalverwaltung der Königlichen
Museen zu Berlin, Berlin 1904.
17 Ausführlich dazu Barbara Mundt, Die deutschen Kunstgewerbemuseen im 19. Jahrhundert. Studien
zur Kunst des 19. Jahrhunderts. Bd. 22. München 1974.
KUNSTPRÄSENTATION IM WANDEL 55

großen und kleinen Industriestädten des Ruhrgebiets und anderswo sind mit der Aus-
stellung ihrer Vorbildersammlungen für Handwerk und Industrie, aber auch für das
allgemeine Publikum geschmacksbildend von einer enormen Breitenwirkung gewesen.
Bis 1890 entstanden 24 solcher Museen in Deutschland und sorgten durch ihre Vorbil-
dersammlungen und Publikationen für eine Herrschaft der historistischen Stilformen,
die für die Massenproduktion von industriell gefertigten Geräten angepaßt werden
konnten. Die nach diesen historischen Vorbildern gefertigten Gegenstände waren Teil
der täglichen Umgebung in allen bürgerlichen Wohnungen wie auch öffentlichen Ge-
bäuden. 18 Kein Gedanke, daß hier in diesen Gewerbemuseen etwas zusammengetragen
und präsentiert wurde, was nicht in einer oder anderer Weise in die Ästhetik des tägli-
chen Leben hineinwirkte. Indem die Museen Zeugnisse der Vergangenheit sammelten
und ausstellten, waren sie daher trotz aller Kunstgeschichte »zeitgenössisch« im Ge-
schmack. Was wir Historismus nennen, war die lebendige Aneignung der Vergangen-
heit mit dem Repertoire ihrer alten, oft »modernisierten« Formen.

Auf dem Weg zum modernen Kunstmuseum

Es ist ein Topos der Berliner Museumsgeschichte, daß Wilhelm von Bode für seine
Ausstellungsinszenierung im Kaiser-Friedrich-Museum (1904) entscheidende Anre-
gungen aus den historistisch geprägten Einrichtungen von reichen Privathäusern in Pa-
ris, London und Berlin erhalten und modifiziert in das Museum übertragen hat.19 Dies
trifft sicherlich zu, aber beschreibt die Wirkung der vielen, oft konkurrierenden Ideen
dieser Umbruchszeit um 1900 zu einseitig. In der entscheidenden Planungsphase fü
56 HENNING BOCK

Abb. 1 Kunstgewerbemuseum, Berlin,


Saal IX, Gotik. Zustand um 1890

stellen könne. Weil man nicht wissenschaftlich korrekt sein könne, »wird (man) maleri-
sche Wirkung zu erzielen suchen und wird gerade in dem Bemühen, kulturhistorische
Bilder zu geben, eine Saat von Irrtümern ausstreuen.« Bode dagegen plädierte großzügi-
ger, der Gesamteindruck einer Epoche müsse stimmen. Das Fazit war, daß die reine
Vorbildersammlung im Obergeschoß des Kunstgewerbemuseums gezeigt, aber im Un-
tergeschoß adaptierte Stilräume den Gesamteindruck einer Epoche oder eines histori-
schen Stils anschaulich machen sollten. Es waren also nicht exakt rekonstruierte histori-
sche Räume, sogenannte »period-rooms«, sondern »Inszenierungen« mit alten Objek-
ten, die einen Gesamteindruck einer Kunstepoche vermitteln konnten (Abb. 1). Die
Diskussion nahm vorweg, was wenige Jahre später unter dem Begriff »Raumkunst« so-
gar zu einem ordentlichen Lehrfach werden sollte, nachdem Künstler und Architekten
wie William Morris in England oder als Vermittler Hermann Muthesius in Berlin den
Gesamtentwurf für ein Haus und seine Inneneinrichtung proklamiert hatten. Die
großen Gewerbeausstellungen wie etwa in Dresden 1906 zeigten daher nur ganze
Raumausstattungen, keine Einzelmöbel mehr als Vorbild für Produktion und Verkauf.
Die Kontroverse über einen scheinbar exakten Historismus oder eine Anpassung an
einen modernen Geschmack war eigentlich eine Diskussion über neue Sehgewohnhei-
ten, die sich in der Gesellschaft herausgebildet hatten. Bode erwies sich als ein ge-
schickter Arrangeur und Protagonist, indem er bei aller kunsthistorischen Genauigkeit
in der Ausstellung auf die Wirkung einer genau kalkulierten Ästhetik der Ausstellungs-
komposition vertraute. Sie sollte mit dem jeweiligen Zeitabschnitt stimmig sein, aber
setzt eine solche Stimmung nicht auch die Bereitschaft des Besuchers voraus, diesen be-
KUNSTPRÄSENTATION IM WANDEL 57

wüßt inszenierten Gesamteindruck zu verstehen, also seine eigene Sensibilität einzu-


bringen?
Ein kurzer Exkurs in das weite Feld der Kunstrezeption und seine direkten oder in-
direkten Auswirkungen auf die Präsentation von Kunst im Museum um 1900 kann
dazu beitragen, das Neue der Bodeschen Konzeption genauer zu beschreiben. Mir
scheint dieser Begriff »Stimmung«, ergänzt durch den Begriff der »Einfühlung« aus der
empirischen Psychologie des 19. Jahrhunderts (Lipps), ebenso wichtig und folgenreich
gewesen zu sein wie ein anderer Begriff, der auf die formale Struktur des Kunstwerks
zielte und zum vielgebrauchten Schlagwort wurde: »Das Problem der künstlerischen
Form«, wie der Titel eines kleinen Buches des Bildhauers Adolf von Hildebrand laute-
te, zuerst erschienen 1893.22 Diese Begriffe beschreiben oder analysieren Seh- oder
Empfindungsweisen, die sich zwar beim Betrachten eines Objekts im Betrachter ein-
stellen, sich aber subjektiv verselbständigen und eigenen Gesetzen folgen können.
Während der Begriff der »Einfühlung« den emotionalen Wahrnehmungsakt be-
schreibt, geht Hildebrand vom künstlerischen Schaffensprozess aus und konstatiert -
nicht als erster, aber in Deutschland als wichtigster Künstler -, daß es unabhängig vom
Inhalt eines Kunstwerks Formgesetze gibt, die nur vom künstlerischen Willen be-
stimmt sind.
Hildebrand argumentiert, daß der im Bild oder Relief dargestellte Raum sich von
dem realen dreidimensionalen Raum unserer Umgebung grundsätzlich dadurch unter-
scheidet, daß er auf der zweidimensionalen Fläche imaginiert wird und daß die forma-
len Mittel, mit denen diese Illusion hervorgerufen wird, ihre eigenen Gesetze haben.
Formanalysen von Kunstwerken gehören seitdem zu jedem Proseminar für alle ange-
henden Kunsthistoriker.
Hildebrand gehörte zum Kreis der Deutsch-Römer um Marees und Fiedler. Durch
sein Wirken als Bildhauer vornehmlich in München und seine kunsttheoretischen Ver-
öffentlichungen gab er der deutschen Kunstgeschichte und Kunstbetrachtung wichtige
Anregungen. Sie waren die Grundlage für Wilhelm Worringers Bonner Dissertation
Abstraktion und Einfühlung (1908), für Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
(1912), und reichten bis zu Kandinskys Über das Geistige in der Kunst (1911/12) und
zu vielen anderen Künstlerschriften, die sich direkt oder indirekt auf ihn beziehen.
Wenn zur gleichen Zeit Max Liebermann23 oder Wilhelm Trübner24 über das Beson-
dere der Farben schreiben oder Adolf Hölzel im Heft 15 des Ver Sacrum über den
Punkt und seine Eigenschaften, dann entspricht dies den Reflexionen Cezännes auf sei-
nem schwierigen Weg, die neuen Form- und Farbgesetze im Bild zu finden. Die kunst-
wissenschaftliche Diskussion oder die schriftliche Rechtfertigung des Künstlers für sei-
ne künstlerisches Schaffen kreisen immer um die Frage nach der Eigengesetzlichkeit
der künstlerischen Form.

22 Adolf Hildebrand, Das Problem der Form in den bildenden Künsten. In: Adolf von Hildebrand,
sammelte Schriften zur Kunst. Bearbeitet von Henning Bock. Wissenschaftliche Abhandlungen der
Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften Bd. 39, Opladen 1969. S. 199-265; vgl. das
Werkverzeichnis von Sigrid Esche-Braunfels, Adolf von Hildebrand, Berlin 1993.
23 Max Liebermann, Die Phantasie in der Malerei. In: Gesammelte Schriften. Berlin 1922. S. 21-70, zu-
erst erschienen 1904 in der Neuen Rundschau.
24 Wilhelm Trübner, Personalien und Prinzipien. Berlin 1908. Teilweise in Aufsatzform bereits 1892
veröffentlicht.
58 HENNING BOCK

Abb. 2 Wohnzimmer im Haus des Geheimen Regierungsrats von Kaufmann, Berlin

Es sind also zeitbedingte, damals höchst aktuelle Ideen, die in Künstler- und Mu-
seumskreisen diskutiert wurden und die selbstverständlich auch bis in solche neuartigen
Museumsinszenierungen gewirkt haben, wie Bode sie in seinem neuen Renaissance-Mu-
seum realisierte. Er hatte in mehreren Ausstellungen seit den 1880er Jahren gezeigt, wo-
hin seine Vorstellungen von der Einheit einer Epoche im Museum zielten. In dem als
Renaissance-Museum geplanten Kaiser-Friedrich-Museum (1904) konnte er einen Aus-
stellungsstil realisieren, den wir heute mit seinem Namen verbinden. Gemälde, Skulptu-
ren, Möbel und anderes Kunstgewerbe, originale Architekturteile und originale Bilder-
rahmen ergänzen sich zu einem sorgfältig abgewogenen, sich gegenseitig steigernden
Miteinander, um den Eindruck einer kunsthistorischen Epoche zu vermitteln. Die Ins-
zenierung schafft den passenden Rahmen für das Kunstwerk, also auch für den Kunst-
genuß. Im Haus des privaten Sammlers verbindet sich alles zu dem persönlichen Le-
bensstil des Bewohners (Abb. 2), im Museum wird diese Inszenierung dagegen über-
höht zur Präsentation einer Epoche der Vergangenheit.
Was bedeutete also diese Idee vom ästhetischen Gesamtkunstwerk für das praktische
Arrangement der Kunstwerke im Museum? Zwei Beispiele aus dem Kaiser-Friedrich-
Museum von 1904 können die Tendenzen anschaulich belegen. Das große Bild Pan von
Signorelli, leider im letzten Krieg verschollen, war zwischen zwei Renaissancebüsten
plaziert, rechts und links hatte Bode originale italienische Türrahmen aus der Renais-
sance einbauen lassen, in der Mitte des Saals stand ein runder Tisch als Andeutung einer
Wohnlichkeit (Abb. 3).
KUNSTPRÄSENTATION IM WANDEL 59

Abb. 3 Kaiser-Friedrich-Museum, Berlin, Saal 37. Zustand vor 1933

Abb. 4 Kaiser-Friedrich-Museum, Berlin, Saal 59. Zustand 1904


60 HENNING BOCK

Abb. 5 Deutsches Mu-


seum, Berlin, Mittelaltersaal,
Entwurf Messel, 1909 (?)

Die Anordnung der Bilder auf jeder einzelnen Wand in den Kabinetten und Sälen war
unter Wahrung der kunsthistorischen Zusammenhänge ästhetisch streng komponiert.
Ein sehr gutes Beispiel bot eine Wand im Saal 59 mit holländischer Malerei des 17. Jahr-
hunderts (Abb. 4). In der Mitte hing das Hauptwerk von Frans Hals, das Bildnis der
Catharina Hoft mit ihrer Amme (1620), darüber ein ikonographisch unbelastetes Still-
leben von Cornelis van Lelienbergh (Kriegsverlust). Rechts und links von dem Mittelbild
folgten zwei wichtige Genreszenen von Gerard ter Borch, darüber rechts der
ler von Hals, links Der lustige Zecher von Judith Leyster. Beide Personen blicken zur
Mitte und sind von etwa gleicher Größe. Außen wurde die gesamte Gruppe noch von je
zwei übereinander gehängten, kleinformatigen Bildern, u.a. ebenfalls von Frans Hals,
flankiert. Sogar die Bilderrahmen betonen die Symmetrie mit dem aufwendigsten in der
Mitte für das Hauptbild und den schwarzen Profilrahmen oben und an den Seiten.
Diese ästhetisierende Hängung hatte jedoch mit dem Historismus der 1870er und
1880er Jahre kaum etwas zu tun. Der Gesamteindruck sollte vielmehr durch seine
Stimmung den empfänglichen Besucher einstimmen auf den Genuß der Kunstwerke
und dadurch die Erkenntnis ihrer Geschichtlichkeit fördern. Die Aufgabe des Mu-
seums war also die Vergegenwärtigung der Geschichte, unterstützt durch die sensible,
aber wirkungsvolle Inszenierung.
Was wir heute als »dekorativ« an einer solchen Präsentation empfinden, war damals
um die Jahrhundertwende Ausdruck einer neuen Bewertung der formalen Struktur von
Kunstwerken, aber auch das Gesamtarrangement einer solchen Wand wurde als kunst-
volle, abstrakte Komposition gestaltet. Aber das Problem blieb immer, wie der schwie-
HEGELS HOLISMUS UND DIE GEGENWÄRTIGE SOZIALPHILOSOPHIE 71

Rechts-, Staats- und Geschichtsphilosophie. Staatsphilosophie impliziert eine


Theorie gesellschaftlicher Klassen und ökonomischer Prozesse. Diese wiederum
sind nicht unabhängig vom Verständnis des Ethos oder des Selbstverständnisses der
Wirtschaftssubjekte und Berufsgruppen usw.
b) Was bedeutet der Holismus der Hegeischen Sozialonto/ogje? Bestimmt man ihn
wieder zunächst negativ, so ist er gegen den Atomismus und den Individualismus in
der Sozialphilosophie gerichtet. Man kann die Gesellschaft und ihre faktische und
normative Ordnung nicht verstehen und beurteilen, wenn man allein von Individu-
en und ihren Eigenschaften und Präferenzen ausgeht. Die Sozialphilosophie muß
vielmehr zunächst Verhaltensmuster und Traditionen, kollektive Einstellungen und
soziale Erwartungen, unbewußte Konsense und Institutionen ins Auge fassen. In
diesen kommen Individuen erst zu einem Bewußtsein ihrer selbst und zu einem
Verständnis ihrer Interessen und Prioritäten.
c) Der normative Holismus der Hegeischen Sozialphilosophie schließlich bedeutet,
daß »das Ganze« für Hegel auch ein Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung ist. Die
sozialen Systeme, Gruppen und Interessen, sollen einen »Organismus« bilden, in
dem Konflikte nicht zum Zusammenbruch von Funktionen und nicht zur völligen
Zerstörung eines gemeinsamen Selbstverständnisses führen. Hegel sah dieses orga-
nische oder gar »versöhnte« Ganze als Resultat einer konsequenten historischen
Entwicklung an, dem die europäischen Staaten zumindest nahe waren. In dieser ge-
schichtsphilosophischen These unterscheidet er sich gerade von den Strömungen
der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts, die sich, wie die ältere kritische Theorie,
gerade auf den normativen Aspekt des Hegeischen Holismus berufen. Das Ganze
muß, so hält bekanntlich Adorno der empirischen Soziologie und ihrer philosophi-
schen Rechtfertigung entgegen, Gegenstand der Sozialphilosophie sein, das Ganze
der gegenwärtigen Gesellschaft aber gerade als das »Unwahre« kritisiert werden.
Nur durch das, was sie kritisiert, kann die kritische Sozialphilosophie die Umrisse
eines wahren Ganzen andeuten.

Bevor ich aber auf Probleme der modernen Sozialphilosophie eingehe, möchte ich den
skizzierten Hegeischen Holismus noch an seiner Rechtsphilosophie verdeutlichen.
(1) Zunächst zur ersten, methodischen Form des Holismus. Hegels Rechtsphilosophie
ist Sozialphilosophie, weil sie nicht nur eine normative Theorie des Rechts darstellt,
sondern auch eine Theorie der sozialen und psychologischen Bedingungen einer
rechtlich verfaßten Gesellschaft. Insofern beschreibt sie über weite Strecken das
Funktionieren von großen und kleinen Gesellschaften - societates minores und ma-
jores - , in denen sich Rechte, in einem umfassenden Sinne als begründete Ansprü-
che, ausbilden und in denen sie durchgesetzt werden können.
Dieser Sozialphilosophie als Rechtsphilosophie liegt ein doppeltes »Gerüst« von
Begriffen zugrunde, die nach dem Muster der Hegeischen Logik durch eine Bedeu-
tungsentwicklung verknüpft sind. Das sind zum einen formale Begriffe der Logik
selber, vor allem der Wesenslogik, der Begriffs- und der Urteilslogik.
Diese holistische Begriffsentwicklung spielt sich aber auch noch einmal auf einer
Ebene von sachhaltigeren Grundbegriffen der Sozialphilosophie ab. Das sind in ers-
ter Linie die Begriffe Recht, Wille und Freiheit, deren Differenzierung, Bedeutungs-
72 LUDWIG SIEP

anreicherung und wechselseitige Explikation die systematische Entwicklung der


Hegeischen Sozialphilosophie gleichsam steuert. Das Privatrechtssystem des abs-
trakten Rechts, die moralischen Ansprüche des modernen Subjekts und die Soziali-
sierungsformen und funktionalen Systeme der Gesellschaft werden verständlich und
legitimierbar als Einrichtung, Gestaltung und Begrenzung von Freiheitsspielräu-
men. Formen der Freiheit aber sind Konstellationen, in denen ein allgemeiner Wille
das Recht der besonderen und einzelnen Willen zum Zweck hat - und umgekehrt.
Zu diesem methodischen oder Begründungsholismus gehört auch das Verhältnis
der Theorieteile in Hegels Rechtsphilosophie. Sie umfaßt Recht und Ethik, Gesell-
schaftstheorie, Staatsphilosophie und Geschichtsphilosophie. Keine ist die Basis-
theorie, keine kann ohne die andere vollständig und abgeschlossen behandelt wer-
den. Es gibt keine moralfreie Philosophie des Rechts, weil es beim Recht um die
Anerkennung der freien Person, ihres legitimen Willens und ihres Wohles geht. Das
ist keine Frage der Sozialtechnik oder der bloßen Interessenkoordination, sondern
der teleologischen Entwicklung des Begriffs und des Bewußtseins der Freiheit, die
in die Erwartungen und Gewohnheiten der Bürger eingegangen sind.
Ohne Rücksicht auf dieses normative Selbstverständnis sind moderne Gesellschaf-
ten für Hegel nicht einmal theoretisch zu verstehen. Sie können aber auch die An-
sprüche ihrer Bürger nur erfüllen und konfliktfreie »Handlungskoordinationen«
gewährleisten, wenn sie von einer rechtsstaatlichen Freiheits- und politischen Insti-
tutionenordnung getragen werden. Gesellschaftstheorie setzt daher normative
Staatsphilosophie voraus. Das Verständnis der Prinzipien des gewaltenteiligen Staa-
tes, der durch eine gesetzgebundene Verwaltung Rechte und Funktionen sichert, ist
schließlich nicht ohne die historische Entwicklung dieses Gebildes aus seinen Wur-
zeln möglich - vor allem der griechischen Selbstregierung der Stadtbürger, des rö-
mischen Rechts und der christlich-europäischen Monarchie.
(2) Dieser methodische Holismus führt natürlich die sozialontologischen und normati-
ven Formen des Holismus mit sich. Dabei darf der sozialontologische Holismus
nicht mit der These verwechselt werden, eigentlich real seien nur Kollektive wie
Klasse oder Gesellschaft, Volk oder Staat. Ebensowenig bedeutet der normative
Holismus, nur diese Entitäten hätten Rechte. Zwar gibt es in der Rechtsphilosophie
ein Primat staatlicher Existenzrechte über Individualrechte. Aber deren Sicherung
bleibt eine essentielle Staatsaufgabe - fern von jedem »Du bist nichts, dein Volk ist
alles«.
(3) Normativ holistisch ist die Rechtsphilosophie zum einen, weil es in ihr nicht nur
um die Aufstellung und Anwendung eines Rechtsprinzips oder von Grund- und
Menschenrechten geht, sondern um ein Ganzes von Rechtsformen, Institutionen
und sozialen Verhaltensweisen, die sich wechselseitig erfordern und ergänzen. In
diesem Ganzen haben - auf verschiedenen Stufen und in verschiedenen Kontexten
auch die Grundrechte ihre Stelle. Hegel erörtert die Bedeutung und den Umfang
der Grundrechte im Zusammenhang mit dem Funktionieren von gesellschaftlichen
Systemen und staatlichen Funktionen.
Normativ holistisch in einem zweiten Sinne ist die Hegeische Rechtsphilosophie
deshalb, weil das entwickelte Ganze der staatlich verfaßten Gesellschaft nicht nur
theoretisch analysiert wird, sondern auch ein Ziel der begrifflichen wie der histori-
HEGELS HOLISMUS UND DIE GEGENWÄRTIGE SOZIALPHILOSOPHIE 73

sehen Entwicklung darstellt. Das hängt mit der erwähnten teleologischen Begriffs-
struktur zusammen.
Telos, vollendetes Ziel dieser Entwicklungen sind die nach-revolutionären Monar-
chien, die eine bürgerliche Gesellschaft mit Privatrecht, Markt und Sozialeinrich-
tungen enthalten. Sie stellen für Hegel Ganzheiten, Totalitäten dar, in denen sich
Gruppen und Individuen wie Glieder eines Organismus wechselseitig erhalten und
in ihren je eigenen Funktionen unterstützen können. Individuen können darin ihre
unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen ausbilden und sozial notwendige
Funktionen ausüben. Sie haben nur Normen zu befolgen, deren prinzipielle Be-
rechtigung einsehbar ist. Das ist das normative Ziel des Hegeischen Holismus: das
Ganze kann ein wahrer, Freiheit, Recht und Wohl verwirklichender Staat sein. Die
dazu notwendigen Rechtsprinzipien sind im Grundriß erkannt, die Institutionen in
jahrtausendelanger Entwicklung erfunden und verfeinert worden. Es bleiben noch
einige gewichtige »Kollisionen« zwischen Bürgerfreiheit und staatlicher Hand-
lungsfähigkeit, ökonomischem und politischem System zu lösen. Sie stellen für He-
gel aber keine radikale Krise des modernen Staates dar, wie für Marx und seine
Nachfolger.
So viel zum Holismus der Hegeischen Rechtsphilosophie. Ich möchte diesen sozial-
philosophischen »Theorietyp« im Folgenden mit zwei zeitgenössischen Alternati-
ven konfrontieren: einem sozialontologischen Holismus, wie er mir in der System-
theorie Luhmanns vorzuliegen scheint (II), und einem normativen Individualismus,
für den ich John Rawls und Otfried Hoffe in Anspruch nehme (III).

II

Im Zuge einer generalisierenden Theorie für alle empirischen Wissenschaften, wie sie
in den dreißiger Jahren durch die allgemeine Systemtheorie postuliert wurde, favori-
siert die soziologische Systemtheorie Begriffe, deren Allgemeinheitscharakter den
Gegenstandsbereich menschlicher Sozialgebilde weit überschreitet. Dies sind vor allem
die Begriffe System und Funktion, ferner Sinn und Information, Komplexität
und Differenzierung. Biologische Systeme wie Organismen und Populationen, psychi-
sche Systeme und technische Systeme mit Selbststeucrungseigenschaften zeigen
unter einem systemtheoretischen Zugang vergleichbare Eigenschaften. Diese Be-
griffs- und Theoriebildung birgt aber die Gefahr der Reduktion von zweck- und wert-
gesteuerten Handlungen auf Funktionen und Kommunikationsprozesse sowie der
Reduktion historischer Entwickungen auf Evolutionsprozesse nach biologischem
Muster.
Die systemtheoretische Sozialwissenschaft teilt mit Hegel den Grundzug des Holis-
mus - und zwar sowohl im methodologischen wie im ontologischen Sinne. Systeme,
auch Organismen und bewußte Individuen, werden methodisch vom Zusammenwir-
ken von Funktionen und Leistungen her beschrieben, durch die sie sich von ihrer Um-
welt abgrenzen, sich selbst organisieren sowie Informationen über sich und ihre Um-
welt verarbeiten. Mit anderen Worten: Systeme werden durch ganzheitliche Leistungen
beschrieben. Jedes Element, jede Bedeutung und jedes Ereignis erhält seinen Sinn nur
74 LUDWIG SIEP

durch seine Stellung im Ganzen des Systems. Diese Systeme gelten aber - etwa bei
Luhmann - nicht nur als theoretische Einheiten, sie sind vielmehr ontologisch real. In-
sofern kann man von einer holistischen Ontologie sprechen.
Der Begriff des Holismus ist für Luhmann gleichwohl problematisch, weil er die Be-
grifflichkeit von Ganzem und Teil als vormodern ablehnt. Geschlossen sind Systeme
nur durch ihre Sprache bzw. die Art ihrer Operationen. Jedes System ist - in traditio-
neller philosophischer Redeweise - eine Art Monade, die durch einen eigenen »Code«
und die Operationen mit ihm eine Umwelt für sich »setzt«. Das gilt nicht nur für bio-
logische Organismen und bewußte Individuen, sondern auch für soziale Systeme wie
Wirtschaft und Recht, sowie für die sie umfassende und »durchdringende« Kommuni-
kation, die Gesellschaft.6
Gesellschaft ist für Luhmann ein evolutionärer Prozeß der Kommunikation, innerhalb
dessen sich die Beschreibungssprache ihrer Umwelt und ihrer selbst verändert: »Die
Grenze dieses Systems wird in jeder einzelnen Kommunikation produziert und reprodu-
ziert« (GG I, 76). Das System der einzelnen Kommunikationsereignisse ist in einem dem
Hegeischen Begriffssystem analogen Sinne holistisch: »Denn jedes Einzelereignis gewinnt
seine Bedeutung (=Verständlichkeit) nur dadurch, daß es auf andere verweist und ein-
schränkt, was sie bedeuten können, und genau dadurch sich selbst bestimmt.« (GG I, 73)
Weil Kommunikation derart holistisch verstanden wird und weil Gesellschaft nicht
aus Teilsystemen oder aus menschlichen Individuen konstitutiert ist, hat die Theorie
trotz des monadischen Charakters der Systeme einen holistischen Charakter. Anders
als bei Hegel ist das umfassende Sozialsystem - bei Luhmann die Gesellschaft und nicht
der Staat - aber kein geordnetes, zweck- und normbestimmtes Ganzes, sondern ein alle
Kommunikationen umfassendes »Netzwerk, an dessen Reproduktion jede einzelne
Kommunikation mitwirkt« (GG I, 83) bzw. als »einziges Weltgesellschaftssystem, das
pulsierend wächst und schrumpft« (ebd. 78).
Ob die Operation eines Systems als Handlung verstanden wird, hängt gänzlich von
Deutung bzw. Konstruktion ab: »Die Identifikation von Mitteilung als Handlung (ist)
das Konstrukt eines Beobachters« (GG I, 86). Handlungen sind also Mitteilungen in
einer bestimmten Deutung. Auch Normen sind Selbstbeschreibungen der Systeme aus
der Perspektive der Selbstbeobachtung. Selbst Individualität, Personalität und Freiheit
sind an historische Funktionen gebundene veränderliche Selbstbeschreibungen (vgl.
G G I I , 1019).7
Der Prozeß der Veränderung von Normen und Zielen ist, im Kleinen wie im Gro-
ßen, ein Evolutionsprozeß. »Alle Annahmen über Verständigung, Fortschritt, Rationa-

6 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde Frankfurt 1997 (im folgenden Text abgek.
GG). S. 90.
7 Individualität ist allerdings auch eine notwendige Bedingung des psychischen Systems des Menschen.
In der »Theorie psychisch autopoietischer Systeme« muß eine Fähigkeit der Selbstreferenz und der
Abgrenzung von einer Umwelt, aus der das System zugleich Informationen aufnehmen kann, vor-
ausgesetzt werden. Individualität ist die »zirkuläre Geschlossenheit« dieses autopoietischen Systems
»in die alles Bestimmte, sie mitvollziehend, eingelagert ist« - eine empirische Apperzeption, die
»starr und notwendig« ist, »solange Bewußtsein kontinuiert« (N. Luhmann, Soziale Systeme. Frank-
furt 1984, S. 358). Zwischen dieser Bewußtseinsstruktur und dem Gebrauch des Prinzips Individuali-
tät als einer »historischen« Selbstbeschreibung des Systems mit normativen Konsequenzen besteht
aber offenbar kein notwendiger Zusammenhang.
HEGELS HOLISMUS UND DIE GEGENWÄRTIGE SOZIALPHILOSOPHIE 75

lität« gehören für Luhmann in eine »zweitrangige Theorieposition« (GG I, 91). Die ih-
nen gewidmeten Systeme sind beherrscht und durchdrungen von der unsteuerbar evo-
lutionären Kommunikation der Weltgesellschaft.
Daran ändern auch die Charakteristika der »soziokulturellen Evolution«, Sprache
und Gedächtnis, nichts Wesentliches. Was die soziokulturelle Evolution von der bio-
logischen unterscheidet, ist vor allem das Gedächtnis. Luhmann versteht es nicht als
einen Speicher von Erinnerungen, sondern hält die Operationen des Vergessens und
der »Konsistenzprüfung« für wesentlich, die neue Informationen mit der bisherigen
Realitätskonstruktion vergleichen. Das Gedächtnis leistet zwar eine »Kopplung von
Vergangenheit und Zukunft« (GG I, 593). Es handelt sich aber offenbar nicht um eine
aktive Auseinandersetzung mit vergangenen Überzeugungen und neuen Situationen.
Die bewußte Konfrontation mit Überlieferung, die Behauptung oder Erneuerung
von Lebensformen und Werten, bewußte Stellungnahme und begründete Entschei-
dungen über sie, tauchen unter den Gedächtnisleistungen nicht auf.8 Normentwick-
lung aufgrund gemeinsamer Willensbildung kommt in diesem Evolutionskonzept
nicht vor.
»Inzwischen hat die Gesellschaft sich in rasantem Tempo weiterentwickelt in Rich-
tung auf eine einzige, höchst komplexe, zukunftsoffene, normativ nicht mehr integrier-
bare Weltgesellschaft« schreibt Niklas Luhmann in einer älteren Arbeit über »Politi-
sche Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems«.9 Gekennzeichnet sei die
moderne Gesellschaft vor allem durch die Interdependenz von Politik und Wirtschaft,
die ebenfalls nicht mehr unter normativen Prämissen zu beurteilen sei, sondern nur als
funktionale Leistungsfähigkeit: »Es scheint, daß die Gerechtigkeit - einstmals das
wertneutrale, alle Wertungen bewertende Kriterium - abgelöst worden ist durch ande-
re Arten von sachlichen Entscheidungskalkülen für den Umgang mit mehrdimensiona-
len Präferenzstrukturen. Nach dem Umbau der politischen in die wirtschaftliche Ge-
sellschaft kann Gerechtigkeit bestenfalls als Sonderwert rekonstruiert werden, etwa als
Ausdruck des internen Anspruchsniveaus des Rechtssystems im Hinblick auf konsi-
stentes Entscheiden.« (Ebd. S. 20) Gerechtigkeit schrumpft also zur judikativen Konsi-
stenz. Im dominierenden gesellschaftlichen System, der Wirtschaft, sei Gerechtigkeit
dagegen durch das »Rationalitätsprinzip der Wirtschaftlichkeit« ersetzt worden. 10
Die vorausgesetzte Irreversibilität der sozialen Evolution ergibt sich aus der Über-
tragung des biologischen Paradigmas auf kulturelle Prozesse. Daß und inwieweit kul-
turelle Evolutionen dem Muster der biologischen Evolution folgen, ist aber in der Sy-
stemtheorie nicht bewiesen worden - nicht mehr als in anderen an der Biologie orien-
tierten Theorien wie der Soziobiologie oder der evolutionären Ethik."

8 Vgl. den apodiktischen Satz: Ȇber die Zukunft entscheidet nicht die Entscheidung, sondern die
Evolution« (GG II, 1093). Wenn Geschichte schon unter Evolutionskategorien erfaßbar sein sollte,
dann spielen in dieser Evolution sicher auch Entscheidungen eine Rolle.
9 N. Luhmann, Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems (1. Teil). In : Der Staat, 12
(1973), S. 1-22, hierS. 7
10 N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts: Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie.
Frankfurt 1981.
11 Auch im Evolutionskapitel seines letzten Buches hat Luhmann die These, daß Gesellschaften wie
biologische Systeme durch »Variation, Selektion und ReStabilisierung« evolvieren, nicht bewiesen,
sondern vorausgesetzt. Vgl. GG I, 413 ff.
76 LUDWIG SIEP

Was man im Blick auf das Hegeische Kontrastmodell bezweifeln kann, ist die Fä-
higkeit einer solchen Theorie, dem zweckmäßigen und normgeleiteten Handeln von
Individuen und der ebenso normorientierten Steuerung von Gemeinschaften gerecht
zu werden. Zweifellos ist es richtig, daß es Gesellschaftsformen ganz unterschiedlicher
Integrations- und Steuerungsarten gibt, die sich auch voneinander abgrenzen und ge-
geneinander behaupten. Aber zu bezweifeln ist, daß die Systemtheorie zweckgeleite-
tem Handeln, bewußter Integration, der Bildung eines gemeinsamen Willens und der
Orientierung an selbstgesetzten Normen auch nur deskriptiv gerecht werden kann.
Obwohl auch Hegel von Systemen als ontologischen Individuen spricht, hat er der
Reduktion des Praktischen und Normativen auf kognitive und natürliche (heute: evo-
lutive) Prozesse nicht Vorschub geleistet. Er spricht im »gegenständlichen« Sinne von
Systemen vor allem in der Naturphilosophie, wenn er die einheitlichen Leistungen ver-
schiedener Organe des animalischen Organismus darstellen will. Auch bei naturanalog
funktionierenden sozialen Gesamtleistungen benutzt er den Begriff, wenn er z.B. die
durch Arbeitsteilung und Markt organisierte gesellschaftliche Reproduktion »System
der Bedürfnisse« nennt. Sein sozialphilosophischer Holismus ist aber durch einen an-
deren Begriff des Ganzen und durch ein teleologisches Verständnis des Geistes von der
Systemtheorie geschieden.
Menschliche Gemeinschaften und ihre Entwicklungen müssen danach im Blick auf
ihre Ziele und das zunehmende Bewußtsein über sie verstanden werden. Das Gesamt-
ziel ist ein geordnetes Ganzes, in dem die Teile nicht nur eine systemdienliche Funk-
tion haben, sondern ihre eigene, für sich erkennbare Bestimmung erfüllen. Es gibt da-
her auch eine abschließende Form der sozialen Struktur, nämlich der nach Rechtsprin-
zipien organisierte Staat.
Hegels Sozialphilosophie ist als teleologische offen normativ. Er ordnet soziale Ver-
hältnisse nach den in ihnen realisierten Graden von Freiheit und dem Bewußtsein von
ihr. Diese Ordnung entwickelt sich in einer historischen Stufenfolge. Geschichte ist
keine blinde Evolution, wenngleich den Handelnden, Individuen oder Gruppen die
Ziele nur graduell bewußt sind.
Auch bei Hegel geht weder die Gesellschaft noch der Staat allein auf bewußte Hand-
lungen der Individuen zurück, erst recht nicht primär auf vertragliche Vereinbarungen.
Trotzdem vollzieht sich die umfassende Integration der Gesellschaft für ihn über die
Zustimmung zu Normen, darunter solchen, die Rechte und Ansprüche von Individuen
zum Gegenstand haben. Wie verhält sich das zum normativen Individualismus und
Deduktivismus in der Sozialphilosophie?

III

Hegels Sozialphilosophie hat den Titel einer Rechtsphilosophie. Es geht in ihr um den
Begriff des Rechtes als »Dasein der Freiheit« und um die Entfaltung eines Systems von
Rechten bzw. Freiheitsbestimmungen. Der Rang und der Umfang von Rechten hängt
für ein holistisches System von ihrer Stellung im Gesamtsystem ab. Damit steht Hegel
gegen den »mainstream« der gegenwärtigen Rechtsphilosophie. In der vertragstheore-
tischen oder in der transzendentalen, maßgeblich von Kant beeinflußten Variante, geht
HEGELS HOLISMUS UND DIE GEGENWÄRTIGE SOZIALPHILOSOPHIE 77

diese Tradition von den Rechten des Individuums aus. Deren allgemeingültige Grenzen
werden entweder ausgehandelt oder von einem theoretischen Vorbegriff gleicher, ge-
setzlich regulierbarer Freiheitsspielräume bestimmt.
In der gegenwärtigen Rechtsphilosophie gibt es Versuche einer Synthese der ver-
tragstheoretischen und transzendentalen Richtungen, etwa in der Gerechtigkeitstheo-
rie von John Rawls oder der Begründung der Menschenrechte als elementarer Tausch-
verhältnisse bei Otfried Hoffe. Auch die Vorzüge und Probleme dieser Ansätze lassen
sich in einem Vergleich mit Hegel verdeutlichen.
In Rawls' neueren Schriften gehen die Teilnehmer an der ursprünglichen Vertragssi-
tuation, die Rechts- und Gerechtigkeitsregeln aushandeln, von einem normativen
Selbstbild aus, das alle teilen und das nicht zur Disposition steht.' 2 Es ist das der freien
und gleichen Bürger, die zu einer eigenen Konzeption des Guten fähig sind und einen
Gerechtigkeitssinn haben. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten liegt im »höchstrangi-
gen Interesse« jedes Vertragsteilnehmers. Es sind Interessen, die am besten erfüllt wer-
den in einem demokratischen Verfassungsstaat mit einem möglichst umfassenden Sy-
stem von Grundrechten (a), einer Gleichverteilung an Chancen und Mitteln der Selbst-
achtung (b) und einer Maximinverteilung materieller Güter (c).13 Das Letztere bedeutet
eine Verteilung, die für die Schlechtestgestellten besser ist als jede andere.
Rawls nennt menschliche Individuen mit einem solchen Selbstbild und solchen Inter-
essen »Personen«. Es ist nicht ganz deutlich, ob er damit einen tranzendentalen An-
spruch erheben will oder auf eine rechtliche und moralische Kultur zurückgreift, wie
sie sich in Europa seit dem 17. Jahrhundert entwickelt hat - natürlich mit Vorstufen vor
allem in antiken und mittelalterlichen Stadtkulturen.14
Da ich den Personbegriff von Rawls nicht für alternativlos halte, trägt es nach mei-
ner Auffassung zur Stärkung seiner Position bei, sie eher im hermeneutischen Sinne als
Rekonstruktion der Prinzipien des liberalen und demokratischen Verfassungsstaates
auszulegen. Dies entspricht im Übrigen der von ihm selber entwickelten Methode des
Reflexionsgleichgewichtes.
Mit Blick auf die Sozialphilosophie Hegels fragt sich dann aber, ob Rawls' Rekon-
struktion ausreichend ist oder nur einen Teilaspekt dieser Rechtskultur betrifft. Von
Hegel aus fehlt ihr im Grunde die Rekonstruktion der gesellschaftlichen und politi-
schen Existenz des modernen Menschen. Diese erschöpft sich nicht im Bewußtsein der
- durch Wahlprozeduren vermittelten - Mitbestimmung bei der Gesetzgebung. Zur so-
zialen Existenz gehören emotionale Bindungen an Gruppen und anerkannte Beiträge
zum gemeinsamen und distributiven Wohl ihrer Mitglieder - bei Hegel vor allem als
Familien- und Standesloyalität. Zur politischen Existenz gehört die Mitwirkung am

12 Vgl. J. Rawls, Die Idee des Politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989. Hrsg. v. W Hinsch. Frank-
furt 1992, S. 88 f.
13 Vgl. dazu J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übers, v. H. Vetter. Frankfurt 1975, S. 32, 86 ff.,
291 ff. und L. Siep, Eine exakte Lösung des Gerechtigkeitsproblems? Bemerkungen zur Rawls-Dis-
kussion. In: Zeitschrift für Politik. 4, 1977 S. 342-349; W. Hinsch, Gerechtfertigte Ungleichheiten.
Eine Verteidigung des Differenzprinzips. Münsteraner Habil.schritt (1997); A. Wildt, Gleichheit,
rechtigkeit und Optimierung für jeden. Zur Begründung von Rawls Differenzprinzip. In: K. Bayertz
(Hg.) Politik und Ethik. Stuttgart 1996, S. 249-276.
14 Vgl. Siep, Rawls'politische Theorie der Person. In: Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls
in der Diskussion. Hrsg. v. d. Philos. Ges. Bad Homburg und W. Hinsch. Frankfurt 1997. S. 380-395.
78 LUDWIG SIEP

Gemeinwohl als einem gemeinsamen Werk und einer öffentlichen Aufgabe. Das wie-
derum schließt Beiträge zur Selbsterhaltung und Funktionsfähigkeit des Staates ebenso
ein wie die bewußte Aneignung und Fortentwicklung seines Selbstverständnisses, sei-
ner politischen und rechtlichen, wissenschaftlichen und ästhetischen Kultur. Das alles
läßt sich aus dem abstrakten Rawls'schen Personbegriff nicht verstehen und legitimie-
ren.
Einen noch deutlicher transzendental-deduktiven Anspruch für seine Rechtsphilo-
sophie als Rawls erhebt Otfried Hoffe.15 Jeglicher Staatsordnung liegt für ihn ein kate-
gorischer Rechtsimperativ zugrunde, den er in Anlehnung an Kant rechtsethisch be-
gründen will. Der Grundgedanke ist, daß die staatliche Zwangsbefugnis jedem ihr Un-
terworfenen gegenüber legitimiert werden muß. Das geschieht, wenn die ihm durch die
Zwangsbefugnis zugemutete Freiheitsbeschränkung als vorteilhaft für alle nachweisbar
ist. Auch Hoffe greift damit auf ein Freiheits- und ein Gerechtigkeitsbewußtsein zu-
rück.
Auf ein Freiheitsbewußtsein, weil sonst der Zwang gar nicht als Nachteil gelten
könnte, der den »Unterworfenen« gegenüber gerechtfertigt, d.h. durch einen Vorteil
aufgewogen werden müßte. Auf ein Gerechtigkeitsbewußtsein, weil sonst eine
butive Gleichverteilung des Nutzens nicht gefordert wäre. Hoffe geht von diesen Vor-
aussetzungen aus allerdings einen anderen Weg als Rawls: Er legitimiert die Regeln der
gerechten Freiheitsbeschränkung durch einen Tausch der zukünftigen Staatsmitglieder,
die wechselseitig auf ihre Freiheit, anderen Schaden zuzufügen, verzichten und dafür
staatlich garantierte Rechte ungestörter Freiheitsausübung erhalten.
Aus einer Hegeischen Perspektive nimmt auch dieser Versuch eine Form des Be-
wußtseins in Anspruch, die Resultat einer historischen Entwicklung ist. Darüber hin-
aus verabsolutiert er das Freiheitsmoment der ungestörten Verfolgung eigener Lebens-
pläne. Kann eine umfassende Freiheitsordnung für Individuen und Gruppen noch ent-
wickelt werden, wenn von den Freiheitsbedeutungen der psychischen Befreiung von
inneren Zwängen, der sozialen Freiheit als Anerkennung durch andere und der politi-
schen Freiheit der Mitwirkung an öffentlichen Aufgaben abgesehen wird?
Höffes Theorie der sozialen Gerechtigkeit weitet zwar den Tauschgedanken auf
Gruppen aus.16 Auch zwischen Generationen oder sozialen Gruppen wie Gesunden
und Kranken kann zum wechselseitigen Vorteil getauscht werden. Aber ob die eigentli-
che soziale und politische Dimension im Sinne der Hegeischen und der platonisch-ari-
stotelischen Tradition damit erreicht wird, erscheint mir zweifelhaft. Die Erfüllung des
menschlichen Lebens durch soziale Anerkennung und öffentliche Aufgaben ist mit
dem Tauschgedanken kaum zu erfassen.
Aus einer historisch-anthropologischen Perspektive gesehen, schneidet der Aus-
gangspunkt beim Tausch zudem die Herkunft des Menschen aus einer Gruppe ab. In
dieser sucht der Einzelne Akzeptanz und Sicherheit zunächst durch Orientierung am
Verhalten anderer, sei es der horizontal Gleichen oder der vertikal Ranghöheren, sowie

15 Vgl. O . Hoffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und
Staat. Frankfurt 1987 S. 382 ff.; ders., Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne,
Frankfurt 1990. S. 74 f, 150.
16 Vgl. O . Hoffe, Soziale Gerechtigkeit als Tausch. Ein neues Paradigma. In: K. Bayertz (Hg.), Ethik
und Politik, Stuttgart 1996. S. 229-248.
HEGELS HOLISMUS UND DIE GEGENWÄRTIGE SOZIALPHILOSOPHIE 79

durch Erfüllung anerkannter Funktionen. Das Bewußtsein eigener Interessen und das
Bedürfnis, für deren Einschränkung kompensiert zu werden, bildet sich erst durch die
Individualisierung in der Gruppe.
Ein Primat des sozialen Lebens gilt aus Hegelscher Perspektive aber nicht nur histo-
risch, sondern auch normativ. Zwar entspricht das bewußte und überlegte Wollen den
eigentlich menschlichen Fähigkeiten. Aber es ist nicht der selbstverständliche Aus-
gangspunkt der Legitimation jeglicher Rechte innerhalb der staatlichen Rechtsord-
nung. Der »Wert« persönlicher Interessen bemißt sich auch umgekehrt daran, ob diese
Interessen zu den Gütern der gemeinsamen Entscheidung und der gemeinsamen Ver-
wirklichung einer Rechts- und Wertordnung passen.
Hegel fordert wie Hoffe die Legitimation des Staates auch nach dem Kriterium der
Förderung des persönlichen Interesses. Unter diesen Interessen gibt es aber nicht belie-
bige Rangordnungen. Und zu den höchstrangigen Interessen gehört nicht nur die Be-
wahrung der Freiheit zur Befolgung eigener Lebenspläne, sondern auch der Vollzug
notwendiger sozialer Funktionen und die Teilnahme am öffentlichen Leben.

IV

Die Stärke des Hegeischen Typus von Sozialphilosophie scheint mir zu sein, daß sie
weder zur Reduktion des Individuums auf ein funktionales Moment sozialer Systeme
noch zu einer Isolierung der Ansprüche gleichsam souveräner Individuen führt. Statt
die Einschränkung beliebiger Interessen von vornherein unter Rechtfertigungszwang
zu stellen, werden die Ansprüche der Individuen unter dem Gesichtspunkt ihrer sozia-
len Interdependenz betrachtet. In diesem Rahmen soll den privaten Wünschen dann
ein möglichst großer Spielraum eingeräumt werden.
Normatives Ziel ist also die Existenz und Handlungsfähigkeit einer politischen Ge-
meinschaft mit selbständigen Individuen und relativ autonomen, aber komplementären
Gruppen. Allerdings unterschätzt Hegel die Bedeutung der Abwehr- und Wider-
standsrechte und räumt dem Staat uneingeschränkte Ausnahmerechte ein.17 Zwar mag
ein Primat des staatlichen Existenzrechts in Fällen der Verteidigung oder terroristischer
Staatserpressung unumgänglich sein. Es gilt aber nicht für den generellen Rang der
Rechte: der Staat soll sein, damit der einzelne seine Handlungsfreiheit und sein soziales
und politisches Leben verwirklichen kann - er ist kein davon unabhängiger »göttli-
cher« Selbstzweck. Hegels normativer Holismus ist für heutiges Rechtsbewußtsein zu
stark.
Inakzeptabel stark erscheint ferner - trotz ihrer bekannten Beschränkung auf retro-
spektive Rekonstruktion - die Teleologie der Hegeischen Geschichtsphilosophie. So-
ziale Organisation und soziale Entwicklung kann auf ein vernünftiges Ziel bezogen
werden - und muß das auch, wenn sich Wesen dafür einsetzen sollen, die bewußt und
gemeinsam das Richtige suchen. Wieweit das Ziel erreichbar ist, bleibt aber weit unge-

17 Zur deutschen Tradition der Vernachlässigung des Widerstandsrechtes vgl. H. Mandt, Tyrannislehre
und Widerstandsrecht. Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jh. Darmstadt und N e u -
wied 1974.
80 LUDWIG SIEP

wisser als bei Hegel. Und seine konkrete Ausgestaltung wird stärker von zukünftigen
Erfahrungen abhängen, als er vermutlich zulassen wollte.
Der evolutionstheoretische Quietismus der Systemtheorie ist aber in meinen Augen
keine überzeugende Alternative. Letztlich folgt er einem für die Gesellschaftswissen-
schaften und die Sozialphilosophie nirgendwo ausgewiesenen oder grundsätzlich
»transformierten« Paradigma biologischer Evolution. Die moderne Sozialphilosophie
sollte über die Alternative zwischen der Menschheit als quasi-individuellem Hand-
lungssubjekt und der Weltgesellschaft als unsteuerbarem Evolutionssystem hinausge-
hen. Dazu kann sie von der Hegeischen Sozialphilosophie unter Abschwachung der
genannten Theoreme noch immer lernen.
ERZSfiBET RÖZSA (Debrecen)

Bildung und der »rechtschaffene Bürger«.


Zu Hegels Bildungstheorie im Rahmen seiner Konzeption
der bürgerlichen Gesellschaft in der Philosophie des Rechts

Hegels Zeit war die der großen Veränderungen in Europa. Moderne Strukturen setzten
sich auch in Deutschland im Bereich der Wirtschaft, des sozialen Lebens und in den
politischen Strukturen, Einrichtungen und Institutionen durch. Hegel hat diesen Wan-
del seit seiner Jugend verfolgt und zu begreifen versucht. Ihren Höhepunkt erreichen
seine Bemühungen im veröffentlichten Hauptwerk der Berliner Periode, den
nien der Philosophie des Rechts. In diesem Werk stellt Hegel die sozialen, ökonomi-
schen und politischen Schwerpunkte dieser Wendezeit in Deutschland im Hinblick auf
die europäischen Veränderungen, vor allem im Blick auf das Modell Frankreich und
England systematisch dar.1
Der »spezifische deutsche Weg« hat sich auch darin erwiesen, wie Philosophen, Wis-
senschaftler und Politiker Ende des 18. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts auf diese radikalen Veränderungen, die den Übergang zu den moder-
nen Gesellschaften bedeuteten, mit der Diskussion um die Bildung reflektiert haben.2
Diese Diskussion hat zur Entwicklung des modernen Bildungswesens und der entspre-
chenden politischen und sozialen Institutionen beigetragen.3 - Ideengeschichtlich gin-
gen in diese Diskussion Traditionen der Reformation, der philosophischen Ausrich-
tung Melanchtons sowie der humanistischen Tradition und der Aufklärung ein. Die Be-

1 Z u m Kontext der Rechtsphilosophie hinsichtlich der verschiedenen politischen Modelle in Europa


s. Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg. v.
H.-Chr. Lucas u. O . Pöggeler. Stuttgart 1986. Zum englischen Modell aus der jüngsten Literatur s.
Politik und Geschichte. Zu den Intentionen von G.W.F. Hegels Reformbill-Schrift. Hrsg. v. Ch.
Jamme u. E. Weisser-Lohmann. In: Hegel-Studien Beiheft 35, 1995. - Zur Bedeutung des britischen
Modells s. besonders die Beiträge v. N . Waszek, bes. ders., The Scottish Enlightenment and Hegel's
Account of Civil Society Dordrecht/Boston/London 1988. - Zur Entwicklungsgeschichte des
Bildungsbegriffs bei Hegel s. O . Pöggeler, Hegels Bildungskonzeptton im geschichtlichen
hang. In: Hegel-Studien 15 (1980), S. 241-269. - Zur Bedeutung von Schillers Konzeption für die
Bildungsidee des jungen Hegel s. A. Gethmann-Siefert, Die Funktion der Kunst in der Geschichte.
Untersuchungen zu Hegels Ästhetik. Bonn 1984, S. 29-34. - Zur Rezeptionsgeschichte von Hegels
Bildungsbegriffs bei H.G. H o t h o s. A. Gethmann-Siefert, Kunst als Bildungserlebnis und
rie in systematischer Absicht. In: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels. Hrsg. v. O .
Pöggeler u. A. Gethmann-Siefert. Berlin 1983. S. 247-257.
2 Zur Diskussion um Hegels Bildungsbegriff: Hegels Theorie der Bildung. Hrsg. v. J.E. Pleines. Bd. I:
Materialien zu ihrer Interpretation, Bd. II: Kommentare. Hildesheim 1986; U. Krautkrämer, Staat
und Erziehung. Begründung öffentlicher Erziehung bei Humboldt, Kant, Fichte, Hegel und Schlei-
ermacher. Augsburg 1979. - Zu Hegels Konzept der Bildung des Burgers durch Kunst s. aus der
jüngsten Literatur A. Gethmann-Siefert, Schöne Kunst und Prosa des Lebens. Hegels Rehabilitierung
des ästhetischen Genusses. In: Kunst und Geschichte im Zeitalter Hegels. Hrsg. v. Ch. Jamme mit F.
Völkel. Hamburg 1996. S. 121, 124-128, 143-149.
3 Zum Problem des Zusammenhanges zwischen dem modernen Bildungswesen und dem modernen
Staat in Deutschland s. U. Krautkrämer, Der Entwicklungsstand der Bildungsinstitutionen im
Deutschland des 18. Jahrhunderts. (Anm. 2), S. 15-28.
82 ERZSEBET RÖZSA

deutung der humanistischen Tradition für die Konzeption der Bildung hat Gadamer
hervorgehoben, indem er in dieser Tradition eine Erklärung für die kontinuierliche An-
wesenheit des Bildungsbegriffs findet; ein für die Begründung der Geisteswissenschaf-
ten fundamentaler Prozeß. 4 Aber genauso wichtig ist es, auf die Prinzipien eines neuen
Erziehungs- und Bildungssystems hinzuweisen, die darauf abgezielt haben, die Ent-
wicklung eines »höheren Bürgertums« voranzutreiben, was in den Fragestellungen von
Rousseau, Kant, Fichte, Humboldt, Hegel und Schleiermacher, trotz aller Unterschie-
de als ein gemeinsamer Zug festzustellen ist.5
Neben W. Humboldt war es Hegel, der über seine theoretisch-philosophischen Über-
legungen hinaus auch seine vor allem aus der Nürnberger Periode stammenden prakti-
schen Erfahrungen in die Diskussion miteinbezogen und ihr damit eine breitere Grund-
legung gegeben hat. Diese Jahre haben einen besonderen Stellenwert in Hegels Leben
nicht nur für sein Bildungskonzept, sondern auch für die systematische Ausprägung sei-
ner späten Philosophie. Neben den Schulreden ist es vor allem die Philosophische Propä-
deutik, die ein beachtenswertes Dokument für die Entwicklung des Hegeischen Denkens
darstellt. Letztlich brachte ihn die propädeutische Intention des Philosophieunterrichts
dazu, sein philosophisches System inhaltlich abzurunden: »Von diesen Stationen her er-
scheint vor allem der Systemgrundriß der »Enzyklopädie« nicht mehr als schlechthin in
sich gefügtes Ganzes, sondern als ein Buch, dem die Spuren seines Werdens eingeprägt
sind.«6 Somit besteht ein enger Zusammenhang zwischen der späten Bildungstheorie und
dem reifen System. Deshalb konnte Th. Litt die allerdings übertriebene Schlußfolgerung
machen, daß Hegels Philosophie des Geistes nicht so sehr eine Bildungstheorie als Teil
enthält, als vielmehr selbst im ganzen eine Bildungstheorie ist.7
Die Rechtsphilosophie als Hegels letztes systematisches Werk enthält eine systemati-
sche Ausarbeitung seiner Bildungsauffassung. Im System der bürgerlichen Gesellschaft
wird der Bildung ein besonderer Stellenwert zugeschrieben. Hegel war der Meinung:
die bürgerliche Gesellschaft biete einen Spielraum für die neuen Lebensformen, wo
»die Menschen ihren Ort im freien Spiel dieser Gesellschaft nunmehr maßgeblich über
das Bildungssystem erlangten«.8 Im folgenden wird versucht, zu rekapitulieren, wie
Hegel eine Theorie des Bildungsbürgertums entwickelt hat, worin eine alternative Be-
gründungs- und Argumentationsmöglichkeit entstand, deren Spezifikum in der syste-
matischen Einbeziehung der ökonomischen Dimension in die Bildungsdiskussion lag,
die vor ihm in Deutschland am Rande des philosophischen Interesses geblieben war.9
Die vorliegende Ausführung soll beweisen, daß Hegels Bildungstheorie wohl einen sy-
stematischen Anspruch verfolgt, der im System der Philosophie des Geistes nicht auf-
zulösen ist, obwohl diese Bildungstheorie nicht unabhängig vom System zu deuten ist.

4 H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Tübingen 1960. S. 7-16.


5 Eine Zusammenfassung der Stellungnahme dieser Denker s. den Band von Krautkrämer (Anm. 2).
6 Die Nürnberger Periode hat einen besonderen Stellenwert für Hegels Bildungskonzept. S. dazu: F.
Nicolin, Pädagogik-Propädeutik-Enzyklopädie. In: Hegel. Einführung in seine Philosophie. Hrsg. v.
O. Pöggeler. Freiburg/München 1977, S. 92, ferner O . Pöggeler (Anm. 1), S. 252-254, 258-259.
7 F. Nicolin (Anm. 6), S. 104.
8 O . Pöggeler (Anm. 1), S. 241.
9 Zur Bedeutung der ökonomischen Dimension für Hegels Philosophie: G. Lukäcs, Der junge Hegel.
Berlin 1954; M. Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1969, S. 75-99; B. Prid-
dat, Hegel als Ökonom. Berlin 1990, bes. S. 9-21.
BILDUNG UND DER »RECHTSCHAFFENE BÜRGER« 83

Der Systemanspruch ist vielmehr aus dem Bestreben zu erklären, den angemessen Ort
der Bildung im Kontext der neuen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen
und der ihnen entsprechenden Lebensformen und Verhaltensweisen aufzuzeigen. Die
Feststellung von O. Pöggeler scheint auch in dieser Hinsicht zutreffend zu sein: »So ist
es angemessen, nicht nur nach den Einzelheiten von Hegels Bildungstheorie, sondern
nach der zugrundeliegenden Konzeption zu fragen.«10

Erziehung und Bildung -


ihr Stellenwert und Bedeutungsebenen im späten System

Sieht man Hegels System nicht im Rahmen der gewöhnlichen Einwände wie etwa daß
es ein abgeschloßenes oder totalitäres oder aber holistisches wäre, sondern vielmehr als
einen zu seiner Art des Philosophierens gehörenden konstitutiven Faktor, dann kann
man es auch für die vorliegende Problematik fruchtbar machen.11 Hegel hat seine Bil-
dungstheorie in eine dreistufige Struktur eingeordnet: die erste Dimension stellt die Be-
ziehung der Rechtsphilosophie auf das enzyklopädische System dar.12 Die zweite, zen-
trale Ebene macht das System der Rechtsphilosophie, insbesondere der bürgerlichen
Gesellschaft mit ihren wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und deren Beziehung
auf die Bildung aus. Auf der dritten Strukturebene geht es um Phänomene der »neue-
ren Zeit« wie die Vervielfältigung, Zerlegung und Verfeinerung von Bedürfnissen und
Mitteln bzw. die ihr entsprechenden theoretischen und praktischen Bildungs- und Ver-
haltensweisen, die Hegel im Rahmen seiner Bildungstheorie behandelt hat.13 Dazu
gehört auch die Exponierung einiger äußerst aktueller globaler Probleme, wie das
Recht des Menschen auf das »Anderssein« aufgrund seiner Identität im Denken und
der »Verkehr« von Völkern und Kulturen.
Zuerst soll geklärt werden, daß Erziehung und Bildung trotz vieler Überschneidun-
gen nicht miteinander zu identifizieren sind.14 Die erste, »äußerliche« Ebene der Sy-
stemstruktur von Hegels Werk weist an sich schon darauf hin, daß die Erziehung als
Aufgabe vor allem der Familie, die Bildung aber der bürgerlichen Gesellschaft zuge-
schrieben wurde. Diese Einordnung der Erziehung wird sowohl von der Seite der El-
tern als auch der Kinder begründet; man denke nun an das »Recht der Kinder«, »aus

10 O . Pöggeler ( A n m . l ) , S . 241-242.
11 Zu den Systemfragen der Rechtsphilosophie s. aus der jüngsten Literatur: G.W.F. Hegel: Grundlinien
der Philosophie des Rechts. Hrsg. v. L. Siep. Berlin 1997. Es ist nur zu bedauern, daß die Bedeutung
von Hegels Bildungskonzept für die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft in dem die politische
Funktion der bürgerlichen Gesellschaft betonenden Beitrag von R. P. Horstmann nicht behandelt
wurde. Vgl. S. 193-216.
12 G. W F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im
Grundrisse. In: H. Glockner (Hrsg), Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. 3. Aufl.
Stuttgart 1952. (Sigla: Rph); G.W.F. Hegel: Die Philosophie des Geistes. In: Ders., Sämtliche Werke.
Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. 4. Aufl. Stuttgart 1958. (Sigla: PhdG)
13 Zum Problem des Verhaltensmusters bei Hegel s. v. der Verf., Hegels Auffassung der Versöhnung und
die Metaphorik der » Vorrede- der Rechtsphilosophie. - Risse am System? In: Hegel-Studien 32, 1997,
bes. S. 151-160.
14 Zum Unterschied der Begriffe Erziehung und Bildung s. E. Lewalter, Hegels Bildungsgedanke und
die gegenwärtige Bildungslehre. In: Hegels Theorie der Bildung. (Anm.2) Bd II, S. 51-66.
84 ERZSEBET RÖZSA

dem gemeinsamen Familenvermogen ernährt und erzogen zu werden«, oder an das


»Recht der Eltern«, »über die Willkür der Kinder durch den Zweck, sie in Zucht zu
halten und zu erziehen«. Somit wird die Erziehung trotz aller hierarchisierenden Ele-
mente als eine gegenseitige Interaktion und dementspechend ein Prägungsprozeß auf-
gefaßt, eine Art intersubjektive Kommunikation im Rahmen einer die Individualitäts-
ansprüche fördernden und zugleich einbeschränkenden Gemeinschaft dargestellt, zu
der die Kinder eine interne und intime Beziehung haben: »Ihre Erziehung hat die in
Rücksicht auf das Familienverhältnis positive Bestimmung, daß die Sittlichkeit in ihnen
zur unmittelbaren, noch gegensatzlosen Empfindung gebracht [werde] und das Gemüt
darin, als dem Grunde des sittlichen Lebens, in Liebe, Zutrauen und Gehorsam sein er-
stes Leben gelebt habe.«15 Die Sittlichkeit soll für das Kind als eigenste Subjektivität er-
scheinen - diese Forderung führt zum doppelten Erziehungsprinzip der Selbständigkeit
und des Gehorsams, wodurch das Kind sich aus der Familie ausreißt, um sich zur
»konkreten Person« und zum Bürger der modernen Gesellschaft, zu einem geschicht-
lich neuen »Geschöpfe« zu machen.
Diese Wende hat Hegel allgemein-sozialontologisch bzw. wirtschafts- und sozialphi-
losophisch ausgelegt. Die erste Interpretationsebene liegt darin, wie sich die Subjekti-
vität als sozialontologisches und geschichtsphilosophisches Prinzip der modernen Ge-
sellschaften entwickelt, wie sie sich eine Wirklichkeit gibt, und zwar durch Vermittlung
von Wissensformen.16 In dieser Relation ist die Einordnung der Bildung in die bürger-
liche Gesellschaft als ihre eigene Wissensform aufzufassen, die auf alle ihre Strukturele-
mente reflektiert. Dementsprechend wurde die Bildung auf jeder Stufe der bürgerli-
chen Gesellschaft ontologisch und epistemisch gedeutet: die Bildung ist nicht nur als
eine Art Wissensform, sondern auch als eine wirklich-soziale Komponente der moder-
nen Gesellschaften zu verstehen. Die allgemeine sozialontologische Dimension von
»Subjekt« und »Substanz« der »Freiheit des Geistes« geht in die sozialphilosophische
der Bildung über, deren Strukturelemente das durch die Bildung geprägte praktische
Verhalten der Individuen und die entsprechenden Institutionen der modernen Wirt-
schaft und die soziale Gliederung ausmachen. Diese Konstruktion ermöglicht Hegel,
eine von der Bildung geprägte Lebensführung für die modernen Subjekte aufzuzeigen.
Wie ist dieses »Einnisten« der Bildung in die bürgerliche Gesellschaft auszulegen?
Diese Sphäre als »Welt« erscheint dem Subjekt zunächst als etwas Vorgefundenes, ein
von ihm Getrenntes, aber zugleich als eine Herausforderung, womit das Subjekt »sich
groß machen kann«. Die »Sehnsucht, groß zu werden« - bei Hegel eine anthropologi-
sche Konstante -, ist durch die Bildung zu erfüllen. »Groß zu werden«, das ist die »Sa-
che der Bildung«, wie Griesheim notiert. Eben in dem daraus sich ergebenden Fort-
gang des Geistes wird sich klar erweisen, daß in Wirklichkeit alles anders ist, als es
zunächst erscheint; gerade die Bildung stellt die Wissensform dar, wodurch sich das
Subjekt in die ihm zuerst äußerlich und fremd erscheinende Welt einprägen und diese
somit als seine eigene Lebenswelt hervorbringen kann. Das heißt: das Subjekt kann
nicht nur die Welt erkennen, sondern in diesem Prozeß sich selbst zugleich verwirkli-

15 Rph, §175, Zus. S. 254.


16 Zum Thema der »subjektiven« oder nicht-begrifflichen Wissensformen des Subjekts s. L. Siep, »Ge-
sinnung« und »Verfassung«. Bemerkungen zu einem nicht nur Hegeischen Problem. In: ders., Prakti-
sche Philosophie im deutschen Idealismus. Frankfurt a.M. 1992, S. 270-284.
BILDUNG UND DER »RECHTSCHAFFENE BÜRGER« 85

chen. Diese Vereinigung des theoretischen und praktischen Verhaltens macht die Bil-
dung zu einer internen Strukturebene der modernen Gesellschaften. So tritt die Bil-
dung in dem Grenzgebiet der abstrakt-allgemeinen sozialontologischen Stukturebene
(Subjekt-Substanz-Struktur der Freiheit des Geistes) und der konkreten sozialphiloso-
phisch-phänomenologischen Ebene (Lebenswelt und Verhaltensweisen der bürgerli-
chen Gesellschaft) auf.
Die Bildung wird darüber hinaus in die Struktur des enzyklopädischen Systems ein-
geordnet. Das Sittlich-Substantielle als höchster Inhalt soll in den ihm entsprechenden
Formen verwirklicht werden: eine dieser Formen stellt eben die Bildung auf der Stufe
des objektiven Geistes dar; die Bildung wie die Erziehung sind aber von dem
ven Geist »ausgeschloßen«.17 Die Bildung hat ferner ein Verhältnis zu den Gestalten
des absoluten Geistes. Ohne dies hier weiter zu thematisieren, sei kurz bemerkt, daß
die Bildung als Kultur im weiteren Sinne eine interne Beziehung zur Religion, der
Kunst und den Wissenschaften als Elitenkultur haben soll.18 Über das Verhältnis der
Philosophie, der Religion und der Bildung macht Hegel in der Philosophie des Geistes
folgende Bemerkung: »Aber die Religion ist die Wahrheit für alle Menschen, der Glau-
be beruht auf dem Zeugnis des Geistes, der als zeugend der Geist im Menschen ist [...]
Dies Zeugnis, an sich substantielle, faßt sich [...] zunächst in diejenige Bildung, welche
die sonstige seines weltlichen Bewußtseins und Verstandes ist«.19 Die Verwandtschaft
von Bildung und Religion liegt in der Form, beide sind für Hegel Vergegenwärtigung
der Wahrheit - die eine auf weltliche Weise, die andere »überweltlich«. Was die Bezie-
hung der Philosophie und der Bildung betrifft, ist die Philosophie als »Sonntag des
bens« anzusehen, demgegenüber die Bildung als seine Alltage. Das Verhältnis von
»Sonntag« und »Alltag« hat eben die moderne bürgerliche Gesellschaft geändert, wo-
durch sich die Bedeutung der Bildung als dem weltlichen Wissen für das Alltagsleben
radikal erhöht hat.
Hegel hat der Bildung auch eine allgemeine sozial- und kulturgeschichtliche Bedeu-
tung zugeschrieben, die für den europäischen Geist bezeichnend ist. Sie liegt darin, daß
die Europäer den Gedanken, das Wissen und den »unendlichen Wissensdrang« zu
ihrem Prinzip gemacht haben: »Das Prinzip des europäischen Geistes ist daher die
selbstbewußte Vernunft, die zu sich das Zutrauen hat, daß nichts gegen sie eine unüber-
windliche Schranke sein kann, und die daher alles antastet, um sich selber darin gegen-
wärtig zu werden. Der europäische Geist setzt sich die Welt gegenüber, macht sich von
ihr frei, hebt aber diesen Gegensatz wieder auf, nimmt sein Anderes, das Mannigfaltige,
in sich, in seine Einfachheit zurück. Hier herrscht daher dieser unendliche Wissens-
drang [...] Den Europäer interessiert die Welt; er will sie erkennen, sich das ihm ge-
genüberstehende Andere aneignen.«20 Dieser unendliche Wissensdrang des europäi-

17 PhdG, § 387, Anm. S. 47.


18 Die Identifizierung der Bildung und der Religion in bezug auf den Inhalt macht Hegels Standpunkt
unklar: »Denn es gibt eine tiefere Existenz der Idee, die das Sinnliche nicht mehr ausdrücken vermag,
und dies ist der Inhalt unserer Religion, Bildung«. (Hervorgehoben v. mir - E.R.) In: A. Gethmann-
Siefert (Hrsg.), G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachge-
schrieben von H G . Hotho. Hamburg 1998, S. 5.
19 PhdG, § 573, Anm. S. 459.
20 Ebd. § 393, Zus. S. 77-78.
88 ERZSEBET RÖZSA

falsch sei, die Bildung nur als »Äußerliches« oder »bloßes Mittel« aufzufassen. Der
Zweck des Geistes, die »Roheit des Wissens und des Wollens« wegzuarbeiten und
»zunächst diese seine Äußerlichkeit die Vernünftigkeit, der sie fähig ist, erhalte, näm-
lich die Form der Allgemeinheit, die Verständigkeit. Auf diese Weise nur ist der Geist
in dieser Äußerlichkeit als solcher einheimisch und bei sich. Seine Freiheit hat so in der-
selben ein Dasein, und er wird in dieser seiner Bestimmung zur Freiheit an sich fremder
Elemente für sich, hat es nur mit solchen zu tun, dem sein Siegel aufgedrückt und [das]
von ihm produziert ist.«29 So ist die Bildung als ein gegenseitiger
zeß der einander fremden Elemente, des Natürlichen, der besonderen Subjektivität
bzw. der Substanz des Geistes, der Sittlichkeit zu verstehen.
Aus der rekapitulierten Theorie der Bildung ist die Anmerkung des § 187 besser zu
verstehen. Die sozialontologische Dimension, die die zweipolige Grundstruktur von
Substanz und Subjekt der Freiheit des Geistes darstellt, knüpft an dieser Texstelle an
die zwei Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft, die konkrete Person und das All-
gemeine an; hier tritt nun die »subjektive Substantialität der Sittlichkeit« als ein so-
zialontologischer Aspekt auf. Darüber hinaus wird eine sozialphilosophisch-sozial-
anthropologische Ebene eingeführt, so wie die Bildung als »Befreiung« und »harte
Arbeit«, die »harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Un-
mittelbarkeit der Begierde«, die »subjektive Eitelkeit der Empfindung« und die »Will-
kür des Beliebens«.
Der Bildung wurde eine sozialphilosophisch-phänomenologisch-psychologische
Bedeutung zugeschrieben, die als kultivierte Verhaltensweise eine ihrer wichtigsten Be-
deutungsebenen darstellt: »Bildung heißt eine allgemeine Weise, in Rücksicht auf das
Individuum, sich nach allgemeinen Maximen, Formen zu bestimmen, sich nach all-
gemeiner Weise zu benehmen, zu handeln.«30 Wie ist es zu verstehen? Der gebildete
Mensch ist ein conditio sine qua non des zum Bürger-Werdens; seine kultivierte Verhal-
tensweise liegt darin, sich sowohl auf die Eigenschaften des Gegenstandes als auch der
Anderen gebildet, d.h. allgemein zu richten, sich der »Natur der Sache« nach zu beneh-
men. Der gebildete Mensch zeichnet sich nicht aus, er geht die Landstraße, wo jeder-
mann geht, wie sich Hegel ausdrückt; seine Handlungsweise muß so der Natur der Sa-
che angemessen sein. Im Zusatz des § 187 stellt Hegel über den gebildeten Mensch
fest:31 »Unter gebildeten Menschen kann man zunächst solche verstehen, die alles ma-
chen können, was andere tun, und die ihre Partikularität nicht herauskehren, während
bei ungebildeten Menschen gerade diese sich zeigt, indem das Benehmen sich nicht
nach den allgemeinen Eigenschaften des Gegenstandes richtet. Ebenso kann im Ver-
hältnis zu den anderen Menschen der Ungebildete sie leicht kränken, indem er sich nur
gehen läßt und keine Reflexion für die Empfindungen der anderen hat [...] Bildung also
ist Glättung der Besonderheit.«32

29 Rph, §187, Zus. S. 268.


30 Philosophie des Rechts. Nach dem Vortrage des Herrn Prof. Hegel im Winter 1824/25. Vorlesungs-
nachschrift K.G.v. Griesheim. In: G.W.F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831.
(Anm.26), Bd 4, S. 483.
31 Rph, §187, Zus. 269.
32 Vgl. noch Hotho (Anm. 26), S. 583.
BILDUNG UND DER »RECHTSCHAFFENE BÜRGER« 89

So ermöglicht die Bildung als »Sachlichkeit« und »kultivierter Verkehr ein angemes-
senes Verhalten zu den Dingen und zu den Menschen. Dadurch hat »das eigene Wollen
der Person das Benehmen in Einklang mit sich gebracht«.33 Dies ist zugleich für den
Handelnden selbst von unmittelbarem Nutzen: er hat dadurch mindestens die forma-
len Bedingungen, »um sich zur Verwirklichung seiner Ideale zu befähigen«. Eben darin
liegt sein »unmittelbarer Zweck«, der in dieser Art der Kultiviertheit des Benehmens
erfüllt werden kann.34 Die Kultiviertheit des Benehmens gibt die Form des Erreichens
der subjektiven, besonderen Zwecke an, wodurch sie zu einer Komponente der Frei-
heit der Subjektivität geworden ist. »Die Bildung ist die Form der Allgemeinheit, die
das Individuum sich gibt, das sich den Verhältnissen seinen Zwecken, seinen Mitteln
[sich] gemäß benimmt, nichts gegen die Umstände, gegen seine Zustände will. Diese
Zwecke können verschiedener Art sein, die Bildung also bestimmt den Inhalt nicht.
Die wahre Sache aber als das Allgemeine, kann nur durch Gebildete, durch die Form
der Allgemeinheit zur Existenz kommen.« »Die vernünftige Freiheit hat zu ihrer Exi-
stenz die Form der Bildung nöthig.«35
Somit hat Hegel ein mehrfach begründetes allgemeines Verhaltensmuster als eine der
wichtigsten Komponenten einer Theorie der Bildung für die moderne Gesellschaft aus-
gearbeitet. Die Erziehung in der Familie und in der Schule, das Lernen und der Unter-
richt in der Schule stellen sehr wichtige Bedingungen für die Bildung dar, der aber in
der modernen Gesellschaft eine noch wichtigere Aufgabe zugeschrieben wird: die Vor-
bereitung der einzelnen Personen auf das zum Bürger-Werden. Der Übergang in den
Status des Bürgers und ins »Philisterleben« scheint für den Jüngling schmerzhaft zu
sein. Eben der Bildung wird die Funktion beigemessen, den Jüngling vorzubereiten
und ihm die Kenntnisse und Fertigkeiten zur Verfügung zu stellen, womit er sich in die
»objektiven Verhältnisse«, in das »praktische Leben einhaust«. Es findet unmittelbar
im Beruf statt, und zwar in »allen Sphären der praktischen Tätigkeit«. Somit wird er
»in seinem Fache völlig zu Hause« sein. Damit der Jüngling »zu einem vollkommen
fertigen Menschen« werden kann, muß er diesen komplexen Bildungsprozeß überste-
hen.36 Die Bildung ist es, die den Menschen auf die in den bürgerlichen Verhältnissen
verwurzelte Lebensführung vorbereitet und zugleich die Einsicht gewährt, daß dies
letztlich als einziger »Raum zu ehrenvoller, weitgreifender und schöpferischer Tätig-
keit« übrigbleibt.

33 PhdG, § 396, Zus. S. 104-106; Hotho (Anm.26), S. 582-584.


34 Hotho (Anm. 26), S. 584-585.
35 PhdG, § 396, Zus. S. 94-109.
36 Hegel war kein Ökonom, wie B. Priddat in seinem Buch Hegel als Ökonom behauptet (Anm. 9); er
hat von der Ökonomie trotz seiner Hochschätzung der Leistung der britischen Ökonomie Abstand
genommen, wie es die Anmerkung zum § 189 der Rechtsphilosophie eindeutig zeigt. Hegel hat so-
wohl die Leistung der Ökonomie als auch die neuen Erscheinungen der modernen Wirtschaft, die er
vor allem »am Beispiel Englands« studiert hat, wirtschaftsphilosophisch, unter den Prämissen seiner
Rechtsphilosophie und nicht der Ökonomie ausgelegt. S. v. Verf., Hegel gazdasägfilozöfiäja (Hegels
Wirtschaftsphilosophie). Ungarisch. Budapest 1993.
90 ERZSEBET ROZSA

Die Bildung als Strukturelement der modernen


Wirtschaft und der Lebenswelt des Bürgers

Im Abschnitt Die Art des Bedürfnisses und der Befriedigung wird aufgezeigt, daß die
Vervielfältigung, Zerlegung und Verfeinerung der Bedürfnisse und der Mittel nicht als
bloß wirtschaftliche Faktoren, sondern auch als Bildungselemente zu verstehen sind.
Die Arbeit stellt den Begriff der ökonomischen Sphäre dar, in bezug auf welche die
Rolle der Bildung für die moderne Wirtschaft besonders klar zum Vorschein kommt;
der Arbeit als einem ökonomischen Begriff wird eine »höhere«, d.h. wirtschaftphiloso-
phische Bedeutung zugeschrieben, was durch den Begriff der Bildung vollzogen wird.37
Die Formierung stellt die Kategorie dar, die die Arbeit als einen ökonomischen Begriff
zum philosophischen erhebt, womit es möglich wird, die Arbeit mit der Bildung zu
verbinden. Die Arbeit ist als ein unmittelbarer Verkehr mit dem von der Natur unmit-
telbar gelieferten Material zu deuten; mit dem Begriff >Formierung< gibt Hegel den
menschlichen Charakter der Produktion an. Damit die Formierung als der soziale Cha-
rakter der Handlung gelten kann, soll der Mensch sich sowohl theoretisch als auch
praktisch vorbereiten; das findet gerade in der Bildung statt.
Im § 197 behandelt Hegel zunächst die theoretische Bildung, dann die praktische.
Das könnte sogar irreführend sein; man könnte darin wieder ein Übergewicht des
Theoretisch-Logischen sehen. In der Tat aber verfährt Hegel realistisch und konse-
quent. Es handelt sich hier nämlich um die theoretischen Erkenntnisse, die vor allem
nicht oder nicht nur in der Schule gelernt werden können, so wie »eine Beweglichkeit
und Schnelligkeit des Vorstellens und des Übergehens von einer Vorstellung zur an-
dern, das Fassen verwickelter und allgemeiner Beziehungen usf.« Ihrer allgemeinen
Einordnung nach ist die Bildung als die Sphäre des Verstandes überhaupt aufzufassen,
womit sich Hegel hie et nunc nicht auf philosophiegeschichtliche Unterscheidungen
und Perioden bezieht, sondern darauf hinweist, daß diese theoretische Bildung als
Strukturelement der modernen Wirtschaft als »Verstandesstaat« zu deuten ist. Das
Wirtschaftliche ist es, das hier den Stellenwert und die Funktion der theoretischen
Kenntnisse bestimmt und nicht umgekehrt.
In der praktischen Bildung wird zunächst die Bedeutung der Beschäftigung hervor-
gehoben. Wie oben gezeigt worden ist, hat Hegel dem Beruf einen wichtigen Stellen-
wert zugeschrieben, indem er den Einfluß des Protestantismus auf seine praktische Phi-
losophie unmittelbar ausdrückt.38 Die Beschäftigung ist etwas anderes als die Arbeit;
letzteres bezieht sich auf das von der Natur unmittelbar gelieferten Material. Sie ist fer-

37 Hegels Arbeitsbegriff hat einen breiten ideengeschichtlichen Kontext, obwohl er nur mit dem Ar-
beitsbegriff der britischen Ökonomie, oder dem doppelten Begründungsversuch von A. Smith oder
aber Luthers Berufsbegriff nicht hinreichend zu deuten ist. Auch Hegels Bildungsbegriff hat dabei
eine wichtige Rolle gespielt, daß er den Begriff der Arbeit und der Beschäftigung mit einem komple-
xeren Interpretationsrahmen versehen hat. Dieser Aspekt der Bildung würde den Rahmen des vorlie-
gendes Beitrags sprengen.
38 Zu Hegels Gewohnheitsbegriff B. Merker, Über Gewohnheit. In: Hegels Theorie des subjektiven
Geistes m der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse«. Hrsg. v. L. Eley.
Stuttgart 1990, S. 227-244.
39 PhdG, § 396, Zus. S. 107-108.
BILDUNG UND DER »RECHTSCHAFFENE BÜRGER« 91

ner mehr ein Abstrakt-Menschliches, wie z.B. das Konsumieren. Die Beschäftigung ist
dagegen im Spannungsfeld von Bedürfnis und Gewohnheit auszulegen, was auf ihre In-
teriorisierung hinweist.39 Die Bedeutung der praktischen Bildung für die Beschäftigung
wird herausgehoben, insofern sie »eben in der Gewohnheit und in dem Bedürfen der
Beschäftigung« besteht. Gewohnheit und Bedürfnisse stellen eine allgemeine philoso-
phisch-anthropologische Voraussetzung für die praktische Bildung dar. Dies ist als
eine Art von Angemessenheit von allen Handlungs- und Verhaltenselementen zu ver-
stehen, worin Hegel eine der zentralen Aufgaben der Bildung sah.
Im Kapitel Anthropologie im subjektiven Geist zeigt Hegel, wie die »Tätigkeit dem
Geschäfte vollkommen gemäß« geworden ist, eine wesentliche Bedingung dafür, daß
der Jüngling in der bürgerlichen Gesellschaft seinen Platz findet.40 Die Angemessenheit
»seines Tuns« ist auch in der wirtschaftlichen Sphäre erforderlich, und zwar sowohl be-
züglich der Natur des Materials als auch der intersubjektiven Aspekte der wirtschaftli-
chen Tätigkeit. Zur Angemessenheit gehört die »Gewohnheit objektiver Tätigkeit«, die
durch Zucht zu erwerben ist. Die subjektive Geschicklichkeit wäre ohne die Objekti-
vität der Tätigkeit für die Produktion selbst, die hier als Maßstab einen ausgezeichneten
Stellenwert hat, nicht hinreichend. Diese Objektivität der praktischen Bildung als
Strukturelement der modernen Wirtschaft weist auf eine weitere radikale Wende hin,
die in der Spezifizierung, Arbeitsteilung und einer ganz anderen Art der Verwendung
von Maschinen liegt. So sind die theoretische und praktische Bildung eine Forderung
der modernen Wirtschaft einerseits, die von den neuen Arten des Produzierens und des
Konsumierens herkommt, andererseits sind sie als Gewohnheiten und Bedürfnisse,
Fertigkeiten und Grundhaltung der einzelnen Subjekte der modernen Wirtschaft zu
verstehen, die ihre eigenen Lebenszwecke durch die Vermittlung der Bildungselemente
erreichen können. Somit wird die Bildung zur internen Ebene nicht nur der wirtschaf-
lichen Grundstrukturen, sondern auch der »Existenz«, der Lebenswelt der einzelnen
Subjekte, der Bürger der modernen Gesellschaften.

Die Bildung als Stnikturebene der


modernen sozialen Gliederung und der »rechtschaffene Bürger«

Daß der Bürger als Subjekt seinen partikulären Interessen und Zwecken folgt, spiegelt
sich auch in seiner Lebenswelt wieder, obwohl er eben durch ihre Bildung einsehen
soll, daß die Befriedigung der eigenen Interessen nur gelingt, wenn er auch die
sen der anderen kalkuliert. Auch deshalb soll die Handlung der einzelnen Subjekte so-
zialisiert werden, was Hegel in der sog. Ständestruktur ausgeführt hat. Sie ist als soziale
Struktur eine Beziehung von objektiv-sozialen und subjektiv-sozialen Komponenten;
sie besteht in dem Aufeinanderbeziehen der vorhandenen sozialen Ordnungen bzw.
der Aktivitäten der einzelnen Subjekte. Das Subjekt geht nicht nur über sich selbst,
sondern auch über seine Beziehung auf das »Objekt«, Material, Vorgefundenes usw.
hinaus; das in der Wirtschaft verlorene Substantiell-Sittliche kehrt zurück: in der sozia-

40 Rph, § 207, S. 284-285.


41 Vgl. Ebd. §§ 199,200,201
92 ERZSEBET RÖZSA

len Struktur erwirbt der Bürger zugleich seine »sittliche Gesinnung«, Rechtschaffenheit,
Standesehre und Anerkennung.4*
Die Rechtschaffenheit und die Standesehre kontrapunktieren und ergänzen die Posi-
tion der Bürger der Wirtschaftsstrukturen; der Bürger, der »Resultat« des Bildungspro-
zesses ist, ist mit dem rechtschaffenen Bürger noch nicht identisch; er soll sich erst
noch zum rechtschaffenen Bürger machen. Hierbei spielt wieder die Bildung eine be-
sondere Rolle. Der Bürger, der mit seinen eigenen Kräften, »Tätigkeit, Fleiß und Ge-
schicklichkeit« tätig ist, profitiert nicht nur wirtschaftlich; er erwirbt darüber hinaus
auch sittlichen Werte. Dies ist der Punkt, wo die Bildung die Faktoren der Wirtschaft
und der sozialen Strukturen verknüpft und wo die besondere Bedeutung der Bildung
für die soziale Gliederung zum Vorschein kommt. Mit der Forderung der Gleichheit
polemisierend stellt Hegel fest, daß die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zu den
Merkmalen der modernen bürgerlichen Gesellschaft gehört: Das »objektive Recht der
Besonderheit« als allgemein-menschlichen Prinzips und das »Recht der freien Subjekti-
vität« als geschichtliches Recht der modernen Zeit bringen die Ungleichheit mit sich.
Sie tritt aber nicht nur in den wirtschaftlichen Strukturelementen, im Vermögen, in den
Mitteln, Arbeiten, Arten und Weisen der Befriedigung, sondern auch in der
schen und praktischen Bildung auf. Eben »der ganze Zusammenhang« dieser Faktoren
macht die vorliegenden Elemente »zu besonderen Systemen«, »zu einem Unterschiede
der Stände«.42
Somit ergibt sich die Bildung als ein die soziale Strukturierung beeinflussender und
sie konstituierender Faktor, die überdies auch schichtspezifische Züge hat.43 Dieser
Ausführung und Argumentation nach ist nun einzusehen, daß Hegel die soziale Struk-
turierung der modernen Zeit wie die soziale Selbstbestimmung der Subjekte aus den
Wirtschaftselementen und der Bildung erklärt. Hegels Hauptargument liegt darin, daß
der Einzelne, um »wahrhafter« Bürger zu werden, über seine eigene Tätigkeit, Ge-
schicklichkeit, Fleiß usf. hinaus sich bewußt sein soll, was vorhanden ist und was er un-
ter den gegebenen, objektiven Umständen als sein Eigenes will. »Wissen« und »Wol-
len«, d.h. Bildung, bereiten die Vereinigung der »Privatperson« und »substantiellen
Person« vor. Die Bildung ist dann nicht nur als bloße Form des Allgemeinen zu verste-
hen; sie begründet und ermöglicht zugleich die Einführung des sittlichen Inhaltes in die
ihrer Natur nach individuelle bürgerliche Gesellschaft. Die kraft einer so verstandenen
Bildung geführten und durchgeführten Tätigkeiten machen den Bürger als einzelnes
Subjekt zum rechtschaffenen, wahrhaften, freien Bürger, der keinesfalls auf den »Stand
des Gewerbes« zu beschränken ist; er wird als Summierung der Grundhaltung des mo-
dernen Individuums in der Sphäre der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen allen
drei Ständen zugeordnet.44
Die Bildung hat in der bürgerlichen Gesellschaft eine weitere Bedeutung, die in der
Rechtspflege zu finden ist. Die Bildung, die bloß Wissen und Wollen sei, ist noch keine
wahre Bildung, weil sie ihre Gültigkeit noch nicht hat. Dieses Element der Bildung hat
Hegel im Spannungsfeld der Wirtschaftsfaktoren und des Rechts ausgeführt: Die Be-

42 Ebd. § 203, Anm. S. 280-281


43 Ebd. §190, S. 272.
44 Ebd. §209, Anm. S. 286.
BILDUNG UND DER »RECHTSCHAFFENE BÜRGER« 93

dürfnisse und die Arbeit als Wirtschaftsstruktur machen ein »Relatives« aus, worauf im
abstrakten Recht reflektiert wird; das Recht wird der modernen Wirtschaft zugeordnet.
Die Bildung tritt in dieses Verhältnis ein, weil sie auch die Sphäre des Relativen ist, die
aber die Abstraktheit des Rechts zu vernichten fähig ist: ihr liegt potentiell die Chance,
die Rechtskenntnisse für das Publikum zu verbreiten. Damit kann die Bildung eine
weitere Erwartung der modernen Gesellschaften erfüllen, die nicht einfach als »Kennt-
nis« von den Rechten, sondern als ihre Legitimation durch die Öffentlichkeit zu verste-
hen ist. So verleiht die Bildung dem Recht über seine Fachkompetenz hinaus eine allge-
meine »Gültigkeit und objektive Wirklichkeit«, die ebenfalls zum Strukturelement der
modernen bürgerlichen Gesellschaft wird.

Exkurs: Das Recht aufs Anderssein und das Problem des Verkehrs
von Völkern und Kulturen. Aktuelle Aspekte von Hegels Bildungstheorie

Der Bildung wurde eine allgemeingültige Legitimierungsfunktion zugeschrieben, die


dieser Bildungskonzeption an sich schon in den gegenwärtigen Debatten über die
Menschenrechte eine außerordentliche Aktualität verleiht. Hegel hat darüber hinaus di-
rekt auf das Recht aufs »Anderssein« hingeweisen, als er in der Anmerkung zu § 209
folgendes ausgeführt hat: »Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Ein-
zelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, wor-
in Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Ka-
tholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist. Dies Bewußtsein, dem der Gedanke gilt,
ist von unendlicher Wichtigkeit«.45 Hegel argumentiert, daß eben das Allgemeinste und
Gemeinsamste im Menschen, d.h. das Denken, das Recht auf die Besonderheiten, das
Anderssein begründet. Wir wissen Ende des 20. Jahrhunderts mehr davon, als Hegel
damals hätte ahnen können, warum dieser Gedanke »von unendlicher Wichtigkeit« ist.
Der Mensch ist dadurch Mensch, daß er ein Denkender ist, darin sind wir alle iden-
tisch. Aber dieser abstrakte Gedanke soll auch dem Recht des konkreten subjektiven

45 Jeong-Im Kwon spricht über die Pluralität der Kulturen bei dem Berliner Hegel, die eng mit seinem
Bildungskonzept verbunden sei. In unserem Zeitalter, nach dem Ende der Kunst hebt Hegel zur Rol-
le der Kunst die historische sowie kulturelle Bildung als »formelle Bildung« zur »Allgemeinheit«
hervor. Aufgrund Hegels Konzept der formellen Bildung wird die Unabschließbarkeit des geschicht-
lichen Fortschritts ersichtlich. »Da in der modernen Welt nur die »Partikularität« und mithin die je-
weils beschränkte Entfaltung in der Realisierung des Geistes möglich ist, bleibt die »formelle Bil-
dung« nötig, durch die wir möglichst vieles Verschiedene, Andersartige, zu akzeptieren lernen und
damit zugleich unseren eigenen Standpunkt einschätzen können (im Sinne der Selbstvergewisserung)
und bereichern können (im Sinne des Fortschritts). Die alten und fremden Kulturen, hier insbeson-
dere die orientalische Welt und Kultur gewinnen daher bei Hegel in Hinsicht auf die partikuläre und
mithin plurale Entfaltung des Geistes im modernen Staat Aktualität. Verbunden mit dieser allgemei-
nen geschichtlichen Bildung bleibt auch die Bedeutung der Kunst »für uns« bestehen, solange sie die
Funktion der »formellen Bildung« durch die Vermittlung der »Partikularität« des Fremden und An-
deren übernimmt und damit unser geschichtliches Bewußtsein in Frage stellt (durch die Konfronta-
tion der Partikularität als wechselseitige Kritik) und bereichert (durch die Integration des zeitlich wie
kulturell Fremden). Jeong-Im Kwon, Kunst und Geschichte. Zur Wiederbelebung der orientalischen
Weltanschauung und Kunstform in Hegels Bildungskonzept. In: Hegels Vorlesungen über die Philo-
sophie der Weltgeschichte. Hrsg. v. E. Weisser-Lohmann u. D. Köhler. In: Hegel-Studien Beiheft 38,
S. 161.
96 WALTER SCHWEIDLER

oder Komödie.«2 In einer der vielen nationalsozialistischen Polemiken gegen dieses


Buch wurde gesagt, es enthalte den »ersten ganz großen ideologischen Angriff auf die
nationalsozialistische Weltanschauung«3.
Die Gründe für die Scheu vor der Auseinandersetzung mit Spengler muß man daher
nicht in geschichtlichen oder politischen Umständen, sondern eher in dem suchen, was
man seine »zu große Originalität« nennen könnte. Er hat einen Grundgedanken for-
muliert, entfaltet und mit großem Gestus verkündet, der für ein ganzes Jahrhundert
richtungweisend geworden ist, nämlich den Gedanken der Überwindung des Eurozen-
trismus und der Überwindung des mit ihm verknüpften Modells der Geschichte als
Dreischritt »Altertum-Mittelalter-Neuzeit«. Dieses Modell »Altertum-Mittelalter-
Neuzeit« sei, so heißt es gleich am Anfang des »Untergangs des Abendlandes«, ein völ-
lig unglaubwürdiges und sinnloses Schema. »Hier bildet die Landschaft des westlichen
Europa den ruhenden Pol... - man weiß nicht warum, wenn nicht dies der Grund ist,
daß wir, die Urheber dieses Geschichtsbildes, gerade hier zu Hause sind -, um den sich
Jahrtausende gewaltigster Geschichte und fernab gelagerte ungeheure Kulturen in aller
Bescheidenheit drehen...Aber hier redet in Wirklichkeit die durch keine Skepsis gezü-
gelte Eitelkeit des westeuropäischen Menschen, in dessen Geist sich dies Phantom
, Weltgeschichte' entrollt. Ihr verdankt man die uns längst zur Gewohnheit gewordene
ungeheure optische Täuschung, wonach in der Ferne die Geschichte von Jahrtausenden
wie die Chinas und Ägyptens episodenhaft zusammenschrumpft, während in der Nähe
des eignen Standortes, seit Luther und besonders seit Napoleon, die Jahrzehnte gespen-
sterhaft anschwellen. Wir wissen, daß nur scheinbar eine Wolke um so langsamer wan-
dert, je höher sie steht, und ein Zug durch eine ferne Landschaft nur scheinbar
schleicht, aber wir glauben, daß das Tempo der frühen indischen, babylonischen, ägyp-
tischen Geschichte wirklich langsamer war als das unserer jüngsten Vergangenheit.
Und wir finden ihre Substanz dünner, ihre Formen gedämpfter und gestreckter, weil
wir nicht gelernt haben, die - innere und äußere - Entfernung in Rechnung zu stel-
len.«4 Inzwischen ist diese Infragestellung der eurozentrischen Welt- und Geschichts-
sicht so unzählige Male wiederholt worden, daß man gar nicht mehr richtig ermessen
kann, wie neu diese Worte am Anfang des Jahrhunderts waren und wie wichtig ihr
Einfluß gewesen ist, auch wenn Spengler seine These nicht mit der fachwissenschaftli-
chen Begründung vorgetragen hat, deren Fehlen man immer kritisiert hat. Dabei müß-
te man sich eigentlich klarmachen, daß sie eine solche fachwissenschaftliche Begrün-
dung gar nicht finden kann, weil es sich eben um keine wissenschaftliche, sondern eine
geschichtsphilosophische These handelt. Die Originalität und die Tragweite von
Spenglers Geschichtsauffassung und des für sie zentralen Begriffs der Kultur dürfen
eigentlich nicht geleugnet werden. Doch von den bedeutenden Philosophen des Jahr-
hunderts hat sich nur Wittgenstein zu dem Einfluß bekannt, den Spengler auf ihn ge-

2 Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung,
Neuausgabe, 2. Aufl. München 1980, S. 16.
3 In dem Artikel von Johann von Leers, »Spenglers weltpolitisches System und der
mus«, zit. nach Heinz Friedrichs Vorwort zu Spengler, Jahre der Entscheidung, a.a.O. S. 5.
4 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Sonderausgabe München 1980 (im folgenden zi-
tiert als UdA). S. 22 f.
SPENGLER UND DER MODERNE BEGRIFF DER KULTUR 97

habt habe,5 während man etwa bei Heidegger, der eine ganze Reihe von Motiven ver-
wendet, die sich ähnlich bei Spengler finden, nur verächtliche Ablehnung für die meta-
physische »Bodenlosigkeit« Spenglers findet.6
Mir geht es bei der Rückbesinnung auf Spenglers Position aber nicht etwa darum,
ihm aus irgendeinem Sinn für historische Gerechtigkeit Gehör zu verschaffen, sondern
mir geht es um das, was man aus seinem Begriff der Kultur lernen kann. Auch meine
ich nicht, daß dieser Kulturbegriff unproblematisch sei. Im Gegenteil: Ich möchte ver-
suchen, ihn gerade in dem klaren Ursprung herauszuarbeiten, den Spengler ihm gege-
ben hat, um das Defizit hervorheben zu können, das der moderne Kulturbegriff in sich
trägt und das für die Schwierigkeiten verantwortlich ist, in die dieser Begriff uns hin-
einführt. Dieses Defizit besteht in der mangelhaften Beziehung des modernen Begriffs
der Kultur auf sein dialektisches Gegenüber, nämlich auf den Begriff der Natur. Meine
These ist, daß wir den modernen Begriff der Kultur so lange nicht adäquat zu denken
vermögen, wie wir keinen ihm entsprechenden modernen Begriff der Natur haben. Es
ist gerade Spenglers Schwäche, daß er einen solchen modernen Naturbegriff als not-
wendige Ergänzung des Kulturbegriffs nicht erarbeitet, ja daß er die hierin liegende
grundsätzliche Aufgabe gar nicht gesehen hat. Aber eben in diesem Defizit liegt auch
Spenglers Repräsentativität für unsere heutige Diskussion um das Verhältnis von Kul-
tur, Recht und Gesellschaft begründet. Spenglers Versäumnis ist bis heute nicht besei-
tigt worden. Es ist unser eigenes Versäumnis geblieben.

In diesem Sinne möchte ich zunächst den geschichtlichen Hintergrund des Begriffs der
Kultur und seiner Beziehung auf den Begriff der Natur skizzieren. Dann möchte ich
Spenglers neuen, also den modernen Kulturbegriff in seinen wesentlichen Elementen
darstellen. Schließlich möchte ich den Ort in Spenglers Modell näher beleuchten, an
dem noch am ehesten der Rückbezug von Kultur auf Natur gelingen könnte. Dieser
Ort ist derjenige, an dem Spengler das Verhältnis einer menschlichen Kultur zu der
Landschaft erörtert, aus der sie hervorgeht. Hier scheint es mir hilfreich, den Vergleich
zu einem Denker aus einer zu Spengler ganz entfernten Kultur zu ziehen, der doch in
fast der gleichen Zeit ähnliche und womöglich tiefere Gedanken hinsichtlich dieser
Frage entwickelt hat, nämlich Watsuji Tetsuro in seinem Buch »Fudo - ningengakuteki
kosatsu« - die Gedanken über den Zusammenhang von Klima und Kultur.7

1. Zur Abgrenzung des modernen Kulturbegriffs

Dem modernen Begriff der Kultur sind zumindest zwei andere Definitionen von Kul-
tur vorausgegangen, die sich wesentlich von ihm unterschieden haben. In der griechi-
schen, insbesondere der stoischen Philosophie - also, wenn wir entgegen Spenglers Ver-

5 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Frankfurt am Main 1977, S. 43; vgl. dazu auch Ru-
dolf Haller, Die gemeinsame menschliche Handlungsweise. In: Zeitschrift für philosophische For-
schung 23 (1969), S. 521-533.
6 Vgl. Martin Heidegger: Vorlesungen, Frankfurt am Main 1975 ff, Band 54, S. 83.
7 Watsuji Tetsuro, Fudo - Wind und Erde. Der Zusammenhang von Klima und Kultur (1935), 2. Aufl.
Darmstadt 1997.

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I Müiiünen
98 WALTER SCHWEIDLER

dikt bei der alten Einteilung bleiben, in der Antike - wurde das Wort cultura aus seiner
ursprünglichen Bedeutung »Ackerbau« (»Landwirtschaft«) in eine neue Bedeutung
übertragen und als Metapher für die Pflege und Ausbildung menschlicher Lebensfor-
men verwendet. So gab Cicero in seinen »Tusculanischen Gesprächen« der Philosophie
die klassische Definition einer cultura animi, also der Pflege und Ausbildung des
menschlichen Geistes.8 Diese Bedeutung des Wortes »Kultur« existiert noch in unse-
rem Wort »kultivieren«, das ja sowohl in seinem ursprünglichen landwirtschaftlichen
Sinne (eine bestimmte Fläche »kultivieren«) als auch metaphorisch (»kultivierte« Ma-
nieren etc.) gebraucht wird. Fundamental für diese antike Bedeutung des Begriffs Kultur
ist, daß er prinzipiell mit einem Genitiv verbunden ist: Kultur der Sitten, der Schrift,
des Hauses, des Denkens und so weiter. Dies ist auch im - Spengler möge verzeihen -
Mittelalter so geblieben, wo sich die Bedeutung von »Kultur« auf den Sinn von »Vereh-
rung« verengt: cultura Christi, cultura dolorum (Verehrung Christi, Verehrung der
Schmerzen) etc.9 Immer muß es etwas, eine Substanz von Lebensformen oder mensch-
lichen Einrichtungen geben, in bezug worauf kulturelle Entfaltung stattfindet. Eben
wegen dieser Vielfalt der Gegenstände, auf welche die Kultivierung bezogen bleibt, ist
aber auch klar, daß das Wort »Kultur« nicht eine einheitliche Sache bezeichnet, daß sei-
ne Bedeutung also nicht univok, sondern analog ist. Die Kultivierung der Tischsitten
verhält sich zur bloßen Naturnotwendigkeit der Nahrungsaufnahme so, wie die Kulti-
vierung der Sprache zum bloßen Kommunikationsmittel oder wie ein kultiviertes Haus
zur bloßen Hütte. Das Verhältnis des »so...wie«, also die Proportion, ist entscheidend
für die Bedeutung, die die verschiedenen Verwendungsweisen des Wortes »Kultur«
miteinander verbindet. Der antike Kulturbegriff ist akzidentell-plural: er ist in vielfäl-
tiger Weise auf eine zugrundeliegende Substanz bezogen, zu der die Kultivierung als
Beifügung hinzukommt.
Woraus aber ergibt sich diese Substanz, die jeweils kultiviert wird? Wodurch wird
der Bereich festgelegt, innerhalb dessen das proportionale Verhältnis besteht, aufgrund
dessen der Begriff »Kultur« anwendbar wird? Warum also kann der Begriff der Kultur
nicht zu allem und jedem als Akzidenz hinzutreten, sondern nur zu ganz bestimmten
Elementen des menschlichen Lebens und Daseins? Warum kann man die Körperhal-
tung, aber nicht die Körpergröße, den eigenen Gang und vielleicht sogar die eigene At-
mung, aber nicht den eigenen Blutkreislauf kultivieren? Offensichtlich kann der Begriff
der Kultur nicht beliebig weit verwendet werden. Nur deshalb kann man ihn präzise
fassen und auch vernünftig über kulturelle Fragen diskutieren. Ein Beispiel: die Aussa-
ge »Japan ist das kultivierteste Land der Erde«, ist zwar nicht mathematisch oder na-
turwissenschaftlich beweisbar, aber man kann für sie gute Gründe anführen und man
kann über sie vernünftig diskutieren und streiten. Es gibt ganz bestimmte Kriterien,
aufgrund derer sie beurteilt und diskutiert werden kann, beispielsweise die Umgangs-
formen der Menschen, die Art des Wohnens und Speisens, die religiösen Gebräuche,
die Formen der Gastfreundschaft, öffentliche Sicherheit, das Verhältnis von Männern
und Frauen, Alten und Jungen, Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten, die Pflege

8 Marcus Tullius Cicero, Gespräche in Tusculum. München 1951, IL S. 5.


9 Vgl. den Artikel »Kultur, Kuhurphilosophie« von W Perpeet. In: Historischen Wörterbuch der Philo-
sophie. Hrsg. von J. Ritter und K. Gründer, sowie Hans Maier: Natur und Kultur. In: Ders.: Eine
Kultur oder viele? Politische Essays. Stuttgart 1995, S. 9-34.
SPENGLER UND DER MODERNE BEGRIFF DER KULTUR 99

der Landschaft und so weiter. Es gibt also, kurz gesagt, einen objektiven Gehalt des
Kulturbegriffs, gerade in diesem alten, akzidentell-pluralen Sinne. Woher aber kommt
nun dieser objektive Gehalt?
Um diese Frage zu beantworten, muß nun der Begriff der Natur ins Spiel gebracht
werden, und zwar, entsprechend zum antiken Kulturbegriff, in der ganz spezifischen
Bedeutung, die ihm durch die griechische Philosophie gegeben worden ist und die sich
fundamental vom späteren neuzeitlichen Naturbegriff unterscheidet. Natur, physis, ist
in der Philosophie, die von Piaton und Aristoteles ihre systematischen Grundlagen er-
fahren hat, die Bezeichnung für dasjenige, was sich von sich selbst her zeigt}0 Natürlich
ist das, was mit einem Individuum geschieht, wenn es sich seiner Art gemäß entwickelt,
wenn es also die Möglichkeiten, die ihm durch seine Anlagen gegeben sind, in der ihm
durch seine Art vorgegebenen Weise verwirklicht. Die Natur ist insofern das Prinzip
der Differenz zwischen unterschiedlich gearteten Individuen. Diese Differenz gibt es
überhaupt nur in der Form zeitlich ausgedehnter Prozesse. Was das Pferd vom Esel
und den Hund vom Wolf unterscheidet, das kann man in einem einzelnen Augenblick
überhaupt nicht feststellen, sondern das zeigt sich nur in der Lebensweise, die für ein
Individuum der jeweiligen Art typisch ist. Natur zeigt sich also als die Gestalt eines Le-
bens, als die Form, in der der Stoff eines Lebewesens über die ihm gegebene Zeitspanne
hinweg geprägt wird. Und keine Macht und keine Zeit zerstückelt«, so heißt es noch
bei Goethe im Sinne dieses Naturbegriffs, »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«.
»Natur« ist hier also gerade nicht, wie dann später in der neuzeitlichen Philosophie bei
Descartes, Hobbes oder Kant, die Bezeichnung für die Kräfte und Gesetze, die allen
Lebewesen gemeinsam sind, sondern im Gegenteil der analoge Begriff für die irredu-
zible Pluralität der Arten von Lebewesen. »Natur« ist nicht etwas, das es gibt und zu
dem alles, was nicht künstlich ist, irgendwie gehört, sondern »Natur« ist eher etwas,
das jedes Wesen hat und wodurch es sich von den meisten anderen Wesen unterschei-
det.
Im Gegensatz zur neuzeitlichen Philosophie, in der, beginnend mit Descartes, der
Mensch als »Subjekt« zum Gegensatz der Natur als Inbegriff der »Objekte« wird, ist es
für die Antike ganz unproblematisch, von einer »Natur des Menschen« zu sprechen.
Denn das Natürliche am Menschen ist gerade nicht das, was er mit allen Tieren und
sonstigen Objekten gemeinsam hat, sondern eben das, was ihn auf seine, ihm durch sei-
ne Art vorgegebene Weise von allen anderen Wesen unterscheidet. Wenn der Mensch
gemäß seiner Natur lebt, dann tut er zwar das, was auch die Tiere tun, aber eben des-
halb wird er dadurch nicht zum Tier, sondern seine Natur zeigt sich gerade in dem,
worin er sich vom Tier unterscheidet. Und diese Differenz gegenüber den Tieren be-
steht wiederum nicht in einem einzigen Faktor, auch nicht in einer bestimmten Erban-
lage, sondern sie besteht in einer Vielzahl von Lebensformen, durch die der Mensch die
Möglichkeiten, die ihm durch seine Natur vorgegeben sind, optimal entfalten kann.
Das einflußreichste Beispiel für die philosophische Systematisierung einer solchen irre-
duziblen Vielfalt von Entfaltungsweisen des menschlichen Lebens ist die Darlegung
der Tugenden, die Aristoteles in der »Nikomachischen Ethik« gegeben hat. Die Tugen-

10 Vgl. dazu die Abhandlung von Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Physis. Aristoteles,
Physik B, 1, In: Wegmarken. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1978, S. 237-299.
100 WALTER SCHWEIDLER

den sind Haltungen, aufgrund derer ein menschliches Leben gelingt und die im tugend-
haften Menschen miteinander verbunden sind, für die es aber keine weitere Ableitung,
keine Ursache gibt, auf die ihre Vielfalt noch einmal zurückgeführt werden könnte.
Aus der Pluralität der Weisen, in denen der Mensch von Natur aus seine Möglichkei-
ten optimal zu entfalten vermag, ergibt sich der objektive Inhalt des akzidentell-plura-
len Kulturbegriffs. Kultur ist dasjenige, was der Mensch aktiv leisten muß, um den ihm
von Natur aus vorgegebenen Unterschied zu den Tieren zu realisieren. Darin, daß wir
uns ernähren, Nahrung beschaffen, fortpflanzen und wärmen müssen, gleichen wir den
Tieren; in den kulturellen Institutionen des Speisens, der Arbeitsteilung, der Ehe und
der Kleidung jedoch realisieren wir unsere Differenz ihnen gegenüber. Diese Differenz
stellt sich ihrerseits wieder als jenes Geflecht von Differenzen dar, aufgrund dessen wir
unser Leben frei und sinnvoll führen können, indem wir Speise, Kleidung, Beruf
wählen und indem wir die Menschen finden, die zu uns und zu denen wir gehören.
Durch die Formen der Kultivierung unserer natürlichen Bedürfnisse wird unser Leben
erst zu jener Ganzheit, zu der Tiere sich niemals zu verhalten vermögen, nämlich zu
einer Biographie, die im Bewußtsein der Kostbarkeit der Zeit und im Wissen um den
Tod geführt wird.
Wenn man im Sinne dieses antiken Gedankens der Bezogenheit von Kultur und Na-
tur nun den Grund der Kultur angeben will, so darf man nicht nach einer letzten posi-
tiven Ursache suchen, die womöglich durch wissenschaftliche Erkenntnis herausgefun-
den werden könnte. Vielmehr läßt sich der Grund der Kultur nur als ein negativer, aber
indirekt wirksamer Faktor angeben: Kultur ist deshalb notwendig, weil der Mensch -
wiederum im Gegensatz zu den Tieren - seiner Natur bewußt und gewollt entgegen-
handeln kann. Der Mensch kann seine Natur verfehlen, er kann - beispielsweise durch
die rücksichtslose Unterdrückung seiner Mitmenschen oder das unüberlegte Ausleben
seiner augenblicklichen Triebziele - auf eine tierische Daseinsstufe absinken. Verhin-
dern kann dies nur das Leben einer kultivierten Gemeinschaft, in der das Individuum
die Formen gelingenden menschlichen Daseins durch Vorbild und Erziehung vor Au-
gen hat, noch ehe es durch vernünftige Überlegung begründen kann, weshalb es dieser
Lebensformen bedarf, wenn es seiner Natur gerecht werden will. Mensch wird man in-
sofern wesentlich dadurch, daß man der möglichen Negation der eigenen Natur die
kulturelle Negation dieser Negation entgegensetzt. Das System der kulturellen Le-
bensformen ist daher in der Antike in gewisser Weise genauso verstanden worden, wie
Watsuji Tetsuro in seinem Buch »Fudo« die Struktur des menschlichen Miteinanders
charakterisiert hat, nämlich als ein »System negativer Aktivität« - und zwar ein System,
das nicht statisch und darum auch nicht wissenschaftlich berechenbar, sondern ge-
schichtlich offen ist, ein »System dynamischer Aktivität«", durch die wir erst die Le-
bensformen entwickeln, aufgrund derer wir einsehen können, daß diese Aktivität gut
für uns war.
Der rationalistisch-neuzeitliche Kulturbegriff unterscheidet sich vom antiken funda-
mental. Man kann ihn, im Gegensatz zum akzidentell-pluralen, einen substantiell-uni-
versalen Kulturbegriff nennen. »Kultur« wird hier nicht mehr als eine Aktivität verstan-
den, die auf zugrundeliegende Lebensformen bezogen ist, sondern als ein Zustand des

11 Watsuji Tetsuro, Fudo, a.a.O., S. 13


SPENGLER UND DER MODERNE BEGRIFF DER KULTUR 101

menschlichen Lebens, den es durch Fortschritt zu erreichen gilt. Die Kultur selbst ist die
Substanz, der unsere Aktivitäten dienen. Dabei bleibt es eine zweitrangige Frage, ob man
diese Substanz, wie etwa Kant und die meisten Philosophen der Aufklärung, positiv,
oder aber, wie Rousseau, negativ bewertet. Rousseau kritisiert zwar die Auswirkung der
Kultur, also insbesondere der Wissenschaften und Künste, auf den Menschen, aber daß
sie zur Substanz des menschlichen Lebens geworden sind und von unserem Dasein nicht
mehr getrennt werden können, steht auch für ihn außer Frage. Dies hängt vor allem da-
mit zusammen, daß der Begriff »Mensch« von Rousseau, genauso wie schon von Descar-
tes und wie dann von fast allen bedeutenden Philosophen des 19. Jahrhunderts, wesent-
lich als die Bezeichnung für die »Menschheit« als Gattung verstanden wird. Nicht am
einzelnen Menschen zeigt sich letztlich, was Menschsein bedeutet, sondern an der Ent-
wicklung der Menschheit als ganzer, zu der jedes Individuum nur einen Beitrag zu leisten
vermag. Deshalb bildet Kultur auch das universal gültige, also der ganzen Menschheit
einheitlich vorgegebene Ziel. Wenn sich die kulturellen Lebensformen einer Gesellschaft
von denen einer anderen unterscheiden, dann muß diese Differenz darauf zurückzu-
führen sein, daß die eine Gesellschaft weiter fortgeschritten ist als die andere, daß sie also
für die einheitliche Entwicklung der ganzen Menschheit repräsentativer ist als die andere.
Das Gebot der Kultur besteht dann darin, daß sie der weniger entwickelten Gesellschaft
die von ihr schon erreichten Maßstäbe zu überbringen und sie auf den Weg des Fort-
schritts zu führen, notfalls auch zu zwingen hat.
Der substanziell-universale Kulturbegriff ist untrennbar verknüpft mit dem rationa-
listisch-neuzeitlichen Verständnis von Natur. Im Naturbegriff hat sich die eigentliche
Wendung vollzogen, ohne die man nicht verstehen kann, wie es zu der Idee einer ho-
mogenen, im universalen Fortschritt begriffenen Menschheit gekommen ist. »Natur«
bedeutet seit Descartes die res extensa (ausgedehnte Substanz), die Gesamtheit der ge-
setzlich determinierten Objekte, denen der Mensch als freies, rationales Subjekt, als res
cogitans (denkende Substanz) gegenübersteht. Die Menschheit ist, wie noch Kant es
definiert hat, die Gattung, die den Zustand der Natur verlassen und sich in den Zustand
der Vernünftigkeit aufgeschwungen hat.12 Eine Natur des Menschen im antiken Sinne
kann es unter dieser Voraussetzung nicht mehr geben. Vielmehr ist der Mensch dasjeni-
ge Wesen, das zum Sinn seines Daseins fortschreiten kann, wenn es lernt, die Natur, das
heißt alle nichtmenschlichen Objekte, zu beherrschen und im Sinne der menschlichen
Ziele zu manipulieren. Die Regeln der Kulturentwicklung und die Regeln der Natur-
überwindung koinzidieren, und der Grad der Unabangigkeit von der Natur, den eine
Gesellschaft erreicht hat, wird zum Kriterium ihrer kulturellen Höhe. Darum kann
nicht mehr die Natur, sondern nur der Mensch selbst das Maß dessen vorgeben, wohin
Kultur sich zu entwickeln hat. Der Mensch wiederum ist vereinigt in der seine ganze
Gattung übergreifenden Vernunft. Und wenn es nur eine Vernunft gibt, dann kann es
auch nur eine Kultur geben, zu der sich die Lebensformen der ganzen Menschheit hin
entwickeln müssen.
Das homogene, univoke Konzept der Natur bedingt im neuzeitlich-rationalistischen
Denken das substantiell-universale Konzept der Kultur. Der moderne Kulturbegriff ist

12 Vgl. Immanuel Kant, Ideen zu einer Geschichte der Menschheit in weltbürgerlicher Absicht, dritter
Satz (Kant, Werke in sechs Banden, Band VI), A 389 ff.
102 WALTER SCHWEIDLER

nun dadurch gekennzeichnet, daß er diesem Konzept der Kultur entgegentritt, ohne je-
nes Konzept der Natur ernsthaft in Frage zu stellen. Diese Entwicklung beginnt mit
Herder, der den Kulturbegriff auf den der Nation zurückbezieht und Kultur als die
Blüte des Daseins eines Volkes bezeichnet.13 Die Wendung gegen den homogenen, die
Unterschiede zwischen Völkern, Rassen und Entwicklungsstufen menschlicher Ge-
meinschaft außer acht lassenden Kulturbegriff und gegen den Optimismus einer im ir-
reduziblen Fortschritt begriffenen Menschheit setzt sich dann fort bei Nietzsche, im
Historismus des 19. Jahrhunderts, sowie in der funktionalistischen Kulturanthropolo-
gie der ersten Hälfte und dem nicht zuletzt von ihr her geprägten Strukturalismus in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Spengler stellt innerhalb dieser Denkentwick-
lung eine Schaltstelle dar, weil er am eindeutigsten den Schritt von der Rückbeziehung
des Kulturbegriffs auf eine Pluralität von Kulturträgern, wie sie schon bei Herder zu
finden war, zur Neudefinition des Kulturbegriffs selbst als eines substantiell-pluralen
Konzepts getan hat. Für ihn ist Kultur nicht mehr eine Form der Entwicklung, die ver-
schiedene geschichtliche Gemeinschaften auf je verschiedene Weise vollziehen, sondern
für ihn ist »Kultur«die Bezeichnung für die letzten substantiellen Gemeinschaften, in
denen sich Menschen überhaupt befinden. Kulturen in diesem substantiellen Sinne
sind die Träger und Subjekte dessen, was wir »Geschichte« nennen. Was der amorphen
Masse der geschichtlichen »Daten« und »Tatsachen« die Logik14 und Gestalt gibt, die
wir meinen, wenn wir im Singular von »der Geschichte« sprechen, das ist gerade die
Pluralität jener nicht aufeinander zurückführbaren, organischen Ganzheiten, die wir
nach Spengler als »das Phänomen der großen Kulturen«li vorfinden, deren Zeugnisse
uns heute noch verfügbar sind. »Kultur«, so Spengler, »ist das Urphänomen aller ver-
gangenen und künftigen Weltgeschichte«16. Mit dem Terminus »Urphänomen« ist klar
die These verknüpft, daß es eine Auflösung der Vielfalt der Kulturen, eine theoretische
Zurückführung ihrer Pluralität auf irgendeine homogene Gesetzmäßigkeit nicht mehr
geben kann - also auch nicht auf so etwas wie »Geschichtsgesetze« im Marxschen Sin-
ne. Bezeichnend ist jedoch, daß Spengler diesen Grundbegriff Goethes ausdrücklich zi-
tiert und auch darauf hinweist, daß er sich in Goethes Theorie der »lebendigen Natur«
findet, ohne doch dem Verhältnis von Kultur- und Naturbegriff als Hintergrund ge-
rade des Begriffs »Urphänomen« weiter nachzugehen. In dieser nicht etwa geistes-
geschichtlichen, sondern systematischen Inkonsequenz bewegt sich die ganze weitere
Entwicklung des substantiell-pluralen Kulturkonzepts.

»Kultur« wird heute weitgehend und zunehmend in dem Sinn verstanden, den
Spengler dem Wort gegeben hat. Entfallen ist allerdings die Restriktion auf die
»großen« oder die »Hochkulturen«, also bei Spengler die antike, die abendländische,
die altägyptische, chinesische, arabische, mesopotamische, aztekische und indische
Kultur. Wir verwenden zur Kennzeichnung dieser historischen Gesamtheiten Begriffe
wie »Hochkultur« oder »Kulturkreis«. Durchgesetzt aber hat sich die Verwendung des
Kulturbegriffs für eine Pluralität geschichtlicher Subjekte, in denen Menschen durch

13 Vgl. den Artikel »KulturlKullurphilosophie« (s.o. FN 9), 1309


14 Vgl. UdA S. 3.
15 UdA S. 140.
16 UdA S. 141.
SPENGLER UND DER MODERNE BEGRIFF DER KULTUR 103

gemeinsame soziale und geistige Strukturen miteinander verbunden sind. Wenn etwa
Ernest Gellner Kulturen definiert als Systeme von Überzeugungen, die das Verhalten
der Mitglieder einer Gesellschaft bestimmen,17 dann wird der Begriff der Kultur hier
nicht mehr akzidentell, sondern substantiell verstanden: er bezeichnet nicht etwas, das
in bezug auf Lebensformen geschieht, sondern er bezeichnet die Entitäten selbst, von
denen unsere Lebensformen getragen sind. Darin ist er dem antiken Kulturbegriff ent-
gegengesetzt. Insofern diese Entitäten als in sich selbständige und möglicherweise auch
gleichberechtigte Subjekte verstanden werden, ist dieser moderne Kulturbegriff aber
ebenso dem homogenen Kulturbegriff des neuzeitlichen Rationalismus entgegenge-
setzt. Er ist nicht universalistisch, sondern pluralistisch verfaßt. Eines aber teilt er mit
dem rationalistisch-neuzeitlichen Konzept, so daß er insofern zusammen mit diesem
dem antiken entgegengesetzt ist, nämlich das nicht analoge, sondern univoke Verständ-
nis von der Bedeutung des Wortes »Kultur«. Gerade wenn man die Eigenart und mög-
licherweise auch die Gleichwertigkeit der verschiedenen auf der Welt vorhandenen
Kulturen betont, muß man davon ausgehen, daß das Wort »Kultur« etwas bezeichnet,
das ihnen allen noch gemeinsam ist. Und genau hierin liegt der Keim jener inneren Wi-
dersprüche, in die offenbar jede Diskussion hineinführt, bei der der moderne Kultur-
begriff zugrundegelegt wird, ohne ihn zugleich philosophisch zu problematisieren.
Ich möchte der so skizzierten Struktur des modernen Kulturbegriffs nun näher nach-
gehen, indem ich in einem zweiten Schritt kurz die Hauptelemente darstelle, die Spengler
ihm im System seines »Untergangs des Abendlandes« gegeben hat. Wie hat Spengler die
Einheit von Substanzialität und Differenz der Kulturen zu denken versucht?

2. Die Kultur als Inbegriff sich selbst erzeugender Differenz

Am Anfang steht die Ablehnung des universalen Kernbegriffs der neuzeitlich-rationali-


stischen Philosophie: »'Die Menschheit' ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres
Wort.«18 Eine übergreifende Einheit, welche die verschiedenen Kulturen noch einmal
umschließen würde, gibt es nicht. Es gibt keinen Wesensbestand des Menschen, aber
auch kein Entwicklungsziel der Menschheit, aus dem sich ableiten ließe, was zur Kultur
gehört und was nicht. Wodurch jedoch ist dann überhaupt bestimmt, was eine Kultur ist
und was nicht? Letztlich allein durch die Entsprechung, in der die einzelnen Kulturen,
die im Verlauf der Geschichte aufgetaucht sind, zueinander stehen. Ihre Entstehung,
Entfaltung, ihre Blütezeit, ihre Krisen und ihr Untergang lassen sich vergleichen und
zueinander in Entsprechung setzen. Sie sind gewissermaßen Systeme mit einer jeweili-
gen Eigenzeit. Spengler spitzt diesen Aspekt so zu, daß er von einer exakten »Gleichzei-
tigkeit« der Entwicklungsstufen verschiedener Kulturen spricht: »Gleichzeitig vollzieht
sich die Entstehung der Ionik und des Barock. Polygnot und Rembrandt, Polyklet und
Bach sind Zeitgenossen. Gleichzeitig erscheinen in allen Kulturen die Reformation, der
Puritanismus, vor allem die Wende zur Zivilisation...Gleichzeitig werden Alexandria,

17 Ernest Gellner, Pflug, Schwert und Buch. Grundlinien der Menschheitsgeschichte. München 1993,
S. 13.
18 UdA S. 28.
104 WALTER SCHWEIDLER

Bagdad und Washington erbaut; gleichzeitig erscheinen die antike Münze und unsere
doppelte Buchführung, die erste Tyrannis und die Fronde, Augustus und Schi Hoang-ti,
Hannibal und der Weltkrieg.«19 Insoweit stehen die Kulturen hinsichtlich ihres Verlaufs
zueinander in Entsprechung. Dabei greift Spengler den alten, schon von Kant aufgestell-
ten20 und dann, ausgehend von Fichte, im 19. Jahrhundert in Deutschland virulent ge-
wordenen Gegensatz von »Kultur« und »Zivilisation« auf, wendet ihn jedoch - entge-
gen jeder nationalistischen Stoßrichtung - zu einer für alle großen Kulturen geltenden
zeitlichen Folgebeziehung: Jede Kultur hat, so Spengler, »ihre eigne Zivilisation...Zivili-
sationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von
Menschen fähig ist.«21 »Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Mög-
lichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich,
sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräfte brechen - sie wird zur Zivilisation.«22 Massen-
gesellschaft, Demokratisierung, Burokratisierung, Zerfall der Familie, Emanzipation
der Frau, synkretistische Religiosität: das sind nach Spengler die Symptome der Zivilisa-
tion und des bevorstehenden, wenn auch möglicherweise sich über Jahrhunderte hinzie-
henden Untergangs einer Kultur. So wie die Zivilisation als spätestes Stadium eintritt,
gleichen sich die Kulturen aber auf jeder Stufe ihrer Entwicklung, in ihrer plötzlichen
Entstehung, ihrer Blütezeit, äußersten Reife und ihrem Verfall.
Die Aneinanderreihung der acht großen Kulturen in ihrer geschichtlichen Entwick-
lung ist aber nur die eine von zwei Achsen, aus denen sich die Matrix des Spenglerschen
Systems ergibt. Sie bildet den Längsschnitt einer Betrachtung, zu der im Querschnitt
die Betrachtung der Reihe der Ausdrucksformen oder Grundelemente hinzutritt, in
denen sich jede Kultur realisiert. »Es gibt viele, im tiefsten Wesen völlig voneinander
verschiedene Plastiken, Malereien, Mathematiken, Physiken, jede von begrenzter Le-
bensdauer, jede in sich selbst geschlossen, wie jede Pflanzenart ihre eigenen Blüten und
Früchte, ihren eignen Typus von Wachstum und Niedergang hat.«23 Neben die künst-
lerischen und wissenschaftlichen Paradigmen treten als solche grundsätzlichen Aus-
drucksformen des kulturellen Daseins unter anderem das Staatswesen, die religiösen
Glaubenssysteme, die Wirtschaftsformen, das Geldwesen, die Sitten und Haltungen
der Menschen, die Technik, die Formen von Schrift und Sprache, die Architektur und
die Weisen der Kriegführung; sie alle sind Elemente des strukturellen Vergleichs, aber
ebenso der strikten Trennung der Kulturen voneinander. Es ist nach Spengler der Feh-
ler der herkömmlichen, linearen Geschichtsbetrachtung, diese Inhalte der kulturellen
Entwicklung nach kausalen Kriterien verstehen und herleiten zu wollen. Auf diese
Weise kommt man nur zu einer positivistischen Aneinanderreihung von Traditionen
und Zäsuren, die Geschichte zu einer bloßen Chronik werden läßt. Das Verhältnis, das

19 UdA S. 151.
20 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, siebter Satz (Kant,
Werke in sechs Bänden, Band VI), A402f: Akademie-Ausgabe 8, S. 26: »Wir sind zivilisiert bis zum
Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns schon für morali-
siert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der
Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren An-
ständigkeit hinausläuft, macht die bloße Zivilisierung aus.«
21 UdA S. 43.
22 UdAS. 143.
23 UdAS. 29.
SPENGLER UND DER MODERNE BEGRIFF DER KULTUR 105

beispielsweise die abendländische mit der griechisch-römischen Kultur verbindet, wird


man so aber niemals begreifen. Was beide einander entsprechen läßt, ist gerade nicht
das, was die eine der anderen weitergegeben oder aufgezwungen hat.
Im Vergleich zwischen diesen beiden Kulturen liefert Spengler die bei weitem kon-
kretesten Analysen. Die schroffe Unterscheidung von abendländischer und antiker - in
Spenglers Terminologie von »faustischer« und »apollinischer« - Kulturform, die
Spengler hier vornahm, bedeutete zu der Zeit, da er sein Buch schrieb, eine gewaltige
Provokation; die gerade im deutschen Bildungsbürgertum wie eine Ersatzreligion
gepflegte Reflexion auf die antiken Grundlagen der abendländischen Kultur wird
zurückgewiesen. »Apollinisch«, so schreibt Spengler etwa, »ist die Bildsäule des nack-
ten Menschen, faustisch die Kunst der Fuge. Apollinisch sind die mechanische Statik,
die sinnlichen Kulte der olympischen Götter, die politisch vereinzelten Griechenstädte,
das Verhängnis des Ödipus und das Symbol des Phallus; faustisch die Dynamik Gali-
leis, die katholisch-protestantische Dogmatik, die großen Dynastien der Barockzeit mit
ihrer Kabinettspolitik, das Schicksal Lears und das Ideal der Madonna von Dantes Bea-
trice bis zum Schlüsse des zweiten Faust. Apollinisch ist die Malerei, welche einzelne
Körper durch Konturen begrenzt, faustisch ist die, welche durch Licht und Schatten
Räume bildet...«24 Einen derart ins einzelne gehenden Vergleich mit und zwischen an-
deren Hochkulturen gibt es im »Untergang des Abendlandes« praktisch nicht. Insofern
ist Spenglers Methode der Zuordnung der in ihrer Wesensform getrennten Kulturen
und ihrer sie untereinander vergleichbar machenden Elemente oder Inhalte weitgehend
programmatisch geblieben. Aber auch als Programm ist sie noch interessant genug, in-
sofern sie eine durchaus wirksam gewordene Antwort auf die Frage bietet, was es
heißen kann, daß kulturelle Inhalte geschichtlich »erklärt« werden.
Eine »Erklärung«, weshalb die »faustische« Musik, Mathematik oder Technik so ist,
wie sie ist, kann weder durch den Beweis ihrer Abstammung von antiken Inhalten noch
durch die Betonung ihrer absoluten Neuheit gegenüber diesen gegeben werden. Er-
klärung sieht auf diesem Feld überhaupt nicht aus wie die kausale Ableitung von Wir-
kungen aus Ursachen in den Naturwissenschaften. Erklärung vollzieht sich hier viel-
mehr als Einfügung von einzelnen Kulturinhalten in ein System, eine Matrix, aus denen
sich ihre Notwendigkeit ergibt; diese Notwendigkeit ist aber keine kausale. Es ist eher
die Notwendigkeit, mit der zum Beispiel eine bestimmte Taktfolge zu einer Symphonie
gehört, so daß man sagen kann, daß ohne diese Stelle die Symphonie nicht die wäre, die
sie ist; aber diese Notwendigkeit besteht nicht darin, daß die betreffenden Noten sich
kausal aus den vorhergehenden als deren Wirkung ableiten ließen. Wenn die Elemente
der antiken sich zu denen der abendländischen, der chinesischen, ägyptischen und aller
anderen Kulturen so verhalten, wie sie sich verhalten, dann kann man verstehen, war-
um ein Kulturelement wie die Plastik des Phidias oder die aristotelische Physik so ge-
worden sind, wie sie geworden sind. Die allgemeine Grundform - Spengler verwendet
den romantisierenden Begriff der »Seele« - einer Kultur erklärt ihre Inhalte; diese
Form aber ist wiederum nichts anderes als eine Charakterisierung des Zusammenhangs
der Inhalte der jeweiligen Kultur im Vergleich zu den Inhalten anderer Kulturen. Nicht
ein allgemeines Gesetz, sondern eine strukturelle Verteilung, nicht eine Kausalformel,

24 UdAS. 234 f.
SPENGLER UND DER MODERNE BEGRIFF DER KULTUR 109

wir uns auf die Grundlagen unseres Weltbildes berufen, wieder zurückführt, symboli-
sieren nicht noch einmal etwas Wirkliches. Sie symbolisieren nichts, das heißt, sie ent-
halten nichts als die Erinnerung daran, daß diejenige geschichtliche Macht, die uns
letztlich unsere Identität und die Logik unseres Lebens verleiht, unfaßbar und unbe-
nennbar ist. Die Negation der Negation, die an der Wurzel unseres kulturellen Kom-
munikationssystems liegt, besteht darin, daß diese Erinnerung an die Unfaßbarkeit des
Unfaßbaren von uns vergessen wird. Diese Negation der Negation, die keine willentli-
che, wohl aber eine höchst aktive ist, bildet den in unseren ursprünglichsten Symbolen
aufbewahrten Grund unserer kulturellen Identität.
In einem dritten und letzten Schritt meiner Überlegungen möchte ich nun das so-
wohl theoretische als auch praktische Problem zur Sprache bringen, das sich ergibt,
wenn man den Kulturbegriff, wie es mir heute tatsächlich der Fall zu sein scheint, in
dem Sinne verwendet, den wir im Kern bei Spengler finden, ihn aber von der Beschrän-
kung auf die acht angeblich einzigen Kulturen befreit und für sehr viele unterschied-
liche Gemeinschaften von Menschen verwendet.

3. Kultur und Landschaft

Es liegt in der Natur des modernen Kulturbegriffs, daß sein Inhalt sich einer abstrakten
Definition weitgehend entzieht. Man kann sagen, daß Kulturen im Sinne dieses Be-
griffs Einheiten sind, durch die Menschen über Generationen hinweg zu gemeinsamen
Lebensformen und Überzeugungen vereinigt werden. Aber ähnlich muß man auch Be-
griffe wie »Volk« oder »Religion« definieren, so daß die Frage, was das spezifisch
»Kulturelle« an einer geschichtlichen Verbindung zwischen Menschen ist, immer noch
offen bleibt. Hier wird Spenglers Berufung auf die Bedeutung ursprünglicher Symbole
durchaus hilfreich sein. Gemeinsame Lebensformen und Überzeugungen von Men-
schen lassen sich dann in ihrer kulturellen Eigenart identifizieren, wenn sie sich in
einem gemeinsamen Verständnis symbolischer Ausdrucks- und Verhaltensweisen kon-
kretisieren. Zu denken ist an Formen des Grüßens, des Betens, des Sprechens, der In-
itiation, aber auch des Ausschlusses aus der Gemeinschaft, an elementare Zeichen wie
Kreuze oder Tore in der Landschaft, an Personen, die als ursprünglich repräsentativ für
eine Gemeinschaft von Menschen empfunden und verehrt werden. Letztlich aber wird
der Kulturbegriff nur ostensiv und operational definiert werden können, das heißt man
muß sich auf konkrete Beispiele einigen, die man als paradigmatisch für die Bedeutung
des Wortes »Kultur« ansieht und die Kriterien, die sich aus dieser ostensiven Definition
ergeben, schrittweise auf andere mögliche Objekte des Begriffs übertragen.
Aus dieser Eigenart des modernen Begriffs der Kultur ergibt sich jedoch auch die
fundamentale Gefahr, die mit ihm verbunden ist, nämlich die Gefahr seiner
chen Verwendung und politischen Instrumentalisierung. Wenn Kulturen nur in ihrer
Differenz zu anderen Kulturen faßbar und beschreibbar sind, folgt dann daraus, daß
man Kulturen einfach dadurch schaffen kann, daß man Differenzen zu anderen Men-
schen schafft? Gerade in einer Zeit, in der wir uns darüber einig sind, daß in immer
mehr Teilen der Erde Menschen, die durch unterschiedliche kulturelle Identität geprägt
sind, miteinander und nebeneinander leben werden, kann der Inhalt des Begriffs der
110 WALTER SCHWEIDLER

Kultur nicht der Willkür ausgesetzt werden. Wenn es zu den Lebensformen und den
Überzeugungen einer bestimmten Gruppe von Menschen gehört, daß ihre Angehöri-
gen jederzeit Verbrechen begehen können, dann folgt daraus nicht, daß diese Gruppe
für sich das Recht beanspruchen dürfte, aufgrund ihrer angeblichen »kulturellen« Ei-
genart tolerant behandelt zu werden. Die Mafia ist keine Kultur. Aber warum nicht,
wenn man den Begriff so definiert, daß die bloße Differenz in Lebensformen und
Überzeugungen für seine Verwendung ausreicht? Wir stehen also wieder vor der Frage,
hinsichtlich welcher im Fall des antiken wie des rationalistisch-neuzeitlichen Kultur-
verständnisses der Begriff der Natur von entscheidender Bedeutung war.
Worin besteht die objektive Grundlage des Kulturbegriffs, aus der sich ergibt, was
als Kultur zu bezeichnen ist und was nicht? Der Begriff der Natur, wie Spengler ihn
verwendet, reicht für die Beantwortung dieser Frage nicht aus. Nach Spengler wird die
»Natur« definiert durch das gesetzlich-mechanische Weltbild der Naturwissenschaft.
»'Natur' im exakten Sinne ist die...auf den Menschen der großen Städte später Kulturen
beschränkte...Art, Wirklichkeit zu besitzen«34. Diese konstruktivistische These stimmt
zwar nicht mit dem Selbstverständnis der neuzeitlich-rationalistischen Naturauffas-
sung überein, aber sie läuft doch auf dasselbe Resultat hinaus wie sie, nämlich: Was Na-
tur ist, das entscheidet die Naturwissenschaft! Naturwissenschaft aber ist ja wieder ein
Teil des Weltbildes, das jede Kultur für sich hervorbringt. Damit wird der Naturbegriff
gegenüber dem Begriff der Kultur so radikal relativiert, daß er die Rolle des dialekti-
schen Gegenübers und der objektiven Basis, die er für die früheren Kulturkonzepte
hatte, mit Sicherheit nicht mehr spielen kann.
Auch in bezug auf diese Relativierung des Naturbegriffs gegenüber dem Kulturbe-
griff ist Spengler repräsentativ für eine bis heute herrschende Auffassung, wie sie bei-
spielsweise in der Auseinandersetzung zwischen Thomas S. Kuhn und Willard v. Quine
über die Objektivität des naturwissenschaftlichen Weltbildes zum Ausdruck gekom-
men ist.35 Während Quine im Sinne des Behaviorismus davon ausgeht, daß die materi-
ellen Reize und die ihnen entsprechenden Reaktionen eine objektive, kulturunabhängi-
ge Basis menschlicher Naturerkenntnis darstellen, weist Kuhn im Sinne des Konstruk-
tivismus auf die Bedeutung des kulturabhängigen Weltbildes hin, das auch die Weisen,
wie wir als Menschen Reize wahrzunehmen gelernt haben, schon prägt. Darum gibt es
für Kuhn keine Naturerkenntnis, die nicht relativ auf die kulturelle Prägung wäre, die
in den Paradigmen wohnt, aufgrund derer Menschen Naturwissenschaft betreiben.
Was bei dieser Kontroverse überhaupt nicht zur Sprache kommt, sondern - auch von
Kuhn - als selbstverständlich vorausgesetzt wird, ist genau die auch in Spenglers Kon-
struktivismus enthaltene Grundannahme, daß »Natur« die Gesamtheit der gesetzlich
determinierten Objekte sei, die in unserem Weltbild vorkommen. Das aber ist der neu-
zeitlich-rationalistische Naturbegriff.
Was geschieht, wenn dieser Naturbegriff beibehalten, aber nicht mehr mit dem ihm
entsprechenden substantiell-universalen, sondern mit dem substantiell-pluralen Kul-
turbegriff verbunden wird? Die Folge ist, daß der Kulturbegriff sich selbst aufhebt.

34 UdAS. 132.
35 Vgl. dazu das Postskript von 1969 zu Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
(1962), 2. Aufl. Frankfurt am Main 1976, S. 203 ff.
SPENGLER UND DER MODERNE BEGRIFF DER KULTUR 111

Denn wenn unser Weltbild insgesamt abhängig von der Kultur ist, die unser Denken
prägt, dann ist auch die Annahme, daß es eine Pluralität von Kulturen gibt, die einander
als solche anerkennen und respektieren können, nur für unsere Kultur gültig. Sie
stimmt nur für uns - wer immer »wir« sein mögen. Diese radikale Konsequenz, die
letztlich in den Selbstwiderspruch führt, hat Spengler - im Gegensatz zu den meisten,
die heute den modernen Kulturbegriff vertreten - ganz offen gezogen. Einerseits macht
er es dem »faustischen« Philosophen zur »Aufgabe, das Weltgefühl nicht nur der eig-
nen, sondern das aller Seelen zu durchdringen, in denen große Möglichkeiten über-
haupt bisher erschienen und deren Ausdruck im Bilde des Wirklichen die einzelnen
Kulturen sind«36. Andererseits fordert er, daß gerade dem abendländischen Denker
eines nicht fehlen dürfe, nämlich »die Einsicht in den historisch-relativen Charakter
seiner Ergebnisse, die selbst Ausdruck eines einzelnen und nur dieses einen Daseins
sind, das Wissen, daß seine unumstößlichen Wahrheiten< und >ewigen Einsichten< eben
nur für ihn wahr und in seinem Weltaspekt ewig sind...«37 Damit aber muß das Ge-
schichtsbild, zu dem die Vielzahl der Kulturen gehört, selbst relativiert werden und
seine eigene Grundlage aushebeln. Ja, schließlich relativiert Spengler »seine« Wahrheit
noch ganz radikal nicht nur auf »seine« Kultur, sondern noch weiter: »Jede Zeit, jedes
Land, jede lebendige Menge hat ihren eignen historischen Horizont, und der berufene
Geschichtsdenker zeigt sich eben darin, daß er das von seiner Zeit geforderte Ge-
schichtsbild wirklich entwirft.«38
So inakzeptabel dieser Selbstwiderspruch ist, so unweigerlich wird er sich doch aus
einem Kulturbegriff ergeben, der Pluralität und Substanzialität zugleich festhalten will,
ohne für ihre Beziehung eine objektive Grundlage anführen zu können. Wo der mo-
derne Kulturbegriff verwendet wird, ohne daß man dieses Problem anspricht oder auch
nur sieht, dort wird geistige Verwirrung gestiftet und eine Relativierung des eigenen
Selbstverständnisses gefordert, für die man keine vernünftige Rechtfertigung hat. Wie
aber kann das Problem, wenn man es sieht, einer Lösung nähergebracht werden?
Wer den modernen Kulturbegriff behalten will, muß sich vom neuzeitlich-rationali-
stischen Naturbegriff lösen. Die Annahme, daß unsere Natur vollständig relativ auf die
Kultur und insbesondere auf die von ihr hervorgebrachte Naturwissenschaft sei, ist un-
haltbar. Wenn die Natur vollständig relativ auf die Kultur und damit die Naturwissen-
schaft wäre, dann dürfte der Mensch mit seinen eigenen natürlichen Grundlagen alles
machen, was er will. Er dürfte dann auch die künftigen Menschen, insofern ihre Entste-
hung durch natürliche Prozesse bedingt ist, so manipulieren, daß es seinem eigenen Le-
ben am meisten nützt. Tatsächlich kann der moderne Kulturbegriff der Gefahr Vor-
schub leisten, die zu einem solchen Denken führt. Will man ihn davor bewahren, dann
muß man »Natur« wieder als etwas denken, das zugleich den Menschen von allen
nichtmenschlichen Wesen trennt und die Verbundenheit des Menschen mit seinen Mit-
menschen begründet.39
Es gibt bei Spengler nur einen minimalen Ansatzpunkt für dieses Ziel, nämlich sei-
nen Hinweis auf die Bedeutung der Landschaft für die Identität einer Kultur. Die Ge-

36 UdAS. 208.
37 UdA . S. 32, vgl. S. 20, 228
38 UdAS. 580.
112 WALTER SCHWEIDLER

schichte sei, so sagt er ganz zu Anfang seines Buches, »das Schauspiel einer Vielzahl
mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schöße einer mütterlichen
Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist,
aufblühen...«40 Immer wieder, aber an verstreuten Stellen und ohne systematische
Durchdringung 41 , verweist er auf den ursprünglichen Eindruck, den die Ursymbole
einer Kultur vom Erlebnis der elementarsten landschaftlichen Umgebung des Menschen
erfahren. Wie sich das »apollinische« Erlebnis der vom Meer klar umgrenzten Insel in
der scharf konturierten Skulptur ausdrückt, so das in unendliche Höhen strebende »fau-
stische« Raumempfinden der germanischen Wälder in den Säulen und Decken der goti-
schen Dome und so das »magische« Höhlenerlebnis des arabischen Wüstenbewohners
in den Kuppeln der nach außen abgeschlossenen, aber einem indirekten, von oben ein-
strömenden Licht geöffneten Moschee.42 Es gibt auch durchaus eine systematische
Brücke zwischen dem Symbolbegriff Spenglers und dieser Bedeutung der Landschaft,
nämlich den Begriff des Raumes. Das Erlebnis der Landschaft ist erstes und ursprüng-
lichstes Raumerlebnis eines Menschen, während der Raum nach Spengler zugleich der
ursprünglichste Inhalt der Symbole ist, mit denen der Mensch die Unfaßbarkeit der Zeit
und des Lebens zu fassen versucht.43 Auch diese Idee der Ursprünglichkeit und Priorität
des Raumes für Funktion und Inhalt kultureller Symbole findet sich im übrigen parallel
in Cassirers Analyse des mythischen Symboldenkens, das »von der Tendenz be-
herrscht« sei, »alle Unterschiede, die es setzt und ergreift, in räumliche Unterschiede zu
verwandeln und sie sich in dieser Form unmittelbar zu vergegenwärtigen«44.
Es ist klar, daß die Bedeutung der Landschaft für die Rekonstruktion des Verhältnis-
ses von Kultur und Natur nicht in einer kausalen Ableitung bestehen kann. Auch die
Antike verstand die »Natur des Menschen« nicht als eine Ansammlung von Ursachen,
aus denen die kulturellen Lebensformen als Wirkungen gefolgert werden könnten. Die
Natur des Menschen verursacht nicht seine Kultur, sondern sie drückt sich in ihr aus.
Sie ist darum ebenso vielfältig wie der Reichtum seiner kulturellen Lebensformen.
Behält man dies im Auge, dann ist auch eine Fundierung des substantiell-pluralen Kul-
turbegriffs in dem, was man die landschaftliche Umwelt des Menschen nennen könnte,
denkbar. »Landschaftliche Umwelt« darf also nicht als materielle Ursache, sondern
muß als eine Wirklichkeit betrachtet werden, in der sich das kulturelle Dasein von
Menschen bereits ausdrückt, die es also ohne Menschen und ohne Beziehung auf sie
überhaupt nicht gäbe. Genau in dieser Richtung hat, wenn ich ihn richtig verstehe,
Watsuji Tetsuro seinen Begriff des »Klimas« entwickelt. Jedenfalls wählt er diesen Be-
griff und nicht den der Natur gerade deshalb, um nicht das Mißverständnis heraufzu-

39 Entscheidend für die Analyse dieses Zusammenhangs sind die Bücher von Robert Spaemann, Das
Vernünftige und das Natürliche, München 1980 und Ders., Philosophische Essays, Stuttgart 1982 so-
wie vor allem Ders., Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989.
40 UdAS. 29.
41 Vor allem fehlt eine solche dort, wo man sie am meisten erwarten würde, nämlich im Kapitel »Ur-
sprung und Landschaft« des II. Bandes des UdA.
42 Vgl. etwa UdA S. 840, 844.
43 Vgl. UdA S. 224 f.
44 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, 7. Aufl.
Darmstadt 1977, S. 116, vgl. 117 ff. und 158 ff.
SPENGLER UND DER MODERNE BEGRIFF DER KULTUR 113

beschwören, daß er eine kausale Ursache menschlichen Verhaltens im Auge hätte.45


Was zu unserem Klima gehört, beispielsweise die Kälte des Winters, ist weder eine vom
Menschen unabhängige Sachlage noch ein im Menschen befindlicher Bewußtseins-
inhalt. Vielmehr bezeichnet der Begriff »Klima« genau das an unserer Welt, worin wir
uns, wenn wir uns als uns selbst gegenwärtig werden, immer schon vorfinden. Wenn
wir Kälte spüren, dann liegt das immer auch daran, daß das Sichbewegen in einer kalten
Umwelt zu den Verhaltensweisen gehört, die wir von unseren Mitmenschen gelernt
und als die zu uns gehörigen Lebensformen schon übernommen haben: »Kälte empfin-
den ist eine intentionale Erfahrung, in der wir uns selbst als bereits in die Kälte Hinaus-
getretene erkennen.«46 Und eben in den Formen solchen Umgangs mit der natürlichen
Umgebung konstituiert sich nach Watsuji die gemeinschaftliche Identität, das Zusam-
mengehören der Menschen zu einem »Wir«. »Insofern ist derjenige, der in die Kälte
hinausgetreten ist, nicht nur ,ich' allein, sondern auch >wir<, genauer noch, >ich< als >wir<
und ,wir' als ,ich' befinden uns draußen im Kalten.«47 Und zugleich empfinden wir ein
Phänomen wie die Kälte wieder nur in Abhebung gegen Wärme, wohnen also all die
Differenzen, die unser Koordinatensystem des Umgangs mit Temperaturen bestim-
men, schon in der einen Empfindung indirekt darin; und noch weiter gilt dies für unse-
re ganze Umwelterfahrung, für die das Empfinden von Wärme und Kälte wieder nur
eine unter vielen zu ihr in Differenz stehenden Dimensionen ist.48 Und die Lebensfor-
men schließlich, die uns mit der Kälte in Verbindung bringen, sind ihrerseits wieder nur
ein Glied im in sich differenzierten System unseres Verhaltens zur Welt. »Dies ist nur
natürlich, weil der Mensch im Klima zum Verständnis seiner selbst gelangt...Das Sich-
selbst-Verstehen des Menschen, des Menschen in seiner doppelten Beschaffenheit als
individuelles und als gesellschaftliches Wesen, ist immer auch schon geschichtlich. Des-
halb gibt es kein von der Geschichte losgelöstes Klima und auch keine vom Klima los-
gelöste Geschichte.«49
Zumindest soviel wird man bei aller Vorsicht angesichts der kulturellen Ferne zwi-
schen Spengler und Watsuji sagen können, daß in der Konzeption Watsujis zumindest
jener entscheidende Kreuzungspunkt zwischen Ich, Wir und Welt markiert ist, den
man im modernen Begriff der Kultur übersieht und den man dann nicht zu sehen be-
kommt, wenn man Spenglers begriffliche Unzulänglichkeiten einfach nur abwertend
kritisiert, ohne ihnen unter Beachtung von Spenglers konstruktiver Leistung die philo-
sophische Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, die ihnen gebührt.

45 Watsuji Tetsuro, Fudo (s.o. FN 7), S. 6.


46 Ebd. S. 8.
47 Ebd. S. 9.
48 Vgl. ebd.
49 Ebd. S. 11 f.
ÖRRIN F. SUMMERELL (Bochum)

Dianoetische Tugend in der existenzialen Analytik?

0PONHXIZ als Gewissen

<t>pövr|o"i<;: »Das ist das Gewissen!«1 Die Bedeutung dieser - inzwischen »legendär«2
gewordenen - Interpretation für die Entwicklung einer Hermeneutik der Faktizität hat
Hans-Georg Gadamer, Teilnehmer an Martin Heideggers Freiburger Seminar vom
Sommersemester 1923 über die Nikomachische Ethik, in dem Aristoteles' Lehre von
den dianoetischen Tugenden im Mittelpunkt stand, dokumentiert: »Hier war eine Wei-
se des Wissens (ein ei5o<; yvuxjeüx;) beschrieben, die sich schlechterdings nicht mehr auf
eine letzte Objektivierbarkeit im Sinne der Wissenschaft beziehen läßt, ein Wissen in
der konkreten Existenzsituation.« 3 Ein solches Wissen um das eigene faktische Dasein,
ein Wissen, das das praktische Fundament jedes anderen Wissens ausmacht, ein der
Existenz wesentliches Mitwissen, das Gewissen - ebendies sollte Aristoteles dargelegt
und auf den Begriff gebracht haben, und zwar nicht als rruvei§r|cn.(;, sondern als (pp6-
vrjcnc;. Schon damals aber hat sich Gadamer gefragt, ob Heidegger mit dieser Deutung
in der Sache des Aristoteles oder vielmehr in der eigenen Sache gesprochen habe. 4
Gleichwohl gesteht Gadamer, daß man »durch diese herausfordernde These unaus-
weichlich vor die eigenen Fragen genötigt« werde, auch wenn letzten Endes gelernt
werden sollte, daß man »allzu gewalttätige Wiedererkennungen des eigenen Fragens zu
kontrollieren und Differenzierungen vorzunehmen« habe. 5
Das Leitmotiv von Heideggers Interpretation der (pp6vr|0"ic,, das sich im fundamen-
talontologischen Projekt von Sein und Zeit wiederzuerkennen gibt, hat Otto Pöggeler
verdeutlicht: Im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik habe Aristoteles gezeigt, daß
»die Orientierung in den Situationen der Praxis hier unter dem wechselnden Mond ei-
nen eigenen Logos und ein eigenes aletheuein verlange; so könne man von ihm aus die
ontologische Option durchbrechen, der Aristoteles selber verfallen sei«, nämlich die

1 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Die Marburger Theologie (1964). In: Gesammelte Werke, Bd. 3. Tübin-
gen 1987, S. 200, sowie ders., Erinnerungen an Heideggers Anfänge (1986), in: Gesammelte Werke,
Bd. 10. Tübingen 1995, S. 7.
2 Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger 's Being and Time. Berkeley/Los Angeles/London 1993,
S. 304.
3 Gadamer, Die Marburger Theologie, S. 200; zitiert wird Aristoteles, Eth. Nie. VI 9, 1141b33-34.
4 Hans-Georg Gadamer, Martin Heidegger - 85 Jahre (1974). In: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 266.
Neuerdings übersetzt Gadamer <ppövT|oic, - diesen »Begriff des vollkommenen praktischen Wissens«
- vorwiegend mit »praktische Vernünftigkeit«, fügt aber gelegentlich »Gewissenhaftigkeit« hinzu;
letzteres soll die Dimension »politischer und sozialer Verantwortlichkeit« hervorheben; vgl. Hans-
Georg Gadamer, Einführung und Zusammenfassung. In: Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, hrsg.
und übers, v. Hans-Georg Gadamer. Frankfurt a.M. 1998, S. 4, 6, 8-9, 14, 16, 19-20. Zur hermeneuti-
schen Aktualität der ippövriaic, als eines »sittlichen Wissens«, das die konkrete Lebenssituation im
Lichte des Allgemeinen ausmacht, vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge
einer philosophischen Hermeneutik (Gesammelte Werke, Bd. 1). Tübingen 1986, S. 317-329.
5 Gadamer, Erinnerungen an Heideggers Anfänge, S. 7.
116 ORRIN F. SUMMERELL

Option, die das Sein als ständige Anwesenheit auffasse.6 Die Explikation des zeitlichen
Seinshorizonts soll die existenziale Analytik des Daseins in Sein und Zeit vorbereiten.7
Seit geraumer Zeit gehört ein Verweis auf die (ppövTjorc, zur Konvention der Kommen-
tierung des Gewissensbegriffs in Sein und Zeit} Dabei hat die Forschung zur Vorge-
schichte und Genese dieses Werks ihren Blick insbesondere auf Heideggers Auseinan-
dersetzung mit der praktischen Philosophie des Aristoteles gerichtet.9 Der Primat des
Praktischen vor dem Theoretischen10, den Heidegger in diesem Werk vertritt, zeigt sich
schon in seiner Bestimmung der Umsicht. Diese bezeichnet die zielbewußte Auffas-
sung des Werkzusammenhanges, die dem Dasein ermöglicht, mit dem zuhandenenen
Zeug wirksam zu hantieren und somit seine Vorhaben erfolgreich durchzuführen."
Weil die Umsicht das zu besorgende Seiende als etwas Bestimmtes - allerdings vorprä-
dikativ - völlig im Blick hat, entspricht sie der ursprünglichen Erschlossenheit der
Welt: Durch Auffassung der geeigneten Mittel zum Ende - schließlich dem Dasein
selbst als letztem Worumwillen - läßt sie das Besorgte gegenwärtig werden; ihre zeitli-
che Struktur weist ein Seinsverständnis auf, das der Definition der stetigen Vorhanden-
heit vorausgeht.12 Wie bestimmt sich nun (pp6vrjca<; als Gewissen?
*

Während die sittlichen Tugenden allesamt »ein Habitus des Wählens [ecjic, itpocapeTi-
Krj]« sind, der bezüglich der Affekte die »nach uns bemessene und durch die Vernunft

6 O t t o Pöggeler, Metaphysik als Problem bei Heidegger. In: Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegel-
kongreß 1987. Hrsg. v. Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann. Stutttgart 1988, S. 371.
7 Vgl. Martin Heidegger, Sem und Zeit. Tübingen 1979' 5 , S. 17,41.
8 Vgl. Andreas Luckner, Martin Heidegger: »Sein und Zeit«. Ein einführender Kommentar. Pader-
born/München/Wien/Zürich 1997, S. 123, Anm. 48: »Gewissen wird hier also etwas, was wie die ari-
stotelische phronesis (praktische Klugheit) vermag, die realen Handlungsmöglichkeiten einer Situati-
on zu erschließen«.
9 Zu Heideggers Rezeption und Transformation der praktischen Philosophie des Aristoteles im Rah-
men von Sein und Zeit vgl. Franco Volpi, Dasein comme praxis: L'assimilation et la radicalisation hei-
deggerienne de la philosophie pratique d'Anstote. In: Heidegger et l'idee de la phenomenologie. Hrsg.
v. Franco Volpi et al. Dordrecht/Boston/London 1988, S. 1—41 (in gekürzter Fassung: »Sem und
Zeit«: Homologien zur Nikomachischen Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch 96 [1989], S. 225-240);
Jacques Taminiaux, lloincsic et npä^ig dans l'articulation de l'ontologie fondamentale. In: Heidegger
et l'idee de la phenomenologie. Hrsg. v. Volpi et al., S. 107-126; ders., Lectures de l'ontologie fonda-
mentale. Essais sur Heidegger. Grenoble 1989, S. 147-189; Walter Brogan, Heidegger and Anstotle:
Dasein and the Questwn of Practical Life. In: Crises in Continental Philosophy. Hrsg. v. Arleen B.
Dallery und Charles E. Scott. Albany 1990, S. 137-146; Kisiel, The Genesis of Heidegger's Bemg and
Time, S. 227-308; Pavlos Kontos, L'ethique aristotelicienne et le chemin de Heidegger. In: Revue phi-
losophique de Louvam 95 (1997), S. 130-143. Volpi, Dasein comme praxis, S. 3-4, identifiziert in Hei-
deggers früher Auseinandersetzung mit Aristoteles »trois problemes capitaux qui sont aussi les pro-
blemes centraux de Sein und Zeit, ä savoir: le probleme de la verite, le probleme de la Constitution on-
tologique de la vie humaine et le probleme du temps«.
10 Vgl. Volpi, Dasein comme praxis, S. 15-17, 28-29; Dieter Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit da-
nach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910-1976. Frankfurt a. M. 1990, S. 133; Gerold
Prauss, Erkennen und Handeln in Heideggers »Sem und Zeit«. Freiburg/München 1977, S. 17-46.
11 Vgl. Heidegger, Sem und Zeit, S. 68-71. Zum Begriff der Umsicht vgl. Prauss, Erkennen und Han-
deln, S. 14—16, 27-36, 41-46, 52-56; Carl Friedrich Gethmann, Heideggers Konzeption des Handelns
in Sem und Zeit. In: Heidegger und die praktische Philosophie. Hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert
und O t t o Pöggeler. Frankfurt a. M. 1988, S. 143-147.
12 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 75 (zum Erschließungsscharakter der Umsicht), 84, 147 (zum Wor-
umwillen), 148-149 (zum vorprädikativen Sehen), 333, 354, 358-360 (zur Zeitlichkeit der Umsicht).
DIANOETISCHE TUGEND IN DER EXISTENZIALEN ANALYTIK? 117

[X.cVyoc] bestimmte Mitte [zwischen zwei schlechten Extremen] hält, und zwar nach
dem, was ein kluger Mann [ö (ppöviuocj wohl bestimmen dürfte«13, bringen die dianoe-
tischen Tugenden, zu denen Aristoteles die (ppövT|cji<; zählt, die Tätigkeit der Vernunft
nicht durch die Teilhabe des begehrenden und strebenden Seelenvermögens an ihr, son-
dern durch die Vernunft als solche zum Ausdruck: Sie sind ein Habitus, dessen Werk
die Wahrheit (dXrjGeia xö epTOv) ist.14 Die dianoetischen Tugenden sind Erkenntnis-
weisen, unterschiedliche Vermögen, Seiendes zu entdecken und die Welt zu er-
schließen. Im Gegensatz zum epistemonischen - spekulativen - Aspekt (xö £jnaxr|uovi-
KÖV) des den Menschen auszeichnenden vernunftbegabten Seelenteils (xö X070V E%OV
uepoc, xfjc, yuxfic,), der durch die £;no"xf|UT|, die aocpicc und den voüc, konstituiert wird,
bilden nach Aristoteles die (ppövrjcnc, und die XEXVT| zusammen dessen logistische - kal-
kulierende - Seite (xö A.oytaxiKÖv); denn sie gehen nicht auf das Immer-Seiende - auf
die unwandelbaren Prinzipien und das, was sich aus ihnen apodiktisch ergibt - ein,
sondern sie befassen sich mit dem Letzten bzw. dem Einzelnen (xö ea%axov), mit dem,
was auch anders sein kann, und zwar infolge der eigenen Tätigkeit.15 Während sich die
X£XVT| mit dem Herstellen (Ttoincnc,) von etwas beschäftigt, dessen Prinzip im Herstel-
lenden und nicht im Hergestellten liegt, zeichnet sich die (ppövncuc, durch das Enthal-
ten-Sein ihres Ziels - das Worumwillen (xö oü eveica) ist ja auch ein Prinzip - in der
Tätigkeit selbst aus, das dem Handeln (7tp&!;ic,) zukommt. 16 Aristoteles erklärt: Xetne-
xca äpa atixhv eivai ec^iv aÄ.u,efj uexa Ao-you 7tpaKxiKT|v rapi xa ctv0pa>7tcu dryaöä Kai
KCtKä. xfjc, uev 7ap 7toifjoeax; e'xepov xö xeXoc,, xfjc, 8e Ttpct^eax; OUK SV ein- eaxi yap aoxf|
fj eu7tpa^ta xekoc, (»Übrig bleibt, daß sie [die Klugheit] ein wahrer Habitus ver-
nunftgemäßen Handelns ist in Dingen, die für den Menschen gut und schlecht sind.
Denn das Hervorbringen ist etwas anderes als das Ziel, das Handeln dagegen nicht;
denn das gute Handeln ist das Ziel«).17 Thomas von Aquin erläutert: »factio est actus
transiens in exteriorem materiam, [...] agere autem est actus permanens in ipso agente«
(»Das Herstellen ist eine Handlung, die auf eine äußere Materie geht, [...] das Handeln
aber ist eine im Handelnden selbst verbleibende Handlung«).18 Herstellen und Han-
deln sind beide ein vernunftgemäßer Habitus (e'cjic, uexa Xöyou): Durch das Herstellen

13 Aristotelis Ethica Nicomachea, recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Bywater. Oxford
1894 (Nachdr. 1962), II 6, 1106b36-l 107a2; vgl. statt a (»nach dem, was«) öx; (»wie«) codd.
14 Vgl. Aristoteles, Eth. Nie. I 13, 1102b30; VI 2,1139bl2-13. Zum Begriff der ippövnmc. vgl. Richard Sor-
abji, Aristotle on the Role of Intellect in Virtue. In: Essays on Aristotlc's Ethics. Hrsg. v. Amelie Oksen-
berg Rorty, Berkeley/Los Angeles/London 1980, S. 201-219; Olaf Gigon, Phronesis und Sophia in der
Ntkomachischen Ethik des Aristoteles. In: Schriften zur Aristotelischen Ethik. Hrsg. v. Christian Mueller-
Goldinger. Hildesheim/Zürich/New York 1988, S. 357-370; Christopher J. Rowe, Phronesis. In: Histo-
risches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 7. Basel 1989,
Sp. 933-936; Theodor Eben, Phronesis. Anmerkungen zu einem Begriff der Aristotelischen Ethik (VI 5
und 8-13). In: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik. Hrsg. v. Otfried Hoffe. Berlin 1995, S. 165-185.
15 Aristoteles, Eth. Nie. V 11, 1138b9; VI 2, 1139a6-8; vgl. ferner ebd. VI 2, 1138b35-1138al5 (zur Er-
kenntnis der aW|8eia); VI 3, 1139b31-32 (zur EitiOTTiun. als einem Habitus des notwendigen Demon-
strierens); VI 6, 1141a7-8 (zum voüc. als einem unmittelbaren Prinzipienwissen); VI 7, 1141al 7—20
(zur o~o<pia als Erkenntnis der Prinzipien sowie des aus ihnen Gefolgerten, daher als voüc, Kai £nt-
arr|ur|, oioTtep K£<paXf|v e'xouaa £7ua"TT|ur| twv tiuKDTätrav); VI 8, 1142a23-30 (zum eaxatov als Ge-
gendstand der cppövnoic,); VI 4, 1140al-2 (zur Beziehung der t£)rvr| und der (ppoviionc, zum Anders-
sein-Könnenden).
16 Vgl. Aristoteles, Eth. Nie. VI 4, 1140al3-14; VI 5, 1140bl6-17.
17 Aristoteles, Eth. Nie. VI 5, 1140b4-6
18 Thomas de Aquino, Summa theologiae I—II (Ed. Leonina, Romae 1882 sqq.), quaest. 57, art. 4.
118 ORRIN F. SUMMERELL

bringt der Mensch ein Anderes hervor, durch das Handeln hingegen wird er zu dem,
was er ist; somit wohnt das Ziel dem Handeln inne. Den Weg zum gelingenden Leben
im ganzen (xö eü £fjv ÖACOC,)19 weist dem Handelnden die <ppövT|OTc,.
Die (ppövT|cn.<; befaßt sich mit dem veränderbaren Einzelnen im Sinne des eigenen
Handelns; sie setzt sich mit den menschlichen Dingen und mit Dingen, die Gegenstand
der Überlegung sein können, (rapi xa avGpaMnva Kai Ttepi mv eaxi ßouXeüaaaOai)
auseinander.20 Um das Leben bestmöglich zu gestalten durch die vernünftige Bestim-
mung dessen, was man tun oder lassen soll, muß sie jedoch beides, das Allgemeine und
das Einzelne (xa Ka6öA.ou Kai xa Kaö' eKaaxa), erkennen können.21 Diese zwei Mo-
mente bilden die syllogistischen Prämissen des selbst beim Einzelnen verbleibenden
praktischen Schlußsatzes, dem zufolge man so zu handeln hat, wenn man in dieser Si-
tuation das Ziel erlangen will.22 Um das jeweils Erforderliche entdecken zu können,
muß das Gegebene im Lichte des Normativen gesehen werden. Vorwiegend ist die
ippövrioTc, eine Erkenntnis der eigenen Person als eines Individuums ((ppövnoac, [...] f|
Ttepl auxöv Kai eva23) bzw. eine Erkenntnis des eigenen Interesses (xö aüxtp elöevai24);
denn der Einzelne hat dann als Einzelner situationsbezogen zu handeln. Die übrigen
Arten der ippövnaic, sind aber die Haushaltung (olKovopia) und die Staatsverwaltung:
die Legislatur (vouoOeaia) einerseits, die Staatsführung (7toA.ixiicfi ippövnaic,) anderer-
seits, die sich wiederum in eine beratende (ßouÄ£uxiKfj) und eine richterliche
(5iKaaxiKfj) Form einteilen läßt.25
Wegen ihrer wesentlichen Bezogenheit auf das menschliche Handeln ordnet Aristo-
teles die (ppovrimc, der aoipia unter: Diese nimmt als die höchste Erkenntnisweise den
ersten Rang unter den dianoetischen Tugenden ein. Zwar ist für ihn der Mensch unter
den irdischen Lebewesen das vorzüglichste, dennoch steht fest: »Es gibt Dinge, die ih-
rer Natur nach viel göttlicher sind als der Mensch, am deutlichsten diejenigen, aus de-
nen der Himmel besteht«.26 Des weiteren werden über das, was sich unmöglich anders
verhalten kann, ebenso wie über das, was sich unserer Macht entzieht, keine Überle-
gungen angestellt.27 Es gilt aber für die ippövnaic, das Merkmal der Wohlüberlegtheit
(etißouÄta) hinsichtlich des Gegenstandes möglicher Überlegung: el Sri xwv ippoviucuv
tö eü ßeßmAeüaöai. f| eußotAia ei'r| ä'v 6p96xr|c, f\ Kaxä xö av>|iip£povrcpöc,xö x^Xoq, oü f|
ippövnaic, aAr)f}f|c, ÜTCÖATIYIC, eaxiv (»Wenn Wohlüberlegtsein ein Merkmal des klugen
Mannes ist, dann wäre die Wohlüberlegtheit Richtigkeit in bezug auf das dem Ziel

19 Aristoteles, Eth. Nie. VI 5, 1140a28.


20 Vgl. Aristoteles, Eth. Nie. VI 7, 1141b8-9.
21 Vgl. Aristoteles, Eth. Nie. VI 7, 1141bl4-15; VI 10,1143a8-9.
22 Vgl. Aristoteles, Eth. Nie. VI 11,1143b9-ll;dazu Andreas Graeser, Die Philosophie der Antike 2. So-
phistik und Sokratik, Plato und Aristoteles (Geschichte der Philosophie. Hrsg. v. Wolfgang Röd, Bd.
2). München 19932. S. 250-254; Sorabji, Anstotle on the Role oflntellect, S. 206-209.
23 Aristoteles, Eth. Nie. VI 8, H41b30.
24 Aristoteles, Eth. Nie. VI 8, 1141b34; zu dieser philologisch umstrittenen Stelle vgl. Eben, Phronesis,
S. 170, Anm. 5.
25 Vgl. Aristoteles, Eth. Nie. VI 8,1141b31-33.
26 Aristoteles, Eth. Nie. VI 7,1141a34-b2.
27 Vgl. Aristoteles, Eth. Nie. VI 5,1140a31-32.
DIANOETISCHE TUGEND IN DER EXISTENZIALEN ANALYTIK? 119

Dienende, von dem [seil. Ziel] die Klugheit eine wahre Vorwegnahme ist«).28 Die
ippövnaic, vollzieht sich also als eüßouXta; in ihr vollendet sich ihr Suchen und Kalku-
lieren (f^nxeiv Kai A.oyi^ea9ai).29 Die etißouXaa ist die bedachtsame - also weder die nur
instinktartige noch die einfach geistesgegenwärtige30 - Bestimmung der jeweiligen Mit-
tel, die zum guten Lebensziel hinführen. Aristoteles definiert: ö 5' ajiAtöc, eüßouAoc, ö
xofj apiaxou av6pa>7tip xcav TtpaKxcov axoxaaxiKÖc, Kaxa xöv Xoyiauov (»Der Wohlüberle-
gende schlechthin ist der der Kalkulation entsprechend das für den Menschen beste
praktische Gute Treffende«).31 Die aoipia hingegen theorisiert das Immer-Seiende -
worüber jede Überlegung müßig wäre - als solches und verwirklicht insofern eine Le-
bensweise (ßioc, BecopnxiKÖc,), die nicht zuletzt wegen ihrer vollkommenen Selbstgenüg-
samkeit (aüxapKeia) höher als die menschliche ist.32 Weil jedoch die auf das Gute zie-
lende sittliche Tugend der unabdingbaren politischen Lebensweise (ßioq jtoXtxiKoc,) ein
mit der rechten Vernunft und d. h. ein mit der ippövnaic, verbundener Habitus des
Wählens ist, hält Aristoteles fest: 8fjA.ov oüv [...] öxi oux oiöv xe ceyaSöv eivai Kvpicoc,ä-
veu ippovfjaecoc,, otioe ippöviuov aveu xfjc, fjGiKfjc, apexfjc, (»Es ist also klar [...], daß es
nicht möglich ist, gut im wirklichen Sinne zu sein ohne die Klugheit, noch klug ohne
die sittliche Tugend«).33 Dieses wechselseitige Verhältnis zwischen sittlicher Tugend
und der ippövnaic, ermöglicht, daß der Entschluß (npoaipeaic,) die richtigen Mittel zur
Erreichung des Ziels wählt, und zwar dadurch, daß er das Bedürftige, das Wie und das
Wann (Kai oü Sei Kai Mc, Kai öxe) des Handelns auf vernünftige Weise trifft.34
Eine irreführende Übersetzung von ippövnaic, im klassischen Latein mit >prudentia<
und im Deutschen mit >Klugheit< konstatiert Gadamer: Insofern diese Termini eher ei-
ne bloße Naturgabe als eine wirkliche Tugend bezeichneten, begünstigten sie die Fehl-
interpretation von ippövnaic, als einem Vermögen zur Wahl der Mittel zu einem belie-
bigen Ende. 35 Freilich behauptet Aristoteles: f| [... f|0i!cf|] apexf| xöv aKOJtöv Ttoiei
öpOöv, f| 5e ippövnaic, xa itpöc, xoüxov (»Die sittliche Tugend macht den Zweck richtig,
die Klugheit die Mittel dazu«).36 In der Tat ist die ippövnaic, für Aristoteles kein ethisch

28 Aristoteles, Eth. Nie. VI 9, 1142b31-33. Das ou (»von dem«) ist grammatikalisch zweideutig und sein
Referent umstritten: Es kann entweder t ö teXoc. (»das Ziel«) oder TÖ ouuipepov (»das Dienende«) be-
zeichnen; dazu vgl. Denis J. M. Bradley, Aquinas on the Twofold Human Good: Reason and Human
Happmess m Aqmnas's Moral Science. Washington, D. C. 1997, S. 144-145 (mit weiterer Literatur). Zur
Mitberücksichtigung des Ziels in der ippovrioic, vgl. Gigon, Phronesis und Sophia, S. 368-369, der die
Konsequenz der Aristotelischen Theorie befürwortet; Ebert, Phronesis, S. 182-184, der ihre Schwierig-
keiten hervorhebt; ferner Graeser, Die Philosophie der Antike 2, S. 247-250, 343-344, Anm. 108. Zu
dieser Problematik bei Thomas von Aquin vgl. Terence H. Irwin, The Scope of Deliberation: A Conflict
in Aquinas, in: Review of Metaphysics 44 (1990), S. 21—42, und Bradley, Aquinas on the Twofold
man Good, S. 141-154, 199-256, bes. S. 153-154, Anm. 72, und 245-246, Anm. 251 (gegen Irwin).
29 Vgl. Aristoteles, Eth. Nie. VI 9, 1142b2.
30 Vgl. Aristoteles, Eth. Nie. VI 9, 1142b2-9.
31 Aristoteles, Eth. Nie. VI 7,1141bl2-14.
32 Vgl. Aristoteles, Eth. Nie. VI 9, 1142bl6; VI 9, 1142b21-22; X 7, 1177b26-27.
33 Aristoteles, Eth. Nie., VI 13, 1144b27-28; 1144b30-32.
34 Aristoteles, Eth. Nie. VI 9, 1142b28.
35 Vgl. Gadamer, Zusammenfassung, S. 19; ders., Wahrheit und Methode, S. 326-327, Anm. 259. Zur
Begriffskonstellation <pp6vn,o-ic/prudentia/Klugheit vgl. Franz Wiedmann und Gerhard Biller, Klug-
heit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer,
Bd. 4. Basel 1976, Sp. 857-863. Zugunsten der Übersetzung von ippövncuc, mit >prudentia< bzw.
« vgl. Ebert, Phronesis, S. 171-173.
36 Aristoteles, Eth. Nie. VI 12,1144a7-10.
120 ORRIN F. SUMMERELL

indifferentes, cleveres Situationsverständnis: Sie ist nicht 5eivöxr|<;, selbst wenn sie nicht
ohne diese besteht37; denn sie ist immer schon auf das gute Lebensziel gerichtet, und
über den Weg, dieses zu erlangen, weiß sie den Menschen zu belehren. Dennoch lassen
sich >prudentia< ebenso wie >Klugheit< dementsprechend bestimmen. Thomas definiert
die prudentia als die recta ratio agibilium, indem er ihre Mittelstellung zwischen sittli-
cher und dianoetischer Tugend hervorhebt: Sie sei ein habitus electivus, der sich am
richtigen Ziel orientiere, und zwar der Materie nach - denn ihr Tätigkeitsfeld sei das
Handeln -, eine virtus intellectualis, die angemessen rate, urteile und befehle, und zwar
dem Wesen nach - denn dies geschehe nicht ohne die Vernunft -; die prudentia habe so-
gar ihren Namen von ihrer vortrefflichsten Komponente erhalten, der providentia,
dem Vermögen, sich mit Vorausschau auf rechte Weise auf das Ziel - das Gute - hinzu-
ordnen. 38 Ähnliches hat schon Aristoteles herausgestellt: »Darum nennt man einige
Tiere klug [ippöviuocj, nämlich alle diejenigen, die in bezug auf ihr Leben ein vorausse-
hendes Vermögen [öuvauic, 7tpovonxiKfj] aufweisen«.39 Dieser Hinweis auf die lebens-
wichtige Vorausschau unterstreicht zudem die Gemeinschaft des Menschen, insofern er
nach dem gelingenden Leben strebt, mit dem Tier - dies im Gegensatz zu seinem her-
ausragenden Vermögen, Übermenschliches zeitweilig in der Gewpia zu erleben.40

<J>pövr|aic,: Das ist - so Heidegger - »die Umsicht (Einsicht)«, das ist »die umsichtige
Einsicht«, also nichts anderes als »das in Bewegung gesetzte Gewissen, das eine Hand-
lung durchsichtig macht.«41 Durch diese »extreme«42 Interpretation will Heidegger in
seiner Marburger Vorlesung vom Wintersemester 1924/25 über Piatons Sophistes -
einen Text, zu dem er Zugang am Leitfaden des sechsten Buches der Nikomachischen

37 Vgl. Aristoteles, Eth. Nie. VI 12,1144a28-29.


38 Vgl. Thomas de Aquino, Summa theologiae I-II, quaest. 58, art. 3, obiect. 1; quaest. 58, art. 3, ad 1;
quaest. 58, art. 4; II—II, quaest. 49, art. 6 ad 1. Die anderen Komponenten der prudentia: memoria, in-
tellectus, docilitas, solertia, ratio, cautio, circumspectio.
39 Aristoteles, Eth. Nie. VI 7, 1141a26-28.
40 Vgl. Gigon, Phronesis und Sophia, S. 362; ferner Ebert, Phronesis, S. 172.
41 Martin Heidegger, Piaton: Sophistes (Gesamtausgabe, Bd. 19). Hrsg. v. Ingeborg Schüßler. Frankfurt
a. M. 1992, S. 22, 47, 56. Zu Heideggers Interpretation des sechsten Buches der Nikomachischen
Ethik im Zusammenhang dieser Vorlesung vgl. Markus J. Brach, Heidegger-Platon. Vom Neukantia-
nismus zur existentiellen Interpretation des Sophistes. Würzburg 1996, S. 283-326; Kisiel, The Genesis
of Heidegger's Being and Time, S. 302-306. Kisiel, ebd., S. 306, hebt die »startling equation of ippovtv
euc, with conscience« hervor, um danach zu konstatieren: »We must in fact wait until B[eing and]
T[ime] for more on the conflictual character of conscience which divides (Kpiveiv) as an either-or and
articulates the call of care«. Vgl. ferner Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu
Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation) (1922). Hrsg. v. Hans-Ulrich Lessing. In:
Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 6 (1989), S. 255, 259:
Hier gibt Heidegger ippövn.aic, mit »fürsorgende Umsicht« wieder; sie ist »die Leben in seinem Sein
mitzeitigende Umgangserhellung«; ders., Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie (1924)
(Nachschrift H. Marcuse), S. 76: »Sehen [...] als die Umsicht im Sich-entschliessen, In-der-Sorge-
sein-um-das-Dasein hat die Weise der <pp6vn,aic,«; dazu Kisiel, The Genesis of Heidegger's Being and
Time, S. 265-268; Georg Imdahl, Das Leben verstehen. Heideggers formal anzeigende Hermeneutik
in den frühen Freiburger Vorlesungen (1919 bis 1923). Würzburg 1997, S. 186-193.
42 Brach, Heidegger - Piaton, S. 312; vgl. Luckner, Martin Heidegger: »Sein und Zeit«, S. 123, Anm. 48.
DIANOETISCHE TUGEND IN DER EXISTENZIALEN ANALYTIK? 121

Ethik sucht43 - die von Aristoteles folgendermaßen kryptisch formulierte Eigenart der
ippövnaic, erklären: äXka \ix\v oü8' etjic, uexa A.Ö701) uövov- cmueiov 5' öxi A.fj9n, uev xfjc,
xoiauxT|<; e^eioc, eaxi, ippovf|aeioc, 8' OÜK eaxiv (»Aber sicher ist sie auch nicht allein ein
vernunftgemäßer Habitus; ein Zeichen dafür ist, daß Vergessen-Werden einem solchen
Habitus zukommt, der Klugheit jedoch nicht«).44 Heidegger thematisiert Aristoteles'
Darstellung der dianoetischen Tugenden insofern, als sie die Weisen darstellen, in de-
nen das Dasein entdeckend ist, oder, mit Aristoteles gesagt: oic, aX.n0eüei f| yuxfj.45 Des
innovativen Charakters seiner Auslegung der ippövnaic, ist sich Heidegger bewußt; er
hält sie für sachgemäß: »Voraussetzung der Interpretation ist also, daß das Dasein im
Thema ist, und wenn die Interpretation in Aristoteles etwas .hineindeutet', so geht es
ihr darum, wieder zu erlangen und zu verstehen, was eigentlich bei ihm vor sich
geht.«46 Nun betont er: Die ippövriaic, ist keine e!;ic, uexa Acr/ou uövov - sie ist kein Ha-
bitus der Vernunft »lediglich um des Aufdeckens willen« -, sondern sie ist »eine ecjic,
des aÄ.r|9ei>eiv, die npaKxiicfi ist«.47 Die ippövnaic, hat ihre Einsicht in das Tun umzuset-
zen; sie vollendet sich in der auszuführenden Handlung. Ihr Aufdecken der Wahrheit
»vollzieht sich im ständigen Hinblick auf die Situation des Handelnden, eines jetzt hier
sich Entscheidens.«48 Darum kann die ippövnaic, nicht vergessen werden, weil sie »je-
desmal neu« ist und sein muß: Die Umstände der Situation, in der es zu handeln gilt
und die durch die ippövnaic, durchsichtig gemacht werden sollte, und zwar aufgrund
der Einsicht in sich selbst, sind immer wieder andere.49 Sodann ist für Heidegger das ei-
gentümliche Nicht-vergessen-werden-Können der tppövnaic, - dies im Unterschied
zum Inhalt der sonstigen Wissensinstanzen - das primäre Indiz für ihre Auslegung als
das Gewissen: »Wohl aber kann man das, was das Gewissen aufdeckt, durch f|8ovf| und
Xx>m\, durch Leidenschaften, verstellen und unwirksam werden lassen. Das Gewissen
meldet sich immer wieder.«50
Kurz nach dem Erscheinen von Sein und Zeit hat Gadamer in einer eigenen Arbeit
über die praktische Philosophie die untilgbare Erinnerlichkeit der ippövnaic, dargelegt:
»Die Haltung der überlegenden Bekümmerung um das eigene Sein kann man nicht ver-
gessen, sondern lebt ständig in dieser Sorge. Woran man sich eigentlich hält, das kann

43 Vgl. Heidegger, Piaton: Sophistes, S. 11.


44 Aristoteles, Eth. Nie. VI 5,1140b28-30.
45 Aristoteles, Eth. Nie. VI 3, 1139b 15; vgl. Heidegger, Piaton: Sophistes, S. 21-23.
46 Heidegger, Piaton: Sophistes, S. 62.
47 Heidegger, Piaton: Sophistes, S. 55; dazu vgl. Brach, Heidegger - Piaton, S. 312: Die (pp6vn,cuc, kann
nicht vergessen werden; denn sie ist »ein sich vollziehendes Verhalten sich selbst gegenüber, äpptn,
unter der Maßgabe des EÜ (t/jv), das in einem »Vorgriff« (Ttpocdpeaic,) ergriffen sein muß, u m dieses
Selbstverhältnis gegen Tendenzen des Verfallens an verfehltes Verhalten zu schützen«; Kisiel, The
Genesis of Heidegger's Being and Time, S. 306: Die E^IC, der (ppovnaic, »is what it is by its being em-
bedded in npötc^i; [the irrevocable facticity of conscience, as a >voice< beyond i^öyoi;, as a deep struc-
ture identical to Dasein itself, which is praxis]« (Einklammerung im Original); ähnlich Volpi, Dasein
comme praxis, S. 31: »si eile est plus qu'une hexis et si, donc, eile ne peut pas etre oubliee, eile doit
etre un caractere de l'äme meme: il faut alors l'ontologiser. Mais l'ontologisation de la phronesis
donne comme resultat le Gewissen«.
48 Heidegger, Piaton. Sophistes, S. 139.
49 Heidegger, Piaton: Sophistes, S. 56.
50 Heidegger, Piaton: Sophistes, S. 56, mit Bezug auf Aristoteles, Eth. Nie. VI 5, 1140bl2-16.
122 ORRIN F. SUMMERELL

man nicht vergessen.«51 Gadamer vermittelt Aristotelische Tugendlehre und Heideg-


gersche Daseinsanalytik, indem er die ippövnaic, als das habituelle Sorgen um das eigene
Sein schildert, das das Dasein nicht vergessen, sondern nur ignorieren kann, indem es
sich von sich selbst abwendet, was ihm aber nur bedingt gelingen kann: »Wenn man die
ippövnaic, nicht mehr hat, so ist man nicht in einer Vergessenheit seiner Selbst, man hält
sich auch dann noch an etwas, als das, worauf es ankommt, und sorgt sich um sein Sein.
Aber die Richtung dieser Sorge ist verkehrt geworden.«52 Das, worauf es ankommt,
kann erst ergriffen werden, wenn man wieder zu seinem eigenen Sein zurückkehrt -
ebendies ist für Heidegger die Umkehrung, die das Gewissen zu veranlassen vermag.
Die Grundlage des existenzialen Gewissensbegriffs kann Heidegger bei Aristoteles fin-
den, weil er unter ippövnaic, ebendas »Gestelltsein zum Seienden als je eigenem Dasein«
versteht, das »Wahrsein, das sich auf das Dasein selbst bezieht.«53 Die ippövnaic, ent-
deckt nichts anderes als das Dasein selbst; denn sie ist die »Umsicht sich selbst gegenü-
ber, die Einsicht in sich selbst«, die das Dasein nicht im Hinblick allein auf einen Werk-
zusammenhang, sondern »für es selbst in der Eigentlichkeit seines Seins« aufdeckt; sie
muß jedoch »in einer Ttpoalpeaic, ergriffen werden«?* Es gilt also für Heidegger: »Die
Ausarbeitung der konkreten Lage« durch die ippövriaic, »zielt darauf, die rechte
schlossenheit als Durchsichtigkeit der Handlung verfügbar zu machen«.55
Das Gewissen ruft das Dasein auf aus seinem Verkehrt-Sein zur Sorge um sein
Selbst-Sein als solches. Der Gewissensruf - so Heidegger nun in Sein und Zeit - »sagt
nichts aus, gibt keine Auskunft über Weltereignisse, hat nichts zu erzählen«; er ruft
»das Selbst des Daseins auf aus der Verlorenheit in das Man« zu seinem eigensten Sein-
Können und bezeugt damit das eigentliche Ganzsein des Daseins - dies freilich »im
Modus des Schweigens« .56 Obwohl der Ruf vom Dasein selbst ausgeht, wird er auch
»gerade nicht und nie von uns selbst weder geplant, noch vorbereitet, noch willentlich
vollzogen.«57 Das Gewissen kann weder vergessen noch vorsätzlich beansprucht wer-
den, sondern es zeitigt sich gemäß seiner eigenen Dynamik und widerstrebt somit jegli-
cher Verkehrung. Wenn es ruft, dann ruft sich das Dasein aus seinem Verfallen-Sein zu
seinem eigensten Sein-Können, und zwar »zum eigensten Schuldigseinkönnen«.58 Dar-
in liegt für Heidegger der Grund »für das »moralisch« Gute und Böse, das heißt für die

51 Hans-Georg Gadamer, Praktisches Wissen (1930). In: Gesammelte Werke, Bd. 5. Tübingen 1985,
S. 243.
52 Gadamer, Praktisches Wissen, S. 243.
53 Heidegger, Piaton: Sophistes, S. 164, 166. Vgl. Kontos, L'ethique anstotelicienne, S. 140: Die ippövriaic,
sei für Heidegger eine »structure originaire avant la scission entre l'authentique et l'inauthentique«.
54 Heidegger, Piaton: Sophistes, S. 51-52.
55 Heidegger, Piaton: Sophistes, S. 150.
56 Heidegger, Sein und Zeit, S. 267, 273-274; vgl. 280. Zum Gewissensbegriff in Sein und Zeit vgl. Luck-
ner, Martin Heidegger: »Sem und Zeit«, S. 114—124; Gethmann, Heideggers Konzeption des Handelns,
S. 160-165; Robert P. Scharlemann, The Reason of Following. Chnstology and the Ecstatic I. Chica-
go/London 1991, S. 14-20; Stefan Hübsch, Philosophie und Gewissen. Beiträge zur Rehabilitierung des
philosophischen Gewissensbegriffs. Göttingen 1995, S. 156-162; Frank Schalow, The Topography
of Heideggers's Concept of Conscience. In: American Catholic Philosophical Quarterly 69 (1995),
S. 255-273.
57 Heidegger, Sein und Zeit, S. 275.
58 Heidegger, Sem und Zeit, S. 277, 289.
DIANOETISCHE TUGEND IN DER EXISTENZIALEN ANALYTIK? 123

Moralität überhaupt und deren faktisch mögliche Ausformungen«.59 Schuldig ist das
Dasein, indem es nichtig ist: Es entspringt nicht erst aus eigenem Entwurf und entwirft
sich ständig auf die eine und nicht auf die andere Möglichkeit.60 Den Appell des Gewis-
sens verstehen, heißt »Gewissen-haben-wollen«, was Heidegger als »Entschlossenheit«
bezeichnet, die Bereitschaft, sich für seine Nichtigkeit zu verantworten.61 Ihre drei Mo-
mente zeigen die dreifache existenziale Struktur des Daseins (Geworfenheit, Verstehen,
Rede) auf: Sie ist »das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste
Schuldigsein«, das sich aber erst durch »das erschließende Entwerfen und Bestimmen
der jeweiligen faktischen Möglichkeit« vollzieht.62 Im Entschluß entwirft und bestimmt
sich die existenziell unbestimmte Entschlossenheit, insofern sich das Dasein auf den
Gewissensruf konkret einläßt.63 Als Entschlossenes weiß das Dasein nicht nur, worauf
es ankommt, es führt dieses Wissen in der eigenen Existenz aus, weil diese ihm nun of-
fen steht. Es handelt als jemeiniges Dasein, indem es die jeweils bestimmten Möglich-
keiten seiner eigenen Situation aus sich selbst heraus ergreift.
Heidegger behauptet also: »Als entschlossenes handelt das Dasein schon«; denn
Sich-Entschließen - das Handeln aus sich selbst heraus - ist die primäre Tätigkeit, de-
ren das Dasein fähig ist, gleichwohl aber ist es kein »besonderes Verhalten des prakti-
schen Vermögens gegenüber einem theoretischen«: Die Entschlossenheit ist nach Hei-
degger »ursprünglich und ganz«.64 Dem Einwand, daß das Gewissen »je relativ auf eine
bestimmte vollzogene oder gewollte Tat« spreche, in seiner existenzialen Bestimmung
aber ein solcher »>positiver< Gehalt im Gerufenen« durch »Angabe verfügbarer und be-
rechenbarer sicherer Möglichkeiten des >Handelns<« vermißt werde, begegnet Heideg-
ger mit dem Grundsatz: »Dergleichen »praktische« Anweisungen gibt der Gewissensruf
nicht, einzig deshalb, weil er das Dasein zur Existenz, zum eigensten Selbstseinkönnen,
aufruft.«65 Weder informiert der Gewissensruf, noch verurteilt er, sondern er appelliert
an das Dasein, für sich selbst als ganzes zu sorgen.66 Dennoch beharrt Heidegger dar-
auf, daß erst das Gewissen die konkrete Situation zugänglich und das Dasein hand-
lungsfähig macht: »Den Ruf eigentlich hören bedeutet, sich in das faktische Handeln
bringen.« 67 Das Dasein kann eigentlich - als das Dasein - nur handeln, indem es sich
jeweils entschlossen hat, die Verantwortlichkeit für sich selbst zu übernehmen. Es han-
delt durch den Entschluß, von den faktischen Möglichkeiten der gegebenen Umstän-
den eigenständig Gebrauch zu machen.
Franco Volpi faßt zusammen: Die »ontologisation de la ippövnaic,«, ihre Übersetzung
aus der Tugendlehre in die Daseinsanalytik ergibt das Existenzial des Gewissens, die

59 Heidegger, Sem und Zeit, S. 286.


60 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 284-285.
61 Heidegger, Sem und Zeit, S. 288.
62 Vgl Heidegger, Sem und Zeit, S. 296-298.
63 Vgl. Heidegger, Sem und Zeit, S. 298-299.
64 Heidegger, Sem und Zeit, S. 300; vgl. Hübsch, Philosophie und Gewissen, S. 160: Die »Entschlossen-
heit, in der sich dem Dasein die aktuelle Situation seiner Existenz erschließt, [ist] schon das eigentli-
che Handeln.«
65 Heidegger, Sem und Zeit, S. 290, 294.
66 Vgl. Gethmann, Heideggers Konzeption des Handelns, S. 162; ferner Scharlemann, The Reason of
Following,S. 17-18.
67 Heidegger, Sem und Zeit, S. 294.
124 ORRIN F. SUMMERELL

Ontologisierung ihrer Bestimmung als eines aüxcp el8ttvai wiederum das Existenzial der
Jemeinigkeit, die Ontologisierung des oü e'veKa der 7tpa£jic, das Worumwillen des Da-
seins, die der 7tpoaipeaic, die Entschlossenheit - letzteres jedoch mit dem Unterschied,
daß die Jtpoaipeaic, »se situe, comme un moment particulier, ä l'interieur de la theorie
aristotelicienne de Pagir, tandis que ['Entschlossenheit est un caractere de Petre du
Dasein«.6,8 Ermöglicht aber nicht gerade der Handlungscharakter des Seins die Tugend?

«-

Dazu sei abschließend ein kurzer Blick auf einige Differenzierungen geworfen, die
zwischen der dianoetischen Tugend der ippövriaic; und dem Existenzial des Gewissens
vorzunehmen sind.
Schon aus strukturellen Gründen entspricht die ippövnaic, dem existenzialen Gewis-
sen nur teilweise - dies trotz aller Plausibilität69 ihrer Identifikation. Gegen die These
ihrer Kongruenz bemerkt Markus Brach: Das von Heidegger als »Gewissen« benannte
»sich zeitigende Selbstverhältnis« sei » - so wohl nicht von Aristoteles her gedacht -
ein wesentlich vorreflexives und vortheoretisches«.70 Das Gewissen definiert Heideg-
ger als »eine zum Sein des Daseins gehörende Bezeugung, in der es dieses selbst vor
sein eigenstes Seinkönnen ruft«71. Allerdings hat diese Bezeugung einen vorprädikati-
ven Charakter. Im Gegensatz dazu bestimmt Aristoteles die ippövnaic, als ein suchendes
und kalkulierendes Denkvermögen: f| uev yäp ippövnaic, ercixaKXiKfj toxiv- xi yap Sei
itpctxxeiv fj ufj, xö xfeAoc, atixfjqtiaxiv. (»Die Klugheit ist befehlend; denn ihr Ziel ist, was
zu tun oder zu lassen ist.«)72 Die ippövnaic, bezeugt ebensowenig, wie das Gewissen
sucht oder kalkuliert: Dieses appelliert im Modus des Schweigens, jene befiehlt auf-
grund syllogistischer Überlegung. Es dürfen sich ferner die Momente der Entschlos-
senheit als Anrufverstehen - die Verschwiegenheit, die Angstbereitschaft und das Sich-
entwerfen auf das eigenste Schuldigsein - auf die Ttpoaipeaic, als Vollzugsart der ippövri-
aic, übertragen lassen, gleichwohl aber sind sie für diese nicht konstitutiv. Zudem ist
Heideggers Konzeption des Gewissens auf der ontologischen Ebene der Bedingung
des eigentlichen Handelns anzusiedeln, von der her es die ontische Ebene einzelner
Handlungen allererst zugänglich macht, an der sich jedoch die ippövnaic, grundsätzlich

68 Volpi, Dasein comme praxis, S. 30-32; vgl. Taminiaux, üoiricicet üpä^ig, S. 118-119; Kisiel, The Ge-
nesis of Heidegger's Being and Time, S. 537, Anm. 15; Kontos, L'ethique aristotelicienne, S. 153-154.
Mit Verweis auf Aristoteles, Eth. Nie. III 1, 1110al3-14: TÖ SE tfkoc, Tfjq jtpa^Eioc KOtta töv Koupöv
eativ, konstatiert Volpi, Dasein comme praxis, S. 31: »Et tout comme chez Aristote la phronesis lmpli-
que toujours la connaissance du kairos de meme le Gewissen, chez Heidegger, est toujours rapporte ä
{'Augenblick«. Pöggeler, Metaphysik als Problem, S. 371, bemerkt jedoch zurecht: »Heidegger be-
hauptet sogar gelegentlich, Aristoteles habe im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik den Kairos
philosophisch entdeckt, obwohl das Wort gerade dort nicht vorkommt.«
69 Imdahl, Das Leben verstehen, S. 189, findet die Deutung der ippövriaic, als Gewissen überzeugend, in-
sofern sich der Mensch »so in die Entscheidung gestellt« sieht, daß er »augenblicklich und unaus-
weichlich zum Handeln aufgerufen« ist. Auch Brogan, Heidegger and Anstotle, S. 137, sieht in der
ippövriaic, die »self-disclosure« einer »fundamentally non-relational potentiality for being as the hu-
man being's way of being wholly itself«.
70 Brach, Heidegger-Piaton, S. 312-313.
71 Heidegger, Sem und Zeit, S. 288; vgl. S. 268.
72 Aristoteles, Eth. Nie. VI 10, 1143a8-9.
DIANOETISCHE TUGEND IN DER EXISTEN7.IALEN ANALYTIK? 125

betätigt, indem sie befiehlt, was zu tun oder zu lassen ist. In bezug auf Heideggers Re-
zeption und Transformation der praktischen Philosophie des Aristoteles stellt Volpi so-
mit fest: »Heidegger interprete les determinations aristoteliciennes de la praxis, de la
poiesis et de la theoria comme si elles n'etaint que des modalites d'etre, en excluant ri-
goureusement, donc, de leur comprehension, toute signification ontique«; sein prinzi-
pielles Interesse liege bei der »puissance ontologique de ces concepts«, nicht bei den
»praxeis, poieseis et theortai particulieres«.73 Die ippövnaic, legt das jeweilige Handeln
im Hinblick auf das ayaGöv fest, indem sie die geeigneten Mittel erwägt, dieses zu errei-
chen; das Gewissen bezieht sich jedoch auf das Dasein als solches vor jeder faktischen
Handlung, zu der sich das Dasein existenziell aus sich selbst heraus entschließt. Letzt-
lich führt Heidegger die Suche nach dem gelingenden Leben zurück in die Frage nach
dem Ganzsein des Daseins und löst insofern die Ethik in der Ontologie auf. In dieser
Hinsicht kritisiert Brach: Aristoteles definiere die ippövriaic; »in einem teleologischen
Kontext. Das eü ^fjv ist das Ziel der »vernünftigen Überlegung« auf das eigene Handeln
hin«; dahingegen werde bei Heidegger das aya9öv [...] gleichsam neutralisiert, auf daß
es als solches nicht mehr in den Blick kommen kann.«74 Zwar betont Heidegger: Die
»Umsicht, die Sicht der ippövriaic; [...], die Vorwegnahme des ayaBöv, als Vollzugsart
des Aufdeckens ist nur möglich [...] in einem ccyaSöc, selbst«; das «dyafjöv ist als ayaOöv
des Daseins des Menschen, als eü8aiuovia, [...] dasjenige, worin das Dasein des Men-
schen seine Vollendung erreicht«. 75 Wenn aber im Zusammenhang mit der Frage nach
der dianoetischen Tugend in der existenzialen Analytik die Korrelation zwischen der
Idee des Seins und der des Guten 76 mit einem Fragezeichen versehen wird, muß auch
zur Entscheidung gestellt werden, inwiefern das Gute für uns, zu dem die ippövnaic,
den richtigen Weg weist, mit dem eigenen Dasein, das das Gewissen bezeugt, gleichzu-
setzen sei. Damit soll kein einfacher Vorwurf des Solipsismus erhoben werden, sondern
die Sinnbestimmtheit des Lebens aus dem Guten - und nicht nur aus der Zeit77 - ange-
sprochen werden; denn wir leben unser zeitbedingtes Leben, nicht allein um des Le-
bens selbst und auch nicht nur um unserer selbst willen, sondern um gut zu leben.

73 Volpi, Dasein comme praxis, S. 15-16.


74 Brach, Heidegger - Piaton, S. 316-317; vgl. S. 309, Anm. 89, und 310, Anm. 96. Nach Brach, ebd.,
S. 317, und 317, Anm. 122, verbietet die Neutralisierung des dyaööv - dies aufgrund der von Heidegger
hervorgehobenen Zirkelstruktur von öpxri und xeXoc, in der ippövriaic, - gleichsam die »ethisch-morali-
sche« Auffassung des Gewissens »als einer inneren Instanz, die die Handlung auf einen für den Han-
delnden »jetzt« nicht verfügbaren moralischen Kontext hin wertet, ob er das will oder nicht«. Der Ein-
wand scheint weder dem Aristotelischen ">pövnaic,-Begriff, dem ein solcher Tribunalcharakter fehlt,
noch dem Heideggerschen Gewissensbegriff, der sich von einer solchen Auslegung ausdrücklich di-
stanziert, gerecht zu werden, weist dennoch auf das problematische Verhältnis zwischen dem ctvotöov
als »Maßgabe für die ippövriaic,« und dem »eigentlichen Dasein« hin (ebd., S. 317). Es ist jedoch gerade
ihre mögliche Nicht-Äquivalenz, die von Schalow, Heidegger's Concept of Conscience, S. 265, nicht
berücksichtigt wird, wenn er behauptet: »fundamental ontology so completely incorporates a regard
for ethos into its explication of Dasein's situatedness that Being and Time qualifies as a search for the
site of ethics«.
75 Heidegger, Piaton. Sophistes, S. 166, 136.
76 Vgl. in diesem Zusammenhang Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Aus-
gang von Leibmz (Gesamtausgabe, Bd. 26). Hrsg. v. Klaus Held. Frankfurt a.M. 19902, S. 237-238:
»Was wir vielmehr an der ISeoi toü ayotfloö sehen lernen müssen, ist der Charakter, den Plato und vor
allem Aristoteles als das oü E'VEKCI bezeichnen, das Umwillen, das worumwillen etwas ist bzw. nicht
ist, so bzw. anders i s t . . . Der Grundcharakter von Welt, wodurch die Ganzheit ihre spezifisch trans-
zendentale Organisationsform erhält, ist das Umwillen.«
77 Vgl. Heidegger, Sem und Zeit, S. 17-19, 151-152.
STEPHANE MOSES

Rosenzweig und Levinas: Jenseits des Krieges

Das 20. Jahrhundert hat, so scheint es, zuerst in dem Werk von Franz Rosenzweig und
dann in dem von Emmanuel Levinas ein radikal neues Verständnis von Ethik entstehen
sehen. Dieses taucht genau am Horizont der zwei großen historischen Katastrophen, die
das Jahrhundert geprägt haben, auf: zum einen der Katastrophe des Kriegs von
1914-1918, zum anderen der Katastrophe des zweiten Weltkriegs und inmitten desselben
der massiven Vernichtung der Juden durch Nazi-Deutschland. Die Menschen der Gene-
ration Rosenzweigs haben den ersten Weltkrieg als Zusammenbruch einer säkularen
Ordnung erlebt - einer Ordnung, in der die Stabilität der europäischen Zivilisation ge-
währleistet war, die jenseits von Kriegen und Revolutionen ein Minimum an politischem
Gleichgewicht zwischen den Nationen, einen Schein von bürgerlichem Frieden in der
Gesellschaft zu garantieren vermochte und in der der Mensch seinen natürlichen Platz in
der allgemeinen Weltharmonie einzunehmen schien. Das Denken Rosenzweigs ist aus
diesem Zusammenbruch heraus entstanden: Für ihn bedeuten die Schlachtfelder von
1914—1918 nicht nur das Ende einer vergangenen politischen Ordnung, sondern auch die
Trümmer einer gesamten Zivilisation, die sich seit den Griechen auf dem Glauben grün-
det, der Logos vermöge die umfassende Vernünftigkeit des Wirklichen ans Licht zu brin-
gen. Für Rosenzweig läßt sich die gesamte abendländische Philosophie-Tradition in der
Behauptung zusammenfassen, derzufolge die Welt intelligibel, letztlich für die Vernunft
transparent ist, und derzufolge der Mensch selbst seine Würde nur erlangt, wenn er ein
Teil dieser vernünftigen Ordnung ist. Für Rosenzweig sind es nun genau diese beiden
Annahmen, die der Krieg von 1914-1918 für immer widerrufen hat. Angesichts des sinn-
losen Blutbads, dem sich die europäischen Nationen ausliefern - genau jene, die das phi-
losophische Ideal einer vom Logos regierten Welt verkörpert hatten -, ist es nicht mehr
möglich zu behaupten, daß das Wirkliche vernünftig sei oder daß das ursprüngliche Cha-
os sich im Lichte der Vernunft notwendigerweise in einen intelligiblen Kosmos verwand-
le. Auf der anderen Seite wird das Individuum, das sich in einer von Vernunft geleiteten
Welt als autonomes Subjekt entfalten soll, in der vom Krieg errichteten mörderischen
Logik zu einem einfachen Gegenstand der Geschichte, zu einer vernachläßigbaren Men-
ge, zu einer Matrikelnummer ohne Gesicht, und wird gegen seinen Willen mit Millionen
anderer in den Wirbel der Schlachten geschickt.
Der Stern der Erlösung, zwischen 1916 und 1918 an der Balkanfront verfaßt und von
Juli 1918 bis Februar 1919 redigiert, beginnt damit, daß er eine Grenzerfahrung evo-
ziert: die des Angstschreis von dem Individuum, das sich vor einer außerordentlichen
Bedrohung des Lebens befindet. Dieser Schrei drückt die instinktive Revolte des Men-
schen vor der Gewalt aus, die ihm angetan wird - in diesem Falle ist es diejenige der
Geschichte -; gleichermaßen ist er Ausdruck sowohl der Bestätigung einer elementaren
Evidenz, nämlich derjenigen seiner irreduziblen Identität als Subjekt, als auch des
plötzlichen Zusammenbruchs aller philosophischen Konstruktionen, die ihn den
128 STEPHANE MOSES

Schrecken des Todes vergessen lassen sollten. In dem Moment, in dem das Individuum
- definiert als einfacher Teil eines Ganzen - von seinem Verschwinden bedroht wird,
erwacht das Subjekt zum vollen Bewußtsein seiner Einzigkeit. Durch diese paradoxe
Umkehrung offenbart das aufflackernde Bewußtsein von seiner Sterblichkeit dem
Menschen plötzlich die unwiderlegbare Wirklichkeit seiner Existenz als Person. Diese
Umkehrung stellt die ursprüngliche Erfahrung dar, aus der sich das Denken Rosen-
zweigs schöpft und ist zugleich auch die rhetorische Figur, die die Entfaltung seines Sy-
stems ständig trägt. Es ist vor allem diese Figur, die die Möglichkeit von Ethik einrich-
tet. Oder genauer gesagt: Jenseits einer Gewalt, die sogar die Idee von Ethik obsolet er-
scheinen läßt, geht aus dieser Figur die meta-ethische Dimension des Subjekts hervor.
Vierzig Jahre nach dem Erscheinen des Stern der Erlösung geht das Vorwort von
lität und Unendlichkeit, das gewissermaßen die allgemeine Thematik des Buches eröff-
nen soll, von einer Meditation über den Krieg aus. Dieser wird als erste Wirklichkeit
wahrgenommen, die den Anspruch der klassischen Philosophie, eine universale Moral
zu begründen, in Frage stellt. Die Huldigung, die Levinas dem Stern der Erlösung von
Franz Rosenzweig erweist, »zu häufig in diesem Buch gegenwärtig, um zitiert zu wer-
den,«1 bekräftigt den Eindruck, den eine vergleichende Lektüre der beiden Texte mit
sich bringt: Das Vorwort von Totalität und Unendlichkeit, ist - in einem neuen histori-
schen und philosophischen Kontext - als Wiederaufnahme der Einleitung zum Stern
der Erlösung konzipiert: Es führt diese weiter oder gibt ihr ein Echo, einer Variation
gleich, die auf ein ursprüngliches Thema antwortet.
Was diesen beiden Eröffnungen philosophisch gemeinsam ist, das ist die Kritik an
dem Begriff der Totalität: Diese Kritik, die für den Stern der Erlösung den Ausgangs-
punkt darstellt, wurde von Levinas in Form eines radikalen Überschreitens des Seins-
systems durch die Idee der Unendlichkeit reinterpretiert und reformuliert. Das Bemer-
kenswerteste aber an dieser Parallele zwischen dem Denken Levinas' und dem von Ro-
senzweig ist die Erfahrung des Krieges, die in beiden Fällen den Horizont für ein
grundlegendes Infragestellen der gesamten philosophischen Tradition des Abendlandes
bildet. Zwischen diesen beiden Erfahrungen von historischer Gewalt - des Krieges von
1914—1918 bei Rosenzweig und des Krieges von 1939-1945 bei Levinas - gibt es zahl-
reiche Analogien, aber auch etwas absolut Unterschiedliches. Der Zweite Weltkrieg,
der aus einer historischen Perspektive wie die Verlängerung des Ersten und in einem
weiten Sinne wie seine direkte Konsequenz erscheint, unterscheidet sich dennoch radi-
kal von ihm: Wenn es den Begriff des »totalen Krieges«, das heißt eines Krieges, der sich
nicht nur gegen gegnerische Armeen, sondern ebenso gegen die zivile Bevölkerung
richtet, seit 1914-1918 gibt, so findet eine systematische Verallgemeinerung dieses Be-
griffs doch erst 1939-1945 statt. Vor allem aber weicht der Konflikt zwischen Nationa-
lismen, der noch den Ersten Weltkrieg charakterisierte, nun den Auseinandersetzungen
zwischen Ideologien, oder genauer, im Falle des Nationalsozialismus, der planmäßig
gelenkten Ausübung einer Ideologie, deren Ziel es war, ganze Bevölkerungen, insbe-
sondere das jüdische Volk, auszulöschen. Aus diesem Blickwinkel heraus bringt der
Zweite Weltkrieg nicht nur, wie auch der Erste, den Tod von Millionen von Individuen,

1 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/München 1987, S. 31 (Totalite et Infini, La Haye


1961, XVI).
ROSENZWEIG UND LEVINAS 129

sondern führt gleichermaßen zur systematischen Vernichtung von Menschengruppen


als solchen, und in gewisser Weise zur Infragestellung der Idee der Menschlichkeit
selbst. Dieser Unterschied erklärt die Akzentverschiebung zwischen der Einleitung des
Sterns der Erlösung und dem Vorwort von Totalität und Unendlichkeit, und allgemei-
ner noch zwischen der Philosophie Rosenzweigs und derjenigen von Levinas': Behaup-
tet die erste auch noch angesichts der Kriegstyrannei die irreduzible Wirklichkeit des
Subjekts als Person, das heißt des Ich, so glaubt doch die zweite nicht mehr an die
Möglichkeit einer individuellen Dissidenz gegenüber einem Ausbreiten von histori-
scher Gewalt; ja, sie glaubt nicht einmal mehr an die Legitimität solcher Dissidenz. Für
Levinas zeugt das Aufbegehren des Subjekts gegen den Tod, von dem es bedroht wird,
noch von demselben vitalen Egoismus, der alles, was »im Sein bestehen bleiben« will,
beseelt und von dem der Krieg aller gegen alle herrührt. Im Gegensatz zum klassischen
Krieg, in dem die Revolte des Individuums von der Hoffnung getragen wird, es könne
vielleicht dem Tod entkommen, macht die vernichtende Verfolgung aus jedem Indivi-
duum ein mögliches Opfer, das früher oder später einem unentrinnbaren Tod überant-
wortet wird. In dieser absoluten Hilflosigkeit gibt es für das Ich kein Jenseits des Krie-
ges; und sein Angstschrei kann nicht, wie bei Rosenzweig, die Möglichkeit einer Meta-
Ethik eröffnen. Daher kann für Levinas die Begründung von Ethik nicht in der Sorge
um sich liegen, sondern einzig in der Sorge um den Anderen. Gewiß, in Totalität und
Unendlichkeit ist die Sorge um sich nicht abwesend; sie zeichnet sich hinter Begriffen
wie dem des Genusses, des Atheismus oder der Trennung ab, die wie bei Rosenzweig
auf die »Selbstheit des Ich«2 verweisen - auf diese erste Selbstheit, die gerade in der ab-
solut neuen Entdeckung der Transzendenz des anderen Menschen einen Bruch erleidet.
Noch ursprünglicher aber als dieser primordiale Besitz des Ich durch sich selber trägt
seine unvordenkliche Einsetzung durch die Idee des Unendlichen es weg - sozusagen
weg von aller Ewigkeit -, trägt es außerhalb seiner selbst und weist ihm seine Verant-
wortung für den anderen Menschen zu. Denn die Sicht von Ethik, so wie sie noch bei
Rosenzweig zu finden ist, das heißt als eine zweite Bewegung, als Bruch mit dem pri-
mordialen Egoismus, erscheint vor dem »geschichtlichen« Horizont der totalen Ver-
nichtung anachronistisch; anachronistisch im Vergleich zur Offenbarung derjenigen
Sorge um den Anderen, die grundlegender ist als die Sorge um sich selbst und von der
der letzte Schrei vieler Opfer noch gezeugt zu haben scheint.

II

Die den Text eröffnende »spekulative Geste« von Franz Rosenzweig in der Einleitung
zum Stern der Erlösung besteht in der Verbindung, die er zwischen dem Weltkrieg und
der Krise der abendländischen Ontologie zieht. Es handelt sich hier nicht um eine ein-
fache Analogie-Verbindung: Der Weltkrieg und die Krise der Philosophie des Seins
ähneln sich nicht, der eine ist nicht Abbild der anderen. Rosenzweig begreift weder die
Geschichte der Philosophie als Krieg zwischen verschiedenen Systemen noch den
Krieg zwischen Nationen als Auseinandersetzung zwischen entgegengesetzten meta-

2 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., S. 164-167 (TI, 90-92)


130 STEPHANE MOSES

physischen Idealen. Ihm zufolge gehorchen die Geschichte der politischen Ereignisse
und die Geschichte der Philosophie zwei unterschiedlichen Logiken, und die eine ver-
mag nicht, die andere zu veranschaulichen. Auch handelt es sich nicht um eine kausale
Verbindung: Rosenzweig glaubt weder, daß die radikale Infragestellung der Metaphy-
sik des Seins erst mit dem Weltkrieg begonnen habe, noch daß dieser - auch nicht indi-
rekt - aus philosophischen Gründen zustande kam. Jenseits der empirischen Differenz
zwischen Philosophischem und Politischem, zwischen Theorie und Praxis, zwischem
Wissen und Handeln, aber hat, nach Rosenzweig, die abendländische Metaphysik-Tra-
dition immer die ursprüngliche Identität von Vernünftigem und Wirklichem behauptet.
Das ist für ihn das große Geheimnis, das sich auf dem Grund des gesamten philosophi-
schen Abenteuers »von lonien bis Jena« verbirgt und für das es in gewisser Weise eine
Wiedererinnerung auf den Weg zu bringen gilt. Hinter der abendländischen Metaphy-
sikgeschichte gibt es ein implizites Axiom: das der Identität von Sein und Totalität. Ge-
nau dieses Ausgangsaxiom stellt das Vorwort des Stern der Erlösung in Frage: Muß die
Idee von Sein notwendigerweise mit der des Einen zusammenfallen? Zeigt uns die Er-
fahrung nicht im Gegenteil, daß Sein in der Vielheit und der Zerstreuung offenbar
wird? Und umgekehrt: Verweist die Idee von Totalität notwendigerweise auf die Idee
des Seins? Muß hier nicht vielmehr eine rein begriffliche Synthese von für sich einzig-
artigen Erfahrungen angenommen werden - die Versammlung einer Vielzahl von kon-
kreten Ereignissen unter eine gemeinsame Kategorie? Und weiter: Ist die Idee von Sein
als Einem wirklich konstitutiv für menschliche Erfahrung? Ist es nicht vielmehr eine
Kategorie der Utopie, die die Grenze oder den letzten Horizont all unserer Erfahrun-
gen markiert?
Alle diese Fragen kommen schließlich in einer ursprünglicheren Fragestellung zu-
sammen, die den Platz des Menschen - als je einzelne Person - inmitten der Idee der
Totalität betrifft. Diese Idee versucht tatsächlich, die Phänomene in ihrer Allgemeinheit
zu begreifen, sie zu verstehen, indem sie sie in ein Netz von vernünftigen Erklärungen
integriert, kurz, indem sie sie in einem intelligiblen System umfaßt. Auf diese Weise
werden die Eigentümlichkeit eines jeden Individuums, die Einzigartigkeit seines
Schicksals, die Einzigkeit der Ereignisse, die sein Leben ausmachen, wie Trugbilder des
subjektiven Bewußtseins wahrgenommen, hinter denen die vernünftige Erkenntnis das
Spiel verschiedener - biologischer, psychologischer, sozialer - Zwänge entziffern wird,
die es gegen seinen Willen determinieren.
Die Einzigkeit des Ich löst sich dann in der Totalität des Seins auf und das Subjekt
selbst, seiner täuschenden Einzigartigkeit beraubt, wird nur noch als einfaches Element
des es umfassenden Systems erscheinen. Diese Vision des Seins als absoluten Wissens,
als intelligibler Versammlung aller besonderen Phänomene, trägt, Rosenzweig zufolge,
die ganze Geschichte der abendländischen Philosophie, um ihren Höhepunkt im Deut-
schen Idealismus und ihren Triumph schließlich bei Hegel zu erleben. Im Hegeischen
System wird die Geschichte der Philosophie, sofern sie eine der Ontologie ist, vollen-
det und zugleich in der Identität des Seins, der Vernunft und der Totalität erfüllt. Daß
in einem solchen System die verschiedenen individuellen Standpunkte immer als Illu-
sionen des subjektiven Bewußtseins entlarvt werden, führt notwendigerweise zu einem
Konzeption von Moral, das diese als Unterwerfung der subjektiven Bestrebungen un-
ter eine allgemeinere Gesetzgebung versteht.
ROSENZWEIG UND LEVINAS 131

Sicherlich wird in dieser Unterwerfung der besonderen Interessen unter eine höhere
Ordnung die Willkür transzendiert und als vernünftige Freiheit verwirklicht. Doch die
Freiheit wird in dieser beständigen Bewegung, die zu immer mehr Allgemeinheit hin-
führt, unaufhörlich zugunsten des Gesetzes negiert, so daß schließlich auch das morali-
sche Subjekt in seiner Identifikation mit der Vernunft verwirklicht wird.
Es ist nun genau dieses Auslöschen des Ich in der Totalität des Logos, das sich für
Rosenzweig wie ein Wasserzeichen hinter der allgemeinen Mobilmachung der Indivi-
duen und ihrer Transformation zu anonymen, in der großen Kriegmaschine verlorenen
Elementen abzeichnet. Hier folgt er ganz dem Geist der Hegeischen Philosophie, für
die die Dialektik der Geschichte nichts anderes ist als die Dialektik der Vernunft selbst.
Die Lektüre jedoch, die Rosenzweig von dieser Identität vornimmt, ist genau das Ge-
genteil von derjenigen, die Hegel nahegelegt. Während für diesen der historische Pro-
zeß, durch den hindurch sich genau die Entfaltung des Absoluten manifestiert, die tiefe
Vernünftigkeit enthüllt, die den universalen Geist beseelt, geht Rosenzweig dagegen
von dem Chaos aus, in das Europa eingetaucht ist, um die Konzeption von Vernunft zu
verwerfen, von der diese namenlose Katastrophe zeugt. Indem er sich also auf das
Schauspiel der geschichtlichen Wirklichkeit selbst beruft, stürzt Rosenzweig genau den
Geist der Hegeischen Philosophie von Grund auf um, die für ihn, wie wir gesehen ha-
ben, die letzte Verkörperung der Geschichte der abendländischen Ontologie darstellt.
Um diese Umkehrung zu bewirken, genügt es Rosenzweig nun, sich auf die Aus-
führungen zu stützen, die Hegel in dem letzten Teil der Philosophie des Rechts dem
Krieg widmet. Sicherlich handelt es sich hier nicht um direkte Bezüge: Die Theorie des
Krieges, die in Hegel und der Staat in bezug auf Hegels Verständnis des Staates in Erin-
nerung gerufen wird, findet sich im Stern der Erlösung nicht ausdrücklich zitiert. Den-
noch ist sie immer - man könnte sagen als Negativ - hinter den Analysen über die Rol-
le des Krieges in der »messianischen Politik« der modernen Nationalismen präsent,
und besonders hinter der Überlegung zum Krieg und zum Tod, mit der das Buch be-
ginnt. Die Revolte des Individuums gegen die Gewalt, die der Krieg ihm auflegt - die-
ses zentrale Thema der Einleitung des Stern der Erlösung -, muß wie eine Antwort auf
die Hegeische Metaphysik des Krieges gelesen werden, wie sie bereits in einem Ab-
schnitt der Phänomenologie des Geistes dargelegt wird:

Um sie [die sich isolierenden Systeme] nicht in dieses Isolieren einwurzeln und festwerden,
hierdurch das Ganze auseinanderfallen und den Geist verfliegen zu lassen, hat die Regierung
sie in ihrem Innern von Zeit zu Zeit durch die Kriege zu erschüttern, ihre sich zurechtge-
machte Ordnung und Recht der Selbständigkeit dadurch zu verletzen und zu verwirren, den
Individuen aber, die sich darin vertiefend vom Ganzen losreißen und dem unverletzbaren
Fürsichsein und der Sicherheit der Person zustreben, in jener auferlegten Arbeit ihren
Herrn, den Tod, zu fühlen zu geben. Der Geist wehrt durch diese Auflösung des Bestehens
das Versinken in das natürliche Dasein aus dem sittlichen ab und erhält und erhebt das
Selbst seines Bewußtseins in die Freiheit und in seine Kraft.3

Für Hegel kann sich die ethische Berufung des Individuums nur innerhalb immer all-
gemeiner werdender Gemeinschaften, zu denen es gehört, realisieren: in der Familie, in

3 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke in 20 Bänden. Hrsg. von Moldenhauer und
Michel. Frankfurt 1970. Band 3, S. 335.
132 STEPHANE MosEs

der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat. Sobald es sich von diesem Zusammenhang
abschneidet - der es allein an das Universale anbindet - fällt das Individuum in eine
rein natürliche Existenz zurück, das heißt in seine egoistische und folglich grundlegend
a-moralische Partikularität. Aus diesem Blickwinkel ist der Krieg das äußerste Ereig-
nis, in dem das Individuum - gegen seinen Willen - an seine ethische Bestimmung erin-
nert wird.

[Die] an und für sich seiende Individualität [...] [hat] daher [...] die Pflicht, durch Aufopfe-
rung ihres Eigentums und Lebens [...] die Unabhängigkeit und Souveränität des Staates zu
erhalten.4

Die Verneinung des Ich inmitten der Totalität zerstört aber nach Rosenzweig die ei-
gentlichen Grundlagen wirklicher Ethik. Für ihn kann diese nur aus einer radikalen
Freiheit heraus entstehen; daraus, daß das Ich selbst sich ursprünglich selbst besitzt.
Die Hegeische Deduktion der Ethik, in der das Individuum sich zu immer mehr Allge-
meinheit erhebt, um schließlich in der Zurückweisung seiner selbst erfüllt zu werden,
bestimmt es von Anbeginn als einen einfachen Teil eines Ganzen, als ein aus eigener
Kraft nur unbedeutendes Element eines Systems - eines Systems, das alleine fähig ist,
ihm Bedeutung und Würde zu verleihen. Vor dem Horizont des Krieges allerdings,
bricht gerade diese spekulative Konstruktion zusammen: Die direkte Bedrohung durch
den Tod, der zufällig zuschlägt, führt ganz und gar nicht dazu, das Individuum über
sich selbst zu erheben, sondern wirft es auf die elementarste Behauptung seiner physi-
schen Existenz zurück. Im Verhältnis zu dieser grundlegenden Erfahrung, in der »die
fromme Lüge der Philosophie« ein für alle Male entlarvt wird, ist Ethik nur dann wie-
der möglich, wenn das Individuum seine personale Existenz einklagt, das heißt, wenn
es sich weigert, sich in ein System der Totalität verwickeln zu lassen. Wird bei Hegel die
ethische Bestimmung des Menschen nur im Krieg erfüllt, kann diese bei Rosenzweig
nur jenseits des Krieges offenbar werden.

III

In der begrifflichen Struktur vom Stern der Erlösung stellt das Auftauchen der Ethik,
das aus der Erfahrung der Todesangst, das heißt aus der Erfahrung eines Bruches mit
der Totalität heraus entsteht, nur einen - sicherlich primordialen - Schritt auf einem
noch wesentlicheren Weg dar. Dieser leitet das Ich [Moi] zur Entdeckung der zentralen
Erfahrung seiner Geschichte, der der Offenbarung. Die Offenbarung ihrerseits führt
das Ich an das Ziel seines Abenteuers, zu einem neuen Verständnis des Lebens. Der
zweifache Bezug der Offenbarung, auf der einen Seite zum Tod und auf der anderen
Seite zum Leben, erklärt die geheime Logik, die die geistige Wegstrecke des Ich kom-
mandiert.
In der Geschichte des Denkens von Rosenzweig ist der Begriff einer ursprünglichen
Subjektivität, die sich selbst außerhalb des Systems von Sein setzt, älter als Der Stern

4 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in 20 Bänden. Hrsg. von Moldenhauer
und Michel. Frankfurt/M. 1970. Band 7, S. 491 (§ 324).
ROSENZWEIG UND LEVINAS 133

der Erlösung, aber nicht als die Erfahrung des Krieges. An der Front von Mazedonien
hatte er im Oktober 1917 diese grundlegende Intuition. Einige Wochen später wird er
deren Implikationen in einem Brief an einen Freund entwickeln, in dem er in der Folge
die »Urzelle« vom Stern der Erlösung erblicken wird.
Die Behauptung der radikalen Exterritorialität des Menschen in Bezug zum Bereich
des Seins antwortet dort auf die Interpretation des Hegeischen Systems als Vollendung
der Philosophie, als unüberwindbaren Abschlusses der Geschichte der abendländi-
schen Metaphysik.

Nachdem sie [die Vernunft] also alles in sich aufgenommen hat und ihre Alleinexistenz pro-
klamiert hat, entdeckt plötzlich der Mensch, daß er, der doch längst philosophisch verdaute,
noch da ist [...] »Ich, der ich doch Staub und Asche bin«. Ich ganz gemeines Privatsubjekt,
Ich Vor- und Zuname, Ich Staub und Asche, Ich bin noch da. Und philosophiere, das heißt:
ich habe die Unverschämtheit, die Allherrscherin Philosophie zu philosophieren.5

Einige Zeilen weiter faßt Rosenzweig diese Intuition in der folgenden Formel zusam-
men: »Der Mensch hat zweierlei Verhältnisse zum Absoluten: eines wo es ihn hat, aber
noch ein zweites, wo er es hat.«6 In der Nachfolge von Kierkegaard und Nietzsche un-
terwandert Rosenzweig von Grund auf die Hegeische These von der Vollendung der
Philosophie: Wenn alles Philosophie geworden ist, muß es jedem möglich sein, auf sei-
ne eigene Verantwortung wieder mit dem Philosophieren zu beginnen. Es ist diese
Wiederaufnahme des Gedankens, daß das Subjekt sich selbst besitzt, die die Einleitung
vom Stern der Erlösung vor dem Hintergrund der historischen Katastrophe der eu-
ropäischen Zivilisation verkündet.
Diese primordiale Autonomie des Menschen als Subjekt seiner selbst bewertet Ro-
senzweig als »meta-ethisch«. Die meta-ethische Dimension führt genau zu der Wurzel
seiner Selbstheit, zu der ursprünglichen Selbstgenügsamkeit seiner Identität zurück.
Von diesem Standpunkt aus erweist die erste Grundlegung des Ich sich in gewisser
Weise als jenseits von Gut und Böse: Eine elementare Behauptung seiner selbst, die al-
ler Moral vorangeht und die Rosenzweig der Idee eines »intelligiblen Charakters« bei
Kant7 annähert - das heißt: der Idee einer »Anamnese des Freiheits-Begriffs« von der
aus »wir den nuovo mondo der Offenbarung allein entdecken können«.8 Diese meta-
ethische Wurzel des Ich selbst, die mittels einer ursprünglichen Form des Beharrens im
Sein bestimmt wird, wird in der Geschichte der abendländischen Kultur von dem Hel-
den in der griechischen Tragödie illustriert. Für Rosenzweig stellt dieser den Mensch in
seiner elementaren Trennung, in seiner reinen Selbstaffirmation dar. Eingeschlossen in
seine tragische Einsamkeit gelingt es ihm weder mit den anderen Menschen noch mit
den Göttern wirklich zu kommunizieren. In diesem Sinn verkörpert er den Kern des
unverletztlichen Narzißmus, auf dem die Identität eines jeden beruht. Diese Treue zu

5 Fr. Rosenzweig, Zweistromland. In: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Band 3.
Hrsg. von Grimm und Mayer. Dordrecht/Boston/Lancaster 1984, S. 126 ff.
6 Ebd., S. 127.
7 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Dialektik, 2. Buch, 2. Hauptstück, 9. Abschnitt,
III, »Erläuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit in Verbindung mit der allgemeinen Natur-
notwendigkeit«.
8 Fr. Rosenzweig, Zweistromland, a.a.O., S. 130.
134 STEPHANE MOSES

sich selbst, dieser Eigensinn des Ich, sich gegenüber allem und gegen alles zu behaup-
ten, ist bei Rosenzweig die notwendige Bedingung der inneren Revolution, die den
Menschen zu seiner wahren Menschlichkeit gelangen lassen wird.
Diese Revolution - die parallel ist zu der, die sich in der Geschichte der abendländi-
schen Zivilisation im Übergang vom Heidentum zum Judentum und dann zum Chri-
stentum verwirklicht - findet statt, sobald das meta-ethische Ich seinen elementaren
Narzißmus zerbricht, um sich der doppelten Realität des Nächsten und Gottes zu öff-
nen. Das Aus-sich-Herausgehen - das vor allem ein Bruch mit der Selbstheit, ein Ver-
zicht auf die Selbstgenügsamkeit des Ich zum Nutzen des Anderen ist - impliziert den-
noch zugleich nicht weniger einen Teil von Treue zu sich selbst - einer Treue, in der die
ursprüngliche Trennung des Ich aufrecht erhalten wird. Aus diesem Grund zeigt die
Umwandlung des tragischen Helden (dieser paradigmatischen Figur des meta-ethi-
schen Ich) in den Menschen der Offenbarung sich zugleich als radikale Bekehrung und
als Ausdruck einer tiefen Kontinuität. Im Denken von Rosenzweig bedeutet der Zu-
gang zu der Welt der Offenbarung keinerlei Verneinung der heidnischen Lebensgrund-
lagen: Diese sind weder vergessen noch geleugnet, sondern bleiben sogar unter ihrer
Auslöschung gegenwärtig und lesbar. In der Figur des Menschen der Offenbarung
bleibt etwas Heroisches und quasi-Nietzscheanisches: Im Namen einer radikalen Frei-
heit entscheidet er, auf seine Autonomie zu verzichten und sich dem Appell des Ande-
ren zu unterwerfen. Noch allgemeiner stützt sich für Rosenzweig die Ordnung der Of-
fenbarung auf die Ordnung des Profanen, beinhaltet das Ewige die Vollendung des
Zeitlichen: »Das Leben, und alles Leben, muß ganz zeitlich, ganz lebendig geworden
sein, ehe es ewiges Leben werden kann.« 9
In der Bekehrung des meta-ethischen Menschen zum Menschen der Offenbarung
wandelt das elementare Selbst sich in das Ich, ein substantiviertes Adverb in ein Subjekt
des Aussagens. Und tatsächlich handelt es sich hier nicht um eine Rückkehr zur tradi-
tionellen Moral, sondern vielmehr um die Entdeckung eines anderen Verständnisses
von Ethik, das auf den Strukturen des dialogischen Diskurses begründet wird. In der
Erfahrung der Offenbarung, so wie Rosenzweig sie in dem zentralen Kapitel des zwei-
ten Teils vom Stern der Erlösung darstellt, wird das, was Selbst war, Ich,10 Subjekt eines
an ein Du gerichteten Diskurses. Aber dieses Ich kommt nur in dem Maße zu sich
selbst, in dem es als Du von einem anderen Ich angesprochen wurde - noch vor dem er-
sten Sprechen, in einer Vorgängigkeit, die jedem Anfangen vorausgeht." Am Ursprung
dieses sprachlichen Modells der Offenbarung gibt es eine fundamentale Asymmetrie:
Der Erfahrung des Ich geht immer die des Du voran, oder besser noch: Das Ich kommt
nur in der Antwort auf den Anruf eines Du zu sich selbst. Diese immer schon gegebene
Vorgängigkeit des Anderen - »unvordenkliche« Vorgängigkeit wird Levinas sagen - ist
in das Gewebe der Erfahrung selbst eingeschrieben, denn schließlich sind in dem Mo-

9 Fr. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. In: Der Mensch und sein Werk, a.a.O., Band II, S. 320; vgl.
St. Moses, Systeme et Revelation, Paris 1982, S. 168-169; dt.: System und Offenbarung, München
1984, S. 124.
10 Vgl. Sigmund Freud: »Wo Es [im frz. »Soi« - die Wiedergabe des »Soi« als »Es« erschien uns aber im
Text irreführend, die Übers.] war, soll Ich werden«, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in
die Psychoanalyse, Kap. 31 (Studienausgabe, Frankfurt/M. 1982, Bd. I, S. 516).
11 St. Moses, Systeme et revelation, S. 106-121 (dt. Übersetzung an dieser Stelle gekürzt).
ROSENZWEIG UND LEVINAS 135

ment, in dem das Selbstbewußtsein erwacht, die Anderen, diejenigen, die das Ich umge-
ben, bereits da (seit jeher schon da). Aus diesem Grund wird das Ich bei Rosenzweig
als eine wesensmäßige Heteronomie bestimmt. Oder genauer noch: Der Moment der
Offenbarung, in dem das meta-ethische Ich sich in das Ich verwandelt, ist genau derje-
nige, in dem es seine Abhängigkeit in bezug auf eine Wirklichkeit entdeckt, die es von
Außen her zu sich selbst bringt. Diese Wirklichkeit, verstanden als diejenige Gottes in
der grundlegenden Erfahrung - der der Offenbarung - , nimmt sogleich die Form des
Anderen, des Nächsten, an, sobald das Ich sich in einem zweiten Moment seiner Kon-
stitution der Welt zuwendet. In Wahrheit sind die Unterordnungen des Ich im Verhält-
nis zu Gott und im Verhältnis zum Nächsten zwei Aspekte von ein und derselben
Struktur der Erfahrung. (Halten wir diesbezüglich fest, daß in der Analyse der Konsti-
tution der göttlichen Identität in der Bibel, die Rosenzweig in demselben Abschnitt
entwickelt, Gott sich erst dann als Ich bestimmt, nachdem der Mensch sich ihm ge-
genüber als Ich konstituiert hat.)12
Die fundamentale Asymmetrie in der Ich-Du-Beziehung, in der das Du immer dem
Ich vorausgeht, setzt sich, vom Standpunkt der Ethik aus betrachtet, in der Unterord-
nung des Subjekts unter das Gebot fort. Tatsächlich bedeutet das Gebot - unabhängig
von seinem spezifischen Inhalt - die Unterwerfung unter ein absolut Anderes, das die
Subjektivität von Außen her zu sich selbst bringt. Aus diesem Blickwinkel wird das
Gebot die Autonomie des Subjekts zerbrechen und, so scheint es, es seiner Freiheit be-
rauben. Aber zuallererst kann das Ich sich gegenüber einer radikalen Exterriorität nur
unter der Bedingung ansiedeln, daß es die Erinnerung oder die Spur einer ursprüngli-
chen Unabhängigkeit in sich trägt, die Erinnerung oder die Spur genau der Unabhän-
gigkeit des meta-ethischen Selbst. Die Beziehung des Ich zum Gebot ist absolut anders
als die Beziehung des autonomen Subjekts zum moralischen Gesetz in der Kantischen
Philosophie. In dem ersten Teil vom Stern der Erlösung hatte Rosenzweig die Moral
von Kant kritisiert (und noch weitergehend die Theorie der Moral im Deutschen Idea-
lismus), indem er zeigte, daß die Freiheit des Subjekts, die sich in der Unterwerfung
unter das moralische Gesetz erfüllen soll, in Wirklichkeit im System des Seins ver-
schwindet, das ihm einzig seine höchste Würde verleiht. Im Durchgang durch die Dia-
lektik der Autonomie und des Gesetzes ist es in Wirklichkeit das unpersonale Prinzip
der Vernunft, das von den personalen Subjekten, in einem Prozeß kontinuierlicher
Herausbildung, Besitz ergreift und sie ganz in sich aufgehen läßt. Paradoxerweise ist es
also die Beziehung des heteronomen Subjekts zu dem Gebot - das heißt zu einem
Wort, das von Außen kommt, zu einem Wort, das es dazu zwingt, Unverwünschtes zu
verwirklichen - , die es in seiner Identität und seiner Trennung aufrecht erhält. Die
Identität, die jedem ausdrücklichen Befehl vorangeht, und die nach jedem solchen Be-
fehl weiterhin fortbesteht, ist die Identität des meta-ethischen Selbst. Diese elementare
Wurzel des Ich, Zeichen einer primordialen Selbstheit, bleibt auch noch eben in dem
Moment lebendig, in dem sie in radikaler Weise in Frage gestellt wird.
Dieser Art ist die erste Intuition, auf der Der Stern der Erlösung basiert: Die authen-
tische Beziehung kann nur zwischen Seienden zustande kommen, die vorgängig ge-

12 Vgl. Fr. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, frz. S. 209; dazu St. Moses, Systeme et Revelation,
S. 114.
136 STEPHANE MOSES

trennt sind. Der Bewegung des Fortschreitens von Sinn, durch das im Idealismus das
Absolute sich in das Besondere ergießt, wird hier die Bewegung der Bekehrung entge-
gengesetzt, durch die das Selbst sich dem Appell des absolut Anderen öffnet.

IV

In gewissem Maße greift das Vorwort zu Totalität und Unendlichkeit die Meditation
über den Krieg an dem Punkt wieder auf, an dem Der Stern der Erlösung sie gelassen
hat. Das ganze begriffliche Gebäude von Der Stern der Erlösung war auf der Dissidenz
des Ich in bezug auf das System der Totalität aufgebaut, oder wenn man will: auf die
Möglichkeit einer Transzendenz der Person in Bezug zur Immanenz des Seins. Rosen-
zweig ging mit anderen Worten von dem Postulat aus, demzufolge ein Raum des Frie-
dens außerhalb einer Totalität, die gänzlich vom Krieg beherrscht wird, bestehen kann.
Dieser Raum des Friedens war der des Ich, das die Erfahrung der Offenbarung dem
Zugriff des Seins-Systems entrissen hat. Und dieser Raum war im kollektiven Maßstab
derjenige, in dem das jüdische Volk jenseits der Tragödien der Geschichte seine religiö-
se Erfahrung lebt. Die Frage, die Levinas am Anfang von Totalität und Unendlichkeit
stellt, ist nun die folgende: Ist die Dissidenz der Person gegenüber dem System der To-
talität wirklich möglich? Ist sie nicht (wie Hegel es dachte) eine Illusion des subjektiven
Bewußtseins? Muß man sich nicht insbesondere, wiederum wie Hegel, vor Augen
führen, daß der Krieg das notwendige Gesetz der Beziehungen zwischen Individuen,
und folglich zwischen Nationen und Staaten ist? Muß man dies nicht zugeben? Und
wenn es sich damit genau so verhält, erscheint die Moral nicht als die letzte Naivität?
Tatsächlich setzt der Krieg - dieser »Ausnahmezustand« par excellence - die Moral
zum Vorteil der unmittelbaren Verteidigung der Lebensinteressen von jedem aus. Aus
diesem Grund »gehört der Krieg«, so schreibt Levinas, »nicht nur - und zwar als die
größte - zu den Prüfungen, von denen die Moral lebt. Er macht die Moral lächerlich.«13
Nun ist der Krieg zweifelsohne der permanente Zustand der Menschheit. Infolgedes-
sen »ist man geneigt, in der Politik als der Kunst, den Krieg vorherzusehen und mit al-
len Mitteln zu gewinnen, den eigentlichen Vollzug der Vernunft zu sehen. Die Politik
ist der Moral so entgegengesetzt, wie die Philosophie der Naivität.«14 Wie Rosenzweig
bezieht Levinas sich hier auf die politische Philosophie von Hegel, aber dabei folgt er
ihrer Logik bis zum absoluten Ende: Die Entfaltung der Vernunft in der Geschichte
läßt nichts außerhalb ihrer; und der Anspruch des Ich, sich als eine Ausnahme neben
dem umfassenden System des Geistes zu behaupten, ist nichts als ein Trugbild des sub-
jektiven Bewußtseins. Indem er sich ins Innere der Hegeischen Logik stellt, enthüllt
Levinas die Haltung von Rosenzweig als eine Illusion, die durch den Narzismus des
Ich hervorgebracht wird. Es gilt nicht, so schreibt er, der Erfahrung der Totalität »den
Protest einer Person im Namen ihres persönlichen Egoismus' oder [sogar] ihres Heils
entgegen« zu setzen. »Eine solche Verkündigung der Moral, die vom bloßen Subjekti-
vismus des Ich ausgeht, wird widerlegt durch den Krieg, durch die Totalität, die er er-

13 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., S. 19 (TI, IX).


14 Ebd.
ROSENZWEIG UND LEVINAS 137

schließt, und durch die objektiven Notwendigkeiten.« 15 Mit anderen Worten: In dem
Moment, in dem Levinas Totalität und Unendlichkeit schreibt, das heißt fünfzehn Jah-
re nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hat die Gewißheit, daß niemand dem Ge-
triebe des Krieges entkommen kann und daß der Protest des Individuums sogleich im
Namen einer kollektiven Logik (die meistens das Aussehen der Rationalität annimmt)
widerlegt wird,... hat diese Gewißheit seit langem die individuelle Revolte, auf die Ro-
senzweig sich beruft, anachronistisch werden lassen.
Wie Rosenzweig bezieht Levinas sich auf Hegel, um den Krieg als ein metaphysi-
sches Ereignis zu interpretieren, in dem sich das zutiefst agonale Wesen des Wirklichen,
also der Vernunft selbst, offenbart. Während aber bei Rosenzweig die Verbindung zwi-
schen der Erfahrung des Kriegs und der Idee der Totalität implizit bleibt und dennoch
das ganze Gebäude von Der Stern der Erlösung trägt, sieht Levinas für seinen Teil im
Krieg - Krieg der Bewußtseine, Krieg der Staaten - genau das Wesen der Hegeischen
Philosophie, anders gesagt, genau die Wahrheit der Ontologie: »Das Sein zeigt sich
dem philosophischen Denken als Krieg ... der Krieg bewegt es als die eigentliche Macht
- oder die Wahrheit - des Wirklichen. ... Harte Wirklichkeit..., harte Lehre der Dinge:
... der Krieg zeigt sich als die reine Erfahrung des reinen Seins.«16 Aus dieser Perspekti-
ve heraus skizziert Levinas im Vorwort von Totalität und Unendlichkeit eine Phäno-
menologie des Krieges, in der die konkreten Erfahrungen, die ihn ausmachen, auf ihr
Wesen zurückgeführt werden.
So die Erfahrung der allgemeinen Mobilmachung, die als »die Mobilisierung der bis
dahin in ihrer Identität verankerten Seienden« beschrieben wird, als eine »Mobil-
machung der absoluten Seienden ... kraft eines objektiven Befehls, dem sie sich nicht
entziehen können«.17 Ebenso verweist die Aufhebung der individuellen Freiheit in einer
Gesellschaft, die sich im Krieg befindet, auf ein Bild des Seins als eines absoluten De-
terminismus, auf ein Bild von Freiheit als Kenntnis der Notwendigkeit, und vom Men-
schen als einem »Teil der Natur«: »Das Gesicht des Seins, das sich im Krieg zeigt, kon-
kretisiert sich im Begriff der Totalität. Dieser Begriff beherrscht die abendländische
Philosophie. In der Totalität reduzieren sich die Individuen darauf, Träger von Kräften
zu sein, die die Individuen ohne ihr Wissen steuern.« 18 Und tatsächlich verweist der
Begriff der Totalität bei Levinas auf ein Bild vom Menschen, in dem dieser wesentlich
als ein Objekt des Wissens betrachtet wird, als ein Phänomen, das sich beobachten läßt.
Diesem Bild entsprechend gilt es, dies Phänomen verständlich zu machen, indem man
seine scheinbare Einzigkeit auf das Endergebnis einer Verknüpfung von verschiedenen
Wirkungsketten reduziert. Tatsächlich kann der Mensch von zwei radikal entgegen-
gesetzten Standpunkten aus wahrgenommen werden: von einem quantitativen aus, be-
züglich dessen er als ein belangloses Element eines meßbaren Zusammenhangs vor-
kommt, als eine kaum wahrnehmbare Einheit einer Masse, die ihren eigenen Gesetzen
gehorcht; von einem qualitativen aus, bezüglich dessen er als eine einzigartige und un-
ersetzliche Person, außerhalb allen Kontexts, hervortritt. Allein dieser zweite Stand-

15 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., S. 26 (TI, XIV).


16 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., S. 19f. (TI, IX) - Übersetzung leicht verändert.
17 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., S. 20 (TI, IX) - Übersetzung leicht verändert.
18 Ebd.
138 STEPHANE MOSES

punkt erlaubt es, eine Ethik zu begründen, in dem Maße, in dem er den Blick auf die
Einzigkeit und die Einzigartigkeit jedes Menschen richtet, als eines Menschen, der zur
Freiheit und zur Verantwortung fähig ist.
Für Levinas wie für Rosenzweig ist die Frage also die folgende: Wie die Totalität ver-
lassen? Gibt es einen Ort jenseits des Seins, einen Ort, den das Denken identifizieren
und den der Diskurs beschreiben könnte, einen Ort der reinen Transzendenz, an dem
der Mensch außerhalb allen Kontexts Bedeutung haben könnte?
Wie wir gesehen haben, ist für Rosenzweig dieser Ort der Extraterritorialität das
Ich, das Subjekt, das in der Behauptung seiner irreduziblen Einzigartigkeit verankert
ist. Nun weist Levinas genau diesen Versuch, die Philosophie von der reinen Erfahrung
des Ich her wieder aufzunehmen, zurück. Seine inaugurale »spekulative Geste« besteht
jedoch nicht darin, die Haltung von Rosenzweig zu widerlegen, sondern sie im Gegen-
teil zu radikalisieren, und zwar indem er die Idee der Totalität bis ans Ende denkt.
Gemäß der Logik der Hegeischen Logik vermag die Idee der Totalität die Existenz des
vorgeblich autonomen Ich nicht innerhalb ihrer selbst zu belassen: Der existentielle
Protest des Ich und die verzweifelte Behauptung seines Leben-Wollens zeugen, all ih-
rer Vehemenz zum Trotz, letztlich von einem naiven Egoismus, von einem Verkennen
der notwendigen Gesetze, die das Wirkliche regieren.
Im Unterschied zu Rosenzweig scheint Levinas mit Hegel in dem Gedanken übe-
reinzustimmen, daß die Universalität der Vernunft den Standpunkt des individuellen
Ich überschreitet. Totalität und Unendlichkeit, schreibt Levinas, »stellt sich also als ei-
ne Verteidigung der Subjektivität dar. Aber es erfaßt sie weder auf der Ebene des bloß
egoistischen Protestes gegen die Totalität noch in ihrer Angst vor dem Tode.«19 Von da-
her kommt die ganz und gar radikale Umkehrung der Perspektive, die Levinas in bezug
auf Rosenzweig vornimmt: Außerhalb des Systems der Totalität besteht kein Platz für
irgendeine Substanz, welche auch immer es sei, außer für die Exteriorität selbst.
Tatsächlich gibt es etwas, das die Idee einer umfassenden Totalität unendlich überbor-
det, einer Totalität, in der alle Unterschiede, alle Besonderheiten (welchen Platz sie
auch immer in der Hierarchie des Systems einnehmen) schließlich in der Identität des
Selben aufgenommen werden. Was sie unendlich überbordet ist genau der Begriff einer
reinen Exteriorität. Levinas bezeichnet diese Exteriorität als die Idee des Unendlichen,
wobei er sich von einer berühmten Passage von Descartes in den Meditationen inspirie-
ren läßt. Für Descartes handelte es sich in dem Kontext der Meditationen darum, fol-
gendes zu zeigen: Wenn ich, ein endliches Geschöpf, in der Lage bin, die Idee des Un-
endlichen zu denken, so nur aus dem Grund, daß diese mir von einem wirklich unend-
lichen Sein eingegeben wurde. Von dieser Überlegung greift Levinas die Idee auf, der-
gemäß das Denken in der Lage ist, »über das, was es, in der Endlichkeit des Cogito, zu
enthalten vermag, hinaus«20 zu denken.
Aber für Levinas ist die Idee des Unendlichen als solche nicht begreifbar; sie ist kein
Thema, das dem Denken gegeben ist. Und dies genau aus dem Grund, daß sie, auf-
grund ihrer Definition, alles Denken überbordet. Sie ist nur indirekt gegeben, durch ei-
nen Umweg, durch eine Verschiebung, im Zuge derer sie sich, so wie in einer Metony-

19 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., S. 27 (TI, XIV).


20 E. Levinas, Transcendence et Intelligibilite, Genf 1984, S. 22.
ROSENZWEIG UND LEVINAS 139

mie, durch erlebte Erfahrung zeigt: der Erfahrung, in der die Exteriorität des Anderen
offenbar wird. In seiner radikalen Andersheit drängt sich der andere Mensch mir als
dasjenige auf, das sich schlechthin nicht einbeziehen läßt, als etwas, das nicht auf ein
Element unter anderen in der Totalität, zu der ich gehöre, reduziert werden kann. Der
Ort, der außerhalb des Systems von Sein liegt und von dem her der Begriff der Totalität
selbst seinen Sinn verliert, ist nicht das Ich, es ist der Andere. Die Situation, in der die
Totalität zerbrochen wird, ist die, in der »das Erstrahlen der Exteriorität oder der
Transzendenz im Antlitz des Anderen«21 sich zeigt. In der Epiphanie des Anderen gibt
sich das Unendliche, als eigentliche Gestalt der Exteriorität, nicht in direkter Weise,
sondern läßt einzig seine Spur erahnen. Wenn in Totalität und Unendlichkeit die Ethik
in bezug auf den Schlüsselbegriff des Antlitz' beschrieben ist, bringt Anders als Sein sie
im Ausgang von dem Begriff der Spur zur Sprache. Denn »das Unendliche erscheint
demjenigen nicht, der es bezeugt. Im Gegenteil, das Zeugnis gehört zur Herrlichkeit
des Unendlichen.« 22
Wenngleich Totalität und Unendlichkeit die Ethik noch in Begriffen des Zusammen-
kommens und des Gegenübers beschreibt, das heißt vor dem Horizont einer Präsenz-
Metaphysik, ist die Einzigkeit der Person, als eines Orts der Transzendenz in bezug
zum System des Seins, doch nicht, wie bei Rosenzweig, die des Ich, sondern die des
Anderen. Für Levinas bringt das radikale Infragestellen der abendländischen Ontologie
es mit sich, den Begriff des Ich, an den Rosenzweig noch glaubte, zu mißbilligen. Es
handelt sich um das Ich, das nach der Formel von Pascal, die von Jenseits des Seins als
Motto zitiert wird, »(seinen) Platz an der Sonne« beansprucht. Implizit kündigt Le-
vinas den Begriff des meta-ethischen Ich bei Rosenzweig auf, den er als einen »ohn-
mächtigen Subjektivismus« einschätzt, in dem der »Protest einer Person im Namen ih-
res persönlichen Egoismus' oder [sogar] ihres Heils«23 seinen Ausdruck findet. Diese
Aufkündigung macht die Distanz aus, die zwischen der Krise der abendländischen Zi-
vilisation, deren Symptom der Krieg von 1914-1918 war, und dem Zusammenbruch der
Idee der Menschlichkeit selbst, so wie Europa sie angelegt hatte, - ein Zusammenbruch
der während des Zweiten Weltkriegs geschah - liegt.

Aus dem Französischen von Anna Krewani und Georg W Bertram

21 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., S. 25 (TI, XIII).


22 E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sem geschieht, Freiburg/München 1992, S. 321 (Autre-
ment qu'etre ou au-delä de l'essence, La Haye 1974, S. 186).
23 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., S. 26 (TI, XIV).
II. KULTUR

B. Die hermeneutische Reflexion auf Geschichte und Kultur

FRIEDRICH-WILHELM VON HERRMANN


Heideggers Grundlegung der Hermeneutik

HELMUT VETTER
Heidegger im Kontext der dialogischen Philosophie -
Blick auf E. Griesbach

THEODORE KISIEL
Gibt es eine formal anzeigende Hermeneutik nach der Kehre?

FRITHJOF RODI
Probleme mit der »Zugehörigkeit« -
Zum Geschichtsbegriff des Grafen Yorck

CHRISTOPH DEMMERLING
Vom Sein des Sinns. Überlegungen zu einer
hermeneutischen Philosophie der Sprache

ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT
Hegel, Heidegger und die Griechen
FRIEDRICH-WILHELM V. HERRMANN

Heideggers Grundlegung
der Hermeneutik

Vorverständigung über Thema und Weg

Der Anfang von Heideggers Grundlegung der Hermeneutik' fällt zusammen mit dem
Anfang seines eigenen Denkweges, d.h. aber mit der programmatischen Gewinnung
des vor-theoretischen Lebens als des ursprünglichen Sachfeldes der Philosophie in
der Durchbruchsvorlesung vom Kriegsnotsemester 1919 Die Idee der Philosophie
und das Weltanschauungsproblem.2 Dort wird die Philosophie als vor-theoretische
Urwissenschaft bestimmt und die ihr eigene, die urwissenschaftliche Methode gesucht,
die ihr Auszeichnendes darin hat, die vor-theoretische Sachspähre von der theoreti-
schen Einstellung und deren Tendenzen zur Ent-lebung des Lebens freizuhalten,
um das Umwelterleben in seiner Eigenstruktur zu erschließen. Die urwissenschaftliche
Methode erweist sich zwar als die Phänomenologie, aber als eine solche, die von
ihrem theoretischen Reflexionscharakter befreit werden muß. Heidegger kennzeichnet
sie als »zuschauendes Verstehen« oder als »hermeneutische Intuition«. Die »herme-
neutische Intuition« unterscheidet sich von der »phänomenologischen Intuition«
Husserls dadurch, daß sie nicht reflexive Anschauung, sondern verstehende Auslegung
des vor-theoretischen Lebens ist, das sich als sich selbst verstehend-auslegend voll-
zieht.
Mit dieser Vorlesung beginnt der auf Sein und Zeit zulaufende Weg, der in den Vor-
lesungen der folgenden Jahre die Philosophie als phänomenologische Ursprungswis-

1 Zu Heideggers Gundlegung der Hermeneutik vgl.: H . - G . Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens. In:
Heidegger zum Siebzigsten Geburtstag. Festschrift hrsg. v. G. Neske. Pfullingen 1959, S. 24—34. -
ders., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. In: Gesammelte Wer-
ke Bd. I. Tübingen 1986, S. 258-275. - ders., Hermeneutik. In: Historisches Wörterbuch der Philo-
sophie, hrsg. v. J. Ritter. Basel/Stuttgart 1974. Bd. 3, Sp. 1061-1073. - O . Pöggeler, Der Denkweg
Martin Heideggers. Pfullingen 1963, S. 67-80. - C.F. Gethmann, Verstehen und Auslegung Das
thodenproblem in der Philosophie Martin Heideggers. Bonn 1974. - E. Hufnagel, Einführung in die
Hermeneutik. Urban-Taschenbücher Bd. 233. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1976, S. 15-55. - Chr.
Jamme, Heideggers frühe Begründung der Hermeneutik. In: Dilthey-Jahrbuch Bd. 4/ 1986-87. Göt-
tingen 1987, S. 72-90. - J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik. Darmstadt 1991,
S. 119-137. - H. Ineichen, Philosophische Hermeneutik. Freiburg/München 1991, S. 159-178. - F.-W.
v. Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von »Sein und Zeit«.
Frankfurt a.M. 1987, S. 366-374. - ders. Weg und Methode. Zur hermeneutischen Phänomenologie
des seinsgeschichtlichen Denkens. Frankfurt a.M. 1990.
2 M. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem. Frühe Freiburger Vorle-
sung Kriegsnotsemester 1919. In: Zur Bestimmung der Philosophie. Gesamtausgabe Bd. 56/57. Hrsg.
v. B. Heimbüchel. Frankfurt a.M. 1987, S. 1-117.
144 FRIEDRICH-WILHELM v. HERRMANN

senschaft3 vom Leben an sich, vom faktischen Leben und der faktischen Lebenserfah-
rung und schließlich im Sommer 1923 als Hermeneutik der Faktizitat* bestimmt. Her-
meneutik der Faktizitat ist die Selbstauslegung des faktischen Lebens oder Daseins.
Faktizitat benennt das Vor-theoretische, das nur durch ein mitgehendes ausdrückliches
Auslegen zugänglich wird.
Daß und wie die Philosophie als Fundamentalontologie hermeneutische Phänome-
nologie ist, daß die Hermeneutik als Methode aus dem Eigencharakter des Sachfeldes
entspringt, daß die fundamentalontologische Hermeneutik ihre Grundlegung aus den
daseinsmäßigen Seinsweisen des Verstehens und der Auslegung empfängt, daß aber
auch die Hermeneutik der positiven Wissenschaften ihre sachliche Ermöglichung im
geschichtlichen Dasein hat, - das alles erhält in Sein und Zeit seine systematische Ent-
faltung und Durchsichtigkeit. Deshalb halten wir uns in den nachstehenden Aus-
führungen zur Frage nach Heideggers Grundlegung der Hermeneutik an die diesbe-
züglichen Gedankenzüge in Sein und Zeit.
Wenn aber durch den Übergang des fundamentalontologischen in das ereignisge-
schichtliche Denken die hermeneutischen Einsichten in die vor-theoretische Seinsver-
fassung des Daseins nicht aufgegeben, vielmehr festgehalten werden, dann steht zu er-
warten, daß auch das ereignisgeschichtliche Denken einen hermeneutischen Grundcha-
rakter zeigt, daß somit die philosophische wie die positiv-wissenschaftliche Hermeneu-
tik auch aus dem Ereignis ihre Grundlegung empfangen.
Demzufolge gliedern wir die folgenden Ausführungen in zwei Abschnitte: I. Her-
meneutik und Fundamentalontologie, IL Hermeneutik und ereignisgeschichtliches
Denken.

I. Hermeneutik und Fundamentalontologie

/. Die drei Bedeutungen der fundamentalontologischen Hermeneutik.

Im Methodenparagraphen 7 von Sein und Zeit werden zur Kennzeichnung des


dischen Sinnes der Phänomenologie drei untereinander zusammenhängende Bedeutun-

3 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie. Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester


1919/20. Gesamtausgabe Bd. 58, hrsg. v. H . H . Gander. Frankfurt a.M. 1 9 9 3 - ders., Phänomenologie
der Anschauung und des Ausdrucks. Frühe Freiburger Vorlesung Sommersemester 1920. Gesamtaus-
gabe Bd. 59. Hrsg. v. C. Strube. - ders., Einleitung in die Phänomenologie der Religion. Frühe Frei-
burger Vorlesung Wintersemester 1920/21. Hrsg. v. M. Jung und Th. Regehly. In: Phänomenologie
des religiösen Lebens. Gesamtausgabe Bd. 60. Frankfurt a.M. 1995, S. 1-156. - ders., Augustinus und
der Neuplatomsmus. Frühe Freiburger Vorlesung Sommersemester 1921. Hrsg. v. C. Strube. In: Phä-
nomenologie des religiösen Lebens. Gesamtausgabe Bd. 60. Frankfurt a.M. 1995, S. 157-299. - ders.,
Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung.
Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1921/22. Gesamtausgabe Bd. 61. Hrsg. v. W. Bröcker
und K. Bröcker-Oltmanns. Frankfurt a.M. 1985. - ders. Phänomenologische Interpretationen zu
stoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation) 1922. H r s g . v. H . - U . Lessing. In: Dilthey-Jahrbuch
Bd. 6/1989. Göttingen 1989, S. 237-274.
4 M. Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizitat). Frühe Freiburger Vorlesung Sommerseme-
ster 1923. Gesamtausgabe Bd. 63. Hrsg. v. K. Bröcker-Oltmanns.
HEIDEGGERS GRUNDLEGUNG DER HERMENEUTIK 145

gen der Hermeneutik eingeführt.5 Phänomenologie als Methode ist, was ihren Logos
und die Phänomene anbetrifft, das ausdrückliche Sehenlassen des Sich-an-ihm-selbst-
zeigenden. Sachhaltig gesehen ist das Sich-an-ihm-selbst-zeigende Sein, nämlich Sein
von Seiendem. Der methodische Sinn des phänomenologischen Sehenlassens, d.h. des
Auf- und Ausweisens als der phänomenologischen Deskription, wird unter Vordeu-
tung auf die folgende thematische Untersuchung als »Auslegung« gekennzeichnet. Die
Vordeutung weist voraus auf die Analysen der existenzialen Seinsweisen des Verstehens
und Auslegens, von denen her sich der Sinn der Auslegung bestimmt. Die Kennzeich-
nung des methodischen Sinnes der phänomenologischen Deskription als existenzbe-
stimmte Auslegung geschieht umwillen der Abgrenzung gegen die Husserlsche De-
skription als Reflexion. Die existenzbestimmte Auslegung gehört zur vor-theoretischen
Sachsphäre des Daseins, die reflexive Anschauung dagegen zur theoretisch gewonne-
nen Sachsphäre des Bewußstseins. Die Auslegung als methodischer Sinn des Logos der
Phänomenologie wird als epur|vei5eiv gefaßt, wodurch die Auslegung als Methode auch
terminologisch gegen die sie ermöglichende existenziale Seinsweise der Auslegung ab-
gegrenzt wird.
Dieses epunveüeiv wird zur Hermeneutik in der ersten Bedeutung, wenn in dessen
Vollzug »dem zum Dasein selbst gehörigen Seinsverständnis der eigentliche Sinn von
Sein und die Grundstrukturen seines eigenen Seins kundgegeben werden«.6 Die so ver-
standene hermeneutische Phänomenologie des Daseins ist die ausdrückliche Selbstaus-
legung des Seinsverständnisses hinsichtlich seiner universellen Weite. Das philosophie-
rende Dasein legt sein sonst unsausdrücklich sich vollziehendes Seinsverständnis der-
gestalt ausdrücklich aus, daß es sich >den eigentlichen Sinn von Sein und die Grund-
strukturen seines eigenen Seins« kundgibt. Die Hermeneutik in ihrer ersten Bedeutung
bezieht sich auf die vollständige Thematik der Fundamentalontologie: auf die hier zu-
erst genannte Freilegung des Sinnes von Sein überhaupt und auf die Analytik der
Grundstrukturen der Existenz als des eigenen Seins des Daseins, die ihrerseits der Weg
zu jener Freilegung ist. Hermeneutik des Daseins in dieser weitesten Bedeutung ist
Selbstauslegung als Selbstkundgabe, worin sich das unausdrücklich existierende vor-
theoretische Seinsverständnis in die ausdrückliche Selbstdurchsichtigkeit überführt,
ohne dadurch seinen vor-theoretischen Charakter einzubüßen.
Die zweite Bedeutung der Hermeneutik ergibt sich aus der Einsicht, daß die Ausle-
gung des Sinnes von Sein überhaupt und der Seinsstrukturen des Daseins jenen sachli-
chen Horizont freilegt, innerhalb dessen sich alle regionalen Ontologien vom nichtda-
seinsmäßigen Seienden und dessen Seinsverfassung anzusiedeln und auszuarbeiten ha-
ben. Denn darin erfüllt sich der Sinn der Fundamental-ontologie, daß sie den Ontologien
der begrenzten Seinsbereiche, die Heidegger in seiner letzten Marburger Vorlesung Met-
ontologien nennt, das nötige Fundament bereitstellt. Sofern die Hermeneutik in der er-
sten Bedeutung zugleich die »Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder on-
tologischen Untersuchung« 7 ist, wird sie in dieser Fundierungsfunktion zur »Hermeneu-
tik« in der zweiten Bedeutung, die Heidegger auch in Anführungszeichen setzt.

5 M. Heidegger, Sem und Zeit. Tübingen 198616, S. 37 f.


6 a.a.O., S. 37.
7 ebd.
146 FRIEDRICH-WILHELM v. HERRMANN

Während die Hermeneutik in der ersten und zweiten Bedeutung sich auf die volle
thematische Weite der Fundamentalontologie erstreckt, ist die Hermeneutik in der
dritten Bedeutung auf einen Teilbereich der Fundamentalontologie eingeschränkt. Es
ist die »Hermeneutik als Auslegung des Seins des Daseins« vom Charakter einer »Ana-
lytik der Existenzialität der Existenz«. 8 Zwar war diese auch schon in der ersten Bedeu-
tung der Hermeneutik als »Aufdeckung der Grundstrukturen des Daseins« und damit
als Teilaufgabe neben der »Aufdeckung des Sinnes des Seins« mitgenannt. Jetzt aber
wird sie selbst als Hermeneutik in einem spezifisch dritten Sinn benannt, der, philoso-
phisch verstanden, sogar der »primäre« Sinn ist. Die dritte Bedeutung der Hermeneu-
tik ist insofern die primäre, weil die vollständige Fundamentalontologie als Hermeneu-
tik der Existenzialität der Existenz des Daseins einsetzt. Aber dieser »primäre Sinn«
der Hermeneutik darf uns nicht übersehen lassen, daß die Fundamentalontologie im
ganzen ihrer Thematik, so wie diese sich auf die drei Abschnitte des ersten Teiles ver-
teilt, in methodischer Hinsicht Hermeneutik ist, mehr noch, daß die Hermeneutik, d.h.
die hermeneutische Phänomenologie, auch die Methode der regionalen Ontologien
bzw. der Metontologien, somit der Philosophie im ganzen ist.
Die Hermeneutik des Seins des Daseins ist aber auch insofern Hermeneutik im
primären Sinn, als die »Hermeneutik« in der Bedeutung der »Methodologie der histo-
rischen Geisteswissenschaften« in ihr »verwurzelt« ist.9 Der sachliche Wurzelboden für
diese »Hermeneutik« der historischen Geisteswissenschaften ist zum einen die von der
Hermeneutik des Seins des Daseins freigelegte vor-theoretische Geschichtlichkeit des
Daseins, die erst so etwas wie Historie ermöglicht, und zum anderen die existenzialen
Seinsweisen des Verstehens und Auslegens, die das historisch-wissenschaftliche Ausle-
gen existenzial-ontologisch ermöglichen.

2. Die Seinsweisen des Verstehens und der Auslegung


als Wurzelboden der Hermeneutik

Die Kennzeichnung des methodischen Sinnes der phänomenologischen Deskription


als Auslegung geschah im § 7 im Vorblick auf die bevorstehende Auslegung (Herme-
neutik) des Seins des Daseins, die als eine der Grundstrukturen dieses Seins die existen-
ziale Seinsweise der Auslegung freilegt, die ihrerseits den Vollzugssinn der ontologi-
schen Auslegung als Hermeneutik vorzeichnet. Mit anderen Worten, die Auslegung als
Hermeneutik ist nur möglich, weil das hermeneutisch auszulegende Dasein an ihm
selbst auslegend existiert. Die Auslegung als fundamentalontologische und existenzial-
ontologische Hermeneutik ist eine Vollzugsmöglichkeit der auslegenden Seinsweise
des Daseins.
Die hermeneutisch-phänomenologische Analyse der Seinsweise der Auslegung
gehört in die Analytik des In-Seins als solchen aus dem In-der-Welt-sein als der
Grundverfassung des Daseins. Drei Seinsweisen der Existenz sind es, die dieses In-Sein
konstituieren: die Befindlichkeit, das Verstehen und die Rede. Befindlichkeit und Ver-

8 a.a.O., S. 37 f.
9 a.a.O., S. 38.
HEIDEGGERS GRUNDLEGUNG DER HERMENEUTIK 147

stehen schließen in unterschiedlicher Weise das Da, die Erschlossenheit des In-der-
Welt-seins auf, während die Rede als das existenziale Wesen der Sprache den Er-
schließungssinn jener beiden Seinsweisen gleichursprünglich bestimmt. Die Seinsweise
der Auslegung gehört zur Seinsweise des Verstehens, sie ist eine Modifikation des
primären Verstehens, das sich in das Auslegungsverstehen modifiziert.
Daher kann die existenziale Seinsweise der Auslegung nur im Ausgang von der exi-
stenzialen Seinsweise des Verstehens sichtbar gemacht werden. Im § 31'° wird das Ver-
stehen als Sezwsweise in Abhebung vom Verstehen als Erkenntnisart freigelegt als ein
Können des Seins, als Sein-können, als existierendes Möglichsein, als Erschließen von
Seinsmöglichkeiten, von Möglichkeiten des In-der-Welt-seins. Das existierende Verste-
hen ist daher ein Sichverstehen auf das Sein in und aus Möglichkeiten des In-der-Welt-
seins. Das Verstehen als erschließendes Seinkönnen hat die Struktur des Entwurfs, so
daß die Seinsweise des Verstehens sich vollzieht als ein Sichentwerfen auf je eine Mög-
lichkeit des In-der-Welt-seins, die in solchem existierenden Entwerfen aufgeschlossen
wird.
Vorgegeben sind die entwerfbaren Möglichkeiten in der Befindlichkeit und deren
faktischem Erschließen, so, daß das Dasein für seinen entwerfend-aufschließenden
Vollzug schon in die Erschlossenheit der entwerfbaren Möglichkeiten geworfen ist.
Das Da, die Erschlossenheit des In-der-Welt-seins, schließt sich auf in der Seinsweise
der Geworfenheit und des Entwurfs, der Geworfenheit, die dem Entwurf je schon vor-
ausspringt, so daß der Entwurf geworfener, zu tiefst endlicher Entwurf ist.
Im Vollzug des geworfen-entwerfenden Sichaufschließens der Erschlossenheit des
In-der-Welt-seins konstituiert sich das primäre Daseinsverständnis als ein Entwurfs-
verständnis. Zu diesem gehört aber wesenhaft das Sichausbilden, das selbst existenzia-
len Möglichkeitscharakter hat. Das Sichausbilden des Entwurfsverständnisses vollzieht
sich als Seinsweise der Auslegung, deren Analytik im § 32 erfolgt." Durch die Ausle-
gung modifiziert sich das Entwurfsverständnis in das Auslegungsverständnis.
Die existierende Auslegung geschieht als ein Sichzueignen dessen, was im Entwurfs-
verstehen entwerfend aufgeschlossen ist. In der Auslegung wird das Entwurfsverständ-
nis des Daseins nicht etwas anderes, sondern es selbst, indem es durch die Zueignung in
eine Ausdrücklichkeit besonderer Art gehoben wird. Es ist nicht die Ausdrücklichkeit
der ontologischen oder wissenschaftlichen Thematisierung, sondern eine Ausdrück-
lichkeit, die zum vor-theoretischen Existenzvollzug gehört. Die existierende Ausle-
gung des existierenden Entwurfsverständnisses wird auch gefaßt als »Ausarbeitung der
im Verstehen entworfenen Möglichkeiten«, obwohl dieses Ausarbeiten gerade kein
thematisierendes, sondern ein existierendes ist.
Auslegend existiert das Dasein in bezug auf die entworfene ganzheitliche Möglich-
keit des In-der-Welt-seins, deren Ganzheit sich gliedert nach der Möglichkeit des Wor-
umwillens und nach der Möglichkeit von Welt. In der Möglichkeit des Worumwillens
sind eingehüllt alle zu der einen ganzheitlichen Möglichkeit des In-der-Welt-seins
gehörenden Weisen des besorgenden Seins beim innerweltlichen Seienden und ebenso
alle Weisen des fürsorgenden Seins mit anderem Dasein. Korrelativ sind in der Mög-

10 a.a.O., S. 142-148
11 a.a.O., S. 148-153
148 FRIEDRICH-WILHELM v. HERRMANN

lichkeit von Welt alle zu ihr gehörenden welthaften Bewandtnisse eingehüllt, in die das
nichtdaseinsmäßige Seiende als innerweltliches entdeckt wird. Die existierende Ausle-
gung könnte in der Hermeneutik des Daseins nach beiden Dimensionen des entworfe-
nen In-der-Welt-seins verfolgt werden. Die Analyse des § 32 beschränkt sich aber auf
die Thematisierung der existierenden Auslegung der in der entworfenen Möglichkeit
des In-der-Welt-seins entworfenen Welt.

a) Die Ais-Struktur des Auslegungsverständnisses

Wenn die Existenz in ihrer dreigliedrigen Sorge-Struktur die Ganzheit von Entwurf,
Geworfenheit und besorgendem Sein beim innerweltlichen Seienden ist, dann hat der
Bezug des Auslegungsverständnisses zu dem ihm voraufgehenden Entwurfsverständnis
seinen Ort im Bezug des besorgenden Sein-bei zum geworfenen Entwurf. Das bedeu-
tet, daß das Auslegungsverstehen existenzialontologisch zusammengeht mit dem Ent-
decken des innerweltlichen Seienden. Indem sich das Dasein aus der im geworfenen
Entwurf erschlossenen Welt bzw. Bedeutsamkeit auslegend zu verstehen gibt, welche
Bewandtnis es mit dem begegnenden Seienden hat, entdeckt es als besorgendes Sein-bei
dieses Seiende in seiner Innerweltlichkeit als seiner bewandtnisbestimmten Entdeckt-
heit. Das Auslegen der entworfenen Bedeutsamkeit hat als Zueignung den Charakter
der Auseinanderlegung der Bewandtnisse. In diesem die Bedeutsamkeit auseinander-
legenden Entdecken des bewandtnisbestimmten Seienden wird dieses ausdrücklich,
wenn auch nicht thematisch verstanden. Die Ausdrücklichkeit, die das existierende
Auslegungsverständnis des entdeckten Seienden kennzeichnet, besagt, daß das so im
Auslegen der entworfenen Bedeutsamkeit entdeckte Seiende ausdrücklich verstanden
ist als das, als was es im besorgenden Sein-bei begegnet. Das im existierenden Ausle-
gungsverständnis ausdrücklich Verstandene hat »die Struktur des Etwas als Etwas«.
Dieses Als, das Heidegger in Abhebung vom apophantischen Als der Aussage das exi-
stenzial-hermeneutische Als nennt, kennzeichnet die Auslegung und ihr Verständnis,
das zwar kein vorsprachliches, wohl aber ein vorprädikatives Verständnis ist.

b) Die drei Vollzugsbedingungen der Auslegung

Als Verständniszueignung vollzieht sich die Auslegung in einem auslegenden Verhält-


nis zu der schon verstandenen, weil entworfenen Bedeutsamkeit. Das Entwurfsver-
ständnis ist daher die Vorhabe für die Auslegung und ihr Verständnis. Die Vorhabe ist
die erste Vollzugsbedingung der Auslegung. Die zweite Vollzugsbedingung zeigt sich,
wenn wir beachten, daß die Auslegung geführt ist von einer Hinsicht auf die aus der
entworfenen Vorhabe der Bedeutsamkeit herauszulegenden Bewandtnisse. Diese die
Auslegung führende Hinsicht heißt daher Vorsicht. Dafür aber, daß das Auslegungsver-
ständnis sich, wenn auch vorprädikativ, begrifflich-sprachlich ausbildet, vollzieht sich
die Auslegung in einem Vorgriff auf die zum Entwurfsverständnis gehörende redende
Artikulation. Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff sind die drei Vor-Strukturen, in denen
sich das existierende Auslegungsverständnis zum geworfenen Entwurfsverständnis
verhält. In diesen drei Vor-Strukturen bewegt sich der Zusammenhang zwischen dem
Auslegungs- und dem geworfenen Entwurfsverständnis.
HEIDEGGERS GRUNDLEGUNG DER HERMENEUTIK 149

c) Die existenziale Zirkelstruktur der Auslegung

Die drei Bedingungen, unter denen der Vollzug der existierenden Auslegung steht, Vor-
-habe, Vor-sicht und Vor-griff, besagen, daß sich die Auslegung in einem Vor-verständ-
nis dessen bewegt, was sie auslegt, daß sich somit das von ihr auszubildende Ausle-
gungsverständnis aus jenem Vor-verständnis nährt. In ihrem dreifachen Vor- greift die
Auslegung für die Gewinnung ihres Verständnisses vor auf das im geworfenen Entwer-
fen schon gewonnene Verständnis, aus dem sie zu sich selbst und ihrem zu bildenden
Auslegungsverständnis zurückkehrt. Diese existenziale Bewegung des Vor und Zurück
ist ein existenziales Kreisen zwischen dem Auslegungs- und dem Entwurfsverstehen.
Heidegger nennt es die »ontologische Zirkelstruktur« des Seins des Daseins.12 In dieser
existenzial-hermeneutischen Zirkelstruktur gründet der hermeneutische Zirkel alles
ontologischen und positiv wissenschaftlichen Auslegens.

3. Fundamentalontologische Hermeneutik

Wenn im Methodenparagraphen für die Kennzeichnung des methodischen Sinnes der


phänomenologischen Deskription als Auslegung auf die bevorstehende Analytik des
Daseins vorgedeutet wurde, so haben wir jetzt durch die Vergegenwärtigung des exi-
stierenden Entwurfs- und Auslegungsverstehens jenen existenzialen Seinsbereich ge-
wonnen, von dem her sich das fundamentalontologische Denken als Auslegung und
Hermeneutik bestimmt. Hierfür ist zu beachten, daß das philosophische Denken
nichts ist, was sich außerhalb der Seinsverfassung des Daseins und so erst auf sie zu-
kommend vollzieht, sondern daß das »philosophisch-forschende Fragen selbst als
Seinsmöglichkeit des je existierenden Daseins existenziell ergriffen«'3 wird und deshalb
sich in seiner Vollzugsweise aus der Seinsverfassung des Daseins bestimmt. Im § 63 l4 ,
der u.a. vom methodischen Charakter der existenzialen Analytik handelt, heißt es, alle
Forschung habe die Seinsart des erschließenden Daseins, jede ontologische Interpreta-
tion habe die Struktur des Entwerfens. Auch in der Existenzmöglichkeit des phänome-
nologisch-fundamentalontologischen Fragens existiert das philosophierende Dasein als
ein geworfenes Entwerfen und Auslegen des Entworfenen. Wenn also der methodische
Sinn des phänomenologischen Denkens Auslegung ist, dann gehört auch zu dieser phi-
losophierenden Auslegung ein philosophierender Entwurf, der das erschließt, was in
der philosophierenden Auslegung in das ausdrückliche philosophische Auslegungsver-
ständnis gehoben wird. Im phänomenologischen Existenzvollzug der Daseinsanalytik
wird das im vorphänomenologischen Existenzvollzug mit den Existenzmöglichkeiten
des In-der-Welt-seins unthematisch entworfene Sein als Existenz und Sein vom nicht-
daseinsmäßigen Seienden thematisch entworfen und hinsichtlich seines Strukturgehal-
tes thematisch ausgelegt.

12 a.a.O., S. 153.
13 a.a.O., S. 13
14 a.a.O., S. 310-316.
150 FRIEDRICH-WILHELM v. HERRMANN

Die fundamentalontologische Hermeneutik, das hermeneutisch-phänomenologische


Denken, ist keine Reflexion, sondern ein thematisierendes entwerfend-auslegendes
Verstehen. Der Reflexionscharakter des Denkens gehört nicht zum Dasein, sondern
zum Bewußtsein. Was in der Reflexionsphilosophie als Erkenntnisgewinn durch die
Reflexion bezeichnet wird, das leistet in der hermeneutischen Philosophie so, wie Hei-
degger sie grundgelegt hat, der hermeneutische Entwurf und die wesenhaft zu ihm
gehörende hermeneutische Auslegung.
Die philosophierende Hermeneutik ist aber, wenn sie in den existenzialen Seinswei-
sen der Auslegung und des Entwurfs verwurzelt ist, zugleich bestimmt durch die her-
meneutische Ais-Struktur, durch die hermeneutischen Vollzugsbedingungen und durch
den hermeneutischen Zirkel.
Die zur fundamentalontologischen und daseinsanalytischen Hermeneutik gehören-
de Ais-Struktur kennzeichnet auch hier die Ausdruckhchkeit des philosophischen
Auslegungsverständnisses. Während die zur existenzialen Seinsweise der Auslegung
gehörende Ais-Struktur die Ausdrücklichkeit eines nicht thematisch erfassenden Aus-
legungsverständnisses konstituiert, bildet die zur ontologischen Auslegung gehörende
Ais-Struktur die Ausdrücklichkeit eines thematisch erfassenden Auslegungsverständ-
nisses.
Zu jeder Auslegung, zur existenzialen wie auch zur forschenden Auslegung, gehören
die drei Vollzugsbedingungen der Vorhabe, Vorsicht und des Vorgriffs, in denen sich
die Auslegung zu ihrem Vorverständnis verhält. Innerhalb der Auslegung als ontologi-
scher, aber auch positiv wissenschaftlicher Forschung schließen sich die drei Vollzugs-
bedingungen zu dem zusammen, was Heidegger die »hermeneutische Situation«
nennt.15 Zur Ausdrücklichkeit der thematisierenden ontologischen Auslegung gehört
es, daß diese sich in ihrem Ausgang und während ihres Fortgangs ihre hermeneutische
Situation nach Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff klärt. In der unablässigen Durchklärung
der hermeneutischen Situation auf dem Weg der ontologischen Auslegung (der funda-
mentalontologischen, existenzialontologischen und metontologischen) bezeugt sich die
kritische Haltung des Philosophierens. In der vorgängigen und durchgängigen Klärung
und Sicherung der hermeneutischen Situation wird die existenzialontologische Analy-
tik des Daseins durchgeführt. Die Grunderfahrung des in seiner Seinsverfassung auszu-
legenden Daseins bildet den Ausgang der Analytik. So wurde im § 9 das thematische
Dasein durch eine erste phänomenale Charakteristik seines Seins als Existenz in ihrer
Jemeinigkeit in die Vorhabe genommen.16 Alle nachfolgenden analytischen Schritte ha-
ben sich dieser Vorhabe dergestalt angemessen, daß sie durch die Vorsicht auf die Seins-
art des Daseins ihre Führung erhielten. Sowohl das in die Vorhabe genommene Dasein
wie die leitende Vorsicht auf dessen Seinsart zeichnen dem Vorgriff der Auslegung die
Begrifflichkeit für die Seinsstrukturen der Existenz als eine existenziale vor.
Mit der hermeneutischen Situation hält sich auch der zur ontologischen Auslegung
gehörende hermeneutische Zirkel in jener Ausdrücklichkeit, die die Thematisierung
auszeichnet. Während die existenziale Zirkelstruktur im Sein des Daseins im Unthema-
tischen des Existenzvollzuges verbleibt, bewegt sich die thematisierende ontologische

15 a.a.O., S. 232.
16 a.a.O., S. 42 f.
HEIDEGGERS GRUNDLEGUNG DER HERMENEUTIK 151

Auslegung im ausdrücklichen hermeneutischen Zirkel. Von diesem heißt es im § 32, es


sei für die thematisierende Auslegung das Entscheidende, in den hermeneutischen Zir-
kel »nach der rechten Weise hineinzukommen«. 17 Das aber gelingt ihr dadurch, daß sie
verstanden hat, »daß ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorha-
be, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen,
sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche [das
heißt hier: das philosophische] Thema zu sichern«.18 Was die ontologische Auslegung
in ihrer Vorhabe hat, ist ihr sie leitendes Vorverständnis, das ein Entwurfsverständnis
ist. Der hermeneutische Zirkel der ontologischen Auslegung spielt zwischen dem Aus-
legungs- und dem Entwurfsverständnis.

4. Hermeneutik der positiven Wissenschaften

Im Unterschied zu dem, was wir die fundamentalontologische und ontologische Aus-


legung bzw. Hermeneutik genannt haben, verstehen wir unter der Hermeneutik der
positiven Wissenschaften das hermeneutische Verfahren in den historischen Geistes-
wissenschaften. Auch die geisteswissenschaftliche Hermeneutik findet ihre existenzial-
ontologische Ermöglichung in den Seinsweisen des geworfenen Entwurfs und der Aus-
legung. Nur sofern das Dasein geworfen-entwerfend-auslegend existiert, kann es die
Seinsmöglichkeit der geisteswissenschaftlichen Forschung ergreifen. Positive Wissen-
schaft ist wie Philosophie eine eigene Seinsmöglichkeit des Daseins. Wie das philoso-
phierende Denken, so hat auch das geisteswissenschaftliche Forschen teil an der Seins-
verfassung des Daseins. Auch das geisteswissenschaftliche Forschen vollzieht sich in
Entwürfen, die zwar nicht wie in der ontologischen Forschung ontologische, wohl
aber ontische Entwürfe sind. Das Ontische, das sie entwerfen, sind die ontisch-existen-
ziellen Daseinsmöglichkeiten. Die historischen Geisteswissenschaften erforschen das
geschichtlich existierende Dasein in seinen gewesenen Daseinsmöglichkeiten so, wie
diese etwa in historischen Quellentexten, in den Texten der Literatur oder in den Wer-
ken der bildenden Kunst zugänglich werden. Die geisteswissenschaftliche Forschung
entwirft in der Begegnung mit diesen Zeugnissen diese auf ihre Daseinsmöglichkeiten
und erschließt darin ein Vorverständnis, das der Forschung als Vorhabe, Vorsicht und
Vorgriff für die schrittweise Auslegung dient.
Auch die geisteswissenschaftliche Forschung ist als Auslegung bestimmt durch die
Vollzugsbedingungen der Vorhabe, der Vorsicht und des Vorgriffs, mit diesen aber
durch den hermeneutischen Zirkel und durch die hermeneutische Ais-Struktur.
Während alle diese Charakteristika in der existierenden Auslegung unthematisch sind,
werden sie wie in der ontologischen Auslegung thematisch. Während aber »die Sachen
selbst«, aus denen Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff auszuarbeiten sind, in der ontologi-
schen Auslegung die Seinsarten des zu interpretierenden Seienden sind, sind es in der
geisteswissenschaftlichen Auslegung die text- und werkgewordenen existenziellen Da-
seinsmöglichkeiten des geschichtlich existierenden In-der-Welt-seins.

17 a.a.O., S. 153
18 ebd.
152 FRIEDRICH-WILHELM v. HERRMANN

IL Hermeneutik und ereignisgeschichtliches Denken

Daß im Übergang des fundamentalontologischen in den seinsgeschichtlichen oder er-


eignisgeschichtlichen Ausarbeitungsweg der Seinsfrage die in der Hermeneutik des Da-
seins freigelegte existenziale Seinsverfassung festgehalten wird, bezeugt eine Textstelle
aus den Beiträgen zur Philosophie. Sie findet sich innerhalb der IV Fügung »Die Grün-
dung« im 198. Abschnitt »Gründung des Da-seins als Er-gründung«. Dieser Abschnitt
setzt mit folgenden weittragenden Worten ein: »Da-sein läßt sich nie auf-weisen und
beschreiben wie ein Vorhandenes. Nur hermeneutisch (Herv. v. uns) zu gewinnen, d.h.
aber nach >Sein und Zeit« im geworfenen Entwurf. Daher nicht beliebig. Da-sein ist ein
völlig Un-gewohntes, aller Kenntnis vom Menschen weit vorausgesdwkf.« 19 Was hier
vom Da-sein gesagt wird, weist zurück bis auf die Durchbruchsvorlesung von 1919, in
der es auf dem Wege der Gewinnung des vor-theoretischen Lebens und Erlebens heißt:
»Das Er-leben ist keine Sache, die brutal existiert, anfängt und aufhört wie ein Vor-
gang. [...] Das Erleben und das Erlebte als solches sind nicht wie seiende Gegenstände
zusammengestückt«.20 Im Rückblick auf die Daseinsanalytik von Sem und Zeit sagt die
Textstelle aus den Beiträgen: Da-sein läßt sich nicht - wie in der theoretisch eingestell-
ten phänomenologischen Deskription Husserls das Bewußtsein - aufweisen und be-
schreiben. Da-sein läßt sich vielmehr nur vor-theoretisch durch die hermeneutische
Auslegung gewinnen, und zwar wie in Sein und Zeit »im geworfenen Entwurf«, d.h. im
hermeneutisch-thematisierenden geworfenen Entwurf, der als seine eigene Ermögli-
chung den existierenden geworfenen Entwurf des Daseins enthüllt. Dieser Rückblick
auf die Hermeneutik des Daseins von Sein und Zeit geschieht hier in den Beiträgen
nicht, um sich davon abzusetzen, sondern als Festzuhaltendes für die daran sich an-
schließende ereignisgeschichtliche Bestimmung des Da-seins.
Im Zusammenhang mit dieser Textstelle ist an jene andere aus den Beiträgen zu erin-
nern, in der Heidegger in bezug auf Husserl von der »vorhermeneutischen Phänome-
nologie«« spricht.21 Beide Textstellen zusammengenommen ergeben die Einsicht, daß
das ereignisgeschichtliche Denken an der Hermeneutik des Daseins festhält. Wie be-
stimmt sich die Hermeneutik im ereignisgeschichtlichen Denken?

/. Der hermeneutische Bezug im Ereignis

In seinem Gespräch von der Sprache gibt Heidegger eine Kennzeichnung des Herme-
neutischen der Hermeneutik, in der er an die Bestimmung der Hermeneutik aus dem
Methodenparagraphen von Sein und Zeit anknüpft, darüberhinaus aber den ereignisge-
schichtlichen Charakter des Hermeneutischen zur Abhebung bringt. Die Textstellen
lauten: epunveüeiv ist jenes Darlegen, das Kunde bringt, insofern es auf eine Botschaft

19 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Bd. 65. Hrsg. v. F.-W. v.
Herrmann. Frankfurt a.M. 1989, S. 321 f.
20 M. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, a.a.O., S. 69 f.
21 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 188.
HEIDEGGERS GRUNDLEGUNG DER HERMENEUTIK 153

zu hören vermag. Solches Darlegen wird zum Auslegen«.22 »Aus all dem wird deutlich,
daß das Hermeneutische nicht erst das Auslegen, sondern vordem schon das Bringen
von Botschaft und Kunde bedeutet«.23 Im Anschluß daran spricht Heidegger vom
»hermeneutischen Bezug«.24 Von diesem heißt es an späterer Stelle: »Und der Bezug
heißt der hermeneutische, weil er die Kunde jener Botschaft bringt«.25
In Sein und Zeit wurde das Epunveüetv, das Auslegen der Hermeneutik, als ein
Kundgeben erläutert: das hermeneutische Auslegen legt das existierende Seinsverständ-
nis dergestalt aus, daß es ihm den eigentlichen Sinn von Sein und die Grundstrukturen
des eigenen Seins des Daseins kundgz^t. In Anknüpfung und im Unterschied dazu wird
die Hermeneutik in jenem »Gespräch« gefaßt als ein Kundebringen im Hören auf eine
Botschaft. Das Kundebringen wird auch vom Auslegen im engeren Sinne unterschie-
den, so, daß dieses erst aus dem Kundebringen geschieht. Das Kundebringen selbst
aber vollzieht sich im Hören auf eine Botschaft.
Diese Kennzeichnung des Hermeneutischen und seines Bezuges zu dem, was es aus-
legt, ist aus dem Ereignis gesprochen. Das Ereignis ist der geworfene Entwurf des Da-
seins in seinem Verhältnis zu der im und als Da sich zuwerfenden Wahrheit oder Lich-
tung des Seins. Diesem Zuwurf entstammt die Geworfenheit des Entwurfs. Die Ein-
sicht in die Herkunft der Geworfenheit aus dem Zuwurf des Seins ist es, durch die sich
der fundamentalontologische Weg in die seinsgeschichtliche Blickbahn öffnet. Der Zu-
wurf geschieht aber als ein das entwerfende Da-sein ereignender, so daß die Geworfen-
heit des Entwurfs sein Ereignetsein ist. Was Heidegger das Ereignis nennt, ist daher das
Schwingungsganze von ereignetem Entwurf des Da-seins und ereignendem Zuwurf
des Seins.
Halten wir uns diese Bezüge vor Augen, dann sehen wir, daß das hermeneutische
Kundebringen der hermeneutische Entwurf ist, daß dieser Entwurf aber nicht auf sich
selbst beruht, sondern als geworfener in einem Hören auf den ereignenden Zuwurf
ruht, den Heidegger die Botschaft nennt. Der hermeneutische Entwurf des ereignisge-
schichtlichen Denkens vollzieht sich nicht nur, wie in »Sein und Zeit«, als ein Kundge-
ben aus der Geworfenheit des Daseins und dessen Seinsverständnis, sondern als ein
Kundebringen aus der Herkunft der Geworfenheit, aus dem Hören auf die Kunde, auf
die Botschaft des ereignenden Zuwurfs. Kunde und Botschaft kennzeichnen das Her-
meneutische des ereignenden Zuwurfs, das Bringen der Kunde im Hören auf sie be-
nennen das Hermeneutische des ereigneten Entwurfs.
Wie in der fundamentalontologischen, so ist auch in der ereignisgeschichtlichen
Blickbahn die hermeneutische Auslegung primär hermeneutischer Entwurf und nur in-
sofern ein Auslegen des hermeneutisch Entworfenen. Wie in der fundamentalontologi-
schen, so ist nun auch in der ereignisgeschichtlichen Hermeneutik das hermeneutische
Auslegen ein Ausbilden, Zueignen und Auseinanderlegen des im hermeneutischen er-
eigneten Entwurf Entworfenen. Das so sich ausbildende Auslegungsverständnis wird

22 M. Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache. In: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 19796,
S. 121 f.
23 a.a.O., S. 122.
24 ebd.
25 ebd.
154 FRIEDRICH-WILHELM v. HERRMANN

im gliedernden Begriff des Gedankenwerkes, der den Charakter des ereignisgeschicht-


lichen Inbegriffs26 hat, verwahrt oder geborgen.
In der fundamentalontologischen Hermeneutik sahen wir, wie zum Wesen der Aus-
legung die Vollzugsbedingungen und der hermeneutische Zirkel gehören. Wie steht es
mit diesen beiden in der ereignisgeschichtlichen Hermeneutik?

2. Der hermeneutische Zirkel und die Kehre im Ereignis

Unsere bisherigen Ausführungen zur Hermeneutik des ereignisgeschichtlichen Den-


kens finden durch eine weitere Textstelle aus den Beiträgen zur Philosophie ihre unein-
geschränkte Bestätigung. Innerhalb der VI. Fügung, Der letzte Gott, im 255. Abschnitt
»Die Kehre im Ereignis« heißt es: »Das Ereignis hat sein innerstes Geschehen und sei-
nen weitesten Ausgriff in der Kehre. Die im Ereignis wesende Kehre ist der verborgene
Grund aller anderen, nachgeordneten, in ihrer Herkunft dunkel, ungefragt bleibenden,
gern an sich als >Letztes< genommenen Kehren, Zirkel und Kreise (vgl. z.B. die Kehre
im Leitfragengefüge; den Zirkel im Ver-Stehen)«.27
Die Kehre im Ereignis ist jene Wende, die zwischen den beiden Bezügen im Ereignis
waltet, zwischen dem Bezug des ereigneten Entwurfs zum ereignenden Zuwurf und
dem Bezug des ereignenden Zuwurfs zu dem daraus ereigneten Entwurf. Der Zirkel im
Ver-stehen, der hermeneutische Zirkel, gründet in der Kehre im Ereignis. Der herme-
neutische Zirkel ist das Kreisen zwischen dem hermeneutischen Auslegungs- und dem
hermeneutischen Entwurfsverständnis. Das Entwurfsverständnis ist für das sich ausbil-
dende Auslegungsverständnis das es ermöglichende Vorverständnis, auf das es in seinen
Vollzugsbedingungen Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff bezogen ist. Das Kreisen zwi-
schen dem Auslegungs- und dem Entwurfsverständnis gründet insofern in der Kehre,
als das ereignete Entwurfsverstehen sich als Bezug zur Wahrheit des Seins aus dem
gekehrten Bezug der ereignend sich zuwerfenden Wahrheit des Seins zum Entwurf
vollzieht. Die Kehre, die zwischen dem Entwurf und dem Zuwurf sowie zwischen dem
Zuwurf und dem Entwurf waltet und in der sich das ereignete Entwurfsverständnis bil-
det, ist der Grund für das Kreisen des Entwurfs- und des Auslegungsverständnisses.
Die Kehre im Ereignis zeigt sich dann, wenn gesehen wird, daß der zunächst funda-
mentalontologisch enthüllte geworfene Entwurf aus dem ereignenden Zuwurf ereigne-
ter Entwurf ist. Mit dem Einblick in den ereignenden Zuwurf ergibt sich die Kehre
zwischen diesem und dem ereigneten Entwurf. Diese Kehre ist es, die das hermeneuti-
sche Entwurfsverständnis ermöglicht, das seinerseits das Auslegungsverständnis in des-
sen hermeneutischer Zirkelstruktur möglich werden läßt.
In der fundamentalontologischen Hermeneutik gründet der hermeneutische Zirkel
in der existenzialen Zirkelstruktur des Seins des Daseins, die besagt, daß das Dasein vor
jeder thematisierenden Hermeneutik als ein Kreisen zwischen Entwurfs- und Ausle-
gungsverstehen existiert. Die dreifache Vor-Struktur aus Vorhabe, Vorsicht und Vor-
griff wird verwurzelt in der Vor-Struktur des Entwerfens, die in der Sorgestruktur des

26 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 64


27 a.a.O., S. 407.
HEIDEGGERS GRUNDLEGUNG DER HERMENEUTIK 155

Sich-forweg-seins zum Vorschein kommt. 28 Aber dieses zum Entwerfen gehörende


Vor, das der dreifachen Vorstruktur von Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff voraufgeht,
ruht nicht in sich selbst, sondern hat seinen eigenen Grund in der Geworfenheit, die
dem Entwurf je vorausspringt.
Hier knüpft die ereignisgeschichtliche Hermeneutik an, wenn sie die Geworfenheit,
d.h. den vom Entwurf nicht selbst gelegten Grund, zurückdenkt in den ereignenden
Zuwurf, um so zum Einblick in die Kehre zwischen ereignendem Zuwurf und ereigne-
tem Entwurf zu gelangen. In dieser Kehre, in der sich das ereignete Entwurfsverständ-
nis als Vorverständnis für das Auslegungsverständnis vollbringt, gründet der Zirkel,
das Kreisen zwischen dem Entwurfs- und dem Auslegungsverständnis.

3. Ausblick

Wir beschließen die vorstehenden Ausführungen mit einigen Fragen, deren Ausarbei-
tung der hier gesetzte zeitliche und räumliche Rahmen verbietet. Was bedeutet es für
die Hermeneutik der Philosophie, daß sie statt fundamentalontologisch nunmehr
seinsgeschichtlich bzw. ereignisgeschichtlich bestimmt wird? Welche Folgen hat es für
die Hermeneutik des Daseins (die Daseins-Analytik), daß sie ereignisgeschichtlich ge-
faßt wird? Was besagt es für die Hermeneutik der Geisteswissenschaften, daß sie ihre
Grundlegung aus der ereignisgeschichtlichen Hermeneutik erhält? Wenn das Aus-
zeichnende der ereignisgeschichtlichen Hermeneutik die Hermeneutik der Geschicht-
lichkeit des Seins und nicht nur des Daseins ist, was bedeutet dann die hermeneutische
Einsicht in die Geschichtlichkeit des Seins für das hermeneutische Selbstverständnis
der historischen Geisteswissenschaften?

28 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 151


HELMUTH VETTER (Wien)

Heidegger im Kontext der dialogischen Philosophie -


mit Blick auf Eberhard Grisebach

1. Umgrenzung des Themas

Hat Heidegger mit einigen Philosophen, die zur dialogischen Philosophie gezählt wer-
den, einen Dialog gepflegt? Man wird diese Frage wohl verneinen müssen. Das ist um-
so verwunderlicher, als dies durchaus möglich gewesen wäre, und dies für beide Seiten
nicht unbedingt zum Nachteil. Aber sowenig Heidegger die Dialogiker (um einen ab-
kürzenden Sammelbegriff zu verwenden) wahrnehmen und ernstnehmen konnte oder
wollte, haben sich diese auf den Verfasser von Sein und Zeit - in der Zeit ihrer Akme -
näher eingelassen. Eine Ausnahme hätte Franz Rosenzweig sein können, doch dessen
Krankheit und früher Tod ließen eine genauere Rezeption nicht zu. Das alles ist be-
kannt, doch damit sollte es nicht sein Bewenden haben.
Es ist zweifellos noch immer eine Überlegung wert, daß Heidegger die Dialogiker
zu einer vertieften Grundlegung dessen hätte bringen können, was Buber das dialogi-
sche Prinzip nennt. Doch darüber hinaus stellt sich die vielleicht wichtigere Frage, wie-
weit Heidegger selbst einen anderen Weg eingeschlagen hätte, wäre er auf jene Zeitge-
nossen eingegangen. Freilich bleibt vieles hypothetisch. Es lohnt aber immer noch und
heute besonders, darüber nachzudenken, weil gleichsam in einer Wiederkehr des Ver-
drängten in den letzten Jahren Argumente gegen Heidegger eingebracht wurden, die
Anstoß zu einem erneuten Durchdenken der Frage der Andersheit geben. Die bekann-
te Kritik von Levinas, Heidegger bleibe der Tradition als Denker der Identität verhaf-
tet, läßt sich mit Blick auf das dialogische Denken schon viel früher ausmachen - eine
versäumte Gelegenheit wohl von beiden Seiten.
Zunächst sei eine kurze Bestandsaufnahme der Philosophen des Dialogs versucht.
Das Historische Wörterbuch der Philosophie nennt unter den Stichworten »Dialog, dia-
logisch« mit Blick auf die »neue Sicht des Du im 20. Jh.« Ferdinand Ebners Buch Das
Wort und die geistigen Realitäten, Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung und Martin
Bubers Ich und Du\ In Bernhard Caspers Werk Das dialogische Denken stehen gleich-
falls Rosenzweig, Ebner und Buber im Zentrum 2 .
Das Wörterbuch nennt auch den Theologen Friedrich Gogarten, der mit Karl Barth
und Eduard Thurneysen einer der Begründer der Zeitschrift Zwischen den Zeiten war.
Otto Pöggeler zitiert aus einem Brief Bultmanns, der Gogarten einen Mitstreiter ge-
nannt habe: »Es war mir interessant, daß Heidegger auch sonst mit der modernen
Theologie vertraut und besonders ein Verehrer Herrmanns [eines der Lehrer Bult-
manns] ist - auch Gogarten und Barth kennt und besonders den ersteren ähnlich ein-

1 Hist. Wb. Philos. Bd. 2. Basel 1972., s. v. Artikel »Dialog, dialogisch« In: Hist. Wb. Philos. Bd. 2. Ba-
sel 1972., S. 226-229.
2 Bernhard Casper, Das dialogische Denken. Eine Untersuchung der religionsphilosophischen Bedeu-
tung Franz Rosenzweigs, Ferdinand Ebners und Martin Bubers. Freiburg u.a. 1967.
158 HELMUTH VETTER

schätzt wie ich.«3 Bultmann hat Gogarten geachtet, dies trifft zumindest teilweise wohl
auch auf Heidegger zu. In der Aufzählung des erwähnten Wörterbuchartikels finden
sich ferner Gabriel Marcel und Eugen Rosenstock-Huessy als Vertreter der Dialogphi-
losophie.
Zu all den hier Genannten finden sich bei Heidegger so gut wie keine Hinweise,
sieht man von Gogarten und Marcel ab. Jener findet einige Male Erwähnung im noch
unveröffentlichten Briefwechsel Heideggers mit Bultmann. Zu Marcel allerdings wird
nur die doch sehr böse Bemerkung überliefert: »Eine Null, die aufgebauscht wird von
katholischen Kreisen«4 - Heidegger duldete keine Parodien seiner Philosophie.
Einen weiterreichenden Begriff des Dialogischen hat Theunissen in seiner Habilita-
tionsschrift Der Andere entwickelt. Er kommt dort ausführlich auf Löwith zu spre-
chen, der sich mit der Arbeit Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen 1928 bei
Heidegger habilitiert hat. Für Buber war dieses Buch »der eigentliche Beitrag der Phä-
nomenologie« 5 in der Geschichte des dialogischen Prinzips. Somit wäre zumindest ein
Bezug zu einem dieser Philosophen herzustellen, wobei aber fraglich ist, ob der Löwith
der Habilitationsschrift als Dialogiker angesehen werden kann.

2. Heidegger zum Ich-Du-Verhältnis

Im Sommersemester 1928 hat Heidegger über Metaphysische Anfangsgründe der Logik


gelesen, jene berühmte letzte Marburger Vorlesung, von der die Späteren erstmals aus
der Festschrift für Bultmann Kenntnis erhielten. Darin findet sich - ohne hier vor-
schnell einen Bezug zu Löwith herstellen zu wollen, dessen Habilitationsschrift ja im
selben Jahr erschien - die meiner Kenntnis nach ausführlichste Stellungnahme zu dem,
was man dialogisches Denken nennen könnte, auch wenn Heidegger diesen Namen
nicht gebraucht. Die betreffenden Ausführungen enthält der § 1 1 , »Die Transzendenz
des Daseins«, Abschnitt c) »Freiheit und Welt«.
Dasein, sagt Heidegger, »existiert umwillen von etwas«, und er stellt die Frage nach
dem »Endzweck, um dessentwillen der Mensch existiert«6. Antwort: »[...] es ist das
Auszeichnende des Daseins, daß es diesem Seienden in seinem Sein in einer spezifi-
schen Weise um es selbst geht. Das Sein und Seinkönnen des Daseins ist es, umwillen
dessen es existiert.«
Heidegger wendet nun gegen sich selbst ein, diese Bestimmung sei ein »extremer
Egoismus, der hellste Größenwahn, zu behaupten, alles Seiende, die Natur und Kultur
und was es noch geben mag, sei je nur vorhanden für den einzelnen Menschen und sei-
ne egoistischen Zwecke.« Er stimmt natürlich diesem Befund zu, kann und muß er

3 O t t o Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger. Freiburg/München 1992, 467 und 466. Zu Gogarten Her-
mann Götz Göckeritz, Friedrich Gogarten. In: Profile des Luthertums. Hg. v. Wolf-Dieter Hau-
schild. Biographien zum 20. Jahrhundert. Gütersloh 1998, S. 215-258.
4 Heinrich Wiegand Petzet, Auf einen Stern zugehen. Begegnungen und Gespräche mit Martin Hei-
degger 1929-1976. Frankfurt 1983, S. 88.
5 Martin Buber, Werke. Erster Band. München 1962, S. 300.
6 Diese und die folgenden Heideggerzitate GA 26, 238 ff. - Zitiert wird nach der Gesamtausgabe mit
Angabe von Band- und Seitenzahl.
HEIDEGGER IM KONTEXT DER DIALOGISCHEN PHILOSOPHIE 159

doch einräumen, daß sich viele Menschen »für andere opfern und in der Freundschaft
für andere und der Gemeinschaft mit ihnen aufgehen«. Diese Zustimmung ist kein Wi-
derspruch, denn jener Einwand trifft nur dem Anschein nach zu. Heidegger entzieht
ihm den Boden, indem er ihn als ontische Behauptung qualifiziert, während die Aussa-
ge: »zum Wesen des Daseins gehört es, daß sein eigenes Sein in seinem Umwillen steht«,
ein ontologischer Satz sei.
Heidegger erläutert dies näher an der Egoitat des Daseins und nimmt ausdrücklich
zur Ich-Du-Beziehung Stellung: »Heute ist das Problem der Ich-Du-Beziehung aus
ganz verschiedenen Motivierungen von weltanschaulichem Interesse. Es sind soziolo-
gische, theologische, politische, biologische, ethische Probleme, die der Ich-Du-Bezie-
hung eine besondere Bedeutung geben; doch das philosophische Problem wird da-
durch verdeckt.« Wen er damit konkret meint, läßt er offen.
Es folgt ein längeres Zitat; obwohl es heute als bekannt vorausgesetzt werden kann,
sei es - nur unwesentlich gekürzt - angeführt: »Gegenstand der Frage ist nicht das indi-
viduelle Wesen meiner selbst, sondern das Wesen von Meinheit und Selbstheit über-
haupt. Imgleichen, wenn das >Ich< Gegenstand der ontologischen Interpretation ist,
dann ist das nicht die individuelle Ichheit meiner selbst, sondern Ichheit in der meta-
physischen Neutralität; diese neutrale Ichheit nennen wir Egoitat. Aber auch so liegt
noch die Gefahr eines Mißverstehens vor; man könnte sagen: muß dann nicht auch die
Duheit in der gleichen Weise zum Thema werden und muß nicht Duheit gleich ur-
sprünglich mit Ichheit zusammengenommen werden? Gewiß ist das ein mögliches
Problem. Aber die Ichheit als Gegenphänomen zum Du ist immer noch nicht die meta-
physische Egoitat. [...] Egoitat meint diejenige Ichheit, die auch dem Du zugrundeliegt
und welche gerade verhindert, das Du faktisch als ein alter ego zu fassen. Warum ist
aber das Du nicht einfach ein zweites Ich? Weil das Ichsein im Unterschied zum Du-
sein gar nicht das Wesen des Daseins trifft, d.h. weil ein Du ein solches nur ist qua es
selbst, und ebenso auch das >Ich«. Daher gebrauche ich meist für die metaphysische
Ichheit, für die Egoitat den Ausdruck Selbstheit. Denn das >selbst< kann vom Ich und
Du in gleicher Weise gesagt werden: >Ich-selbst«, aber nicht >Du-ich<.«
Ich hebe hier drei Punkte heraus. 1. Thema ist nicht das individuelle Wesen meiner
selbst, sondern das Wesen von Meinheit und Selbstheit überhaupt; parallel dazu der Be-
fund, es ginge nicht um die individuelle Ichheit meiner selbst, sondern die Ichheit in
der metaphysischen Neutralität = Egoitat. 2. Ichheit und Duheit können gleichur-
sprünglich »zusammengenommen« werden; dies ist zwar ein mögliches Problem,
berührt aber nicht die metaphysische (oder, was hier das Gleiche bedeutet, ontologi-
sche) Ebene; Begründung: Die Egoitat liegt auch dem Du zugrunde. 3. Das Du ist kein
alter ego, kein zweites Ich, weil sowohl das Ich wie auch das Du ihren Grund im Selbst
haben (weshalb für »Egoitat« besser »Selbstheit« steht).
Was bedeutet das für die Ich-Du-Philosophie? Deren Aussagen sind ontisch, wie die
Punkte 1 und 2 zeigen. Dabei zielt Punkt 1 auf die positive Feststellung des Selbst als
einer ontologischen Bestimmung ab unter gleichzeitiger Abwehr der individuellen Ich-
heit als einer ontischen Aussage; Punkt 2 präzisiert dies noch unter Hinweis auf die
Möglichkeit, Ichheit und Duheit »gleich ursprünglich« »zusammenzunehmen«. Punkt
3 verdeutlicht die Zusammengehörigkeit von Ich und Du als einer im Selbst, der
Egoitat qua Selbstheit. Es handelt sich also 1. um eine thematische Festlegung, 2. um
160 HELMUTH VETTER

eine methodische Unterscheidung und 3. um die Abgrenzung gegen eine bestimmte


Auslegung der Ich-Du-Beziehung.
Diese zum Problem zu machen, heißt für Heidegger, »das je faktische Ich und fakti-
sche Du [zu] transzendieren«, als »Daseinsbeziehung« zu fassen, »d.h. in ihrer meta-
physischen Neutralität und Egoitat«. Die Ich-Du-Beziehung setzt stillschweigend das
Dasein voraus, ohne dieses von sich aus zum Problem machen zu können. Hier kommt
ein Gesichtspunkt ins Spiel, der den ganzen § 11 leitet, die Transzendenz des Daseins
oder, anders gewendet, das Dasein als In-der-Welt-sein.

3. Löwiths Habilitationsschrift

Hier kann an Löwith angeknüpft werden. Da Heidegger dessen Habilitationsschrift


wohl genau gelesen haben wird, mag dieses Buch als Leitfaden dienen, Gesichtspunkte
des dialogischen Denkens zur Geltung zu bringen, auch wenn sein Verfasser selbst
nicht zu den Dialogikern gezählt werden sollte.
Für ihn ist der erste, der nach Friedrich Heinrich Jacobi das Ich-Du-Verhältnis über-
haupt als philosophisches Problem ergriffen hat, Ludwig Feuerbach. Löwith beginnt
denn auch mit dessen Grundsätzen der Philosophie der Zukunft von 1843, in denen die
»wahre Dialektik« gegenüber Hegels spekulativer Philosophie als »ein Dialog zwi-
schen Ich und Du« bestimmt wird7. Löwith unterstreicht den Satz, das menschliche
Dasein sei »wesentlich an ihm selbst angewiesen auf das >Dasein einer Welt oder eines
Du<«8. Aber bei diesem »oder« hakt Löwith ein. Denn Feuerbach thematisiert gar nicht
die Welt, näherhin die Mitwelt, sondern fokussiert diese »auf das Du eines Ich; >Ich
und Du« verbindet keine Welt«, lautet der Kern der Kritik (56).
Man könnte daraus den Schluß ziehen, schon im Anfang des dialogischen Denkens
sei so etwas wie Weltvergessenheit zu konstatieren, und weiter nach den Wirkungen
dieses Faktums auf die späteren Dialogiker fragen. Von Heidegger her läge darin ein
Überspringen der Grundverfassung des Daseins als des In-der-Welt-seins. Doch
Löwith redet nicht von einem Überspringen, sondern sieht in jener Zuspitzung ein
Selbstmißverständnis Feuerbachs, der gleichwohl etwas Wesentliches erblickt habe: die
Mitwelt in ihrer konstitutiven Bedeutung für Welt überhaupt, ohne daß er diesen Fund
weiter beachtet hätte. Löwith kommt zum Ergebnis: »Ursprünglicher als das Sein bei
der >Welt< ist das Miteinandersein, weil die Welt vor allem [und hier zitiert er Jacob
Burckhardt], das Menschenleben ist, welches jeden umgibt und sich als vorherrschende
Quelle der Sorgen ausweist.« (ebd.) Das Sorgen für Andere, so Löwith weiter, sei »an-
thropologisch ursprünglicher als jedes Besorgen von Zuhandenem«, denn es »ent-
springt der Sorge für sich selbst und andere« (57).
Löwith gebraucht hier das Wort »anthropologisch«, das für Heidegger einen Rück-
fall in eine der Fundamentalontologie unangemessene Fragestellung darstellen mußte.

7 Ludwig Feuerbach, Grundsatze der Philosophie der Zukunft, § 64. In: ders.: Werke in sechs Bänden,
Band 3. Frankfurt 1975, S. 321.
8 Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Darmstadt 21969 (unveränderter Nach-
druck der Ausgabe München 1928) S. 10. - Die Seitenzahlen im Text beziehen sich in diesem Ab-
schnitt auf dieses Buch.
HEIDEGGER IM KONTEXT DER DIALOGISCHEN PHILOSOPHIE 161

In der Tat kündigt sich hier so etwas wie eine Trennung der Wege an. Diese scheint
zunächst in der gegensätzlichen Position der »metaphysischen Isolierung« des Selbst
bzw. des Daseins einerseits und der fundierenden Bedeutung der Mitwelt auf der ande-
ren Seite zu bestehen. Denn Löwith moniert zwar an Feuerbach, die Art des Verbun-
denseins von Ich und Du sei unbestimmt geblieben, der Ansatz beim Ich-Du-Verhält-
nis gehe über eine »personifizierte Subjekt-Objekt-Beziehung« nicht hinaus (58).
Gleichwohl komme mit Feuerbach der Gedanke eines Verhältnisses ins Spiel, der trotz
mißverständlicher Aneignung weiter entfaltet werden könne. »Das Fehlen der Welt,
welche immer schon Mitwelt ist, bedeutet somit in F.'s These keinen prinzipiellen Feh-
ler seines Ansatzes, sondern einen positiven, wenn auch von ihm selbst nicht begründe-
ten Charakter des exklusiven Miteinanderseins von >Ich und Du«.« (57)
Diese Differenz zwischen Heidegger und Löwith wird von Letzterem aber relati-
viert, indem er durchaus im Sinne Heideggers zwar auf der Selbständigkeit von Ich und
Du besteht, aber zwischen einer »schlechthinnigen« und einer »gegenseitigen« Selb-
ständigkeit unterscheidet, diese vom wechselseitigen Verhältnis von Ich und Du her zu
interpretieren - »und zwar so, daß die Selbständigkeit des einen für den andern im
hältnis selbst als einem gerade nicht verabsolutierten, sondern absoluten Verhältnis von
>Ich< selbst und >Du< selbst zum Ausdruck kommt«. Für Löwith ist damit das Pro-
gramm vorgegeben zu zeigen, »daß du als zweite Person dich zugleich in erster Person
zur Geltung bringst« (128). Was er dabei genauer meint, stellt er in Abhebung zu Max
Scheler, Ferdinand Ebner und Friedrich Gogarten dar. Weil damit bestimmte Voraus-
setzungen des dialogischen Denkens berührt werden, möchte ich diese Gedanken kurz
weiterverfolgen, wobei ergänzend Eduard Grisebach einbezogen werden soll, auf den
Löwith merkwürdigerweise nirgends eingeht, obgleich dieser damals als philosophi-
sches Pendant zum Theologen Gogarten verstanden wurde.
Löwith bezieht sich bei Scheler vor allem auf das Werk Wesen und Formen der
pathie, und zwar auf die zweite Auflage von 1923, nach einer unfreundlichen Bemer-
kung Heideggers »vor einigen Jahren in zweiter Auflage, allerdings wesentlich ver-
schlechtert erschienen«9 (Vorlesung SS 1925). Heidegger könnte in der Passage aus GA
26, wo abgewehrt wird, »das Du faktisch als ein alter ego zu fassen«, direkt auf Scheler
Bezug genommen haben. Dieser wendet sich implizit gegen Husserls Einfühlungstheo-
rie, wobei er meint, hier werde die »Selbstwahrnehmung« qua Selbsterkenntnis ebenso
unter- wie die Fremdwahrnehmung überschätzt; zwischen beiden bestünde kein prin-
zipieller Unterschied 10 . Selbständigkeit der Individuen gibt es Scheler zufolge nur im
Bereich der Leiblichkeit, während auf der Ebene des Psychischen bereits eine gewisse
Gemeinsamkeit bestehe. Scheler bringt als Beispiel einerseits die auf bestimmte Leibtei-
le lokalisierte Sinneslust bzw. den Schmerz, Zustände, die jeder für sich habe und die
damit niemals identisch sein könnten; anderseits Psychisches, das verschiedenen Indi-
viduen gegeben ist, so etwa im Satz: »Es ging dieselbe Begeisterung durch die Reihen
der Soldaten«11 — wo schon das Beispiel grundsätzliche Fragen aufwirft. Mit dem Hin-

9 GA 20, S. 128. - Max Scheler, Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe
und Haß. Halle 1913. - 2., durchgesehene Auflage u.d.T. Wesen und Formen der Sympathie. Bonn
1923, worauf auch die folgenden Ausgaben basieren.
10 Max Scheler: Gesammelte Werke, Band 7. Bern/München 1973, S. 244 f.
11 Ebd. S. 252.
162 HELMUTH VETTER

weis auf Scheler - er beschränkt sich bei Löwith auf gut 2 Seiten - sollte nur ein »un-
dialogischer« Versuch vorgestellt werden, das Ich-Du-Problem zu lösen.
Soweit ich sehe, hat Heidegger von Ferdinand Ebner in der in Frage stehenden Zeit
keinerlei Kenntnis genommen; er ist ihm erst sehr spät begegnet. Vermittler war Lud-
wig von Ficker, ein früher Förderer Ebners. An der Feier anläßlich der Verleihung des
Ehrendoktorats der Freien Universität Berlin an von Ficker nahm auch Heidegger teil
(und hielt dort eine kurze improvisierte Rede, mit einem Motto von Saint-Exupery:
»Stifte die Liebe zu den Türmen, denn sie beherrschen die Wüste« 12 ). Anläßlich seiner
Dankansprache hat Ficker mehrfach auf Ebner hingewiesen, und im Briefwechsel mit
Ficker finden sich Bezugnahmen Heideggers zu Ebner, die Heideggers Achtung bezeu-
gen. Rückblickend läßt sich auch eine gewisse Nähe Ebners zum späten Heidegger aus-
machen, nämlich in Ebners Versuch, »alles Sein als Gabe« zu begreifen13. Er läßt es aber
bei Andeutungen bewenden, ohne diesen Gedanken weiter zu entfalten.
Ebner betrachtet die Ich-Du-Beziehung als für das geistige Leben schlechthin fun-
damental, so aber, daß sich das Du einem Ich mitteilt oder besser: immer schon mitge-
teilt hat. Was Ebner »Icheinsamkeit« nennt oder - mit Pascal - le moi haissable, sei nur
der defiziente Modus einer ursprünglichen Kommunikation von Ich und Du, das Re-
sultat einer Abschließung. Nicht das Ich, sondern die Beziehung auf ein Du sei das Er-
ste, wobei dieses Du nicht selbst wieder die Stelle des Ich einnehmen könne - eine für
manche Dialogiker reale Gefahr. Ebner deutet diesen Sachverhalt religiös (wobei er
sich zu jeglicher Theologie äußerst skeptisch verhält): Die wahre Beziehung von Ich
und Du sei in der Liebe gegründet, und Ebner gebraucht dafür das evangelische Wort
vom Reich Gottes. Es sei »nicht im Menschen in der inneren Einsamkeit seiner Exi-
stenz, sondern darin, daß sich das Ich im Wort und in der Liebe und im Wort und in
der Tat der Liebe dem Du erschlossen hat [...] als die Gemeinschaft geistigen Lebens«14.
Ebner bezieht sich in der Abhandlung Versuch eines Ausblicks in die Zukunft auf
Buber, Rosenzweig und auch Friedrich Gogarten, aus dessen Buch Ich glaube an den
dreieinigen Gott er einige längere Zitate bringt. Dabei ist es für Ebner »fraglich, ob die
Theologie überhaupt noch zu retten ist, handle es sich um eine katholische oder irgend-
eine protestantische« des handfesten Bibelglaubens«15. Ebner zitiert Gogarten zustim-
mend, daß nicht »an die Stelle des absoluten Ich ein absolutes Du gesetzt« werde, »wo-
mit doch nur wieder die Einheitlichkeit, der Monismus der Wirklichkeit behauptet wä-
re und durchaus nicht anerkannt würde, daß die Wirklichkeit zweiheitlich, gegensätz-
lich ist«16.

12 Heideggers Rede in Ludwig von Ficker, Denkzettel und Danksagungen. Aufsätze - Reden. München
1967, S. 348 f.
13 So in der Aufzeichnung vom 5. September 1922, in: Ferdinand Ebner, Schriften 11. München 1963, S.
293. Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld bemerkt zu dieser Stelle: »Für Ebner ist nun charakteri-
stisch, daß er sich im Gegensatz zu Heidegger bei dem Sein, das es gibt, leider nicht weiter aufhält,
weil er vom anscheinend bloß apersonalen Sinn des 'Es gibt' wegdrängt zum eindeutig personalen
Sinn des Gegebenseins, genauer: des Sich-Gegebenseins im Wort.« Personales Sein und Wort. Ein-
führung in den Grundgedanken Ferdinand Ebners. Wien u.a. 1985, S. 25.
14 Ferdinand Ebner: Schriften I. München 1963, S. 272 f.
15 Ebd. S. 810.
16 Friedrich Gogarten, Ich glaube an den dreieinigen Gott. Eine Untersuchung über Glauben und Ge-
schichte. Jena 1926, S. 37.
HEIDEGGER IM KONTEXT DER DIALOGISCHEN PHILOSOPHIE 163

Löwith schreibt mit Blick auf solche Übereinstimmungen, Gogarten habe unter
»Aufnahme der Gedankengänge Ebners [...] den Begriff vom ,Du' ausdrücklich theolo-
gisch bestimmt« (133). Doch bleibt er den Nachweis dieser Verbindung schuldig. Man
wird die Parallelen zu Ebner nicht übersehen, doch ist dieser bei Gogarten zu wenig
präsent, als daß von einer »Aufnahme der Gedankengänge« die Rede sein könnte.
Auch Löwith bezieht sich auf Gogartens zwei Jahre vor Abschluß seiner Habilita-
tionsschrift erschienenes Buch Ich glaube an den dreieinigen Gott, einer »Untersuchung
über Glauben und Geschichte«, orientiert am »Geschehnis der Offenbarung Gottes
des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes«, wie der Verfasser im Vorwort
schreibt. Sosehr aber der Beziehung von Ich und Du Aufmerksamkeit geschenkt wird,
so ist doch der Akzent auf das Du gelegt - »weil erst Du mich als Ich >setzen< und in
Anspruch nehmen kannst« (133). Die Formulierung ist m.E. eine Überinterpretation,
die sich weniger auf Gogarten als auf Kierkegaards Krankheit zum Tode stützen kann,
wo das Selbst der Verzweiflung insofern entgeht, als es sich dafür freigibt, daß es
»durch ein Andres gesetzt« ist17. Diese fichteanische Formulierung ist hier schöpfungs-
theologisch gemeint.
Für Gogarten ist zwar der Glaube »ganz in die Du/Ichbeziehung hineingestellt«,
doch ist dies sozusagen nur das proteron pros hemas; dennproteron physei ist nicht jene
Beziehung, sondern der Glaube, der freilich nicht anders denn in der Zweierbeziehung
erscheint. »Begegnung mit dem konkreten Du« ist sein Inhalt, doch ist er stets »Glaube
an die Schöpfung«, der darin beruht, »daß alles Glauben in den Glauben an den Herrn
[Jesus Christus] gestellt ist. Glaube ist nicht die Erkenntnis einer allgemeinen Vernunft-
wahrheit - und er wäre dies auch dann, wenn dieses als Schau von Gottes unsichtbarem
Wesen ausgelegt würde -, sondern Glaube, der an ein »Ereignis« gebunden ist, näher-
hin »Glaube an ein zeitliches Ereignis«.
Daß sich der Glaube überhaupt zeigt - als proteron pros hemas -, setzt die Anerken-
nung voraus, »daß die Wirklichkeit zweiheitlich, gegensätzlich ist«; damit sei »das Ich
endgültig aus seiner Isoliertheit herausgedrängt«. Könnte es sein, daß Heidegger mit
stillschweigendem Bezug auf solche Aussagen von einer »metaphysischen Isolierung«
der Egoitat bzw. Selbstheit spricht?
Löwith meint eine Verkehrung der zunächst natürlichen Richtung vom Ich zum An-
dern »in eine Du-mich-Beziehung« zu erkennen (133). Doch widerspricht dem nicht
Gogarten selbst? Mit der Gegensätzlichkeit der Wirklichkeit und dem damit verbunde-
nen Durchbruch durch den »Monismus der Wirklichkeit« sei »nicht an die Stelle des
absoluten Ich ein absolutes Du gesetzt« - so in der von Ebner zitierten Stelle -, weil da-
mit der Monismus nur restituiert wäre.
Gogarten will keine philosophische Deutung der menschlichen Existenz geben, son-
dern nur (aber auch nicht weniger als dies) die falschen Ansprüche der Philosophie -
»einer systematischen Philosophie«18 - zurückweisen, und er fundiert diese Zurück-

17 Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Gütersloh 3 1985, S. 9. Zum Sachverhalt, daß Ebner zu
sich gefunden hat, indem er sich schrittweise von Kierkegaard befreite, vgl. Verf., Ferdinand Ebner
und Sören Kierkegaard. In: Gegen den Traum vom Geist. Ferdinand Ebner. Hg. v. W. Methlagl u.a.
Beiträge zum Symposion Gablitz 1981. Salzburg 1985, S. 116-125.
18 Gogarten (Anm. 16) 60, 61, S. 48 (vgl. 1), 37, 38.
164 HELMUTH VETTER

Weisung im Glauben, da alle Zweiheit von Ich und Du der Welt als Schöpfung fundiert
sei. Darin wird der Mensch der Geschichte inne19.
Heidegger hätte wohl große Bedenken gehabt, die Ich-Du-Beziehung in die Gottes-
beziehung hineinzunehmen. Gerade in der in GA 26 dokumentierten Vorlesung geht er
ja über die frühere Selbstcharakteristik der Philosophie als Atheismus hinaus und rich-
tet nun direkt einen Angriff gegen »die üblichen Gläubigen, Angehörigen einer >Kir-
che<« und »gar die >Theologen< jeder Konfession« (Ebner hat Ähnliches gesagt). Heißt
es früher: »Philosophische Forschung ist und bleibt Atheismus [...]« und noch einige
Jahre zuvor: »Philosophie muß in ihrer radikalen, sich auf sich selbst stellenden Frag-
lichkeit prinzipiell a-theistisch sein« so spricht Heidegger nun von der »gewaltsam un-
echten Religiosität«, bei der »der dialektische Schein besonders groß ist«20. Sollten die
Hörer vielleicht auch daran denken, daß selbst die Dialektische Theologie dem dialek-
tischen Schein verfällt? Jedenfalls läßt Heidegger hier anklingen, der »echte Metaphy-
siker« sei vielleicht religiöser als die üblichen Gläubigen oder gar Theologen jeder
Konfession.

4. Eberhard Grisebach

Ob der Protestant Gogarten, »Mitstreiter« des von Heidegger offenbar stets mit größ-
ter Achtung behandelten Theologen Bultmann, hier gleichfalls gemeint ist, läßt sich aus
dem Text nicht herauslesen. Immerhin hätte Löwith auch einen nichttheologischen
Zeugen anführen können. Gogartens philosophische Bezüge deuten weniger, als
Löwith meint, auf Ebner, als vielmehr auf einen Philosophen, der heute weithin verges-
sen ist, während er in den zwanziger Jahren gerade im Umkreis der Dialogiker eine
nicht unbedeutende Rolle gespielt hat, ohne allerdings diesen sich zuzurechnen, ja so-
gar in einem gewissen Gegensatz zu ihnen: Eduard Grisebach.
In seiner Theologischen Enzyklopädie - sie ist in Marburg entstanden, als Heidegger
dort lehrte - spricht Rudolf Bultmann kurz von jener Philosophie, die »das Problem
der Existenz auch von sich aus behandelt« und zählt lapidar auf: »Heidegger, Jaspers,
Grisebach«21. Diese Auflistung zeigt, wie präsent der Letztere war. Daß ihn Löwith
nicht erwähnt, hat später auch Binswanger bei seinem großangelegten Versuch, das
»Miteinandersein von Mir und Dir« darzustellen, festgestellt22.
Heideggers Stellung zu Grisebach war äußerst negativ. Bisher ist nur die eine Stelle
im Briefwechsel mit Jaspers veröffentlicht, wo Heidegger schreibt, die philosophische
Fakultät der Frankfurter Universität habe ihn gebeten, für die Schelernachfolge einen
Dreiervorschlag zu erstellen; ins Spiel wurden gebracht: Grisebach, Jaspers, Kroner,
Tillich und Wertheimer. Heidegger an Jaspers: »[...] ich schrieb ihnen, es sei eine völlige

19 Es wäre hier anzumerken, daß Gogarten später die Säkularisation als ein positives Phänomen zu be-
greifen versucht hat; vgl. sein Buch Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Stuttgart 1958.
20 G A 2 6 , S . 2 1 1 , G A 2 0 , S . 109 f, G A 61, S. 197.
21 Rudolf Bultmann, Theologische Enzyklopädie. Hg. v. Eberhard Jüngel und Klaus W Müller. Tübin
gen 1984, S. 1118.
22 Ludwig Binswanger, Ausgewählte Werke, Band 2. Grundformen und Erkenntnis menschlichen Da
seins. Heidelberg 1993, S. 793.
HEIDEGGER IM KONTEXT DER DIALOGISCHEN PHILOSOPHIE 165

Unmöglichkeit, Sie mit den übrigen auch nur zu nennen. Der einzige Weg: Jaspers uni-
co loco f...]«23 In einem Brief an Bultmann, 29. März 1927, äußert sich Heidegger vor-
sichtig skeptisch zu Barth und Gogarten, eindeutig ablehnend aber gegenüber Grise-
bach, dem er unterstellt, »daß er alles viel zu leicht nimmt und aller >Ernst< für ihn nur
Thema einer konfusen Theorie bleibt«24. Zwei Jahre später ist von der »Kläglichkeit«
von Grisebachs Philosophieren die Rede, »unbeschadet seiner persönlichen Anständig-
keit«25. Auf Heideggers fragwürdiges Verhalten ist noch hinzuweisen.
Doch fiel nicht überall das Urteil über Grisebach so ungünstig aus. Buber beschei-
nigt diesem sogar die »strenge und überstrenge Folgerichtigkeit der radikalen Kritik«,
wenn sie auch »manchen konkreten Gehalt der Du-Beziehung opfere«26. Theunissen
hat ihm verhältnismäßig viel Raum gegeben und wahrscheinlich am sachlichsten in die
Geschichte des dialogischen Denkens einbezogen, ohne besondere Sympathie, doch
mit großer Umsicht. Wenn er ihn als »Variante des Dialogismus« behandelt, ist er sich
darüber im klaren, dem Selbstverständnis des so Beurteilten zuwiderzuhandeln 27 .
Klaus-Michael Kodalle hat den Versuch unternommen, Grisebach dem Vergessen zu
entreißen; Anlaß war der 50. Todestag28. Das Buch enthält einen Hinweis auf Heideg-
ger, der noch nachträglich erschreckt: »Mit welchem Mangel an Souveränität Heideg-
ger auf die Herausforderung .Grisebach' reagierte, mag man daran ersehen, daß er das
Buch >Gegenwart< (wie auch Werke anderer Autoren!) aus der Bibliothek des Freibur-
ger Philosophischen Seminars verbannte.«29
Daß Grisebach für sich ein »kritisches Denken« in Anspruch nimmt, das ihn von al-
lem anderen Denken unterscheidet, mag überzogen erscheinen; doch ist auch bei ande-
ren Denkern des Dialogs das Bewußtsein vorhanden, ein »neues Denken zu bringen«.
So stellt Rosenzweig in seiner Rezension zur Zweitauflage von Hermann Cohens Reli-
gion der Vernunft 1929 (1930 posthum erschienen) fest, Heidegger habe in der Davoser
Disputation gegen Cassirer »eine philosophische Haltung, eben die Haltung unseres,
des neuen, Denkens vertreten [...]«30.
Worin besteht nun das »Neue« im Denken Grisebachs? Neu ist es dem eigenen
Selbstverständnis nach insofern, als es sich gegen die transzendentalphilosophische
Konstitution der Welt durch das Ich wendet. Zu den von seinem »kritischen« Denken
Zurückgewiesenen gehört auch Heidegger. Er zählt für ihn zu jenen, deren »konkrete-
res System« »dem Vorwurf einer »Standpunktphilosophie« dadurch zu entgehen hofft,
daß es hinter alle Systeme auf die Vorgegebenheit des Seins zurückgreift«31. Grisebach

23 Martin Heidegger/Karl Jaspers, Briefwechsel 1920-1963. Hg. v. Walter Biemel und Hans Saner.
Frankfurt und München/Zürich 1990, S. 110.
24 Briefwechsel Hcidegger-Bultmann, Nr. 4. Für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in den Heidegger-
teil danke ich dem Mitherausgeber, Herrn Dr. Andreas Großmann, sehr herzlich.
25 Ebd. Nr. 31, Brief vom 9.4.1929.
26 Buber (Anm. 5) S. 312.
27 Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin 1965, S. 363.
28 Geboren am 27. Februar 1880 in Hannover, gestorben am 16. Juni 1945 in Zürich.
29 Klaus-Michael Kodalle, Schockierende Fremdheit. Nachmetaphysische Ethik in der Weimarer Wen-
dezeit [Eberhard Grisebach]. Wien 1996, S. 47.
30 Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften 3: Zweistromland. Kleinere
Schriften zu Glauben und Denken. Dordrecht et al. 1984, S. 236.
31 Eberhard Grisebach, Gegenwart. Eine kritische Ethik. Halle 1928, S. 88. - Die Seitenzahlen im Text
beziehen sich in diesem Abschnitt auf dieses Buch.
166 HELMUTH VETTER

versucht die »alte« Philosophie zu unterlaufen, indem er ähnlich wie Gogarten bei der
Ursprünglichkeit der Ich-Du-Beziehung ansetzt, doch dies weiter zuspitzt. Anders als
Buber und selbst Gogarten sieht er keine Möglichkeit einer Äquivalenz der Bezie-
hungsglieder von Ich und Du. Der übliche Ausgang vom Mitmenschen erweise sich in
seinem Kern als »Eitelkeit und Selbstliebe« (560). Er sei eine bloße »Entfaltung der
Egoitat« (man wird hier wohl nicht von einer Reaktion Heideggers in GA 26 sprechen
können, doch die Nähe verblüfft), denn der Mitmensch gehöre »zunächst mit zum ei-
genen Wesensbestande, solange er mir nur als Mit-Mensch begegnet« (561). Die Tren-
nung mit Bindestrich »Mit-Mensch« zeigt an, daß er nur »Mensch mit Mensch« ist, wie
bei Scheler bloß eine Dublette des Ich, nicht in seiner Andersheit. Diese Begegnung sei
bloß die mit einem »wesensgleichen Menschen« (562).
Die Ursprünglichkeit des Ich-Du-Verhältnisses kann Grisebach zufolgt darin nicht
liegen. Es ist mehr als eine bloß psychologische Feststellung, wenn er schreibt: »Der
Mitmensch ist trotz aller Versicherung der Menschenliebe meist nur ein wesentliches
Moment, das die Entwicklung der Egoitat fördert.«32 Doch in der Auslegung dieses
Gedankens, der ein zumindest hypothetisches Gespräch mit Heidegger ermöglichen
könnte, fällt Grisebach hinter seine eigene Intention zurück.
Im Versuch nämlich, die Andersheit rein zu bewahren und vor ihrer Vereinnahmung
in eine - wie immer gedachte - Egoitat zu schützen, setzt er nun alles auf das Du. Es
geschieht damit das, was Löwith eigentlich Gogarten zugedacht hat, bei diesem aber
durch die biblische Fundierung doch einen bestimmten Sinn erhält: die Umkehrung
der Fundierungsrichtung von Ich zum Du zu einer »Du-mich-Beziehung«. Dietrich
Bonhoeffer hat in seiner Antrittsvorlesung das Neue an Grisebach darin gesehen, »daß
er den Menschen nicht denken kann ohne den konkreten anderen Menschen«, ein
Scheitern dieses Rettungsversuchs aber darin erblickt, daß Grisebach »an Stelle des Ich
nun das Du verabsolutiert und ihm eine Stellung gibt, die nur Gott selbst zukommen
kann«33. Das ist ein theologisches Argument, das am Ende das eigentliche Verhängnis
jener Verabsolutierung des Du gar nicht trifft. Denn in dieser Radikalisierung des Du
vollzieht sich strukturell nur eine Umkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in ein
Du-Objekt-Verhältnis, in welchem dem Ich die traditionelle Rolle des Objekts zu-
kommt. Ist das Du als selbst-loses Wesen nur noch Objekt, so wird hier dem Ich das
Selbst genommen und es folgerichtig damit zum Objekt depotenziert. »Gogartens Be-
griff vom >Du< als dem eigentlichen .Subjekt' der Ich-Du-Beziehung« 34 trifft unter die-
sem Gesichtspunkt auf Grisebach zu.
Das zeigt sich nicht zuletzt selbst dort, wo von Grisebach positive Anstöße für ein
Denken des Anderen ausgehen. Dabei ist von jenem Problem auszugehen, das im Zent-
rum des Buches steht und worauf auch der Titel Gegenwart anspielt: das »Zeitpro-
blem« (576). Es stellt sich als Problem der »wirklichen Zeit« und unter Infragestellung
aller »Zeitsysteme« (555). Der Buchtitel Gegenwart meint dialogische Gegenwart. Dies
ist kein Spezificum Grisebachs, wie überhaupt das Zeitproblem den »einheitlichen
Grundzug« der Philosophie des Dialogs ausmacht, wie Theunissen festgestellt und mit

32 Ebd.
33 Bonhoeffer-Auswahl 1. Anfänge 1927-1933. München/Hamburg 1970, S. 95. Zu Grisebach und
Bonhoeffer ausführlich Kodalle (Anm. 36) S. 135 ff.
34 So der § 36 bei Löwith.
HEIDEGGER IM KONTEXT DER DIALOGISCHEN PHILOSOPHIE 167

zahlreichen Beispielen belegt hat. Dabei spielt das Moment der Zukunft die entschei-
dende Rolle. Theunissen sagt sogar: »Diese Zukünftigkeit der dialogischen Gegenwart
hat am eindringlichsten Grisebach bedacht f...]«35
Diesem geht es primär um Ethik, was besagt: sich einer immer schon vorausgehen-
den, unvorhersehbaren und unverfügbaren Wirklichkeit zu stellen. Das schlägt auf die
Methode durch: Die wissenschaftliche Methode hat nur einen wissenschaftlich
ten Gegenstand als Objekt theoretischer Besinnung. Ihr Grundzug ist Erinnerung, das
Wissen auf Vergangenes bezogen. In einer früheren Sammlung von Reden zieht Grise-
bach daraus den für diese Zeit bemerkenswerten Schluß, auch die Erwartung einer
Führerrolle sei die Beziehung auf schon Vergangenes, da Bekanntes: »In der Wirklich-
keit des Menschen kann nicht mehr von einem einzelnen Führer gesprochen wer-
den.«36
Das Erwarten bleibt im allgemeinen auf ein Eintretendes in das »System« der Zeit
bezogen (576). Allerdings gebe es auch eine »Erwartung der eigenen Infragestellung«,
die »auf eine Welt der Erfahrung hoffen« darf (70). Doch im Allgemeinen gilt, daß die
Erwartung mit Zukunft rechnet, diese »in Rechnung« stellt, wobei selbst Tod und Ge-
wissen nicht ausgenommen sind. Erwartung ist nur insofern auf die eigentliche Zu-
kunft bezogen, als sie auch für das nicht Erwartete offen ist. Ansonsten sind aber selbst
»Tod und Grab, das Du und das Absolute« schon Erinnertes und damit »zu berech-
nende Gegenstände«, wie Grisebach offenkundig auch gegen Heidegger einwendet.
Das Gewissen sei sogar »das bedeutendeste Beispiel einer Berechnung des Zukünftigen
als Erwartung«, weil in ihm nichts anderes gesagt werde, »als was wir schon wissen
konnten« (576 f)-
Nur in einer Fußnote wehrt Grisebach Heideggers Analyse des Todes aus Sein und
Zeit ab (589 f). Die Auseinandersetzung mußte für ihn zentral sein, weil Heidegger
dem Moment der Zukunft ein besonderes Gewicht zumißt. Trotzdem, so behauptet
Grisebach, sehe jener »am Problem der ethischen Wirklichkeit« vorbei. Zwar versuche
er, »gegenüber dem Unendlichkeits- und Ewigkeitstaumel eines sterilen Idealismus das
,endliche', wirkliche Dasein wiederzugewinnen«, doch sei dies nicht die eigentliche
Zukunft. Heidegger erblicke das ursprüngliche Phänomen der Zukunft im Vorlaufen
zum Tod und interpretiere jene von da aus als »die Kunft, in der das Dasein in seinem
eigensten Seinkönnen auf sich zukommt«. Heidegger weiter: »Nur als Gegenwart im
Sinne des Gegenwärtigens kann die Entschlossenheit sein, was sie ist: das unverstellte
Begegnenlassen dessen, was sie handelnd ergreift.«37
Grisebach greift dieses Wort »Gegenwart« auf und wendet ein, hier sei nur scheinbar
»die Arroganz des Fichtischen Ich durch das entschlossene Bekenntnis des Daseins zu
sich selbst, zu .seinem wesenhaften Schuldigsein', überwunden«, hier sei »nicht weni-
ger grenzenlose Egoitat als die Absolutheit des Fichtischen Ich«, ja hier feiere der »an-
tike Schicksalsglaube [...] im Mythos vom eigentlichen Menschen Auferstehung« (dies
auch als Denkanstoß für Theologen gemeint). Das Resultat dieser Einwände: »Von ei-
nem wirklichen Ende, das zur Analyse der .Gänze' des Daseins wahrhaftig nicht mehr

35 Theunissen (Anm. 27) S. 298.


36 Eduard Grisebach, Die Grenzen des Erziehers und seine Verantwortung. Halle 1924, S. 52
37 G A 2 , S . 4 3 1 .
168 HELMUTH VETTER

benutzt werden kann, weil es nur im jeweiligen Widerspruch und Leid erfahren wird,
sieht Heidegger nichts.«
Die zukünftige Gegenwart in Grisebachs Entwurf muß aus inneren Gründen auf die
Frage nach der Ganzheit des Daseins verzichten. Angesichts dessen erscheint das Vorlau-
fen zum Tod, der »je meiner« ist, als Ausweichen vor der eigentlichen Gegenwart, die
nicht in der Erwartung, sondern in der Begegnung aufgehe. Diese stelle sich einer Zu-
kunft, die wesentlich »Zufall« sei. Grisebach kündigt programmatisch eine »Lehre von
den Modalitäten des Zufalls« an, in der die verschiedenartigen Weisen von Zufall vom
»einzigen echten Zufall« zu unterscheiden wären (579 f). Man kann unabhängig davon
auf einen Sprachbefund hinweisen, der dies verdeutlichen mag. Das griechische kata
symbebekos wie das lateinische acadens meinen solches, das zugefallen ist, überhaupt das
nicht zum Wesen Gehörige. Das mittelhochdeutsche zuoval kommt dem von Grisebach
gemeinten Sachverhalt näher: »Anfall, Angriff, das Zuteilwerden«38. Im Zu-fall tut sich
Zukunft auf, Zukunft, die selber als Zufall konkret wird, als ein von Außen Kommendes:
»Die entscheidende Zukunft als Zufall kommt von außen zu allem, was sich denken und
schauen läßt, als die radikale Verneinung jeder selbstsüchtigen Hoffnung und
nung« (580). In solcher Zukunft liegt »die Erfüllung der realen Zeit« (586). Und umge-
kehrt: »Die reale Zeit beginnt erst außerhalb der berechenbaren Zeit durch Zufall.« (587)
Die sich solcher Zukunft stellen, sind in Grisebachs Sprache - und, wie wir heute wissen,
nicht nur in seiner39 - »die Zukünftigen« - »die, die im Heute die Begrenzung durch den
Zufall annehmen und der Begegnung nicht mehr ausweichen« (593).
Solche Begrenzung durch den Zufall kann nicht heißen, die eigenen Grenzen erken-
nen, was immer noch eine auf die eigene Identität bezogene Leistung wäre; sondern
durch ein Ereignis von außen an die eigenen Grenzen gebracht werden. Die Zukünftigen
erfahren in der Zukunft - Gegenwart. Wer nichts von der Zukunft erwartet, dem begeg-
net sie, und dies ist »völlige Befreiung von allen Erwartungen und Illusionen« (578).
In solch gegenwärtiger Zukunft begegnet der Andere. Grisebach scheint dieses Wort
dem vor allem bei Buber üblichen »Du« vorzuziehen, vielleicht einerseits zur Beto-
nung der Eigenart seines »kritischen« Denkens, wohl aber auch deshalb, um dessen
»Andersheit« hervorzuheben. Schon in den Grenzen des Erziehers galt die pädagogi-
sche Situation als Leitmodell, und auch in der Gegenwart widmet sich Grisebach aus-
führlich Beispielen der Erziehung. Daher wird der Andere aus dieser Situation heraus
dargestellt: »Es steht dem Erzieher nun ein andrer gegenüber, der durch den Glauben
an die Mächtigkeit der Identität nicht mehr in Wirklichkeit zu bewältigen ist.« (138) In
diesem »andren« erfüllt sich der Sinn von Begegnung - nicht als Eintritt in ein gemein-
sames Einverständnis, was wiederum auf Identität hinausliefe, sondern im Wort.
Grisebach unterscheidet zwischen dem Wort als »Ausdruck eines Sachverhalts« und
als Wort, das »durch einen Anspruch herausgefordert« wird (162). Erst dieses gibt den
Anderen in seiner Andersheit frei, erst darin zeigt sich der »Widerspruch der gesonder-
ten Person« (163). Der andere Mensch ist, da der Sprache und des Widersprechens mäch-
tig, der Einzige, der Andersheit verbürgt: »Der andere Mensch ist das einzige Geschöpf in

38 Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet [...] unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer.
München21997, 1625.
39 Heidegger, GA 65, Abschnitt VI »Die Zu-künftigen«.
HEIDEGGER IM KONTEXT DER DIALOGISCHEN PHILOSOPHIE 169

der Natur, das sich der Besitzergreifung ausdrücklich widersetzt.« Die Begegnung mit
Andersheit wird zur exklusiven Beziehung der Widersetzung bzw. des Konflikts. Erst
mit der »Beziehung zum Menschen als Konflikt« wird der gleiche Wesensbereich der Er-
innerung verlassen und der Schritt auf den »Boden der Erfahrung« getan (303).
Wird damit der Andere instrumentalisiert und am Ende der Widerspruch absolut ge-
setzt, was doch einer methodischen Grundvoraussetzung Grisebachs zuwiderliefe? Den
Widerspruch »prinzipiell und absolut anzuerkennen« wäre immer noch ein Entschluß
des Identitätsdenkens, ein letzter Rettungsversuch der Erkenntnis (152). Der Wider-
spruch ist, könnte man sagen, kein Prinzip, sondern der jeweils in Erfahrungen begeg-
nende - Widerspruch, und darüber hinaus nichts. Den Widerspruch zum Prinzip erho-
ben zu haben, wirft Grisebach Kierkegaard vor, weil dieser den »wirklich vernehmba-
re[n] Widerspruch« nicht gesehen und ins eigene Ich hineinverlegt hätte (154). Kierke-
gaard unterliege demnach immer noch der Erkenntnis mit ihrem Absolutheitsanspruch,
dagegen gelte: »Jeder Versuch der Erkenntnis, die Gegenwart zu beherrschen, muß
schlagen, weil die Erkenntnis in ethischer Hinsicht selbst eine Verfehlung ist.« (155)
Die völlige Befreiung geschieht im Hören als dem eigentlichen Akt, »das Heute
fenzuhalten«: »Wo die eigene Rede abbricht, beginnt das Hören. [...] Die Offenheit des
Ohres und nicht des Mundes wird bedeutsam. Der Hörende behält all sein Wissen, [...]
er vergißt nicht das Bewußte, wohl aber den Anspruch des Wissens und des Gefühls.«
(577) Dies klingt nach der psychoanalytischen Grundregel für den Arzt, von Freud
daraufhin zugespitzt: »Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas
merke.«40
Grisebach hat die Andersheit des Anderen gerettet, allerdings um den Preis dessen,
der vom Anderen angesprochen wird. Das Ergebnis ist eine Entselbstung des Selbst,
nicht als Entfremdung, sondern in der noch weitergehenden Weise der Objektivierung.
Grisebach sagt es selbst: »Es ist ja das Subjekt der Erkenntnis in praktischer Hinsicht
Objekt geworden.« (308) Objekt werden - heißt das noch: Hörenkönnen? Buber, der
die »unerbittliche Lauterkeit« Grisebachs würdigte, hat in dieser einseitigen Verlage-
rung auf das Du-Subjekt vermißt, »daß ich in einer wirklichen Begegnung mit meinem
Nächsten vor lauter Übung des geforderten Hörens auf die Anderheit des Anderen ge-
rade jene Hilfe verfehlen kann, auf die es ankam: die Erschließung eines gemeinsam zu
Betrachtenden. Sich vom Du wirklich begrenzen zu lassen ist wichtig, aber weit wichti-
ger mag es sein, sich zusammen mit ihm dem uns beide einander entgrenzenden Unbe-
grenzten auszusetzen.«41 Aber würde ein solches »gemeinsam zu Betrachtendes« nicht
gerade wieder verfehlen, worum es Grisebach ging, nämlich die Andersheit?

5. Ausblick

Die Frage: Was wäre gewesen, wenn ...? ist nicht nur Historikern obsolet. Gleichwohl
stellt sich die Frage, ob manches am dialogischen Denken, hätte Heidegger reagiert, zu
einer beiderseitigen Korrektur hätte führen können. Ich sehe davon ab, daß mit Sein

40 Sigmund Freud, Studienausgabe, Ergänzungsband. Frankfurt 3 1975, S. 172


41 Buber (Anm. 5) S. 301.
170 HELMUTH VETTER

und Zeit - neben der Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik und dem Kantbuch für
einige Zeit das Einzige, das den damaligen Zeitgenossen zugänglich war - ein so außer-
ordentliches Werk vorlag, daß daneben die meisten anderen Schriften aus jener Zeit
verblassen. Ich habe am Beispiel Grisebachs zu zeigen versucht, wie Absicht und Aus-
führung zuweilen eigene Wege gehen. Aber ist das Motiv deshalb falsch? Ich möchte
hier nochmals Heideggers Unterscheidung von ontologischer und ontischer Aussage
und deren Parallelisierung mit der metaphysisch isolierten Egoitat bzw. Selbstheit ei-
nerseits, der Ich-Du-Beziehung auf der anderen Seite heranziehen.
Es fragt sich, ob hinreichend ausgewiesen ist, daß diese Beziehung, die Differenz
selbst im ontologischen Entwurf keinen Ort hat. Worin gründet der Vorgriff auf Ein-
heit, die erst die Differenz aus sich entläßt (wobei die neuplatonischen und gnostischen
Anklänge nicht zu überhören sind)? Versteht sich die metaphysisch isolierte Egoitat
von selbst, ist sie phänomenal hinreichend ausgewiesen? Was hindert sachlich daran, je-
ne Differenz im Dasein selbst zu entdecken? Das Dasein, sagt Heidegger in der letzten
Marburger Vorlesung, sei »in sich überschüssig, d.h. durch eine primäre Ungenügsam-
keit an allem Seienden bestimmt«, und dies »sowohl metaphysisch überhaupt als auch
existenzial in der faktischen Vereinzelung«42. Wenn faktische Vereinzelung schon in
sich auf Anderes verweist, was bedeutet dies dann »metaphysisch überhaupt« ? Darf gar
die Faktizitat als Indikator aufgefaßt werden, daß Dasein immer schon und nicht erst
nachträglich »zerstreut« ist und deshalb zwiefältig existiert? Woher sonst die Ungenüg-
samkeit? Hat Heidegger am Ende mit der Gleichursprünglichkeit von Existenz und
Faktizitat einen Weg eröffnet, die ursprüngliche Differenz (also nicht eine empirisch
konstatierte Zweiheit der Geschlechter) und damit auch das »dialogische Prinzip« in
exemplarischer Weise zu fundieren?
Grisebach hat in der Todeserfahrung nur eine »Entfaltung der Egoitat« erblickt; bei
diesem für Heidegger wohl typischen Mißverständnis läßt er es bewenden. Er hätte
aber das ausgezeichnete Seinkönnen im Sein zu Tode - wie es Sem und Zeit so überaus
eindringlich vor Augen stellt - auch daraufhin befragen können, wie es damit steht, daß
das Sterben der Anderen dort einzig aus der Perspektive des Geredes, des Man, der Ni-
vellierung begegnet43 - und somit aus der Sicht dialogischen Denkens im strengen Sinn
nicht begegnet. In einer der beiden Vorlesungen aus dem letzten Jahr seiner akademi-
schen Lehrtätigkeit hat Emmanuel Levinas gerade das Sterben des anderen Menschen
als jene Beziehung aufgewiesen, in der wir den Tod in seiner Negativität denken (er-
fahrbar ist er nur über diese Beziehung): »Unruhe des Selben durch das Andere, ohne
daß das Selbe jemals das Andere verstehen, es einschließen könnte« 44 . Ich behaupte
nicht - das wäre in mehrfacher Hinsicht unsinnig -, Levinas habe Grisebach weiterge-
dacht45, doch scheinen hier Anworten eingefordert zu werden ähnlich solcher im
früheren dialogischen Denken, ohne daß Heidegger darauf Bezug genommen hätte. Ist
bei Levinas die extreme Begegnung mit dem Anderen, dem ich Geisel bin, der mir mit

42 GA26, S.248.
43 GA2, S.336.
44 Emmanuel Levinas, Gott, der Tod und die Zeit. Wien 1996, S. 22 und 29.
45 Auf den Bezug Gnsebach-Levinas weist Kodalle (Anm. 29) mehrfach hin, vgl. S. 48 f.
HEIDEGGER IM KONTEXT DER DIALOGISCHEN PHILOSOPHIE 171

seinem Antlitz bedeutet, ihn nicht zu töten46, nicht eine Situation, in dem das Aus-
zeichnende der Begegnung ebenfalls der Konflikt ist, und dies im Widerspruch zu dem
die Tradition kennzeichnenden Denken der Totalität - Grisebachs »Vorgegebenheit des
Seins« nicht ganz unähnlich?
Das Gespräch zwischen Heidegger und Philosophen des Dialogs bzw. einigen, die
diesen nahegestanden sind, hat trotz mancher Bezüge nicht wirklich stattgefunden;
manches erscheint erst in der Retrospektive als Verlust. Doch ist dies nicht auch ein In-
diz, daß von Heidegger her nicht nur der eine Denkweg, dem Otto Pöggeler nachge-
gangen ist, weiterführt, sondern von Anfang an auch, wieder mit Pöggeler, »neue Wege
mit Heidegger« möglich sind?

46 Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphiloso-
phie. Freiburg/München 1983, S. 281 ff.
Pöggeler zum 70. Geburtstag
THEODORE KISIEL

Gibt es eine formal anzeigende Hermeneutik nach der Kehre?

Mehr als eine Rezension meines Buches, The Genesis of Heidegger's »Being and Time«,
haben darauf aufmerksam gemacht, daß das eigentlich Neue und Überraschende in die-
ser faktischen Vorgeschichte des Entstehens und Entfaltens des Begriffszusammen-
hangs, der endlich den Buchtitel »Sein und Zeit« (= SZ) tragen würde, ist die still-
schweigende Herrschaft des »bisher unbekannten« Themas der »formalen Anzeige«.
Von der Habilitationsarbeit über den doctor subtilis Duns Scotus 1915, wo die scoti-
sche »spekulative [formale] Grammatik der haecceitas« sich als Vorläufer einer »Her-
meneutik der Faktizitat« (zuerst 1919) zeigt1, bis zu »Sein und Zeit« 1927, wo es etwa
ein halbdutzend Mal jemals ohne Erklärung auftaucht (SZ 53, 114, 116f, 179, 231,
313-315; aber auch »vorläufige Anzeige«, 14, 16, 41)2, ist die »formale Anzeige« dau-
ernd da. Aber fast wie eine »Geheimwaffe« in dem methodischen Arsenal Heideggers
bleibt es zumeist im Hintergrund der Entstehungsgeschichte von SZ.3 Im Hinblick auf
diese versteckte Geschichte der jahrzehntelangen Strecke des Weges von der Scotus-
Dissertation zu SZ schreibt Heidegger an seinem Schüler Karl Löwith am 20. August
1927, im Zusammenhang mit der ontischen Fundierung der Ontologie:

Die Probleme der Faktizitat bestehen für mich ebenso wie in den Freibürger Anfängen -
nur sehr viel radikaler und jetzt in den Perspektiven, die auch in Freiburg für mich leitend
waren. Daß ich mich mit Duns Scotus und dem Mittelalter und dann zurück mit Aristoteles
ständig beschäftigte, ist doch kein Zufall. [...] Ich mußte zuvor extrem auf das Faktische los-
gehen, um überhaupt die Faktizitat als Problem zu gewinnen. Formale Anzeige, Kritik der
üblichen Lehre vom Apriori, Formalisierung und dergleichen ist alles noch für mich da [in
SZ], wenn ich auch jetzt nicht davon rede.4

Immer wieder wird die formale Anzeige »durch ihre Abwesenheit glänzend.« Im
Herbst 1924 schreibt Heidegger für eine neugegründete Zeitschrift einen 70-Seiten-Ar-
tikel mit dem Titel »Der Begriff der Zeit«, der sich der Struktur und dem Inhalt nach
als die allererste Fassung von SZ beweist. Gleichzeitig schreibt Heidegger an Löwith,
daß er wegen Beschränkungen in der Länge des Artikels »wichtiges beiseite lassen
mußte, so vor allem die »formale Anzeige«, die für ein letztes Verständnis unentbehrlich
ist«. Daß dieses verwickelte Thema immer wieder zurückgehalten wurde, hat es damit
eine eigene Bewandtnis. Die ausführlichste Herausarbeitung der formalen Anzeige
vollzieht sich in den ersten Stunden der Vorlesung vom WS 1920-21, die den Titel
»Einleitung in die Phänomenologie der Religion« trägt. Wie Heidegger vom Anfang an
erklärt, ist das Hauptwort der Vorlesung eigentlich »Einleitung«, die selbst das Anzei-

1 Theodore Kisiel: The Genesis of Heidegger's »Being and Time«. Berkeley 1993, S. 19-38.
2 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 19277,1953.
3 Theodore Kisiel: Die formale Anzeige: Die methodische Geheimwaffe des frühen Heidegger. In: Hei-
degger - neu gelesen, hrsg. von Markus Happel. Würzburg 1997.
4 Drei Briefe Martin Heideggers an Karl Löwith. In: Zur philosophischen Aktualität Heideggers,
Hrsg. von Dietrich Papenfuß und Otto Pöggeler. Frankfurt am Main 1990, Band 2: Im Gespräch der
Zeit, S. 36 f.
174 THEODORE KISIEL

gen der formalen Anzeige heißen wird. Phänomenologische Philosophie ist Ein-leitung
in die faktische Lebenserfahrung in solcher Weise, daß sie diese Grunderfahrung nie
verläßt, sondern sich durch das Verfolgen ihrer Wegspuren immer tiefer in ihre fragli-
che Struktur und Bewegtheit versenkt. WS 1920-21 ist daher keine Einleitungsvorle-
sung für Anfänger, die interessante Inhalte über die Religion erwarten, sondern eine
Vorlesung für Fortgeschrittene über das Problem des Anfangspunkts und der Methode
der Philosophie und ihrer Begriffsbildung. Aber die Anfänger bleiben immer noch da
in der Vorlesung nach der mahnenden Ankündigung in der ersten Stunde, als der schon
berühmte Lehrer Heidegger auf die abstruse Problematik der formalen Anzeige zur
philosophischen Begriffsbildung immer tiefer eingeht: über den Unterschied zwischen
Generalisierung und Formalisierung, über das langweilige klassische Problem der Uni-
versalien überhaupt, über die subtilen Unterscheidungen zwischen Objekt, Gegen-
stand und Phänomen, über die unentrinnbare vermittelte Einheit der faktischen Lebens-
erfahrung, die immer zugleich aktives Erfahren und passives Erfahrenes ist, über den
formalanzeigenden Begriff des »Historischen«, der diese vox media am Kern der Er-
fahrung verständlich machen wird, über die Notwendigkeit vorläufiger Vorgriffe, um
diese Kerneinheit der historischen Bewegtheit zu explizieren.
So tiefgehend und zielstrebig war Heidegger in den ersten Stunden mit diesen »so
abstrakten Betrachtungen«5 beschäftigt, daß die Anfänger, die schon lange in Verwir-
rung geraten und ganz verloren waren, sich an das Dekanat wandten, um sich über den
Mangel an religiösen Inhalten zu beschweren. Daher brach Heidegger seine Behand-
lung der phänomenologischen Formalisierung abrupt und ärgerlich ab und fing in der
nächsten Stunde mit der »Phänomenologischen Explikation konkreter religiöser Phä-
nomene im Anschluß an paulinische Briefe« ohne Vorankündigung und echte Vorbe-
reitung an. Wie es in der Nachschrift von Oskar Becker eindeutig berichtet ist: »Infolge
von Einwänden Unberufener abgebrochen am 30. November 1920.«6 Die Vorlesung
vom WS 1920-21 wird daher zu einem cursus interruptus, der voreilig in seinem »Ur-
drang« unterbrochen und zu einem ganz anderen Höhepunkt gebracht wurde als das,
was ursprünglich angestrebt war. Heidegger wird nie wieder zu einer ausführlicheren
Herausarbeitung der formalen Anzeige zurückkehren.
Heidegger aber, immer noch der Meisterlehrer, brachte sofort seine Verluste wieder
ein, indem er die vorzeichnende Kraft seines formalisierenden Ansatzes zur Schemati-
sierung von Erfahrungsstrukturen durch zwei Begriffsschemata bildlich illustriert. In
beiden pädagogischen Fällen zeichnen sie nach der phänomenologischen Formalität
der Intentionalität vor, was es heißt, ein Christ zu werden, zuerst in den griechischen
Strukturen des Ersten Briefes von Paulus an die Thessaloniker und, im SS 1921, in den
lateinischen Termini der Confessiones von Augustinus.7 Durch die formale Anzeige er-

5 Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens, Gesamtausgabe Band 60. 1. Einleitung in
die Phänomenologie der Religion, Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1920/21. Hrsg. v.
Matthias Jung und Thomas Regehly, Frankfurt am Main 1995, S. 62.
6 Ebenda, S. 339. Die Herausgeber berichten, daß eine Anfrage an das Archiv der Universität über die
Art dieser Einwände keinen Aufschluß geben konnte. Aber der Aufschluß ist schon anekdotisch von
Becker selbst bezeugt: »So habe dann einer der Hörer sich beschwert: er habe eine Vorlesung über
Phänomenologie der Religion belegt und bekomme nun über Religion nichts zu hören.« O t t o Pög-
geler: Oskar Becker als Philosoph. In: Kantstudien 60, 1969, S. 300 f.
7 Ebenda, S. 96, 273.
GIBT ES EINE FORMAL ANZEIGENDE HERMENEUTIK NACH DER KEHRE? 175

findet der Pädagoge Heidegger also eine phänomenologische Art der »Bilderherme-
neutik«.
Das vielseitige heideggersche Thema der formalen Anzeige, das ich nach einer anek-
dotischen Geschichte aus meinem 1993er Genesis-Buch eben zusammengefaßt habe, ist
aber überhaupt nichts »Neues und Überraschendes« für echte Kenner der »Heidegger-
Literatur«. Es wird in diese Literatur zum ersten mal eingeführt und in seiner Grund-
wichtigkeit ausführlich betont in einem 1959er Leitartikel8 und vier Jahre später im
letzten Kapitel des längst gewordenen Grundbuchs über den »Denkweg Martin Hei-
deggers« von Otto Pöggeler... als die wahrhafte »Logik« des ganzen Denkwegs! 9 Weil
Pöggeler seine frühe Kenntnis von der formalen Anzeige durch seinen Bonner Lehrer
Oskar Becker nahm, »der mir Heideggers frühe Vorlesungen vermittelte«10, sollte man
mit ihm wohl genauer über die Literatur der zweiten Generation von Heidegger-Stu-
denten sprechen. Wenn man nun in Beckers Abhandlung »Mathematische Existenz«
nachschlägt, die 1927 zusammen mit Heideggers SZ in Husserls Jahrbuch erschien,
merkt man sofort, wie ergriffen der Logiker Becker von Heideggers Hermeneutik der
Faktizitat war, deren Faktizitat deshalb schon sinnvoll ist und »nur in ihrer Jeweiligkeit
treffen kann«. Es handele sich hier um eine besondere Art von Begriffen, um formal-
anzeigende Begriffe, »deren >Allgemeinheit< in ihrer Bezogenheit auf das Jeweilige«
liegt. Man kann diesen >formal-angezeigten< Seinssinn auch >Wesen< nennen«, das aber
grundverschieden vom Husserlschen Eidos ist." Aus derselben Freiburger Lehrzeit
entdeckt man weitere Spuren einer formal anzeigenden Logik in den Berichten von
Husserl-Schülern wie Günther Stern (Anders) und Ludwig Landgrebe um Heideggers
Seminare über Husserls Erste Logische Untersuchung, die sich in der Erörterung von
»okkasionellen Ausdrücken« wie »ich-jetzt-hier« und »es gibt« zuspitzt, also den
sprachlichen Zeichen der Jeweiligkeit des Da-seins. Daher promoviert Stern 1924 bei
Husserl mit einer Arbeit über »Die Rolle der Situationskategorie bei den >Logischen
Sätzen««, und Landgrebe wird ein Buch über »Faktizitat und Individuation« schreiben.
In der jetzigen Sprachwissenschaft heißen okkasionelle Ausdrücke oft »shifters«, die
sich je nach der Situation bzw. Okkasion variieren; als die Sprache der Deiktik heißen
sie »indexicals«, »indicators« und, genauer, »intermittent indicators«, die in jedem Fall
je etwas anders bedeuten; darunter sind nicht nur die Adverbien des Orts (hier, dort,
da: SZ 119) und der Zeit (jetzt, dann, damals: SZ 421 ff) sondern auch die Tempora des
Verbums aufgelistet!12

8 Otto Pöggeler: Sein als Ereignis. Martin Heidegger zum 26. September 1959. In: Zeitschrift für philo-
sophische Forschung 13, 1959, S. 597-632.
9 Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers. Pfullingen 1963, 1983% 19903. Das Schlußkapitel
trägt den Titel »Die Frage des Sagens« und ist in zwei Abschnitten eingegliedert, »Der Weg zur
Sprache« (S. 269-280) und »Topologie des Seins« (S. 280-296).
10 Ebenda, »Nachwort zur dritten Auflage«, 31990, S. 338.
11 Oskar Becker: Mathematische Existenz. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische For-
schung 8, 1927, S. 622 f. Die formale Anzeige taucht wieder auf in Beckers Unterscheidung einer hi-
storischen Zeit der »einmaligen Jeweiligkeit« und einer naturhaften Zeit des wiederholten Gleichens,
S. 660-674.
12 Paul Ricceur: Oneself as Another. Eine Übersetzung von Soi-meme comme un autre (1990) von Kath-
leen Blamey, Chicago 1992, S. 30. Das Buch ist eine gute Zusammenfassung des Problems der Jewei-
ligkeit und Andersheit von Aristotles und Kant bis zu Heidegger und Levinas, und von analytischer
Philosophie zur Sprachphilosophie.
176 THEODORE KISIEL

Gegenüber der ersten Generation der Heidegger-Schüler hat Pöggeler 1963 den Vor-
teil eines Ausblicks auf den ganzen Denkweg Heideggers, und sieht damit die Wirkun-
gen der formal anzeigenden Begrifflichkeit bis in die Kehre: in das Sprachgeschehen
vom unverfügbaren Ereignis des Seins her, d.h. in »das Geheiß, das je und je das Den-
ken in den Anspruch nimmt« (Denkweg, S. 294) und so den Ort des Denkens eröffnet;
und in das Sagen des Ortes von einem erörternden Denken in einer Topologie, die Pög-
geler auch versteht als eine Sammlung der topoi oder loci der eigenen Zeit: Leitsätze
wie »Dichterisch wohnet der Mensch« und Leitworte einer Überlieferung wie Ä.6701;,
(|)\)OT(; und öcAT|9£ia, die je nach der Zeit (z.B. des »Satzes vom Grund«) einer eigenen
geschichtlichen Be-sinnung unterworfen sind. Aber schon in SZ, wo die Existenzialien
als Wer-Bestimmtheiten schon formal-anzeigenden Charakter haben, fordert Heideg-
ger eine Umlegung der Grammatik aus dem traditionellen Fundament der Subjekt-Prä-
dikat Beziehung her, damit die Sprache die »je und je aufbrechende Welt« artikulieren
kann (Denkweg, S. 271). Schon in SZ wirkt ein »hermeneutischer« Xöyoc, (Logik,
Grammatik, Rhetorik, Poetik), wo Hermeneutik die »Einweisung in die Einmaligkeit
einer Situation und Konstellation«, d.h. in das Er-eignis des Seyns, heißt.13 Die Sprache
des Seyns wird durch eine »formal anzeigende Hermeneutik« (Pöggelers Prägung)14
ausgelegt bzw. entborgen. Auf der Bahn der Unverborgenheit folgt der Denker dem
Wink oder der Spur des dichterischen Wortes, das selbst den Weg bahnt. »Das Wort
winkt hin zu dem zu Denkenden und weist ein in ein Wahrheits-geschehen« (Denk-
weg, S. 291). Die Spur verweist dagegen auf das schon abwesende Entfernte, »das sich
aber als Fußspur der Erde eingeschrieben hat«.15
So wie das dichterische Wort ein konkretes Universal ist, ist der formal anzeigende
Begriff keine Gattungsallgemeinheit sondern ein jeweiliges Universal, das je nach der
Situation immer schon auf irgendein konkretes Da-sein anzeigt, ohne es faktisch zu er-
füllen. Pöggeler vergleicht die Existenzialien mit Kierkegaards indirekter Mitteilung,
die sich existenzial auf die religiöse Entscheidung ausrichtet, ohne sie existenziell zu
vollziehen (Denkweg, S. 272).16 In SZ zeigt es sich im Übergang von der formal-exi-
stenzialen Entschlossenheit zum existenziellen Entschluß je zur eigenen Situation. Der
formal anzeigende Begriff »sagt nicht direkt aus, worauf er sich bezieht, er gibt nur ein
Anzeige, einen Hinweis darauf, daß der Verstehende von diesem Begriffszusammen-
hang aufgefordert ist, eine Verwandlung seiner selbst in das Da-sein in ihm zu vollzie-
hen.« 17 Solche Begriffe enthalten »nur die Anweisung zu einer eigentümlichen Aufga-
be« (S. 425) - über den Tod, die Entschlossenheit, die Geschichte, usw. - ohne direkt
auszusagen, worauf sie beziehen. Weil sie immer nur den Anspruch einer Verwandlung

13 O t t o Pöggeler: Einleitung. In: Wilhelm Dilthey: Das Wesen der Philosophie. Hrsg. v. O t t o Pöggeler,
Hamburg 1984, S. XXVII.
14 O t t o Pöggeler: Heideggers logische Untersuchungen. In: Martin Heidegger: Innen- und Außenan-
sichten, hrsg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt am Main 1989, S. 75-100.
15 Ebenda, S. 97.
16 Der ausdrückliche Vergleich wird aber erst in späteren Schriften durchgeführt: Pöggeler (Anm. 13).
S. XXVI und (Anm. 14), S. 84.
17 Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. Gesamtaus-
gabe Band 29/30, Freiburger Vorlesung Wintersemester 1929/30, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von
Herrmann, Frankfun am Main 1983, S. 430, 428. S. 425-435, 441, 491. In dieser Vorlesung sind die
letzten Erwähnungen der »formalen Anzeige« in dem Heideggerschen Opus.
GIBT ES EINE FORMAL ANZEIGENDE HERMENEUTIK NACH DER KEHRE? 177

ansprechen lassen, aber nie selbst die Verwandlung verursachen können, sind die Be-
griffe anzeigend. Sie zeigen immer in das Dasein hinein, d.h. mein Da-sein, unser Da-
sein. »Weil sie bei dieser Anzeige zwar ihrem Wesen nach je in eine Konkretion des ein-
zelnen Daseins im Menschen hineinzeigen, diese aber nie in ihrem Gehalt schon mit-
bringen, sind sie formal...« (S. 429). Wenn aber die Begriffe generisch und abstrakt und
nicht jeweilig und »je nach dem« Kontext interpretiert sind, »dann ist der Interpretati-
on die bodenständige Kraft genommen, weil der Verstehende der Anweisung nicht
Folge gibt, die in jedem philosophischem Begriff liegt« (S. 431). Jene Interpretation je
nach der eigenen Faktizitat ist zwar keine »nachträgliche sogenannte ethische Anwen-
dung des Begriffenen, sondern ... vorgängiges Aufschließen der Dimension des Begreif-
baren« (S. 428f). Die Begriffe und Fragen des Philosophierens sind der Wissenschaft
gegenüber eigener Art. Diese begrifflichen Fragen dienen dem, was dem Philosophie-
ren aufgegeben ist: nicht den Menschen und seine Welt zu beschreiben oder zu er-
klären, »sondern das Da-sein im Menschen zu beschwören« (S. 258). Philosophie sei
daher keine Wissenschaft, sondern eine anweisende, auffordernde Protreptik bzw. eine
»formal anzeigende Hermeneutik«.
Damit sind wir nicht so weit von der Verwandlung bzw. der Er-örterung der Her-
meneutik nach der Kehre, die nun mit dem Namen des Gottes Epp.fji; gebunden wird,
der die Botschaft des Geschickes bringt: ep|J.T|veu£av ist jetzt »ein Spiel des Denkens,
das verbindlicher ist als die Strenge der Wissenschaft.«18 Es heißt »nicht erst das Ausle-
gen, sondern vordem schon das Bringen von Botschaft und Kunde« (S. 122) und »jenes
Darlegen, das Kunde bringt, insofern es auf eine Botschaft zu hören vermag« (S. 121);
auf der einen Seite »das Bringen einer Kunde« und gegenseitig »das Verwahren einer
Botschaft« (S. 126). Diese vox media ist der hermeneutische »Bezug«, dessen Grund-
zug die Sprache ist. Das Wort »Bezug« möchte daher sagen, »der Mensch sei in seinem
Wesen gebraucht, gehöre als der Wesende, der er ist, in einen Brauch, der ihn bean-
sprucht« (S. 125). »Der Mensch west als Mensch im Brauch, der den Menschen ruft, die
Zwiefalt zu verwahren... die selber das Walten des Brauches und das Entfalten der
Lichtung ihrer Unterscheidung ist« (S. 126). Was das heißen soll, wird klar nur durch
die Besinnung auf die Sprache und das Gespräch von der Sprache her, das hier unter-
wegs ist. Als ein geschichtliches spricht das Gespräch aus der denkenden Anerkennung
des Gewesenen, oder, wie man sagt, des Gebrauches. Was Brauch heißt kann nur durch
das Gespräch als Sprechen von der Sprache, vom Wesen der Sprache her, und sein ent-
sprechendes Sagen, erreicht sein, und nie durch ein Sprechen über die Sprache.
Der Brauch heißt im Griechischen xö r|8oc,, die Gewohnheit einer Wohnung. Es
taucht zum ersten mal im Heideggerschen Opus im SS 1924 auf im Zusammenhang mit
der Rhetorik von Aristoteles, wo das riGoc, eines Redners eine der drei Vertrautheiten
(matetc) der zugespitzten Sprechsituation ausmacht, zusammen mit dem TECCÖOC, der
Hörer und dem Aufzeigen der Rede (köyoc,). Diese werden in SZ zu den drei gleichur-
sprünglichen Weisen des In-Seins des Da-seins. Und schon im SS 1924 sind die letzten
zwei als übergreifende weltliche Seinsganzen gleichursprünglich verstanden. Die ari-
stotelische Bestimmung des Menschseins als XÖ70V e'xeiv wird z.B. aus ihrer verbalen
Mitte verstanden als zugleich »Sprache haben« und »von der Sprache gehabt« (von ihr

18 Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959, S. 121


178 THEODORE KISIEL

gelebt). Aber r|6oc; heißt noch nur die Haltung und Verhaltung des Redners, wie er sich
entwirft, die Heidegger 1924 in ihrem ontologischen Sinne als das Entschlossensein zur
jeweiligen Handlungssituation (Kcapöc;) versteht. Im WS 1928-29 ist das rjGoc, die
Grund-Haltung schlechthin, die »Form« des jeweiligen Sichhaltens in der Welt, das wir
je eine Weltanschauung nennen.19 Erst der spätere Heidegger wird, Heraklit folgend,
eine Kehre zum welthaften TJ6OC; als »Aufenthalt, Ort des Wohnens« durchführen. 20
»Dieses Wohnen ist das Wesen des >In-der-Welt-seins«, [...] des In-Seins« (111).

Erst dieser Aufenthalt gewährt die Erfahrung des Haltbaren. Den Halt für alles Verhalten
verschenkt die Wahrheit des Seins. >Halt< bedeutet in unserer Sprache die >Hut«. [...] sie be-
haust die Eksistenz in der Sprache. Darum ist die Sprache zumal das Haus des Seins und die
Behausung des Menschenwesens. (115)

Als Aufenthalt des Seyns reicht Es uns die Zeit und schickt Es uns das Sein. Innerhalb
dieses geworfenen Verhältnisses, »der in der Schickung des Seins geborgenen Zuwei-
sung« (114), ist die Ek-sistenz immer noch ein Entwerfen des Verhaltens unterwegs in
der sprachgebrauchten Mitte des Aufenthalts, auf eine angewiesene Wegrichtung ge-
schickt. »Eine Wegrichtung einschlagen [...] heißt in unserer Sprache sinnan, sinnen.
Sich auf den Sinn einlassen, ist das Wesen der Besinnung.«21 Als geschichtliche Besin-
nung nimmt sie nicht nur den jeweiligen Aufenthalt in Betracht, sondern auch den
überlieferten Brauch der Sprache. Die denkerische Aufgabe der Besinnung ist die einer
Topologie des Seins, die das Maß des eigenen Wohnungsortes von seinen sprachlichen
TÖ7tot bestimmt.
In dem Sorgen nach dem Sinn als dem vorstrukturierten Woraufhin (SZ 152) der
Zeit, das sich aus dem Verhältnis der Ek-sistenz und dem Bezug der Sprache vollzieht,
wo die beiden Relationen aus ihrer vox media verstanden sind, ersieht man immer noch
im Hintergrund der Er-örterung die Strukturen von Hermeneutik als auch von Phäno-
menologie, obwohl der spätere Heidegger beide Titel fallen läßt, »um meinen Denkweg
im Namenlosen zu lassen.«22 Unterwegs zu SZ ging Heidegger durch eine Reihe von
formalen Anzeigen hindurch, und jede in der Reihe ist eine formelle Vertiefung der
Praestruktion der Intentionalität als reines Sich-richten-auf: 1920-22 Intentionalität
nach drei Sinnen praestrukturiert und mit einem zusammenfassenden Zeitigungssinn
erst 1922 ergänzt, Da-sein (1923), In-der-Welt-sein (1924), Zu-sein (1925), Ex-sistenz
(1926), Transzendenz (1927-29). Zu dieser Reihe können wir nach SZ Inständigkeit
(1931), Brauch (1936-38), Ver-hältnis (1946), Zu-gehörigkeit (1952), Be-zug (1954),
usw. hinzufügen. Was sie immer noch formal anzeigen ist im Grunde genommen je-
weils die abgründige Faktizitat der einmaligen Zeit des Da-seins, des Volks in seiner
bodenständigen Sprache, des epochalen Zeitalters. Was könnte im faktischen Leben
formaler sein als die Zeit? Und in Bezug auf die anzeigende Funktion, was könnte im

19 Martin Heidegger: Einleitung in die Philosophie. Gesamtausgabe Band 27, Freiburger Vorlesung
Wintersemester 1928/29, hrsg. v. O t t o Saame und Ina Saame-Spiedel, Frankfurt am Main 1996,
S. 379, 390, 397.
20 Martin Heidegger: Piatons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den »Humanismus«. Bern
1947, S. 106; danach S. 111,115,114.
21 Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954, S. 68; dazu auch Heidegger (Anm. 18),
S. 53.
22 Heidegger (Anm. 18), S. 121.
GIBT ES EINE FORMAL ANZEIGENDE HERMENEUTIK NACH DER KEHRE? 179

faktischen Leben konkreter und unmittelbarer, uns näher sein, als die Zeit? Die Zeit ist
die letzte Formalität des Seins und zugleich die unmittelbarste Nähe des Da-seins, der
Urwurf seiner Faktizitat. Die Beiträge sprechen von der »Anzeige des Zeit-Raumes«
(S. 284)23 und die »Anzeige der Wesung der Wahrheit« (S. 343), weil die Zeit »die erste
Anzeige des Wesens der Wahrheit [ist] im Sinne der entrückungsmäßig offenen Lich-
tung des Spielraums, in dem das Seyn sich verbirgt und verbergend sich erstmals eigens
in seine Wahrheit verschenkt« (S. 433). »Der Zeit-Raum ist in seinem Wesen als Augen-
blicksstätte des Ereignisses zu entfalten« (S. 323), das sich »je und jäh« ereignet. Das
Dz-setn in der äußersten Ausmessung seiner Zeitlichkeit ist »jenes >Zwischen«, das dem
>Ereignis< Augenblick und Stätte bietet und so dem Sein zugehörig werden kann« (S.
285). Die Augenblicksstätte gründet das Seyn in seiner Einzigkeit, d.h. »das Seyn
braucht das Da-sein, west gar nicht ohne diese Ereignung« (S. 254). Daraus folgt, »daß
das Da-sein vom Seyn ereignet ist und daß das Seyn als Ereignis selbst die Mitte alles
Denkens bildet« (S. 299).

23 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Band 65, hrsg. v. Fried-
rich-Wilhelm von Herrmann, S. 284 ff.
FRITHJOF RODI (Bochum)

Probleme mit der »Zugehörigkeit« -


Zum Geschichtsbegriff des Grafen Yorck

Als im Herbst 1923 der Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul
Yorck v. Wartenburg1 erschien, trat damit der philosophierende Graf wie aus dem
Nichts als Autor an die Öffentlichkeit. Sieht man ab von der Widmung, mit der
Dilthey seine Einleitung in die Geisteswissenschaften2 seinem Freund zugeeignet hatte,
war Graf Yorck auch noch ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod (1897) als Philo-
soph unbekannt geblieben. Dies sollte sich nach Veröffentlichung seiner Briefe rasch
ändern. Von Hans-Georg Gadamer ist bezeugt, mit welcher Intensität Heidegger die
Gedanken Yorcks, die Kritik an Diltheys zumal, aufnahm.3 Im Umkreis von Heidegger
und Husserl entstand dann das Yorck-Buch von Fritz Kaufmann, das - fast ausschließ-
lich gestützt auf den Briefwechsel - schon 1925 als Habilitationsschrift vorlag.4 Gada-
mer, dessen Buch Wahrheit und Methode5 ohne den durch Heidegger vermittelten Ein-
fluß Yorcks so nicht konzipiert worden wäre, blickt auch in späten Jahren auf die Fas-
zination durch diese eigenwillige, unakademische Gestalt immer wieder zurück. Er
nannte einmal die Zeit, da er in der Hütte in Todtnauberg Heideggers Yorck-Lektüre
miterlebt hat, die »entscheidenden Wochen für Heidegger und in gewissem Sinne auch
für mich.«6 Heidegger selbst hat gleichfalls schon 1925, in den Kasseler Vorträgen, auf
die Bedeutung Yorcks öffentlich hingewiesen und nahm dann die ursprünglich für eine
Rezension des Briefwechsels herausgeschriebenen Yorck-Zitate in den berühmten § 77
von Sem und Zeit auf.7
Blickt man auf die Art der Präsentation Yorcks durch die verschiedenen ihm sich
widmenden Autoren, so fällt ein gewisser Gleichklang auf, der sich dadurch ergibt, daß
Yorck in erster Linie mit Dilthey verglichen wird. Schon Kaufmann gab hierfür das
Stichwort, indem er betonte, »daß Yorck durch Radikalismus, Macht und Geschlossen-
heit der Gedanken-führung Dilthey weit überrage.«8 Heidegger hat diesen Eindruck
bis zur Mißverständlichkeit verschlüsselt wiedergegeben, indem er den § 77 mit der Be-

1 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Yorck von Wartenburg 1877-1897. Hrsg. v.
Sigrid von der Schulenburg. Halle (Saale) 1923. Im folgenden zitiert mit »B«.
2 Wilhelm Dilthey: Ges. Schriften I, Stuttgart 1959, S. IX.
3 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Erinnerungen an Heideggers Anfänge. In: Dilthey-Jahrbuch f. Philoso-
phie und Geschichte der Geisteswissenschaften Bd. 4/1986-87, hier: S. 4.
4 Fritz Kaufmann: Die Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Halle (Saale) 1928.
5 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik.
1. Aufl. Tübingen 1960.
6 Vgl. Dilthey-Jahrbuch Bd. 8, S. 125, A 8.
7 Martin Heidegger: Sein und Zeit. 7. Aufl. Tübingen 1953, S. 397-404.
8 Kaufmann (Anm. 4), S. 6.
182 FRITHJOE RODI

kundung der Absicht schloß, »den Geist des Grafen Yorck zu pflegen, um dem Werke
Diltheys zu dienen.« 9
Die Kontrastierung konnte sich vor allem auf zwei zwischen Yorck und Dilthey ge-
führte Dispute stützen, von denen der eine zu einigen inzwischen topos-artig wieder-
holten Formulierungen führte, während der andere, obwohl von größerem systemati-
schen Gewicht, nicht so häufig zitiert wird. Im ersten Fall handelt es sich um den Brief
Yorcks vom 21. Oktober 1895, also seine Antwort auf die noch nicht endgültige Fas-
sung von Diltheys Abhandlung von 1895, von der dann im darauffolgenden Jahr nur
ein relativ kleiner Teil unter dem Titel Beiträge zum Studium der Individualität veröf-
fentlicht wurde. 10 Diese Abhandlung war als direkte Fortsetzung der Ideen über eine
beschreibende und zergliedernde Psychologie angelegt und sollte die dort entwickelte
Grundkonzeption vom psychischen Strukturzusammenhang auf die Singularität der
Einzelphänomene und ihre Variabilität, also auf das Problem der Individuation, an-
wenden. Trotz des schroffen Gegensatzes zwischen einer »erklärenden«, d.h. am Me-
thodenideal der Naturwissenschaften ausgerichteten Psychologie und seinem eigenen
deskriptiven Ansatz, wie er dies in den Ideen durchgeführt hatte, ging es Dilthey in der
Weiterführung von 1895 keineswegs um eine rigide Verstärkung dieses Wissenschafts-
dualismus. Vielmehr erwies sich das typologisch-komparative Verfahren, das er hier
skizzierte, als querliegend zu einem solchen Dualismus. Denn wenn auch der Schwer-
punkt der Untersuchung auf einem rein geisteswissenschaftlichen Phänomenbereich,
nämlich der »Kunst als erster Darstellung der menschlich-geschichtlichen Welt in ihrer
Individuation« 11 lag, so war es für den Goethe-Verehrer Dilthey doch eine Selbstver-
ständlichkeit, die Verwandtschaft des künstlerischen Gestalt-Auffassens mit dem mor-
phologischen Studium der organischen Natur zu betonen. Die typologisch-komparati-
ven Verfahren in den historischen Wissenschaften konnten so geradezu als Weiter-
führung der Arbeiten von Buffon und Cuvier angesehen werden. 12
Es ist diese Relativierung der »generischen Differenz zwischen Ontischem und Hi-
storischem«, gegen die Yorck Bedenken anmeldete. 13 In der Tat hat Dilthey hier, wie
auch an anderen Stellen seines Werkes, die organische Natur so zwischen die anorga-
nisch-physikalische und die menschlich-geschichtliche Welt geschoben, daß der Stu-
fenfolge des Lebendigen eine Abstufung der Methoden von der Biologie zur Geschich-
te hin entsprach. Hiergegen macht Yorck zweierlei geltend: Er lehnt einerseits die Ver-
gleichung als Methode der Geisteswissenschaften ab, da das Vergleichen sich immer auf
»Gestalten« beziehe und nicht auf »Krafteinheiten« innerhalb des »Kräftekonnexes«
der Geschichte. 14 Schwerer wiegend ist der andere Einwand. Dilthey hatte von den
Gleichförmigkeiten im Naturreich ausgehend auch auf entsprechende Gleichförmig-
keiten und Gleichartigkeiten in der geistigen Welt verwiesen, von denen die Herausar-
beitung des jeweils Individuellen auszugehen habe. In jeder einzelnen geisteswissen-
schaftlichen Disziplin werde darum gestritten, »in welchem Umfang Gleichartigkeit,

9 Heidegger (Anm. 7), S. 404. - Vgl. hierzu Gadamers Kommentar. In: Dilthey-Jahrbuch Bd. 4, S. 14
10 Vgl. Ges. Sehr. V. Stuttgart 1957, S. 241-316.
11 A.a.O., S. 273 ff.
12 A.a.O., S. 303.
13 B 191; von Heidegger hervorgehoben in Sein und Zeit, S. 399.
14 Vgl. B 193.
PROBLEME MIT DER »ZUGEHÖRIGKEIT« 183

Gleichförmigkeit, Gesetze das einzelne bestimmen, von welchen Punkten ab das Posi-
tive, das Geschichtliche, das Singulare auftritt.«15 Die Gleichartigkeit der Menschenna-
tur wird also zur Voraussetzung des Verständnisses der Singularität, die vergleichend
von anderem Singularen innerhalb des Bereiches von Gleichartigem abgehoben wird.
Diese Voraussetzung reicht aber noch tiefer. Sie liegt nach Dilthey in der »Gleichartig-
keit der Tatsachen eigner innerer Erfahrung mit denen, welche wir in die anderen
menschlichen Körper zu verlegen genötigt sind,« wodurch es uns ermöglicht werde,
»die eignen inneren Erfahrungen bis in ihre letzte Tiefe in anderen Personen wiederzu-
finden.«16
Es ist dies das fraglos problematischste aller Theoreme Diltheys, ein von seinen
frühesten erkenntnistheoretischen Anfängen her mitgeschleppter Versuch, das Verste-
hen als ein Zusammenwirken von äußerer und innerer Erfahrung aufzufassen im Sinne
dieser Hineinverlegung der eigenen inneren Zustände in die »anderen menschlichen
Körper.«
Yorck hat dieses Verstehensmodell mit Entschiedenheit abgewehrt. Die »rein okula-
ren Bestimmungen«, daß es nämlich einer äußeren Wahrnehmung bedarf, in die unsere
eigenen Erfahrungen hineinprojiziert werden sollen, hielt er für irrelevant: »Luther,
Augustin, Paulus wirken auf mich gegenwärtig und körperlos. Die Wirkung ist eine
unmittelbare und selbständige, welche mit der unwirksamen Reflexion, daß ich ihren
Körper würde sehen können, wenn sie noch lebten, nichts zu tun hat.«17 Deshalb wehrt
er auch den Begriff »Gleichartigkeit« ab, und schlägt stattdessen den Begriff »Zu-
gehörigkeit« vor.
Damit hat Yorck ein Stichwort gegeben, das bis in unsere Tage seine Virulenz behal-
ten hat. Fritz Kaufmann hat in seiner bewunderungswürdigen Interpretation der Briefe
als erster auf diese Kategorie aufmerksam gemacht und den Gegensatz von »Gleichar-
tigkeit« und »Zugehörigkeit« näher erläutert:
»Offenbar findet ja in diesem Begriff der Gleichartigkeit gerade unser Mitmenschentum
noch keinen Ausdruck: er gibt statt der Anerkennung der urtümlichen Ganzheit geschicht-
lichen Lebens nur ein Vergleichsresultat an, das höchstens verständlich machen kann, wie
die in solcher Koordination getrennten Einzelwesen nachträglich zur Vereinigung gelangen
können. [... ] Innere Zugehörigkeit ist ein der konkreten Selbstbesinnung greifbarer Befund:
menschliche Gleichartigkeit die nur solipsistischer Einstellung nötige, sonst innerlich unbe-
griffene und letztlich unbegreifliche Tatsache.«18

Gadamer sagt in ähnlichem Sinn in Wahrheit und Methode:


»In Wahrheit ist die Anmessung alles Erkennenden an das Erkannte nicht darauf gegründet,
daß sie von der gleichen Seinsart sind, sondern empfängt ihren Sinn durch die Besonderheit
der Seinsart, die beiden gemeinsam ist. Sie besteht darin, daß weder der Erkennende noch
das Erkannte >ontisch«, >vorhanden< sind, sondern >historisch«, d.h. von der Seinsart der Ge-
schichtlichkeit sind. Insofern kommt, wie Graf Yorck sagt, in der Tat alles auf »den generi-
schen Unterschied zwischen Ontischem und Historischem« an. Indem Graf Yorck der

15 Ges. Sehr. V Stuttgart 1959, S. 268.


16 Ges. Sehr. V Stuttgart 1959, S. 250.
17 B 192.
18 Kaufmann (Anm. 4), S. 54 f. (Hervorhebungen von mir, FR).
184 FRITHJOFRODI

Gleichartigkeit« die >Zugehörigkeit< entgegenstellt, wird das Problem sichtbar, das erst Hei-
degger in voller Radikalität entfaltet hat...«."

So viel zu dem ersten der beiden erwähnten Dispute zwischen Yorck und Dilthey, des-
sen bleibendes Resultat in der topos-artigen Verwendung einerseits der Formel von der
»generischen Differenz zwischen Ontischem und Historischem«, andererseits der her-
meneutischen Kategorie der »Zugehörigkeit« liegt. Ein anderer, drei Jahre früher
(Herbst 1892) deutlich artikulierter Dissens wurde ausgelöst durch Diltheys Abhand-
lung Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert.20 Die Reihe
der Abhandlungen, die Dilthey damals im Archiv für Geschichte der Philosophie veröf-
fentlichte, sollte den historischen Teil seiner Torso gebliebenen Einleitung weiter-
führen, der im Zweiten Buch bis zum Thema der »Auflösung der metaphysischen Stel-
lung des Menschen zur Wirklichkeit« gediehen war.21 Dilthey setzte ein bei Renais-
sance und Reformation, die er in dem Aufsatz Auffassung und Analyse des Menschen
im 15. u. 16. Jahrhundert22 behandelte, und spannte dann in der folgenden Abhandlung
den Bogen von dem Wirken der großen Reformatoren zum natürlichen System in
Recht, Staat und Gesellschaft. Leitgedanke war, daß sich im Gegenzug gegen die kirch-
liche (auch protestantische) Dogmatik ein »religiös universaler Theismus« durchsetzte,
der - gespeist von Ideen der römischen Stoa und der italienischen Renaissance - die
Überzeugung vertrat, »daß die Gottheit in den verschiedenen Religionen und Philoso-
phien gleicherweise wirksam gewesen sei und noch heute wirke. In dem moralisch-reli-
giösen Bewußtsein jedes edleren Menschen spreche sie sich aus.«23

Mit einer auch für Diltheys Temperament ungewöhnlichen Vehemenz stellt er sich auf
die Seite dieser »Anschauung einer allen Konfessionen gemeinsamen, ja den Kern aller
Religion enthaltenden Wahrheit«24 und gegen den »dogmatischen Geist und die theolo-
gische Zänkerei«25 des Zeitalters der Reformation. Seine Sympathie mit der rationalen
und radikalen Dogmenkritik etwa der Sozinianer hatte er schon in seiner frühen Preis-
schrift bekundet, wo er »das ganze Gelichter von Engeln und Teufeln und Hexen und
Magiern samt den Wundern und der Magie«26 tapfer bekämpft sah. Hier sprach der ju-
gendliche Nachkomme »hartgesottener Reformierter«, aber diese Tonlage hat auch der
Sechzigjährige kaum gemildert und hat gerade diese Partien der Jugendschrift in den
späteren Aufsatz inkorporiert, ohne eine Zeile zu ändern. Wenn er sich auch vornahm,
»ohne Haß und ohne Liebe«27 zu berichten, so läßt er doch die Argumente der sozinia-
nischen Dogmenkritik in einer Weise zu Wort kommen, daß man eine völlige Identifi-
zierung mit ihnen unterstellen darf: Dilthey spricht von dem »im Trinitätsbegriff ent-
haltenen Nonsens«, vom Nonsens im Begriff der ewigen Zeugung, von der Widersin-

19 Gadamer (Anm. 5), S. 247.


20 Ges. Sehr. II. Stuttgart 1957, S. 90 ff.
21 Ges. Sehr. I. Stuttgart 1959, S. 351 ff.
22 Ges. Sehr. II. Stuttgart 1957, S. 1 ff.
23 Ges. Sehr. II. Stuttgart 1957, S. 45.
24 Ges. Sehr. II. Stuttgart 1957, S. 99.
25 Ges. Sehr. II. Stuttgart 1957, S. 105.
26 Ges. Sehr. XIV 2. Stuttgart 1956, S. 614
27 Ges. Sehr. II. Stuttgart 1957, S. 137.
PROBLEME MIT DER »ZUGEHÖRIGKEIT« 185

nigkeit der Lehre von Fall und Erbsünde, wie auch der Lehre von Christi Opfer.
»Empörend und widerlich geradezu die Vererbung der Schuld und der Verdammnis.«
Opferlehre und Satisfaktionslehre sieht er durch diese Kritik »für alle Zeiten gerichtet.«
Kein »aufrichtiger und klarer Denker« habe sie in ihrem wörtlichen Verstände zu er-
neuern versucht.28

Yorck antwortet gleichfalls mit einer für ihn untypischen Direktheit:


»Das sind Verdikte, und ich halte sie für unrichtig und ungerecht. Auch die metaphysischen
Dogmen der Trinität und Zeugung erklären Sie für abgetan und von keinem aufrichtigen
und klaren Denker erneuert! Auch hier ein Verdikt und ein ungerechtes! All jene dogmati-
schen Bestimmungen existieren doch in der lebendigen christlichen Gemeinde. Sie müssen
doch also einen Wert repräsentieren.« »Werden Sie nicht das Ziel der Wertung, welche Sie
einer Bewußtseinsstellung gewährten unter dem Zauber des Gegenstandes, widerrufen müs-
sen, wenn die positive Aufgabe der Neugestaltung herantritt?«29

Yorck stellt dem Bemühen Diltheys, in einem »religiös universellen Theismus« den
kontinuierlichen Säkularisationsprozeß des neuzeitlichen Immanenzdenkens zu be-
greifen und emphatisch zu bejahen, sein Luthertum gegenüber, das nicht einfach Kon-
servatismus des preußischen Gutsherren ist, sondern sich geschichtlich begreifende,
unerschütterliche Religiosität. »Die dogmatischen Begriffe, welche Sie mit der rationa-
listischen Kritik erwähnen, sind alle, weil Christentum Leben ist, der Tiefe der natürli-
chen Lebendigkeit entnommen«. »Aus der Tiefe der Natur sind die Symbole geschöpft,
weil die Religion an sich - ich meine die christliche - übernatürlich, nicht unnatürlich
ist.«30 Dilthey seinerseits stimmt Yorck darin zu, »daß die Dogmen des Christentums
das notwendige Erzeugnis des Glaubens in mit Intelligenz ausgestatteten Subjekten
sind und sein mußten. Auch darin stimmen wir überein: wie sie aus der schöpferischen
Macht des Christentums geschichtlich entsprangen, sind sie der einzige Ausdruck der-
selben.«31 Aber die entscheidende Differenz bleibt bestehen: Dilthey, der einmal offen
aussprach, kein Christ im spezifischen Sinne zu sein, und der für sich nur eine »gleich-
sam vergleichend geschichtliche Religiosität« in Anspruch nimmt, kann die Dogmen
nur in ihrem »universellen Lebenswert« für jede menschliche Lebendigkeit«32 anerken-
nen. Im Sinne einer »transzendentalen Theologie«, in der er »Täufer und Mystiker, Hi-
storiker und Philosophen« von Sebastian Franck bis Kant, Goethe, Schleiermacher,
Carlyle und Hegel beisammen findet, will er hinter die Dogmen und Überlieferungen
zurückgehen »auf ein immer und überall wirkendes menschlich Göttliches in der Seele,
das alle diese Gestalten des religiösen Lebens hervorbringt.«33 Als universeller, nicht
spezifisch christlicher Religionsphilosoph hält er die dogmatisch festgeschriebenen
Symbole »in ihrer Einschränkung auf die Tatsachen der christlichen Geschichte für un-
haltbar«, gesteht ihnen aber gleichzeitig zu, in ihrem universellen Sinne »den höchsten
lebendigen Gehalt aller Geschichte« zu bezeichnen.34

28 Ges. Sehr. II. Stuttgart 1957, S. 141-144.


29 B 155.
30 Ebd.
31 B158.
32 B 125.
33 Ges. Sehr. II. Stuttgart 1957, S. 109.
34 B 158.
186 FRITHJOF RODI

Dieser Gegensatz im Dogmenverständnis der beiden Freunde ist in der Tat unüber-
brückbar, und man kann die Noblesse nur bewundern, mit der auch bei nachhaltigstem
Engagement auf beiden Seiten diese Fragen behandelt worden sind. Dies gilt im beson-
deren für den großen, die Debatte abschließenden Brief Yorcks vom Ende des Jahres
1893, als die Reihe von Diltheys Archiv-Aufsätzen abgeschlossen war und Yorck sie
noch einmal würdigte.35

II

Wenn sich auch die Resultate der Dogmen-Debatte vom Dezember 1892 nicht in der
Weise ausmünzen lassen, wie dies bei dem späteren Disput der Fall ist, so hat doch die-
se bis in die tiefsten Grundüberzeugungen hinabreichende Differenz zu einigen Äuße-
rungen geführt, die seitdem zu den wichtigsten Quellen unserer Kenntnis der Philoso-
phie Yorcks gerechnet werden. Yorck hielt in seinem abschließenden Brief, Dilthey zu-
stimmend, fest, »daß [... ] das Leben das Organon für die Auffassung der geschichtli-
chen Lebendigkeit ist« und »das Leben das primäre Datum ist, von dem alle, auch die
allgemeinsten Kategorien deriviert sind«.36 Damit hebt er in den für ihn doch auch an-
stößigen Texten das ihm Gemäße und vielleicht von ihm Beeinflußte hervor. Wenn er
darüber hinaus betont, daß er selbst ein anderes, nämlich regressives Verfahren vorge-
zogen hätte, bringt er seine eigene Intention noch deutlicher ins Spiel:

»Die Geschichtserkenntnis, welche von der eigenen Lebendigkeit aus sich rückwärts wen-
det zu dem der Erscheinung nach Vergangenem, der Kraft nach Aufbehaltenen, würde in
der Darstellung eine Analysis der Gegenwart der Vergangenheit vorausschicken und damit
zugleich eine Kontrolle bieten für das Geschichtliche gegenüber dem Antiquarischen. Nur
was der Kraft nach gegenwärtig, in der Gegenwart aufzeigbar ist, gehört zum Bereich der
Geschichte*.37

Mit deutlichem Anklang an Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung bestimmt er


das Geschichtliche gegenüber dem bloß Antiquarischen durch das, was er mit einem
heute mißverständlich gewordenen Begriff auch Virtualität nennt. Das »der Kraft
nach« Aufbehaltene und Gegenwärtige ist »virtuell« natürlich nicht im Sinne einer
bloß simulierten Wirklichkeit, sondern als ein latent Wirkungsmächtiges oder, kurz ge-
sagt: als Kraft. So empfindet Yorck das Zeitalter des Mechanismus (Galilei, Descartes,
Hobbes) als »virtuell Gegenwart«. Ohne »virtuelle Zurechnung und Kraftübertra-
gung« gebe es überhaupt keine Geschichte.38 So kann schließlich »Geschichtlichkeit«
mit »Virtualität« gleichgesetzt werden. Fritz Kaufmann hat diese Struktur des Histori-
schen in dem folgenden Satz zusammengefaßt:

»Das Historische ist eben dadurch etwas anderes als das bloß Geschehene und Gewesene,
daß es in einer solchen ursprünglichen Lebenshabe gegenwärtig gehalten wird, in deren

35 B 166-170. - Vgl. zum Ganzen dieser Auseinandersetzung Leonhard v. Renthe-Fink:


keit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck. 2. Aufl.
Göttingen 1968.
36 B 167.
37 Ebd.
38 B68u. 155.
PROBLEME MIT DER »ZUGEHÖRIGKEIT« 187

Dauer und Erneuerung es selber als fruchtbare Lebensmacht immer neue, immer aus der
Tiefe kommende und in sie zurückwirkende Antriebe aussendet.«39

Es wird häufig übersehen, daß auch Dilthey - möglicherweise unter dem Einfluß
Yorcks - diesen Begriff der historischen Kraft kennt, wie ihm Yorck ja auch bescheinigt
hat: »Ihr Begriff von Geschichte ist doch der eines Kräftekonnexes, von Krafteinheiten,
auf welche die Kategorie: Gestalt nur übertragener Maßen anwendbar sein sollte.«40
Aber während auch hier Dilthey auf der Suche nach universell geltenden Strukturen
der Historizität war, betonte Yorck den Vorrang einer besonderen Bewußtseinsstel-
lung, nämlich des protestantisch-christlichen Empfindungslebens im Umgang mit dem
»unsichtbaren Kraftreich der Motive«.41 Die Begründung dieser Vorzugsstellung ist
erst seit Veröffentlichung des nachgelassenen Fragments Bewußtseinsstellung und
schichte (1956) nachvollziehbar gemacht worden.42 In einer eigentümlichen Verbin-
dung einer Bewußtseinsphänomenologie idealistischer Provenienz mit Elementen einer
deskriptiven Psychologie rekurriert Yorck auf die drei Seiten oder »Funktionen« der
psychischen Struktur (darin Dilthey zunächst vergleichbar): Denken (bzw. Vorstellen),
Fühlen (bzw. Empfinden) und Wollen (bzw. Begehren). Dem psychologischen Befund
dieser Dreigliedrigkeit liegt für Yorck jedoch ein Prozeß der Ausdifferenzierung zu-
grunde, dessen Analyse (oder soll man sagen: spekulative Konstruktion?) zu einer
nicht weiter hinterfragbaren, ursprünglichen »Lebendigkeit« gelangt. Diese primordia-
le Lebendigkeit erfahre ich in der hierfür aktivierten »Selbstbesinnung« jedoch nicht als
geschlossene und gleichsam ungebrochene Lebensenergie, sondern immer schon »diri-
miert in Selbst und Anderes, Seele und Leib, Ich und Welt, Inneres und Äußeres.« 43
Das Wesen dieser Lebendigkeit ist es, sich selbst zu manifestieren. Leben ist Explikati-
on. Es gehört jedoch zur »Fatalität aller Geschichtlichkeit«44, daß diese Selbstmanife-
station der »einheitlichen Lebensfülle« nicht in ihrer Totalität möglich ist, sondern nur
als »Vereinzelung«.45 Der aus dem »Fatum der Artikulation« entspringende Prozeß der
Vereinzelung und Differenzierung führt dazu, daß die Tendenz der Lebendigkeit, sich
zum Ausdruck zu bringen, gleichsam gebrochen wird und zu den beständig wechseln-
den Dominanzen der drei psychischen Grundfunktionen führt. »Die strukturierte Le-
bendigkeit expliziert sich, indem die psychischen Grundfaktoren ins Spiel treten.«46
Statt dies im einzelnen hier auszuführen, soll direkt zu der geschichtsphilosophi-
schen Applikation dieses Grundgedankens von Yorck weitergegangen werden. Yorck
unterscheidet drei typische Bewußtseinseinstellungen, die durch die jeweilige Verein-
seitigung und Dominanz der drei psychischen Funktionen charakterisiert werden.
Hierdurch entstehen epochenspezifische Grundhaltungen, die als Stufen der Geschich-

39 Kaufmann (Anm. 4), S. 47.


40 B 193.
41 B 88.
42 Graf Paul Yorck von Wartenburg: Bewußtseinsstellung und Geschichte. Ein Fragment. Hrsg. v. Iring
Fetscher. 1. Auflage Tübingen 1956. Im folgenden zitiert mit »BG«.
43 BG38.
44 BG84.
45 BG83.
46 Graf Yorck von Wartenburg: Heraklit, ein Fragment aus dem philosophischen Nachlaß. Hrsg. von
Iring Fetscher. In: Archiv für Philosophie 9 (1959); hier: S. 277 f.
188 FRITHJOF RODI

te einander ablösen. Die Explikation der Lebendigkeit vollzieht sich in weltgeschicht-


lich bedeutsamen Veränderungen der Bewußtseinsstellungen: während bei den
chen ein kognitiv-«okulares« Verhältnis zur Welt in ihren anschaulichen Gestalten vor-
herrscht und überhaupt erst Wissenschaft ermöglicht hat, ist das Weltverhältnis der
mer primär willentlich bestimmt und spricht sich aus in juridischen Ordnungsvorstel-
lungen und Zweckbestimmungen. Diesen Bevfußtseinsphasen der Geschichte, für die
Yorck gewisse Parallelen im indischen bzw. jüdischen Kulturkreis anführt, schließt sich
als dritte das Christentum an, in dem - vor allem in seiner reformatorischen Hochform
- die »Spontaneität des Empfindungslebens« dominiert.
Es gibt bei Yorck eine fast manichäisch anmutende Tendenz, die Dominanz des
Empfindungslebens im Christentum abzuheben von den vorausgegangenen Bewußt-
seinsstellungen. Die »Verräumlichung« der Lebendigkeit im projektionistisch-«okula-
ren« Weltauffassen der Griechen ebenso wie das regimentale Ordnungsdenken der Rö-
mer, verbunden mit entsprechendem Rechts- und Gerechtigkeitsdenken des alten Ju-
dentums, werden mit jenem Bewußtsein der unentrinnbaren Tragik geschildert, aus
dem auch das Wort Schillers stammt: »Spricht die Seele, so spricht, ach, die Seele nicht
mehr.« Insbesondere die Transformationen okular-gestaltlicher Welterfassung und juri-
discher Weltbeherrschung und ihre Verschmelzung in den mechanistischen Systemen
der frühen Neuzeit sind für Yorck die Voraussetzung der modernen Veräußerlichung
der Wissenschaft. Er läßt aber auch die andere von Dilthey so emphatisch herausge-
stellte Bewußtseinsstellung nicht gelten, also jenes Immanenzdenken, das religionsge-
schichtlich als »religiös universaler Theismus«, weltanschauungstypologisch als »ob-
jektiver Idealismus« auftritt. Dieser Traditionsstrang, der sich auch wissenschaftlich,
durch die Betonung der Anschauung im morphologischen Zug des erwachenden histo-
rischen Bewußtseins, manifestierte, war ja Diltheys geistige Heimat, wenn auch mit
deutlichen metaphysik-kritischen Vorbehalten versehen. Er war für ihn einer der drei
durch die ganze Geschichte des abendländischen Denkens sich hindurchziehenden
»Höhenzüge«, nicht eine bestimmte Phase der Bewußtseinsentwicklung. Auch er ist in
Diltheys Typologie der Weltanschauungen Explikation der Gefühlskomponente der
psychischen Struktur, und könnte damit formal mit der Position des Christentums in
Yorcks Phänomenologie der Bewußtseinsstellungen verglichen werden. Aber gerade an
diesem Punkt, bei scheinbar größter Entsprechung, klaffen die Grundüberzeugungen
der beiden Philosophen am weitesten auseinander. Denn der Diesseitigkeit und Welt-
bejahung des objektiven Idealismus stellt Yorck im Christentum die »Entweltlichung«
des Bewußtseins gegenüber.47 Die reformatorisch artikulierte Empfindung ist nicht
»kongeniales Weltverständnis«, als welches Dilthey in einer ersten Skizze seiner Welt-
anschauungstypologie den objektiven Idealismus oder Pantheismus seinem Freund
vorstellt.48 Diesem ist der Traditionsstrang, der schließlich in Romantik und Histori-
sche Schule einmündet, lediglich ein Seitenarm des Stroms der mechanistischen Verwis-
senschaftlichung, schließlich eine »Reaktion der Empfindung gegen die mechanistische
Hypothese als die deutsch-nationale Kontrasterscheinung auf allen Wissensgebieten«.49

47 BG 133.
48 BG67.
49 BG 109.
PROBLEME MIT DER »ZUGEHÖRIGKEIT« 189

Während diese Art des Empfindungslebens nach Yorck nur der Befriedigung von
Gemütsbedürfnissen dient, findet in der »Projektion der Empfindung« im reformatori-
schen Christentum eine radikale Selbstentäußerung statt. »Die gesamte Funktionalität
in höchster Lebendigkeit, aber gleichsam gegen sich selbst gerichtet und auf einen Be-
zugspunkt, welcher der Gegebenheit nicht zugehört, ja nicht zugehören kann, nämlich
auf Gott.« 50
Die in den verschiedenen Schriften Yorcks sich durchhaltende Charakterisierung des
Christentums bezieht sich immer auf dessen »Lebendigkeit«: die christliche Religion
ist »höchste« oder »absolute« Lebendigkeit51; der »Faktor der Gefühlsindependenz«
wird hier »der weltfreien Lebendigkeit gemäß als konstruktive Kraft gefühlt und ge-
faßt.«52 Allerdings betont Yorck in Bewußtseinsstellung und Geschichte, daß es ihm
nicht um das Christentum als Religion, sondern als Bewußtseinsstellung gehe.53 Ent-
scheidend ist dabei die Anerkennung der »Spontaneität des Empfindungslebens«,
durch die »das Gesetz der Okularität zur Aufhebung gelangte, die Richtung auf die
Gestaltsform in Wegfall kam.« »Die mit dem Christentum gegebene psychische Mög-
lichkeit, hinter das Sein in die innerste Lebendigkeit zurückzutreten«, habe zur Folge
gehabt, daß »die vorstellungsmäßige Bildlichkeit und institutionelle Körperlichkeit von
der inneren Kraft des Gemüts aufgelöst wurde.« 54

III

Vor diesem Hintergrund erhalten die bekannten Äußerungen Yorcks über Gleichartig-
keit und Zugehörigkeit, Historisches und Antiquarisches, und schließlich über Ge-
schichte als Virtualität eine noch größere Radikalität, als dies schon aus dem Briefwech-
sel zu erschließen war. Wahre Historizität ist nach Yorck überhaupt erst mit dem Chri-
stentum möglich geworden, d.h. mit einer Bewußtseinsstellung, die sich nicht dem Er-
forschbaren und dem Beherrschbaren zuwendet, sondern der »Verinnerlichung und
Rückführung der reinen Tatsächlichkeit in das unsichtbare Kraftreich der Motive«.55
Das Leben als Organon ist jene empfindungsintensive Lebendigkeit, von der ausge-
hend überhaupt erst entscheidbar ist, ob ein vergangenes Phänomen historisch, also
virtuell, gegenwärtig, oder bloß antiquarisch ist. Die bekannte Formel »Leben erfaßt
hier Leben«, die man als das gemeinsame hermeneutische Credo der beiden Freunde
bezeichnen kann, erhält in den Formulierungen Yorcks eine Zuspitzung, auf die man
von den Nachlaßfragmenten her genauer zu achten lernt. Wenn die »Erfahrung der
Wirkung von Leben auf Leben« als Voraussetzung der »Vollständigkeit der histori-
schen Erkenntnis«56 angesehen wird, so kann dies einerseits als wohltuende Verleben-

50 BG 134.
51 BG34u.ö.
52 Graf Paul Yorck von Wartenburg: Das Fragment von 1891. Hrsg. v. K. Gründer. In: Derselbe, Zur
Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Aspekte und neue Quellen. Göttingen 1970;
hier: S. 329.
53 BG37.
54 Yorck (Anm. 52), S. 312-316.
55 B 88.
56 B 193.
190 FRITHJOF RODI

digung des Wissenschaftsbetriebs empfunden werden. Es kann aber auch radikal aus-
schließende Zugehörigkeit bedeuten in dem Sinn, daß ich nur das als virtuelles Leben
zulasse, was meiner auffassenden Lebendigkeit gemäß ist. Die Radikalität Yorcks, für
die man in den Jahren des sich zersetzenden Liberalismus so viel Bewunderung hatte,
mag heute, beim Blick zurück über dieses Jahrhundert hin, in den Schatten eines noch
jungen historischen Phänomens geraten: nämlich des gegen Ende des Jahrhunderts
erneuerten Fundamentalismus. Nun mag es befremdlich erscheinen, diese aus gänzlich
anderen sozialen Phänomenen gewonnene Kategorie auf einen hochgebildeten, kon-
servativ-preußischen Aristokraten lutherischer Gläubigkeit anzuwenden. Aber schon
wenn man bei ihm liest: »Staatspädagogische Aufgabe wäre es, die elementare öffentli-
che Meinung zu zersetzen und möglichst die Individualität des Sehens und Ansehens
bildend zu ermöglichen«57, wird deutlich, welcher Art die Faszination war, über die
Gadamer immer wieder berichtet. Über dieses eher Atmosphärische hinaus reicht aber
die Konsequenz, mit der das Ausgehen von der eigenen Lebendigkeit zwei Momente in
sich vereint: die Intensität des »Sich Bewegens von Leben zu Leben«58 und die
vität im Namen der Zugehörigkeit zu diesem anderen Leben.
Hier zeichnet sich die Aufgabe ab, über Yorcks Umgang mit der Geschichte neu
nachzudenken. Es können abschließend hier nur einige Beispiele genannt werden, die
auf die fundamentalistische Zweiheit von Intensität und Exklusivität ein gewisses Licht
werfen könnten. Da ist einmal die unvollendet gebliebene Denkschrift Gedanken über
eine Reform des Gymnasialunterrichts in Preußen aus den frühen neunziger Jahren.59
Die Abhandlung ist keine schulpolitisch-pragmatische, sondern eine hochphilosophi-
sche, die sich »auf die geschichtlichen Bedingungen der gegenwärtigen historischen Be-
wußtseinslage« konzentriert. 60 In einer Art wissenschaftsgeschichtlich orientierter Be-
wußtseinsphänomenologie verfolgt Yorck den Weg von der Auflösung der mittelalter-
lichen Bewußtseinsstellung über Humanismus und Reformation, Empirismus und
Rationalismus zu Leibniz, um dann als zwei antagonistische geistige Mächte des 18.
Jahrhunderts den friederizianischen Staat und Rousseaus politische Philosophie, je-
weils in ihrer Auswirkung auf die Pädagogik, gegenüberzustellen. Die Arbeit ist be-
stimmt vom Krisenbewußtsein der Zeit, wie es im Briefwechsel ja von beiden Seiten
immer wieder artikuliert worden ist. Yorck sieht die beiden herrschenden Tendenzen
seiner Gegenwart, die er »Amerikanismus« (im Sinne extremer individualistischer Frei-
heitstendenz) und Sozialismus nennt, beide auf Rousseau zurückgehen als Tendenzen,
sich den Staatsgedanken durch Stimmrecht und Repräsentation Untertan zu machen.
An die Stelle des regimentalen Zweckverbandes, der sich in Staatsarbeit erfüllt, wird
Gleichheit »die alleinige Norm für die Verbandskonstruktion«. So kann die Schlußfol-
gerung nur lauten, »daß die aus dem Rousseauschen Prinzip abfolgende oder durch
dasselbe wenigstens influenzierte Pädagogik nicht geeignet sein wird, die aus der glei-
chen Stellungnahme erwachsenen Mißstände und Gefahren zu beseitigen«.61

57 B249.
58 B202.
59 Hrsg. v. Iring Fetscher. In: Archiv f. Philosophie 9 (1959). Im folgenden zitiert mit »GRGP«
60 GRGP, S. 287.
61 GRGP, S. 312.
PROBLEME MIT DER »ZUGEHÖRIGKEIT« 191

Hier wird aus der Zugehörigkeit zum Preußentum als geistig-politischer Virtualität
ein Ausschließungsprinzip der bedrängenden Modernität gegenüber. Das Prinzip, von
der eigenen Lebendigkeit aus nicht nur in Historizität zu stehen, sondern sie gleichsam
zu machen, ließe sich leicht mit trivialen sprachlichen Mitteln denunzieren. Dies soll
hier nicht unternommen werden. Aber der Hinweis auf diese Problematik mag für eine
neuerliche Diskussion der Kategorie »Zugehörigkeit« dienlich sein.
Ein anderes Problemfeld ist Yorcks Aneignung der antiken Philosophie. Hierfür
bietet sich das (gleichfalls erst in den fünfziger Jahren von Iring Fetscher herausgegebe-
ne) Fragment über Heraklit als Studienobjekt an. Es würde die Kompetenz des Refe-
renten (und die Geduld des Lesers) überfordern, sollte hier im einzelnen kritisch ge-
prüft werden, in welchem Maße die Interpretation von der eigenen Lebendigkeit aus,
die »Erfahrung von Leben auf Leben«, die Historizität des Gegenstandes gleichsam er-
zwingt. Der bisweilen etwas herrische Umgang mit den Vorsokratikern ist ja unserem
Jahrhundert kein gänzlich fremdes Phänomen geblieben. Daß auch hier Zugehörigkeit
nicht nur Verlebendigung ermöglicht, sondern auch Exklusivität bedeutet, hat Fritz
Kaufmann vorsichtig angedeutet, wenn er Heraklit »in gewissem Sinne zum Vorfahren
christlichen und damit Yorckschen Denkens« gemacht sieht:

»Die besondere und intensive Beschäftigung mit Heraklit erklärt sich eben daraus, daß sich
in ihm als einem verwandten Geist, einem gegenwärtigen geschichtlichen Motiv, Yorck
selbst wiedererkennt. Daher ist denn Yorcks kühne und originale Heraklitdeutung voller
Aufschluß für die Intentionen seines eigenen Denkens und um der Dignität dieses Denkens
willen höchster Aufmerksamkeit wert, auch dort, wo sie zwar bedenkenswert ist, aber nicht
als gerechtfertigt angesehen werden kann.«62

Es ist dieselbe schonende und wohlwollende Kritik, die Kaufmann auch dem dritten
Bereich problematischer - und in diesem Fall höchst problematischer - Zugehörigkeits-
praxis zukommen läßt, nämlich Yorcks Verhältnis zum Judentum. Kaufmann, der -
wie Karlfried Gründer herausgefunden hat - als Soldat im Ersten Weltkrieg durch anti-
jüdische Schikanen zum Judentum zurückgefunden hatte63, hat schon in seiner Habili-
tationsschrift von 1925 auf einige deutlich antisemitische Bemerkungen Yorcks mit
größter Vornehmheit reagiert: »Als Jude mit der ganzen Kompliziertheit dieses Pro-
blems schmerzlich vertraut, muß ich mir ein in diesem Zusammenhang notwendig un-
genügendes Eingehen darauf versagen. Mir erscheint es als fruchtbarer, daran mitzuhel-
fen, die Yorcksche Kritik gegenstandslos zu machen als gegen sie zu polemisieren.«64
Deutlicher fällt Kaufmanns Kritik dort aus, wo das prinzipielle Problem geschichtli-
cher Zugehörigkeit bei Yorck mit der politischen Konsequenz verbunden wird, der
Staat solle zwar »zwischenkirchlich«, aber nicht christlich indifferent sein und dürfe
den »Judaismus« nicht in seine Simultaneität einschließen.65 Kaufmann merkt dazu an:
»Die hier gefällte kulturpolitische Entscheidung scheint mir unhaltbar, untragbar, un-
durchführbar zu sein. Das Problem, das ihr zugrunde liegt und hier nicht erörtert wer-

62 Fritz Kaufmann: Wiederbegegnung mit dem Grafen Paul Yorck. Hrsg. v. Iring Fetscher. In: Archiv
für Philosophie 9 (1959), S. 177-213; hier: S. 201.
63 Gründer (Anm. 52), S. 26.
64 Kaufmann (Anm. 4), S. 42, Anm. 1.
65 B 141.
192 FRITHJOE RODI

den kann, soll damit weder vertuscht noch in seiner ganzen Schwere verleugnet wer-
den.«66 Auch nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs hat sich Kaufmann diese
vornehme Zurückhaltung bewahrt, als er - nun konfrontiert mit dem Nachlaßfragment
Bewußtseinsstellung und Geschichte noch einmal auf Yorcks »Ausschaltung des Juden-
tums von der Mitwirkung am Bau dieser Welt« zu sprechen kam: »Es erübrigt sich
heute, gegen die Verengung des geschichtlichen Zugehörigkeitshorizontes zu polemi-
sieren, die sich in unserer Zeit so bitter gerächt hat.«67 Was 30 Jahre zuvor als eine un-
durchführbare kulturpolitische Entscheidung angesehen worden war, hatte inzwischen
in unvorstellbarer Brutalität und Konsequenz die Erde überrollt. Der ins Exil geflüch-
tete Philosoph (der übrigens über den Korrekturen zu seiner Wiederbegegnung mit
dem Grafen Yorck starb) wollte auch jetzt nicht polemisieren.

66 Kaufmann (Anm. 4), S. 75, Anm. 4.


67 Kaufmann (Anm. 62), S. 207.
CHRISTOPH DEMMERLING

Vom Sein des Sinns

Überlegungen zu einer hermeneutischen Philosophie der Sprache

Die Frage nach dem Sinn oder der Bedeutung unserer Wörter und Sätze gehört zu den
zentralen Fragen der Philosophie. Auf welche Weise können Wörter Dinge vertreten?
Wie beziehen sich unsere Sätze auf die Welt? Wie verhalten sich die Bedeutungen von
Wörtern und Sätzen zueinander? Dies sind einige der wesentlichen Probleme, deren
Beantwortung Generationen von (in erster Linie analytischen) Philosophen zugearbei-
tet haben. Die folgenden Überlegungen hingegen betrachten die Sprache als Phänomen
der geschichtlichen Welt, für dessen Analyse insbesondere auch die hermeneutische
Philosophie zuständig ist. Denn die Voraussetzungen des Verstehens und Gebrauchens
sprachlicher Äußerungen sind nicht allein in der Sprache selber zu suchen, sondern sie
liegen in unserer geschichtlichen Lebenspraxis. Ohne eine Untersuchung der Einbet-
tung der Sprache in unsere primären Lebensvollzüge lassen sich Bedeutung und Verste-
hen sprachlicher Ausdrücke nicht angemessen beschreiben. Diese Einsicht haben v. a.
der späte Wittgenstein, aber auch Autoren aus dem Umfeld der philosophischen Her-
meneutik und der Phänomenologie - ich nenne lediglich Heidegger, Misch, Lipps und
Gadamer - akzentuiert. Die folgenden Überlegungen begreifen sich auf dem Hinter-
grund dieser Tradition, ohne jedoch den Weg einer umfangreichen Rekonstruktion und
Interpretation der dort formulierten Positionen zu gehen. Sie diskutieren vielmehr eine
Reihe systematischer Fragen; Hoffnung und Anspruch dieses Unternehmens bestehen
darin, etwas über die Sprache sagen zu können, was sich nicht ausschließlich dem (zur
Zeit) herrschenden Theoriebetrieb und seinen Begriffsgebräuchen verdankt und eine
Sicht auf das Phänomen Sprache zu erlangen, die nicht gänzlich durch die gängigen Be-
grifflichkeiten verstellt ist.
Daß die Voraussetzungen des Verstehens und Gebrauchens von Sprache nicht allein
in der Sprache selbst zu suchen sind, hängt mit der Seinsweise sprachlichen Sinns zu-
sammen. Der Sinn sprachlicher Äußerungen ist nichts, was gleich Steinen, Pflanzen
oder wie das Meer in der Welt vorhanden ist.1 Dies hat weitreichende Konsequenzen
für die philosophische bzw. theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen
sprachlichen Sinns. Der Sinn einer sprachlichen Äußerung läßt sich nicht wie der Stein
des Geologen, das Blatt der Pflanzenphysiologin oder die Wasserprobe des Limnolo-
gen beispielsweise mit Hilfe mikroskopischer Techniken analysieren. Sprachlicher Sinn
ist nichts in der Welt Vorhandenes. Viele Theorien in der gegenwärtigen Sprachphiloso-
phie - und ich denke insbesondere an die semantische Tradition, an jene Route, welche
die Sprachphilosophie von Frege über Carnap, Tarski und Quine bis hin zu Davidson

1 Vgl. dazu auch Albrecht Wellmer, Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft. In: Vernunft und Le-
benspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Für Friedrich Kam-
bartel. Hrsg. von Christoph Demmerling u. a. Frankfurt a.M. 1995, S. 123-156.
194 CHRISTOPH DEMMERLING

eingeschlagen hat - unterstellen jedoch, daß Sinn etwas Vorhandenes ist; sie machen
Gebrauch von einem Vorhandenheitsmodell des Sinns. In den ersten Teilen dieses Auf-
satzes wird expliziert, was einem Vorhandenheitsmodell des Sinns entgegensteht.
Sprachlicher Sinn - so die Thesen, die ich plausibel machen möchte - ist offen und
abgeschlossen (I), er ist geschichtlich (II) und zeitlich (III). Die verbleibenden Teile skiz-
zieren ein kurze Antwort auf die Frage, inwieweit die meisten Ansätze in der gegen-
wärtigen Sprachphilosophie dem Vorhandenheitsmodell verpflichtet sind (IV) und um-
reißen in knapper Form die Grundzüge des alternativen Modells einer hermeneuti-
schen Sprachphilosophie (V).

I.

Mit der Rede von der Offenheit und Unabgeschlossenheit des Sinns sprachlicher
Äußerungen bezieht man sich häufig auf die in Logik und Sprachphilosophie wohlver-
trauten Phänomene der Vagheit oder Unbestimmtheit von Ausdrücken. Für vage Aus-
drücke gibt es keine Regeln, die definitiv festlegen würden, wo die betreffenden Aus-
drücke richtig oder falsch angewendet werden. Unbestimmtheiten des Sinns sprachli-
cher Äußerungen können sich aus dem Gebrauch ungenauer, allgemeiner und
deutiger Ausdrücke ergeben. Unbestimmt aufgrund von Ungenauigkeit ist eine
Äußerung wie »Bring mir bitte den Hammer aus dem Keller« dann, wenn sich im Kel-
ler mehrere Hämmer befinden. Der Satz »Da ist ein Tier in meinem Zimmer« ist unbe-
stimmt, da das Wort »Tier« vergleichsweise allgemein ist. »Wir treffen uns an der Bank
in der Waldemarstraße« ist mehrdeutig, wenn sich in der Straße sowohl ein Geldinsti-
tut als auch ein Sitzmöbel befinden. Die Offenheit und Unabgeschlossenheit sprachli-
chen Sinns jedoch, um welche es im folgenden geht, möchte ich von der Vagheit und
Unbestimmtheit im angeführten Sinne unterscheiden. Offenheit und
heit sind Eigenschaften der Sprache, die das Sein des Sinns insgesamt betreffen und nicht
nur den Sinn bestimmter Typen von Ausdrücken oder Äußerungen.
Der Sinn eines in der natürlichen Sprache geäußerten Satzes, ganz gleich ob es sich
um mündliche oder schriftliche Äußerungen handelt, tritt uns nie in einer fertigen und
endgültig abgeschlossenen Gestalt entgegen. Er ist vor seiner Äußerung, oft auch noch
während der Äußerung nicht eindeutig bestimmt. Die Ansicht, derzufolge wir über
den Sinn der von uns geäußerten Sätze verfügen und diesen wie einen Gegenstand
handhaben können, und daß Satzäußerungen nichts weiter sind als Übersetzungen ei-
nes gedanklich oder sonstwie protosprachlich gegebenen Sinns in Laut- bzw. Schrift-
zeichen, ist ein naheliegendes, gleichwohl aber verfehltes Bild. Der Sinn einer
rung wird vielmehr erst im Augenblick ihres Geäußertwerdens produziert. Sinn gelangt
in die Welt, indem wir konkrete Sätze in konkreten Situationen und aus gegebenem
(konkreten) Anlaß äußern. Eine nähere Bestimmung kann der Sinn lediglich im Rah-
men eines breit gefächerten Kontexts erlangen, der mit der konkreten Situation, in der
ein konkreter Satz geäußert wird, beginnt und dessen äußere Grenzen in einem unsere
Sprach-, Denk- und Handlungsvollzüge umgreifenden Verstehensraum anzusiedeln
sind. Die für das Verstehen des Sinns erforderlichen Elemente werden dabei nicht -
und dies ist entscheidend - allein der Form oder Struktur der sprachlichen Äußerung
VOM SEIN DES SINNS 195

entnommen, sondern im Rückgriff auf die je besonderen Aspekte einer Situation spezi-
fiziert.2
Bereits einfache Beispiele bestätigen diese Auffassung. So ist es beispielsweise außer-
ordentlich schwierig, in hohem Maß strukturierte Äußerungen ohne situativen Kontext
zu verstehen - denken wir an Situationen, in denen wir Teile oder Fragmente der Rede
eines anderen aufschnappen«, zum Beispiel flüchtig an uns vorbeiziehender Passanten,
ohne mit der Gesprächssituation der Redenden vertraut zu sein und ohne den Hinter-
grund ihres Gesprächs zu kennen. In solchen Fällen besitzen wir keine Vorstellung da-
von, worum es eigentlich« geht. Andererseits ist es manchmal recht einfach, relativ un-
strukturierte Äußerungen zu verstehen. Äußerungen in einer uns unbekannten Spra-
che, die ja, sofern sie von uns als unartikulierte Lautkette wahrgenommen werden, für
uns überhaupt keine Struktur besitzen, können verstanden werden, wenn sie in einem
ganz und gar durchschaubaren Kontext geäußert werden.
Wie weit der Sinn einer Äußerung durch Kontexte bestimmt wird, mag von der Be-
schaffenheit der Situationen abhängen. Hier sind mehr oder weniger deutliche Fälle
voneinander zu unterscheiden. Die Möglichkeit einer vollständigen Bestimmung des
Äußerungssinns in gänzlicher Absehung von Äußerungskontexten scheint mir jedoch
ausgeschlossen. Dies gilt selbst für die Sprachen der formalen Logik, deren Überlegen-
heit über natürliche Sprachen darin zu bestehen scheint, weitgehend oder gänzlich von
Kontextelementen abzusehen. Die Logik stellt allerdings schon eine bestimmte Art von
Kontext bereit, was oft übersehen wird. Wir verstehen die Ausdrücke einer (angeblich)
kontextfreien Kalkülsprache auch nur deshalb, weil wir wissen, daß es sich bei demje-
nigen, was wir da im Augenblick treiben, um Logik handelt.
Daß Sinn und Bedeutung sich erst im Verlauf einer Äußerung herstellen, gilt nicht
nur für das Verstehen sprachlichen Sinns durch einen oder mehrere Hörer, es gilt be-
reits für diejenigen, die Äußerungen produzieren. Daß Sinn erst im Prozeß des Äuße-
rungsgeschehens entsteht, könnte zu dem Schluß führen, daß nach Beendigung des
Äußerungsgeschehens oder der vollständigen Kenntnisnahme einer Äußerung durch
einen Hörer oder Leser der Äußerungs-, Satz- oder Textsinn zu einem Abschluß ge-
langt, daß also die Unabgeschlossenheit dem kontingenten Faktum, daß wir Sprach-
und Verstehenshandlungen nur in der Zeit ausführen können, geschuldet ist und es sich
bei der Offenheit sprachlichen Sinns lediglich um ein Übergangsphänomen handelt,
welches lediglich vor dem Abschluß einer Äußerung und ihrer Deutung von Belang ist.
Dennoch gilt: Die Gebundenheit der Sprachproduktion und des -verstehens an die Zeit
stellt letztlich kein kontingentes Faktum dar. Überdies bleibt sprachlicher Sinn auch
unabhängig von seiner sukzessiven Herstellung im Äußerungsvollzug offen und unbe-
stimmt. Auch bereits fertige Äußerungen oder Texte können (im Nachhinein, im
Rückblick) ihren Sinn wiederholt ändern. Offen und unabgeschlossen ist sprachlicher
Sinn, da es (prinzipiell) immer möglich bleibt, eine einmal erfolgte Äußerung weiter zu
kommentieren, einen einmal beredeten Sachverhalt nochmals zu thematisieren. An je-
den Satz lassen sich unendlich viele Sätze anhängen, die dessen Sinn erläutern. Vertraut

2 So z.B. auch Hans Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik. Werke II, Frankfurt a.
M. 4 1976, S. 71: »Denn zunächst werden Worte als faktisch gesprochene Worte, aber nicht darauf hin
verstanden, daß sie an sich etwas bedeuteten. Das gesprochene Wort hat um sich einen Hof von U n -
ausdrücklichem.«
196 CHRISTOPH DEMMERLING

ist das hier angesprochene Phänomen vor allem aus Gesprächen, in denen es darum
geht, den Sinn des einmal Gesagten weiter zu verdeutlichen. Häufig finden sich dann
Wendungen wie »Ich habe das anders gemeint« oder »Vielleicht habe ich mich ungenau
ausgedrückt« usw. Und wie oft ändert sich der Sinn einer Äußerung, wenn auf Nach-
frage der Bescheid erfolgt, er sei so nicht gemeint gewesen. Dies heißt selbstverständ-
lich nicht, daß wir Äußerungen niemals in einer den Bedürfnissen unserer Praxis ent-
sprechenden Form verstehen könnten. Der Grad der Offenheit variiert mit den Sinn-
objekten: die Entbietung eines Grußes in der Kantine ist in der Regel etwas anderes als
ein literarischer Text. Während wir ein »Guten Tag« normalerweise >spontan< verstehen
und dieser Grußformel nicht ständig neue Deutungen abgewinnen, mag es sein, daß
sich im Anschluß an die Lektüre eines literarischen Textes nie ein endgültiges« Verste-
hen einstellt.3

IL

Solche Überlegungen verweisen auf die Geschichtlichkeit sprachlichen Sinns. Das Sein
des Sinns ist in zweifacher Weise geschichtlich: Zum einen ist der Sinn sprachlicher
Äußerungen ein geschichtliches Phänomen, da unsere Geschichte, die >Allgeschichte<
im Sinne der historischen Entwicklung menschlicher Lebensformen und Gesellschaf-
ten im allgemeinen sowie der politischen, sozialen, technischen, wirtschaftlichen und
anderen Begebenheiten, die unsere Vergangenheit ausmachen, den Sinn sprachlicher
Äußerungen mitbestimmen; zum anderen ist er etwas Geschichtliches aufgrund der
Zugehörigkeit von Äußerungen zu lokalen, einzelnen Geschichten oder Erzählungen.
Zum Sinn sprachlicher Äußerungen oder Ausdrücke gehören die Geschichten, in de-
nen sie vorkommen. 4
Daß die Geschichte als >Allgeschichte< in den Sinn sprachlicher Äußerungen einwan-
dert, hängt mit dem Umstand zusammen, daß die Sprache selbst geschichtlich ist. An-

3 Vgl. dazu u. a. Georg Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger
Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens, Freiburg/München 1994, S. 565 ff.
4 Umfassendere Analysen zur Gebundenheit des Sinns von Äußerungen bzw. Sätzen an deren Vorkom-
men in Geschichten hat Wilhelm Schapp vorgelegt. Im Zusammenhang mit seiner Geschichtenphiloso-
phie diskutiert er eine Reihe von Beispielen, die deutlich machen sollen, daß sich auch die Beziehungen
zwischen Wörtern und Dingen, Sätzen und Sachverhalten erst im Rahmen von Geschichten ergeben.
Über den Satz »Die Königin ist krank« heißt es zum Beispiel (Wilhelm Schapp, In Geschichten
strickt. Zum Sem von Mensch und Ding, Frankfurt a.M. 3 1985, S. 174: »Im Zuge einer Geschichte, im
Zuge eines Romans trifft der Satz auch einen »Sachverhalt«. Im Zuge einer Geschichte erst kann der
Satz wahr oder falsch sein, kann er stimmen oder nicht stimmen. Ohne diesen Hintergrund irrt er in der
Welt umher und sucht vergeblich seinen Sachverhalt. So ist es etwa mit allen Übungssätzen in der
Grammatik oder in Übungsbüchern. [...] Der Satz kann mit gleichem Wortlaut in zehn verschiedenen
Romanen vorkommen und trifft in jedem Roman, wenn wir in der Sprechweise der Phänomenologen
bleiben wollen, einen anderen Sachverhalt [...] auch sein Sinn [muß] jeweilig ein anderer sein.« Schapp
stellt solche Überlegungen im Rahmen einer Kritik am Bedeutungsbegriff der Phänomenologie in der
Variante Husserls an und macht die dort vorherrschende Orientierung an Logik und Mathematik für
die Tatsache verantwortlich, daß sich in der Phänomenologie ein einseitiges Bild von der Sprache hat
durchsetzen können (vgl. ebd., S. 171 f.). Viele seiner Ausführungen lesen sich, als seien sie bereits gegen
Vorstellungen von der Sprache gerichtet, wie sie innerhalb der neueren analytischen Philosophie ver-
breitet sind. Vgl. zu Schapps sprachphilosophischen Überlegungen insgesamt ebd., S. 6-11; S. 69 ff.;
S. 170-190; ferner: Wilhelm Schapp, Philosophie der Geschichten, Frankfurt a. M. 1981 2 , S. 5 f.; S. 267-331.
VOM SEIN DES SINNS 197

ders als ein Kalkül der Logik ist keine Sprache ein statisches Gebilde, in welchem die
Verhältnisse der jeweils verschiedenen Elemente untereinander festgelegt wären und in
dem jedes Element seinen festen Ort hätte. Sprachen befinden sich stets im Fluß, alte
Wendungen und Redeweisen sterben ab, neue entstehen. Inwieweit die Geschichte als
>Allgeschichte< insbesondere auch den Sinn sprachlicher Äußerungen betrifft, läßt sich
aus dem sogenannten Bedeutungswandel ersehen. So ändert sich beispielsweise die Be-
deutung von Grundbegriffen der Wissenschaften wie »Elektrizität« oder »Elektron«
durch die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Theorien. Besonders deutlich läßt sich
der Bedeutungswandel am Beispiel von Begriffen studieren, die irgendwann einmal zu
Metaphern werden, als Metaphern absterben und schließlich eine neue Bedeutung ge-
winnen. Gerade die Prozesse der Begriffsbildung in den Wissenschaften liefern hier
eine Fülle von Anschauungsmaterial. Die Beispiele reichen von einer flächendeckenden
Großmetaphorik wie etwa derjenigen des Lichts im Zusammenhang mit der Wahrheit,
oder derjenigen vom Geist als einem >Spiegel der Natur« bis hin zu lokaleren Kontexten
in den einzelnen Wissenschaften wie zum Beispiel dem Gebrauch der Computermeta-
phorik zur Charakterisierung des menschlichen Denkvermögens in der kognitiven
Psychologie oder der Verwendung informationstheoretischer und kognitiver Meta-
phern in der Mikrobiologie. Vom Bedeutungswandel betroffen sind jedoch auch schon
ganz alltägliche Ausdrücke. Bereits in die Bedeutung vergleichsweise einfacher« Wör-
ter wie »teuer«, »billig«, »reich« oder »arm« wandern historische Bedeutungskompo-
nenten ein. Was teuer, was billig, wer reich oder arm ist, hängt davon ab, was innerhalb
einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Praxis als »teuer« oder »billig« bezeich-
net wird, hängt von den wirtschaftlichen Verhältnissen ab, die innerhalb einer Gesell-
schaft jeweils den Bezugsrahmen für die Verwendung solcher Wörter bereitstellen.
Sprachlicher Sinn ist jedoch nicht allein deshalb geschichtlich, da viele Ausdrücke
eine historische Bedeutungskomponente enthalten, geschichtlich ist er auch darum,
weil Ausdrücke und Äußerungen immer in Geschichten gehören. Erst im Rückgriff auf
die Vielzahl der Geschichten, in welchen Ausdrücke und Äußerungen vorkommen, be-
stimmt sich näherhin, was ein Ausdruck bedeutet. Erinnern wir uns an Quines Gedan-
kenexperiment radikaler Übersetzung. 5 Quines These, daß der linguistische Feldfor-
scher auf der Grundlage der Beobachtung des Zusammenhangs von Reizen, die auf die
Sinnesorgane der Sprecher einer Sprache einwirken, und deren Verhalten irgendwann
einmal einen Zugang zu deren Sprache erhalten wird, läßt sich in sprachhermeneuti-
scher Perspektive, d.h. ohne die behavioristischen Prämissen Quines zu teilen und
ohne der Beobachtung des Sprachverhaltens eine entscheidende Rolle zuzubilligen, re-
formulieren: Der Sprachforscher versteht irgendwann auf dem Hintergrund seiner
Teilnahme an der Lebenspraxis der Sprachgemeinschaft, deren Sprache er untersucht,
deren Geschichten. Er versteht dann, was Kaninchen sind, wenn er die Geschichten
kennt, in denen sie vorkommen.
Das Kontextprinzip Freges, auf das sich z.B. Bedeutungstheoretiker wie Dummett
und Davidson vielfach stützen, lautet, daß Wörter ihre Bedeutung im Zusammenhang

5 Vgl. Willard van Orman Quine, Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980, S. 59 ff. Eine ausführliche
Darstellung des Gedankenexperiments findet sich bei Thomas Blume/Christoph Demmerling,
Grundprobleme der analytischen Sprachphilosophie, Paderborn u.a. 1998, S. 169 ff.
198 CHRISTOPH DEMMERLING

der Sätze, in denen sie vorkommen, erhalten.6 Sprachliche Äußerungen, so läßt sich er-
gänzen, erhalten ihre Bedeutungen im Zusammenhang mit den Geschichten, in denen
sie vorkommen. Der beispielsweise von Autoren wie Quine oder Davidson vertretene
Holismus legt - vordergründig betrachtet - eine ähnliche Sicht der Dinge nahe. Die
These, daß die Ausdrücke einer Sprache erst dann einen Sinn erhalten, wenn sie ins
Ganze einer Sprache eingebettet werden, behauptet jedoch etwas anderes als die Fest-
stellung, daß Ausdrücke und Äußerungen in Geschichten gehören. Dem Verweis auf
die Geschichtlichkeit sprachlichen Sinns geht es nicht um das Ganze der Sprache wie
dem Holismus, sondern um die Frage, inwieweit der Sinn sprachlicher Äußerungen
immer an einen Ort im Rahmen größerer Sinnzusammenhänge gebunden ist und deut-
lichere Konturen allererst im Rahmen solcher umfassenderen Sinnzusammenhänge er-
hält. Ohne Geschichten >hängt< der Sinn sprachlicher Äußerungen gewissermaßen >in
der Luft«.

III.

Ein neben der Geschichtlichkeit weiterer Aspekt sprachlichen Sinns, der dem Vorhan-
denheitsmodell entgegensteht, ist derjenige seiner Zeitlichkeit. Eine Quelle grundlegen-
der Fehler, die mit vielen der innerhalb der sprachanalytischen Tradition entwickelten
Bedeutungstheorien einhergehen, besteht darin, keine angemessenen kategorialen Mit-
tel für die Analyse der Zeitlichkeit des Sinns und der Sprache bereitzustellen. Innerhalb
der semantischen Tradition geht es bei der Diskussion des Verhältnisses von Sprache
und Zeit in der Regel um die Frage, wie sich der Gebrauch zeitabhängiger Ausdrücke
in eine Theorie der Bedeutung integrieren läßt. Diskutiert werden in diesem Zusam-
menhang insbesondere Probleme der zeitlichen Deixis - die Verwendung von Aus-
drücken wie »jetzt«, »vorher«, »danach« usw. - und der Zeitabhängigkeit von Behaup-
tungssätzen, sofern deren Bedeutung ja durch Wahrheitsbedingungen angegeben wer-
den können soll und sich das mit Behauptungen Behauptete oft auf bestimmte Zeit-
punkte bezieht. Derartige Überlegungen fragen nicht nach dem Verhältnis von
Zeitlichkeit und Sprache bzw. sprachlichem Sinn, sondern diskutieren speziellere Pro-
bleme, welche die sprachliche Bezugnahme auf die Zeit bereitet.7 Die Zeitlichkeit ist
mit der Sprache und sprachlichem Sinn jedoch auch dort verbunden, wo es gar nicht
um die Bezugnahme auf die Zeit geht. Dies ist nicht allein auf den trivialen Umstand
zurückzuführen, daß unser Sprechen oder Hören, Lesen oder Schreiben, wie alle unse-

6 Vgl. z.B. Donald Davidson, Wahrheit und Bedeutung. In: ders., Wahrheit und Interpretation, Frank-
furt a. M. 1984, S. 40-67; Michael Dummett, Ist systematische Philosophie möglich?. In: ders., Wahr-
heit. Fünf philosophische Aufsätze, Stuttgart 1982, S. 185-220.
7 Überlegungen zur Semantik zeitlicher Ausdrücke im Rahmen von sogenannten systematischen Be-
deutungstheorien sind vielfach Übertragungen von am Beispiel k a l k u l i e r t e r Sprachen entwickelten
Auffassungen auf die natürlichen Sprachen. In der temporalen Logik geht es gerade darum, die
Wahrheitswerte von Propositionen in ihrer Abhängigkeit von Zeitpunkten behandeln zu können;
vgl. den klassischen Text Arthur Norman Prior, Time and Modality, Oxford 1957; eine neuere Dis-
kussion des Verhältnisses von Sprache und Zeit als Problem der (formalen) Semantik findet sich bei
Quentin Smith, Language and Time, N e w York 1993; vgl. ferner Richard Larson/Gabriel Segal,
Knowledge of Meaning. An Introduction to Semantic Theory, Cambridge 1995.
VOM SEIN DES SINNS 199

re Handlungen und unser gesamter Existenzvollzug an die Zeit gebunden sind. Sprache
und sprachlicher Sinn sind zwar auch in dem trivialen Sinn zeitlich, daß sie endlich und
vergänglich sind. Dies ist jedoch nicht alles. Die Zeitlichkeit des Sinns einer sprachli-
chen Äußerung oder eines Satzes läßt sich in Analogie zur Zeitlichkeit einer musikali-
schen Tonfolge betrachten; das Hören von Äußerungen oder Lesen von Sätzen ist dem
Hören musikalischer Melodien vergleichbar. Wie eine Melodie entsteht auch der Sinn
von Äußerungen in der Zeit. Sinn und Bedeutung von Äußerungen oder Sätzen stellen
sich erst im Verlauf einer Äußerung her. Musik und Sprache >laufen< in vergleichbarer
Form >in der Zeit ab«.
Innerhalb der Geschichte der Musik, insbesondere auch der Musikästhetik, sind
zum Teil ganz unterschiedliche Vorstellungen von der Zeitlichkeit der Musik ent-
wickelt worden. 8 Im Rahmen der meisten Versuche, dem Geheimnis der musikalischen
Zeit auf die Spur zu kommen, wird der Vergleich zwischen Sprache und Musik heran-
gezogen. Immer wieder ist die Sprache zur Veranschaulichung musikalischer Zeitbilder
herangezogen worden. So hat man offensichtlich bereits die rhythmische Struktur der
altgriechischen Musik mit der metrischen Gliederung des Altgriechischen in Verbin-
dung gebracht. Noch Arnold Schönberg thematisiert die spezifische Gestalt von zeitli-
chem Nacheinander der Töne im Prozeß des Erklingens und Hörens und ihrer Gleich-
zeitigkeit auf der Ebene der musikalischen Synthesis, also des Ineinandergeschoben-
seins verschiedener Zeitstrukturen in der Musik, mit Blick auf die Sprache.9 Dieses den
Sinn eines musikalischen Gefüges konstituierende Ineinandergeschobensein von
Nacheinander und Gleichzeitigkeit verbietet es, die musikalische Zeit auf die objektive
oder die subjektive Zeit zurückzuführen. In der Musik zeigt sich vielmehr, wie Zeit-
lichkeit Sinn konstituiert und jenseits der physikalischen Meßbarkeit von Zeit wie auch
der subjektiven Wahrnehmung von Zeit als Dauer bzw. den Vorstellungen eines inne-
ren Zeitbewußtseins«, welches die Gegenstände in der Zeit verarbeitet, anzusiedeln
ist.10 Läßt sich das Phänomen der Zeitlichkeit sprachlichen Sinns auch umgekehrt mit
Blick auf die Musik erhellen?

8 Vgl. z.B. Andre Brincr, Der Wandel der Musik als Zeit-Kunst, Wien u.a. 1955; einen ersten Überblick
vermittelt Wilhelm Büttemeyer, Musik in der Zeit - Zeit m der Musik. In: Das Rätsel der Zeit. Philo-
sophische Analysen, hrsg. von Hans Michael Baumgartner, Freiburg/München 1993, S. 255-290;
hier finden sich zudem Hinweise auf die einschlägige Literatur.
9 Vgl. Arnold Schönberg, Komponieren mit zwölf Tönen. In: ders., Stil und Gedanke, Frankfurt a.M.
1976, S. 77: »Obwohl die Elemente dieser (musikalischen) Gedanken dem Auge und Ohr einzeln und
unabhängig voneinander erscheinen, enthüllen sie ihre wahre Bedeutung nur durch ihr Zusammen-
wirken, ebenso wie kein einzelnes Wort allein ohne Beziehung zu anderen Wörtern einen Gedanken
ausdrücken kann.«
10 Aus diesem Grund kann auch Husserls Analyse und sein Versuch, die Arbeit des inneren Zeitbe-
wußtseins am Beispiel des Hörens einer Melodie zu verdeutlichen - ein Beispiel, welches er im An-
schluß an Brentano diskutiert - als gescheitert gelten. Husserl rekonstruiert das Hören einer Melodie,
damit die Zeitlichkeit der Musik insgesamt, als Wahrnehmung aufeinanderfolgender Jetztpunkte, die
dann durch eine Vereinigung der jeweiligen Jetztwahrnehmungen des sogenannten urimpressionalen
Bewußtseins mit der Kontinuitätswahrnehmung des sogenannten retentionalen Bewußtseins gewis-
sermaßen zusammengesetzt werden. Vgl. Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des in-
neren Zeitbewußtsems, Tübingen 21980, §§ 3 ff.; zu Brentanos und Husserls Analyse vgl. Wolfgang
Kersting, Selbstbewußtsein, Zettbewußtsein und zeitliche Wahrnehmung. In: Zeiterfahrung und Per-
sonalität, hrsg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1992, S. 57-88, v.a. S. 73 ff.
200 CHRISTOPH DEMMERLING

Wesentlich für die musikalische Zeit ist der Umstand, daß dasjenige, was zunächst
hintereinander erklingt und deshalb nur nacheinander gehört werden kann, immer
schon eines Ganzen bedarf, immer schon einen Ort im Rahmen eines musikalischen
Gefüges einnehmen muß, um als musikalisches Element sinnvoll zu sein. Wäre dies
nicht der Fall, würde sich ein Ton innerhalb einer musikalischen Melodie nicht vom
Hupen eines Autos oder dem Schrei einer Eule unterscheiden. Gleiches gilt für sprach-
liche Äußerungen. Was hintereinander erklingt, kann nur nacheinander gehört werden;
was hintereinander« geschrieben ist, kann nur >nacheinander< gelesen werden. Die
sprachliche Äußerung bedarf gleichfalls eines Ganzen, muß einen Ort im Rahmen eines
Gesamtgefüges einnehmen, wodurch ihr allererst ein spezifischer Sinn zuwächst.
Außerhalb eines Gesamtgefüges würde sich eine sprachliche Äußerung nicht weiter
von einem unartikulierten Laut unterscheiden. Ob in der Musik oder der Sprache: Das
Ganze besteht zwar nicht unabhängig von seinen einzelnen Teilen, die zu dem Gesamt-
gebilde zusammengefügt werden - keine Musik ohne Töne, keine Sprache ohne Worte,
Zeichen oder Laute -, gleichwohl läßt sich das Gesamtgebilde nicht auf die Summe der
einzelnen Teile, die zu ihm zusammengefügt sind, reduzieren.
Im Anschluß an gestaltpsychologische Untersuchungen und die Musikpsychologie
Ernst Kurths macht beispielsweise Adorno darauf aufmerksam, daß jeder »Ton, der ins
musikalische Feld gerät, [...] immer bereits mehr als bloß Ton [ist], ohne daß doch die
Eigenschaften des Tons definitorisch herauszuschälen wären, die mehr als bloß Ton
sind. Dieses Mehr ist zunächst das, wozu sie in der Relation werden; [...]«."
Der Ton ist mehr als bloßer Ton, er ist mehr als ein physikalisches Ereignis oder
sinnesphysiologisches Datum, da der einzelne Ton von vornherein gegenüber einer
Vielzahl von Verbindungen mit anderen Tönen offen ist und die anderen bereits in un-
bestimmter Form zu ihm gehören. Adorno verwendet in diesem Kontext Begriffe wie
diejenigen der Schmiegsamkeit oder Elastizität. Der einzelne Ton erhält erst dadurch
seinen spezifischen Sinn, daß er Beziehungen mit anderen Tönen eingeht bzw. in sol-
che eingepaßt wird, und zwar in Verbindungen, die auf den ersten Blick nicht abseh-
bar oder umstandslos antizipierbar sind, sondern sich erst im Rückblick als relevant
enthüllen. Dieser Prozeß der Sinngebung ist ein zeitlicher Prozeß, er setzt genau jenes
Ineinander von Nacheinander und Gleichzeitigkeit voraus, von dem bereits die Rede
war.
Vom Sinn der Musik, aber auch vom Sinn sprachlicher Äußerungen, diese Parallele
zieht Adorno mehrfach ausdrücklich, stellt Adorno fest, er sei »ein Werdendes«, »ein
zeitlich sich Entfaltendes«.12 Der Grund dafür, daß er den Sinn als Werdendes, als et-
was, was sich in der Zeit entfaltet, bezeichnet, ist darin zu sehen, daß alle einzelnen zur
Komposition eines sinnigen Gesamtgefüges erforderlichen Elemente allein Kraft ihrer
Einbettung in einen Kontext, in welchem sie von anderen, ähnlichen Komponenten
umgeben sind, ihren Sinn erhalten, wobei im vorhinein nicht absehbar ist, wie der be-
treffende Kontext beschaffen ist, da dieser sich vielmehr auch seinerseits erst herstellt.
Die Dynamik und Offenheit eines musikalischen oder sprachlichen Gebildes betrifft

11 Theodor W Adorno, Vers une musique informelle. In: ders., Quasi una fantasia. Musikalische Schrif-
ten II. Schriften Bd. 16, Frankfurt a.M. 1963, S. 493-540, S. 520.
12 Ebd., S. 517; zum Verhältnis von Sprache und Musik vgl. insbesondere auch Theodor W Adorno,
Fragment über Musik und Sprache. In: ders., ebd., S. 251-256.
VOM SEIN DES SINNS 201

also nicht nur die einzelnen Teile, Töne, Tonkomplexe oder sprachliche Ausdrücke,
sondern auch auch das gesamte Gebilde bzw. den gesamten Kontext.13 Der Prozeß der
Sinngebung bliebe unterbestimmt, würde man annehmen, er bestehe einfach darin, daß
einzelne (atomare) Bestandteile innerhalb eines feststehenden Ganzen lediglich einen
Ort erhalten müßten. Der gesamte Kontext bleibt vielmehr seinerseits in Bewegung;
das Ganze steht nicht fest. Genau darin ist auch die spezifische Zeitlichkeit sprachli-
chen Sinns zu erblicken.14 Sprachliche Äußerungen, so läßt sich überdies formulieren,
werden aus sprachlichem Material komponiert. Auch hier trägt die Analogie von Spra-
che und Musik. Zum sprachlichen Material gehören neben einem Korpus grammati-
scher Regeln und den Einträgen eines Wörterbuchs - dies wird oft vergessen - auch das
Repertoire möglicher Satzmelodien und Modulationen (Regulationen der Laustärke
und Klangfarbe), die ebenfalls von Wichtigkeit sind, wenn es darum geht, die Bedeu-
tung von Äußerungen genau zu erfassen.15
Die Funktionsweise der natürlichen Sprache einmal mit Hilfe von Bildern und Ana-
logien zu betrachten, welche sie eher in die Nähe künstlerischer als logischer Verfah-
rensweisen rücken, mag durch den Umstand gerechtfertigt sein, daß üblicherweise Ma-
thematik und Logik als Paradigmen fungieren, die von unserer Arbeit mit der Sprache
in unseren alltäglichen Lebensvollzügen genauso weit entfernt sind wie die Künste.
Obgleich auch das Bild von der Musikähnlichkeit der Sprache seine Grenzen besitzt,
vermag es doch Licht auf in der Regel ausgeblendete Faktoren zu werfen, die gleich-
wohl eine Rolle spielen, wenn sprachlicher Sinn produziert bzw. verstanden werden
soll.

13 Solche Überlegungen zum Verhältnis von Teil und Ganzem sind innerhalb der Hermeneutik auch
Bestandteil der Diskussionen um einen Zirkel des Verstehens. Ich werte es als Indiz für die Angemes-
senheit meiner Überlegungen zur Zeitlichkeit des Sinns, daß sowohl Heidegger als auch Gadamer die
Zirkelproblematik mit der 'Zeitlichkeit des Daseins« bzw. der 'Geschichtlichkeit des Verstehens« in
Verbindung bringen; vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151979, S. 314 ff.; Hans-Georg
Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1985 s ,
S. 270 ff.
14 Ein ähnliche Intuition steht hinter den nicht immer ganz klaren Überlegungen Derridas, was insbe-
sondere sein Gebrauch der Begriffe der differance und der Iteration bzw. Itenerbarkeit deutlich
macht. Über den ersten Begriff heißt es: »Die differance bewirkt, daß die Bewegung des Bedeutens
nur möglich ist, wenn jedes sogenannte »gegenwärtige« Element, das auf der Szene der Anwesenheit
erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, während es das Merkmal (marque) des ver-
gangenen Elements an sich behält und sich bereits durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem
zukünftigen Element aushöhlen läßt, wobei die Spur sich weniger auf die sogenannte Gegenwart be-
zieht, als auf die sogenannte Vergangenheit, und durch eben diese Beziehung zu dem, was es nicht ist,
die sogenannte Gegenwart konstitutiert.« (Jacques Derrida, Die differance. In: ders., Randgänge der
Philosophie, Wien 1988, S. 29-52, S. 39); zur gesamten Thematik vgl. Herman Rapaport, Heidegger
& Derrida. Reflections on Time and Language, Lincoln/London 1989; zur Bedeutung der Begriffe
»Iteration« und »Iterierbarkeit« vgl. Jacques Derrida, Limited Ine, Evanston 1990-, S. 47 ff, ferner
Rodolphe Gasche, The Tarn of the Minor. Derrida and the Philosophy of Reflection, Cambridge
1986, S. 212 ff.
15 In diesem Zusammenhang ist insbesondere auch die Kategorie der evozierenden Ausdrücke zu den-
ken, die Misch (Anm. 3), v.a. S. 499 ff, ausführlich diskutiert hat. Vgl. auch H. Lipps Ausführungen
zum »Kolorit« einer Sprache, welches in die Sinnkonstitution von Äußerungen 'hineinragt«: »[...] et-
wa das undezidiert Umschmiegende des Wienerischen, oder die spröde Steifheit des Hannoveraners,
oder das abkantende Vorgestoßen-Schallkräftige des Bayern [...] Im Tonfall usw. drückt sich eine be-
stimmte innere Haltung aus. Etwa das seiner Unterwertigkeit Bewußte im vorfühlend fragenden
Tonfall des Sächsischen [...]« (Hans Lipps, Sprache, Mundart und Jargon. In: ders., Die Verbindlich-
keit der Sprache, Werke IV, 3 1977, S. 80-106, S. 85 f.)
202 CHRISTOPH DEMMERLING

IV.

Viele Vertreter der analytischen Tradition verkennen jene Momente der Seins weise des
Sinns, die in den vorausgegangenen Abschnitten zur Darstellung gebracht wurden. Das
Vorhandenheitsmodell bildet - wie ich eingangs bemerkt hatte - den Kern des
tungstheoretischen Objektivismus}1' Sprachlicher Sinn unterscheidet sich diesem Modell
zufolge nicht in grundsätzlicher Form von anderen Gegenständen«, die wir in der Welt
vorfinden: von Häusern, Tischen, Blumen oder Katzen. Folgerichtig teilen sich die Ver-
treter der analytischen Tradition im großen und ganzen die Überzeugung, daß die Spra-
che, insonderheit auch die Gefüge sprachlichen Sinns, einer wissenschaftlichen, theoreti-
schen Darstellung zugänglich sind. Wie Blumen in der Botanik und Katzen in der Zoolo-
gie untersucht werden, soll sich sprachlicher Sinn im Rahmen der Semantik oder Bedeu-
tungstheorie untersuchen lassen. Das Vorhandenheitsmodell des Sinns fußt auf folgenden
Annahmen: (1) Der Sinn sprachlicher Äußerungen oder Ausdrücke ist etwas, was klare
und eindeutige Grenzen aufweist - zwischen dem Sinn einer Äußerung und dem Sinn ei-
ner anderen Äußerung läßt sich genauso deutlich unterscheiden wie zwischen Hunden
und Katzen; (2) der Sinn sprachlicher Äußerungen ist definitiv und eindeutig bestimmbar
und schließlich ist er (3) immer bzw. in der Regel in abgeschlossener Form gegeben.
Wahrheitssemantische Ansätze gehen von einer objektivistischen Auffassung
sprachlicher Bedeutung und sprachlichen Sinns aus, da in ihrem Rahmen die Ge-
schichtlichkeit und Zeitlichkeit sprachlichen Sinns nicht eigentlich zur Kenntnis ge-
nommen worden ist. Daß sprachlicher Bedeutung oder dem Sinn sprachlicher Äuße-
rungen stets das Moment des Geschichtlichen anhaftet, sich in der Sprache Schichten
des Vergangenen abgelagert haben und sie ein »repository of tradition«17 darstellt, ist
selbst dort kaum je Gegenstand der Diskussion gewesen, wo Gebrauch und Verstehen
der Sprache im Rahmen pragmatischer Analysen in einen engen Zusammenhang mit
der Praxis und den Lebensformen der Menschen gerückt worden sind, wie beispiels-
weise in der Sprechakttheorie.
Was aber der Einsicht in die Unabgeschlossenheit, Geschichtlichkeit und Zeitlich-
keit des Sinns insbesondere entgegensteht, ist das Baukastenbild der Sprache, von dem
alle Varianten der Wahrheitssemantik Gebrauch machen. Das Baukastenbild ist ver-
bunden mit der Vorstellung, die Sprache sei ein Kalkül und die natürliche Sprache
funktioniere prinzipiell in der gleichen Weise wie die formale Sprache eines Logikkal-
küls. In den Kalkülsprachen lassen sich alle komplexeren Ausdrücke mit Hilfe von
syntaktischen Regeln aus den einfachen Ausdrücken erzeugen. Da es sich hier um for-
male Sprachen handelt, legen die entsprechenden Regeln auch bereits die >Bedeutung<
der betreffenden Ausdrücke fest.

16 Zu diesem Begriff vgl. auch Wellmer (Anm. 1), v.a. S. 123-126; Wellmer allerdings hält einige Arbei-
ten Davidsons für Schritte zu einer Überwindung des Objektivismus und interpretiert dessen Über-
legungen in der Tradition der Hermeneutik. Hier bin ich entschieden anderer Meinung, da Davidson
über weite Strecken an der Überzeugung festhält, »Grammatik und Logik müßten H a n d in Hand ge-
hen«. Eine ausführliche Diskussion dieser Thematik findet sich in meiner Habilitationsschrift:
che, Verstehen und Lebenspraxis. Kritische Analysen und systematische Perspektiven, Technische
Universität Dresden 1998 (zur Veröffentlichung in Vorbereitung).
17 So neuerlich auf dem Hintergrund der analytischen Tradition John McDowell, Mind and World,
Cambridge 1994, S. 126.
VOM SEIN DES SINNS 203

Als die zentralen Grundsätze des Baukastenbildes fungieren das Kontext-


und Kompositionalitätsprinzip. Das Kontextprinzip behauptet, daß einzelne Wörter
oder einfache Bestandteile komplexerer Ausdrücke gar keine eigenständige Bedeutung
besitzen, sondern deren Bedeutung in nichts anderem besteht, als in dem Beitrag,
den die betreffenden Wörter oder einfachen Ausdrücke zum Satz- oder Ausdrucks-
ganzen leisten. Das Prinzip der Kompositionalität sagt, daß sich die Bedeutung
von komplexeren Ausdrücken aus der Bedeutung der in diesen Ausdrücken enthalte-
nen Ausdrücke sowie der Struktur ihrer Zusammensetzung ergibt. Abgesehen davon,
daß die beiden angeführten Prinzipien in einer gewissen Spannung zueinander stehen,
da sich die Bedeutung komplexer Ausdrücke aus der Bedeutung einfacher Ausdrücke,
die hinwiederum gar keine eigenständige Bedeutung besitzen sollen, ergeben soll,
muß im Rahmen einer solchen Bausteinkastenvorstellung davon ausgegangen werden,
daß die betreffenden Ausdrücke, seien sie einfach oder zusammengesetzt, »irgendwie«
bereits mit Sinn oder Bedeutung behaftet sind. Sie bilden einen Fundus, ein Bedeu-
tungsrepertoire, welcher bzw. welches den Sprechern einer Sprache zur Verfügung
steht und aus dem sie schöpfen können. Was auf der Ebene einer syntaktischen Be-
trachtung durchaus plausibel sein mag, muß dies bei dem Schritt in die Semantik nicht
bleiben.
In Verbindung mit der Wahrheitssemantik, aber auch unabhängig davon, hat das
Vorhandenheitsmodell des Sinns viele Debatten über die Frage nach sich gezogen, wel-
che Art von »Existenz« dem Sinn nun eigentlich zuzubilligen ist. Ein oft beschrittener
Weg besteht darin, sich die Seinsart des sprachlichen Sinns so vorzustellen, wie Piaton
sich das Sein seiner Ideen dachte. Diese existieren weder in der Welt nach Art der kon-
kreten, sieht- und fühlbaren Gegenstände, noch auch handelt es sich um subjektive
Vorstellungsbilder. Die platonistische Konzeption sprachlichen Sinns, welche Bedeutun-
gen in einem »dritten Reich« oder einer »dritten Welt« existieren läßt, kann als Versuch
gelten, dem bedeutungstheoretischen Objektivismus ein sicheres Fundament zu verlei-
hen. Die Verbreitung des Vorhandenheitsmodells innerhalb der analytischen Philoso-
phie mag man in dieser Hinsicht als ein spätes Erbe der Psychologismuskritik Freges
und deren platonistischer Tendenz ansehen.
Eine weitere Möglichkeit, der Vorstellung von der Gegenständlichkeit des Sinns ein
Fundament zu verleihen, stellt der Mentalismus dar. Der Mentalismus ist eine inner-
weltliche Variante des Piatonismus, auch wenn er sich gelegentlich als dessen Alternati-
ve versteht. Bedeutungen sind nicht in einem »dritten Reich«, Bedeutungen sind »im
Kopf«, d.h. im Geist von Sprechern, so lautet die Kernthese der Mentalisten. Gegen-
ständlich ist die Vorstellung vom sprachlichen Sinn, da dem Sinn eine Existenz in Form
eines psychischen Gebildes eingeräumt wird. Die Idee von der Gegenständlichkeit des
Sinns findet ihren Ausdruck in der Vorstellung von einem mentalen Bild, in welchem
der Sinn verankert sein soll.
Piatonismus und Mentalismus sind der Einsicht in die Offenheit und Unabgeschlos-
senheit sprachlichen Sinns geradewegs entgegengesetzt, insofern als daß sie darauf zie-
len, ein gegenständliches Korrelat des Sinns auszumachen. Einmal wird das Sein des
Sinns in eine »Hinterwelt« oder »Überwelt« verlagert, ein anderes Mal in die »Innenwelt«.
Der in der »Hinter-« oder »Innenwelt« angesiedelte Sinn muß dann nur noch mit Hilfe
von Laut- oder Schriftzeichen in unsere Welt »übersetzt« werden. Derartige Manöver
204 CHRISTOPH DEMMERLING

versuchen, der Flüchtigkeit sprachlichen Sinns dadurch Herr zu werden, daß sie ihm in
der einen oder anderen Form eine gegenständliche Grundlage verschaffen wollen.

V.

Erinnern wir uns an die einleitenden Bemerkungen: Überlegungen zur Offenheit,


zur Unabgeschlossenheit und Geschichtlichkeit von Sinnphänomenen sind vor allem
innerhalb der hermeneutischen Tradition formuliert worden. Obgleich Untersuchun-
gen zur Sprache und zum Sprachverstehen einen ganz zentralen Stellenwert innerhalb
der Hermeneutik einnehmen, spielen Probleme des Sprachaufbaus und der Sprach-
struktur lediglich eine untergeordnete Rolle. Der Akzent liegt von vornherein mehr
auf einer Analyse der Verbindungen zwischen der Sprache, dem Verstehen der Sprache
und dem menschlichen Leben oder der Geschichte des Menschen. Die meisten Auto-
ren aus der hermeneutischen Tradition kommen darin überein, die Sprache als ge-
schichtliches und fest mit den Lebenformen und Existenzvollzügen der Menschen
verwobenes Phänomen zu betrachten. Dementsprechend werden Fragen des Sprach-
verstehens von vornherein auf dem Hintergrund praktischer Belange, Bedürfnisse und
Erfordernisse thematisiert. Ein grundlegender Unterschied zur analytischen Tradition
besteht darin, daß die Orientierung an den Sprachen der Logik vollständig fehlt,
und auch die Aussage als Sprachmodus keinen besonderen Stellenwert erhält. Das in
diesem theoretischen Kontext favorisierte Modell des Sinns möchte ich als
heitsmodell des Sinns bezeichnen. Dieses Bewegtheitsmodell läßt sich weitgehend nega-
tiv durch die Abwesenheit der Vorhandenheitsvorstellung und ihrer Implikationen
kennzeichnen.
Sprachlicher Sinn wird - und so lautet eine der wesentlichen Annahmen - in gemein-
samen Gesprächen und Dialogen gewonnen. Er steht nicht vorderhand zur Verfügung.
Die Betonung der Offenheit und Unabgeschlossenheit jeglichen Sinngeschehens, sei es
des Verständnisses von literarischen oder philosophischen Texten, der Kunst, sei es der
Sprache im allgemeinen, oder sei es der Erfahrung überhaupt, stellt einen Grundzug
der philosophischen Hermeneutik dar, zumal in der Gestalt, die diese durch das Werk
Gadamers erhalten hat. Ich erinnere an Begriffe wie Wirkungsgeschichte und
stand, die darauf hinweisen, daß der Sinn beispielsweise literarischer Texte ständigen
Wandlungen unterworfen ist und die Texte stets in einem (etwas) anderen Licht er-
scheinen.18 Der Sinn eines Textes erschöpft sich nicht in dem, was in ihm zu stehen ge-
kommen ist. In jeweils anderen Zeiten eröffnen sich immer wieder neue Möglichkeiten
der Deutung. Deshalb spricht Gadamer von der »unabschließbaren Offenheit des Sinn-
geschehens«.19 Diese Offenheit erstreckt sich nicht allein auf (literarische) Texte und
das Textverstehen, sondern sie kann - zugegebenermaßen gilt dies für verschiedene Sinn-
objekte in unterschiedlichem Ausmaß - auf den Sinn und das Verstehen sprachlicher
Äußerungen insgesamt ausgedehnt werden. Gadamer benutzt in diesem Zusammen-
hang den Begriff der Okkasionalität des Redens:

18 Vgl. Gadamer (Anm. 13), S. 104 f.; S. 273; S. 304; S. 346; S. 361; S. 367 ff; S. 450 f.
19 Ebd., S. 476.
VOM SEIN DES SINNS 205

»Okkasionalität, das heißt Abhängigkeit von der Gelegenheit, in der ein Ausdruck
gebraucht wird. [...] Die hermeneutische Analyse vermag zu zeigen, daß solche Gele-
gentlichkeit das Wesen des Sprechens selbst ausmacht. Denn jede Aussage hat nicht
einfach einen eindeutigen Sinn in ihrem sprachlichen und logischen Aufbau als sol-
chem, sondern jede Aussage ist motiviert.«20
Nicht der sprachliche und logische Aufbau einer Aussage garantiert oder bestimmt
deren Sinn; selbst Aussagen entspringen einer Gelegenheit und gehören in eine Situa-
tion, deren Kenntnis für das Verstehen und Interpretieren derartiger Äußerungen
wichtig ist. Generell gilt, daß unsere sprachlichen Ausdrücke und Äußerungen im Dia-
log und situationsabhängigen Gebrauch eine Entwicklung durchmachen. Ihr Sinn
bleibt in Bewegung und wird im Gebrauch fortwährend neu gestaltet. In einer dem
Baukastenbild von der Sprache verpflichteten Vorstellung wird hingegen ein Gleich-
bleiben der Bedeutung vorausgesetzt. Freilich wäre es verfehlt, die Sprache fortan ins-
gesamt und ausschließlich unter den von mir skizzierten Voraussetzungen zu betrach-
ten. Vorstellungen von der Sprache als einem Kalkül haben innerhalb gewisser Grenzen
ihre Berechtigung. Die Überlegungen zur Offenheit und Unabgeschlossenheit des
Sinns könnten aber einem umfassenderen Bild von der Sprache zuarbeiten und mit ei-
ner Forderung ernst machen, die Heidegger bereits 1927 als eine »Befreiung der Gram-
matik von der Logik« in Aussicht gestellt hat.21

20 Hans-Georg Gadamer, Semantik und Hermeneutik. In: ders., Wahrheit und Methode, Ergänzungen,
Register. Ges. Werke 2, Tübingen '1993, S. 178 f.; zu diesem Komplex vgl. auch Lipps (Anm. 2), S. 20
ff.
21 Heidegger (Anm. 13), S. 165.
ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT (Hagen)

Hegel, Heidegger und die Griechen

Überlegungen zu Heideggers Aufsatz »Der Ursprung des Kunstwerkes«

Über die Bedeutung der philosophischen Bestimmung der Kunst, die Heidegger in sei-
nem in den Jahren 1935 und 1936 gehaltenen Vortrag Der Ursprung des Kunstwerkes
entwickelt hat, ist häufig und kontrovers diskutiert worden. Besonders Heideggers Be-
tonung, daß es nicht mehr darum gehen könne, Ästhetik im traditionellen Sinn zu be-
treiben, will man die Kunst philosophisch bestimmen, hat dazu verleitet, die philoso-
phische Arbeit des Begriffs vom Phänomen Kunst möglichst weit wegzurücken. Das
hat Weiterungen nicht nur für ästhetische Fragen, sondern für die philosophische Um-
gangsweise mit geschichtlichen Phänomenen (exemplarisch der Kunst) und Geschicht-
lichkeit bzw. Geschichte überhaupt. Aus der Reflexion dieser Phänomene, so wird im
Anschluß und - wie ich meine zeigen zu können - über Heidegger hinausgehend ge-
fordert, muß die »metaphysische« Verstellung ferngehalten werden. Dies läßt sich
einerseits so verstehen, daß anstelle der metaphysischen Philosophie eine andere, aber
ebenfalls methodisch zugängliche Art des Philosophierens tritt - diese Deutung liegt
nahe, wenn man in Heideggers Denken eine Kontinuität zwischen der anfänglichen
Fundamentalanthropologie und dem späten »wesentlichen Denken« unterstellt. Es
kann aber auch bedeuten, daß jede Form von reflexiver Ausweisbarkeit als verderblich
und am Wesen der Sache vorbeigehend abgelehnt wird. Die genannte Verknüpfung der
Analyse des Kunstwerks mit einer Bestimmung der Geschichtlichkeit überhaupt findet
sich besonders in H.-G. Gadamers Hermeneutik, die das Kunstwerk als das im exem-
plarischen Sinn geschichtliche Faktum herausstellt, seine Analyse (die Hermeneutik)
damit zur philosophischen Zugangsweise zu geschichtlichen Phänomenen überhaupt
erhebt. Nicht ohne Grund hat sich daher sowohl die Position einer noch methodischen
Philosophie als auch der im Sinne des wesentlichen Denkens erforderliche Verzicht auf
begrifflich-zugreifende Erklärung auf Gadamer berufen.
Da der Kunstwerk-huisatz* in der Regel als der entscheidende Schritt Heideggers
von seinem noch metaphysischen Ansatz in Sein und Zeit zum »wesentlichen Denken«
angesehen wird, dieses wiederum zu einem Verzicht auf die phänomenologisch-herme-
neutischen Begründungsstrategien stilisiert wird, sieht man sich motiviert, mit der
Kunst zusammen alle geschichtlichen Phänomene von ihrer metaphysischen Verstel-
lung zu befreien. Für die Kunst wie für geschichtliche Phänomene überhaupt bedeutet
dies aber das Einrücken ihrer Deutung in einen nur mehr poetischen Horizont, letzt-
lich also den Verzicht auf die Begründung individuell (möglicherweise) plausibler Er-
fahrungen anläßlich der Kunstwerke. O. Pöggeler hat in seinen Interpretationen der
Heideggerschen wie generell der philosophischen Gewichtung der Kunst einen zwar
durch die Hermeneutik bestimmten, ihr aber zumindest im Begründungsverzicht nicht

1 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks. In: Martin Heidegger, Gesamtausgabe. Bd. 5. I
Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970, S. 1-74.
208 ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT

folgenden Weg der Deutung der späten Schriften und Entwürfe Heideggers, seines
Denkens aus dem »Ereignis« des Seins, zu weisen versucht.2 Er wendet sich hier teil-
weise von der für die Gadamersche Hermeneutik und den für diesen Ansatz typischen
Verzicht auf das transzendental-phänomenologische Element zumindest der frühen
Heideggerschen Philosophie ab und ergänzt die Exemplarisierung des Kunstverstehens
für alles geschichtliche Verstehen durch den Einsatz historisch-kritischer Elemente der
(Wieder-)Erschließung der Tradition. Interessanterweise gibt aber auch Gadamer selbst
zumindest einen Hinweis auf eine solche verstehend-erschließende Umgangsweise mit
Heideggers Denken, die die Möglichkeit einer kritischen Konfrontation unterschiedli-
cher, aber gleichwohl ähnlicher Ansätze der Bestimmung der Kunst eröffnet.
Gadamer selbst hat nämlich in einer Interpretation des Kunstwerk-Aufsatzes die
Nähe dieser kleinen Abhandlung zur Konzeption von Sem und Zeit herauszustellen
versucht und verstößt damit (produktiverweise) gegen seine eigene für viele maßgeb-
lich gewordene Interpretation Heideggers, die gerade die transzendental-phänomeno-
logischen Momente der Hermeneutik als (von Heidegger selbst - wie gegen dessen ex-
plizite Selbstinterpretation betont wird - ) überwundene und aufgegebene Relikte einer
überholten Tradition kennzeichnet. Im Sinne Heideggers, der in zahlreichen Hinwei-
sen sein Denken als eine organisch an der Frage nach dem Sinn von Sein weiterent-
wickelte Einheit des philosophischen Reflektierens darstellt, bringt Gadamer in seiner
kleinen Einführung zu Heideggers Kunstwerk-Aufsatz1 die Grundbegriffe des frühen
Ansatzes und des Übergangs zum »wesentlichen Denken« durch den Rückgriff auf die
Tradition, an der Heidegger sich selbst orientiert, in eine gegenseitig-erheilende Ver-
knüpfung. Im Versuch der Präzisierung des zunächst (aus dem politischen Zeitkontext)
befremdlich anmutenden Begriffs der »Erde« stellt Gadamer den in Sein und Zeit wei-
terentwickelten Weltbegriff als das »Bezugsganze des Daseinsentwurfes« seinem »Ge-
genbegriff« »Erde« gegenüber. Zunächst hat, so scheint es wenigstens, der »mythisch«
anmutende Begriff »Erde« keine ersichtliche Beziehung zum Weltbegriff, einem der
»hermeneutischen Leitbegriffe« der Heideggerschen Fundamentalontologie. Gadamer
verweist allerdings auf zwei Ansatzpunkte, die es erlauben, diese beiden leitenden Be-
griffe des frühen wie des späten Heideggerschen Philosophierens miteinander in
Beziehung zu setzen, obwohl er selbst diese Ansatzpunkte im folgenden nicht weiter
entfaltet.
Verfolgt man die Hinweise, so stellt sich der Kunstwerk-Aufsatz als Bindeglied zwi-
schen Heideggers methodischer Daseinsanalyse und den späteren Überlegungen zur
Geschichtlichkeit des Daseins dar, wobei sich als Nebeneffekt die Möglichkeit ergibt,
auch die späten Überlegungen als methodisch gezielt konstruierte Weiterführungen des
fundamentalontologischen Ansatzes zu lesen. Das Bindeglied, auf das Gadamer ver-
weist, nämlich die Poesie Hölderlins, erlaubt es, wenn man über seine eigene Analyse
im Sinn des von O. Pöggeler unternommenen Versuchs einer historisch-kritischen Re-
konstruktion philosophischer Begrifflichkeit hinausgeht, durch eine weitere histori-
sche Brücke einen Ansatz der philosophischen Bestimmung der Kunst zu finden. Die-

2 Otto Pöggeler, Die Frage nach der Kunst. Von Hegel zu Heidegger. Freiburg/München 1984.
3 Hans-Georg Gadamer, Einführung. In: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks. Stuttgart
1960, S. 93-114.
HEGEL, HEIDEGGER UND DIE GRIECHEN 209

ser Ansatz muß einerseits nicht der Kritik des metaphysischen Denkens verfallen,
konnte andererseits aber ebenso die systematische Unstimmigkeit des nicht mehr me-
thodisch erschließenden und erschließbaren Denkens vermeiden. Im folgenden wird
als Beispiel für einen solchen philosophischen Ansatz Hegels Auseinandersetzung mit
der geschichtlichen Bedeutung der Kunst gewählt, die er in seinen philosophischen Re-
flexionen der Auseinandersetzung mit Hölderlin entwickelt hat, bevor er 1801 Schel-
ling gegenüber den Übergang zu einem systematisierenden Philosophieren deklarierte.
Diese Überlegungen erlauben es, den zentralen Begriff des Kunst- Werkes im Licht ei-
ner noch nicht metaphysischen Beschäftigung mit der Kunst als Möglichkeit eines
gleichwohl reflexiven Zugangs darzustellen und zu prüfen. Im Licht der philosophi-
schen Tradition, der sich Hölderlin wie Hegel verpflichtet wissen, gewinnt der Begriff
des Kunstwerks jene exemplarische Bedeutung, auf die auch Heidegger rekurriert. Ein
solcher Versuch des historisch-kritischen Vergleichs verwandter Positionen möchte da-
zu angetan sein, es zumindest nicht von vornherein als ausweglos abzutun, auch Hei-
deggers im weiteren folgende Modifikationen der Bestimmung der Zeitlichkeit als Ge-
schichtlichkeit im Sinne einer philosophischen explizierbaren und verstehbaren, damit
einer kritisierbaren Analyse der Kunst wie generell der Geschichtlichkeit aufzufassen.
In seiner Einführung zum Kunstwerk -Aufsatz weist auch Gadamer auf die Tradition
hin, die im folgenden als Exempel für die nähere Erklärung der Heideggerschen Kon-
zeption herangezogen wird. Heidegger muß den Begriff der >Erde< in der Auseinander-
setzung mit Hölderlins Dichtung gewonnen haben. Zum anderen setzt er sich im
Kunstwerk-Aufsatz - also gerade dort, wo der Begriff »Erde« in einer für Heideggers
spätere Überlegungen signifikanten Weise eingeführt wird - in Überschreitung der sy-
stematischen Ästhetik der Neukantianer und ihrer restringierten Problematisierung des
Kunstwerks mit Hegel auseinander. Freilich bleibt Heideggers Anknüpfung an Hegel
in der Bestimmung der Wahrheit der Kunst, in der Bestimmung des Kunst-Werks nur
unter einem Vorbehalt sinnvoll. Hegels »metaphysische« Bestimmung der Kunst als
»Ideal«, als die unmittelbare Gegebenheitsweise (mit Hegel: »Dasein«, »Existenz« oder
sogar »Lebendigkeit«) der Idee kann nicht einfach in die von Heidegger intendierte Be-
stimmung desselben, nämlich der Wahrheit des Kunst-Werks, übertragen werden. He-
gels Bestimmung des Ideals setzt das Kunstwerk in Wahrheit wie Werk-haftigkeit unter
die begriffliche Herrschaft seiner systematischen Philosophie, einer »wissenschaftli-
chen« Erhellung des absoluten Wissens. Die Kunst als Weltanschauung bleibt in diesem
System alles Wißbaren, der begrifflich gegründeten Wahrheit unterlegen. Sie erscheint
aus dieser Perspektive als »ihrer höchsten Vollendung nach« vergangen bzw. sie findet
in der Philosophie ihre Vollendung.
Allerdings wird Hegels sog. »These vom Ende der Kunst« häufig unvollständig und
damit in einer Weise zitiert, die sie für den produktiven Vergleich mit Heideggers Kon-
zeption untauglich macht. Hegel spricht nicht vom »Ende der Kunst«, sondern vom
Ende ihrer höchsten Möglichkeit, d.h. Verlust des ihr - zunächst bei Hegel wie Hölder-
lin - zugemuteten Leistungssinnes. Dieser wird definiert als Ermöglichung eines ge-
schichtlichen Bewußtseins überhaupt und damit einer zureichenden Orientierung des
geschichtlichen Handelns. Hegel hatte diesen nach wie vor als Maßstab für die kultu-
relle Bedeutung der Kunst herangezogenen Leistungssinn im Anschluß an seine Aus-
einandersetzung mit Hölderlin auf eine vergangene, voraufklärerische Epoche (die
210 ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT

griechische Antike) beschränkt, Hölderlin sie in immer neuen Differenzierungen


zunächst im Hyperion, dann kritischer im Empedokles auf die aufgeklärte Moderne zu
übertragen versucht. Heidegger greift die Bestimmung der Kunst durch den Rückgriff
auf Hölderlin in dieser Situation der Krise eines ursprünglichen Ansatzes auf. Wie weit
kann in der modernen aufgeklärten Welt die Kunst für die - wie Hegel mit Leibniz for-
muliert und wie es Heidegger in eigenen Reflexionen zur Bedeutung des Gründe-ge-
benden Denkens aufgreift - »vernunftfordernde Vernunft« zureichende geschichtliche
Orientierungen vermitteln? Hier können einige Hinweise, die aus einer entwicklungs-
geschichtlichen Analyse der Hegeischen Ästhetik gewonnen sind, weiteren Aufschluß
bringen:

Griechenverweis und Neuanfang des Denkens

Zur Zeit seiner eigenen Diskussionen mit Hölderlin hat Hegel bereits die Grundthesen
seiner Philosophie der Kunst entwickelt, vor allem jene, die er auch noch in seinen spä-
ten Berliner Vorlesungen zur Ästhetik für die Wahrheit der Kunst bzw. Bestimmung
ihrer Werk-Haftigkeit heranzieht. Schon in seinen frühen, noch anscheinend nur theo-
logiekritischen Schriften bestimmt Hegel die Kunst als eine Weise geschichtlich-leben-
diger Wahrheitserfahrung, d.h. als Ideal. Der gemeinsame Bezugspunkt, der Hegel mit
Hölderlin eint, und der Heideggers Überlegungen zum Ursprung des Kunstwerkes so-
zusagen vermittelt über den Kontakt mit Hölderlin in die Nähe einer noch nicht meta-
physischen Deutung der Kunst rücken könnte, liegt im Verweis auf das Griechentum.
In der griechischen Polis, der durch Kunst geprägten Kultur der Antike, stiften nach
Ansicht der Denker des frühen Idealismus Kunst wie Mythologie eine geschichtliche
Weltanschauung und zugleich eine politische Organisation (die griechische Polis).
Hegel nimmt - das kann hier nur thesenhaft kurz dargestellt werden - diese Überle-
gungen, an denen er gemeinsam mit den Freunden Hölderlin und Schelling einige Zeit
arbeitete, in folgender Weise in eine Bestimmung des Kunstwerks auf:
Er bestimmt die konkrete geschichtliche Funktion des Ideals als Stiften einer Welt-
anschauung, die zugleich auf Handlungsorientierung abzweckt und institutionelle Fol-
gen zeitigt: als schöne Politie.
Zugleich wählt er zur exemplarischen Erörterung der geschichtlich-gesellschaftli-
chen Einbettung des Ideals - nun näher zu bestimmen als Weltanschauung in und aus
praktischer Konsequenz - und seiner simultanen Präsenz wie Wirkung denselben Be-
zugspunkt wie Hölderlin. Die Griechen, die griechische Polis, die durch Kunst konsti-
tuiert wird, bietet dieser Kunst nicht nur eine Heimat, sondern ist durch Kunst zu-
gleich erwirkt. Noch in den späten Ästhetikvorlesungen der Berliner Zeit betont He-
gel, in der griechischen Polis hätten die Dichter dem Volk seine Götter gegeben. In der
Bestimmung des Epos folgt dann die Überlegung, daß zugleich mit den Göttern und
Heroen jene Orientierungen gesellschaftlichen Handelns lebendig tradiert (d.h. im
Kunstvollzug präsent) bleiben, die zur schönen Politie, zur Ausbildung des politischen
Gemeinwesens der Griechen geführt haben. Hegel definiert später während seiner Ge-
spräche mit Schelling in Jena die schöne Polis selbst als Kunst-Werk und meint diese
Definition so, daß hier in einer geschichtlichen Konstellation alle Wahrheit vermittels
HEGEL, HEIDEGGER UND DIE GRIECHEN 211

der Kunst zum Weltverständnis und zur Handlungsorientierung aller geworden ist.
Die Allgemeinheit dieser durch Kunst vermittelten »Welt-Anschauung« liegt im Inhalt,
in der Tatsache, daß die Kunst die Geschichte des göttlichen Handelns in der Weise re-
präsentiert, daß sie dem Menschen Götter und Heroen als Vorbilder des Handelns, als
Ideal, dem man im eigenen Handeln nachfolgt (nicht: das man abbildgetreu nachahmt),
zugesellt. Die in der Kunst als »schöne Gestalt« dargestellten Ideale haben nach Hegel
die Funktion, die Sittlichkeit eines Volkes zu stiften. Die Religion, die durch die Kunst
geschichtlich wirksam wird (die »schöne Religion«), bildet ein Ethos aus, aus dem der
Einzelne sich die eigene geschichtliche Situation, die Gründe seines Handelns wie die
Zukunft, auf die das Handeln gerichtet ist, (arche und telos) zueignen kann.
Hegel faßt diese Überlegungen bündig in die Einsicht zusammen, die griechische
Polis als ganze sei Kunst-Werk, als institutionelle Form der Sittlichkeit einer Gemein-
schaft durch die Kunst und die von den Künstlern bildlich dargestellten und geschrie-
benen - »erfundenen« - Götter erwirkt. Zu der Zeit, als Hegel diese Definition der
griechischen Polis als Kunst-Werk gibt, ist er allerdings in seinem eigenen Denken über
die anfängliche Konzeption geschichtlicher Wahrheitserfahrung und Orientierung im
Handeln durch die Kunst und vermittels der Mythologie hinausgegangen. Dennoch
behält er die wichtigsten inhaltlichen Gesichtpunkte dieser früh entwickelten Konzep-
tion im Werkbegriff der Ästhetik bei. Das zeigt sich vor allem in seiner Bestimmung
des Ideals und der aus dieser abgeleiteten These, daß die Kunst dem Menschen (in sei-
ner Gemeinschaft) ein geschichtliches Bewußtsein, geschichtliche Wahrheit zu vermit-
teln habe. Der Rückgang zu den Griechen, den Heidegger in analoger Weise als einen
Rückgang zu den vormetaphysischen griechischen Denkern auch vollzogen hat, steht
in der frühesten Kunstwerkkonzeption Hegels für die Möglichkeit, philosophisch-sy-
stematische Verortung der Kunst und ihre Differenzierung aus geschichtlicher Situiert-
heit zugleich zu entwickeln. Aus dieser Art des Griechenverweises erwächst eine ande-
re Verknüpfungsmöglichkeit von »metaphysischem« (d.h. nun: nur scheinbar meta-
physischem) und »dichterischem« Anfang, die auch für Heideggers Verknüpfung der
Bedeutung der komplementären Grundbegriffe »Welt« und »Erde« kennzeichnend ist.
Formuliert man es von Heidegger her, so heißt dies: die Wahrheit ereignet sich im
Werk so, daß sie jeweils epochal, d.i. zeit- und kulturraumspezifisch, gegeben ist. Das
bedeutet wiederum, Wahrheit wird ausschließlich dadurch intersubjektiv vollziehbar
und vollzogen, daß sie den Individuen einer geschichtlichen Konstellation (mit Herder:
eines geistigen Klimas) als ihre Orientierung verfügbar ist. Dieses Verfügbarsein selbst
beinhaltet dann die beiden Momente, die bei Heidegger in der Spannung von Entwurf
und Geworfenseins im Begriff »Erde« gipfeln. Wahrheit ist jeweils nur in einer solchen
geschichtlichen Konstellation zugänglich. Das Kunstwerk als Stiften solcher Wahrheit
indiziert den Zusammenhalt von Übernahme des Gegebenen und Verfügbarmachen im
Sinne des sich Verständigens, des Deutens seiner eigenen und der Gegebenheitsweise
der Welt, in der man unmittelbar lebt. Hegel legt eben diesen Zusammenhang in der
Bestimmung des Kunstwerks im Kontext seiner religionskritischen Jugendschriften
dar, programmatisch zusammengefaßt im sogenannten »Ältesten Systemprogramm des
deutschen Idealismus« aus der Zeit des Neubeginns seiner Diskussion mit Hölderlin
und deren kritischer Vollendung in Frankfurt (1797/98).
212 ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT

Hegels Bestimmung des Kunstwerks

In seinen ersten philosophischen Abhandlungen entfaltet Hegel eine Religionskritik in


der Absicht, eine für die eigene, durch die Aufklärung geprägte Zeit gereinigte, ver-
nünftige und gleichwohl geschichtliche Religion zu stiften. Bekanntlich sah er sich wie
seine damaligen Gesprächspartner Hölderlin und Schelling zum Beweis der geschicht-
lichen Wirksamkeit der philosophischen Reflexionen genötigt, weil die französische
Revolution gleichsam als die Verkehrung der Aufklärung in ihr Gegenteil gezeigt hatte,
daß ein reibungsloser Übergang der vernünftigen Einsicht in geschichtliche Wirklich-
keit und reale Veränderung nicht vorausgesetzt werden darf. In Hegels religionskriti-
schen Entwürfen finden sich verstreut immer wieder Hinweise auf eine historische Al-
ternative zur systemkonformen und herrschaftsstützenden christlichen Religion. Diese
Alternative sieht Hegel in der »schönen Religion« der Griechen. Die »schöne Religion«
erscheint im Zusammenhang der Theologischen Jugendschriften4 allerdings nicht allein
als historische Alternative, sondern zugleich als das positive Komplement der (nach
Kant nur negativ möglichen) Kritik der Aufklärung. Positiv ist dieser Entwurf darum,
weil er nicht bloß ein Vernunftkonzept, sondern mit der durch die schöne Kunst ge-
prägten Kultur der griechischen Polis eine selbst geschichtliche Konstellation zu be-
nennen weiß.
Bezeichnend ist, daß im Kontext der »schönen Religion« der Kunst eine konstitutive
Rolle für die geschichtliche Wahrheitserfahrung zugemutet wird. Die Künstler bzw. die
Kunstwerke stiften den Griechen ihre Götter. Kunst läßt die Inhalte, die als Orientie-
rung geschichtlichen Handelns gelten, in Geltung gesetzt werden, in der »schönen Ge-
stalt« aufscheinen.
Hegel formuliert diesen Zusammenhang aus philosophischer Perspektive generell
im sog. »Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus« (1797/98): »Ehe wir die
Ideen ästhetisch, d.h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse u(nd)
umgek(ehrt) ehe d(ie) Mythol(ogie) vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schä-
men. So müssen endlich aufgeklärte u(nd) Unaufgeklärte sich d(ie) Hand reichen, die
Myth(ologie) muß philosophisch werden, und das Volk vernünftig, u(nd) d(ie)
Phil(osophie) muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen«5.

Die Kunst ist also (1.) in der Weise konstitutiv für die geschichtliche
rung, daß sie die Vernunftidee im Sinne Kants zuallererst zum Gut und Vermögen aller
werden läßt.

Wahrheit ist nur im lebendigen geschichtlichen Vollzug, nur ästhetisch und mytholo-
gisch, d.h. nur in und als geschichtliche Weltdeutung wirksam. Der fragmentarische
Text, das Systemprogramm, enthält unter diesem Aspekt der Bestimmung der Kunst
nur die straffere und aus der Perspektive der Philosophie formulierte Fassung der son-

4 Hegels theologische Jugendschriften. Nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek Berlin herausgege-
ben von Dr. Herman Nohl. Tübingen 1907 (Nachdruck 1966 u.ö.).
5 »Das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«. In: Das Älteste Systemprogramm. Studien
zur Geschichte des deutschen Idealismus. Hrsg. von R. Bubner. Bonn 1973, S. 261-262 (Hegel-Studi-
en. Beiheft 9), hier S. 265.
HEGEL, HEIDEGGER UND DIE GRIECHEN 213

stigen verstreuten Bemerkungen zur Kunst (im Kontext der »schönen Religion« in He-
gels früherer Religionskritik). Hegel verweist hier auf eine historische Epoche und
Kultur (das Griechentum) unter gleichzeitiger Formulierung der Gegenwartsdesiderate
für eine bessere geschichtliche Zukunft. Auch in dieser philosophischen Thematisie-
rung der geschichtlichen Wirksamkeit der Kunst bleibt die unlösbare Verknüpfung von
geschichtlicher Situation und Wahrheit erhalten. Denn nur wenn die Kunst (die ästheti-
sche Konkretion der Idee) zugleich eine Deutung der Welt im ganzen aus ihrem Grund
(die je auch mythologische Konkretion der Idee) gibt, wird sie geschichtlich wirksam.
Kunst vermittelt nicht, wie die Idee, Wahrheit schlechthin, sondern stets geschichtliche
Wahrheit. Die Kulturgebundenheit dieser Wahrheit erörterte Hegel am Beispiel der
»schönen Religion« der Griechen. Die strukturelle Gültigkeit dieser Verknüpfung von
Wahrheit und Geschichtlichkeit für alle menschliche Wahrheit (also die philosophische
Explikation der Kulturgebundenheit von Wahrheit) behauptet er zugleich durch die
Exemplarizität dieses Hinweises. Für die eigene Zeit, die Moderne, muß eine analoge,
ins geschichtliche Leben eingebettete Wahrheit wiedergewonnen werden.

Die Kunst ist darüberhinaus (2.) nicht allem konstitutiv für geschichtliche
erfahrung; Kunst gestaltet Geschichte.

Hegel legt diesen Zusammenhang in einer Bestimmung des »Ideals« dar. Auch diese
findet sich in seinen späten Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst wieder.
Dort begründet Hegel den Zusammenhalt von Kunstwerk und geschichtlicher Wahr-
heit nämlich dadurch, daß er das Ideal als »Dasein«, »Existenz« oder auch »Lebendig-
keit« der Idee definiert. Nur in der geschichtlichen Erscheinungsweise, indem sie dem
Menschen gegeben (Dasein) oder von ihm vollzogen präsent ist (Existenz als die erste
Reflexion des Daseins), ist die Idee allen offenbar, weil anschaulich.6 In seinen religi-
onskritischen Schriften bestimmt Hegel das genannte »Ästhetisch-« und »Mytholo-
gisch«-Werden der Idee, das »Ideal« als schöne Gestalt, und zwar zunächst als lebendi-
ge schöne Gestalt. Im geschichtlichen Handeln der (großen bzw. weltgeschichtlichen)
Individuen (Hegel nennt Sokrates, Jesus, Maria Magdalena aber auch die griechischen
Götter und Heroen) erscheint das moralisch gute Handeln als schönes Handeln. Der
Nachvollzug solcher individueller Setzung führt zum Ethos, zur (schönen) Sittlichkeit
aller. Diese Sittlichkeit des Volkes findet ihre Gültigkeit/Geltung durch die mythologi-
sche Stützung des »Ideals«. Beides ist in der »Göttlichkeit« der lebendigen Gestalt zu-
gleich gegeben, und zwar vor-reflexiv anschaulich. Hegel überträgt in diesen früheren

6 Hier sei geschenkt, daß in den Ästhetikvorlesungen diese Weise des geschichtlichen Gegebenseins
von Wahrheit zugleich als durch die Philosophie überholt gelten muß. Hegel hat dies insbesondere in
dem systematischen Aufriß seiner Ästhetik in der Enzyklopädie deutlich dargestellt, denn die Über-
arbeitung der ersten Fassung der Enzyklopädie (1827) entwickelt parallel zur Ästhetikvorlesung von
1826 und 1828/29 eine schärfere Fassung der These vom Ende der Kunst. O . Pöggeler hat allerdings
bereits gegen die derzeit gängige Interpretation darauf hingewiesen, daß Hegel diese Konzeption be-
reits mit dem Abschluß der Phänomenologie so weit vorbereitet hatte, daß die Ästhetik prinzipiell
keine Neuerung darstellte. Vgl. O t t o Pöggeler, Die Entstehung von Hegels Ästhetik in Jena. In: H e -
gel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling. Hrsg. von D. Hen-
rich und K. Düsing. Bonn 1980, S. 249-270 (Hegel-Studien. Beiheft 20). Ebenso aber auch schon in:
ders., Hegel und Heidelberg. In: Hegel-Studien 6 (1971), S. 65 ff.
214 ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT

Überlegungen die Aristotelische Bestimmung des »schönen Handelns« in der Tragödie


(wie sie in der Poetik entwickelt wird) von der Individualgeschichte auf die Kultur-
geschichte.

Alles zusammen genommen bleibt aber nicht Stückwerk, sondern wächst (3.) zu
diger Tradition zusammen.

Die Poesie nämlich stiftet als »Lehrerin der Menschheit« (Hegel hatte zunächst sogar
geschrieben: »Lehrerin der Geschichte«) diesen Zusammenhalt von schöner Gestalt
und Inhalt, von ästhetischer und mythologischer Konkretion der Idee. Die Dichtung
tradiert die Weltanschauung eines geschichtlichen Volkes und hält zugleich diese Tradi-
tion im Nachvollzug als Handlungsorientierung lebendig. Das Genie und die Vielen
stimmen zusammen im Erzählen und Nacherzählen der Epen. Im Epos aber, so heißt
es in den späten Berliner Ästhetikvorlesungen, findet ein Volk sein Wesen. Denn es fin-
det im dichterischen Wort sowohl seine Götter als auch sein Ethos, seine Sittlichkeit,
durch den lebendigen (kultischen) Vollzug und Nachvollzug. Dichtung stiftet und be-
wahrt die Tradition, damit die Kultur einer geschichtlich gewachsenen Gemeinschaft;
denn sie gibt einem Volk seine Sprache. Die Kultur selbst - konkret: die griechische Po-
lis als Vorbild des gewachsenen Staates - ist Kunst-Werk.7 Die Kunst nämlich stiftet
den Zusammenhalt, der sich im Staat konkretisiert. Nur im Zusammenhalt einer ge-
schichtlichen Kulturgemeinschaft wird aber die Wahrheit (der Weltdeutung, die dem
Erkennen und Handeln den Grund gibt) erfahrbar. Hegels frühere Bestimmung des
Ideals als lebendige schöne Gestalt, als geschichtliches Handeln gewinnt auf diese Wei-
se die umfassende Bedeutung, geschichtliche Wahrheitserfahrung schlechthin zu the-
matisieren und zu vollziehen. In dieser weiten Bedeutung übernimmt Hegel die Be-
stimmung des Ideals in seine späten Berliner Ästhetikvorlesungen. Diese Grundlage
und Hegels Rückbezug auf die eigenen Anfänge läßt verstehen, warum Hegel das grie-
chische Götterbild als das treffendste und für alle voraufgehende wie nachfolgende
Kunst maßgebliche Beispiel des Ideals, der geschichtlichen Wahrheitserfahrung als und
durch die Kunst auszeichnet. Nicht weil die griechische Skulptur unnachahmlich schön
ist, wie Hegel in seinen Vorlesungen betont,8 ist sie ein Ur- und Vorbild für alle nach-
folgende Kunst, sondern weil ihre geschichtliche Funktion - die Stiftung der Sittlich-
keit einer Gemeinschaft - in der in sich harmonischen Gestalt ihren adäquaten Aus-

7 Hegel definiert in einer Überlegung aus seiner Jenaer Zeit die griechische Polis in diesem Sinn als
Kunst-Werk, denn: »In der alten Zeit war das Schöne öffentliche Leben die Sitte aller, »Schönheit un-
mittelbarer Einheit des Allgemeinen und einzelnen, ein Kunstwerk, worein kein Theil sich absondert
vom Ganzen sondern diese genialische Einheit des sich wissenden selbst und seiner Darstellung««
(G.W.F. Hegel, Naturphilosophie des Geistes. In: G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Unter
Mitabeit vonJ.H.Trede, hrsg. von R.-P. Horstmann. Hamburg 1976, S. 263; im folgenden zit. GW 8).
Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert, Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Bonn 1984 ( H e -
gel-Studien. Beiheft 25), S. 163 ff, bes. 179 ff.
8 Hier wiederholt Hegel stereotyp in allen vier Berliner Vorlesungen, »Schöneres als die griechische
Skulptur könne nicht »sein und werden««. Vgl. z.B. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen
über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav H o t h o . Hrsg.
von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998; vgl. z.B. S. 36, 119, w o die griechische Kunst als
die ideale schlechthin ausgezeichnet wird.
HEGEL, HEIDEGGER UND DIE GRIECHEN 215

druck findet. Diese Funktion der Kunst, ihr Werkcharakter, nicht die Schönheit ist das
Ausschlaggebende.9

Hegel selbst hat (4.) in einer (auf die religionskntischen Anfänge folgenden) Auseinan-
dersetzung mit der Kunst seiner eigenen Gegenwart und gewissermaßen schon im
Bannkreis seines späteren Systems der Philosophie diese Überlegungen relativiert.

Für eine »streng wissenschaftliche« Philosophie muß das konstitutive Element ge-
schichtlicher Konkretheit der Kunst zum Ärgernis werden. Die Kunst ist nämlich der
»Schleier« der Wahrheit, keine eineindeutige begriffliche Explikation und Absicherung.
Hegel zeigt deshalb in vielen konkreten Analysen diese epochal-kulturelle Verstelltheit
von Wahrheit im und als Kunstwerk zugleich mit ihrer Gegebenheit in der Intention
menschlichen geschichtlichen Lebens (im »Bedürfnis nach Vernunft«) auf. In der Zeit
bis zur Phänomenologie des Geistes enthält die Deutung der griechischen Tragödie10
die klarste Formulierung dieses Zusammenhangs. Die Tragödientheorie gipfelt nämlich
in der These (die Hegel auch in den Ästhetikvorlesungen wiederholt), Wahrheit sei in
und vermittels der Kunst nur als Versöhnungsverlangen bei gegebenem unauflösbaren
Deutungs- und Orientierungskonflikt präsent.
Allerdings hält Hegel trotz dieser Einschränkung der Wahrheitsfähigkeit des Kunst-
werks seine grundlegende Bestimmung bei, daß in der Kunst geschichtliche Wahrheit le-
bendig gegeben sei. Die frühere Bestimmung des Ideals und des Werk-Charakters der
Kunst werden bis in die späten Ästhetikvorlesungen wiederholt, allerdings mit der Ein-
schränkung, daß diese geschichtliche Wahrheit durch ihre Gegebenheitsweise (die An-
schauung) als unzureichend gesichert gelten muß. Kunst setzt Wahrheit für eine ge-
schichtliche Gemeinschaft ins Werk. An einem solchen Kunstwerk erfährt sich der
Mensch selbst in und aus seiner Geschichte. Solche Überlegungen entfaltet Hegel zu dif-
ferenzierten Bestimmungen der Werke der Architektur (des Tempel des Bei oder des Ba-
bylonischen Turms), der Poesie (des Epos). Die Gefahr der »Verborgenheit« der Wahr-
heit in Kunst, die Tatsache, daß die Kunst nicht nur Entdeckung, sondern zugleich der
»Schleier« der Wahrheit ist, motiviert Hegel im weiteren dazu, der Philosophie die Errei-
chung des höheren Gewißheitsgrades einer ihrer selbst und der geschichtlichen Wahrheit
versicherten Vernunft zuzuerkennen und diese Zumutung verfahrensmäßig (durch spe-
kulative Überschreitung der Reflexion) einzulösen. Erst mit dieser Weiterbildung der
Philosophie zum System des absoluten Wissens schafft Hegel nachträglich jenen Rah-
men, den Heidegger durch den Rückgriff auf den Werkbegriff und den Verweis auf
Wahrheit, die in und durch die Kunst erfahrbar wird, wieder annulliert.
Hölderlin hatte zum Vorwurf für seinen Hyperion-Roman eine der frühen Grund-
konzeption Hegels ähnliche Version des »Ideals der Volkserziehung« gewählt. Für jene

9 Das bestätigt sich in Hegels Darstellung der nicht mehr schönen Kunst in seiner Zeit, der er gleich-
wohl ein »wahres« sittliches Pathos zuerkennt. Hier übernimmt die häßliche Gestalt des modernen
Dramas dieselbe Funktion unter den geänderten Bedingungen einer Reflexionskultur. Vgl. dazu An-
nemarie Gethmann-Siefert, Hegel über das Häßliche in der Kunst, (in Vorb.).
10 Diese Bedeutung der Tragödie bei Hegel hat zuerst O. Pöggeler herausgestellt: Otto Pöggeler, Hegel
und die griechische Tragödie. In: Heidelberger Hegel-Tage 1962. Hrsg. von H.G. Gadamer. Bonn
1964 (Hegel-Studien. Beiheft 1), S. 285 ff.
216 ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT

Gedichte Hölderlins, die Heidegger erläutert, bleibt diese der Hegeischen nahestehen-
de Konzeption der Kunst Ansatz- und Ausgangspunkt. Hölderlin erweitert diesen An-
satz allerdings noch. Er zeigt, daß nicht nur die griechische, sondern daß prinzipiell je-
de geschichtliche Kultur die Ressourcen der Wahrheitserfahrung bereithält, aus denen
die Dichtung schöpfen kann und die sie je neu vermitteln muß. (Hier läßt sich nur an-
deuten, wie Hölderlin seinen eigenen Ansatz, der sich in Gesprächen mit Hegel modi-
fiziert, weiterführt.) In der Hymne Andenken" beispielsweise verknüpft er den Rück-
griff auf Griechenland mit dem Ausgriff auf fremde Kulturen überhaupt und ihr ge-
schichtliches Selbstverständnis. Der Dichter wird zum exemplarisch Erfahrenden (zum
Reisenden), der die fremde Welt einzuholen und dem gegenwärtigen Gesprächspartner
ins Wort, in Sprache zu setzen hat. Hölderlin führt Hegels Ansatz in dem Sinne weiter,
den Heidegger im Kunstwerk-Aufsatz philosophisch als seine Konzeption geschichtli-
cher Wahrheitserfahrung darlegt, als die Konkretisierung des »Weltentwurfs« durch
den Begriff »Erde«.

Heideggers Bestimmung des Kunst-Werks als


geschichtliche Konkretion der Daseinsanalytik

Heidegger generalisiert durch den Rückgriff auf Hölderlin mittelbar die Überlegungen
zur geschichtlichen Funktion der Kunst, die der junge Hegel explizit formuliert hatte
und die er in seinen späten Berliner Ästhetikvorlesungen weiterführte. Er gewinnt da-
durch seinen Ansatzpunkt für die Fortbestimmung des Weltbegriffs zum Begriff »Erde«
und für die Auslegung des Welthorizonts als »Geviert«.
Kunst wird konstitutiv für geschichtliche Wahrheitserfahrung überhaupt. D.h., Wahr-
heit ergibt sich in und durch denkende wie gestaltende (kurz: konsequenzhaft-deutende)
Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Um-Welt, zunächst der Natur. Umgekehrt
wird das, was Wahrheit jeweils sein kann, nur in solchen »Gestalten« ablesbar, die das
Resultat gemeinschaftlicher Weltauseinandersetzung in Arbeit (mit dem Resultat Zeug)
und Deutung (mit dem Resultat Werk) sind. Die Wahrheit »richtet sich ins Werk«, und
zwar als der Streit von »Welt und Erde«, von »Lichtung« und »Verbergung«.
Heidegger nimmt auch Hegels Bestimmung des Ideals der Sache nach auf, allerdings
in einer Weise, die noch durch seine Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus
geprägt bleibt. Das »Ideal« galt Hegel als lebendige Orientierung am schönen Handeln
(der Tugendlehrer, Götter, Heroen). Diese Konkretheit versucht Heidegger durch eine
Umdeutung des »Ding«-Charakters des Kunstwerks wiederzugewinnen. Er bestimmt
den (wie es in der analytischen Ästhetik formuliert wird) »ontologischen Status« des
Werk-Dings dadurch, daß er Dinge dieser Art als Index eines jeweils epochal-klima-
tisch, also kulturell gefärbten Weltvollzugs charakterisiert. So heißt es: Das Werk »ge-
staltet Geschichte mit« (56). Es ist folglich »Ding« im Sinne des »Erdhaften« (vgl. 56 f).
Die Kunst läßt in der Konkretheit einer Anschauung eigens zu Weltdeutungszwecken

11 Vgl. dazu Annemarie Gethmann-Siefert, Die »Poesie als Lehrerin der Menschheit« und das »neue
Epos« der Modernen Welt. Kontextanalysen zur poetologischen Konzeption in Hölderlins »Anden-
ken«. In: Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche
Goethes und Hölderlins. Hrsg. von H. Bachmaier und Th. Rensch. Stuttgart 1987, S. 70 ff.
HEGEL, HEIDEGGER UND DIE GRIECHEN 217

geschaffener Gebilde und ihrer »Tradition«, ihrer geschichtlichen Wirkung, Wahrheit


erscheinen. Kulturkonstitutiv und formal konvergent für alle Weisen des Dingseins ist
dabei die Tatsache, daß Natur immer nur als gestaltete, als Zeug oder Werk (siehe die
Überlegungen zum »Riß«; 58) geschichtlich gegeben ist. Kunst als Ursprung des Werks
zeigt sich als der gestaltende, kulturelle Zugriff auf Natur, der nicht Werkzeug, Zeug,
sondern Werk selbst, d.i. die Deutung des Hervorbringens von Zeug, stiftet. Kunst läßt
damit als nur quasi subjektive Setzung das »Schaffende und Bewahrende« (58) in ihrem
»Wesen entspringen« (59).
Hier mag der Hinweis auf ein Beispiel aus Hegels Jenaer Überlegungen einmal mehr
die Nähe der vormetaphysischen Kunstdeutung Hegels und der Deutung Heideggers
belegen. Hegel versucht in einem Aphorismus zu verdeutlichen, daß das Hervorbrin-
gen eines Werkes auf der einen Seite die Tat des Genies sei, auf der anderen aber nur ei-
ne Tat, die der Einzelne im Kontext einer geschichtlichen Erfahrung, im Kontext eines
Volkes zu machen in der Lage ist. Das Genie ist gleichsam nur der, der in den Bau eines
Spitzbogens den letzten Stein, die Rose einsetzt und so die Gestalt als ganze ersichtlich,
für alle nachvollziehbar erscheinen läßt.12 Die Ambiguität dieses Werks, die Hegel in
den späteren Ästhetikvorlesungen als die »Sophisterei« der Kunst kennzeichnet, moti-
viert ihn freilich dazu, dieses Erscheinenlassen von Wahrheit durch (in seinem Sinn)
besser gesicherte Vorgehensweisen zu ersetzen, als sie das Leben aus und in einer Kul-
tur und die Zufälligkeit zur Fähigkeit des »Deutens«, des Stiftens einer Weltanschau-
ung gewährleisten.
Ein dritter Aspekt, der in Heideggers geschichtlicher Deutung des ontologischen
Status des Kunstwerks mitangesprochen wurde, wiederholt ebenfalls Hegels Einsicht.
Das Kunstwerk erwächst nicht allein aus einer Tradition, sondern es stiftet Tradition.
Heidegger verknüpft mit dieser hegelaffinen Überlegung in seiner geschichtlichen Ein-
bettung der Daseinsanalyse Geworfenheit und Entwurf zu unlösbarer Einheit. So ge-
staltet, nämlich »festgestellt in die Gestalt« (54), stiftet das Werk Tradition (Bewah-
rung). Damit gründet es das »Für- und Miteinandersein als das geschichtliche Ausste-
hen des Da-seins aus dem Bezug zur Unverborgenheit« (55).
Heidegger definiert im nächsten Schritt, die Kunst sei der Ursprung des Kunstwerks.
Die menschliche Auseinandersetzung mit der Welt im Zusammenspiel zwischen Arbeit
(Bewältigung widerständiger Natur) und Deutung (Bewältigung einander zuwiderlau-
fender geschichtlicher Orientierungen) führt zum Kunstwerk. Dieses wiederum läßt

12 Hegel setzt diese Überlegung seiner auf das Griechentum gemünzten Bestimmung, hier sei der Staat
selbst noch Kunstwerk (vgl. GW 8. 263), entgegen und erläutert den Sinn seiner These, daß das
Kunstwerk zwar kein bloßer »Instinkt«, sondern eine »Vernünftigkeit« sei, die sich »im Volke zu ei-
nem Allgemeinen macht« (GW 6. 320). Diese Vernünftigkeit aber ist in sich mehrdeutig. Der Apho-
rismus erläutert daher das Fragment über »das Wesen des Geistes« in kurzer, anschaulicher Form. In
Hegels Wastebook finden sich einige Aphorismen, die diese Mehrdeutigkeit einer nur durch die
Kunst und die Anschauung gestifteten Orientierung belegen. Der Hinweis auf die Tatsache, daß der
»Zompositeur« beider [des Kunst- wie des Staatswerks]... der Geist ist (Hegel-Studien. 4 [1967], 14),
wird in den gewählten Bildern infragegestellt, denn das zweite charakterisierte Werk mündet nicht in
einer geglückten Gemeinschaftsform, sondern im Untergang der Gemeinschaft. Hier arbeitet sich ein
Volk nicht zum Licht, sondern aus dem Dunkel der es bedeckenden Erde zum Wasser eines Sees hin-
auf. Ist man durch die Arbeit des letzten (wie Hegel das Genie definiert) zu dieser Höhe durchge-
stoßen, so erkränkt der hereinstürzende See alle, »indem er sie tränkt«. ( G W 5. 377)
218 ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT

aus dem Resultat (Gestalt) den Prozeß als ganzen zur gemeinsamen Erfahrung, zur Ge-
schichte werden.13 Auch für Heidegger ist - die Konvergenz seiner Ausführung mit
Hegels Überlegungen geht weiter - als Werden und Geschehen der Wahrheit die
»Dichtung« namhaft gemacht (59, 66). Die Poesie als »Lehrerin der Völker« (Hegel),
die »Dichtung« ist auch für Heidegger eine »ausgezeichnete Weise, wie Wahrheit sei-
end, d.h. geschichtlich wird« (59, 66). Kunst als der Ursprung des Kunstwerks ist Set-
zung von Wahrheit in dem Sinn, daß sie stets und nur kulturell und epochal einmalig
vom Einzelnen (Genie) zur Erscheinung gebracht wird. Sie ist aber zugleich Indiz der
Geworfenheit sowohl in jenem ersten und ursprünglich Schöpfenden, dem Genie, wie
in den Vielen, die diese Weltdeutung nachvollziehen. Denn sie erscheint wie in Hegels
Bestimmung des Ideals als der Grund des »geschichtlichen Daseins eines Volkes«. Mit
Heidegger: Kunst, deren Wesen Dichtung ist, ist »Stiftung der Wahrheit« in dem drei-
fachen Sinn von »Schenken«, »Gründen«, »Anfangen« und den jeweils zugehörigen
Weisen des Bewahrens. Hegels frühe Konzeption der »schönen Religion« und damit
eines Kunstwerks im geschichtlichen Kontext liest sich wie ein Kommentar zu folgen-
dem Satz Heideggers: »Der wahrhaft dichtende Entwurf ist die Eröffnung von jenem,
worein das Dasein als Geschichtliches schon geworfen ist. Dies ist die Erde und für ein
geschichtliches Volk seine Erde, der sich verschließende Grund, dem es aufruht mit all
dem, was es, sich selbst noch verborgen, schon ist. Es ist aber seine Welt, die aus dem
Bezug des Daseins zur Unverborgenheit des Seins waltet« (63).
Im »Werden und Geschehen der Wahrheit«, in der Kunst, zeichnet sich also ein über
den Charakter des »Gesetzseins« hinausweisendes konstitutives Charakteristikum der
Wahrheit in differenzierterer Weise ab, als es Heidegger in Sein und Zeit formulieren
konnte. Die Unverfügbarkeit oder das Ereignishafte geschichtlicher Wahrheitserfah-
rung erscheint als konkrete Explikation des »Zeit«-Charakters der vorher formal for-
mulierten Einsicht, daß das, was ist und erkannt werden soll, zwar nicht nur durch den
Vollzug des Subjektes gesetzt ist, aber auch nicht ohne ihn denkbar sei.
Auch die »Krisis« geschichtlicher Wahrheit formuliert Heidegger wie Hegel im
Blick auf die Kunst. Hegel wiederholt seine Kritik an der Kunst in den Berliner Ästhe-
tikvorlesungen selbst gegenüber der Kunst in ihrer höchsten geschichtlichen Möglich-
keit, sc. der Kunst im Kontext der griechischen Polis, der klassischen Kunst. Kunst
kann ihren Charakter, der Schleier der Wahrheit zu sein, nicht abstreifen. Kunst könne
bestenfalls den Konflikt thematisieren zwischen dem Bedürfnis nach Vernunft und sei-
ner Befriedigung in Orientierungen, deren Geltung unentscheidbar, partial, aber den-
noch uneingeschränkt verpflichtend sei. Hegel legt diesen Gedankengang im einzelnen
in seiner Kritik der griechischen Tragödie dar. Hier zeigt er, wie aus einem Ethos, das
durch die Kunst gestiftet ist, aus jenen unmittelbaren Handlungsorientierungen, die die
schönen Götter der Griechen dem Menschen in seiner politischen Gemeinschaft geben,
mit Notwendigkeit ein Konflikt entstehen muß. Wo gegenläufige Orientierungen mit
uneingeschränktem Anspruch aufeinandertreffen, läßt sich eine Entscheidung für oder

13 Hier müßte sich die Erörterung der Frage anschließen, ob nicht die spätere an H . - G . Gadamer an-
schließende Hermeneutik den Geschichtsprozeß zu einseitig auf das »Geworfensein« verrechnet.
Geworfensein ist nur erfahrbar aus den Widerständen, auf die jeder Entwurf, jede Setzung notwendi-
gerweise, d.h. als geschichtliche Setzung, trifft. N u r sofern der Wille zum Entwurf mitspielt, läßt sich
Geworfenheit formulieren, erfahren.
HEGEL, HEIDEGGER UND DIE GRIECHEN 219

gegen diesen oder jenen Gott als Prinzip des Ethos nicht in einem Sinn herbeiführen,
der vernünftig wäre. Das geschichtliche Individuum, das mit seiner Wahrheit lebt, geht
mit ihr unter. Zurückgewandt auf die frühe Bestimmung des Kunstwerks und der dem
Ideal zugemuteten Orientierung in einer geschichtlichen Situation, die selbst mit Schil-
ler als »Zerrissenheit« gekennzeichnet worden war, kann Hegel seine eigene Hoffnung
nicht aufrecht erhalten, Kunst, die Dichtung möge auch in dieser Situation wieder zur
Lehrerin des eigenen Volkes werden, möge ihm eine neue Wahrheit stiften, die durch
die Setzung der Vernunftpostulate der Aufklärung nicht erreicht werden konnte. Aus
dieser Diagnose der geschichtlichen Wirkung des Kunstwerks, seiner Weise der Wahr-
heitsvermittlung, zieht Hegel die Konsequenz, daß die durch Kunst ins Werk gesetzte
Wahrheit geschichtlich relativiert werden müsse. Nicht nur die - ohnehin und leicht er-
sichtlich - kulturvarianten Inhalte, auch die Gegebenheitsweise der geschichtlichen
Wahrheit als und durch Kunst, die sich im Sinne Heideggers am Griechentum zeigt,
muß überwunden werden. Hegels philosophisches System leistet nun diese »Überwin-
dung«, die Heidegger mit dem Rückzug zur Bestimmung der geschichtlichen Funktion
der Kunst selbst wieder zurücknimmt - und zwar in einer Weise, die den rationalen
Zugriff in der Erhellung des geschichtlichen Phänomens zumindest weitgehend auf-
recht erhält, ohne die Hypothek der Utopie eines absoluten (obgleich geschichtlich ge-
wordenen und gewonnenen) Wissens mit zu übernehmen.
Heidegger restituiert die Wahrheitserfahrung durch und als Kunst im Sinne einer
konkret geschichtlichen Wahrheitserfahrung. Auf der einen Seite bleibt das »In-der-
Welt-Sein« als Deutungsgrund erhalten, auf der anderen Seite wird es konkretisiert als
jeweils mit einer geschichtlichen Kultur verwachsen, als »Auf-der-Erde-sein«. In seiner
Korrelation von »Welt« und »Erde« übernimmt Heidegger also eigentlich das ästhe-
tisch/kulturphilosophische Programm Hegels an der Stelle, wo Hegel selbst es abge-
brochen hat. Historisch plausibel wird diese Übernahme schlicht durch Heideggers
Bezug auf Hölderlin. 14 Sachlich scheint mir allerdings die Korrelation zwischen Hei-
degger und jener frühen Konzeption Hegels weiterzuführen.
Vermutlich lassen sich solche zumeist versteckten und mittelbaren Anknüpfungs-
punkte Heideggers an die philosophische Tradition allenthalben finden. Auch für die
Deutung der Welt als »Geviert« könnte der vorgeschlagene Versuch, Heidegger und
(einen noch nicht metaphysischen) Hegel durch die gemeinsame Griechenreferenz in
Beziehung zu bringen, aufschlußreich sein. In der gebotenen Kürze läßt sich nur die
Vermutung anschließen, daß Heidegger die Vergeschichtlichung des Welthorizonts zu
»Erde«, zu Physis im Sinne geschichtlich gewachsener Kultur, noch weiter im Sinne der
Hegeischen Deutung der Funktion der Kunst in der Geschichte differenziert. Heideg-
ger spricht mit Hölderlin und wie Hegel bei näherer Bestimmung dieser Physis vom
Zueinander zwischen Mensch und Gott. Durch dieses wird jeweils die inhaltlich be-
stimmte geschichtliche Kultur ausgebildet. Hegel hat dieses Beispiel eindeutig im Sinn

14 Vgl. dazu die zusammenfassende Deutung bei Annemarie Gethmann-Siefert, Die »Poesie als
rin der Menschheit« ... (s.o. Anm. 11); dieselbe, Heidegger und Hölderlin die Überforderung des
Dichters in dürftiger Zeit. In: Martin Heidegger und die praktische Philosophie. Hrsg. von A. Geth-
mann-Siefert und O . Pöggeler. Frankfurt a.M. 1988, S. 191 ff; dies., Verführerische Poesie. Zu Hei-
deggers Dichtungsinterpretation. In: Logik, Anschaulichkeit und Transparenz. Hrsg. von E.W. Orth.
Freiburg/München 1990, S. 104 ff. (Phänomenologische Forschung. Bd. 23).
220 ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT

Hölderlins (wie später Heideggers) in seiner Bestimmung der Kunst im Griechentum


expliziert. Heidegger knüpft an diese Überlegungen an. Sterbliche und Göttliche, Irdi-
sche und Himmlische erscheinen als die konstitutiven Elemente der jeweiligen geisti-
gen Konstellation, in die sich Natur als Kunst-Werk fügt. Unsicher bleibt, wieweit
Heidegger von dem in dieser Deutung noch vorausgesetzten Vorrang der Kunst ab-
rückt. Solange die Kunst das Werk, dieses die Physis nicht als bloße Natur, sondern als
des Menschen zweite Natur, als seine Kultur, gibt, bleibt es beim Vorrang des Entwurfs
zumindest beim Begreifen der Geworfenheit.
Ebenso ergibt sich mit Hilfe des gewählten philosophiegeschichtlichen Anknüp-
fungspunktes für Heideggers Auslegung des »Zeit-Raum-stiftenden Reichens« eine
plausible Deutung. Im Handeln sind es die Göttlichen und die Sterblichen, die mitein-
ander für die Bildung und Institutionalisierung eines Ethos, der Sittlichkeit eines
Volkes einstehen (für den Vollzug die Sterblichen; für die Geltung und ihre Sicherung
die Göttlichen). Zeit wird deshalb aus und in diesem Deutungshandeln konstituiert,
das als Grundlage des geschichtlichen Handelns zu verstehen ist. Im Erkennen, in der
Verortung des Wissens, gibt es durch die nun nicht mehr politische, sondern kosmolo-
gische Dimension der Physis, der »Erde«, das gleiche Spiel unter anderem Aspekt. Das
Reichen im Geviert steht für und analysiert das, was Hegel mit vorsystematischer Be-
grifflichkeit im gleichen Sinn umrissen hat. Es expliziert die Tatsache, daß das Individu-
um in einem Traditionszusammenhalt lebt, im kulturellen Geflecht ihm selbst weitge-
hend nicht explizit bewußter Weltdeutung.
Geschichtlichkeit des Daseins als diese »zweite Natur«, als die im Geviert weiter dif-
ferenzierte Physis oder Erde »gibt« sich zu verstehen in Kunst, Dichtung oder, wie
Heidegger - in erneuter Generalisierung dieses Zusammenhalts - sagt: als Sprache. Die
Philosophie entdeckt dieses Geflechts hinsichtlich seiner konstitutiven Momente. Sie
benennt die jeweils in konkrete geschichtliche Gestalt gebundenen Momente: Endlich-
keit und Unendlichkeit, Kontingenz und Transzendenz, Geworfenheit und Entwurf.
Heidegger führt damit ein Anliegen weiter, das Hegel im Bund mit Hölderlin und
Schelling vor der Ausbildung seines philosophischen Systems formuliert hatte, und das
er der Intention nach im System des absoluten Wissens noch hat einlösen wollen. Er
bestimmt im gleichen Anlauf formal im Sinne Kants und konkret im Sinne einer Inte-
gration der Geschichte in die Philosophie und der Philosophie in Geschichte die kon-
stitutiven Momente der »Totalität« einer Weltanschauung. Diese Totalität ist - auch
nach Schelling, wie für Hölderlin oder den jungen Hegel - Aufgabe und geschichtliches
Spezifikum der Kunst.

Als Fazit dieser Verknüpfung des Heideggerschen Denkens mit einem nicht von der
Seite der ontotheologischen Metaphysik schon »metaphysisch« gedeuteten Griechen-
tums läßt sich festhalten:
Heidegger greift im Kunstwerk-Aufsatz (historisch) durch die Kritik an der neukan-
tianistischen Ästhetik auf einen umfassenderen Versuch der Kulturphilosophie der
Kunst zurück. Die Ablehnung des metaphysischen Rahmens der Hegeischen Ästhetik
führt ihn zudem (der Sache nach) zur Re-Formulierung eines Hegeischen Gedankens
vor der Ausbildung des Systems der Philosophie, zur Bestimmung des »Ideals« als
Werk im Sinne geschichtlicher Wahrheitsstiftung.
HEGEL, HEIDEGGER UND DIE GRIECHEN 221

Die »anderen Griechen«, die Heidegger nur im Ansatz Hölderlins zu finden ver-
meint, spielen schon hier die Rolle eines exemplarischen »anderen Anfangs« der Philo-
sophie. Allerdings läßt sich dieser andere Anfang noch als der Versuch, mit Hilfe der
Philosophie »für das Leben zu lernen«, wie es Hegel formuliert,15 charakterisieren. Es
geht also auch in diesem Anfang darum, geschichtliche Weisen der Wahrheitserfahrung
begrifflich zu erschließen, und zwar in einer Weise, die nicht nur die Formalität ihres
Wahrseins mitberücksichtigt, sondern zugleich die Inhalte, die in bestimmter ge-
schichtlicher Situation sich als Wahrheit zeigen. Die Konstellation, die Heidegger als
den »Streit« zwischen Welt und Erde umreißt, ist also nichts anderes, als die Crux der
Philosophie, für das Leben Aussagen zu machen, das allerdings als geschichtliches Le-
ben gerade durch solche Deutungen auch der Philosophie immer schon in eine Zukunft
gegangen ist, die es noch einzuholen gilt. Unbestritten ist, daß Wahrheit sei; unbestrit-
ten gilt für Heidegger wie für den frühen Hegel, daß sich diese Wahrheit epochal, d.h.
immer nur in der konkreten geschichtlichen Situation eines Kulturraums ereignet.
Ebenso unbestritten ist aber auch, darauf weist Heideggers Generalisierung dieser
Analyse hin, daß sich diese Art des Gegebenseins von Wahrheit selbst noch einmal wie-
der verstehen läßt. Letzteres, das Verstehen-Lassen dieses Ereignisses der Wahrheit des
Seins, wie es mit Heideggers Worten heißt, bleibt die Aufgabe der Philosophie, nach-
dem Hegels metaphysisches Angebot, eine Lösung dieses Problems zu konstruieren,
zurückgewiesen worden ist.
Vermutlich lassen sich zahlreiche solcher versteckten Anknüpfungen in Heideggers
Gedanken finden. Läßt sich aber mit Hilfe der Philosophiegeschichte Heideggers An-
liegen wie seine Durchführung explizieren, dann wird es vielleicht auch in vielen weite-
ren Fällen plausibel erscheinen, die Philosophie des »anderen Anfangs« nicht in einer
Weise vom Ansatz und der Durchführung der Frage nach dem Sinn, der Wahrheit des
Seins in Sein und Zeit zu trennen, der ihr Anliegen und ihre Bedeutung für uns unsag-
bar und undenkbar geraten läßt.

15 Vgl. zur Interpretation Manfred Baum/Kurt Meist, Durch Philosophie leben lernen. Hegels Konzep-
tion der Philosophie nach den neuaufgefundenen Jenaer Manuskripten. In: Hegel-Studien. 12 (1977,
43-81).
III. KUNST

WALTER BIEMEL
Der Künstler als Herrscher: Picasso

KLAUS VIEWEG
Romantische Ironie als ästhetische Skepsis.
Zu Hegels Kritik am Projekt einer »Transzendalpoesie«.

MONIKA SCHMITZ-EMANS
Literarische Bilder-Bücher als imaginäre Museen

KARL LEIDLMAIR
Computertechnik und Kunst
WALTER BIEMEL

Der Künstler als Herrscher: Picasso

Einleitung

U m zu verstehen, w e l c h ein Wandel in der H a l t u n g des Künstlers Picasso vollzogen


w u r d e , m u ß ich zuerst auf die Situation in Spanien in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
h u n d e r t s eingehen. In Spanien h a t t e n es die Künstler viel schwerer als in Frankreich.
Das ist einer d e r G r ü n d e , w e s w e g e n die spanischen Künstler so sehr nach Frankreich
orientiert w a r e n u n d ganz besonders auf das Künstlerleben in Paris. W ä h r e n d in
F r a n k r e i c h das N e u e einen D u r c h b r u c h feierte, u m hier nur an die Impressionisten zu
erinnern, aber natürlich auch an C e z a n n e , w a r in Spanien das geistige Klima von einem
Traditionalismus geprägt, d e r jede N e u e r u n g als gefährlich ablehnte. Als Beispiel
m ö c h t e ich ein Zitat aus der A r b e i t »El corazön de Jesus y el modernismo« [Das H e r z
Jesu u n d der M o d e r n i s m u s ] v o n J . M . Aicardo, S.J. geben:

Hace tres, cuatro, seis anos hemos oi'do el cansancio repetir lo de los viejos moldes que hay
que romper, lo de la necesidad que tenemos de ser de nuestro siglo, lo de acomodarse a los
tiempos y las necesidades de la epoca, lo del espi'ritu de la tolerancia, lo de qua la libertad y la
revoluciön no vuelvan aträs, y tantas y tantas frases del repertorio modernista dichas o repeti-
das con ignorancia o con malicia por periödicos, revistas y apöstoles de estas evoluciones. En
Espana hemos tenido hegelianismo, kantismo, krausismo y todos los errores alemanes por el
vehiculo de la lengua francesa. ,;Quien serä capaz de asegtirar que solo el modernismo nos va-
mos a ver libres, cuando infesta a Alemania, Inglaterra, Italia, Belgica y Francia?'

[Seit drei, vier, sechs Jahren haben wir bis zum Überdruß wiederholt gehört, daß man die al-
ten Formen zerbrechen muß und von der Notwendigkeit, daß wir uns an unsere Zeit anpas-
sen müssen und den Forderungen unserer Zeit, dem Geist der Toleranz, der Freiheit und der
Revolution nicht nachhinken dürfen, und lauter solche Phrasen der modernistischen Rede-
weise, immer wieder gesagt und aus Ignoranz wiederholt oder aus Boshaftigkeit von Zeit-
schriften und Veröffentlichungen und von Aposteln dieser Evolutionen. Wir hatten in Spa-
nien den Hegelianismus, den Kantismus, den Krausismus und all die Irrtümer der Deut-
schen über die Veröffentlichungen in französischer Sprache. Wer ist im Stande zu versi-
chern, daß wir nur durch den Modernismus frei sein werden, der Deutschland, Italien,
Belgien und Frankreich infiziert?]

D e r Verfasser w a r n t seine Landsleute vor den Gefahren des M o d e r n i s m u s , in dem er


das Übel des J a h r h u n d e r t s sieht, das sein Land bedroht. D a ß das keine A u s n a h m e ä u ß e -
rung eines Jesuiten ist, u m das W o h l seiner Schäfchen besorgt, sondern typisch für die
allgemeine A t m o s p h ä r e , wird auch aus folgender Kennzeichnung von Eduard Valenti i
Fiol des spanischen K a t h o l i z i s m u s deutlich, im Unterschied z u m offenen Katholizis-
mus, der gleichzeitig in F r a n k r e i c h bedeutende Vertreter hatte:

1 J.M. Aicardo, S.J. El corazön de Jesus y el modernismo. Madrid 1909, S. 52 f.


226 WALTER BIEMEL

Habia faltado siempre en Espaiia aquel grado de seguridad y estabilidad social que es ne-
cesario para poder ejercer con libertad de espiritu una crftica profunda de los principios que
subyacen a las costumbres y las instituciones.2

[In Spanien fehlte immer der Grad an Sicherheit und sozialer Stabilität der notwendig ist,
um mit geistiger Freiheit eine tiefe Kritik der Prinzipien auszuüben, die den Gewohnheiten
und den Institutionen zugrunde liegen.]

Der »Modernismus« kennzeichnet eine Reaktion gegen den starren, überlebten Tradi-
tionalismus, der keinen Sinn für die Wandlung hat, die sich zu dieser Zeit in Europa
vollzieht, bzw. vollzogen hat. Er wird im Bereich der Kunst sehr deutlich. Für die An-
hänger des Traditionalismus ist er geradezu ein Schimpfwort. Sie sehen in ihm eine
große Gefahr und prangern ihn deswegen als dekadent und revolutionär an.
In Katalonien sind die Anhänger des Modernismus zugleich Vorkämpfer für die ka-
talanischen Rechte. Die avantgardistische Zeitschrift »Diari Catalä« ist eine der ersten
Publikationen in katalanischer Sprache (von 1879-81 herausgegeben von Valenti Ami-
rall). Sie versteht sich als fortschrittliche Publikation, die auch politische Aspekte
berücksichtigen will. Sie tritt für den technischen Fortschritt ein und ist durch ihre li-
berale Haltung und ihre Kritik gegenüber dem herrschenden Klerikalismus gekenn-
zeichnet. In ihr erscheinen positive Kunstkritiken der Vertreter des Modernismus, über
Santiago Rusinol und positive Berichte über Pariser Ausstellungen, so von Josep Lluis
Pellicer über die Ausstellung von Claude Monet. Das ist für die einheimischen Künst-
ler wichtig. Denn über diese Zeitschrift erfahren sie, was im Pariser Kunstleben ge-
schieht. Nach ihrem Einstellen (1881) erscheint die Zeitschrift »L'Aveng« [Der Fort-
schritt] unter der Leitung des begabten Malers Casas (1866-1932) und Massö i Torrents
(1863-1943) zunächst hektographiert und von 1882-84 als gedruckte Publikation. Die
Zeitschrift beschränkt sich keineswegs auf das katalanische Milieu, sondern will die
spanische Literatur insgesamt berücksichtigen. Dabei geht es den Herausgebern darum,
»einen Dialog in Gang zu bringen, einen gültigen und bedeutungsvollen Dialog mit der
zeitgenössischen europäischen Kunst«.3 Um diese Zeitschrift sammelt sich die intellek-
tuelle Jugend Barcelonas, die Herausgeber sind selbst Jugendliche. Um die Jahrhun-
dertwende zählte Barcelona 500.000 Einwohner, vier mal mehr als 1850. »Die schläfrige
Provinzstadt wurde zu einer dynamischen, heterogenen und komplexen Hauptstadt,
mit dem Anspruch, ein bedeutendes großstädtisches Zentrum zu sein.«4 Das Bürger-
tum erhält eine Machtstellung. Um anerkannt zu werden, zeigt es auch Interesse an
Kunst. Allerdings fehlt ihm eine künsterlische Tradition, das wirklich Moderne gedeiht
eher am Rande der Gesellschaft, in der Boheme-Atmosphäre, an der auch Bürgersöhne
teilhaben. »Die Vorreiter des Modernismus waren die Freunde Rusinol, Casas und
Utrillo, die alle drei aus Barcelona stammten.«5 Miguel Utrillo war ihr Doktrinär, Rusi-
nol (1861-1931) ihre Animator. Er hatte seinen Familienbetrieb aufgegeben, um sich

2 Eduard Valenti i Fiol, Elprimer modernismo catalan. Barcelona 1973, S. 49.


3 Ibid., S. 159.
4 Katalog der Ausstellung Katalanische Kunst des 20. Jahrhunderts in der Staatliche Kunsthalle Berlin
Berlin 1987, S. 95.
5 Alexandre Cirici, Die Vorreiter des Modemismus. In: Katalanische Kunst des 20. Jahrhunderts (Anm
4), S. 110.
DER KÜNSTLER ALS HERRSCHER: PICASSO 227

der Malerei und der Literatur zu widmen. In Sitges (30 km südlich von Barcelona) ver-
anstaltete er denkwürdige Künstlerfeste, da wurde von Maeterlinck z.B. »LTntruse«
aufgeführt, über Ibsen und Nietzsche diskutiert. Seine finanzielle Unabhängigkeit er-
möglichte ihm ein fruchtbares Wirken. Er hatte Kontakte zu Paris, wohin er regel-
mäßig fuhr. Seine Kritik des erstarrten spanischen Traditionalismus wirkte über Kata-
lonien hinaus.
Ein Treffpunkt der Modernisten war in Barcelona das Lokal von Pere Romeu »Eis
Quatre Gats«. Hier treffen sich auch die jungen Künstler Isidro Nonell (1873-1911)
und Pablo Ruiz Picasso. Nonell war Picasso künstlerisch voraus. Während Picasso
noch Bilder wie »Wissenschaft und Nächstenliebe« malte, hat Nonell seinen eigenen
großflächigen Stil gefunden, mit den sujets aus der Welt der Zigeuner und der Kretins
von Bohi.
Innerhalb der Modernisten entwickelten sich zwei Flügel - der weiße symbolistische
Flügel und der schwarze Flügel, der eine Art Protestmalerei darstellt.
Diese summarische Darstellung der Atmosphäre sollte zeigen, daß zwar die Not-
wendigkeit einer Wandlung in der Kunst gesehen war, daß aber die Existenz des Künst-
lers in Spanien schwierig war, wenn er sich nicht dem herrschenden (bzw. fehlenden)
Geschmack der Gesellschaft unterwerfen wollte. Ganz zu schweigen von dem Zwang,
der z.B. den katholischen Künstlern des Kreises San Luc von der Kirche aufgezwungen
wurde (z.B. das Verbot der Aktmalerei). Der spanische Hof, der zu anderen Zeiten die
Kunst gefördert hatte, war jetzt gegen Kunst immun. Der spanische Philosoph Ortega
y Gasset hat das in folgender Kritik ausgesprochen:
En nuestro pais, ni la cätedra ni el libro tenian eficienda social. Nuestro pueblo no admite lo
distanciado y solemne. Reine en el puramente lo cotidiano y vulgär. Las formas del ari-
stocratismo »aparte« han sido siempre esteriles en esta peninsula. Quien quiera crear algo - y
toda creaciön es aristocracia - tiene que acertar a ser aristöcrata en la plazuela.6

[In unserem Land hatten weder der Lehrstuhl noch das Buch jemals soziale Wirkung. Unser
Volk duldet nicht das Distanzierte und das Feierliche. Es herrscht nur das Alltägliche und
das Vulgäre. Die Formen der aristokratisch im Abseits Stehenden waren immer fruchtlos
auf dieser Halbinsel. Wer etwas schöpfen will - und jede Schöpfung ist Aristokratie - sollte
geschickt trachten, Aristokrat im kleinen Kreis zu sein.]

I. Picassos Entfaltung zum Revolutionär

Picassos Vater gehörte zur traditionellen Kunstszene. Jose Ruiz Blasco unterrichtete an
der Kunstgewerbeschule in Malaga. Da wurde Pablo 1881 geboren. 1891 wurde der Va-
ter Zeichenlehrer an einem Gymnasium in La Corufia und übersiedelte 1895 nach Bar-
celona, wo er eine Stelle an der Kunstakademie »La Lonja« erhält. Die Begabung des
Sohnes wurde früh deutlich. Im Picasso-Museum in Barcelona ist das eindrucksvoll zu
verfolgen. Sein Aufenthalt in Madrid war von kurzer Dauer. 1897 schrieb er sich in die
»Schule des San Fernando« ein, die Aufnahme war so leicht wie zuvor in Barcelona in

6 Jose Ortega y Gasset, Obras. Madrid und Barcelona 1932, S. XVII


228 WALTER BIEMEL

die Akademie »La Lonja«. A b e r der Prado interessierte ihn mehr als die Kurse. Viel-
leicht war seine E r k r a n k u n g psychosomatisch bedingt, sie bewog ihn jedenfalls nach
Barcelona zurückzukehren, w o er sich wohl fühlte, zu Hause. Zu dieser Zeit in Barce-
lona gehört auch der Aufenthalt in H o r t a de San Juan - auf Einladung seines Freundes
Pallares.
Aber ich darf nicht in den Fehler verfallen, hier eine Darstellung des Lebens von Pi-
casso zu versuchen. Worauf es mir a n k o m m t ist, die revolutionäre Wandlung darzustel-
len, durch die Picasso zu einem der führenden Künstler am Anfang des 20. J a h r h u n -
derts wurde. W o d u r c h er den ersten entscheidenden Schritt vollzog, vom B o h e m e -
Künstler am Rande der Gesellschaft, z u m Künstler als Herrscher. Ich meine das Finden
einer neuen malerischen Sprache: den Kubismus. Was geschieht im Kubismus?

Kahnweilers Deutung des Kubismus

Die Persönlichkeit, die sich während ihres ganzen Lebens für den Kubismus eingesetzt
hat, ist D a n i e l - H e n r y Kahnweiler. In seiner Arbeit »Der Weg z u m Kubismus« 7 gibt er
eine D e u t u n g dieser Bewegung. Er hat auch eine wichtige Arbeit über Juan Gris ge-
schrieben. 8 Ich will n u n versuchen, seine Darstellung wiederzugeben. Anschließend ist
zu prüfen, ob sie tragfähig ist.
Zunächst zur Perspektive. Im H i n t e r g r u n d des Bildes wird ein fester Abschluß ge-
geben, der den Sehraum beschränkt.
Statt eines vorgetäuschten fernen Horizonts, gegen den sich der Blick verliert, schließt z.B.
in der Landschaft eine Berglinie den gemalten dreidimensionalen Raum, bei Stilleben oder
Akten die gemalte Zimmerwand.9

U n d zur Darstellung der Lage der Dinge im R a u m sagt er:


Anstatt von einem angenommenen Vordergrund auszugehen, geht der Maler von einem
festgelegten und dargestellten Hintergrund aus. Von diesem ausgehend, arbeitet sich der
Maler nach vorne, in einer Art Formenschema, in dem die Lage jedes Körpers deutlich dar-
gestellt ist, durch sein Verhältnis zu dem festgelegten Hintergrunde und den andern Kör-
pern. Diese Anordnung wird also ein deutliches plastisches Bild ergeben.10

In das Bild werden dann »reale« Einzelheiten eingeführt, die Erinnerungsbilder her-
vorrufen. Aus dem realen Reiz und dem Form-Schema konstituiert sich der Gegen-
stand. U n d er k o m m t zu dem Schluß, »wird das einmal erkannte O b j e k t im Gemälde
»gesehen«, als dargestellt mit einer Eindringlichkeit, deren eine illusionistische Kunst
unfähig ist.«" U n d zur Farbe sagt er:

7 Daniel-Henry Kahnweiler, Der Weg zum Kubismus. Stuttgart 1958.


8 Daniel-Henry Kahnweiler, Juan Gris. Paris 19465.
9 Kahnweiler (Anm. 7), S. 40.
10 Ibid., S. 52.
11 Ibid., S. 52.
D E R KÜNSTLER ALS HERRSCHER: PICASSO 229

Was die Farbe betrifft, so war ihre Verwendung als Helldunkel in Wegfall gekommen. Sie
konnte also frei verwendet werden. [...] Zur Darstellung der Lokalfarbe genügte es, diese auf
ganz geringer Ausdehnung anzubringen, damit sie im Bewußtsein des Beschauers dem ferti-
gen Gegenstand einverleibt werde.12

D e r Maler erhält eine unerhörte Freiheit, da er nicht an das »naturähnliche« optische


Bild g e b u n d e n ist. Die Darstellung braucht nicht »die immerhin geschlossene der ste-
reometrischen Zeichnung zu sein,« 13 durch die die »primären Eigenschaften« gefaßt
w e r d e n sollen. Kahnweiler ist optimistisch, w e n n er behauptet:

Die Assimilation tritt zwar am Ende ein; um sie jedoch zu beschleunigen und den Beschau-
er auf ihre Notwendigkeit hinzuweisen, sollten kubistische Bilder stets mit beschreibenden
Titeln versehen werden [...].H

N a c h Kahnweiler soll es vermieden werden, die Bilder als geometrische Konstruktio-


nen zu fassen, was anfangs geschah u n d deswegen auch zum N a m e n Kubismus in
Frankreich führte. Andererseits verweist Kahnweiler darauf - u n d das ausgehend von
seiner neu-kantianischen Position -

[...] die genannten geometrischen Formen liefern uns das feste Gerüst, auf das wir die aus
Netzhautreizen und Erinnerungsbildern zusammengesetzten Erzeugnisse unserer Einbil-
dungskraft auftragen. Sie sind unsere »Sehkategorien«. Wenn wir unseren Blick auf die
Außenwelt richten, so fordern wir, gewissermaßen, stets von ihr diese Formen, die sie uns
nie in ihrer ganzen Reinheit gibt. [...]

Wenn wir [...] das uns erscheinende Flachbild als dreidimensional erkennen wollen, was bei
jedem Blick geschieht, so ist das nur möglich durch unsere Kenntnis der einfachen stereo-
metrischen Gebilde. Ohne den Würfel gäbe es für uns kein Gefühl der Dreidimensionalität
der Körper überhaupt. [...] Unsere Kenntnis a priori dieser Formen [Würfel, Sphäre und
Zylinder] ist die Voraussetzung, ohne die es für uns kein Sehen, keine Körperwelt gäbe.15

Die Kahnweilersche D e u t u n g des Kubismus geht darauf, daß durch ihn die Sehkatego-
rien des M e n s c h e n gefaßt werden.
Durch Anlehnung an diese Urformen, die die Grundlagen des menschlichen Körpersehens
und -empfindens sind, gibt er die deutlichste Erläuterung und Begründung aller Formen.
Die unbewußte Arbeit, die wir vor jedem Gegenstande der Körperwelt vornehmen müssen,
um seine Form zu erkennen, um uns ein genaues Bild von ihm zu schaffen, erleichtert uns
das kubistische Gemälde, indem es uns die Beziehungen dieses Körpers zu den Urformen
zeigt [...]."

Dies U r f o r m e n liegen dem dargestellten Gegenstand zugrunde, sie sind »nicht mehr
»gesehen« aber die Grundlage der gesehenen Gestalt«. 1 7
Ich möchte n u n versuchen, kurz eine Kritik dieser D e u t u n g vorzubringen.

12 Ibid., S. 52 f.
13 Ibid., S. 61.
14 Ibid., S. 62.
15 Ibid., S. 68.
16 Ibid., S. 85.
17 Ibid., S. 85.
230 WALTER BIEMEL

Es stimmt, daß die Tiefenperspektive aufgegeben wird, daß sie ersetzt wird durch
eine Flächen-Perspektive, einen Flächenraum. Es stimmt, daß das Bild abgeschottet
wird. Was aber fragwürdig ist, ist die Behauptung, daß durch diese Darstellungsweise
die Urformen sichtbar werden, die Sehkategorien, die sonst nicht gesehen werden. Und
daß die Gegenstände nun besser erfaßt werden, deutlicher in Erscheinung treten als bei
der »illusionistischen« Erscheinungsweise. Was hier nach mir wirklich geschieht ist,
daß der Künstler begreift, daß er über die Gegenstände verfügen kann, daß er ihrer
Herr werden kann. Er hat das Vermögen, sie aufzulösen, in eine Vielheit von Teilen zu
verwandeln. Er tritt jetzt in den Vordergrund, seine Kraft der Verwandlung. Nicht das
Zurückfinden der Urformen geschieht, sondern das Erfahren der Kraft der Auflösung
und Zusammensetzung, nach dem Willen des Künstlers. Der Gegenstand wird nicht
besser erkannt, sondern er wird entfremdet, (siehe Abb. 1: Der Akkordeonspieler.) Es
bedarf einer Anstrengung des Betrachters, den Gegenstand zu rekonstruieren. Er gibt
sich Rechenschaft, daß diese Verwandlung das Werk des Künstlers ist. Der Künstler
tritt in den Vordergrund, nicht als der etwas schon Bestehendes Wiedergebende, son-
dern vielmehr als der, der das Schon-Bekannte zu verwandeln vermag. Es unterliegt sei-
ner Gestaltungskraft, die als Zer-Setzung (dies Wort nicht in der negativen Bedeutung
gebrauchen) zum Erscheinen tritt. Deswegen genügt eine einfache Zer-Teilung nicht,
sie muß so weit getrieben werden, daß das ursprüngliche Motiv nun vom Betrachter
gesucht werden muß. Und weil diese Suche vergeblich zu sein droht, deswegen werden
dann reale Teile eingefügt und es wird gefordert Namen, Titel für die Bilder zu geben,
sonst könnten sie als ungegenständliche Gestaltungen verstanden werden.
Diese Zer-Teilung, Auflösung erfordert vom Künstler eine große Arbeit. In der Auf-
lösung entsteht ein bestimmter Rhythmus der Teile zueinander. Es ist zweifellos auch
wichtig, daß abgesehen wird vom Reichtum der Farben, wie er zuvor bei den Fauves
der Fall war. Jetzt bestimmt der Künstler, wie er bei einer äußersten Beschränkung der
Farbskala in dieser Beschränktheit doch nicht Uniformität schafft, sondern im Gegen-
teil zu einem genauen Hinsehen zwingt und dem Auffinden der Nuancen. Man kann,
auf die Farbe bezogen, sagen, wie bei der Perspektive auf die Tiefenperspektive ver-
zichtet wird, wird bei der Farbe auf die Vielfalt der Farben verzichtet. Aber das heißt
keineswegs ein Verzichten auf Volumen.
Mein Vorschlag: es geht den Kubisten nicht um ein Aufdecken der Sehkategorien,
sondern um ein Aufdecken der Macht des Künstlers, der den Gegenstand verwandeln
kann und dabei als der Verwandelnde in den Vordergrund tritt. Wir sind am Gegenpol
der Mimesis. Deswegen erscheint es mir unangemessen zu behaupten, durch diese Dar-
stellungsweise werde der Gegenstand besser, realer erfaßt als bei der illusionistischen
Darstellungsweise.
Picasso (und Braque) haben hier gezeigt, daß es eine neue Weise der Darstellung
gibt, die dem Künstler neue Möglichkeiten eröffnet, gerade indem er sich von einer
Wiedergabe (sie sei noch so schön) entfernt. Picasso hat gezeigt, es gibt eine neue
künstlerische Sprache, die von ihm (und Braque) erfunden wurde. Das ist ein entschei-
dender Schritt auf dem Weg des Künstlers zum Herrscher. Wer so die Welt verwandeln
kann, ist den Dingen nicht ausgeliefert, sondern beherrscht die Dinge. Um sich das zu-
zumuten, muß der Künstler sich kräftig fühlen. Er geht ein großes Risiko ein, indem er
die herrschende Sprache ablehnt und durch eine neue ersetzt. Das ist Picasso gelungen.
DER KÜNSTLER ALS HERRSCHER: PICASSO 231

Abb. 1 Der Akkordeonspieler (1911)

Der Kubismus erfaßte bald ganz Europa und wenn die Phase des analytischen Kubis-
mus auch nicht lange dauerte, sie war eine siegreiche Sprache. Ich sagte schon, ein
großes Selbstbewußtsein gehört dazu und das Wissen um die eigenen Fähigkeiten, ein
Durchsetzungsvermögen, wie es den Herrscher bestimmt.
Um das noch einmal zu formulieren. Der Künstler dreht sich nicht um das Sichtba-
re, das vorliegende Gesehene, sondern er initiiert eine neue Sprache. Bei dieser Sprache
geschieht eine Wandlung. Der Sprechende tritt in den Vordergrund, nicht das natürlich
Erscheinende. Der Sprechende bestimmt, wie die Sache zu erscheinen hat. Dazu gehört
auch die Verwandlung des Raumes, von einem Tiefenraum zu einem Flächenraum, wie
wir gesehen haben.
Bei der Auseinanderlegung des Objekts verwendet man oft geometrische Elemente,
gerade geschnittene Linien, Dreiecke, Kuben, stereometrische Momente. Nicht weil
das die Urformen, die Grundkategorien des Sehens sind, sondern weil der Künstler
entscheidet, wie die Gegenstände zerlegt, zerschnitten aufgebaut werden können. Es
kommen keine spannungsgeladenen Linien vor, wie bei van Gogh - dabei tritt ja auch
der Künstler in den Vordergrund und ladet das Gesehene auf mit psychischen, explo-
dierenden Elementen - hier bleibt der Künstler cool. Das Dargestellte ist nicht das Ge-
sehene der Expressionisten oder der Fauves, das Dargestellte ist das vom Künstler
struierte, in nüchternen Überlegungen, mit großem Können. Wir sahen schon, er hat
sich nicht nach dem Gegenstand zu richten, um ihn wiederzugeben, sondern er baut
ihn auf und zwar so, daß der Betrachter gezwungen wird, auf diesen Aufbau einzuge-
hen, ihm zu folgen. Dabei kann es sein, daß der Betrachter den vom Künstler gegebe-
232 WALTER BIEMEL

Abb. 2 L'afictonado (1912) Abb. 3 Ma jolie (1911-13)

nen Titel gar nicht, oder nur mit großer Mühe identifizieren kann. (Beispiel: »L'aficio-
nado«, 1912). (siehe Abb. 2: L'aficionado.) Deswegen wird dann in das Bild geschrie-
ben, der Name gesetzt, um zu helfen. Das ist kein Mangel, denn wir sind ja hier nicht
mehr bei der überlieferten Darstellung, wo durch den Titel die Identifizierung des Dar-
gestellten ermöglicht wird. Hier liegt der Gegenstand, die Sache nicht schon vor, son-
dern sie wird vom Künstler erst konstruiert, aufgebaut. Und dabei muß seine Kunst
des Aufbauens zum Vorschein kommen, das ist das entscheidende. Wir können sagen,
je schwieriger der Betrachter mit dem Bild zurecht kommt, desto zufriedener kann der
Künstler sein, denn er tritt als der Gestalter in den Vordergrund. Während beim tradi-
tionellen Bild mit dem Wort Landschaft oder Stilleben gesagt ist, was hier zu sehen ist.
Der Betrachter hat das nicht zu suchen, es ist ihm schon gegeben, woraus die Gefahr
für den naiven Betrachter besteht, weiter gar nicht mehr zu sehen, man weiß ja, was
hier vorliegt, ist das hier anders. Im Bild »Ma jolie« (Auch Frau mit Gitarre) (siehe
Abb. 3: Ma jolie.) sieht er weder die Frau, noch die Gitarre, wohl aber das Wort »Ma
jolie«, das geschrieben steht. Er sieht nur stereometrische Formen, die ineinander oder
zueinander geschachtelt sind. Innerhalb dieser Fragmente bildet sich gelegentlich ein
Wirbel, wie in »Mann mit Gitarre«, (siehe Abb. 4: Mann mit Gitarre.) der das Sehen
noch schwieriger macht. Denn der Wirbel entspricht nicht einem seelischen Zustand,
wie bei van Gogh, von dem wir mitgerissen werden können, sondern der Wirbel ist
Ausdruck des Könnens des Künstlers. Er bestimmt, was wo zu stehen hat und wie die
DER KÜNSTLER ALS HERRSCHER: PICASSO 233

Abb. 4 Mann mit Gitarre (1911-13) Abb. 5 Le poete (1911)

verschiedenen Elemente zu einer Einheit gebracht werden können. Aber nicht im Sinne
eines »puzzle«, wo durch die Zusammenstellung schließlich ein einheitliches, ruhiges
Bild zustande kommt, sondern hier wird verlangt, daß die Elemente in ihrer vom
Künstler gewählten Beziehung stehen bleiben, also in der Spannung, die zwischen ih-
nen hergestellt wurde, und daß dann doch auch ein Verweis auf den Gegenstand sicht-
bar wird. Der Gegenstand, der nicht mehr ein geschlossener, einheitlicher ist, wie wir
ihn kennen, aus dem Alltag kennen, sondern ein vom Künstler zergliederter.
Der Künstler ist der Wissende und aus seinem Wissen Gestaltende. Das ist eine be-
stimmte Form des Herrschens, eben aus dem Wissen heraus. Es ist aber nicht das tech-
nisch berechenbare Wissen, das erlernbar ist. Jeder konstruierte Bild-Gegenstand ist
ein einzelner und insofern unwiederholbarer. Daß der Künstler in seinem Konstruieren
sich Grenzen auferlegt hat, ist nicht eine Schwäche, sondern im Gegenteil eine Stärke,
denn nicht der Gegenstand bestimmt die Grenzen, sondern er selbst, im Gestalten des
Gegenstandes. Die Sparsamkeit der Mittel, die Reduzierung der Formen-Sprache, die
oft geometrische Elemente verwendet, ist ein Zeichen seiner Macht.
Noch ein Wort zur Farbe. Wenn das Konstruieren das Entscheidende ist, darf auch
nicht die Farbe des Vorliegenden maßgebend sein, denn das würde ja eine Abhängigkeit
vom Gegenstand bedeuten. Der Künstler entscheidet über die Farbgebung. Seine Stär-
ke besteht - es wurde schon kurz darauf hingewiesen - in der Reduktion der Farbskala.
(siehe Abb. 5: Le poete.) Beim analytischen Kubismus sind Grau und Ocker die zentra-
234 WALTER BIEMEL

Abb. 6 Nuäla drapene (1907)

Abb. 7 Les demoiselles


d'Avignon (1907)
DER KÜNSTLER ALS HERRSCHER: PICASSO 235

Abb. 8 Le reservoir d'Horta de


Ebro (1909)

len Farben, also eigentlich die Farben, die die Farbigkeit verleugnen, nur eine Grenze
von Farbigkeit zulassen. Und hier zeigt sich die Kraft des Künstlers, des Gestaltenden,
was für eine Variationsbreite, sozusagen eine Breite an Mini-Variationen er zu verwirk-
lichen vermag. Da, wo scheinbar gar nicht variiert werden kann, ist er zu Variationen
fähig. Jetzt, wo nicht die Dinge entscheidend sind (sie waren es nie allein), sondern der
Künstler als Gestalter und Organisator, können stille Töne stark wirken. Der Künstler
beraubt den Betrachter nicht, sondern er erzieht ihn um. So daß der Betrachter an die-
ser Reduktion, an der Möglichkeit, diese Reduktion zu erfassen, eine große Freude ver-
spürt. Das ist keine arte povera, sondern eine Entdeckung des Reichtums an Nuancen.
So konnte es geschehen, daß diese Kunstrichtung, diese Kunstsprache eine große Wir-
kung erzielte. Der Künstler bewies sich als der Herrscher über das Seiende, das er dar-
stellte, er war nie ungegenständlich. Aber das Seiende, das er zeigte, war nie ein vom
Künstler unabhängiges, auf das er einging, sondern ein von ihm in der Zergliederung
aufgebautes. Der Kubismus berief sich auf Cezanne und seinen Ausspruch - aber er
steht am Gegenpol zu Cezanne, der in seiner Darstellung ganz dem sichtbar Gemach-
ten aufging, um hier nur an seine Darstellung des Mont Ste Victoire zu erinnern, und
auch an seine Stilleben.
So viel zu der ersten Phase des Wirkens von Picasso als dem Künstler im Sinne des
Herrschers, der uns zeigt, wie die Dinge zu sein haben, als konstruierte des Schaffen-
den.
Es gehört Mut dazu, die neue Sprache der Kunst den Mitmenschen zuzumuten.
Aber Herrscher haben diesen Mut, dies Selbstvertrauen. Nicht alle Künstler akzeptier-
236 WALTER BIEMEL

Abb. 9 Mädchen mit Mandoline (1910)

ten sie - um hier nur an Chagall und Matisse zu erinnern, aber die Ausstrahlung des
Kubismus ist erstaunlich. Picasso selbst blieb nicht bei dieser Sprache stehen.
Kurz zur Erinnerung an diesen Wechsel der Sprache. Einen Anstoß gab 1907 das Se-
hen afrikanischer Skulpturen im ethnographischen Museum im Palais de Trocadero.
Derain und Matisse hatten schon Masken gesammelt, aber Picasso war bis dahin noch
nicht auf sie gestoßen.18 Im Sommer 1907 entsteht »Nu ä la draperie«, (siehe Abb. 6:
Nu ä la draperie.) das ist der entscheidende neue Ansatz und dann »Les demoiselles
d'Avignon«. (siehe Abb. 7: Les demoiselles d'Avignon.) Ein Übergang ist auch die prä-
kubistische Landschaft »Le reservoir d'Horta de Ebro«. (siehe Abb. 8: Le reservoir
d'Horta de Ebro.)
Im Text war ich gleich auf die radikale Form der Verfremdung bzw. der Re-Kon-
struktion eingegangen, um den Schock zu verdeutlichen, der durch die neue Sprache
ausgelöst wurde. Jetzt möchte ich noch eine Übergangsform zeigen, bei der das Sujet
verhältnismäßig leicht zu erkennen ist. »Mädchen mit Mandoline« von 1910. (siehe
Abb. 9: Mädchen mit Mandoline.) Das Mädchen wird vor einem Hintergrund gestaltet.
Später ist die Person nicht mehr von dem Hintergrund lösbar, verwächst mit ihm wie
beim Akkordeon-Spieler. Aber die für den Kubismus typische stereometrische Dar-
stellung ist schon erreicht.

18 Vgl. Katalanische Kunst des 20. Jahrhunderts (Anm. 4), S. 87.


DER KÜNSTLER ALS HERRSCHER: PICASSO 237

Abb. 10 Zwei nackte Frauen (1920)

1912 bis 14 ist die Zeit des siegreichen Kubismus. Es sei auch an die umfassende Ar-
beit von Pierre Daix hingewiesen, »Journal du cubisme«.19 Es sollte nicht versucht wer-
den, die kubistische Bewegung als Ganze zu analysieren, sondern wir beschränken uns
auf die Bedeutung des Kubismus in Picassos Werk.

Zum Übergang

Wenn der Künstler die Macht hat, die Sprache der Gestaltung zu bestimmen, so kann er
auch den Wechsel der Sprache bestimmen. Das finden wir auch bei Picasso - nach der
Phase des analytischen Kubismus und des synthetischen Kubismus vollzieht er plötz-
lich einen Wandel, den man als Rückkehr zum Klassizismus bezeichnen kann. Dafür
nur ein Beispiel, das Bild »Zwei nackte Frauen« (siehe Abb. 10: Zwei nackte Frauen.)
von 1920, das sich in London befindet. Eine sehr realistische Gestaltung zweier Frau-
enkörper, geradezu plastisch die beiden Gestalten, die aneinander gelehnt dargestellt
sind. Aber das nur als Zwischenbemerkung, vor dem Übergang in die Zeit Ende der
dreißiger Jahre und Anfang der vierziger Jahre.

19 Pierre Daix, Journal du cubisme. Paris 1982.


238 WALTER BIEMEL

II. Picassos D a r s t e l l u n g d e r F r a u e n

In Picassos Darstellung der Frauen sehe ich eine neue Phase des Künstlers als H e r r -
scher. D a ich in meinem Versuch über die Polyperspektivität bei Picasso 20 dieses T h e m a
ausführlich behandelt habe, kann ich mich hier darauf beschränken, einige wichtige
P u n k t e in Erinnerung zu bringen. Ich gehe aus von dem Frauenbildnis von 1946, das
sich in der Sammlung Nordrhein-Westfalen befindet, (siehe A b b . 11: Frauenbildnis.)
Wir sind zunächst wieder an die kubistische Sprache erinnert, nicht in der Radika-
lität des analytischen Kubismus. Die am häufigsten v o r k o m m e n d e F o r m ist das D r e i -
eck, das Gesicht besteht aus einer Ansammlung von Dreiecken. D e r Hals ist von einem
Dreieck gebildet, das wiederum in zwei Dreiecke zerlegt ist. Die A r m e sind dreiecks-
haft zusammengestückt. D e r Busen wird zum rechtwinkligen Dreieck. Als Gegenge-
wicht haben wir gebogene Linien, die K o n t u r e n der A r m e , des Rückens, der Schultern,
die geschwungene F o r m des H u t e s . Das Widerstrebende der verschiedenen Elemente
ist noch betont durch senkrechte und waagerechte Linien. 21 Die Geometrisierung
wirkt sich nicht auf die Darstellung des Stuhles aus.
Was bei diesem Frauenbildnis auffällt, ist die Darstellung des Kopfes gleichzeitig aus
verschiedenen Perspektiven. Die verschiedenen Perspektiven sollen nicht übersehen
werden, das wird durch die Nägel, die in verschiedene Richtungen weisen, deutlich ge-
macht.
Was hat die Geometrisierung, von der wir ausgingen, mit der mehrfachen Perspekti-
ve zu tun? Zunächst, was geschieht, wenn wir eine Person durch geometrische Figuren
darstellen. Wenn wir die F o r m e n des Gesichts nicht in ausdrucksgeladenen Linien zu
fassen versuchen, in Linien in denen das Gelebte seinen Niederschlag findet.

Wir vereinfachen, wir reduzieren das kaum Ausdrückbare auf ein leicht Faßbares. Die
geometrische Form ist übersichtlich, ja sogar in Zahlen ausdriickbar und folglich berechen-
bar.22

Das Gesehene wird transparent.

Picasso demonstriert, daß die optimale Gegebenheit keineswegs in einer optimalen Anpas-
sung an das Vorliegende bestehen muß, sondern in einer Verwandlung des Vorliegenden auf
ein vom Subjekt bereitgestelltes Schema bestehen kann.23

Ich habe in meiner D e u t u n g zu zeigen versucht, daß

[...] die repraesentatio bei Descartes, wie Heidegger sie auslegt, im künstlerischen Bereich
von Picasso vollzogen wird. »Vorstellen bedeutet hier: das Vorhandene als ein Entgegenste-
hendes vor sich zu bringen, auf sich, den Vorstellenden, zu beziehen und in diesem Bezug
zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzwingen.«24

20 Walter Biemel, Zu Picasso - Versuch einer Deutung der Polyperspektivität. In: Gesammelte Schriften.
Stuttgart 1996, Band 2, S. 29 ff.
21 Ibid., S. 38.
22 Ibid., S. 45.
23 Ibid., S. 46 f.
24 Ibid., S. 47.
D E R KÜNSTLER ALS HERRSCHER: PICASSO 239

Abb. 11 Frauenbildnis (1946)

Deswegen fällt der gesamte Ausdrucksbereich fort. U n d nicht deswegen, wie Kahn-
weiler meint, weil das so Dargestellte besser dem »Begriff« Frau entspricht oder irgend-
welchen Sehkategorien.
Die Ausdruckslinie, durch die die Einzigartigkeit der Person gefaßt werden sollte,
ist ersetzt d u r c h die Verfügungslinie; »nicht auf das Darzustellende in seiner Selbstän-
digkeit, s o n d e r n in seiner Abhängigkeit vom Darstellenden k o m m t es an.« 25
Wie verhält sich nun die Geometrisierung zur Polyperspektivität, also der Darstel-
lung der Person gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln? Es ist ein und dasselbe
Geschehen.

Durch die Geometrisierung soll das Darzustellende so verwandelt werden, daß es leicht faß-
bar und durchsichtig wird. Damit diese Forderung erfüllt werden kann, ist erforderlich, daß
das Sich-zeigende dem Beschauer keine Seite entzieht [...].*

Die verschiedenen Seiten können so dargestellt werden,


[...] daß gleichsam die Oberfläche abgezogen und aufgespannt wird. Das ist aber unzurei-
chend; bei der Reduktion der Körperlichkeit auf die Fläche muß doch das Moment der Kör-
perhaftigkeit angedeutet werden, das geschieht so, daß das aus den verschiedenen Blick-
punkten Gesehene in verschiedenen Stellungen wiedergegeben wird, sozusagen um eine
Zentralachse gedreht, bzw. zu ihr variiert wird.27

25 Ibid., S. 48.
26 Ibid., S. 48.
27 Ibid., S. 49.
240 WALTER BIEMEL

Abb. 12 Weibliches Brustbild

Ich habe zu Beginn festgestellt, daß die am häufigsten vorkommende Figur das Dreieck
ist. Warum ist das so? Weil das Dreieck die einfachste Flächenfigur ist. Soll das Gesehe-
ne vereinfacht werden, entspricht die einfachste Flächenfigur dem am besten. Aber
warum ist die Vereinfachung angestrebt, wer verlangt dies? »Der verfügende Wille des
sehenden Subjekts. Wir können auch sagen: Das sich als Wille begreifende und ver-
wirklichende Subjekt.«28 Wir werden vom Gesehenen zurückverwiesen auf den Sehen-
den, und dieser zeigt seine Gewalt in der Verwandlung des Gesehenen. Picasso hat das
selbst ausgedrückt, wenn er sagt.
Ich verwende in meinen Bildern alle Dinge, die ich gerne habe. Wie es den Dingen dabei er-
geht, ist mir einerlei - sie müssen sich eben damit abfinden.29

Je größer der Abstand ist von dem Anblick des Vorliegenden, bevor der Künstler es
sieht, zu dem, den es durch seine verwandelnde Macht durchmacht, desto deutlicher
wird die Kraft seines Gestaltens und das heißt die Kraft seines Willens. »Der Wille hat
sich nicht nach dem Vorliegenden zu richten, sondern er hat über es zu verfügen.«30
Durch die Darstellung in der Weise der Polyperspektivität geschieht solch ein Verfü-
gen. Wir finden bei Nietzsche eine Vorwegnahme dieses Prozesses.

28 Ibid., S. 50.
29 Pablo Picasso, Wort und Bekenntnis. Zürich 1954, S. 29.
30 Biemel (Anm. 20), S. 51.
DER KÜNSTLER ALS HERRSCHER: PICASSO 241

Abb. 13 Portrait (1941)

Die logische und geometrische Vereinfachung ist eine Folge der Krafterhöhung: umgekehrt
erhöht wieder das Wahrnehmen solcher Vereinfachung das Kraftgefühl [...] Spitze der Ent-
wicklung: der große Stil.31

Die Frau ist nicht mehr ein geheimnisvolles Wesen, das uns verzaubern kann, dessen
Charme wir unterliegen, sondern sie ist zu einem Objekt geworden, das dem Darstel-
lenden ausgeliefert ist. Daß das kein Einzelfall ist, soll kurz an einigen Beispielen de-
monstriert werden. »Weibliches Brustbild« (siehe Abb. 12: Weibliches Brustbild.) - ich
sage nicht viel dazu, sondern lasse Sie selbst sehen. 2. Portrait 1941, (siehe Abb. 13:
Portrait.) 3. Femme en bleu, (siehe Abb. 14: Femme en bleu.) 4. Sitzende Frau, 1941,
(siehe Abb. 15: Sitzende Frau.) 5. Frau im Sessel, Oktober 1941, (siehe Abb. 16: Frau
im Sessel.) 6. Ein früheres Bild von Therese Walter von 1937 (siehe Abb. 17: Therese
Walter.) -hier ist die Verunstaltung noch zurückhaltend - 7. Frau mit Hut, 1935. (siehe
Abb. 18: Frau mit Hut.) Die Reihe läßt sich mit Leichtigkeit fortsetzen. Wir können
zwei Grundvariationen unterscheiden: Auffalten des Gesichts in mehrere Flächen oder
das Einfalten der Perspektiven, ihre Zusammendrängung. Nur eine Bemerkung, diese
verunstaltende, verzerrende Darstellung findet sich meines Wissens nur auf die Dar-
stellung der Frau appliziert, also den weiblichen Partner.
Es kommt darauf an, daß wir beim Betrachten der Frauen-Darstellungen die Dop-
pelstruktur verstehen. Zunächst suchen wir nur das Objekt, das verwandelt wird.

31 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Werke. Der Wille zur Macht, No. 800.
242 WALTER BIEMEL

Abb. 14 Femme en bleu

Abb. 15 Sitzende Frau (1941)


D E R KÜNSTLER ALS HERRSCHER: PICASSO 243

Abb. 16 Frau im Sessel


(Oktober 1941)

Abb. 17 Therese Walter (1937)


244 WALTER BIEMEL

Abb. 18 Frau mit Hut (1935)

»Wir begreifen noch nicht, daß die Frau nicht als solche in Erscheinung tritt, son-
dern als Widerständiges, das sich der Wille aussucht, u m daran seine Formungskraft zu
erproben.« 3 2
Aber wir müssen dann eben gerade auch den Willen und seine Kraft der Verwand-
lung sehen u n d verstehen, auch das M o m e n t der Grausamkeit, das hier zum Vorschein
k o m m t . Ich sage zu dieser Weise der Darstellung:
Sie [sc. diese Bilder] ziehen an, wirken beglückend, sofern der Wille in seiner Mächtigkeit
erfahren wird, und sind bedrückend, insofern der Wille zur Grausamkeit wird und sein Wi-
derständiges erbarmungslos zerstört, um seine Gewalt zeigen zu können, [und fügte hinzu:]
Was wir hier aus Picassos Werken erfahren, ist ein Prozeß, in dem wir mitten drinnen ste-
hen, ohne ihn wahrhaben zu wollen. In dem Augenblick, wo der Mensch den Mitmenschen
als Objekt, über das er sich eine absolute Verfügungsgewalt anmaßt, betrachtet, beginnt eine
neue weltgeschichtliche Epoche.33

D a ß die verzerrende Frauen-Darstellung einen erniedrigenden Zug a n n e h m e n kann,


wird in dem Bild, das z u m Bestand des C e n t r e P o m p i d o u gehört u n d das ich kürzlich
bei der Ausstellung des Bestandes des Centre P o m p i d o u im Musee d ' A r t M o d e r n e de
la Ville de Paris gesehen habe, deutlich. »La Pisseuse« - die urinierende Frau.
Aber ich will nicht diesen G e d a n k e n weiter verfolgen, sondern diese Ausführungen
mit einem Bild von Picasso abschließen, einem Bild das für mich so etwas wie ein Be-

32 Biemel (Anm. 20), S. 62.


33 Ibid., S. 65.
D E R KÜNSTLER ALS HERRSCHER: PICASSO 245

kenntnis Picassos zu dem Künstler als Herrscher darstellt, anders formuliert, einem
Bild, in dem Picasso den Künstler als wahren Herrscher gestaltet.

I I I . Las M e n i n a s in Picassos U m g e s t a l t u n g .

In seiner Arbeit »Les mots et les choses« 3 4 hat Foucault eine anregende u n d geistvolle
Analyse dieser Arbeit v o n Veläzquez (siehe A b b . 19: Veläzquez: Las Meninas.) gege-
ben, gezeigt, wie sich in diesem Bild ein Geflecht von Beziehungen entfaltet. »Er [sc.
der Maler] fixiert einen unsichtbaren P u n k t , den wir Betrachter aber leicht bestimmen
k ö n n e n , weil wir selbst dieser P u n k t sind: unser Körper, unser Gesicht, unsere A u -
gen.« 3 5 Vom Maler bildet sich eine Linie zu uns, den Betrachtern.

Dem Anschein nach ist die Beziehung einfach, sie ist eine solche der reinen Gegenseitigkeit.
Wir betrachten ein Bild, aus dem heraus ein Maler uns anschaut. Es ist nichts anderes als ein
Sich-gegenüberstehen, sich überraschende Augen, Blicke, die sich kreuzen und dadurch über-
lagern. Dennoch umschließt diese dünne Linie der Sichtbarkeit ein komplexes Netz von Un-
sicherheiten, Austauschungen, Ausweichungen. Der Maler lenkt seine Augen nur in dem
Maße auf uns, in dem wir uns an Stelle seines Motivs befinden. Wir, die Zuschauer, sind noch
darüber hinaus vorhanden. Von diesem Blick aufgenommen, werden wir von ihm auch ver-
drängt und durch das ersetzt, was zu allen Zeiten vor uns da war: das Modell.36

Von den Augen des Malers zu dem für uns unsichtbaren Modell und andererseits zu der für
uns unsichtbaren Vorderansicht der Leinwand bildet sich so etwas wie ein virtuelles Drei-
eck, in dem dies Bild erscheint.37

Das Außergewöhnliche, oder ein außergewöhnliches M o m e n t dieses Bildes besteht


darin, d a ß das Modell an der R ü c k w a n d erscheint - im Spiegel, Philipp der Vierte u n d
seine Gemahlin. Der Betrachter darf sich also nicht von dem unmittelbar Gesehenen so
fesseln lassen, daß er den eigentlichen Gegenstand dieses Bildes übersieht. Foucault
zeigt sehr schön wie ein Spiel vom Sichtbaren z u m Unsichtbaren hier ins Spiel gebracht
wird u n d wie der Vorgang der repraesentatio hier dargestellt ist.

Wir dürfen dies Bild nicht statisch betrachten, sondern müssen uns auf das Geflecht der Ver-
weisungen einlassen, das zur repraesentatio gehört, der Vor-stellung im strengen Sinne des
Wortes als Vor-uns-bringen der spezifischen Bezüge.38

Sehen wir nun Picassos Aufnahme dieses Motivs an und achten wir auf die vollzogene
Verwandlung, (siehe A b b . 20: Picasso: Las meninas.) Die von Foucault aufgezeigte Li-
nie vom Künstler zum Betrachter, zur Staffelei und z u m Spiegelbild ist nicht mehr
durchführbar. Die auffälligste Veränderung ist die der Gestalt des Künstlers. Er ist so
gewachsen, daß er bis zur Decke reicht. Bei Veläzquez reichte er bis zur Hälfte des
Raumes und dahinter befanden sich noch große Gemälde an der Wand. Diese sind ver-

34 Michel Foucault, Les mots et les choses. Paris 1966; deutsche Übersetzung: Die Ordnung der Dinge.
35 Ibid., Original: S. 20, Übersetzung S. 32.
36 Ibid., Original: S. 20, Übersetzung S. 32 f.
37 Walter Biemel, Kunst und Philosophie. In: Aachener Kunstblatter 48 (1978) 79, S. 224.
38 Ibid., S. 224.
246 WALTER BIEMEL

Abb. 19 Veläzquez:
Las Meninas

Abb. 20 Picasso: Las meninas (1957)


DER KÜNSTLER ALS HERRSCHER: PICASSO 247

drängt. Der Künstler ist zur Zentralgestalt des Bildes geworden, eine überdimensio-
nierte Person, die im Grunde genommen alles andere verdrängt. Gewiß, wir haben
noch die Infantin und die beiden Hoffräulein, aber verglichen mit dem Künstler sind
sie geschrumpft.
Der Künstler ist auch als blickender dargestellt, aber es ist ein ganz anderer Blick als
der im Bilde von Veläzquez. Der Maler sieht nicht auf eine für uns unsichtbare Person
(das Modell), sondern er blickt auf sich selbst. Die beiden Ansichten des Gesichts sind
einander zugekehrt. Die herabfallenden Haare rahmen diese Darstellung des Kopfes
ein. Der Maler ist der Sehende und der Gesehene. Auch die Palette ist verdoppelt. Er
hat ein herrschaftliches Gewand. Der Künstler ist eigentlich der Herrschende und nicht
der politische Herrscher. Picasso will dadurch zum Ausdruck bringen, daß sich die Si-
tuation des Künstlers entscheidend gewandelt hat. Er steht nicht mehr am Rande der
Gesellschaft, der Boheme zugeordnet, sondern im Mittelpunkt der Gesellschaft. Er
lehrt durch sein Werk die Mitmenschen sehen. Dazu gehört, daß er nicht mehr unter
dem Zwang der Mimesis steht, sondern vermag, die Welt seinem Willen gemäß zu ge-
stalten. Indem er sich in diesem Bild selbst anblickt, kommt das Moment der Reflexion
zur Darstellung, das - so meine ich - das Schaffen Picassos trägt, eines der fruchtbar-
sten Künstler dieses Jahrhunderts. Durch dies Schaffen hat sich Picasso die Stelle des
Herrschers erkämpft und vielleicht auch sichtbar gemacht, was dies Jahrhundert trägt
und bestimmt: der Wille zur Macht.
KLAUS VIEWEG (Jena)

Romantische Ironie als ästhetische Skepsis

Zu Hegels Kritik am Projekt einer »Transzendentalpoesie« 1

Untersuchungen zur Beziehung Hegel - Schlegel sind mit erheblichen Hypotheken in


Gestalt stereotyper Deutungsmuster belastet. Auf der einen Seite wird fortgeschrieben,
daß Hegels Ironie-Kritik mit Schlegels Ironie-Verständnis »nichts zu tun habe«, ja
»Lufthieben« gleiche.2 Es dominiere pure Polemik, es werde »nirgendwo auch nur ein
Versuch zu einem Verständnis der Ironie unternommen.« 3 Andererseits spielt in Versu-
chen einer Rekonstruktion der Formierung der Hegeischen Philosophie die Wirkung
Schlegelscher Gedanken nur in Ausnahmen eine Rolle.4 Beide Interpretationslinien be-
dürfen grundlegender Korrektur, Otto Pöggeler hat dies öfters eingefordert und die
Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß der junge Hegel und der junge Schlegel ähnliche
Pläne und Forderungen formulieren und daß Hegel gerade in den ersten Jenaer Jahren
in relevanter Weise sich auch auf Schlegel bezieht.5

Ironie und Negativität

Ein durchaus nicht fernliegender Gesichtspunkt fand erstaunlicherweise bisher kaum


Beachtung: das Verhältnis von Negativität und Skepsis in der Optik beider Denker.
Obschon die von Hegel anläßlich Solger vorgenommene Kennzeichnung des Kernge-
halts der Ironie - »unendliche absolute Negativität« - und auch der Hinweis auf die Ver-
wandtschaft der Negativität »mit dem ironischen Auflösen des Bestimmten und Sub-
stantiellen«'' aufgegriffen werden, bleibt das Beziehungsgefüge Negativität - Skepsis -
Ironie unterbelichtet. Somit wird ein entscheidender Zugang zu einem angemessenen

1 Weitere Überlegungen zu diesem Problemfeld finden sich in: K. Vieweg, Philosophie des Remis. Der
junge Hegel und das 'Gespenst des Skepticismus< . München 1999.
2 O . Walzel, Methode? Ironie bei Schlegel und Solger. In: Helicon 1 (1938), S. 48.
3 E. Behler, Ironie und literarische Modernität. Paderborn München Wien Zürich 1997, S. 124.
4 O t t o Pöggeler hat immer wieder auf dieses Desiderat der Forschung aufmerksam gemacht und auf
die verborgenen Fäden zwischen den beiden Denkwegen hingewiesen.
5 Vgl.: O . Pöggeler, Ist Schlegel Hegel? Friedrich Schlegel und Hölderlins Frankfurter Freundeskreis.
In: Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde. Stuttgart 1983, S. 340-348; ders., Die Entstehung der
Hegeischen Ästhetik in Jena. In: Hegel m Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenar-
beit mit Schelling, Hrsg. von D. Henrich u. K. Düsing. Bonn 1980, S. 252, ders., Nachwort zur N e u -
publikation der Promotionsschrift: Hegels Kritik der Romantik. München 1999, S. 229-239.
6 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. In: G. W.F. Hegel Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grund-
lage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus
Michel. Frankfurt a.M. 1969 ff. (Theorie Werkausgabe - TWA) Bd. 13, S. 98, 90.
250 KLAUS VIEWEG

Verständnis von Hegels Auseinandersetzung mit Schlegels Konzept der romantischen


Ironie verstellt. Kein Geringerer als Novalis hatte das offene Geheimnis der Ironie aber
schon unbefangen ausgeplaudert: Es handelt sich um ein »allgemeines Annihilationssy-
stem«.7 Im Denken des Jenaer Hegel steht eine neue Form von Antinomienlehre im
Zentrum, ein Konzept der Konstitution und Selbstaufhebung von Antinomien, der
»Selbstschöpfung« und »Selbstvernichtung«, das im Phänomenologie-Projekt des »sich
vollbringenden Skeptizismus« seine systematische Gestalt erhält. Mit einem Vergleich
der Verwandtschaft und Gegnerschaft der von Schlegel und Hegel entwickelten Strate-
gien einer impliziten oder internen Skepsis kann die Beziehung zwischen einer Philoso-
phie der Ironie und einer Philosophie des Absoluten in ein neues Licht gerückt wer-
den.8
Hegel, der die Ironie als einen wesentlichen Punkt im Verständnis der Begriffe der
neuesten Zeit begreift, nimmt in einer Stelle der Differenzschrift nicht nur direkt zu
Fichte, sondern indirekt auch zu frühromantischen Gedanken Stellung. Zum einen
deuten Schleiermachers Reden über Religion und »noch mehr die Würde, welche, mit
dunklerem oder bewußterem Gefühl, Poesie und Kunst überhaupt in ihrem wahren
Umfange zu erhalten anfängt, auf das Bedürfnis nach einer Philosophie hin, von wel-
cher die Natur für die Mißhandlungen, die sie in dem Kantischen und Fichteschen Sy-
steme leidet, versöhnt und die Vernunft selbst in eine Übereinstimmung mit der Natur
gesetzt wird [...] eine Einstimmung dadurch, daß sie sich selbst zur Natur aus innerer
Kraft gestaltet.«9
Diese Versuche sind für Hegel Indikatoren für die Notwendigkeit einer neuen Phi-
losophie der Subjektivität, keineswegs repräsentieren sie die von Hegel beabsichtigte
gänzliche Veränderung der Denkungsart. Sie peilen auf der Grundlage kritisch-skepti-
scher Prüfung die Überwindung des Dualismus der Transzendentalphilosophie an.
Schlegel hatte im Athenäum diese Absicht der Konzipierung eines »geistigen Inhalts
oder inhaltsvollen Geistes« auf den Punkt gebracht - »daß in der schönen Darstellung
die Natur idealisch und das Ideal natürlich sein soll«.10 Kunst wie Spekulation (Philo-
sophie) sind in ihrem Wesen Gottesdienst - »ein lebendiges Anschauen des absoluten
Lebens und somit Einssein mit ihm« - so Hegel; Poesie und Philosophie sind verschie-
dene Formen der Religion - so Schlegel." Gegen das kalte Herz des Verstandes, sein
scharfbeobachtendes Zergliedern und seine eisigen Gebote stellt die poetische Philoso-
phie das Streben nach Überwindung der Zerrissenheit von Subjektivität und Objekti-
vität. Die Welt soll als ein absolutes, lebendiges Ganzes begriffen werden. Andererseits
vermögen die frühromantischen Geister den Denkradius der Fichteschen Philosophie

7 Novalis, Das Allgemeine Brouillon. NS III, 292.


8 Ausführlich dazu: K. Vieweg, Philosophie des Remis, a. a.O.
9 Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. TWA 2, S. 13.
10 F. Schlegel, Athenäum. In: Friedrich Schlegel. Kritische Ausgabe seiner Werke. Hrsg. von Ernst Beh
ler, Paderborn München Wien Zürich. 1958 ff. (FS), II, 196 Nr. 198.
11 Vgl.: Hegel (Anm. 2) 113; Schlegel (Anm. 9), 260-261 Nr. 46.
ROMANTISCHE IRONIE ALS ÄSTHETISCHE SKEPSIS 251

nicht entscheidend zu überschreiten.12 Im Versuch seiner Überwindung wird der Dua-


lismus in neuer, nämlich poetisierender Form wiederhergestellt. Ausdruck dafür ist das
Oxymoron Transzendentalpoesie, womit das Projekt der romantischen Vereinigung
von Poesie und Philosophie beschrieben wird.
Das Wechselgrundsatz-Theorem charakterisieren Ernst Behler und Manfred Frank
übereinstimmend als Schlegels philosophischen Ausgangspunkt, der aus der kritischen
Anknüpfung an Fichtes früher Philosophie hervorgeht.13 1796 notierte Schlegel: »In
meinem System ist der letzte Grund wirklich ein Wechselerweis. In Fichte's ein Postulat
und ein unbedingter Satz«.14 In Vorlesungen nach 1801 - e i n Nachhall der Jenaer Z e i t -
rekapituliert er die scharfsinnige Fichte-Kritik und zwar indem er (ähnlich wie Hegel)
auf echt skeptische, isosthenische Art aufzeigt, daß die Wissenschaftslehre nicht auf ei-
nem Grundsatz, sondern auf zwei entgegenstehenden Sätzen fußt.15 In der Konstitu-
ierung seines Systems muß das Positive (da es nicht abgeleitet werden kann) in Gestalt
des Endlichen, durch dessen »Anstoß« die Selbstgesetzgebung des Ich erst veranlaßt
wird, hinzugesetzt werden..
Den Ausweg aus dieser Schwierigkeit sieht Schlegel in einem wechselseitigen Be-
stimmen von Negativität und Positivität, von Destruktion und Konstruktion, im ewi-
gen Wechsel von Skepsis und Enthusiasmus, von dogischer Insurrektion< und poetischer
Ekstase. Ernst Behler zufolge verbindet sich im Wechselerweis-Gedanken der Bezug
auf die sokratisch platonische Ironie mit der Anknüpfung an Fichte.16 Aus der Sicht
Schlegels repräsentiert Piaton musterhaft das Ironische - den »unaufhörlichen Wider-
streit des Bedingten und Unbedingten«. Die sokratisch-platonische Ironie zeichne sich
aus als »wechselnder Strom der Rede und Gegenrede, des Denkens und Gegenden-
kens«.17 Dem platonischen Philosophieren ist das skeptische Prinzip als die »negative
Seite« wie auch der poetische Enthusiasmus als »positive Seite« immanent. Im Bestreben
seine Sicht der sokratisch-platonischen Ironie mit dem modernen Stil der Selbstreflexi-
on zu verbinden, erfolgt - so Behler - die Umformulierung des Enthusiasmus zu
Selbstschöpfung und der Skepsis zur Selbstvernichtung. Stetes Alternieren von Expansi-
on und Kontraktion, ewiges Bestimmen durch ewiges Trennen und Verbinden, perma-

12 N u r ausgehend von den verschiedenen Facetten der Hegeischen Fichte-Deutung (Subjektivität, Dua-
lismus, Sehnen, Streben, Wechselbestimmung) läßt sich Hegels Jenaer Reaktion auf die romantische
Ironie Schlegels erschließen. N u r so kann deutlich werden, warum Hegel anläßlich Schlegel stets von
einem Denken spricht, das aus der Fichteschen Philosophie hervorgegangen, warum die Transzen-
dentalpoesie eine der Richtungen ist, die von der Fichteschen Philosophie der Subjektivität ausgeht,
warum die Ironie eine Wendung der Fichteschen Philosophie darstellt.
13 Vgl.: M. Frank, »Wechselgrundsatz« Friedrich Schlegels philosophischer Ausgangspunkt. In: Zeit-
schrift für philosophische Forschung, Bd. 50 (1996), S. 26-50; Behler (Anm. 2), bes. S. 92-114; ders.:
Einleitung zu: FS Bd. VIII, XLI-XLIII.
14 Schlegel, Aus der ersten Epoche. Zur Logik und Philosophie. 1796 (in Jena). FS XVIII, 521 Nr. 22.
15 Der Satz der Identität sei »unendlich gewiß, aber ganz leer«; »er hat eine unendliche Intensivität von
Wahrheit, aber eben deshalb gar keine Extension, und mithin seinen Feind in sich selbst, denn er hat
nichts Gewisses, als seine unendliche Einheit, als seine negative Idee der unendlichen Realität, woraus
er gar nichts Positives folgern kann.« (FS XII, 131). In diesem Sinne kann Schlegel von einem »negativ
skeptischen Verfahren« und vom Übergehen des Pantheismus in den Skeptizismus sprechen (ebd.).
16 Behler (Anm. 3), S. 92-114.
17 Schlegel, Philosophische Vorlesungen insbesondere über Philosophie der Sprache und des Wortes. FS
X, S. 353.
252 KLAUS VIEWEG

nentes Oszillieren von Synthesis und Widerspruch, immerwährendes Spiel zwischen


Thetik und Anti-Thetik - darin konzentriert sich der Gehalt des Ironischen. »Schlegels
berühmteste Formulierung für diesen alternierenden Fluß besteht aber in den Bezeich-
nungen Selbstschöpfung und Selbstvernichtung, die ebenfalls eine Gegenbewegung, ei-
ne Wechselbewegung zum Ausdruck bringt, die sich in Bejahung und Verneinung, ei-
nem überschäumenden Heraustritt aus sich selbst und in einer selbstkritischen Rück-
kehr in sich selbst, in der Abfolge von Enthusiasmus und Skepsis äußert.«18
Die Unternehmung Transzendentalpoesie - eine Variante der Ästhetisierung von
Philosophie - stößt im Laufe der Jenaer Zeit zunehmend auf Hegels Widerstand. Auch
in kritischer Distanzierung von früher selbst vertretenen Ideen versucht Hegel zu zei-
gen, daß Schlegel den inhärenten Dualismus im »Fichtisieren« in poetischer Form, näm-
lich im Konzept der Ironie als Spiel des Dualismus restituiert. Letztlich werde das Re-
flexionsphilosophieren konserviert, welches doch nur zum Antinomischen, zum Para-
doxen führt. Die Ironie als perpetuierende Reflexion erweist sich als moderne ästheti-
sche Version der Skepsis, geprägt von der ewigen Agilität des Spähens, der
überschäumenden Kreativität, aber auch von einer modernen Epoche. Wie die antike
Skeptik kann die »göttliche Frechheit« des Ironisierens als wirksames Instrument gegen
alles Dogmatische und Verknöcherte auftreten. Die Ironie bleibt aber - wie die antike
Verwandte - beim negativen Resultat stehen, hält im Paradoxen inne. Was Schelling ge-
legentlich des Kritizismus festhält, gilt auch für die romantische Ironie: Einerseits wer-
de das Widersprechende der Reflexion aufgewiesen, andererseits aber nichts gezeigt,
was über die Sphäre des Widerspruchs (der Antinomie) hinausgeht. Es handelt sich um
»schlechten Skeptizismus«, »der selbst ganz in der Reflexion verwachsen, mit ihr zu-
gleich die Philosophie selbst angegriffen und als spezielle vernichtet zu haben meint.«19
»Der doktrinelle Skeptizismus löst sich in Polemik und Kritik, im rein Negativen
auf«20 - dieses Diktum Schlegels trifft mit voller Kraft seine romantische Ironie selbst.
Im Gedanken der Reflexion ohne Ende, des steten Potenzierens wird das Antithetische
konstatiert und mit der Rede vom Streben und Schweben das Innehalten im Aporeti-
schen (»Paradoxen«) fixiert, darin liegt ein Grundmangel dieses Dualismus. Das ewige
Schweben zwischen den absoluten Gegensätzen verhindert die wirkliche Synthese.
Schlegel und Novalis reden immer nur vom »Verbinden«, geben aber nirgends an, wie
ein solches Verbinden aussehen könnte. Das Endliche soll durch beständige Addition
dem Unendlichen angenähert werden, ohne dies je erreichen zu können. Mit dieser
Denkform der Approximation gerät Schlegel in den von ihm selbst verworfenen Empi-
rismus. Das beständige Oszillieren von Synthesis und Vernichtung gleicht dem Drehen
der Gebetsmühle, die ewige Wiederholung des Gegensatzes führt zum nihil negativum.
Nur Endliches wird an Endliches gereiht, man verbleibt in der Kette der Endlichkeiten,
im Reich der Beschränkung und des Verstandes. Die permanente Wiederherstellung

18 Behler (Anm. 2), S. 131.


19 Schelling, Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie. SW 1/4, 365) - »Der wahre Skepti-
zismus ist ganz gegen die Reflexionserkenntnis gerichtet.« (ebd.)
20 Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern (Köln 1804-1805). FS XII, S. 129. »Skep-
tizismus ist, solang er fruchtbar und reell sein soll, Kritik [...] Die Kantische Philosophie ist zum Teil
eine solche Kritik.« (ebd., S. 131)
ROMANTISCHE IRONIE ALS ÄSTHETISCHE SKEPSIS 253

des Antithetischen bildet das ultimative Resultat. Im Streben manifestiert sich das Prin-
zip der Nicht-Identität, dies betrifft Fichte wie seine frühromantischen Jünger. »Jenes
verlängerte Dasein beschönigt die Entgegensetzung nur in der Synthese der Zeit, deren
Dürftigkeit durch diese beschönigende Verbindung mit einer ihr absolut entgegenge-
setzten Unendlichkeit nicht vervollständigt, sondern auffallender wird.«21
In dieser Hinsicht ist das frühromantische Philosophieren ein Denken der Unent-
schiedenheit und der Vertröstung auf den St. Nimmerleinstag. Auch der poetische salto
mortale - das allegorische Ahnen und Andeuten des Absoluten - wird sich als exakt
das erweisen, was Schlegel zum Jacobischen Sprung anmerkt: »Wenn man genauer hin-
schaut, so sieht man, daß »immer auf dem alten Fleck« des Verstandes verblieben wird,
der versuchte Überstieg mittels Gefühl, Ahnen und Sehnen gleicht »Don Quixotes
Luftreise auf dem hölzernen Pferde«22.
Wissen (als denkendes Erfassen) vom Absoluten wird bestritten, das Unbedingte
(auf das Schlegel nicht verzichten kann, da ohne unbedingtes Wissen kein bedingtes
möglich ist) vermag nur allegorisch gesagt werden. Es ist nur auszudrücken in der Un-
mittelbarkeit des Poetischen, in fragmentarischen Synthesen, in den Werken des Künst-
lers, »der gewohnt ist, im Lichte der Offenbarung zu wandeln«.23 Das Schicksal des ro-
mantischen Geistes kündigt sich an, die Haltlosigkeit ist nicht zu halten. Den einzig
festen Halt in der romantischen Subjektivität und »ewigen Agilität« bietet die unmittel-
bar gewisse, ästhetisch-künstlerische Offenbarung. Nur An- bzw. Hindeuten (auf et-
was, wovon man nichts weiß) ist möglich, anstelle der Wahrheit des Denkens soll die
Wahrheit des Schönen, des poetischen Anschauens treten. M. Frank zufolge rückt »die
Kunst in die Bastion des Begriffs ein und wird zum letzten und unüberbietbaren Aus-
druck unserer unverfügbaren Selbstvermittlung.«24
Schelling und Hegel haben dieses (gegenwärtig wieder sehr in Mode gekommene)
stete Alternieren von Entbergen und Verbergen, Lichten und Verdunkeln, Öffnen und
Verstellen treffend beschrieben: Das Höchste »ist nur da, inwiefern ich es nicht habe,
und inwiefern ich es habe, ist es nicht mehr.«25 Ein unerreichbares Jenseits werde pro-
klamiert, welches aber im Ergreifen entflieht oder vielmehr schon entflohen ist. Nur im
Gefühl, nur in Augenblicken poetischer Ekstase, in der Unmittelbarkeit ästhetischen
Schauens können es Auserwählte und Eingeweihte erfassen. Das Gebiet des Denkens
und argumentativen Prüfens wird verlassen und das Gebiet des Meinens, subjektiven
Einbildens oder Imaginierens wird betreten und zum Fundament der Philosophie er-
hoben. Das Philosophieren soll »poetisiert« werden. Hieraus wird verständlich, warum
Hegel anläßlich Schlegels Ironie von einer nicht-philosophischen Wendung der Fichte-
schen Philosophie spricht. Der Romantiker kann keine Idee des Unendlichen haben,
sondern nur Bilder, die aufs Absolute hindeuten.

21 Hegel (Anm. 8), S. 71 (Herv. K.V). Näher zur Frage der Zeit im frühromantischen Denken: M.
Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Frankfurt a.M. 1989, S. 247.
22 Schlegel (Anm. 9), 227 Nr. 346.
23 Ebd., 186 Nr. 131.
24 Frank (Anm. 20), S. 33.
25 Schelling (Anm. 18), 357 Fn 2.
254 KLAUS VIEWEG

Welches Kriterium gibt es nun dafür, daß es sich um ein solches Bild des Absoluten
handelt? Da alles Denken ausgeschlossen wurde, bleibt nur das innere Orakel, die Will-
kür des Einzelnen, die absolute Meinigkeit. Die Hegeischen Termini für diesen Sach-
verhalt sind »absolute Eitelkeit des Ich« und »selbstgefällige Vereitelung alles Objekti-
ven«, m. a. W. reine Negativität und reine Subjektivität. Was er über die Wendung des
Skeptizismus gegen das Wissen überhaupt anmerkt, trifft ebenfalls auf das romantische
Ironisieren zu: »wer fest an der Eitelkeit, daß es ihm so scheine, er es so meine, hängen-
bleibt; [...] den muß man dabei lassen, seine Subjektivität geht keinen andern Menschen
noch weniger die Philosophie oder die Philosophie sie etwas an.«26 In der späteren Sol-
ger-Rezension, in der das Verhältnis von Negativität und Ironie thematisiert ist, rekapi-
tuliert Hegel die Kritik an Philosophien, die zu ihrer Grundlegung auf unmittelbare
Gewißheiten rekurrieren: »ein Prinzip muß auch bewiesen, nicht gefordert werden,
daß es aus Anschauung, unmittelbarer Gewißheit, innerer Offenbarung, [...]; mit einem
Wort auf Treu und Glauben angenommen werde; die Forderung des Beweisens ist aber
für die so vielen und zugleich so einfarbigen sogenannten Philosophien der Zeit etwas
Obsoletes geworden.«27 Unter zwei für Hegels erste Jenaer Phase wichtigen Gesichts-
punkten soll die Affinität von isosthenischer Skepsis und romantischer Ironie umrissen
werden: Erstens anhand der Erörterung der poetischen Anschauung in den aus dem
Jahre 1803 stammenden Manuskripten Hegels und zweitens durch eine vergleichende
Betrachtung der Fünf Tropen des Agrippa mit den Grundfiguren romantischen Philo-
sophierens.

Die poetische Anschauung und die >Ironie in sich selbst«

Wesentliche Passagen der Manuskriptfragmente Das Wesen des Geistes und seiner Form
können unter dem Stichwort poetische Anschauung durchaus auch als kritische Aus-
einandersetzung mit der Transzendentalpoesie gelesen werden. Die Argumentation
zielt auf das Konzept der Schlegelschen Vereinigung von Philosophie und Poesie in
»poetischen Philosophemen ober philosophischen Poemen«, auf Schlegels Rede über
die Mythologie und dem dort erhobenen Ruf nach einer neuen Mythologie. Das dem
Denken prinzipielle jenseitige Höchste ist nur ästhetisch-poetischer Schau zugänglich,
der Anfang aller Poesie muß also darin bestehen, »den Gang und die Gesetze der ver-
nünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der
Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich
kein schöneres Symbol bis jetzt kenne als das bunte Gewimmel der alten Götter.«28
Die innere Crux der poetischen Anschauung liegt Hegel zufolge darin, daß ein abso-
lutes, lebendiges Ganzes angenommen wird, welches jedoch in Form von Individua-
litäten, bestimmten Gestalten, vereinzelten Lebendigkeiten besteht. Die Götter der
Poesie sind beschränkte Gestaltungen, »vereinzelte Individualitäten; deren Bewegung

26 Hegel, Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen
und Vergleichung des neuesten mit dem alten. TWA 2, S. 249.
27 Hegel, Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel. TWA II, S. 254 f.
28 Schlegel, Rede über die Mythologie, FS II, S. 319.
ROMANTISCHE IRONIE ALS ÄSTHETISCHE SKEPSIS 255

gegeneinander wohl ein Symbol der absoluten Lebensbewegung ist, aber ein Symbol ist
nur die versteckte Darstellung desselben; für die Vernunft aber soll dieselbe enthüllt,
frey von zufälliger Form und Gestaltung seyn.«29 Jede dieser Gestalten »muß notwen-
dig andere Gestalten neben sich haben und der Himmel muß sich mit Göttern bevöl-
kern.« 30 In der Vielheit der Götter der Poesie wie der Mythologie, im »bunten Gewim-
mel der alten Götter«, in der »unbestimmten Vielgötterei« liegt die Aporie, die in der Re-
de von den besonderen Göttern ihren Ausdruck hat. Jede dieser fragmentarischen
Gottheiten (die Undurchdringlichkeit impliziert die Vieldeutigkeit) repräsentiert für
sich ein unbedingtes Principium. Wir haben es mit einem auf das Absolute hindeuten-
den Bild (keineswegs mit einem Begriff) zu tun. Diese Gottheiten geraten in »mannich-
faltige Verwirrung« mit den anderen und mit ihrer eigenen Gestalt, die ihrer notwendi-
gen Vollkommenheit selbst widerspricht, insofern haben sie »die Ironie in sich selbst«.31
Der Gegensatz zwischen Bedingten und Unbedingtem ist nicht, wie es angekündigt
wurde, aufgehoben, die Extreme sind nicht wirklich synthetisiert worden. Es wird das
Paradox fragmentarischer Absoluta bzw. absoluter Fragmente angenommen. Den
»Göttern der Poesie« eignet eine komische Selbstvergessenheit ihrer ewigen Natur. Das
gemeine Bewußtsein wie die Romantik preisen »jedes einzelne Moment als einen
selbständigen Gott, bald diese, bald wieder einen andern«.32
Die Transzendentalpoesie ist »schwankend zwischen der Allgemeinheit des Begriffs
und der Bestimmtheit und Gleichgültigkeit der Gestalt, weder Fleisch noch Fisch, we-
der Poesie noch Philosophie.«33 Das einzig Positive in diesem allgemeinen Annihilieren
vermag der über den Dingen stehende, den Stoff absolut beherrschende Dichter zu stif-
ten, darin weiß er sich als das Absolute. Er kann die jeweiligen Bestimmungen gelten
lassen oder nicht, alles gilt ihm nur wahr, insofern es ihm als schön erscheint. Letztliche
Konsequenz des Innehaltens bei dieser Negativität und Subjektivität ist das, was Schle-
gel den Skeptikern zuschreibt: die gänzliche Unentschiedenheit im Denken und Urtei-
len, ein Philosophieren der Gleich-Gültigkeit der Perspektiven, wo Irrtum und Wahn
gleiche Rechte wie die Vernunft genießen können.
Den fragmentarischen Göttern der Mythologie trat die Kraft des Negativen in ver-
schiedener Weise entgegen: in Form der pyrrhonischen Skepsis des Sextus, der haltlo-
sen Unruhe eines unglücklichen Bewußtseins und im Bewußtsein eines Lukian, der im
Lachen die alten Götter endgültig verabschiedet hat. Weil er die Gleichgültigkeit aller
Gestalten ist (die in ihm vernichtet und gesetzt werden) muß der absolute Geist der
poetischen Form entfliehen. Er ist in reiner Form »allein in der Philosophie auszuspre-
chen und darzustellen«.34 Poetisieren und Philosophieren, Kunst und Philosophie sind
(obschon sie Vergewisserungsformen des Absoluten sind) streng zu trennen. Das Set-
zen auf die Wahrheit des Schönen, das Standhalten in der egoitären Subjektivität, dies
zeigen entsprechende Konzepte von Schlegel bis Heidegger, hat den allzu hohen Preis

29 Hegel, Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten (1803). Das Wesen des Geistes. GW 5, S. 372 f.
30 Ebd., seiner Form. GW 5, S. 374.
31 Ebd., S. 375.
32 Hegel, Phänomenologie des Geistes. TWA 3, S. 535.
33 Ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. TWA 20, S. 417.
34 Hegel (Anm. 28), 373.
256 KLAUS VIEWEG

der Abwesenheit einer ausgebildeten praktischen Philosophie als Philosophie der Frei-
heit. »Der ironische Ästhet, vor seine eigene Leere gestellt, flieht in die Sehnsucht nach
neuen Bindungen oder beugt den Kopf unter ein neues Joch«.35

Die Ironie als »höchste und reinste Skepsis« und die Fünf Tropen des Agrippa

Die Verwandtschaft der antiken Skeptik mit der romantischen Ironik läßt sich durch
einen Vergleich der Grundgedanken der fünf Tropen des Agrippa und der Kernthesen
Schlegelschen Philosophierens freilegen. Mit den unter Einsatz pyrrhonistischer Argu-
mente vollzogenen Desavouierung aller philosophischen Lehren als Formen des Dog-
matismus36 und dem Konstatieren des isosthenischen Resultats geht die Übernahme
des Grundgebrechens der Skeptik als Doktrin einher - das Festschreiben der Antino-
mik, das Absolutsetzen des Dialektischen, die Zementierung der reinen Negativität.
Schlegels hellsichtige Beschreibung des Skeptizismus als »gänzliche Unentschiedenheit
im Denken und Urteilen«37 wird zu einem Verdikt über sein eigenes Philosophieren -
die Ironie der Ironie. Alle Wahrheit ist relativ, die Nichterkennbarkeit des Absoluten
ist eine identische Trivialität38 - so lautet Schlegels Version des 3. Tropus des Agrippa.
In seinen Jenaer Vorlesungen über Transzendentalphilosophie wird dann das Dilemma
dieser These benannt: Es ist auch der Satz relativ, daß alle Wahrheit relativ sei.
Es wäre nun zu zeigen, daß Schlegels Versuch, dem totalen Relativismus zu entge-
hen, in einen neuen Relativismus fällt. Schlegel kann durchaus eine »Orientierung auf
ein nicht-relatives Eins«39 zugebilligt werden, aber dieses Absolute entzieht sich, da es
dem Denken für immer verschlossen ist, jeglicher skeptischen Prüfung. Es kann uns -
um es Kantisch zu sagen - nur »angesonnen« werden, es stellt eine »Zumutung« dar. Die
Identität ist Novalis zufolge etwas »Transzendentes«. Bei diesem für das Denken abso-
lut Jenseitigem, das nur zu ahnen, zu ersehnen und bloß indirekt darzustellen ist, kann
es sich nicht um das Absolute handeln, denn es mangelt diesem vermeintlich Nicht-Re-
lativen bzw. Vollkommenen an dem, was ihm total entgegengesetzt wurde. Eine neue
Entzweiung von Endlichem und Unendlichem tritt hervor, die unüberbrückbare Diffe-
renz von Identität und Nicht-Identität prägt die romantische Ironie. Die These, daß
dieses Ganze als ein regulativer Zug unseres Denkens genommen werden müsse, bleibt
eine bloße Versicherung und stellt einen untauglichen Versuch dar, sich den skeptischen
Einwänden zu entziehen.
Das ewige Alternieren von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung impliziert den
neuen, ästhetizistischen Relativismus: alles gilt nur, insoweit es mir gefällt. In seinem

35 Pöggeler, Ist Schlegel Hegel? (Anm. 4), S. 341.


36 Schlegel folgt der im Niethammer-Kreis entwickelten Kritik an den Philosophie aus oberstem
Grundsatz. In bezug auf Reinhold spricht er von der »Grundwut«, Schlegel (Anm. 9), 155 Nr. 66.
Vgl. dazu: M. Frank, »Alle Wahrheit ist relativ, alles Wissen ist symbolisch«. Motive der Grundsatz-
Skepsis m der frühen Jenaer Romantik (1796). In: Revue Internationale de Philosophie 3/1996,
S. 403-436.
37 Schlegel, Propädeutik und Logik (Köln 1805-1806). FS XIII, 3. 350.
38 Schlegel, Vorlesungen über Transzendentalphilosophie (Jena 1800-1801), FS XII, 92; ders.: Philoso-
phische Fragmente 1796. FS XVIII, 511, 64)
39 Frank (Anm. 20), S. 435.
ROMANTISCHE IRONIE ALS ÄSTHETISCHE SKEPSIS 257

Streben hin zum Absoluten reproduziert der endliche Verstand stets sich selbst. Eine
Immunität gegen die Einrede des Relativitätstropus wird nicht erreicht. Dem Wechsel-
erweis bzw. Wechselgrundsatz muß Zirkularität angelastet werden (5. Tropus der Dial-
lele) - »wenn dasjenige, das den fraglichen Gegenstand stützen soll, selbst der Bestäti-
gung durch den fraglichen Gegenstand bedarf.«40 Schlegels Vorwurf, daß es bei Fichte
»nicht ohne Zirkel abgeht«41 fällt auf ihn selbst zurück. Sein Spiel des Dualismus er-
weist sich als ein Schaukelsystem. Um dem Zirkel zu entkommen, wird der Wechseler-
weis als eine unbegründete Voraussetzung angenommen. Der Wechselbestimmungs-
satz ist - wie es Novalis zu Protokoll gibt - ein »hypothetischer Satz«.42 Der Hinweis
auf die Argumentation der vierten skeptischen Wendung, auf den Tropus der Hypothe-
se liegt nahe: Mit gleicher Berechtigung kann das Gegenteil jenes Vorausgesetzten ohne
Beweis (ohne Grund) gesetzt werden. Somit wäre man genötigt, den eigentlichen
Grund in einem Dritten zu suchen u. s. f. Der unendliche Regressus bleibt unvermeid-
bar (2. Tropus) - »erst in der unendlichen Annäherung ans (unerreichbare) Unendliche
geschieht rückwirkend Begründung und Aufklärung des Ausgangspunkte«.43 Aller-
dings - und das räumt M. Frank ein - müssen wir uns mit der Annahme (also mit dem
Glauben) begnügen, »daß je mehr Zusammenhang es uns gelingt zu stiften, das Beste-
hen eines Grundes immer »wahrscheinlicher« wird bzw. wir der einen, nie vollendeten
Wahrheit immer näher kommen«.44 Diese Reflexionsunendlichkeit (die »schlechte Un-
endlichkeit«) in Gestalt des schönen Sehnens impliziert genau genommen die
sigkeit, die pure Behauptung eines unverfügbaren Grundes. Sextus - so Hegel - ge-
braucht diesen Tropus »so häufig als er in neueren Zeiten als Begründungstendenz vor-
gekommen ist«.45 Dies bezieht sich in besonderer Weise auch auf das romantische Ap-
proximationsverfahren.
Mit dem Aufweis des Antinomischen erklimmt der Verstand seine höchstmögliche
Stufe, alle dogmatischen Philosopheme können mit Erfolg angefochten werden. Infol-
ge des Stehen-Bleibens bei der reinen Differenz, bei Gleich-Gültigkeit und absoluter
Negativität muß aber die Überwindung des Widerstreites letztlich abgewiesen werden.
Mit dieser Apotheose des Unentschieden bzw. der Unentscheidbarkeit landet man
beim Diaphonie-Tropus, der aus der Verschiedenheit der Meinungen die notwendige
Urteilsenthaltung ableitet. Das anhaltende Gespräch muß dann als zureichendes Ziel
genügen, die philosophische Argumentation als denkendes Prüfen wird letztlich sus-
pendiert.
Die scheinbare Wertschätzung des Dialogischen verkehrt sich in das Praktizieren des
absoluten Monologs, in eine Konversationsmanier.46 Wechselseitig versichern sich die
der Offenbarung teilhaftig gewordenen Genies, daß es so und nicht anders sei. Der An-
dere wird im »stummen Gefühl« verstanden. Das poetische Spiel mit allen Formen fußt

40 Sextus Empiricus, Grundriß derpyrrhomschen Skepsis. E i n ! u. Übers, v. M. Hossenfelder. Frankfurt


1968,131.
41 Schlegel, [Philosophische Fragmente]. FS XVIII, 510 Nr. 58.
42 Novalis, Philosophische Studien der Jahre 1795/96 (Fichte-Studien). NS II, 177, Nr. 1214.
43 Frank (Anm. 12), S. 38.
44 Ebd., S. 49.
45 Hegel (Anm. 25), S. 244 (Herv. K. V).
46 Vgl. dazu Hegel (Anm. 26), S. 268-271.
258 KLAUS VIEWEG

auf der absoluten Gültigkeit des subjektiven Beliebens. Das Endliche wird eben nicht
annihiliert, auch wenn sich die Gestalten des Beliebens ändern. Die reine Subjektivität
als Egoitat oder Eitelkeit zeigt sich als Grundzug des Ironie-Projekts. Die aus dem
»Durst nach Inhalt« entspringende Bestimmung, die beständig wieder dem Nichts an-
heimfällt, ruht auf der jeweiligen inneren Stimmung. Dieses Ge-Horchen auf die innere
Stimme führt zu einer stets sich wandelnden Vielfalt von Stimmungen und Lebensfor-
men. Anläßlich Ludwig Tieck heißt es bei Kierkegaard: »bald ist er durchaus im Rei-
nen, bald sucht er, bald ist er Dogmatiker, bald Zweifler, bald ist er Jakob Böhme, bald
die Griechen - nichts als Stimmungen.«47 Der Romantiker fürchtet nichts mehr als sich
selbst zu be-stimmen, er fürchtet durch das Beschränken seine innere Herrlichkeit zu
beflecken, die innere Reinheit zu beschmutzen.
Ernst Behler sieht in Schlegels Ironie den Perspektivismus Nietzsches - das Dasein er-
laube unendliche, sich wechselseitig ausschließende Perspektiven - vorgebildet. Ein frei-
er Mensch müsse sich nach Belieben, »ganz willkürlich stimmen können«.48 Der Hypo-
these des Perspektivismus als dem Grundsatz der puren Mannigfalt kann im Anschluß an
den vierten Tropus mit gleichem Recht das Prinzip des Nicht-Perspektivismus entgegen-
gehalten werden. Eine spätere Stelle Hegels bringt die Sache auf den Punkt und zeigt, daß
es sich keineswegs um Lufthiebe handelt, sondern um Stiche ins philosophische Herz der
Frühromantik: »Ich bin es, der durch mein gebildetes Dasein alle Bestimmungen zunich-
te machen kann, Bestimmungen von Recht, Sittlichkeit, Gut usw.; und ich weiß, daß,
wenn mir etwas als gut erscheint [...] ich mir dies ebenso auch verkehren kann. Ich weiß
mich schlechthin als den Herrn über alle diese Bestimmungen, kann sie gelten lassen und
auch nicht; alles gilt mir als wahr, insofern es mir jetzt gefällt.«49
In dieser Anspielung auf Shakespeare vernimmt man das Hohngelächter des Mephi-
sto, der in diesem Bösen als der zum einzigen Prinzip erhobenen Willkür sein eigent-
lich Element hat. Dieses Beharren in der reinen Negativität und Subjektivität impliziert
das Bewußtsein der Rechtfertigung jeglichen Inhalts durch die Überzeugung. Infolge
des Stutzens auf das individuelle Überzeugtsein bleibt es gleichgültig, wie geurteilt und
gehandelt wird, das subjektive Meinen, der individuelle Geschmack oder Stil bildet das
einzige Kriterium für eine Akzeptanz. Die absolute Subjektivität als Willkür (die mit
Freiheit gleichgesetzt wird) soll nicht dem Inferno der philosophischen Skeptik - der
»Vertilgung des Endlichen« - ausgesetzt werden.
Romantischer Ironie mangelt es an echter Skepsis, sie ist eben nicht die Überwin-
dung des Selbstgefälligen und Dogmatischen, sondern das Standhalten in permanenter,
sich stets neu konstituierender Eitelkeit, die in ihrer Potenzierung Haltlosigkeit, stetes
Schwanken, Langeweile und Überdruß hervorruft. Die Affinität von Ironie und
Isosthenie besteht im Innehalten bei der reinen Negativität, dies führt in beiden Fällen
zu einer Philosophie des Unentschieden, zur Unentschiedenheit im Denken und Urtei-
len. Das große Schachspiel endet stets Remis. Die Ironie hat die Ironie in sich selbst,
bald ist der Ironiker Gott, bald ein Körnlein Sand, Spielball der Weltironie. Der sich
frei wähnende Ironiker fällt »unter das grauenvolle Gesetz der Weltironie und frönert

47 S. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie. In: Gesammelte Werke. 31. Abt., 291
48 Schlegel (Anm. 9), 154 Nr. 55.
49 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. TWA Bd. 18, S. 460.
ROMANTISCHE IRONIE ALS ÄSTHETISCHE SKEPSIS 259

in der fürchterlichsten Knechtschaft.«50 Im virtuosen Spiel des Beliebens sollen subjek-


tive Meinung und Willkür selbst Objektivität sein, es erwächst die Sehnsucht und das
Schmachten nach wirklicher Objektivität. Dem sich als allgewaltig dünkenden Ego
droht der frei Fall ins andere Extrem, dem Kniefall vor höheren Autoritäten. Die abso-
lute Selbstgefälligkeit verkehrt sich in die totale Fremdbestimmtheit. Ludwig Tieck hat
dann die romantische Katze aus dem Sack gelassen: Das Höchste, was der Mensch er-
reichen könne, sei die wahre Skepsis als Form der Resignation - »das Hingeben an den
unerforschlichen Willen einer höchsten unsichtbaren Macht«.51

Pyrrhonismus und die >Antinomie des reinen Witzes«

Der Blick auf die Geschichte zeigt uns eine illustre Gesellschaft ästhetischer Skeptiker,
die sich auf das Leitbild »Pyrrhon« beziehen. Ungeachtet der Differenzen führen alle
diese geschichtlich Furore machenden Versuche der Ästhetisierung der Philosophie
letztlich zur »Antinomie des reinen Witzes« (Jean Paul): Die Palette reicht vom Sillogra-
phen Timon und dem Spötter Lukian, den beiden antiken poetisch-philosophischen
Widersachern des Dogmatischen, über Montaigne, mit dem die literarische Skepsis der
Neuzeit beginnt, Jean Paul52, Friedrich Schlegel und Lord Byron 53 bis hin zu Friedrich
Nietzsche, in dessen Werk ein neuer Typ der ästhetischen Skepsis hervortritt.
Da er sich auf theoretisches Argumentieren einläßt, war der bisherige Pyrrhonismus
in Nietzsches Augen ein Komplice der traditionellen Philosophie. Die pyrrhonische
Willensschwäche oder Willenslähmung müsse überwunden werden.54 Die Agoge im
Sinne Pyrrhons wird radikal in eine ästhetische Lebensform transformiert und diese
Lebensform zu eigentlich Philosophischen proklamiert.55 Für Schlegel hatte die Pyr-

50 Kierkegaard (Anm. 46), S. 291.


51 Ludwig Tieck, Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen
Mitteilungen v. R. Köpke. Leipzig 1855, II, 254 (zit. nach Frank (Anm. 35), S. 433).
52 Zur ästhetischen Skepsis von Jean Pauls H u m o r vgl.: W Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel.
Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg/München 1975, S. 183-197 u. 274 f.
In der Konfrontation von Paradoxien, in der Bestimmung von H u m o r als »vernichtende oder unend-
liche Idee« sieht Schmidt-Biggemann die »metaphysische Valenz des Jean Paulschen Humors«, (ebd.,
S. 275) Hegel schreibt Jean Paul die »Tiefe des Witzes« (13, S. 382) zu, kritisiert aber die absolute Ne-
gativität der Richterschen Teufelei, die nur zerstört und nichts Positives werden läßt. (14, S. 230).
53 Vgl. dazu: T A . Hoagwood, Histonaty and Sceptiasm in the Lake Geneva Summer. In: The Byron
Journal, 19 (1991). Der Autor stellt den Bezug von Byron zu Sextus Empincus und Montaigne her.
54 Vgl.: B. Hüppauf, Literatur nach der Skepsis. In: Cultura Tedesca (9) Poeisa Simbolo Mito. Roma
1988. Der Verfasser diskutiert das Verhältnis von Skeptizismus und Literatur auf originelle Weise und
geht dabei auch auf Nietzsches Skepsis-Verständnis ein (S. 188-201). »Nietzsche Verhältnis zur Skep-
sis ist ambivalent. Er setzt sie fort, und gleichzeitig gilt ihr sein Kampf.« Der zerstörende Impuls
wird von Nietzsche aufgenommen, der Scharfsinn und die Ataraxia (der »sanfte holde einlullende
Mohn der Skepsis«) werden als »europäische Krankheit« gerügt (S. 195 f.).
55 Hüppauf zufolge zeitigt das erhebliche Folgen auch für die literarischen Formen. Während Frag-
ment, Essay, Aphorismus, das kurze Gedicht und - innerhalb von Drama und Roman - Ironie, Sati-
re, Montage, verfremdendes Spiel mit Zitaten, Formen und Stoffen die traditionellen Darstellungs-
mittel sind, erfolgt mit der »Radikalisierung des Zweifels« die Überwindung des Traditionellen
schlechthin, Literatur »wird absurd, wie bei Beckett, Ionesco, in Teilen der DADA-Bewegung, oder
zur provozierenden Bedeutungslosigkeit von Pop, aleatorischer oder serieller Kunst«, (ebd., S. 206)
260 KLAUS VIEWEG

rhonische Lebensart - »ganz zuversichtlich den Ansprüchen des gesunden Verstandes


und natürlichen Gefühles folgen« - in philosophischer Hinsicht keinerlei Gewicht. Sie
würde, »als philosophische Ansicht überhaupt genommen, auch zu den widerspre-
chendsten und verkehrtesten Resultaten führen.« Der Skeptizismus ist für den Roman-
tiker »eine notwendige Bedingung und Vorbereitung zur Philosophie«, keinesfalls die
Philosophie selbst.56
In seiner Studie Stil statt Wahrheit hat L. Wiesing neben den weitreichenden Struk-
turaffinitäten der dadaistischen Skepsis zum Pyrrhonismus auch den gravierenden Un-
terschied zwischen beiden herausgehoben. Der Dadaismus »hält den Versuch der theo-
retischen Skepsis, durch Argumentation den Menschen von dogmatischen Ansprüchen
befreien zu wollen, für gescheitert. Deshalb entwickelt er eine ästhetische Form, um so
dem antidogmatischen Grundanliegen einer jeden Skepsis neue Schlagkraft zu verlei-
hen.«' 7 Am Beispiel von Kurt Schwitters und der Dadaisten wird dieser »Wechsel des
Mediums der Skepsis« nachgezeichnet, anstelle des philosophischen Diskurses tritt die
ästhetische Lebensform. »Dadaisten lehnen schon vor der Frage nach wahr und falsch
Theorie grundsätzlich ab.«58 Nur wäre zu fragen, ob Wollen und >Ablehnung< völlig
>a-theoretisch< ist (sollte dies zutreffen, wäre der salto mortale zum Glauben oder zur
ästhetischen Erleuchtung die Konsequenz) und ob man mit dem Vollzug der »Ableh-
nung« ungewollt nicht doch wieder ins »alte Spiel« der Theorie eingetreten ist. Der
Versuch der radikalen Verabschiedung der »theoretischen« Dimension der Skepsis
scheint doch nicht so leicht zu bewerkstelligen sein. Bei Schwitters soll die Legitimati-
on der ästhetischen Lebensform mittels des Denkstiles gelingen: Die Theorie selbst sei
ein Kunstwerk, das den Inhalt »darstellt«, d. h. erklärt und zeigt. Letztlich wird die
ästhetische Lebensform damit aber der argumentativ-skeptischen Prüfung entzogen,
die vermeintlich neue Skepsis gibt (im Unterschied etwa zu Lukian oder Schlegel) das
Grundcharakteristikum des Pyrrhonismus vollständig preis - den Scharfsinn der
Isosthenie. 59
Philosophische Texte haben ohne Zweifel eine ästhetische Komponente, Kunstwer-
ke eine philosophische Dimension, eine poetische Philosophie oder eine philosophi-
sche Poetik, eine Philosophie, die ganz Kunst sein soll, gleicht allerdings Buridans Esel.
Insofern sich diese Konzepte der Argumentation stellen, haben die Isosthenie-Einwän-
de tödliche Wirkung, insofern man auf die »ästhetische Offenbarung«, auf die »absolute
Willkür des Dichters« setzt, wird das Terrain der Philosophie und der Skepsis verlassen,
denn im Zentrum des Skeptischen steht der Gedanke der Isosthenie. Dieses Verfahren,

56 Schlegel (Anm. 36), S. 348, 350.


57 L. Wiesing, Stil statt Wahrheit. Kurt Schwitters und Ludwig Wittgenstein über ästhetische Lebens-
formen. München 1991, S. 12-13. Nicht nur der Titel, sondern auch einige Kapitelüberschriften
sind »programmatisch«. U. a.: »Die Destruktion des Werkbegriffs« oder »Die Wahrheitssubstitu-
ierung«.
58 Ebd., S. 78.
59 Obwohl Schlegel sich gegen die Philosophie »nur urteilend« verhalte und die Art der Lösung »allent-
halben nur andeute«, statt sie »philosophierend zu rechtfertigen«, so spricht ihm Hegel aber ausdrück-
lich den »Scharfsinn« zu. (Hegel, Solger-Rezension (Anm. 26), S. 233 f.) - Die Negativität als spekula-
tives Element liegt »in einer Seite der Ironie«, (ebd., S. 254).
ROMANTISCHE IRONIE ALS ÄSTHETISCHE SKEPSIS 261

das als Paradigmenwechsel der Philosophie verstanden wird60, gleicht strukturell dem
salto mortale der »Friedrich Heinrich Jacobiheit«, ist ein Sprung der absoluten Egoitat
in die ästhetische Offenbarung.^
Hegel konfrontiert das bloß unterhaltsame »Spiel« mit dem ernsthaften Geschäft des
Denkens. 62 Es gehe beim Philosophieren um ein »mühsames, assertorisches und katego-
risches Schaffen«, im Unterschied zur bequemen Manier der Gedankenblitze und des
unverbindlichen, willkürlichen Spielens mit diesen.63 Auch in der späteren Kritik an
der Ironie, der Schwester der Skepsis, spricht der spätere Hegel vom »unernsten Spiel
mit allen Formen«. Die Schlegelsche Ironie gilt dem Berliner Professor als »selbstbe-
wußte Vereitelung des Objektiven«64; ein Slogan des Dadaismus lautet: »Ich hasse die
fette Objektivtität.« 65 In der ironischen Skepsis werde - so Hegel - die »innere Wahr-
heitslosigkeit des Stoffes für das Beste ausgegeben«. »Der Asthetizist setzt Propaganda
an die Stelle von Argumentation.« 66 Die rein individuelle Affirmation mittels des Stils
tritt an die Stelle des Diskurses. Unter Hinweis auf Wittgenstein wird von Wiesing
selbst auf eine (schon bei Hegel diagnostizierte) Gefahr des Ästhetizismus aufmerksam
gemacht: das Risiko des Umschlagens des unverbindlich Spielerischen in totale Will-
kür, in Terror und Tyrannei.67 Wird Philosophie auf den Vollzug ästhetischer Lebens-
formen reduziert, kann sie nicht mehr über die Angelegenheiten der »Polis« nachsinnen,
letztere müssen ihr gleichgültig sein, im anderen Fall wäre sie inkonsequent. Die Achil-
lesferse des Ästhetizismus - die Auflösung der Differenzen zwischen Philosophie und
Kunst sowie zwischen Kunst und Leben - wird sichtbar.

Kreativität und Langeweile

Die Untersuchungen der Schlegelschen und Hegeischen Lesart der Platonischen und
Fichteschen Philosophie sowie ihrer Deutung der Skeptik erhärten die These von der
frappanten Verwandtschaft ihres Denkens. Die implizite Skepsis ist für beide Entwür-
fe konstitutiv, als Selbstvernichtung in der romantischen Ironie und als das Negativ-
Vernünftige im absoluten Idealismus. Zugleich wird aber auch die prinzipielle Diffe-
renz von Ironie und absoluter Spekulation transparent. Pyrrhonische Isosthenik und

60 »Für Wittgenstein und Schwitters ist die Wende der Philosophie zur Ästhetik kein Wechsel in den
Methoden der Wahrheitssuche, sondern ein Wechsel im Philosophieverständnis selbst: Das Ziel bei-
der ist eine Philosophie, die selbst Kunst ist.« Wiesing (Anm. 56), S. 10.
61 »Aus der Skepsis führt kein Weg in den Glauben, sondern nur ein Sprung kann die Kluft überwin-
den. Joseph Roths oder Döblins Werke sind durch diesen Sprung des Skeptikers ausgezeichnet.« In
Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz entsteht Wissen »durch Offenbarung, plötzlich und in
unkontrollierten Sprüngen.« Hüppauf (Anm. 53), S. 182, 206. Die Skepsis verbindet sich mit einem
»unvordenklichen Absoluten«, das jeder Prüfung von vornherein entzogen ist.
62 Schwitters will das bloß ernsthafte Geschäft des Denkens mit dem unterhaltsamen Spiel konfrontie-
ren.
63 Hegel (Anm. 8), S. 128, 107.
64 Hegel (Anm. 26), S. 233.
65 T. Tzara, Manifest Dada. Zit. nach Wiesing (Anm. 56), S. 78.
66 Wiesing (Anm. 56), S. 135.
67 Ebd., S. 13 f. u. das Kapitel »Stil und Terror« (S. 129-136).
262 KLAUS VIEWEG

Schlegelsche Ironik erweisen sich Philosophien des Remis, die frühe Romantik als eine
ästhetisierende Version der ewigen Unentschiedenheit. Der romantische Wechsel-
grundsatz ist geprägt von der Isosthenie - der Fixierung zweier Sätze gleichen Ranges
und dem »Stehenbleiben« in diesem Zustand. Das ständige Oszillieren als eine Art
»Dynamisierung der Antinomie« ändert daran im Prinzip nichts. Damit wird der Virus
der doktrinellen Skeptik eingeschleppt - die Absolutheitsskepsis mit ihrem Dogma
der Nichterkennbarkeit des Absoluten durch das Denken. Hegel spricht über das
Streben nach Annäherung ans Absolute von einer sich selbst zerstörenden Forderung,
nämlich einer Forderung der Vereinigung, die aber nicht geschehen soll. Das Verfah-
ren ähnelt dem Warten auf Godot, von dem man weiß, daß er nie ankommen wird.
Nietzsche verspottet diese Attitüde des ewigen Wartens auf etwas oder der unendli-
chen Annäherung an etwas, das nie eintreten wird, indem er den Skeptiker gegen seine
Widersacher ausrufen läßt: »O ihr Teufelskerle, könnt ihr denn gar nicht warten}
Auch das Ungewisse hat seine Reize, auch die Sphinx ist eine Circe, auch die Circe
war eine Philosophin«. 68 Die rastlos-sehnsüchtige Agilität des Ironikers gleicht einer
resultatlosen Konversation, die zu Langeweile und Überdruß, zur kommunikativen
Entropie 69 führt.
Lebendig-kritische Kreativität und gähnende Langeweile bilden die beiden Extreme
des frühromantischen Geistes. Die zentrale Denkfigur des unendlichen Progresses as-
soziiert Hegel an vielen Stellen mit Langeweile, Eintönigkeit und Tadiosität. Das »End-
lose von Endlichkeiten« führt zur »Langweiligkeit, daß beständig eine Grenze gesetzt
und wieder aufgehoben wird und man somit nicht von der Stelle kommt.« 70 Von der
»Langeweile der Wiederholung«, der »eintönigen Abwechslung« und der »sich wieder-
holenden Einerleiheit« ist die Rede. Das perennierende Entstehen und Vergehen gibt
aber nur »das Gefühl der Ohnmacht« oder des Sollens, »das über das Endliche Meister
werden will und nicht kann.«71 Auf der anderen Seite wird das Romantisch-Poetische
durch die Freiheit der Imagination, durch das Spielen von Phantasie und Einbildungs-
kraft geprägt. Mit dieser Ästhetisierung der Philosophie wird die Entgegensetzung von
Endlichem und Unendlichem aber nicht aufgehoben, sondern nur beschönigt; die Gat-
tungsunterschiede von Philosophie und Poesie sind suspendiert.
In Timons Sillen und Lukians Erzählungen haben wir die antiken Mustergestalten
einer Verbindung von Skepsis und Poesie vorliegen. Die Schielenden Verse des Timon
»umfassen drei Bücher, in denen er als Skeptiker in der Form der Parodie alle Dogmati-

68 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. In: Werke in drei Bänden. Bd. 2, S. 670.
69 Diese treffende Charakterisierung der »Konversationsmanier« verwendet Wolgang Welsch in seiner
Kritik an Richard Rorty, der sich mit seinem Ironie-Konzept in Schlegelschen Denkbahnen bewegt.
Rortys Konzept des bloßen »Inganghaltens des Gespräches« »dürfte so ziemlich die sicherste Metho-
de sein, ein Gespräch nicht etwa in Gang zu halten, sondern zum Erlöschen zu bringen ... die Ge-
sprächskultur verfällt zum Geplapper«. Die Gespräche verlaufen in einer Atmosphäre bloßer Belie-
bigkeit und »führen nicht zu Einsicht und Klärung, sondern zu einem Palaver, das zunehmend in
sanftes Gemurmel übergeht, um schließlich in friedlich-konversationellem Rauschen zu versiegen.«
In: W. Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen
nunft. Frankfurt a.M. 1996, 220-223.
70 Hegel (Anm. 8), 67; ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. TWA 8, 220.
71 Vgl.: Hegel, Wissenschaft der Logik. TWA Bd. 5, 265, 168,155.
ROMANTISCHE IRONIE ALS ÄSTHETISCHE SKEPSIS 263

ker durchhechelt und verspottet.«72 Der Sillograph und der Dichter sind als scharfe
Denker und Spötter Vorläufer der romantischen Ironie, die - genau wie die Skepsis -
ihre Stärke in der Kritik, im Subversiven, in der vernichtenden Parodie und Satire hat.
»Ironie ist die höchste, reinste sicetpic/3.
Ähnlich wie der alten Skepsis mangelt es der romantischen Ironie an der »positiven
Seite«, an der Formierung einer eigenen Denkarchitektur, einer Ethik, einer Rechts-
und Staatsphilosophie. Im Anschluß an den Ausruf von Pierre Bayle »Wo bleibt das
Positive, Herr Lukian?« wäre der Romantiker zu fragen: Wo bleibt das Positive, Herr
Schlegel? Auf einen relativistischen Ästhetizismus oder Perspektivismus kann keine
moderne Philosophie der Freiheit gegründet werden. Die heute gefeierte radikale Un-
verbindlichkeit garantiert gerade nicht die verheißene Vielfalt und ist nicht die Hüterin
von Freiheit und Toleranz. Im Gegenteil, sie erweist sich als Despotie des Relativen, die
auch Prinzipien wie Freiheit und Menschenrechte zur Disposition stellen muß. Alles
Tun bezieht seine Legitimation nur noch aus der je subjektiven Absicht, partikulären
Überzeugung oder dem individuellen Stil und Geschmack, ein Kriterium zur Unter-
scheidung zwischen dem Humanen und dem Nicht-Humanen gibt es somit nicht
mehr. Die Protagonisten der 'fröhlichen Skepsis< meinen den »Terror des Allgemeinen«,
die Macht des Diskurses gebrochen und alle Verbindlichkeit aufgelöst zu haben, mit
der einen, aber fatalen Ausnahme ihres eigenen Anspruchs auf absolute Gültigkeit des
Unverbindlichen als ihrer Lebensform.

72 DL IX 108-112. Vgl. dazu: F. Declava Caizzi, Timmoni e ifilosoft: Protagora (fr. 5 Diels). In: Cahiers
de la Revue Theologie et de Philosophie, 15 (1990), S. 41-53; F. Ricken, Antike Skeptiker. München
1994, S. 18-28.
73 Schlegel, Philosophische Lehrjahre. FS XVIII, 406 Nr. 123.
MONIKA SCHMITZ-EMANS, BOCHUM

Literarische Bilder-Bücher als imaginäre Museen

Michel Butors Abhandlung über Les mots dans la peinture erörtert einen so selbstver-
ständlichen wie vielfach übergangenen Sachverhalt: die durchgängige Präsenz des
Sprachlichen in der Welt der bildenden Kunst.
»[...] unsere Erfahrungen mit der Malerei [enthalten] einen beträchtlichen verbalen
Teil. Wir sehen Bilder nie für sich allein [...].« '
Butors Bemerkungen gelten zunächst einer durchaus konkret hörbaren oder sicht-
baren Präsenz der »Wörter« in der »Malerei«; sie erstreckt sich von Gesprächen, Aus-
stellungsplakaten, Katalogen, Kritiken bis hin zum Schildchen auf dem Bildrahmen,
das mit Titel und Malernamen beschriftet ist. Im Kunstmuseum und in der Gemälde-
ausstellung sind die Bilder wie von einem Wörternetz umsponnen, von einer Wolke des
Gemurmels umgeben - auch letzteres nicht nur metaphorisch, sondern im Zeitalter der
Kopfhörer und sprechenden Info-Säulen oft ganz buchstäblich. Gesprochenes und Ge-
schriebenes rankt sich um die Bilder und steuert den Sehvorgang. Wir erfahren, was wir
sehen sollen, indem das zu Sehende so oder so benannt wird. Die Benennung des Visu-
ellen als solche ist dabei unausweichlich auch immer schon ein Akt der Interpretation,
von wem auch immer sie vorgenommen wird. Dieser die Rezeption steuernde Inter-
pretations-Effekt läßt sich, wie Butor zu Recht betont, durch die Wahl extrem lakoni-
scher oder abstrakter Titel keineswegs neutralisieren - nicht einmal durch die Verwei-
gerung einer Titel-Angabe, denn auch »Ohne Titel« ist ein Name, und er ist ebenso
aussagekräftig wie viele andere negative Darstellungsstrategien, die gerade in der Lite-
ratur und Kunst der Moderne eine so zentrale Rolle spielen. Butors Reflexionen über
die »Wörter in der Malerei« machen jedoch nicht allein das ständige Mit-, Neben- und
Durcheinander von Texten und Bildern im öffentlichen Raum der Kunst bewußt. Sie
umreißen dadurch, daß sie die Vermittlerrolle der Wörter beim Bilder-Sehen würdigen,
zudem ein grundlegendes und verallgemeinerbares Modell der nicht neutralisierbaren
Durchdringung aller Bilder mit Sprache. Gleichnishaft veranschaulicht und zugleich
exemplifiziert wird die Präzenz des Sprachlichen in der bildenden Kunst aber vor allem
durch solche Gemälde, in die konkret-sichtbare Texte und Lettern integriert sind: Von
Schriftzügen durchkreuzt, repräsentieren diese Bilder die Bilder-Welt als Ganze, inso-
fern diese von Sprachlichem durchdrungen ist. Und so erinnern sie nicht zuletzt daran,
daß gerade Bilder-Ausstellungen zugleich Text-Räume sind, in denen Bilder zu Wör-
tern in vielfältige, oft auch spannungsvolle Bezüge treten. Es gibt weder physisch noch
im übertragenen Sinn einen Bilder-Raum, der frei von Texten wäre und nicht schon ih-
rer Strukturierung und Ausdeutung unterläge; es gibt kein Sehen, das nicht der Steue-
rung durch »Wörter« unterläge. Denn noch ein Ausstellungsraum, der gezielt von allen
Schriftzügen freigehalten würde, unterläge dem »Ohne Titel«-Effekt; kein Name ist

1 Michel Butor, Die Wörter in der Malerei. Essay. Dt. v. Helmut Scheffel. Frankfurt am Main, 2. Aufl
1993, S. 9 f.
266 MONIKA SCHMITZ-EMANS

auch ein Name, und hinter dem Verzicht auf Kommentare steht zumindest immer eine
sprachlich verfaßte Theorie.2 Gänzlich unausschaltbar sind zudem die vielen Texte, aus
denen das kulturelle Gedächtnis besteht und an dem Maler wie Bildbetrachter, wenn
auch in individuell-unterschiedlichem Maße, partizipieren. Im Gedächtnis gespeicherte
Basistexte unserer Kultur, Theorieentwürfe und angelesene Sehanweisungen vermitteln
selbst dort noch zwischen Betrachter und Bild, wo man sich ihrer kaum oder gar nicht
bewußt erinnert. Ebenso konstitutiv wie die sichtbaren und hörbaren Wörter sind für
den Wahrnehmungsraum, in dem sich der Betrachter mit Bildern auseinandersetzt, also
die unsichtbaren und unhörbaren. Ihre heimliche Präsenz kann sogar tiefergreifenden
Einfluß auf die Wahrnehmung der Bilder nehmen als die der ersteren. Denn sie lassen
sich nicht gezielt durch Widerspruch oder Korrektur neutralisieren. Von einem Text-
Raum umgeben, von Kommentaren, Explikationen oder Interpretationen umstellt sind
vor allem die großen Werke der Malerei. Die Wörter- und Text-Welt, welche die »Ma-
lerei« durchdringt, ist nicht als statisch zu denken; sie befindet sich vielmehr in einem
Prozeß ständiger Transformation. Nicht allein, daß immer neue Wörter sich um Bilder
bemühen, während andere, dem kulturellen Gedächtnis entgleitend, vielleicht gerade
verstummen; die bereits formulierten Sätze über Bilder treten zudem im Zuge des indi-
viduellen wie des kollektiven Rezeptionsprozesses in immer wieder andere Konfigura-
tionen ein.
Die »Wörter« in der »Malerei« haben performativen Charakter: Sie verwandeln das,
worüber sie sprechen. Besonders offenkundig ist dies wiederum anläßlich der Betite-
lung von Gemälden. Titel versetzen Bilder in Kontexte, schließen sie an die Welten der
Wörter wie der anderen Bilder an und greifen strukturierend und hierarchisierend in
die Bildkompositionen ein, deren Elemente sich unter dem Einfluß des vom Betrachter
auf sie bezogenen Namens oft förmlich rearrangieren.3 Sätze und Texte, welche Bilder
identifizieren, kommentieren oder interpretieren, sind erweiterte Namen. Bilder kön-
nen nicht nur viele solcher »Namen« haben (wie sie ja auch mehrere Titel haben kön-
nen), es kann zwischen diesen auch zum Widerstreit kommen. Erhält ein Bild nachein-
ander mehrere Titel, so verwandelt es sich selbst.4 Betrachtet man Sätze über Bilder als
erweiterte Titel, so folgt daraus, daß sich Bilder wandeln, sobald etwas Neues über sie
gesagt wird. John Berger belegt diese These durch ein so simples wie frappierendes Ex-
periment mit dem Leser seines Buches Sehend Hier zeigt er (auf S. 27 unten) zunächst
die Schwarz-Weiß-Reproduktion eines (noch) nicht näher identifizierbaren Gemäldes
und fordert unter Nennung des Bildsujets («eine Landschaft mit einem Kornfeld und
auffliegenden Vögeln«) den Leser auf, dieses Bild einen Moment zu betrachten. Nach
dem Umblättern sieht der Leser das gleiche Bild noch einmal, begleitet von der Infor-
mation, es handle sich um van Goghs letztes Bild vor seinem Selbstmord. Wir sehen
jetzt ein anderes Bild, da wir, bedingt durch jenen Satz, das Sichtbare anders sehen:
»Es fällt schwer, genau zu beschreiben, wie der Text den Bildeindruck verändert hat,
aber zweifellos hat er ihn verändet. Das Bild wirkt jetzt als Illustration des Textes.«6

2 Vgl. Butor (Anm. 1),S. 21.


3 Butor (Anm. 1), S. 15.
4 Vgl. Butor (Anm. 1),S. 17.
5 John Berger, Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Dt. v. Axel Schenck. Reinbek 1994
6 Berger (Anm. 5), S. 28.
LITERARISCHE BILDER-BÜCHER ALS IMAGINÄRE MUSEEN 267

Performative Effekte haben die (kurzen oder langen) »Namen« der Bilder nicht zu-
letzt insofern, als sie Übergänge vom Einzelbild zu anderen schaffen: Wörter durch-
dringen die Bilder nicht nur als abgegrenzte Gebilde, sie vernetzen sie auch untereinan-
der, fügen sie zu (wiederum niemals endgültigen, sondern ständig sich wandelnden)
Ensembles. Dies beginnt bei ganz trivialen und konventionellen Einmischungen der
Wörter in die »Malerei«: Malernamen verbinden einzelne Gemälde zum »Gieuvre«,
Epochen- und Gattungsbezeichnungen machen das Einzelwerk ebenso zum Exempel
wie beispielsweise Ausstellungstitel. Das sichtbare und gegenwärtige Werk wird dabei
auch in eine Beziehung zu nicht gegenwärtigen und sichtbaren Werken gesetzt. Damit
erzeugen die »Wörter in der Malerei« einen Effekt, der als Entgrenzung des jeweils
konkreten Museums- und Ausstellungsraumes beschreibbar wäre. Das einzelne Bild
wird, wo sich die »Wörter« einmischen, zum Glied in verschiedensten sprachlich kon-
stituierten Reihen: Es hängt nicht nur zwischen den anderen (sichtbaren) Bilder in sei-
ner Nachbarschaft, sondern auch in den Reihen abwesender Bilder, auf die es durch die
»Wörter« bezogen wird.
Die Texte, welche die Bilder durchkreuzen, sie zu Reihen zusammen-lesen, als dieses
und jenes sehen lassen und interpretieren, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Funk-
tionen und Intentionen. Kataloge, Texte in Bildbänden, Kritiken, kunsthistorische und
kunstwissenschaftliche Abhandlungen haben im weiteren Sinn informativ-didaktische
Funktionen; sie sagen - so die implizite Sprach-Spielregel - etwas über das Bild betref-
fende Tatsachen sowie über die Tatsache des Bildes selbst aus. Doch der Spielraum
möglicher Arrangements von »Wörtern« zu Bildern ist weitaus größer. Auch die Lite-
ratur mischt ihre Stimmen ins Gemurmel. Literarische Texte, die sich mit Gemälden
beschäftigen, setzen das sprachlich-textuelle Umfeld der Bilder auf oft recht eigenwilli-
ge Weise fort. Die Verpflichtung auf »Tatsächliches« und Verifizierbares, schon im Fall
der Kritik und des Kommentars manchmal problematisch, wird dabei außer Kraft ge-
setzt. Schriftsteller verwenden Bilder gern als Stimulans, um den literarischen Imagina-
tionsprozeß auszulösen oder in Gang zu halten. Geschichten und Gedichte werden zu
Bildern verfaßt, in Wörter »übersetzt«; verschiedene Bilder werden im Medium der Er-
zählung zu Bilder-Geschichten zusammengelesen. Der Übergang zwischen »Literatur«
und »Nicht-Literatur« (bzw. dem, was man »Fachliteratur« nennt) ist bei diesen Expe-
rimenten mit Gemälden und Graphiken allerdings fließend, da auch der wissenschaftli-
che Diskurs nicht ohne Erzählungen auskommt, die Literatur andererseits oft an wis-
senschaftlich-sachbezogene Diskurse anschließt.
Der Literatur vor allem ist es möglich, mit den oben genannten Funktionen der
»Wörter in der Malerei« zu spielen: mit der performativen Dimension von Titeln, Be-
nennungen, Erläuterungen und Beschreibungen, mit der sinnerschließenden oder sinn-
konstitutiven Rolle von Auslegungen, mit Strategien des Zusammenlesens von Einzel-
bildern und der Erweiterung physisch begrenzter Bild-Räume durch den Verweis auf
Unsichtbares. Das Spiel mit diesen Strategien bezieht seinen Reiz vor allem aus der
Möglichkeit ihrer unkonventionellen Anwendung, und so werden Bilder oft durch li-
terarische Texte in eigenwilliger Weise erschlossen, kommentiert und interpretiert. Sie
können etwa durch irritierende, weil den ikonographischen Codes oder den alltägli-
chen bzw. kulturspezifischen Sehgewohnheiten zuwiderlaufende, Angaben zum jewei-
ligen Sujet auf eine zunächst »falsch« erscheinende Weise ausgelegt werden - wobei
268 MONIKA SCHMITZ-EMANS

sich dann erweist, daß es keinen absoluten Maßstab der Wahrheit oder Falschheit des
Verstehens von Bildern gibt. Die »Übersetzung« des Bildes in den literarischen Text
kann in buchstäblichem wie übertragenem Sinn gegen den Strich konventioneller (und
dabei auch immer schon sprachlich gesteuerter) Bildexegese verlaufen; Bedeutungen
können verdreht werden; Marginales kann in den Vordergrund rücken. Gern »lesen«
die literarischen Erzähler auch mehrere Bilder zusammen, die zunächst gar nicht zu-
sammengehören, oder sie unterlegen sie mit Geschichten, die zunächst überhaupt nicht
zu ihnen gehören. Und so erhebt sich im Gemurmel rund um die Bilder gelegentlich
auch eine schrill oder leise subversive Gegenstimme.7
Unter dem Aspekt der offenkundigen wechselseitigen Durchdringung von »Wör-
tern« und »Malerei« betrachtet, sind Museumsräume und Text-Bild-Bände vergleich-
bar. Hier wie dort umgeben Wörter die Bilder einerseits ganz konkret, andererseits
aber auch im Sinne virtueller und subkutaner Bezüge; hier wie dort treten Bilder und
Texte in einen manchmal spannungsvollen expliziten oder impliziten Dialog. Das illu-
strierte Buch kann als imaginäres Museum konzipiert sein, seine Lektüre zum ima-
ginären Gang durch einen Raum der Bilder werden - am Leitfaden der Texte, die dabei
keineswegs immer einen linearen Weg vorzeichnen müssen.8 Dies gilt auch für literari-
sche Bilder-Bücher.9 Gerade auf dem Gelände des Literarischen entstehen immer wie-
der imaginäre Museen: Bilder werden zusammengetragen, so als gehörten sie zusam-
men, und ein verbindender Text besiegelt diese Gemeinschaft.10 Nahtlos sind die Über-
gänge von Texten mit ästhetisch-kunstkritischer und kunsthistorischer Thematik zum
provokanten, literarischen Experiment mit ungeläufigen Ordnungen des Lesens und
Zusammenlesens von Bildern. Die folgenden Beispiele repräsentieren auch unter die-
sem Aspekt verschiedene Spielformen des imaginären literarischen Museums.
Die Fischer-Taschenbuchreihe kunststück besteht aus Monographien, die jeweils ein
Werk der bildenden Kunst vorstellen und in der Regel von Kunsthistorikern verfaßt

7 Auf den aus dem Regelverstoß resultierenden Irritationseffekt setzen manchmal auch die Maler
selbst, wenn sie ihre Bildsujets in unerwarteter Weise betiteln, womöglich gar vordergründig
»falsche« Namen ins Bild selbst integrieren. Diverse Gemälde Magrittes mit integrierten Schriftzügen
stellen Schwcllcnphänomene zwischen bildender Kunst und literarischem Experiment dar, welche
das Operationspotential der »Wörter in der Malerei« ausloten. An ihnen zeigt sich ein spezifischer
Effekt provozierend »falscher« oder irreführender Zuordnung von Namen, Titeln, Geschichten und
anderen Texten zu Bildern entsprechend auch mit modellhafter Deutlichkeit: Wo (vordergründig) et-
was nicht »stimmt«, weil die Zuordnung zwischen Wörtern und Bildern gegen eine etablierte Spiel-
regel verstößt, da wird der Rezipient dazu stimuliert, neue Texte zum Bild zu erzeugen, sich etwa ei-
ne Theorie oder eine Geschichte zurechtzulegen, welche das irritierende Ensemble erklären könnte.
Wo immer im die Bilder umgebenden inter-textuellen Gemurmel Provokantes, Widersprüchliches
oder gar Paradoxes formuliert wird, da leistet dies der Fortsetzung des Gemurmels Vorschub.
8 Vgl. u.a. Fritz J. Raddatz (Hrsg.), ZEIT-Museum der 100 Bilder, Frankfurt am Main 1989.
9 Manche dieser Museen können im zweifachen Sinn als imaginär gelten, insofern neben dem Museums-
Raum selbst auch die Bilder, die im jeweiligen literarischen Text evoziert werden, Produkte der literari-
schen Phantasie sind. Manchmal kann aus der Perspektive des Lesers nicht entschieden werden, ob der
Text von realen oder imaginären Bildern spricht.Viele imaginäre Museen der Literatur sind jedoch
durchaus aus realen Bildern zusammengesetzt, so paradox dies auch klingen mag. Gemeint sind Texte,
die sich auf Werke beziehen, die es wirklich gibt, und von denen Reproduktionen gezeigt werden - oh-
ne daß diese Werke jedoch irgendwo anders zum Ensemble gefügt wären als im Buch.
10 Bis heute blieb ungeklärt, ob es die von Philostrat in den Eikones beschriebenen Bilder überhaupt
gab; wahrscheinlich existierten manche und andere nicht. (Philostratos, Die Bilder. Dt. übers, u. erl.
v. O t t o Schönberger. München 1968.)
LITERARISCHE BILDER-BÜCHER ALS IMAGINÄRE MUSEEN 269

sind, also aus einer Serie von Museen in Taschenbuchformat. In dieser Serie hat John
Berger einen Band über Diego Veläzquez' Gemälde Äsop vorgelegt, dessen Untertitel -
Erzählungen zur spanischen Malerei - allerdings bereits auf den spezifischen, vom
Konzept der Gesamtreihe abweichenden Charakter dieses Textes hindeutet." Verspro-
chen wird eine Textgattung, die nicht dem kunsthistorischen, sondern dem literari-
schen Diskurs zugehört. Dennoch bricht Berger keineswegs ganz mit den Spielregeln
der Kunstkritik; er informiert über den Maler und seine Zeit, ferner bietet er in einer
Art Anhang sachlich-historische Informationen über das Äsop-Bi\d. Doch der über-
wiegende Teil seines Textes gilt subjektiv gefärbten Beobachtungen an Bildern und be-
steht aus Reflexionen, Erinnerungen sowie - Erzählungen. Diesen Text begleiten über
40 Illustrationen.
Daß zur Interpretation eines bestimmten Gemäldes andere Werke desselben Malers
und derselben Epoche oder Darstellungen analoger Sujets vergleichend herangezogen
werden, so wie es hier geschieht, ist an sich nicht ungewöhnlich und entspricht dem
Konzept der Reihe kunststück. Aber die Auswahl der Bilder, mit denen Berger Veläz-
quez' Äsop umstellt, nimmt sich ebenso eigenwillig aus wie der Kommentierungsstil.
Die Bilder insgesamt wirken zumindest auf den ersten Blick wie ein Sammelsurium
von Heterogenem. So rücken neben das Tlsop-Porträt etwa das Foto einer schweizeri-
schen Bäuerin, ein von Goya gemalter Hund, ein von Veläzquez gemalter Hund, das
Foto einer andalusischen Landschaft, eine Eisenskulptur des Julio Gonzales von
1936/37, das Foto eines schlafenden Mannes von 1968 sowie verschiedene Reproduk-
tionen und Teilreproduktionen europäischer Gemälde mit verschiedenen Sujets aus
dem 16. bis 20. Jahrhundert. Es ist erst der Text, der diese verschiedenartigen Bilder zu
einem Ensemble werden läßt; er erprobt an dem heterogenen Bildmaterial seine Fähig-
keit zum Zusammen-Lesen, indem er Vergleichshinsichten vorschlägt, Zusammenhän-
ge behauptet - und damit begründet. Berger geht es bei seiner Vernetzung heterogener
Bilder nicht um konventionelle Analogien der Motive und Sujets. Wichtiger ist das
vom interpretierenden Text selbst jeweils den Gemälden und Fotos zugeschriebene
verbindende Thema, so ist im Fall der Reproduktionen der Veläzquez-Porträts einiger
Hofzwerge ihr Blick als Indikator eines Gefälles zwischen Macht und Machtlosigkeit
anzusehen; auch die fotografierte Schweizer Bäuerin und die gemalte Äsopfigur selbst
werden im Zeichen dieser Thematik betrachtet. Komplementär zu den Porträts der
machtlosen Ironiker sieht der Leser das Bild eines Mächtigen ohne jede Ironie und
Selbstironie: General Franco, fotografiert 1969. Ohne den begleitenden und die Span-
nung zwischen den Bildern erzeugenden Text, wäre kaum nachvollziehbar, was der
Diktator in einem Buch über Veläzquez' Äsop zu suchen hat. Das Sichtbare wird auf
modellhafte Weise einer Ordnung unterworfen, die der Text erzeugt. Zudem wird die
Sphäre des im Bild Gezeigten immer wieder überschritten. Gemälde wie Fotos sind für
Berger primär ein Anlaß, explizit nach Dingen und Zusammenhängen zu fragen, die
jenseits der positiven Darstellung liegen - nach Vorgeschichten, Haltungen, Empfin-
dungen oder nach einem unsichtbaren Pendant der sichtbaren Gestalt. Programmati-
schen Charakter besitzt die Auseinandersetzung mit Äsop; die gemalte Gestalt wird wie
eine wirkliche behandelt, die ein Geheimnis hat.

11 John Berger, Veläzquez »Äsop«. Erzählungen zur spanischen Malerei. Frankfurt am Main. 1991
270 MONIKA SCHMITZ-EMANS

»Er steht da, als habe ihn jemand angerufen. Wer? Ein Gericht? Eine Räuberbande?
Eine sterbende Frau? Reisende, die ihn um eine weitere Geschichte bitten?«12
Auch solche Fragen ans Sichtbare sind bereits Interpretationen. Vor allem aber ha-
ben sie einen charakteristischen »Öffnungs«- oder »Schwellen«-Effekt, denn gerade sie
suggerieren die grundsätzliche Möglichkeit, das Sichtbare auf Nichtsichtbares hin zu
transzendieren. Die »Wörter in der Malerei« sind es, welche diese Suggestion erzeugen,
und aus Wörtern besteht nicht zufällig all das, wonach Berger seinen Äsop fragt: Anru-
fe, Bitten, Geschichten. Implizites Thema des kunststück-B'indchens über ein Gemälde
sind die Wörter, die Wörter »dahinter«.
Bergers Motivation, sich mit dem Veläzquez-Gemälde zu befassen, geht in zweierlei
Hinsicht zurück auf das Interesse am Geschichtenerzählen: Zum einen stimuliert ihn
das Ausgangs-Bild ebenso wie die zum Vergleich herangezogenen Fotos und Repro-
duktionen dazu, Geschichten zu erzählen, und zum anderen ist Äsop selbst der Ge-
schichtenerzähler par excellence. In Bildern geronnen ist die jeweilige Lebensgeschich-
te des Dargestellten, Äsops Gesicht ist Erinnerung an die Geschichten, die er erzählte,
zugleich auch Erinnerung an andere Gesichter, in denen Geschichten zu lesen waren.
Berger behandelt das Werk des spanischen Malers wie einen Adventskalender mit vie-
len Türchen, indem er die gemalte Oberfläche als Oberfläche thematisiert und immer
wieder Durchstiege von dieser Oberfläche in ein Dahinter unternimmt. Die Bildchen
hinter den Türen jedoch schafft der Interpret selbst herbei: die erzählten Geschichten,
die Reproduktionen anderer Gemälde und Fotos, die Erinnerung an weitere unsichtba-
re Bilder und unerzählte Geschichten. Sätze wie »Eine kleine Geschichte für Äsop. Je-
der kann sie auslegen, wie er will« (S. 22) deuten darauf hin, daß das Sichtbare primär
zum Anlaß des Geschichtenerzählens wird, die jeweilige Geschichte dann aber ihrer-
seits zur weiteren Entdeckung oder Erfindung von Texten stimulieren soll. Das, was an
kunsthistorischen Informationen in Bergers Darstellung eingeht, ist, wie die sichtbaren
Bilder, nur ein Vordergrund, den der Geschichtenerzähler zu durchstoßen hat. Der Ge-
stalt des Fabeldichters Äsop wird ein Blick zugeschrieben, der das Vordergründige im-
mer schon durchstieß. Die Augen des gemalten Äsop erscheinen als gemalte Ver-
heißungen weiterer möglicher Geschichten - als Hinweise auf die Unabschließbarkeit
des Erzählens.13 Hinter Geschichten finden sich andere Geschichten und so fort ad in-
finitum; die Begegnung mit dem sichtbaren Bild ist es, welche den literarischen Ge-
schichtenerzähler zur Besinnung auf diesen Tiefenraum der Geschichten veranlaßt, so
wie Äsop selbst (laut Berger) das Gesehene immer wieder transzendierte.
Von Jean Genets Beschäftigung mit Rembrandt zeugen drei Texte, die 1995 in einem il-
lustrierten Band publiziert wurden: Le secret du Rembrandt (1958) sowie zwei Fragmen-
te, erschienen 1967 unter dem gemeinsamen Titel Ce qui est reste d'un Rembrandt dechire
en petits carres bien reguliers, et foutu aux chiottes (Was von einem Rembrandt übrigge-
blieben ist, der säuberlich in kleine, viereckige Fetzen zerrissen und ins Klo geschmissen

12 Berger (Anm. 11), S. 5.


13 Berger (Anm. 11) S. 17.
»Indirekt teilen die Augen Äsops eine Menge über das Geschichtenerzählen mit. Ihr Ausdruck ist
nachdenklich. Alles, was er gesehen hat, vertiefte seinen Sinn für die Rätsel des Lebens: Für diese
Rätsel findet er Teilantworten - jede Geschichte ist eine Antwort, aber jede Antwort, jede Geschich-
te wirft eine weitere Frage auf, und so kommt er nie zum Ziel, und das hält seine Neugier wach.«
LITERARISCHE BILDER-BÜCHER ALS IMAGINÄRE MUSEEN 271

wurde«). Der Schrecken, den der Kunstfreund angesichts der scheinbaren Verheißung
dieses Titels empfinden mag, legt sich schnell: Niemand wirft hier einen Rembrandt ins
Klo. Säuberlich zerrissen - in viereckige Stücke und Stückchen - werden die Gemälde al-
lerdings, und zwar bedingt durch das Layout des Buches. Genets Text wird begleitet von
Reproduktionen Rembrandtscher Gemälde und Zeichnungen - und zwar, mit sehr weni-
gen Ausnahmen, nicht der Bilder als ganzer, sondern einzelner Ausschnitte. Die Bildseg-
mente wirken teilweise höchst partikulär, sind gelegentlich so aus dem Ganzen heraus-
gelöst, daß dargestellte Objekte sich zu abstrakten Strukturen wandeln. Erzeugten die
Werke als ganze einen Eindruck von Räumlichkeit, so wird der Betrachter durch die Aus-
schnittvergrößerungen mit Flächigem - mit Oberflächen - konfrontiert. Genets Bemer-
kungen gelten ebenfalls vorzugsweise Einzelmotiven und Bildausschnitten, und so er-
zeugt der Text den Eindruck eines punktuellen Kratzens an Oberflächen. Die Idee einer
Differenz zwischen Oberfläche und Dahinter, Sichtbarem und Unsichtbarem grundiert
auch seine Beschreibungsweise. Gemaltes, Sichtbares wird wiederum als Vordergrund ge-
deutet. Hinter ihm gesucht werden verborgene Geschichten und Geheimnisse.

Wüsche man Seine lesende Mütter, so fände man unter den Falten das bezaubernde junge
Mädchen, das sie zu sein fortfährt. Madame Tripp könnte man nicht von ihrem Verfall reini-
gen, sie ist nur das, was in all ihrer Schärfe zum Vorschein kommt. Es ist da. Offenkundig.
Offensichtlich von einer Gewißheit, die den Schleier des Malerischen durchsticht. [...] Ha-
ben Sie schon einmal eine Wunde gehabt, am Ellenbogen zum Beispiel, die sich entzündet
hat? Da gibt es Schorf. Mit ihren Fingernägeln heben sie ihn an. Die Eiterfäden darunter, die
diesen Schorf verfaulen lassen, halten sich sehr lange... Wahrhaftig, es ist der ganze Organis-
mus, der für diese Wunde an der Arbeit ist. Auf jedem Quadratzentimeter einer Mittelhand
oder einer Lippe von Madame Tripp ist es ebenso.14

Das Sichtbare als Schorf auf einer Wunde: der implikationsreiche Vergleich illustriert -
über seine auf den Gesamttext zu beziehende Gleichnisfunktion hinaus - einmal mehr
exemplarisch die Macht des Wortes zur Transformation des Sichtbaren: Das im Zeichen
dieser »Wörter« betrachtete Bild weckt Schauder. Vom Kommentator als Oberfläche
bezeichnet, wird die gemalte Haut zur Oberfläche eines von Zeit und Krankheit ver-
wundeten Körpers. Während Genet die surreal anmutende Idee durchspielt, man kön-
ne die Oberfläche eines Bildes fortwaschen oder das Gemalte wie den Schorf auf einer
Wunde ablösen, um dahinter etwas anderes zu entdecken, integriert Berger in die Folge
seiner Bildbeispiele die Reproduktionen zweier einander komplementärer Gemälde,
welche selbst schon die Idee der entfernbaren »Oberfläche« erzeugen: Die bekleidete
und die nackte Maja Francisco de Goyas (1797). Der kommentierende Text macht den
modellhaften Charakter des doppelten Sujets deutlich: Alles Sichtbare ist über Un-
sichtbares gelegt wie eine Hülle, ein Schleier. Der Maler selbst hat im Fall der Maja die
äußere Verschleierung fortgenommen - der Schriftsteller aber geht weiter, verallgemei-
nernd, und statuiert, daß auch die nackte Haut nur eine andere Art der Verhüllung ist:

Folgt man den spanischen Meistern, so waren die Erscheinungen eine Art Haut. [...]. Es ist
bezeichnend, daß dieses Thema des Bekleideten/Unbekleideten gerade den Spaniern begeg-
nete und einzigartig in der Geschichte der Kunstgeschichte ist: Die weiße Haut der nackten
Maja ist so sehr Hülle wie ihr Kostüm. Was sie ist, bleibt geheim, unsichtbar.

14 Jean Genet, Rembrandts Geheimnis. Gifkendorf 1996, S. 15; S. 19.


272 MONIKA SCHMITZ-EMANS

Die Erscheinung aller Dinge - sogar eines Felsens oder einer Rüstung - ist gleichfalls eine
Haut, eine »Membran«. Ob warm oder kalt, runzelig oder glatt, trocken oder feucht, weich
oder hart oder ausgefranst - das Hautähnliche des Sichtbaren bedeckt alles, was wir sehen,
ohne die Augen zu öffnen, und es täuscht uns, wie die capa den Stier täuscht.15

Das »Dahinter«, um das es Genet ebenso vorrangig geht wie Berger, ist mit malerischen
Mitteln nur andeutbar, nicht darstellbar, da das Reich der Malerei das des Sichtbaren ist.
Es erschließt sich hingegen - wenn auch niemals endgültig und erschöpfend - auf zwei
anderen Wegen: erstens durch die »Wörter«, welche es evozieren, sowie zweitens
durch die Praxis der Fragmentierung von Gemälden. Die Wörter suggerieren, entwer-
fen oder erzählen ein (freilich immer wieder erstes und vorläufiges) »Dahinter« aus
Sprache; die Bruchkanten der Bildsegmente aber erinnern auf ihre Weise daran, daß al-
les Sichtbare nur Fragment, nur Ausschnitt aus einem zu denkenden unsichtbaren Zu-
sammenhang ist. Eine Transzendierung des Sichtbaren auf Unsichtbares hin erfolgt bei
Genet nicht zuletzt dadurch, daß auch er daran erinnert, welche Texte und Geschichten
chronologisch »hinter« den Bildern Rembrandts stecken: die Biblischen Texte - und
die Geschichten, die Rembrandts Leben ausmachten. Doch es geht nicht an, bei irgend-
welchen Geschichten Halt zu machen. Jenseits des geschriebenen Textes sollte der Weg
des Lesers weitergehen, das Gelesene hinter sich lassend wie der Text die Bilder. Genets
letzter (fragmentarischer) Rembrandttext bricht ab mit dem Satz:
»Und natürlich hat das ganze Werk von Rembrandt nur dann einen Sinn - wenig-
stens für mich - wenn ich weiß, daß das, was ich soeben schrieb, falsch ist.«16
Dem kunstkritischen Diskurs steht Genets Text ferner als der Text Bergers. Zwar ist
er im weiteren Sinn historiographisch angelegt, insofern er die Gemälde Rembrandts in
Beziehung zu Stationen aus dessen Leben setzt, aber dieses Leben selbst erscheint par-
tikularisiert zu Episoden - als eine Folge von Fragmenten, die sich der Betrachtung als
Zusammenhang verweigern. Wie Berger, so lenkt auch Genet im Umgang mit Bildern
wie mit Ereignissen vorzugsweise den Blick auf Oberflächen als Oberflächen, und der
Segmentcharakter der Bildreproduktionen verstärkt diesen Effekt: Der Betrachter sieht
oft eher Farbe und Farbstrukturen, als daß er gemalte Dinge oder Personen erkennen
könnte, und der Blick findet schon darum auf den Bildausschnitten keine Ruhe. Was als
Bestandteil einer Gesamtkomposition identifizierbar war, verliert seine Eindeutigkeit,
wird zum Rätsel, das unterschiedliche Decodierungen zuläßt. Die im Anhang beige-
fügten Kleinstreproduktionen der Gesamtgemälde läßt den fragmentarischen Charak-
ter der den Text begleitenden Bilder nur noch stärker hervortreten.
Berger wie Genet verhandeln in ihren Kunst-Büchern zumindest indirekt und mit-
telbar auch die Sache der Literatur. So geht es allgemein um Künstler und Künstlertum,
um die »Wahrheit« der Kunst und um Instanzen, welche diese verbürgen könnten.
Erörtert werden Perspektivierungen und Fragmentierungen, Spannungen zwischen
Verhüllung und Entlarvung, zwischen Vordergrund und Hintergrund, Oberfläche und
»Geheimnis«, Sichtbarem und Unsichtbarem - und all diese Themen erschließen einer-
seits Zugänge zu den Bildern, doch sie verweisen andererseits auch auf zentrale li-
terarästhetische Fragen und literarische Strategien.

15 Berger (Anm. 11), S. 40.


16 Genet (Anm. 14), S. 85.
LITERARISCHE BILDER-BÜCHER ALS IMAGINÄRE MUSEEN 273

Analoges gilt für Alain Robbe-Grillet. Dieser hat 1975 zu einer Folge von Magritte-
Gemälden, die seinem Text (zumindest bei der selbständigen Publikation) als Illustra-
tionen beigefügt sind, einen Erzähltext verfaßt, der sich deutlich vom Diskurs der
Kunstkritik absetzt. 17 Hier wird kein Gemäldekommentar, keine Werkgeschichte, kein
biographischer oder kulturtheoretischer Essay geboten. Stattdessen wird der Bilderfol-
ge eine Art von Kriminalerzählung unterlegt; Robbe-Grillet betrachtet die Gemälde
Magrittes nicht als Kunstwerke, sondern als Szenen einer mysteriösen Geschichte. So-
wohl die gemalten Szenerien als Ganze wie auch die Bilddetails werden wie zu ent-
schlüsselnde Geheimnisse behandelt, also wiederum wie etwas Oberflächliches, das da-
zu provoziert, »dahinter« zu sehen. Erneut suggeriert die Behandlung des Sichtbaren
als Vordergründiges die Existenz eines Hintergründigen, eines Mysteriums; Bilder ver-
wandeln sich zu potentiellen Schwellen zwischen Sichtbarem und Verborgenem, indem
sie vom interpretierenden Text als solche Schwellen ausgegeben werden. Es ist keine
kohärente und nachvollziehbare Geschichte, welche der Erzähler in Robbe-Grillets
Text »hinter« den sichtbaren (angeblichen) Indizien zu entdecken vorgibt, sondern eine
ihrerseits rätselhafte Fügung von fragmentarischen und hypothetischen Teilgeschich-
ten. Die Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem wird vom erzählenden Bild-
Exegeten insgesamt auf verschiedene Weisen überspielt - nicht allein durch Behauptun-
gen über Dinge »hinter« dem gemalten Vordergrund oder über angebliche Geräusche,
sondern auch durch die vorgebliche Entdeckung von Bildelementen, die tatsächlich gar
nicht zu sehen sind. Konstituiert wird das »Dahinter«, die Wirklichkeit jenseits des
Sichtbaren, durchgängig als Funktion seiner (und sei es hypothetischen) Beschreibung;
»dahinter« sind also einmal mehr die »Wörter«, die sich eigenwillig in die »Malerei«
einmischen. Gerade Magrittes Bilder zum Anlaß einer solchen literarischen Exkursion
vom Sichtbaren ins Virtuelle zu nehmen, bietet sich aus verschiedenen Gründen an:
Magritte selbst ist in kleinerem Maßstab analog verfahren, indem er seinen Gemälden
rätselhafte Titel gab, welche auf mysteriöse »Hintergründe« hindeuten; bereits die Zu-
sammenfügung heterogener Objekte oder Szenenfragmente in seinen Bildern, die Dar-
stellung surrealer Kollisionen von Inkompatiblem, provoziert zum Erzählen von Ge-
schichten, welche derlei Fügungen und Kollisionen plausibel machen könnten - und sei
es durch Erzählungen über Träume und Halluzinationen. Magritte selbst malt, als male
er Oberflächen, die durchstoßen werden müssen; das Motiv der Oberfläche, der Ver-
hüllung, der Verdeckung, der Haut und Bekleidung wird entsprechend häufig zum
Bildsujet. Robbe-Grillets Text folgt dieser Einladung der Bilder ins »Dahinter«, be-
kräftigt als Konstrukteur eines imaginären Magritte-Museums die Idee, daß hinter al-
lem Sichtbaren Fremdes und Befremdliches steckt. Jenseits der gemalten Schwellen er-
schließt sich ein Raum aus Wörtern und Texten, freilich oft auch aus anderen Bildern,
virtuellen Bildern, vergessenen Bildern. Nie erreicht der Besucher des imaginären Mu-
seums hier einen Endpunkt.

Michel Butor selbst hat auch als literarischer Erzähler die Wirkungen der »Wörter in
der Malerei« erkundet. Zu einer chronologisch angeordneten Folge von Gemälden des
Malers Paul Delvaux erzählt er 1975 eine Traumgeschichte (Le reve de Paul Delvaux)
welche auf ihre Weise mit der Spannung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem

17 Alain Robbe-Grillet, Rene Magritte, La belle Captive. Brüssel 1975


274 MONIKA SCHMITZ-EMANS

spielt. Publiziert wurde dieser Text (zunächst) in einem Band, der neben Butors Erzäh-
lung und den Reproduktionen der Gemälde auch eine illustrierte Abhandlung des
Kunsthistorikers Jean Clair über Delvaux' Bildersprache enthält.18 Direkt neben einem
konventionellen »Museum« in Buchform plaziert also auch Butor sein eigenes Muse-
um, ein Museum der Träume und Imaginationen.19 Die Spannung zwischen der kunst-
historischen Abhandlung und der Erzählung, welche die Bilder ihren jeweils eigenen
Spielregeln entsprechend umkreisen, ist die zwischen konkurrierenden Typen von
»Wörtern in der Malerei«: der kunsthistorische Diskurs folgt der Spielregel, daß über
die Bilder gesagt werden muß, was es »wirklich« mit ihnen auf sich hat, der erzähleri-
sche Diskurs dagegen widmet sich einmal mehr der Erkundung möglicher Geschich-
ten. Der Leser folgt bei seinem Weg durch Butors Erzählung der Fährte einer männli-
chen Protagonistengestalt, die selbst aus einem Gemälde von Delvaux (Le Salut)
stammt: ein schwarzgekleideter Mann mit Hut, der aus dem Bild heraus zu grüßen
scheint. Die Plazierung der ersten Illustrationen erzeugt den Eindruck, als bewege sich
dieser Protagonist, während er sich im Text vorstellt, durch imaginären Raum des Bu-
ches. Auch im folgenden wird mit Mitteln des Layouts suggeriert, hier vollziehe sich
ein Weg durch eine Bilder-Welt. Die Bilder formieren sich zu einer imaginären Stadt-
landschaft, die stationenweise erkundet wird. Dieser Verräumlichungseffekt wird vor
allem vom Text der Erzählung erzeugt. Physisch-sichtbares Pendant der imaginären
Museums-Stadt ist das Buch, das der Leser auf den Spuren des Protagonisten durch-
blättert.20 Aber die Bilder Delvaux' sind nicht allein wie Kulissen im imaginären Raum
der Geschichte aufgestellt, sie werden dafür teilweise auch zerlegt und zerschnitten -
anders als bei Genet nicht in säuberliche Rechtecke, sondern in Einzelgestalten. Butor
löst Figuren und Bildpartien, teilweise auch einzelne Körperteile oder Gebäudeteile aus
den Ausgangsgemälden heraus, um die kontextlos-änigmatischen Einzelstücke um so
effektvoller mit seinem Text zu umgeben. Ein einzelner Arm winkt, ein Balkon hängt
im Leeren, ein Mann sitzt wie deplaziert in einer Ecke herum, einige Frauen tauchen
auf, als seien sie gerade um eine Ecke gebogen, und die aus einer ursprünglichen Bild-
komposition herausgelöste Gestalt des Protagonisten selbst, nimmt sich auf den Buch-
seiten auffällig isoliert aus. Eine winkende Frauengestalt, auch sie ausgeschnitten aus
einer ursprünglichen Bildkomposition, wirkt insbesondere, als locke sie den Betrachter
über die Schwelle des Sichtbaren hinweg, hinein in etwas, das er (noch) nicht sieht. Die
Leere, aus der sie hervortritt, erscheint als Gleichnis des Raums, der, aus Unsichtbarem
bestehend, alles Sichtbare umgibt, insbesondere des Raums der Wörter, welche alle Bil-
der murmelnd umringen - so wie es hier der Text mit den Bildsegmenten tut. »Führe-
rin« («cicerone«) nennt der Erzähler diese Frauenfigur; in ihr personfiziert sich die
Führung, die der Leser selbst durch den Text der Erzählung erhält - eine Führung an
die Rückseite der Bilder, in den rätselhaften Raum der Geschichten. Einmal mehr wird

18 Michel Butor, Jean Clair, Suzanne Houbart-Wilkin, Delvaux. Brüssel 1975.


19 Allein der Titel, der das folgende Ensemble aus Bildern und Text als »Traum«« von Paul Delvaux aus-
weist (oder vorsichtiger: mit einem solchen Traum in Verbindung bringt), spielt auf die Differenz
zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem an. Träume sind nicht an sich sichtbar. Jener Titel suggeriert,
Delvaux habe sie sichtbar gemacht.
20 Butor bezieht den Einfall, seinen Erzähler auf einen Spaziergang durch die Bilder zu schicken, von
Diderot: Vgl. dazu Bernard Dieterle, Erzählte Bilder. Zum narrativen Umgang mit Gemälden. Mar-
burg 1988, S. 199.
LITERARISCHE B I L D E R - B Ü C H E R ALS IMAGINÄRE M U S E E N 275

das Sichtbare zum Anlaß des Übergangs ins Imaginäre, indem der Text es als Schwelle
behandelt; und einmal mehr trägt die Fragmentierung ursprünglicher Bildkompo-
sitionen dazu bei. Im Durchgang durch Bilder und Bildelemente berichtet der Er-
zähler nicht allein über änigmatische Ereignisse, er legt auch solche Texte frei, welche
den Maler Delvaux zu seinen Bildern inspirierten. Hier ist vor allem der Einfluß
Jules Vernes prägend gewesen.21 Butors Text verweist durch Namenszitate und andere
Anspielungen auf diesen Text im Hintergrund, aber er rekonstruiert nicht wie ein
Kunsthistoriker oder Philologe den Ausgangstext, er erzählt diesen eher weiter und
öffnet so die »Türen« der Bilder wie der Texte selbst zu neuen, bislang unerzählten Ge-
schichten.
Indem Bilder-Bücher wie das Genets, Bergers, Robbe-Grillets und Butors durch
sprachlich-literarische wie durch flankierende graphisch-buchgestalterische Mittel in
imaginäre Museums-Räume versetzen, sensibilisieren sie den Leser und Betrachter im
übertragenen Sinn für die »Räume« jenseits des konkret Sichtbaren, die Räume der
Wörter hinter und jenseits der Malerei, der Wörter, die sich stets einmischen, wo Bilder
betrachtet werden, der Wörter, aus denen die wirklichen und die möglichen Geschich-
ten zu den Bildern bestehen. Die entdeckten Geschichten sind, bezogen auf das Bild,
von dem sie ihren Ausgang nehmen, durch eine grundlegende Ambivalenz geprägt: Ei-
nerseits verstärken sie die Wirkung des Bildes, verwandeln es vor den Augen des Be-
trachters, versetzen es in imaginäre Bewegungen, lassen es sprechen - doch andererseits
führen sie von ihm fort, lassen es hinter sich - wie einen säuberlich in viereckige Stücke
geschnittenen Rembrandt, der seinen Zweck erfüllt hat.22 Neben den mit Gemäldere-
produktionen bebilderten imaginären Museen in Buchform gibt es nun auch solche
Texte, die nicht von Illustrationen begleitet werden, aber gleichwohl über gemalte Bil-
der sprechen; die Eikones des Philostrat bieten ein frühes, gleichsam kanonisches Bei-
spiel. Museen dieser Art können aus Erinnerungen an vergangene, verlorene, zerstörte
Bilder bestehen, aber auch aus Antizipationen von Bildern, die es noch nicht gibt. Das
imaginäre Museum ohne Bilder hebt die Kunstwerke in den Wörtern und durch die
Wörter auf; der Doppelsinn des Wortes »Aufhebung« trifft dabei genau die Rolle, wel-
che hier den »Wörtern in der Malerei« zufällt.23

21 Delvaux verehrte Jules Verne; dessen Gestalt des Professors Otto Lidenbrock taucht mehrfach auf
seinen Bildern auf. Butor macht diesen Bezug deutlich, indem er Textpassagen aus Vernes Roman
Voyage au centre de la terre in seine eigene Erzählung integriert. Der Erzähler erscheint als zitathaf-
tes Double des Ich-Erzählers Axel aus der Voyage, die schöne Führerin als das seiner Verlobten
»Graüben«.
22 Vgl Ralf Konersmann, Rene Magritte: Die verbotene Reproduktion. Über die Sichtbarkeit des
kens. Frankfurt am Main 1991, S. 62. Konersmann zitiert Wilhelm Schapps Bemerkung:
»Von dem Bild strahlt eine Geschichte aus oder ein Entwurf zu einer Geschichte oder eine Frage
nach den Zusammenhängen, in denen das Bild stehen mag«, und bemerkt selbst: »In diesem Sinne sa-
gen wir auch: ein Bild spricht uns an, es sagt uns etwas. Das Problem ist nur, daß eine solche Ge-
schichte, in der wir, die wir uns gemeint glauben, uns das Gesehene zurechtlegen, stets wegführt vom
Bild. [...] Eine Geschichte umfaßt mehr als den einen Moment, den das Bild bannt. Als Versuch einer
ersten Rationalisierung sagt sie immer schon ein wenig anderes, als das Bild zeigt. [...] Es gibt die Ge-
schichte gar nicht, die die Augenblicklichkeit des Bildes in Form eines Textes wiederzugeben ver-
möchte.«
276 M O N I K A SCHMITZ-EMANS

Literarische Experimente mit imaginären Museen provozieren zur Reflexion nicht


nur über die »Wörter in der Malerei«, sondern auch über die »Bilder in der Literatur«;
fungieren doch die Bilder als »Medien«, welche sich ins G e m u r m e l der Texte einmi-
schen u n d hinter wirklichen Geschichten weitere mögliche Geschichten entdecken las-
sen. Jene Experimente erweitern unter beiden Aspekten die Räume, in denen sich der
Leser bei seinem Spaziergang durch das buchförmige M u s e u m bewegt, geben D u r c h -
blicke frei auf andere Texte und Bilder, die »dahinter« stecken oder stecken k ö n n t e n ,
spielen an auf Unausdrückliches, behaupten Unerwartetes, erproben alte und neue G e -
schichten. Z u d e m demonstrieren sie die Kontingenz und Veränderbarkeit von Bilder-
Arrangements, erinnern daran, daß jedes M u s e u m ein Mobile ist, dessen Einzelbilder in
verschiedenen Reihenfolgen gelesen werden könnten, woraus sich dann vielleicht ver-
schiedene Geschichten ergäben. Ein Gleichnis Giorgio Manganellis für die Lektüre von
Büchern, die als ins Unermeßliche sich erstreckende Gebäude beschrieben werden, bie-
tet sich zur Übertragung auf die Ensembles von Bildern und Texten in imaginären wie
in realen Museen an:

Kein Buch geht zu Ende; die Bücher sind nicht lang, sie sind breit. Die Seite ist, auch ihrer
Gestalt nach, nichts anderes als eine Tür, die in die hinter ihr liegende Gegenwart des Buches
führt oder eigentlich zu einer anderen Tür, die wieder zu einer Tür führt. Ein Buch zu Ende
lesen heißt die letzte Tür öffnen, damit sie sich nie mehr schließt, weder sie noch die ande-
ren, die wir bis jetzt geöffnet haben, um ihre Schwellen zu überschreiten, [...]. Das zu Ende
gelesene Buch ist unendlich, das geschlossene Buch ist offen; [...] alle Türen sind durch-
dringbar, die offenen Türen unterscheiden sich nicht von den geschlossenen Türen, die
Türen führen von Tür zu Tür [...].24

Texte sind Schwellen zu Bildern jenseits der zunächst sichtbaren Bilder, Bilder sind
Schwellen zu wirklichen und möglichen Texten. Auch und gerade in literarischen Ex-
perimentalanordnungen mit fS\\d-Segmenten werden die verschiedenen Rollen der
»Wörter« im Text-Bilder-Reich experimentell erkundet; mittels der W ö r t e r wird aus-
einander- und wieder zusammen-gelesen. Offen ist dabei stets die Grenze zwischen
Zeigen und Erfinden. Eine Traumerzählung J o h n Bergers thematisiert den Weg an die
Rückseite des Sichtbaren im Zeichen dieser Spannung zwischen Entdeckung und
selbsttätigem Eingriff, zwischen Sehen-Lassen und Manipulation; der Bericht ist lesbar
als Metaerzählung über die Geschäfte der Literatur mit dem Sichtbaren, genauer: über
dessen Transformation:

23 Jean Tardieu, Mein imaginäres Museum. Dt. v. Gerhard M. Neumann und Werner Spies. Frankfurt
am Main 1965. Der Titel des hier zitierten Buches, das Auszüge aus zwei französischen Bänden bie-
tet, stammt nicht von Tardieu selbst, sondern von dem Herausgeber der deutschen Ausgabe, Werner
Spies. Dieser bemerkt im Nachwort:
»Die Texte, die Tardieu nach den Bildern anfertigt, treten an die Stelle der Bilder, treten ins Musee
Tardieu ein. Bild wird Wort. Wir sollen durchs Museum gehen, die Sammlung bewundern, die Bilder
hören [!]. Eluard hat dem Ausdruck 'donner ä voir'('zu sehen geben') einen neuen Sinn verliehen.
Tardieus Prosagedichte geben zu sehen, sind Schauspiel, Spektakulum. Wenn man von den »Bildern«
Tardieus spricht, gehört es dazu, ihren Aufbau zu sehen: Rhythmus, Wortwahl, Satzbau übernehmen
die Rolle von Linien, Farben, Malweise. [...] Er nähert sich den Malern nicht durch eine Feststellung,
die ein für alle Male gilt, sondern durch eine ganze Kette von Feststellungen. Im besten Falle würde
der Text das Bild aufheben.« (S. 85f.) Dies sei aber »nicht möglich«.
24 Giorgio Manganelli, Pmocchw. Ein Parallel-Buch zu Carlo Collodis Pinocchio. Dt. v. Marianne
Schneider. Frankfurt am Main 1993, S. 208.
LITERARISCHE BILDER-BÜCHER ALS IMAGINÄRE MUSEEN 277

Mir träumte, ich sei ein merkwürdiger Händler: ein Händler für Blicke und Erscheinungen.
Ich sammelte sie und verkaufte sie weiter. In meinem Traum hatte ich gerade ein Geheimnis
entdeckt! [...] Das Geheimnis bestand darin, daß ich bei allem, das ich betrachtete, in das In-
nere gelangen konnte - ein Eimer Wasser, eine Kuh, eine Stadt aus der Vogelperspektive [...],
eine Eiche - und, war ich einmal im Innern, die Erscheinung besser zu arrangieren verstand.
Besser meinte weder, daß das Ding schöner erschien oder in sich harmonischer, noch, daß es
den Typus charakterisierte [...] es bedeutete einfach, die Dinge mehr sie selbst sein zu lassen
[...]. Dies zu tun, machte mir Freude, und ich hatte den Eindruck, daß die kleinen Verände-
rungen, die ich von innen vornahm, den anderen gefielen.

Das Geheimnis, in die Dinge hineinzuschlüpfen, um sie so zu arrangieren, wie sie sich
dem Blick darbieten, war so einfach wie das Offnen einer Schranktür. Vielleicht ging es
nur darum, gerade da zu sein, wenn die Tür von selbst aufsprang. [...] als ich erwachte,
[...] hatte [ich] vergessen, wie man das Innere der Dinge betritt.«25
Imaginäre Museen in Buchform erinnern zunächst an die grundsätzliche Möglich-
keit, das »Innere« der Bilder zu erkunden, und sie schlagen begehbare Wege vor. Am
ganzen Bild wie an seinen Teilen wird im Medium Literatur vor allem wieder durch-
probiert: wie sich Bilder durch die Intervention von Wörtern verändern, indem sie
nicht nur von »vorn«, sondern auch von »hinten«, nicht nur von »außen«, sondern
auch von »innen« betrachtet werden. Jenseits der Oberflächen, hinter den Schrank-
türen verbirgt sich vieles, was noch nicht sichtbar ist: so die Arbeitshypothese, mit der
die Literatur den bemalten Leinwänden gegenübertritt - um dann im Zuge ihrer Aus-
einandersetzung mit dem Sichtbaren selbst zu realisieren, wovon sie spricht.

25 John Berger, Schritte zu einer kleinen Theorie der Sichtbarkeit. Ostfildern 1996, S. 28 f.
KARL LEIDLMAIR

Computertechnik und Kunst

Vorbemerkungen

Will man sich eingehender mit dem Thema Computerkunst auseinandersetzen, so ist es
sinnvoll, zunächst dort anzusetzen, wo das Geschehen am ehesten anzutreffen ist: am
Computer. Ein erste Recherche mit einem der im Internet verfügbaren Suchwerkzeuge
- beispielsweise mit Altavista1 - ergibt eine Trefferquote von ca. 70.000 abrufbaren Sei-
ten im WWW, wenn man in der Suchmaske die Begriffe »Computer« und »Kunst« mit
Hilfe einer logischen >und«-Verknüpfung abruft. Bei näherer Betrachtung dieser Tref-
ferquote stellt sich jedoch bald heraus, daß nicht jede der WWW-Seiten, in denen die
beiden Begriffe Computer und Kunst gemeinsam enthalten sind, auch nur annähernd
dem entspricht, was wir uns unter dem Thema Computerkunst erwarten können. In ei-
ner bunten und planlos zusammengewürfelten Mischung findet man Werbeeinschal-
tungen von Kunstgalerien, Selbstdarstellungen einzelner Künstler, die Ankündigung
von Kunstbüchern, sowie von selbsternannten Autoren abrufbare Artikel zum Thema
Computerkunst. Zugleich aber entdeckt man diverse am Computer durchgeführte Ex-
perimente zur Erzeugung spezieller ästhetischer Effekte - u.zw. in den Bereichen der
Musik, der Grafik, der kinetischen Kunst und des digitalen Bildes. So entsteht der Ein-
druck, als wären die Einsatzmöglichkeiten des Computers quasi deckungsgleich mit
dem Arbeitsfeld der Kunst.
Diese Argumentation läßt sich freilich leicht entkräften. Man kann dagegen einwen-
den, sie beruhe auf einer groben Verwechslung des Computers als Werkzeug zur Prä-
sentation und Ankündigung von Kunstwerken mit dem speziellen Eigencharakter der
Kunst. Man überlege sich hierzu nur die folgende hypothetische Frage: Wird ein Ge-
dicht allein kraft des Umstands, daß es mit einem Wordprocessor geschrieben wurde,
zu einem Beispiel für Computerkunst? Die Antwort darauf fällt nicht schwer: Von
Computerkunst kann nur dann sinnvoll die Rede sein, wenn der Werkcharakter des
Kunstwerks in einem direkten Zusammenhang steht zu den technischen Produktions-
bedingungen des Computers. Nur wenn das Kunstwerk seine Entstehung den speziel-
len medialen Charakteristika des Computers verdankt, ergibt die Redeweise von
»Computerkunst« überhaupt einen Sinn.
Bei der Beschreibung dieser medialen Charakteristika stehen wir allerdings vor dem
Problem, daß - zumindestens dem ersten Anschein nach - sich jedes Kunstwerk auch auf
dem Computer reproduzieren läßt. Man denke nur an einen CD-Player, an die Digitali-
sierung eines Bildes, an ein mittels Textverarbeitung erfaßtes Gedicht, an die SD-Darstel-
lung eines Tempels oder an einen Videoclip. Diese breite Palette an Darstellungsmöglich-
keiten sagt uns zwar wenig über den genuinen Eigencharakter der Kunst, dafür aber um
so mehr über die speziellen Grundeigenschaften eines Computers. Daß jedes Kunstwerk
auch auf dem Computer reproduziert werden kann, liegt an einem besonderen Charak-

1 URL: http://www.altavista.com
280 KARL LEIDLMAIR

teristikum des Computers, nämlich an der Universalität des in ihm realisierten Codes.
Was darunter näherhin zu verstehen ist, läßt sich auf anschauliche Weise an einem einfa-
chen Beispiel demonstrieren: der Entwicklung des sogenannten 3D-Fax.
Über ein Computergraphikprogramm wird ein dreidimensionales Gebilde entwickelt -
ein (Plastik-)Becher, -Würfel etc. Dieses dreidimensionale Gebilde läßt sich nun mittels
des 3D-Fax und einer automatisierten Werkhalle an jedem beliebigen Ort der Erde repro-
duzieren. Was hierbei freilich reproduziert wird, ist die Struktur des Gebildes - sein Code.
Die Materie wird bei der Übertragung des Codes ausgespart. Diese neue Technologie wur-
de bei ihrer Einführung in den Medien unter dem Titel »beamen« angekündigt. Unter »bea-
men« versteht man in der Sprache der Science fiction - man denke nur an das Beispiel
Raumschiff Enterprise - die Dematerialisierung eines realen Gegenstandes (im Extremfall
handelt es sich hierbei um einen Menschen) an einem Ort und - nach Übertragung mit
Lichtgeschwindigkeit - seine Rematerialisierung an einem anderen Ort. Die Pointe des
3D-Fax liegt indes nicht so sehr an seiner Technologie, sondern an seiner Bezeichnung als
»beamen«. Es wird hierbei nämlich unterstellt, daß das Reale am jeweils gebeamten Gegen-
stand - das, was er als Gegenstand ist - nichts anderes sei als strukturerhaltende Informa-
tion - eben ein Code.
Es ist ein wesentliches Merkmal des Codes, daß sowohl der konkrete Ort seiner
Realisierung als auch der dabei verwendete Stoff austauschbar sind. Die Identität des
3D-Fax beruht einzig und allein auf der Berechenbarkeit der Formel. Hat man die For-
mel erfaßt, so lassen sich beliebig viele Exemplare in verschiedenen materiellen Aus-
führungen herstellen. Dieses einfache Grundprinzip ist auch die maßgebliche Idee für
das Konzept der Computersimulation. Indem alle wesentliche Information bereits im
digitalen Code enthalten ist, wird in der Tat die materielle Hülle nebensächlich. Ein
Musikstück läßt sich daher auch ohne Informationsverlust in digitalisierter Form auf
eine Compactdisk übertragen - das gleiche gilt auch für Bild oder Text. Für die
Rückumwandlung des digitalisierten Bildes oder Tons benötigt man lediglich ein dazu
geeignetes Programm, also letztlich wiederum eine Rechenvorschrift, die den digitalen
Code über Bildschirm und Lautsprecher eindeutig in Bild und Ton rückübersetzt.
Mit dieser Übersetzbarkeit verbindet sich zugleich aber die Vorstellung, daß jede in
einem Kunstwerk enthaltene Information ohne Informationsverlust in einen digitalen
Code übersetzt werden könne.
Es ist wegen dieser Universalität des Computercodes nun jedoch schwer abzuschät-
zen, wie ein Kunstwerk denn beschaffen sein müsse, damit man berechtigterweise sa-
gen könne, es verdanke seine Entstehung ausschließlich den speziellen medialen Cha-
rakteristika des Computers. Von vornherein sollte klar sein: Wann Kunst am Compu-
ter im Sinne von Computerkunst zu verstehen ist, darüber läßt sich schwer ein im Rah-
men einer allgemein anerkannten Kunsttheorie erzielter Konsens herstellen. Das
einzige, was im Rahmen dieses Beitrags geleistet werden kann, ist die Entwicklung
heuristischer Grundgedanken, mittels derer Computerkunst zuallererst als Begriff pro-
blematisiert werden kann.
COMPUTERTECHNIK UND KUNST 281

1. Ein Beispiel aus der Praxis der Computerkunst

Aus den genannten Gründen scheint es mir nun zielführender, an Stelle von theoreti-
schen Grundsatzüberlegungen zunächst einmal ein prototypisches Beispiel aus der Pra-
xis der angewandten Computerkunst vorzubringen, also dort anzusetzen, wo diese
Kunst zumindestens in ihrem eigenen Selbstverständnis anzutreffen ist. Als Beispiel ver-
wende ich hierfür eine anläßlich des Ars Electronica Festivals in Linz präsentierte Perfor-
mance. Das Ars Electronica ist für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung beson-
ders geeignet, versucht es doch der avancierten Kunst eine Plattform zu Verfügung zu
stellen, um angesichts der digitalen Revolution zu einem neuen Selbstverständnis zu ge-
langen. Besonderes Anliegen der bei dieser Veranstaltung präsentierten Computerkunst
ist die künstlerische Aufarbeitung und Erkundung jener radikalen Änderungen und evo-
lutionären Kulturschübe, wie sie möglicherweise im Zeitalter der digitalen Revolution
ausgelöst werden können. Es geht bei diesem Forum darum, diese Revolution als neue
Kulturstufe zu begreifen und sie mit den Mitteln der Kunst zu reflektieren.2
Die im folgenden beschriebene Performance wurde beim Ars Electronica Festival
1997 von Steve Mann, einem Künstler am MIT, vorgestellt.3 Manns Versuche bestehen
darin, über einen größeren Zeitraum Videobrillen zu tragen und auf diese Weise Teile
seiner Welt nurmehr digital vermittelt wahrzunehmen. Das Kunstwerk bestünde in
diesem Beispiel in der von Mann selbst dargestellten neuen Symbiose von Mensch und
Computer. Mann verkörpert diese Symbiose allerdings in einer ganzen Reihe verschie-
dener Performances, von denen ich hier stellvertretend nur eine erwähnen möchte: das
electric feel sensing.4 Es handelt sich hierbei um ein in die Kleidung integriertes Radar-
system, mit dem Mann »fühlen« kann, ob sich jemand von hinten anschleicht. Das Sy-
stem baut ein elektromagnetisches Fernfeld-Wellenmuster auf, dessen Output dazu
verwendet wird, um am Körper angeschlossene vibrotaktile Wandler zu betätigen.
Schleicht sich beispielsweise jemand von hinten an Mann an, so kann er »erfühlen«, wie
sich der Anschleicher an seinen Körper »preßt«, obwohl sich die von hinten nähernde
Person noch in einem größeren Abstand befindet. Diese Apparatur kann noch verfei-
nert werden, um Objekte zu unterscheiden, die sich auf Mann zubewegen bzw. von
ihm wegbewegen. Ferner lassen sich auch durch zusätzliche Vorrichtungen die vom
Körper ausgelösten Streßsignale in einer Gefahrensituation via Internet an einen ausge-
wählten Freundeskreis versenden.
Der springende Punkt bei all diesen verschiedenen technischen Prothesen ist nun,
daß sie aufgrund des langfristigen Anpassungsprozesses mit den anderen Sinnesorga-
nen zu einer Einheit verschmelzen. Die verschiedenen von Mann verwendeten techni-
schen Prothesen werden also nach einer längeren Gewöhnungszeit zu einer Art verlän-
gertem Zeigefinger. Mit welchem Recht, so ist im Anschluß an diese beschriebenen Ex-
perimente zu fragen, kann Mann von sich in Anspruch nehmen, mit einer derartigen
Performance ein Kunstwerk darzustellen?

2 Vgl. Memesis: the Future of Evolution, hrsg. von Gerfned Stocker und Christine Schöpf. Ars electro-
nica 96, Wien und New York 1996
3 Steve Mann, Humamstic Intelligence. In: Fleshfactor: informationsmaschine mensch, Ars electronica
97. Hrsg. von Gerfried Stocker und Christine Schöpf. Wien und New York 1997, S. 217-231.
4 ebd. S. 224 f.
282 KARL LEIDLMAIR

Einen Hinweis in diese Richtung gibt uns Mark Weiser, technischer Direktor am
Xerox Palo Alto Research Center und Erfinder des ubiquitous Computing.5 Um
Mann's Anspruch auf Kunst zu untermauern, bedient sich Weiser zunächst der von der
Wahrnehmungspsychologie her bekannten Unterscheidung von Peripherie und Zen-
trum. Er beschreibt diesen Unterschied am Beispiel des folgenden bekannten Experi-
ments: Verwenden wir mit verbundenen Augen einen Stock, um die Umwelt zu erta-
sten, so verschwindet nach einer gewissen Gewöhnungsphase der Stock aus der Wahr-
nehmung und wir richten unsere Aufmerksamkeit allein auf die Welt, in der wir uns
mittels des Stockes orientieren. Der Stock wird zu einem Teil jener unauffälligen Peri-
pherie, die uns dazu dient, einen bestimmten Ausschnitt der Welt ins Zentrum unserer
Aufmerksamkeit zu rücken. In diesem Sinne verschmelzen die von Steve Mann ver-
wendeten technischen Geräte mit seiner peripheren Wahrnehmung und werden, wie
schon gesagt, zu einer Art verlängertem Zeigefinger. Eine Vorstufe dazu sind die bereits
vor Jahrzehnten von Erismann und Kohler an der Universität Innsbruck durchgeführ-
ten Experimente mit Umkehrbrillen: Werden solche Brillen über mehrere Tage getra-
gen, so dreht sich die wahrgenommene Welt wieder in ihre Ausgangslage zurück. 6 Die
Umkehrbrille wird also nach einer Gewöhnungszeit selbst zum Teil unserer unauffälli-
gen Peripherie.
Was aber nun jeweils Peripherie und Zentrum ist, steht nicht ein für allemal fest,
sondern hängt von den jeweiligen Umständen ab. Fahren wir mit einem Auto eine
Landstraße entlang, so konzentrieren wir uns gewöhnlich auf den Verkehr und die
Kupplung ist Teil der Peripherie. Erst wenn an der Kupplung eine Störung auftritt,
rückt sie ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit.
Nun zeigen die Experimente von Steve Mann, daß durch die neue Symbiose von
Mensch und Computer ganz anders geartete Peripherien entstehen können, die zu ei-
nem tiefgreifenden Wandel unseres Lebens Anlaß geben. Möglicherweise ändert sich in
den nächsten Jahren durch die medialen Charakteristika der computervermittelten
Realität im buchstäblichen Sinne der Boden, auf dem wir es gewohnt sind heute noch
zu stehen. Vollzieht sich nun diese Änderung auf der Ebene unserer peripheren Wahr-
nehmung, so erfolgt sie von uns unbemerkt. Mark Weiser sieht nun die Aufgabe der
Kunst vor allem darin, derart neue Peripherien - im Falle von Mann die Erfahrung
einer digital vermittelten Welt - ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.

2. Computertechnik und Kunst: begriffliche Klarstellungen

Kehren wir vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zu dem zentralen Thema dieses
Beitrags zurück, nämlich Möglichkeiten und Grenzen von Computerkunst auszuloten.
Welche Schlüsse lassen sich tatsächlich aus den Performances von Mann ziehen? Was
wir bis jetzt vorliegen haben, ist schließlich nur ein Beispiel, das in einem ganz be-
stimmten Kontext, nämlich der Ars Electronica, unter dem Titel »Computerkunst« an-

5 Mark Weiser, Penphery and the FleshFactor. In: Gerfried Stocker und Christine Schöpf: Fleshfactor:
informationsmaschine mensch, Ars electronica 97, a.a.O., S. 136-147.
6 Vgl. Ivo Kohler: Über Aufbau und Wandlungen der Wahrnehmungswelt. Sitzungsberichte der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften 227. Wien 1951.
COMPUTERTECHNIK UND KUNST 283

geboten wird und einen dazu passenden Kommentar - die Ausführungen von Mark
Weiser -, der diese Bezeichnung zu rechtfertigen versucht. Inwiefern dieser Anspruch
berechtigt ist, läßt sich - vor allem in Ermangelung einer einheitlichen, kanonischen
Kunstauffassung - nur vor dem Hintergrund eines Interpretationsrahmens darlegen, in
dem zunächst geklärt wird, was hier unter den zentralen Begriffen Computertechnik
und Kunst zu verstehen ist. Ich darf im Rahmen dieses Sammelbands darauf hinweisen,
daß ich - insbesondere bei der Klärung des Ausdrucks »Computertechnik« - zwar Mar-
tin Heideggers Sichtweise zu diesem Thema mitberücksichtige, ohne mich dabei aller-
dings von vornherein auf sein Vokabular festlegen zu wollen. Es geht fürs erste ledig-
lich um eine vorläufige Begriffsbestimmung, die dabei behilflich sein soll, die Frage
nach der Computerkunst zuallerst formulieren zu können, nicht um eine abgeschlosse-
ne Begriffsklärung und schon gar nicht um eine ausschließlich immanente Kommentie-
rung eines Heidegger-Textes.
Um den Ausdruck »Computertechnik« zu verstehen, ist es nützlich, den Unterschied
zur Technologie der klassischen Maschine herauszuarbeiten. Beginnen wir mit einer
kurzen Darstellung der klassischen Maschine. Deren Zweck ist es, physikalische Ge-
setzmäßigkeiten - sozusagen das Programm der Natur - in eine mechanische Appara-
tur umzusetzen, um auf diese Weise Kontrolle über Materie und Energie erlangen zu
können. Denken wir an eine Dampfmaschine. Die in den Gesetzen der Physik enthal-
tene Information wird vom Designer der Dampfmaschine dazu benutzt, um eine ent-
sprechende Maschine zu konstruieren, die Druckenergie in mechanische Energie um-
setzt. Das Design der Maschine - das in ihr realisierte Programm - ist aber nur implizit
in der Dampfmaschine enthalten.7 Die Dampfmaschine hat keinerlei Kontrolle über die
in ihr realisierte Bauanleitung. Im Unterschied zur klassischen Maschine wird nun in
der Computertechnik das Programm selbst zum Gegenstand maschineller Verarbei-
tung. Dieser Grundgedanke geht letzten Endes auf Turings Konzept einer universalen
Turing-Maschine zurück.
Eine derartige universelle Maschine vermag im Prinzip jede andere Maschine zu imi-
tieren. Sie vermag dies deshalb, da sie die zu imitierende Maschine selbst in Form expli-
ziter Instruktionsanweisungen einliest und letztere dann entsprechend verarbeitet.8
Zusammenfassend läßt sich der Unterschied in der Technologie klassischer Maschi-
nen und moderner Computertechnik so formulieren: Ist es die Aufgabe der klassischen
Mechanik, die in den physikalischen Gesetzen enthaltene Information zum Zwecke der
Energieerzeugung zu nutzen, wird in der Computertechnik erstmalig diese Information
selber zum Gegenstand maschineller Verarbeitung. Damit ist aber zugleich das Tor zu
einer vollständigen Manipulierbarkeit dieser Gesetze geöffnet. Im Anschluß daran ent-
stehen neue Forschungsdisziplinen wie Artificial Physics und Artificial Life.
Insbesondere der letzte Gedanke erlaubt es uns, direkt an Heideggers Sichtweise
von Technik anzuknüpfen. Bekanntlich sah Heidegger in der Technik immer mehr als
nur die technischen Apparate. Technik führt nach ihm in ihrem Wesen dazu, daß Seien-
des auf radikal andere Weise offenbar wird. Welche Weise er im Blick hat, wird deut-

7 Besonders deutlich wird die Entwicklung des klassischen Maschinenkonzepts zur informationsver-
arbeitenden Maschine bei Jos de Mul, The Informatization of the Worldview. In: Information, Com-
munication & Society 2, no. 1, 1999, S. 604-629.
8 Vgl. John Haugeland: Künstliche Intelligenz - Programmierte Vernunft? Hamburg 1987, S. 118f.
284 KARL LEIDLMAIR

lieh, wenn wir das eingangs erwähnte Beispiel des 3D-Fax mit den soeben angestellten
Überlegungen zur Computertechnik verknüpfen: Indem das Sein eines Dinges voll-
ständig in sein Design verlegt wird und indem ferner dieses Design zur rechnerisch be-
herrschbaren und manipulierbaren Größe wird, verschwindet das einzelne Ding in sei-
ner Einmaligkeit und Echtheit, in seinem Hier und Jetzt. Man kann in zugespitzter
Form auch sagen: Erst über die Computertechnik enthülle sich die Natur als bestellba-
res System von Informationen.9 Das aber alles entscheidende Problem des mit der
Computertechnik einhergehenden ontologischen Paradigmenwechsels ist nun, daß er -
mit Mark Weiser zu reden - zur alles beherrschenden Peripherie wird und dadurch völ-
lig unbemerkt von uns vonstatten geht. Das Hauptproblem der Computertechnik wäre
demzufolge, daß das Verschwinden der Dinge in ihrer Einmaligkeit völlig unserer eige-
nen Aufmerksamkeit entgeht.
Wenden wir uns kurz dem zweiten im Titel dieses Beitrags verwendeten Begriff zu:
der Kunst. Da ein allgemeiner Konsens in bezug auf die Kunst kaum zu erwarten ist,
beschränke ich mich hier auf eine möglichst knappe Wiedergabe von Heideggers eige-
ner Kunstauffassung. Aufgabe der Kunst sei es, das Seiende in seinem Sein zum Vor-
schein zu bringen.10 Klassisches Beispiel hierfür ist das von van Gogh gemalte Schuh-
zeug einer Bäuerin, dessen Zeughaftigkeit zuallerst über das Werk sichtbar wird.
Im Anschluß an die Explikationen von Computertechnik und Kunst ist nun zu fra-
gen: Wie kann im Zeitalter der Computertechnik, in dem die Echtheit der Dinge ver-
schwindet und zudem dieses Verschwinden seinerseits unbemerkt bleibt, ausgerechnet
ein über den Computer produziertes Kunstwerk diesen ontologischen Paradigmenwech-
sel in den Blick bringen? Mit den Worten Pöggelers können wir diese Frage auch so for-
mulieren: »Gibt es eine Kunst im Zeitalter der Technik, die das Technische in sich selbst
aufgenommen und dabei seine Gefahren verwunden hat?«" Schließlich kann man in di-
rekter Anlehnung an Heidegger auch so fragen: Kann die Vollendung der Herrschaft des
Wesens der modernen Technik zum Anlaß seiner eigenen Lichtung werden?12
Um diese Fragen überhaupt adäquat verstehen zu können, ist vorerst abzuklären,
unter welchen Bedingungen denn überhaupt Seiendes in seinem Sein offenbar wird. Ich
beziehe mich im folgenden auf zwei Referenzquellen, einmal auf den § 16 von Sein und
Zeit und dann auf Heideggers Vortrag über den Ursprung des Kunstwerks.

3. Die Enthüllung von Unverborgenheit gemäß § 16 Sein und Zeit

Im § 16 von Sein und Zeit geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen sich denn
überhaupt Welt melden kann. Mit Welt ist hier, grob gesprochen, jener weiteste Erfah-
rungshintergrund gemeint, von dem ausgehend sich uns zuallererst einzelnes Zeug in

9 Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik. In: ders., Die Technik und die Kehre, 6. Aufl., Pfullin-
gen 1985, S. 22.
10 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes. In: ders., Holzwege, 6. Aufl., Frankfurt a.M.
1980, S. 20f.
11 O t t o Pöggeler, Heidegger und die Kunst. In: Martin Heidegger. Kunst, Politik, Technik. Hrsg. von
Christoph Jamme und Karsten Harries. München 1992, S. 81.
12 Martin Heidegger, Denkerfahrungen. Frankfurt a.M. 1983, S. 85.
COMPUTERTECHNIK UND KUNST 285

seiner Dienlichkeit erschließt. Nun zeichnet sich der ontologische Charakter von
Zeug - seine Zuhandenheit und damit zugleich aber auch seine Weltmäßigkeit - gera-
de dadurch aus, daß er nicht eigens als solcher in den Blick kommt. In Anlehnung an
die in Zusammenhang mit Mark Weiser verwendete Terminologie können wir diesen
Umstand auch so beschreiben: das Zuhandene verschmilzt in seiner Zuhandenheit mit
unserer peripheren Wahrnehmung. Man denke etwa an das folgende Beispiel: Ein gut-
er Schütze auf der Jagd achtet nicht auf sein Gewehr, sondern konzentriert sich ganz
auf das anvisierte Ziel. Dies gilt für jede Art von Zeug, das Jagdgewehr, den Hammer
oder beispielsweise auch für die Schuhe einer Bäuerin. Das ontologische Charakteri-
stikum von Zeug - seine Zuhandenheit - rückt nur dann ins Zentrum unserer Auf-
merksamkeit, wenn in unserem besorgenden Umgang eine Störung auftritt. Wenn bei-
spielsweise das Werkzeug beschädigt ist oder gar abhanden kommt. Da aber Dienlich-
keit von Zeug immer nur vor dem Hintergrund eines ganzen Kontexts von Verwei-
sungen in den Blick kommt, ist es auch das Ganze dieses Kontexts, das im Falle einer
Störung in der Verweisung auffällig wird. Mit diesem Ganzen meldet sich zugleich
aber die Welt.13
Diese Störung in der Verweisung zeichnet sich nun aber durch eine merkwürdige
Doppeldeutigkeit aus: Im gleichen Augenblick, in dem das Kontextganze - die Welt-
mäßigkeit des Zuhandenen - sich meldet, geht das Zuhandene seiner Zuhandenheit
verlustig. Dieses Geschehen bedeutet freilich nicht, daß das Zuhandene nun endgültig
den ontologischen Charakter von Zuhandenheit einbüßt, gemeint ist lediglich, daß die
Zuhandenheit soeben dazu ansetzt, sich zu verabschieden. Zuhandenheit ist also gerade
im Augenblick jener Übergangsphase noch einmal präsent, in der sie sich anschickt, in-
folge einer Störung in der Verweisung in Verlust zu geraten. Man kann sich dieses zu-
tiefst dynamische Geschehen am folgenden Beispiel verdeutlichen. Ein aus seiner Hei-
mat vertriebener Bauer erfährt zuallererst im Augenblick seiner Vertreibung, was es ei-
gentlich bedeutet daheim zu sein. Vor seiner Vertreibung kommt ihm der ganze
Kontext des Verweisungszusammenhangs, innerhalb dessen er sich in seiner Welt zu-
rechtfindet, überhaupt nicht zum Bewußtsein. Erst im Augenblick des Verlusts dieses
Kontexts leuchtet letzterer als solcher auf - also nicht davor, aber auch nicht danach.
Nach der Vertreibung, wenn etwa der Bauer längst eine neue Tätigkeit in einem ande-
ren Land aufgenommen hat, verblaßt mit der Zeit die während der Flucht noch auf-
rechte Erfahrung des Verlusts von Heimat. Auf eine griffige Formulierung gebracht
können wir sagen: Heimat zeigt sich nur im Augenblick der Flucht aus der Heimat,
wird nur offenbar in jener Übergangsphase von Kontext und Dekontextualisierung,
von Nähe und Distanz. Anfang und Ende der Flucht stellen hier nur relative und ideal-
typische Größen in einem Bezugssystem dar, vergleichbar mit zwei entgegengesetzten
Polen in einem Magnetfeld - mit dem Zustand vor der Vertreibung als einem Pol und
dem Zustand nach der Vertreibung als dem entgegengesetzten Pol. Versucht man einen
der beiden Pole von einem relativen Sinne in einen absoluten umzudeuten, so ver-
schwinden mit dem Magnetfeld gleichermaßen die über dieses Feld erst erzeugten Pole.

13 Martin Heidegger, Sein und Zeit. 12. Aufl., Tübingen 1972, S. 75.
286 KARL LEIDLMAIR

4. Die Enthüllung von Unverborgenheit über die Kunst

Im Anschluß an diese Überlegung ist zu fragen: Was hat dies mit Kunst zu tun? Auch
im Kunstwerk - denken wir an das von Heidegger im Ursprung des Kunstwerks ge-
brachte Beispiel vom Schuhwerk der Bäuerin - wird die Seinsart dieses Seienden, eben
das Zeugsein der Schuhe, zuallererst über das Werk offenbar.14 Im Alltagsgebrauch er-
hält das Schuhzeug seine Dienlichkeit ja gerade dadurch, daß wir auf es nicht eigens
achtgeben. Wenn nun im Kunstwerk das Seiende in seinem Sein - gemeint ist beim
Schuhwerk der Bäuerin dessen Zeughaftigkeit - in den Blick kommt, so stellt sich die
Frage: Bietet uns das Kunstwerk eine alternative Möglichkeit, um Zeughaftigkeit ins
Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, u.zw. ohne daß dabei Störungen im Verwei-
sungszusammenhang vonnoten sind? Oder ist auch das Kunstwerk letzten Endes auf
eine eigene und spezielle Weise ebenfalls Ausdruck jener bereits in Sein und Zeit be-
schriebenen Störungen im Verweisungszusammenhang? Dazu müssen wir fürs erste
fragen, wie denn überhaupt im Kunstwerk ein Paar Bauernschuhe in die Lichtung ihres
Seins gebracht werden. Dabei stellt sich heraus: Das Kunstwerk, zumindestens wie es
Heidegger sieht, ist keineswegs ein in sich vollendetes und fertiges Produkt, auch kein
»vorhandener Zustand«15, sondern ein zutiefst dynamisches Geschehen. Schließlich hat
das Seiende ursprünglich die Tendenz, sich in sich selber zurückzuziehen und dadurch
in seiner Zuhandenheit unsichtbar zu bleiben. Um das Seiende in seinem Sein sichtbar
zu machen, muß es zuallererst dieser Unsichtbarkeit bzw. Verborgenheit abgerungen
werden. Dies geschieht im Kunstwerk - in jenem Riß, in dem der Urstreit von Lich-
tung und Verbergung ausgetragen wird. Dieser Riß meint natürlich nicht etwas Zerris-
senes oder gar Zerbrochenes, sondern ein dynamisches Spannungsgefüge: die augen-
blickliche Konstellation eines niemals zu Ende kommenden Spiels von Zuwendung
und gleichzeitiger Abwendung. Deuten wir Kunst im Sinne eines solchen Spiels, so ist
zu fragen, ob sich denn die Lichtung des Seins jemals zu einem anderen Zeitpunkt mel-
den könne als eben im Augenblick ihrer Verabschiedung.

5. Die Enthüllung von Unverborgenheit im Zeitalter der digitalen Revolution

Kommen wir nun zum eigentlichen Kern dieser Ausführungen. Drei Fragen sind zu
stellen: 1) Kommt im Zeitalter der digitalen Revolution überhaupt noch Seiendes in sei-
ner Unverborgenheit, bzw. wie Heidegger dies meint, in der Lichtung seines Seins zum
Vorschein? 2) Sollte die erste Frage in einem positiven Sinne beantwortet werden kön-
nen, muß noch geklärt werden, welche Offenheit des Seienden sich hier denn eigentlich
ankündigt. 3) Schließlich und drittens ist zu fragen, ob denn der Computer das geeig-
nete Medium sei, den mit seiner Einführung einhergehenden radikalen Wandel der On-
tologie noch kritisch zu reflektieren.
Bei der Behandlung dieser Fragen stellen sich vor allem zwei Schwierigkeiten: Die
erste Schwierigkeit besteht darin, daß wir hier mit einer Entwicklung konfrontiert sind,

14 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, a.a.O., S. 20


15 ebd. S. 40.
COMPUTERTECHNIK UND KUNST 287

die wir selber nur aus der Teilnehmerperspektive erleben und deren Ende aus heutiger
Sicht gar nicht abzusehen ist. Jede Prognose dieser Entwicklung ist daher von vornher-
ein nur von eingeschränkter Aussagekraft. Damit läßt sich aber auch kein endgültiges
Urteil über die Computerkunst fällen. Ich bin weit davon entfernt, etwa eine normative
Kunstauffassung vertreten zu wollen. Das einzige, was im Kontext dieser Ausführun-
gen geleistet werden kann, ist eine Darstellung möglicher Zukunftsszenarien, unter de-
ren Bedingungen das Medium Computer neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten
entfalten kann.
Um etwaige Auswirkungen der digitalen Revolution auf die kulturelle Evolution ab-
zuschätzen, bediene ich mich eines medientheoretischen Ansatzes. Daraus ergibt sich
die zweite Schwierigkeit, u.zw. in diesem Falle eine methodische: Sind Überlegungen
aus dem Bereich der Medientheorie überhaupt mit Heideggers eher seinsgeschichtli-
chem Entwurf kompatibel? Führt nicht jede vergleichende Gegenüberstellung dieser
beiden Themenbereiche zwangsläufig zu einem Reduktionismus, in dem letzten Endes
Heideggers Denken nur mehr in äußerst verkürzter und, schlimmstenfalls, sogar ver-
fälschter Form wiedergegeben wird? Es ist an dieser Stelle nicht möglich, dieses
schwierige Problem in der ihm zustehenden Ausführlichkeit zu beantworten. Im Hin-
tergrund taucht letztlich auch die Frage auf, inwiefern denn Heideggers Texte über-
haupt in eine andere Terminologie übersetzbar sind.
Grundsätzlich möchte ich hierzu das folgende festhalten. Wenn ich einen Text Hei-
deggers lese und ihn anschließend mit bestimmten Texten einer anderen Fachdisziplin
konfrontiere, so interpretiere ich die dabei jeweils verwendete Terminologie im Sinne
unterschiedlicher Zeiger, die je auf ihre Weise eine bestimmte Sache aufzeigen und da-
bei einige Aspekte dieser Sache verdeutlichen, andere aber möglicherweise verdunkeln.
Maßgeblich dafür, ob dieser Vergleich glückt, ist einzig und allein die Sache selber. In
aller Entschiedenheit möchte ich jedenfalls der These von Norbert Bolz entgegentre-
ten, demzufolge durch die neuen Medienbedingungen die Philosophie überflüssig wer-
de. 16 Statt Medienrevolutionen im Sinne eines monokausalen Erklärungsansatzes als
einzig maßgebliche Faktoren für etwaige kulturelle Entwicklungen verantwortlich zu
machen, geht es vielmehr darum, sie als begleitende Indikatoren zu erkennen, an denen
eben diese Entwicklungen korrelativ abgelesen werden können.
Unter diesen einschränkenden Bedingungen können wir uns den ersten beiden Fra-
gen zuwenden, nämlich ob und wie sich im Zeitalter der digitalen Revolution Seiendes
in seiner Unverborgenheit melde. Wir haben auf diese Fragen bereits eine vorläufige
Antwort gegeben. Im Zeitalter der digitalen Revolution verschwinde das einzelne Ding
in seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit. Eine ähnliche Beobachtung findet sich
freilich bereits bei Walter Benjamin in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter sei-
ner technischen Reproduzierbarkeit: Die technischen Reproduktionsmöglichkeiten
entwerten das Hier und Jetzt 17 , es komme zur »Entschälung des Gegenstandes aus sei-

16 Vgl. dazu das Streitgespräch Neue Medien - Das Ende der Philosophie zwischen Norbert Bolz und
Julian Nida-Rümelin. In: Information Philosophie 4 (1998), S. 20-29.
17 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: ders.;
Gesammelte Schriften Band VII. 1: Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser.
Frankfurt a.M. 1989, S. 353.
288 KARL LEIDLMAIR

ner Hülle«18, zur »Zertrümmerung der Aura«19. Welche Entwicklung Benjamin hier im
Blick hat, läßt sich deutlich an den neueren Forschungsrichtungen von Artificial Life
und Cognitive Science ablesen. Indem die Frage nach dem Leben abgekoppelt wird von
den Bedingungen real existierender Lebewesen, konnte erst eine eigenständige Wissen-
schaft vom Leben enstehen, u.zw. unabhängig von seiner biologischen Realisierung.
Ähnlich kann man auch bezüglich der Cognitive Science argumentieren: Erst nachdem
»Intelligenz« zu einem abstrakten, vom Menschen unabhängigen Forschungsgegenstand
wurde, konnte sich die Kognitionswissenschaft als eigenständige, von der empirischen
Psychologie unabhängige Forschungsdisziplin etablieren. Vor diesem Hintergrund be-
trachtet erweist sich auch die euklidische Geometrie lediglich als eine mögliche Be-
schreibung des Raumes, um aber zugleich ihren Anspruch einzubüßen, dessen »wahre«
Beschaffenheiten entdecken zu können.
Man kann also die von Benjamin beobachtete Zertrümmerung der Aura im Zeitalter
der technischen Reproduzierbarkeit als eine schrittweise Aushöhlung der Dinge be-
greifen, als ständig fortschreitenden Dissoziationsprozeß, an dessen theoretischem En-
de die vollständige Auflösung der Wirklichkeit im berechenbaren Code steht.
Zugleich gilt es aber zu erkennen, daß dieser Prozeß nicht ausschließlich auf das
Zeitalter der digitalen Revolution beschränkt ist. Tatsächlich läßt sich - so jedenfalls
meine These - jede Medienrevolution als eine solche Dissoziierung der Eigenschaften
von den Dingen, in denen sie ursprünglich verankert waren, begreifen. Was darunter zu
verstehen ist, kann man exemplarisch an der von Havelock beschriebenen Revolution
der Schrift bei den Griechen verdeutlichen.20 Havelock interpretiert die Übergangspe-
riode von Oralität zu Literalität als kulturellen Umbruch, in dem ursprünglich erlebte
Nähe zu kritischer Distanz wird - und Partizipation zu Reflexion.
Besonderes Augenmerk ist hierbei auf folgende Feststellung Havelocks zu richten.
Die Griechen konnten ihre eigene orale Tradition erst in dem Moment aufarbeiten, als
sie sich zugunsten der Literalität verabschiedete. Die der oralen Kulturstufe noch zuge-
schriebene »Nähe« wurde also zuallerst spürbar, als sie von der über die Literalisierung
herbeigeführten Distanz abgelöst wurde. Nur in jener Umbruchsphase, in der das kul-
turelle Erbe der Oralität im Augenblick seiner Auflösung noch einmal präsent war,
konnte es literarisch aufgearbeitet werden.
Wir finden hier am Beispiel der Revolution der Schrift bei den Griechen also ein
ähnliches Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz wieder, wie es bereits in Zusam-
menhang mit den vorher erwähnten Störungen im Verweisungszusammenhang be-
schrieben wurde. Da in einem solchen Bezugssystem Nähe immer nur eine relative Be-
stimmungsgröße ist, darf die der oralen Tradition zugeschriebene Partizipation keines-
falls als paradiesischer Zustand einer ursprünglichen Wahrheit mißdeutet werden. Die
von Havelock beschriebene Revolution der Schrift ist daher auch nur ein zeitlicher
Querschnitt, gewissermaßen eine Momentaufnahme in einer langen Kette von einander
ablösenden Medienrevolutionen, wobei sich in jeder dieser Revolutionen jeweils eine
andere Konstellation von Nähe und Distanz einspielt.

18 ebd., S. 355.
19 ebd., S. 355.
20 Vgl. dazu Eric A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte. Frankfurt a.M. 1992
COMPUTERTECHNIK UND KUNST 289

Welche Schlüsse lassen sich daraus für die digitale Revolution ziehen? Sollte jemand
unter dem Hinweis auf den über die digitale Revolution drohenden Realitätsverlust be-
haupten, im Zeitalter der Computertechnik könne Seiendes überhaupt nicht mehr in
seiner Unverborgenheit aufgezeigt werden, so muß man ihm entgegenhalten: Jede Me-
dienrevolution zeichnet sich dadurch aus, daß sich das Sein des Seienden nur zeigt im
Augenblick seines Verschwindens.
Dennoch erhält dieses Verschwinden im Zeitalter der Computertechnik - zuminde-
stens sofern wir uns an Heidegger orientieren - eine ganz eigene Dynamik. Es scheint
so, als nähere sich das immer präsente Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz im-
mer mehr einer letzten Entäußerung von Nähe. Unter der Voraussetzung, daß wir die-
se etwas apokalyptisch anmutende Vorstellung akzeptieren, kann man diese Entwick-
lung nun von zwei Seiten aufrollen: einmal retrospektiv und dann in ihrer Verlänge-
rung in die Zukunft. Spulen wir die Entwicklung zurück, so zeigt sich, daß in jeder
Konstellation von Nähe und Distanz die jeweils erfahrene Nähe ihrerseits medial ver-
mittelt ist. Nach vorwärts gerichtet stellt sich heraus, daß - eingedenk der immer prä-
senten Polarität von Nähe und Distanz - das absolute Ende dieser Entwicklung - näm-
lich die totale Entäußerung von Nähe - als solche überhaupt keine mögliche Erfahrung
darstellt. Damit entwickelt sich die Dialektik von Nähe und Distanz in Richtung eines
unendlichen Vexierspiegels. Deuten wir die digitale Revolution als letzte Entäußerung
von Nähe, so gerät diese Entwicklung immer mehr ins Rasende. Derrida bezeichnet sie
daher treffend als »Akzeleration des Unheils«.21
Sollte sich dieses apokalyptische Szenario bewahrheiten, so würde der rasch an-
wachsende Verlust von Nähe zur letzten Schwundstufe der Wirklichkeit und somit zur
alles beherrschenden Peripherie. Ob unter solchen Vorzeichen im Zeitalter der digita-
len Revolution noch Kunst möglich ist, hängt davon ab, inwiefern die Computertech-
nik dazu in der Lage ist, einem derartigen Verschwinden der Dinge noch einmal zum
Ausdruck zu verhelfen.
Abschließend möchte ich noch auf eine gänzlich andere und wesentlich nüchternere
Einschätzung der Möglichkeiten von Computerkunst hinweisen. Will man sich den
hier eher düster umrissenen Zukunftsaussichten für die Computertechnik nicht an-
schließen, so markiert die digitale Revolution lediglich eine Etappe in einer langen Fol-
ge noch bevorstehender Medienrevolutionen. Eine philosophische Beurteilung dieser
Entwicklung wird dann in einer Abwägung jener Gewinne und Verluste bestehen, wie
sie sich in der jeweils vorherrschenden Konstellation von »Nähe« und »Distanz« ab-
zeichnen. Aber auch in diesem Falle wird sich das Schicksal der Computerkunst daran
entscheiden, inwiefern es ihr gelingt, die über das Medium Computer neu entstehenden
Peripherien aufzudecken.

21 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt a.M. 1994, S. 347.

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