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Joachim Fischer Michael Makropoulos Hrsg.

Potsdamer Platz
Soziologische Theorien
zu einem Ort der Moderne

Wilhelm Fink Verlag


PVA
2004.
1675

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der


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ISBN 3-7705-3708-4
© 2004 Wilhelm Fink Verlag, München
www.fink.de
Herstellung: Ferdinand Schöningh G m b H , Paderborn

Bayrisch^
POH PI Staatsbibliothek
München
Inhalt

Vorwort 7

JOACHIM FISCHER
Exzentrische Positionalität.
Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Philosophischen
Anthropologie 11

JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER


Die Neubebauung eines Stadtzentrums.
Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Rational-Choice-Theorie 33

ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL


Die (Re-)Konstruktion des Potsdamer Platzes.
Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Systemtheorie 53

U D O GÖTTLICH/RAINER WINTER
Postfordistische Artikulationen von Stadtarchitektur, Konsum und
Medien.
Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Cultural Studies 81

CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT


Die Widersprüche von Herrschaftsdarstellung - Bescheidenes Großtun
als Kompromiß.
Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Kritischen Theorie 107

HANNELORE BUBLITZ/DIERK SPREEN


Architektur einer Geschlechterkonstruktion.
Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Gender Studies 139

MICHAEL MAKROPOULOS
Ein Mythos massenkultureller Urbanität.
Der Potsdamer Platz aus der Perspektive von Diskursanalyse und
Semiologie 159

Potsdamer Platz
Ein Chronologischer Abriß mit Bildern und Karten 189

Literaturverzeichnis 231

Abbildungsnachweise 235
Vorwort

Dieser Band erprobt einen Theorienvergleich an einem Fall, einem exemplari-


schen Fall der Moderne: dem Potsdamer Platz in Berlin.
Ausgangspunkt ist zunächst der Stand der Dinge in der sozialwissenschaft-
lichen Theorieentwicklung, speziell in der Soziologischen Theorie. Anders als
in den Naturwissenschaften gibt es in den Kultur- und Sozialwissenschaften
keine Einheitstheorie, sondern eine Koexistenz rivalisierender Paradigmen, die
sich als Normalität eingespielt hat. In einer mitunter als quälend, dann wieder
als befreiend erlebten Schwebe bleibt dabei, ob es sich bei dieser Pluralität und
Rivalität soziologischer Theorien um ein dieser immer noch relativ jungen Wis-
senschaft der Moderne geschuldetes Manko handelt oder, gravierender, um eine
Konsequenz der immanenten Perspektivität des Gegenstandes selber - der mo-
dernen Gesellschaft. Immerhin: seit einem Vierteljahrhundert verarbeitet die
Soziologie diese Lage in der Selbstreflexivität eines „Theorienvergleichs in den
Sozialwissenschaften"1, der das bloße Nebeneinander und die gelegentliche Po-
lemik zwischen den Ansätzen zu einer Klärung oder sogar einer paradigmatisch
verbindlichen Entscheidung führen soll.2 Die Erfahrung hat dabei gezeigt, daß
die aufgestellten Kriterien für „Theorie" oft zu früh zum Ausschluß von An-
sätzen führt, deren Produktivität gleichwohl fasziniert. Lehrpraktisch ist es an-
gesichts dieser Lage zu einer Fülle von Einführungen in die soziologischen
Theorien gekommen, in der verschiedene Ansätze nebeneinander rekonstruiert
und vorgestellt werden. Wo - wenn auch selten - auf Bewährung der Theorien
im Empirischen, wenn nicht gar in der Anschauung, also am Beispiel, Wert ge-
legt wird, kommt es dabei zur Vorführung der jeweiligen Paradigmen an Para-
digmatischem, an einem Beispiel zwar - allerdings an einem je selbstgewählten,
aus dem „Paradigma" sich ergebenden Fall, so daß in dieser Hinsicht doch wie-
der kein Vergleich möglich wird.3 Die Nützlichkeit dieser Theorieübersichten
steht nicht in Frage. Dennoch unterscheidet sich dieser Studienband von allen
anderen Theorievergleichs-Bänden, indem er die Spannung zwischen zu star-
ken Theoriekriterien einerseits, bloß partikularen Demonstrationen anderer-
seits in das Gedankenexperiment lenkt, verschiedenste Theoriepositionen auf

1 Vgl. Karl-Otto Hondrich/Joachim Matthes (Hg.): Theorienvergleich in den


ten. Darmstadt/Neuwied 1978.
2 Vgl. Hartmut Esser: „Zum Theorienvergleich in der Soziologie. Begründungsprobleme sozio-
logischer Theorievergleiche", in: Soziologie (Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für
Soziologie), Heft 2 (1979), S. 5-25, sowie Michael Schmid: „Theorienvergleich in den Sozial-
wissenschaften", in: Ethik und Sozialwissenschaften 12 (2001), S. 481-495.
3 Vgl. Julius Morel, Eva Bauer, Tamas Meleghy, Heinz-Jürgen Niedenzu, Max Preglau, Helmut
Staubmann: Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. München/Wien, 8.
erw. Auflage 2001.
8 VORWORT

ein Phänomen zu fokussieren.4 Damit will er in der Debatte der soziologischen


Theorie einen neuen Akzent setzen.
Für das Gelingen eines solchen Projekts hängt viel an der Wahl des Falles, für
den sich die unterschiedlichsten soziologischen Theorien interessieren und auf
den sie sich beziehen sollen. Da soziologische Theorien als Gesellschaftstheo-
rien immer auch Selbstbeschreibungen und Selbsterklärungen der Moderne sein
müßten, käme es auf ein sozio-kulturelles Artefakt an, das exemplarischen Rang
für die Moderne im 20. Jahrhundert und darüber hinaus hat. Der Potsdamer
Platz in Berlin als geschichtlicher, gegenwärtiger und zukünftiger Ort einer rea-
len wie imaginären Topologie der Moderne weist eben diese Eigenschaft auf,
die verschiedenste Theorieperspektiven von sich aus auf sich ziehen kann. Daß
an diesem städtischen Platz „Modernität" par excellence erfahren wurde und
wird, ist ein Gemeinplatz. Hier hat sich die Moderne offensichtlich - auch in
ihrer Vernichtungsform - verdichtet. Diese Platzanlage wurde von der Moderne
gestaltet, und sie wurde auch durch die Moderne zerstört. Der seit den Zwan-
ziger Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder ausbrechende Streit um die
Neugestaltung der Doppelplatzanlage Potsdamer Platz/Leipziger Platz impli-
zierte trotz praktischer Herausforderungen immer auch den Streit um das Ge-
sicht und die ästhetische Erscheinungsform der Moderne insgesamt.
Selbstverständlich ist die Durchführung eines solchen Theorienvergleichs am
Fall des Potsdamer Platzes nicht möglich ohne die elaborierten bilddokumen-
tarischen, publizistischen und wissenschaftlichen, vor allem von Architekten,
Urbanisten und Historikern geführten Diskurse über dieses Stadtphänomen.
Deshalb versammelt der Band in einem den theoretischen Deutungen gegenü-
berliegenden Teil Bilder, Karten und Historie des Platzes gleichsam als diskur-
sive Stellvertretung des Phänomens - in vollem Bewußtsein der Arrangiertheit
einer solchen materialen Präsenz. In seinem Bezug auf den Potsdamer Platz un-
terscheidet sich dieser Band nämlich auch von allen bereits vorliegenden
Büchern zum Potsdamer Platz, weil er als Theorieband systematisch mitreflek-
tieren muß, daß es keine Beobachtungsunabhängigkeit des Gegenstandes gibt.
Der Gegenstand liegt nicht einfach den Beschreibungen und Perspektiven, den
Theorien, invariant gegenüber, sondern wird je durch die verschiedenen grund-
begrifflichen Ansätze (die eben auch viele laufende öffentliche Diskurse erst auf
den Punkt bringen und unterscheidbar machen) zur Erscheinung gebracht. In-
sofern ist das Ergebnis des Bandes ein intensiv ermittelter, gleichsam „kubi-
stisch" gebrochener Gegenstand einer „perspektivischen Soziologie": Der
Potsdamer Platz als theorieperspektivisch mehrfach durchdrungenes pars pro
toto der Moderne, durch das die Theorieperspektiven gleichzeitig als differente
Theorien der Moderne sichtbar werden.

4 Ein Vorbild aus den Kulturwissenschaften, die es hinsichtlich der Wahl des Falles mit ihrer kon-
stitutiven Textbezogenheit etwas leichter haben: David E. Wellbery (Hg.): Positionen der
raturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists, Das Erdheben in Chili'. 3. Aufl.
München 1985.
VORWORT 9

Die Herausgeber haben die ursprüngliche Idee eines solchen Projekts durch
verschiedene Phasen5 hindurch erprobt 6 . Der Eindruck eines Abschlusses stellte
sich dabei nicht ein. Das fokussierte Phänomen selbst ist und bleibt in sich un-
abgeschlossen; weitere Ansätze hätten einbezogen und die Methodik des Theo-
rienvergleichs selbst hätte vertieft werden können. Doch einmal auf den Weg
gebracht, verfestigte sich der Eindruck eines „glücklichen Griffes", bemerkbar
nicht zuletzt in der Projektzustimmung seitens der theoretisch verschieden an-
setzenden Beiträger, die dafür gewonnen werden konnten. 7

JOACHIM FISCHER/MICHAEL MAKROPOULOS

5 Dominik Schräge: „Bericht über die Jahrestagung der Sektion Kultursoziologie zum Thema:
.Potsdamer Platz - Theoretische Perspektiven zur Kultursoziologie eines Ortes der Moderne",
in: Soziologie, Heft 1 (2002), S. 100-107.
6 Abdruck der Tagungsvorträge in: Ästhetik und Kommunikation, 116 (2002) S. 84-119.
7 Für die Hilfe bei der Einrichtung des Bandes danken wir Dana Giesecke.
JOACHIM FISCHER

Exzentrische Positionalität.
Der Potsdamer Platz aus der Perspektive
der Philosophischen Anthropologie

Cum grano salis ereignet sich in der Neubebauung des .Potsdamer Platzes' eine
Rekonstitution der „bürgerlichen Gesellschaft" in der Moderne. 1 Gerade hier
sucht sich diese angesichts ihrer Kontingenzerfahrung im 20. Jahrhundert nach
Fassung ringende bürgerliche Gesellschaft - auch symbolisch - zu institutio-
nalisieren und ihre prekäre Gegenwart auf Dauer zu stellen, weil sie an diesem
wie an keinem anderen innerstädtischen Platz einer europäischen Metropole
über Jahrzehnte in ihren eigenen Abgrund, in ihr Nichts, die wirkliche Mög-
lichkeit ihres eigenen Nichtmehrseinkönnens geblickt hat. Die einstige zivile
und bourgeoise Lebensfülle des Areals (gerade auch für den petit bourgeois)
wurde und wird zur beschworenen Erinnerung nur im Kontrast zur zwi-
schenzeitlich tatsächlich erfahrenen Vernichtung. Um das Projekt einer an die
wenigen historischen Spuren entschlossen anknüpfenden und sich zugleich neu
artikulierenden, fragilen, bisher unvollendeten Artefaktgegenwart dieses Stadt-
ensembles soziokulturell zu verstehen, bedarf es deshalb eines Ansatzes, der die
Gewaltgeschichte der betreffenden Zone mit einbezieht.

1. Phänomen und Ansatz


Als Voraussetzung eines solchen Kommentars seien eingangs zwei Minimal-
orientierungen eingeführt: zur Vorgeschichte des Phänomens, das in den Blick
genommen wird, und zum Ansatz der Philosophischen Anthropologie, die den
Blickwinkel bestimmt.

1.1 Potsdamer Platz/Leipziger Platz

Das in Rede stehende Areal war historisch eine Stelle in der südwestlichen Sied-
lungsgrenze der brandenburgischen, dann preußischen Residenzstadt Berlin.
Von dort verzweigten sich die Wege ins Umland hinaus bzw. führten, wenn man
vom Westen kam, in die städtische Verdichtung hinein. Die vogelperspektivisch
anschauliche Karte von 1778 zeigt deutlich, daß diese politische Grenzregulie-

1 Für wertvolle Winke danke ich Marianne Kurda, Heike Delitz und Kai Haucke.
12 JOACHIM FISCHER

Abb. 1: Carl Ludwig von Oesfeld,


Grundriß der Königlichen Residenzstadt Berlin, 1778.

rungsstelle mit der - bereits durch Linden markierten - Wegeverbindung zwi-


schen den Residenzorten Berlin-Potsdam zusammenhängt. Plastisch tritt zu-
gleich das Tauschverhältnis zwischen bebauter Stadt und bewirtschaftetem Land
hervor: Die Stadt als menschliche Großsiedlung, die von der ländlichen Über-
schußproduktion lebt und diese wiederum durch Spezialleistungen an das Land
kompensiert. Von daher gewinnt neben dem „Potsdamer Tor" vor der Stadt-
mauer auf den frühen Karten das unmittelbar dahinter anschließende „Achteck"
(der spätere Leipziger Platz) Prägnanz, jene innerstädtische Aussparung, die als
großer Markt, aber auch Exzerzierplatz dient. Geschichtlich geht der spätere
Potsdamer Platz aus dem Leipziger Platz hervor. Basal für das in Rede stehende
Phänomen ist also bis in die Gegenwart reichend die Doppelplatzanlage .Pots-
damer Platz und Leipziger Platz', auch wenn „Potsdamer Platz" als Abbrevia-
tur einer komplexen Konstellation der Doppelplatzanlage beibehalten werden
kann. Macht man einen Sprung von 150 Jahren zu einem vogelperspektivischen
Foto von 1928, sieht man, daß diese Doppelplatzanlage nun mitten in der in die
Landschaft gedehnten großen Stadt liegt; die Landschaft verbleibt in der Stadt
als Lindenallee der Potsdamer Straße, als Grünanlage des Leipziger Platzes und
EXZENTRISCHE POSITIONALITAT 13

als dortiger Blumenmarkt. Boden und Gebäude sind weitgehend in der Hand
einer städtischen Bourgeoisie. Der südwestlich vom Areal liegende Bahnhof mit
der ersten preußischen Eisenbahnstrecke von 1838 assoziiert vollzogene Indu-
strialisierung und massenhaften Zuzug in die Stadt, von allen Richtungen zu-
wanderndes Volk vom Lande, v.a. aus den östlichen Provinzen Schlesien, Posen,
Westpreußen. Auf dem Wege des gleichzeitigen „Zuges nach Westen" sind jetzt
bürgerliche Stadtquartiere mit ihren Villen und Mietshäusern westlich um das
Areal angelagert, deren Bewohner über die Doppelplatzanlage in das Zentrum
der Stadt gelangen. Soweit ein erster Phänomenvorgriff.

1.2 Philosophische Anthropologie

Charakteristisch für die moderne Philosophische Anthropologie (Scheler, Pless-


ner, Gehlen, Rothacker etc.)2 ist, daß sie den Menschen lebensphilosophisch
kontrastiv zum Tier begreift (nicht als Kontinuum des Tieres wie die Evoluti-
onsbiologie). Der Mensch ist das Lebewesen, daß ein Verhältnis zu seinem Kör-
per hat - oder sein Leben im Verhältnis zu seinem Körper führen muß. Er lebt
sein Leben nicht schlicht vom Körper aus (als Biowesen), aber er lebt auch nicht
in Verhältnissen unabhängig von seiner Körperleiblichkeit (als Vernunftwesen
oder sinn-operierendes Wesen, als Zeichenwesen). Ein anderer Ausdruck für
diese Grundfigur des Menschen ist „exzentrische Positionalität". Das meint:
Während nichtbelebte Dinge (Steine) in ihrer Position schlicht an ihrem Rand
aufhören, haben organische Dinge diesen Rand als „Grenze", über die sie in ein
Innen-/Außenverhältnis gesetzt sind: sie sind „positional", d.h. etwas, was
grenzrealisicrend zu seiner Umwelt gesetzt in ihr sich durchsetzt. Lebewesen
haben die „Grenze" als Eigenschaft, sie haben ein gleichsam hauthaftes Ver-
hältnis zu ihrer Position. Charakterisiert man nun Tiere als „zentrische Posi-
tionalitäten", als Lebewesen, die aus der instinktgesteuerten Mitte ihrer Körper
die ihnen vorgegebene „Grenze" in einer entsprechenden Umwelt stabilisieren
und ausleben, dann sind menschliche Lebewesen „exzentrisch positioniert": sie
sind aus der „Grenze" herausgesetzt, ohne ihre Körperleiblichkeit verlassen zu
können, sie stehen im Körper zum Körper im Abstand. Die wahrgenommene
Nacktheit, aber auch die als Fülle oder Leere erfahrene „Unergründlichkeit"
ihrer exzentrisch gewordenen Körpermitte, so könnte man sagen, verlangt von

2 Die einschlägigen Schriften dieses Ansatzes stammen von Denkern, die sowohl als Philosophen
wie als Soziologen arbeiteten: Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch.
leitung in die philosophische Anthropologie (1928). Berlin/New York 1975. - Max Scheler: Die
lung des Menschen im Kosmos. Darmstadt 1928. - Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und
seine Stellung in der Welt (1940/1950). Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe Bd. 3. Textkritische Edi-
tion unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940. 2 Teilbde. Mit Anmerkun-
gen, textgeschichtlichen Nachweisen und einem Nachwort, hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg. Frank-
furt/Main 1993. - Erich Rothacker: Philosophische Anthropologie. 2. verb. Aufl. Bonn 1966. - Ähn-
lich ansetzende Theorieentwicklungen im englischen Sprachraum George Herbert Mead: Geist,
Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehavwunsmus. Frankfurt/Main 1973, im fran-
zösischen Sprachraum Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966.
14 JOACHIM FISCHER

Abb. 2: Ernst Ludwig Kirchner,


Potsdamer Platz. Berlin 1914.

dem so positionierten Lebewesen die Grenzrealisierung des „Kleides" - das


schützt, aber auch zu einer expressiven Kontur verhilft. Philosophische An-
thropologie postuliert aus ihrer Grundfigur Konsequenzen für die menschliche
Lebenswelt.3 Exzentrische Positionalität erlegt den Menschen erstens „natürli-
che Künstlichkeit" auf: sie müssen durch Instrumente und Satzungen ein künst-
liches Gleichgewicht des Lebens herstellen, durch „Institutionen" 4 , die -
obwohl von ihnen gemacht - ihnen gegenüber ein Eigengewicht gewinnen, die
fehlende Instinktstcuerung ersetzen. Zweitens zwingt die Positionalität des
Menschen, dem - ex-zentrisch - der innere Schwerpunkt fehlt, zur „vermittel-
ten Unmittelbarkeit" des Ausdrucks: In seiner Unergründlichkeit lernt sich die-
ses Lebewesen unmittelbar nur vermittelt über den versuchten Ausdruck
kennen, dem zugleich die Kontingenz anhaftet: es könnte - mit ihm, dem Men-
schen - auch anders sein. Sind Stabilisierung und Erscheinung des Lebens im
menschlichen Lebewesen auf ein solches „Stattdessen" angelegt, hat das Kon-
sequenzen für die Sozialität. Körperlich und zugleich unbestimmt voreinander
zu erscheinen, bedeutet im letzten nicht wissen zu können, woran man mit sich
und dem Anderen ist. Diese doppelte Unbestimmtheit im Kontakt menschli-
cher Lebewesen bildet eine Quelle der Gewalt. Tiere sind aggressiv, Menschen

3 Joachim Fischer: „Philosophische Anthropologie. Zur Rekonstruktion ihrer diagnostischen


Kraft", in: Jürgen Friedrich/Bernd Westermann (Hg.J, Unter offenem Horizont. Anthropologie
nach Helmuth Plessner, Frankfurt/Main 1995, S. 249-280.
4 Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Bonn 1956.
EXZENTRISCHE POSITIONALITÄT 15

aber können gewalttätig werden, wenn sie über den Körper des Anderen seine
Unberechenbarkeit in den Griff zu bekommen suchen. Ein Verhältnis zuein-
ander können solche gleichgewichtslos und unbestimmt voreinander erschei-
nenden Lebewesen nur „indirekt" gewinnen, im „Umweg" über basale Rituale
und Institutionen (Gehlen), Zeremonien und Masken (Plessner), in denen sie
künstlich ihren Kontakt stabilisieren, indem sie in geprägten Ausdrucksformen
des Körpers und der Sprache vermittelt voreinander erscheinen und sich damit
zugleich in ihrer wechselseitigen Unergründlichkeit voreinander verschonen.
Aufgrund des „Positionalitätscharakters" des Menschen, seiner unhintergeh-
baren körperleiblichen „Stellung im Kosmos" (Scheler), muss diese Sozialität
immer zugleich Siedlungscharakter annehmen. Positionalität zwingt auch die ex-
zentrische Sozialität der Menschen zur Topographie, zum Aufenthalt in einem
konkreten, geographisch identifizierbaren Siedlungsort, von dem „exzentrisch"
Wege des Wanderns, der Fahrt, schließlich des erdabgelösten Fliegens und tele-
kommunikativen Streifens fortführen, ohne daß das topographische Prinzip des
Siedeins aufgehoben werden könnte.5 Im Positionieren auf der Erdoberfläche, in
der Niederlassung, im Bauen und Wohnen wiederholen die Menschen zugleich
Charaktere der „Positionalität" als künstliche Grenzziehung der Stabilisierung
und Erscheinung: die Siedlung wie die Behausungen markieren Innen und
Außen, Grenzen, Tore, Fassaden, Türen. Diesen künstlichen und zugleich ex-
pressiven Grenzflächen der Artefakte ist das Inszenierte, das Kulissenhafte, das
Design so wenig fremd wie den Masken und Kleidern der Menschen an ihrem
Körper. An diesen Grenzflächen der Häuser und Siedlungen erscheinen die Men-
schen - wie schon in den Masken - erneut voreinander, vor Zugehörigen und
Fremden. Ihr Verhältnis untereinander - ihre „Welt" - ritualisieren Menschen an
den Siedlungsorten - auf der Erde - zunächst als Projekt vollständiger Integra-
tion, indem sie jeden geborenen Neuankömmling durch Verwandtschaftsnamen
eineindeutig in den natürlich-künstlichen Verwandtschaftsstrukturen identifi-
zieren, ihm seinen Herkunfts-ort zuweisen und dadurch vergemeinschaften. Die
Gemeinschaftsintegration auf dem Lande dominiert.
Demgegenüber ist die Stadt eine größere Siedlung als Daueranlage an be-
vorzugter Stelle, in der menschliche Lebewesen „unvollständige Integration" ris-
kieren, indem sie die Sozialität marktförmige Züge annehmen lassen.6 In der
marktförmigen Öffentlichkeit ist eine geregelte, aber doch freigestellte Kontakt-
aufnahme zwischen Individuen ohne Verwandtschaftsvertrautheit, nur zum Aus-
handeln wechselseitiger Vorteile von Eigentümern, möglich.7 Anthropologisch
gesehen lebt die Stadt von der Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit, von
unvollständiger Integration sich anonym begegnender Masken und idiosynkra-

5 Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum (1963). Berlin 1971.


6 Max Weber: Die Stadt. Hg. v. W Nippel, Max-Weber-Gesamtausgabe. Abt. I. Band 22-5. Tü-
bingen 1999.
7 Hans-Paul Bahrdt: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau.
Reinbek 1961.
16 JOACHIM FISCHER

tischer Integration der sich in ihren eigensten Namen begegnenden Seelen. Damit
verkörpert die mittelalterliche europäische Stadt das Sozialprinzip der „Verge-
sellschaftung" dann, wenn die Mitglieder der unvollständigen Integration sich als
Bürgerschaft identifizieren und das Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit
und Privatheit tendenziell selbstverwaltend regulieren. Parallel und überschnei-
dend bildet sich die Residenzstadt heraus, in der ein überlegener Landesherr, der
aus den Vergemeinschaftungsressourcen des Landes mit Heer und Verwaltung
ein Gesamtterritorium diszipliniert, stadtbürgerliche Strukturen einhegt und zu-
gleich funktional fördert. Langfristig werden alle Städte - nach dem Fall der Stadt-
mauern - zu umkämpften Orten einer sich formierenden bürgerlichen Gesell-
schaft, in der sich die getrennten Strukturmomente des Privateigentums, der
Vereinsbildung und der kritischen Bildung in ihren Akteursgruppen mischen:
eine Bourgeoisie8 (für die das Eigentumsprinzip (Körperbesitz, Eigentum der ei-
genen Arbeitskraft, Eigentum an veräußerbarem Grund und Boden, schließlich
Kapitalbesitz) zentral ist), sich assoziierende Citoyens (für die Selbstverwaltung
von Angelegenheiten in Vereinen zentral ist) und ein Bildungsbürgertum (für das
die publizier- und diskutierbare Kritik nach selbst gesetzten Kriterien zentral ist).
Indem diese Akteursgruppen Koinzidenzpunkte entdecken, kommt es innerhalb
der Städte zu Kontrollversuchen bürgerlicher Prinzipien gegenüber dem (feuda-
len, fürstlichen, absolutistischen) Staat und langfristig - über viele Umwege - zu
einer prinzipiellen bürgerlichen „Verstädterung" des Staates.
Die Philosophische Anthropologie hält einer historischen Soziologie der
Moderne eine Systematik der Beobachtung bereit. Aus ihren kategorialen Vor-
aussetzungen der „exzentrischen Positionalität" beobachtet Philosophische An-
thropologie nämlich den doppelten Mißton eines unglücklichen Bewußtseins,
wenn die so staatsrelevant gewordene bürgerliche Gesellschaft in der Stadt
modern wird. Die Moderne führt nämlich die Möglichkeit der radikalen Ver-
selbständigung von Exzentrizitätspol und Positionalitätspol gegeneinander mit
sich, um jeweils von hier oder von dort geschichtlich eine neue geschlossene Ge-
meinschafts-Integration der menschlichen Sozialität zu erreichen. Die Verwand-
lung der bürgerlichen Stadt in einen industriellen Standort bedeutet im Zuge der
Industrialisierung die Erfahrung einer enormen Könnenssteigerung des Menschen
in Gestalt technisch-organisatorischer Artefakte und zugleich die Erfahrung mas-
senhafter Zuwanderung der Leute vom gemeinschaftsintegrierten Land in die
Stadtgesellschaft. Dabei löst das riskant eingesetzte Kapital, das Arbeitskraft auf-
kauft und auf aufgespürte Erwartungen einer anonymen Kundschaft - deren un-
ergründliches Begehren - hin produziert und Gewinne macht, ständig Krisen aus.
Philosophische Anthropologie kann plausibel machen, warum diese industrielle
Verstädterung der bürgerlichen Gesellschaft von einer Dauerkritik an der „Ge-
sellschaft" im Zeichen der „Gemeinschaft" begleitet ist und sich zu zwei radika-

8 Werner Sombart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen.


Berlin 1923.
EXZENTRISCHE P O S I T I O N A L I T Ä T 17

len Sozialbewegungen ganz neuer, die bürgerliche Gesellschaft liquidierender An-


fänge in der modernen Stadt formiert. Die Erfahrung des technischen Könnens
der Industriearbeiter, der rational-kooperativen Beherrschung der Sachen, fordert
im Zeichen der „Sach- und Leistungsgemeinschaft" einen planvollen Vernunftan-
fang inmitten der krisenhaften, chaotisch wirkenden bürgerlichen Gesellschaft.
Die Erfahrung ursprünglicher Vertrautheit der Leute vom Lande fordert hinge-
gen im Zeichen der „Bluts- und Verwandtschaftsgemeinschaft" einen instinktiven
Vertrauensanfang der sich in ihrer genuinen leiblichen Zugehörigkeit erkennenden
Menschen inmitten der anonymen bürgerlichen Gesellschaft.9 Bezogen auf die
fragile Position, die exzentrische Positionalität des Menschen, verselbstständigt
sich einerseits im Zeichen der „Sachgemeinschaft" das „Exzentrum" gegenüber
der leiblichen Positionalität, im Zeichen der „Blutsgemeinschaft" andererseits die
leibliche Positionalität gegenüber dem Distanzmoment der Exzentrizität. In die-
sen Radikalisierungen, verbunden mit dem Könnenspotential der Moderne, steckt
das Gewaltpotential der Gemeinschaftsutopien der bürgerlichen Gesellschaft.10

2. Potsdamer Platz aus der Perspektive


der Philosophischen Anthropologie
Diese Präparierung von Phänomen und Denkansatz erlaubt den Kommentar,
was sich mit und auf dem Potsdamer Platz zu verschiedenen Epochen abspielt,
was mit den Menschen auf ihm geschieht, in welcher jeweiligen Konstitution
sich die Gesellschaft im Fall dieser Siedlungssozialität zeigt. In drei Schnitten
1900-1930, 1933-1945 + 1949-1989, 1989ff. - wird je die Gegebenheit verge-
genwärtigt und dann vom Ansatz aus kommentiert.

2.1 Potsdamer Platz im Ausbau

PHÄNOMEN: Vogelperspektivisch ist im Zeitraum nach 1900 auf den ersten Luft-
aufnahmen die Doppelplatzanlage Potsdamer/Leipziger Platz als integraler Teil
einer parzellenförmig dicht bebauten großen Stadt gegeben, verkehrsreich und
durch viele passierende Menschen - Pendler, Reisende, Zuwanderer, Berufstätige,
Konsumenten - im öffentlichen Raum belebt. Sechs Straßen treffen an den Plät-
zen zusammen, wobei die Fläche einschließlich der zugehörigen Straßen Hotels,
Geschäften, Kaufhäusern, Unterhaltungs- und Vergnügungseinrichtungen, Staats-
und Verwaltungsgebäuden, Wohnhäusern und Bahnhöfen gewidmet ist. Auf
Fotos in Augenhöhe sieht man an der Potsdamer Straße z. B. das Weinhaus Huth,

9 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924).
Mit einem Nachwort v. Joachim Fischer. Frankfurt/Main 2002.
10 Wolf gang Eßbach, Joachim Fischer, Helmut Lethen (Hg.): Plessners .Grenzen der
schaft'. Eine Debatte. Frankfurt/Main 2002.
18 JOACHIM FISCHER

Abb. 3: Leipziger Platz mit Kaufhaus Wertheim, 1928.

1912 als bürgerliches Parzellenhaus errichtet (in Stahlskelettbauweise, verkleidet


mit Muschelkalk-Fassade) und mit seiner Mischfunktion als Weinhandlung, Re-
staurant und Mietshaus11 typisch für die Ausgestaltung des Privateigentums in
diesem Areal. Diese Mischfunktion wird auch aufgegriffen werden durch die sich
an die Straßenführung anpassenden, in das Gesamtareal sich einfügenden neu-
sachlichen Neubauten am Potsdamer Platz in den 1920er Jahren.12 Für die funk-
tionale Entfaltung des Siedlungscharakters des Platzensembles relevant und
markant bleiben zwei andere Gebäude: Am Leipziger Platz bildet seit 1908 das
Warenhaus Wertheim einen Magnet, insofern es mit seinen frei zugänglich Re-
galen und Vitrinen in den verschiedenen Abteilungen ein neues Konsumprinzip
verwirklicht. Auf der Seite des Potsdamer Platzes, auf der Höhe des Potsdamer
Bahnhofs, zieht das - seit 1914 so genannte - „Haus Vaterland" als singuläres
Haus mit acht verschiedenen Etablissements Menschen an, in je verschiedene At-
mosphären einzutauchen: in den Unterhaltungseinrichtungen des Palmensaals,
der Rheinterrassen, im Hofbräuhaus, in der Türkischen Stube etc. spielen je ver-
schiedene Kapellen, in allen spielt sich etwas anderes ab.

11 Wolf Thieme: Das Weinhaus Huth am Potsdamer Platz. Berlin 1999.


12 Das Telschow-Haus der Brüder Luckhardt (1926/28); das Columbushaus von Erich Mendelsohn.
EXZENTRISCHE POSITIONALITAT 19

Gleichfalls auf Augenhöhe begegnen einem die Passanten am Potsdamer Platz


im einzigartig gestochenen Blick des Brücke-Malers Ernst Ludwig Kirchner. Kühl
verschlossen, zugleich expressiv stilisiert erscheinen die „Damen" auf dem Potsda-
mer Platz, unnahbar exotisch maskierte gewerbliche Großstädterinnen in unmit-
telbar greifbarer Nähe. An dieses Kokotten-Phänomen des Potsdamer Platzes
schließt auch der phantastische expressionistische Diskurs von 1919 über den
„Potsdamer Platz oder die Nächte des Neuen Messias"13 an: Der aus der Provinz
am Potsdamer Bahnhof ankommende Romanheld, mit dem Kriegsgewinnler-Ka-
pital seines Vaters ausgestattet, befreit die Prostituierten des Potsdamer Platzes von
ihren „kapitalistischen Hintergedanken"14 und verwandelt die „Königinnen der
Schönheit" in freiwillige Liebesdienerinnen ihrer eigenen und der anderen Lust.
Innerhalb weniger Tage werden am Potsdamer Platz alle Grenzen und Schranken
der Vergesellschaftung durchbrochen, indem der „Neue Messias" das Areal des
Platzes in den politischen Festplatz einer gigantischen Gemeinschafts-Orgie ver-
wandelt, und dem Sog dieser „ekstatischen Vision" einer geld- und herrschafts-
freien Vergemeinschaftung können sich auch die bürgerlichen Quartiere des
Westens, die Polizei und schließlich die heranrückenden Armeen des Feindes nicht
verschließen: Vom Potsdamer Platz aus entfaltet sich eine „erlöste Menschheit".15

KOMMENTAR: Der .Potsdamer Platz' im Ausbau ist offensichtlich die Verkör-


perung der großen okzidentalen Stadt der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer Po-
larität von Öffentlichkeit und Privatheit. Als Doppelplatzanlage ist er das Forum
der Beschleunigung (am Potsdamer Tor) und Entschleunigung (am Leipziger
Platz), des Eilens und Verweilens. „In sich weitmaschig genug, um das Fluktu-
ieren des Lebens in allen seinen Schattierungen zu beherbergen und zugleich
durch sich hindurchgehen zu lassen, ist Öffentlichkeit das offene System des Ver-
kehrs zwischen unverbundenen Menschen."16 Da der Stadtbewohner ständig mit
einer großen Zahl ihm zunächst unbekannter und zumeist wahrscheinlich nicht
weiter vertraut werdender Personen in Berührung kommt, kommt es - wie
Kirchners rapidistische Szenen zeigen17 - zu einer Stilisierung des Verhaltens, die
binnen kürzester Zeit sowohl die eigene Person wie die gemeinten Bezüge in einer
Rolle kenntlich macht und darin gegenüber unergründlich anderen Möglichkei-
ten reserviert bleibt. In den Verfremdungen der typischen Stilisierungen von
Schmuck, Kleidung und Haltung bringen es die Personen zu einem geformteren,
eindringlicheren Ausdruck, als ihre unmittelbare Wirklichkeit es könnte - aber
eben vermittelt und damit auch verstellt. Die großstädtische petit-bourgeoisie-
Atmosphäre des Potsdamer und Leipziger Platzes wird mit ihrem Mobilitäts- und
Hedonitäts-Charakter bereits aus der Funktion von Straßen und Gebäuden iden-

13 Curt Corrinth: Potsdamer Platz oder die Nächte des Neuen Messias. Ekstatische Visionen. Mün-
chen 1919.
14 Corrinth, Potsdamer Platz, S. 27.
15 ebd., S. 88.
16 Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, S. 95.
17 Magdalena M. Moeller: Ernst Ludwig Kirchner. Die Straßenszenen 1913 bis 1915. München 1993.
20 JOACHIM FISCHER

tifizierbar. Simulations- und Kulissenräume als notwendiges Requisit sich in ihrer


doppelten Unergründlichkeit begegnender Menschen werden an diesem ausge-
bauten Ensemble besonders greifbar. Der Markt des Leipziger Platzes, in allen
Mode-, Kunstgeschäften v.a. in den Straßen um den Potsdamer Platz nunmehr
ausgebreitet, hat sich verdichtet und hochgefahren im Warenhaus Wertheim mit
der Möglichkeit des zu jeder Tages- und Jahreszeit freien Schweifens zwischen
Vitrinen und Regalen, voll mit Gütern aller Gattungen.18 Die kulturelle Aufla-
dung des Konsums, die den Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft permanent -
aber exkludierend - begleitet hat, wird im Warenhaus Wertheim tendenziell für
die Massen geöffnet - soweit sie zahlungsfähig sind. Kaufhausdetektive und Kri-
minalpolizei, eine teils privatwirtschaftliche, teils öffentliche Beobachtung sichern
fortlaufend eine subtile Kontrolle dieser auf die Massen überspringenden bür-
gerlichen Gesellschaft. Dieselbe Klientel lässt sich im Unterhaltungshaus mit sei-
nen pluralen Etablissements ihr unergründliches Begehren nach verschiedenen
Lebensatmosphären entdecken und facettieren.
Als Zone des dynamischen Verkehrs, v.a. aber des entfalteten geldgeleiteten
Tauschverkehrs zieht gerade dieser reale Ort Potsdamer Platz die Topoi der ra-
dikalen Großstadtkritik und ihre Überbietungsvisionen an. Von dieser Kritik und
Utopie aus gesehen praktiziert diese „bürgerliche Gesellschaft" strukturell Teil-
nahmslosigkeit, Oberflächlichkeit, Kälte und Anonymität; aus Vogelperspektive
und in Augenhöhe wirken die freigesetzten Individuen planlos, dekoordiniert,
sozial desintegriert. Sie wirken „zerstreut"19 im doppelten Sinn: durch großstäd-
tische Ablenkung unkonzentriert hinsichtlich ihrer eigentlichsten Bestimmung,
und auseinandertreibend, un-solidarisch; unauthentisch bleiben sie sich und an-
deren in der Maskierung ihrer selbst fremd. Insofern zeigen die realen Bilder und
die Visionen des Potsdamer Platzes dieser Jahre die bürgerliche Gesellschaft in
ihrer Blüte inmitten der Masse - und in der Möglichkeit ihrer Liquidierung. Den
bürgerlichen Selbstverdacht gegen die eigene Vergesellschaftungsform bringt die
aberwitzige expressionistische Erzählung von 1919 mit der .Wahrheit' des Pots-
damer Platzes auf den Punkt: daß die Prostitution - der anonyme Tauschverkehr
Kapital gegen den Liebesleib - die Tiefenperversion der bürgerlichen Gesellschaft
enthülle und deshalb nach Umkehr schreie. 1919, im Jahr von Freikorpsforma-
tion und Spartakus-Projekt, sprüht deshalb die „ek-statische Vision", daß der
Mensch aus der Brüchigkeit seiner exzentrischen Position ek-statisch heraustre-
ten und solidarisch endlich wieder der werden könne, der er ist: „Ich bin. Aber
ich habe mich noch nicht. Darum werden wir erst." (E. Bloch)

18 Die ersten Kindheitserinnerungen an den Potsdamer Platz aus der ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts gehen meistens auf die Auslagen des Kaufhauses Wertheim: Wolfdietrich Schnurre:
„Mit der Mauer leben" (1963), Teilabdruck in: Berlin im Abriß. Beispiel Potsdamer Platz. 1981.
Katalog Berlinische Galerie, S. 41. Manfred Wilhelms: Die Legende vom Potsdamer Platz. Sechs-
stündige Dokumentation, 2002. Gerdhard Panzer, „Ein Platz als erinnerter Raum. Oral Histo-
ries vom Potsdamer Platz", Vortrag auf der Jahrestagung Sektion Kultursoziologie, 13.-15. 9.
2001 (unveröffentlicht).
19 Siegfried Kracauers mustergültige Kulturkritik des Potsdamer Platzes, speziell der Unterhal-
tungsmaschine Haus Vaterland: Ders.: Die Angestellten. Frankfurt/Main 1930, S. 88f.
EXZENTRISCHE POSITIONALITÄT 21

Abb. 4: Die nationalsozialistischen Kommandozentralen 1936.

2.2 Potsdamer Platz im Abbau

2.2.1 PHÄNOMEN: Auf Aufnahmen von 1945 sieht man die Doppelplatzanlage
destruiert. Die meisten Gebäude sind - von Bomben und Granaten getroffen
- ausgebrannt. Der Potsdamer Platz hat ziemlich abgebaut. Knapp zehn Jahre
zuvor sieht die Platzanlage noch intakt aus. Doch muß man das Umfeld ein-
beziehen. Unmittelbar rings um das Areal hatten sich die politischen Kom-
mandozentralen des Dritten Reiches etabliert: nicht nur in der Reichskanzlei,
auch als Luftfahrtministerium, Ministerium für Propaganda und Volksauf-
klärung, als Gestapo und Reichsführung der SS im Prinz-Albrecht-Palais, wo
die Erfassung, der Abtransport und die Vernichtung der jüdischen Bürger ko-
ordiniert wurde. Die SS verwendete das Columbushaus am Potsdamer Platz
als „Schutzhaftgefängnis", seit 1935 wurden im Volksgerichtshof Urteile ver-
hängt. Ergänzend muß man über das Areal die Neuplanung der Reichshaupt-
stadt legen, in der in der völligen Umstrukturierung der Stadt entlang einer
Nord-Süd-Achse samt Triumphbogen und Beutestückeallee der Potsdamer
Platz marginalisiert erscheint. Unter dem Gelände der Neuen Reichskanzlei
in der Vossstrasse wird das Bunkersystem des Führers in die Erde gegraben.
Wenige Jahre später sieht man auf Aufnahmen den Platz voller Trümmer, Reste
22 JOACHIM FISCHER

Abb. 5: Ausschnitt dem Speerplan für die Neugestaltung Berlins in der Nähe vom
Potsdamer/Leipziger Platz, 1940.

militärischer Auseinandersetzung, nahezu alle Gebäude sind bombardiert,


beschossen, ausgebrannt. Potsdamer und Leipziger Platz sind weitgehend rui-
niert. Das Weinhaus H u t h ist auf den Aufnahmen übrigens nahezu un-
beschädigt zu sehen. 20

KOMMENTAR: Der Potsdamer Platz im Abbau wird verstehbar als indirekte


Konsequenz eines dezidiert anti-bürgerlichen Projekts. In der nationalsoziali-
stischen Herrschaft konstituiert sich gegen alle Entfremdungserscheinungen
der bürgerlichen Gesellschaft ein biopolitisches Gemeinschaftsprojekt als Neu-
anfang. Gegen soziale Desintegration und Zerstreuung der Kräfte, wie sie u.a.
anscheinend gerade auch am Potsdamer Platz erscheinen, wird der Versuch to-
taler Integration vom biopolitischen Pol der „Positionalität" des Menschen
aus, durch Vergemeinschaftung über die Körper, im Zeichen des .Blutes' un-
ternommen. Wenn auch von Teilen der Bourgeoisie gestützt, handelt es sich als
vollkommen neuer Vergemeinschaftungs-Anfang im SS-Kern der Herrschaft
soziologisch um ein modernes rassisches Krieger- und Bauernprojekt, in das
ein Restbürgertum bloß funktional eingebunden bleibt. Die Bildung der ,Lie-

20 Wolf Thieme: Das Weinhaus Huth am Potsdamer Platz. Berlin 1999.


EXZENTRISCHE POSITIONALITÄT 23

Abb. 6: Blick von der Stresemannstraße in Richtung .Haus Vaterland' im Juli 1945.

bes- und Kampfgemeinschaft' über Körperlichkeit ist genuin verknüpft mit der
systematischen Ausgrenzung der .naturgemäß' Nichtzugehörigen aus der
Kommunität, der .Fremden' als Quelle jeder Entfremdung. Diese systemati-
sche Entbürgerlichung von Bürgern ist von folgendem Effekt begleitet: Selbst
wenn sich Mitte und Ende der 1930er Jahre auf den Aufnahmen das Platz-
geschehen mit dem von früher gleichen sollte, kann sich von innen her keiner
mehr .fremd' fühlen, weil sich nun jeder Zugehörige als .Volksgenosse' einer
körperleibfundierten Vertrautheitsgemeinschaft wissen kann. Am Potsdamer/
Leipziger Platz ist diese Gemeinschaftsutopie der Moderne mit den Mitteln
der Moderne real geworden. Die Selbstentfesselung dieser sich in ihren Kräf-
ten „gleichschaltenden", sich auf Beutezüge konzentrierenden ethnozentri-
schen Gemeinschaft, die sich im ,Germania'-Plan symbolisiert und in der
überwältigenden Gewalttätigkeit gegen andere Gesellschaften realisiert, konnte
nur durch die konzentrierte Macht der angegriffenen Gegner aufgehalten und
durch das zerstörerische Eindringen in das Zentrum des gewalttätigen Ethnos,
in seine Hauptstadt, bis in den unterirdischen Führerbunker, zum Stopp ge-
bracht werden. Deshalb gibt es die zerstörte Doppelplatzanlage Potsdamer/
Leipziger Platz.
24 JOACHIM FISCHER

Abb. 7: Berlin, Mauer über den Potsdamer Platz, ca. 1965.

2.2.2 PHÄNOMEN: Auf den Aufnahmen ab 1956 sieht man den nahezu vollstän-
dig abgebauten Platz, die Trümmer sind entsorgt, die noch vorhandenen Ge-
bäude abgetragen. Zwischen Potsdamer Platz und Leipziger Platz verläuft seit
1945 die von den Siegermächten markierte Sektorengrenze zwischen sowjeti-
schem Sektor im Osten und britischen und amerikanischen Sektoren im Westen,
die sich spätestens seit 1949 zur politischen Grenze zwischen dem von der Bun-
desrepublik gestützten West-Berlin und dem von der „Gruppe Ulbricht" auf-
gebauten SED-Staat DDR verwandelt. Auf Aufnahmen seit den 1960er Jahren
zieht sich dann eine Mauer über den Platz, die Sektoren- und noch menschen-
durchlässige Politikgrenze hat sich in eine markante Staatsgrenze verwandelt,
die aus einer tief gestaffelten Sperranlage mit Mauer an vorderster Front besteht.
Sie zieht sich um ganz Westberlin, das sie einschließt, während sie die Bevölke-
rung im Osten ausschließt. Die Mauer als Bauwerk, als fortifikatorische Archi-
tektur, dominiert nun das Areal. Blickt man in den 70er Jahren vom Westen aus,
z. B. von der neu gebauten Staatsbibliothek in Richtung des ehemaligen Pots-
damer Platzes, sieht man ein Brachfeld mit Lindenallee - die ehemalige Potsda-
mer Straße - und ein einzelnes Haus, das ehemalige Weinhaus Huth, in dem
noch Mieter wohnen.
EXZENTRISCHE POSITIONALITÄT 25

Abb. 8: Offizieller Stadtplan von Ost-Berlin 1984.

KOMMENTAR: Die auf der Ostseite vollkommen, auf der Westseite bis auf Reste
geräumte und durch eine Mauer fast dreißig Jahre stillgestellte Doppelplatz-
anlage wird verstehbar als indirekte Konsequenz eines anderen dezidiert anti-
bürgerlichen Projekts. In der SED-Herrschaft konstituiert sich gegen alle
Entfremdungserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft ein vernunftpolitisches
Gemeinschaftsprojekt als Neuanfang - in der Moderne, mit den Mitteln der Mo-
derne. Gegen soziale Desintegration und Zerstreuung, wie sie sich in ihrer Deka-
denz anscheinend auch auf dem Potsdamer Platz zeigte, wird der Versuch totaler
Integration vom vernunftpolitischen Exzentrizitätspol des Menschen aus unter-
nommen, durch Vergemeinschaftung über die rationale Arbeit an der „Sache", im
Zeichen des .Planes'. Wenn auch von Teilen des abspringenden alten Bildungs-
bürgertums unterstützt, handelt es sich als vollkommen neuer Anfang im kom-
munistischen Kaderkern der Herrschaft soziologisch um ein modernes Indu-
26 JOACHIM FISCHER

striearbeiter- und Bauernprojekt, in das bürgerliche Momente bloß funktional


eingebunden bleiben. Die Bildung einer „Sachgemeinschaft", der Arbeits- und
Produktionsgemeinschaft, ist ermöglicht über den kollektiv vernünftigen
Plan. Über den Plan, durch den die .wohlverstandenen' Bedürfnisse eines jeden
ermittelbar, deren Befriedigung erreichbar und somit die gerechte Versorgung aller
koordinierbar werden, gewinnt jeder die Kontrolle über die Produktionsbe-
dingungen seines Lebens und damit über sich selbst zurück. Dieses vernunftpo-
litische Gemeinschaftsprojekt ist verknüpft mit der systematischen Eingrenzung
der existentiellen Körperleiber in die Kommunität. Man muß im Zweifelsfall mit
Gewalt die ausbrechenden begehrenden individuellen Körper bei der Stange der
kollektiven Vernunft halten und den Übertritt in die bürgerliche Gesellschaft,
damit in die eigene Entfremdung, verhindern. Das Vernunftprojekt braucht ein
Grenzregime, eine Fortifikation am Potsdamer Platz. Deshalb gibt es die durch
eine Mauer dreißig Jahre lang stillgestellte Doppelplatzanlage.21

2.3 Potsdamer Platz im Aufbau

PHÄNOMEN: Auf Fotos ist erkennbar, wie unter medialer Beobachtung der Weltöf-
fentlichkeit die Mauer über den Potsdamer Platz in der Nacht vom 10. auf den
11. November 1989 von Osten her durch Kräfte der Nationalen Volksarmee der
DDR durchbrochen wird, vom Westen von einer Menschenmenge harrend er-
wartet, in der sich bereits Westberliner und DDR-Bürger mischen. Die Platzan-
lage zwischen 45 Jahre lang getrennten Stadthälften Berlins lag zur Gestaltung
offen, der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt, weil vom ehemaligen Baube-
stand nur geringste Überbleibsel erhalten waren: die Lindenallee, das Weinhaus
Huth und Reste des Hotels Esplanade, die Möglichkeiten hätten blockieren kön-
nen. Politisch wurde bereits 1990 die Initiative zur vollständigen Bebauung als
Stadtquartier beschlossen, die ein öffentlich heftig diskutiertes Verfahren zwi-
schen Politik, Ökonomie und Kultur implizierte: Verkauf der Fläche seitens der
Stadt an Großinvestoren mit der Auflage eines städtischen Ideenwettbewerbs, auf
deren Ergebnis sich die Investoren im Kaufvertrag verpflichten mußten. 22 Die
stadtpolitischen Auflagen des Ideenwettbewerbs folgten den Konzepten „Kriti-
sche Rekonstruktion" und „Neue Berlinische Architektur". Innerhalb der De-
batten werden diese Konzepte vor allem von einer Schlüsselfigur vertreten, dem
ehemals entschieden linken Sozialdemokraten Hans Stimmann (seit 1991 Senats-
baudirektor), der in den 80er Jahren einen Mentalitätswandel zur „Stadtrepara-
tur" vollzogen hat. An diese Konzepte mußten sich die beiden Hauptinvestoren,
die Daimler-Benz-Dienstleistungstochter Debis und der japanische Sony-Kon-
zern, sowie alle anderen Investoren (z.B. am Leipziger Platz) halten: den histori-

21 Berlin im Abriß. Beispiel Potsdamer Platz. Katalog Berlinische Galerie. Berlin 1981.
22 Andreas Muhs, Heinrich Wefing: Der Neue Potsdamer Platz. Ein Kunststück Stadt. Berlin 1998.
- Werner Sewing: „Berlin - vom Mythos zur Metropole?", in: Helmuth Berking/Richard Faber
(Hg.), Städte im Globalisierungsdiskurs, Würzburg 2002, S. 97-112.
EXZENTRISCHE POSITIONALITAT 27

Abb. 9: Baugelände Potsdamer/Leipziger Platz, Berlin,


Luftaufnahme, September 1994.

sehen Straßen- und Platzgrundriß, Berücksichtigung der restlichen Altbauten und


der Lindenallee, Blockbebauung, Traufhöhe, Vernetzung mit den anliegenden
Arealen der Stadt, Mischnutzung. Nicht hingegen sollten die Fortifkationen auf
und um den Platz erhalten und demonstrativ einbezogen werden, weder die un-
terirdischen Reste des Führerbunkers an der Vossstrasse, noch die Mauer. Auf
Abbildungen erkennt man 1991 den bevorzugten Gesamtentwurf im „Städte-
baulichen Wettbewerb Potsdamer/Leipziger Platz" (Hilmer/Sattler), an den sich
die die Vorgaben variierenden Anschlußwettbewerbe der Großinvestoren für die
Debis-Stadt und das Sony-Center anschlössen. Nach Verhandlungen wurden
noch Höhendominanten und eine Shopping mall eingeplant. Die zum Zuge kom-
menden Architekten hatten schwerpunktmäßig bereits in US-amerikanischen, in
europäischen Metropolen und in Berlin gebaut. Nach endgültiger Zustimmung
des Berliner Abgeordnetenhauses ist seit 1994 eine gigantisch-logistische Reali-
sierung der Entwürfe zu beobachten. Mit der sukzessiven Freigabe des Stadt-
quartiers seit 1998 sieht man das Areal im Aufbau gegenüber früher verändert und
neu, aber der Doppelplatzgrundriß bleibt deutlich erkennbar. Das Weinhaus
Huth steht eingefügt in die Neubebauung an der (verkürzten) geschichtlichen
Lindenallee (wenn auch die jetzigen Linden dieser unveränderten Allee erst 1945
gepflanzt wurden). In jedem Fall springt die Mischnutzung ins Auge: ca. 50%
Büroraum, 20% Wohnraum, 30% für Hotels, Kinos, Musicaltheater, Spielbank,
Restaurants. Im Debis-Komplex fungieren die .Potsdamer Platz Arkaden' als mo-
dernes Warenhaus in Gestalt einer Shopping Mall. Das Sony-Center zieht Un-
28 JOACHIM FISCHER

Abb. 10: Alte Potsdamer Straße, Blickrichtung Potsdamer Platz, 1980.

terhaltungsfunktionen auf sich, die Berliner Filmfestspiele werden hierhin verla-


gert. Der Elite-Filmclub der „Freunde der deutschen Kinemathek" siedelt eben-
falls dort an. An der kleinen Piazza (Marlene-Dietrich-Platz) finden sich Theater,
Casino, Hotel, Kino, Wohn- und Geschäftshäuser. Am klassischen Achteck des
Leipziger Platzes sind bereits einige der 16 geplanten Randbebauungen von ins-
gesamt 14 Investoren realisiert, auch hier mit Mischnutzung, neben Geschäften
und Wohnungen schwerpunktmäßig für Rechtsanwaltskanzleien und große Be-
ratungsfirmen konzipiert. Aus der Vogelperspektive wirkt das geschlossen be-
baute ehemalige Brachfeld zugleich entinselt, es ist im Norden zum Tiergarten
hin geöffnet, im Westen angelehnt an das Kulturforum, Richtung Brandenburger
Tor zum Gelände der Länderbotschaften und zum Holocaust-Denkmal vernetzt,
über den Leipziger Platz und die Leipziger Straße mit der Friedrichstraße dem
innerstädtischen Zentrum verbunden.

KOMMENTAR: Die philosopisch-anthropologische Diagnostik dessen, was sich in


der Gegenwart des Potsdamer/Leipziger Platzes abgespielt hat, zielt auf eine
Schlüsselfrage. Erklärungsbedürftig ist, warum es im Aufbau zu einer Wiederer-
kennbarkeit der Doppelplatzanlage gekommen ist trotz der phantastischen Mög-
lichkeit eines totalen städtebaulichen Neuanfangs, einer radikalen Neu-setzung
inmitten der Stadt. Wo alles möglich war, ist sorgsam auf anknüpfendes Bauen
Wert gelegt worden (was nach Fertigstellung des Leipziger Platzes noch plasti-
EXZENTRISCHE POSITIONALITAT 29

Abb. 11: Weinhaus Huth am Rande der Baugrube


Regionalbahnhof, Januar 1997.

scher erscheinen wird). Die These ist, daß sich im Aufbau des Potsdamer/Leip-
ziger Platzes nicht eine Restauration, aber eine Rekonstitution der bürgerlichen
Gesellschaft unter veränderten Bedingungen ereignet. Gerade an dem Platz, wo
ihre doppelte Abschaffbarkeit in der Moderne sichtbar wurde, entdeckt und
erfindet die bürgerliche Gesellschaft in der Gegenwartsgesellschaft ihre eigene
Wiederanknüpfbarkeit.
Kultursoziologisch ist das nur möglich geworden durch eine sehr unwahr-
scheinliche soziokulturelle Konstellation. Einen überraschenden Schub erhielt
die Wiederentdeckung der bürgerlichen Gesellschaft durch die ost-mittel-
europäischen Bürgerbewegungen, deren riskierte freie Assoziationen in letzter
Hinsicht den Rückbau der Mauer und des sie stützenden kollektiven Vernunft-
projekts zur Folge hatten, auch wenn diese neuen Citoyens mit ihrer gewagten
zivilgesellschaftlichen Herstellung des öffentlichen Raumes23 die Bourgeoisie als
integrales Moment einer bürgerlichen Gesellschaft zunächst nicht im Blick hat-
ten. Auf der anderen Seite sind die langwierigen soziokulturellen Lernprozesse
der Rechten und Linken in West-Berlin und Westdeutschland einzubeziehen, die
in der allmählichen Wiederentdeckung ihrer zerstörten Stadt (architektonisches
Konzept „Stadtreparatur") direkt und indirekt ihre eigene Verbürgerlichung vo-
rantrieben. Von Wolf Jobst Siedlers früher Diagnose der durch a-bürgerliche
Selbstzerstörung „gemordeten Stadt"24 über die alternative Häuserbesetzerszene
bürgerlicher Altbauquartiere Anfang der 1980er Jahre bis hin zu einem diskur-
siv aufgeladenen „Mythos Berlin" vollzieht sich ein komplizierter Prozeß, in dem
die Citoyens (in „Bürgerinitiativen") die Wohn-, Eigentums- und Lebensformen

23 Hannah Arendt: Über die Revolution (1963). München 1994.


24 Wolf J. Siedler, Elisabeth Niggemeyer, Gina Angreß: Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte
und Straße, Platz und Bau. Berlin 1964.
30 JOACHIM FISCHER

Abb. 12 : Potsdamer Platz


Arkaden, 2001.

der bürgerlichen Stadt entdecken und als Citoyens die Bourgeoisie und deren Ri-
sikokapital demonstrativ an die Kontur der „europäischen Stadt" erinnern.
Der .Mythos Berlin' zentrierte sich im Mythos des Potsdamer Platzes, und die-
ser Mythos - als Beschwörung geschmeidiger Fülle städtischen Lebens - konnte
sich nur bilden vor dem realen Hintergrund des Nichts, des „Aus", der Furie ge-
waltsamen Verschwindens, die eben an diesem Platz sichtbar und vernehmbar war.
Das allein zeichnete diesen Platz vor allen anderen Berliner Plätzen aus. Insofern
bildete diese in ihrem schockhaften Kontrast von Lebensfülle und Lebensleere
mythisch gewordene Doppelplatzanlage auch einen Anschauungshintergrund für
den sich neu bildenden Selbstanerkennungskern der bürgerlichen Gesellschaft:
Der Bourgeois erkennt den Citoyen an, ohne dessen öffentliche Asssoziierungs-
bereitschaft und dessen Mut des Hervortretens er sein Privateigentum auf Dauer
nicht halten kann, und der Citoyen erkennt den Bourgeois an, dessen dynami-
sches und letztlich disponibles Risikokapital als Haus- und Grundbesitzer, als
Shareholder, als Investor über Marketing und Markt das unbekannte Begehren
des Konsumenten heraustreibt, der tendenziell auch im Citoyen steckt - und im
kritischen Bildungsbürger. Das kritische Bildungsbürgertum schließlich, das
immer neue Kriterien der Beurteilung des Lebens in der Moderne hervortreibt,
prüft seine Kriterien inzwischen permanent an den Vernichtungserfahrungen
nicht-bürgerlicher Lebensexperimente im 20. Jahrhundert.
Diese wechselseitige Anerkennung als machtstiftender Kern der bürgerlichen
Gesellschaft ermöglicht - so die kultursoziologische Erklärung - in einem hi-
storisch unvorhergesehenen Moment statt des radikalen Neuanfangs die Geste
des Verzichts auf ihn, statt Neupositionierung die Anknüpfung an die Spuren
EXZENTRISCHE POSITIONALITAT 31

Abb. 13: Potsdamer Straße, 2001.

der Positionalität des Stadtkörpers. Initiativ übergibt die Politik die Initiative an
die Ökonomie, die sie zugleich durch die Kultur (Architektur) bindet. Rendite-
maximierungswünsche der Großinvestoren treffen auf Lebens- und Aus-
druckskriterien des kritischen Bildungsbürgertums. Im Projekt der Bebauung
des Areals bildet sich die öffentliche, manchmal abgebrochene, immer wieder
aufgenommene Kommunikation der Kapitalbourgeoisie (den Investoren) mit
dem kritischen Bildungsbürgertum (v.a. verkörpert in den Architekten, den
Stadthistorikern etc.) und den aus den 1980er Jahren in politischen Assoziatio-
nen und Koalitionen erprobten Citoyens (die inzwischen Ämter auf Zeit ausü-
ben: Senatsbaudirektor Hans Stimmann als Prototyp).
Im Wiederaufbau des Potsdamer Platzes als Stadtquartier stellt das kontin-
genzgewitzte Bürgertum seine Stadt, seine soziokulturellen Ordnungsmuster, die
ihm in der Geschichte des 20. Jahrhunderts weggebrochen sind, institutionell in
der Massengesellschaft auf Dauer. Soziologisch gesehen ist das ein Herrschafts-
zusammenhang: nicht die Massen haben das Sagen, sondern die bürgerliche Ge-
sellschaft setzt sich im Medium der Massengesellschaft. Angeknüpft wird dabei
durchaus nicht nur an die Weimarer Jahre der Berliner Republik seit 1919, son-
dern an die Platzgeschichte etwa seit den 1880er Jahren, als sich hier zum ersten
Mal die bürgerliche Gesellschaft in ihren eigenen Bau- und Lebensformen in der
Moderne prägnant ausprägt. Die Anlehnung - nicht an formalistische Formen,
sondern an gelebte Formen - erfolgt symbolisch mit Blick auf die Masse in der
Form der „Trivialisierung" (Rehberg), doch in der Abspannung der Trivialisie-
rung bleibt die stabilisierte Spannung der bürgerlichen Gesellschaft institutionell
verstetigt: zwar keine bürgerlichen Eigentümer-Parzellen mehr, aber hinter den
32 JOACHIM FISCHER

Aktienpaketen der Großinvestoren stecken private Bourgeoisiefamilien; die Shop-


ping mall setzt den Markt, wie ihn das Areal zuletzt im modernen Warenhaus
Wertheim gesehen hatte, neu fort, als Ort von Mobilität und Hedonität, wie ihn
nichtbürgerliche Gesellschaften so nicht kennen, wie überhaupt die bürgerliche
Gesellschaft ihren Frieden mit der .Massenkultur' macht, indem sie in sie zugleich
zivile Umgangsformen streut und deren Befolgung im dritten Auge der Videoka-
meras diszipliniert. Kalkulierende Käuferinnen, strebsame Dienstleisterinnen und
flanierende Touristinnen sind Kernfiguren dieser bürgerlichen Gesellschaft. In-
sofern ist der bebaute Platz bereits sozial angeeignet von der petit bourgeoisie der
Angestellten, Konsumenten und Touristen, die ihren Lebensplänen nachgehen.
Von Musicaltheater, Kinos und Spielbank ist es nur ein Katzensprung zur Hoch-
kultur des Kulturforums: Staatsbibliothek, Nationalgalerie, Konzerthaus. Und zu
den Filmfestspielen treffen sich im Sony-Center Cineasten, vielleicht keine klas-
sisch gebildeten Bürger mehr, aber immerhin vom Typ kritischer Bildungsbürger,
die in ihren Diskussionen - von den „Freunden der deutschen Kinemathek" ge-
schult - für Filme Lesarten wie für Bücher erfinden. Wenige Schritte wird es vom
Potsdamer Platz zum zivilreligiösen Mahnmal der bürgerlichen Gesellschaft sein,
dem Holocaust-Denkmal, in dem permanent der Vernichtung der europäischen
Juden gedacht werden wird, einer Bevölkerungsgruppe, die soziologisch gesehen
gerade im deutschsprachigen Raum wie keine andere das bürgerliche Prinzip in
allen seinen Aspekten verkörperte.
So jung und unerfahren der aufgebaute Potsdamer Platz wirkt, so viel Selbst-
erfahrung der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer Geschichte steckt in seinem
Wiederaufbau. Daß der Wiederaufbau des Platzes architektonisch neben eu-
ropäischen Formen auch US-amerikanische Bauformen zitiert, signalisiert kultur-
und herrschaftssoziologisch nur das Faktum einer inzwischen transnational exi-
stierenden und operierenden bürgerlichen Gesellschaft in der Moderne (was nicht
deckungsgleich ist mit „Weltgesellschaft"). Gerade die Epoche der Globalisierung
entlang funktional ausdifferenzierter Funktionssysteme, deren Abstraktheit her-
auszudrehen, in ihren jeweiligen Semiosen und Codierungen zu verstehen und zu
handhaben menschliche Lebewesen kraft ihrer Exzentrizität in der Lage sind, for-
dert gegenläufig zugleich die Konkretion der Siedlung, eine Verkörperung und
„Präsenz-Magie" 25 aufgrund der unaufhebbaren „Positionalität" ihrer körper-
leiblichen Existenz. Aus Sicht der Philosophischen Anthropologie erschließt sich
der „Potsdamer Platz" als diskursiver Topos und konkrete Topographie. Der städ-
tebaulich rekonstituierte Potsdamer/Leipziger Platz läßt sich rekonstruieren als
Projekt der bürgerlichen Gesellschaft, nach ihrer Kontingenz- und Zerstörungs-
erfahrung inmitten der Moderne mit der Fülle ihrer funktionsnahen Ausdifferen-
zierung präsenz-magisch an diesem Ereignis-Ort zu erscheinen.

25 Dieter Ciaessens: Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie.
Frankfurt/Main 1980. - Karl-Siegbert Rehberg: „Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institu-
tionelle Analyse und Symboltheorien - Eine Einführung in systematischer Absicht", in: Insti-
tutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit
und Gegenwart, hg. v. Gert Melville, Köln-Weimar-Wien 2001, S. 3-49.
JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER

Die Neubebauung eines Stadtzentrums.


Der Potsdamer Platz aus der Perspektive
der Rational Choice Theorie

Architektur ist, mehr als alle anderen


Künste, die Angelegenheit der Massen.
Diese bezahlen nämlich die Rechnung.
Stefan Heym, Die Architekten

I. Einleitung
Die komplexe Planung eines Platzes scheint sich einer wissenschaftlichen
Analyse zu entziehen. Es beginnt damit, dass ein Blick von der ehemali-
gen „Infobox" am Rande des Potsdamer Platzes auf die fortschreitenden
Baggerarbeiten und Konstruktionen ein rätselhaftes Bild ergab. Es war dem
Betrachter nicht möglich, die Umleitung der Spree, den Abtransport des San-
des und die Wege der unzähligen Lastwagen, sowie gleichzeitig die Kon-
struktion der ersten Gebäude zu verfolgen. Es ist wohl zu Recht gesagt
worden, dies sei die komplizierteste Baustelle Europas; eine bewunderns-
werte Leistung der Logistik, der Ingenieure und der auf irgendeine Weise ge-
lungenen Überwindung der Sprachverwirrung der Bauarbeiter verschiedener
Nationalitäten. 1
Dieses war aber nur der sichtbare Teil der Planungen, andere Teile des Pro-
zesses, wie die zahlreichen Verhandlungen und die Arbeiten in den Senats-
verwaltungen, Unternehmen und Architekturbüros sowie die Ausschreibungen
sind weitere Bestandteile. Deshalb erscheint es fast unmöglich, den Planungs-
prozess angemessen nachzuvollziehen und dann durch eine Theorie zu be-
schreiben und zu erklären.
Wir interpretieren das Projekt des Potsdamer Platzes aus der Sicht der Ra-
tional Choice Theorie (RCT) als die Erstellung eines Kollektivgutes. Zu ihm
tragen kooperative Akteure bei, u.a. die Unternehmen, die sich dort ansiedeln,
wie Daimler-Benz (seit 1998 DaimlerChrysler) und Sony, aber auch die Ver-
waltungen des Senats von Berlin. Wir untersuchen, welche Akteure an dem Pro-
zess beteiligt waren, welche Handlungsalternativen sie hatten, welche Nutzen
sie davon hatten, zu dem Kollektivgut beizutragen, unter welchen Restriktio-

1 Vgl. auch die Beschreibung von Andreas Muhs/Heinrich Wefing: Der neue Potsdamer Platz: ein
Kunststück Stadt. Berlin 1998, S. 44ff.
34 JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER

Abb. 1: Das Baugelände am Potsdamer Platz, 1994.

nen sie gehandelt haben und welche Folgen die Entscheidungen einzelner Ak-
teure auf die (späteren) Handlungsmöglichkeiten anderer Akteure hatten.
Dazu gehen wir im ersten Teil auf die theoretischen Grundlagen der Analyse,
die RCT und die Theorie der Kollektivgüter, ein. Wir untersuchen dann, wel-
che Handlungsalternativen einzelne (korporative) Akteure unter den gegebe-
nen Bedingungen hatten und welche Alternative sie gewählt haben. Uns
interessiert dabei auch, welche Restriktionen die Entscheidungen eines Akteurs
für die Handlungsalternativen und Optionen anderer Akteure hatten. Am Ende
stellen wir einige Folgerungen aus der Analyse dar.
Unsere Rekonstruktion des Planungsprozesses ist in mehrfacher Hinsicht
unvollständig. Zum einen kennen wir keine Rekonstruktion eines so komple-
xen Vorgangs, der uns als Beispiel hätte dienen können. 2 Ferner können wir
nicht alle Akteure angemessen berücksichtigen. Beispielsweise seien hier die be-

2 Am ehesten noch: Die Rekonstruktionen der Montagsdemonstrationen in Leipzig durch Abra-


ham und Prosch (Bernhard Prosch/Martin Abraham: „Die Revolution in der DDR. Eine struktu-
rell-individualistische Erklärungsskizze", in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Soztalpsychologie
43 (1991), S. 291-301.), vor allem aber Opp (Karl-Dieter Opp: „Contending Conceptions of the
Theory of Rational Action", in: Journal of Theoretical Politics 11 (1999), S. 171-202. Karl-Dieter
Opp: „DDR '89. Zu den Ursachen einer spontanen Revolution", in: Kölner Zeitschrift für
logie und Soztalpsychologie 43 (1991), S. 302-321.) oder die Analyse der räumlichen Festlegung von
administrativen Grenzen von Reuber (Paul Reuber: Raumbezogene politische Konflikte.
phische Konfliktforschung am Beispiel von Gemeindegebietsreformen. Stuttgart 1999).
DIE NEUBEBAUUNG EINES STADTZENTRUMS 35

teiligten Architekten und Planer genannt, die sich als „Diener zweier Herren,
die sich untereinander auch noch zankten" 3 , mit Senat und Investoren ausein-
ander setzen mussten. Auch wissen wir nicht genug darüber, wie bei den kor-
porativen Akteuren - und das ist die Mehrzahl - innerhalb der jeweiligen Or-
ganisation die Meinungen verteilt waren; deshalb überschätzen wir vermutlich,
wie einheitlich sie gehandelt haben. So wissen wir nicht, in welchem Ausmaß
die Handlungsweise von Daimler-Benz durch dessen Vorstandsvorsitzenden
Edzard Reuter bestimmt worden ist. Immerhin ist bekannt, dass Reuter als ge-
bürtiger Berliner und Sohn des früheren Bürgermeisters Ernst Reuter bereits
vor dem Mauerfall vorschlug, debis als neu zu gründenden Unternehmens-
bereich in Berlin anzusiedeln, daraufhin mit Walter Momper (damals Regie-
render Bürgermeister von Berlin, SPD) über den Kauf eines ca. 50.000 m 2
großen Grundstücks in guter Lage sprach. Auch der Senat hatte keine einheit-
liche Meinung, vielmehr gab es unterschiedliche Positionen über das Vorgehen
bei der Planung des Potsdamer Platzes.
Schließlich können wir nicht genau ermitteln, wie die Akteure die Situation
wahrgenommen haben, weshalb wir sie nur vereinfacht darstellen können. Um
die Situationsdefinition der einzelnen Akteure präziser zu bestimmen, wären
umfangreiche Interviews mit den Beteiligten erforderlich gewesen - eine Auf-
gabe, die im Rahmen dieses Beitrages nicht zu leisten war.

IL Rational Choice Theorie und die Kollektivgutproblematik

Der theoretische Kern der Rational Choice Theorie 4 besteht aus wenigen An-
nahmen und einer normativen Entscheidungsregel. Es wird unterstellt, dass Ak-
teure eigennützig handeln. Sie handeln nach Präferenzen. In einer gegebenen
Situation nehmen sie unterschiedliche Handlungsalternativen wahr und wägen
die Alternativen gegeneinander ab, indem sie die Konsequenzen der einzelnen
Alternativen betrachten. Diese Konsequenzen sind einzelne Nutzen oder Ko-
sten, zudem die Auftrittswahrscheinlichkeiten der einzelnen Nutzen und Ko-
sten. Jede Handlungsalternative hat daher einen bestimmten Nutzen (und
bestimmte Kosten). Am Ende wählen sie diejenige Handlungsalternative, die
ihnen den größten Nettonutzen (die Differenz von Nutzen und Kosten) bietet.
Dies ist die normative Entscheidungsregel.
Nun handeln Akteure in Situationen, die durch andere Umstände struktu-
riert werden. Diese „Umstände" bezeichnen wir als Kontext. Hierunter lassen

3 Gerwin Zohlen: „Erblast des Mythos", in: Vittorio Magnago Lampugnani/Romana Schneider
(Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment. Planungen am Potsdamer Platz in ßer/m/Stuttgart
1994, S. 14-23, hier S. 20.
4 Jon Elster (Hg.): Rational Choice. Oxford 1991. Gebhard Kirchgässner: Homo Oeconomicus.
Tübingen 1991. Daniel Little: Varieties of Social Explanation. Boulder 1991, Kapitel 3. Opp,
„Contending Conceptions of the Theory of Rational Action".
36 JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER

sich u.a. wirtschaftliche Umstände, politische Rahmenbedingungen oder andere


Merkmale fassen, die die Handlungssituation beeinflussen.
Die Entscheidungssituation eines Akteurs ist demnach durch mindestens zwei
Filter geprägt.5 Der erste Filter besteht in denjenigen Handlungschancen oder Re-
striktionen, die den Akteuren extern in einer gegebenen Situation auferlegt wer-
den. Dies sind die Kontexteffekte. Der zweite Filter besteht in den allgemeinen
Entscheidungen eines Akteurs in einer Situation, ob er z.B. durch eigene Restrik-
tionen die Zahl der Handlungsalternativen reduziert. Dies ist z.B. der Fall, wenn
sich eine Person bei der Entscheidung für eine Ferienreise für einen Sporturlaub
entscheidet und durch die Rahmung („frame") der Entscheidungssituation alle an-
deren Handlungsalternativen, die sich bei einer Erholungs- oder Bildungsreise er-
geben hätten, ausblendet und so die Situation erheblich vereinfacht.
Wir unterstellen, dass die Bebauung des Potsdamer Platzes als ein Kollek-
tivgut interpretiert werden kann. Wir wenden daher die Theorie kollektiver
Güter von Olson 6 an. Ein Kollektivgut ist definiert als unteilbar und als zu-
gänglich für alle. Beispiele sind ein öffentlicher Park, Straßenbeleuchtung, Po-
lizei, aber auch soziale Normen.
Olson nennt unterschiedliche Bedingungen, unter denen ein Kollektivgut er-
stellt wird. Die beiden wichtigsten sind die Größe und die Heterogenität der
Gruppe. Bei großen Gruppen wird es im Falle homogener Akteure nicht dazu
kommen, dass ein Kollektivgut erstellt wird, weil rationale Akteure sich als
Trittbrettfahrer verhalten. In einer großen Gruppe wird nur dann ein Kollek-
tivgut erstellt, wenn entweder selektive Anreize vorliegen oder die Gruppe he-
terogen ist und ein Teil der Gruppe ein so großes Interesse an der Erstellung des
Kollektivgutes hat, dass durch deren Beiträge das Kollektivgut bereitgestellt
wird - allerdings in suboptimaler Weise. Die letztere Form bezeichnet Olson
auch als Ausbeutung der Wenigen durch Viele. Im Falle einer kleinen Gruppe
wird das Kollektivgut gemeinhin erstellt, weil der Nutzen die Kosten des Bei-
trages übersteigt und weil eine informelle soziale Kontrolle die Akteure dazu
drängt, beizutragen.
Aus der Sicht der Stadt und der Allgemeinheit stellt die Bebauung des Pots-
damer Platzes ein Kollektivgut dar. Dies lässt sich damit begründen, dass auf
einer innerstädtischen Brache ein neuer Stadtraum entstand, der der Allge-
meinheit grundsätzlich zugänglich ist, und durch eine breite Mischung von
Nutzungen, darunter Wohnungen, Büros, Dienstleistungen, ein Hotel, Thea-
ter, Kino und Läden, der Benutzung durch die Berliner und anderen offensteht.7
De facto wurde jedoch das Kollektivgut zum Teil privatisiert, insofern vier
große Investoren, Daimler-Benz, Sony, ABB und Hertie, den größten Teil des
gesamten Areals erwarben. Dies führt uns zu einem Problem der Kollektivgü-

5 Vgl. Elster, Rational Choice, S. 20. Hartmut Esser: Soziologie: Spezielle Grundlagen. Bd. 1: Si-
tuationslogik und Handeln. Frankfurt/Main 1999, S. 162ff.
6 Mancur Olson: Die Logik kollektiven Handelns. Tübingen 1992.
7 Manfred Sack: „Platz für Berlin", in: Die Zeit vom 11.10.1991.
DIE NEUBEBAUUNG EINES STADTZENTRUMS 37

ter. Während die Gesamtheit der Bebauung ein Kollektivgut darstellt, wird
durch die vier großen „Einzahler" das Kollektivgut weitgehend nach deren De-
finition und deren Renditeüberlegungen erstellt. Sie beschränken damit den
Kreis der Nutzer auf Mieter und Kunden. Dennoch erscheint es uns nach den
Überlegungen von Olson 8 gerechtfertigt, weiterhin von einem Kollektivgut zu
sprechen. Es bleibt jedoch die Frage, wie der Fall behandelt werden soll, indem
ein Kollektivgut durch die Beiträge weniger Einzahler zu deren Eigentum, also
privatisiert wird. Die Beiträge wurden ja überwiegend nur deshalb geleistet, um
Anteile an dem Kollektivgut zu erwerben.
Dieses Problem lässt sich dadurch lösen, dass man auf die Theorie von Posi-
tionsgütern 9 und die darauf aufbauenden Überlegungen von Weede10 zum Zu-
sammenhang zwischen der Vergabe von Positionsgütern und der Erstellung von
Kollektivgütern zurückgreift. Positionsgüter sind Güter, die den Inhabern einer
Position zugebilligt werden. Weedes These ist nun, dass Leistungen für die All-
gemeinheit — hier: Kollektivgüter - nur erbracht werden, wenn jene, die in
einem hohen Maße beitragen könnten, auch zuvor über Positionsgüter verfü-
gen. Ein solches Positionsgut kann z.B. ein Grundstück sein. Diese Güter sind
demnach unteilbar und verringern die Nutzungschancen anderer. Weede zeigt
nun, dass Personen, die über solche Güter verfügen, auch eher bereit sind, zu
der Erstellung von Kollektivgütern beizutragen, wenn es sich um eine große
Gruppe handelt. Nur: In unserem Fall dient das Positionsgut quasi als Anreiz,
das Kollektivgut bereitzustellen.
Das nächste Problem, was sich bei dieser Analyse stellt, ist die Frage, wer das
Kollektivgut definiert. Hierüber ist in der Literatur nur wenig geschrieben wor-
den, auch bei Olson finden sich keine Hinweise dazu. Offenkundig ist es aber
erforderlich, genau festzulegen, worin das Kollektivgut besteht und ferner, dass
die Definition des Akteurs, der dies festlegt, auch von jenen akzeptiert wird, die
dazu beitragen sollen, das Kollektivgut zu erstellen. So muss für einen öffentli-
chen Park festgelegt werden, wann er geöffnet werden soll, für die Straßenbe-
leuchtung, welche Strassen einbezogen und wie stark sie beleuchtet werden, für
die Polizei u.a., welche Rechte sie gegenüber den Bürgern hat und welche nicht.
In unserem Fall lag die Definitionsmacht für das Kollektivgut „Potsdamer
Platz" eigentlich beim Senat von Berlin. Dieser beschloss am 10. April 1990 (vor
dem Verkauf, der sich zwischen Juli und September abspielte) einstimmig, einen
„Städtebaulichen Wettbewerb Potsdamer Platz/Leipziger Platz unter beson-
derer Berücksichtigung des Ansiedlungsvorhabens der Fa. Daimler-Benz" aus-
zulohen. 11 Zu den Wettbewerbsvorgaben, die sozusagen die Definition des

8 Mancur Olson, Die Logik kollektiven Handelns, S. 13, Fn. 21.


9 Fred Hirsch: Die sozialen Grenzen des Wachstums. Reinbek 1980.
10 Erich Weede: „Kosten-Nutzen-Kalküle als Grundlage einer allgemeinen Konfliktsoziologie",
in: Zeitschrift für Soziologie 13 (1984), S. 3-19. Erich Weede: Mensch und Gesellschaft. Tübin-
gen 1992, S. 128L
11 Michael Sontheimer: „Berlin. Potsdamer Platz", in: Die Zeit vom 8.8.1990. S. 9-11. Frank Win-
ter: Die verpaßte Möglichkeit der Stadt Berlin. Ein Prozeßbericht über die öffentliche Sitzung
38 JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER

Kollektivgutes Potsdamer Platz durch den Senat darstellen, gehörten die ange-
strebte Nutzungsmischung von Büroflächen, Einkaufsmöglichkeiten, Freizeit-
angeboten, Wohnflächen sowie öffentlichen und sozialen Einrichtungen, der
Erhalt des Weinhauses Huth und des Hotels Esplanade, der Verzicht auf Hoch-
häuser und die „Kritische Rekonstruktion" des Stadtgrundrisses. Diese Re-
konstruktion beinhaltete die Übernahme des einstigen Straßenrasters (bspw.
den achteckigen Leipziger Platz), der typischen Berliner Blockstruktur und die
alte Berliner Traufhöhe von 22 m.12
Eine zweite Frage ist, ob wir es mit einer großen oder kleinen Gruppe im
Sinne Olsons zu tun haben. Diese Frage führt zu einem sehr aufschlussreichen
Sachverhalt hin. Zunächst einmal kann man davon ausgehen, dass Planungen
offen sind, wir es daher mit einer großen Gruppe zu tun haben, die das Kollek-
tivgut erstellt. Durch die Entscheidung des Senats, erst die Grundstücke zu ver-
kaufen, dafür an wenige Investoren heranzutreten, und dann einen begrenzten
städtebaulichen Wettbewerb auszuschreiben, ist jedoch aus der großen Gruppe
eine kleine geworden. Die Zahlen möglicher Investoren sowie der Teilnehmer
im Wettbewerb wurde verringert, so dass wir nun eine kleine Zahl von tatsäch-
lich am Prozess beteiligten Akteuren zu untersuchen haben. Damit sind zwei
weitere Annahmen von Olson verbunden: 1. Die kleine Gruppe wird das Kol-
lektivgut erstellen. 2. Kleine Gruppen haben geringere Kosten als große, ihre
Interessen zu organisieren.

III. Die Akteure und deren Handlungsalternativen


Wir stellen zunächst den Kontext dar, unter dem die einzelnen Akteure gehan-
delt haben. Sodann untersuchen wir die Handlungsalternativen und Handlun-
gen einiger Akteure, die daran beteiligt waren, das Kollektivgut Potsdamer Platz
zu erstellen. Dabei betrachten wir vereinfacht nur kollektive Akteure, lassen
also einzelne Personen, auch solche in Unternehmen, in Gewerkschaften, in
einem Architekturbüro, der Verwaltung der Stadt oder einzelne Bauarbeiter
außer Acht. Die Analyse würde dadurch, sie zu berücksichtigen, gewiss ge-
nauer, doch wäre es zu kompliziert, denn für jeden Fall, für alle diese Personen,
müsste spezifiziert werden, welchen Einfluss ihre Entscheidung auf die des kol-
lektiven Akteurs, dem sie angehören, hatte.13

des Welt gerichts zur Neugestaltung des Potsdamer Platzes nach dem Fall der Berliner Mauer.
Unveröffentlichte Magisterarbeit an der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br., Frei-
burg 1999, S. 6f.
12 Lampugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 69. Matthias Pabsch:
Zweimal Weltstadt. Architektur und Städtebau am Potsdamer Platz. Berlin 1998, S. 61f. Winter,
Die verpaßte Möglichkeit der Stadt Berlin, S. 7.
13 Damit werden die Macht und die Bedeutung einzelner Personen für die Erstellung des Kol-
lektivguts unterschätzt oder gar nicht erst einbezogen. Ohne Frage ist dies ein Nachteil,
weil z.B. denkbar ist, dass der Chefarchitekt X zusammen mit dem Vorstandsvorsitzenden des
DIE NEUBEBAUUNG EINES STADTZENTRUMS 39

Der Kontext

Zu dem Zeitpunkt, zu dem der Senat über den Potsdamer Platz zu entschei-
den hatte, befand sich Berlin in einer nachgerade paradoxen wirtschaftlichen
Situation. Einerseits war sie durch die Wiedervereinigung mit enormen Auf-
gaben in Ostberlin belastet: Sanierung von Wohnungen, Modernisierung von
Industrie und Infrastruktur, darunter Straßen und öffentlichen Verkehrsmit-
tel. Zugleich aber fielen die Subventionen fort; die Berlinförderung durch die
Bundesrepublik machte etwa die Hälfte des städtischen Haushaltes Westber-
lins aus. Diese finanziellen Belastungen der Stadt wurde nach dem Mauerfall
als Probleme der zukünftigen Entwicklung gesehen: „Die ökonomische Re-
konstruktion Berlins bedeutet für Ost und West den Abschied von einer sub-
ventionierten Ökonomie. Im Westen heißt dies Abschied nehmen von der
Berlinförderung. Vor allem im Osten der Stadt müssen die veralteten industri-
ellen Strukturen radikal umgebaut werden". 14 So schätzte auch der damalige
Regierende Bürgermeister Momper vor der Abstimmung über den Kaufvertrag
mit Daimler-Benz die Folgen der wirtschaftlichen Probleme der Stadt folgen-
dermaßen ein: „Wir werden hier noch in ganz anderer Weise um Arbeitsplätze
werben gehen und den Investoren noch viel mehr anbieten müssen, als das
heute der Fall ist".15
Andererseits trat bereits 1990 und verstärkt nach dem Hauptstadtbeschluss
vom 20.6.1991 eine Art „Gründerzeitboom" ein. Berlin sollte nicht nur die alte
und neue Hauptstadt sein, sondern auch wieder ein Zentrum Europas und eine
Brücke zwischen West und Ost - mithin auch zwischen zwei Märkten. Man
ging von einer hohen Nachfrage nach Büroraum aus, prognostizierte ein Woh-
nungsdefizit von 100.000 bis 200.000 Wohnungen 16 und ging von einem star-
ken Zuzug nach Berlin aus. Die Schätzungen beliefen sich auf fünf bis sechs
Millionen Einwohner um die Jahrtausendwende17 - tatsächlich hatte Berlin aber
im September 2002 nur 3.392.000 Einwohner.
Die hohen Erwartungen führten zu Bodenspekulationen, die Preise für Grund-
stücke stiegen nach Aussagen des RDM 1990 und 1991 um ca. 25 Prozent. 18 In

Unternehmens Y (z.B. Daimler-Benz) Absprachen trifft, die von den Mitarbeitern des Büros
einerseits und der Spitze des Unternehmens andererseits nur gebilligt werden (müssen). Dann
wären es individuelle Akteure, die letztlich das Schicksal des Potsdamer Platzes bestimmt
bzw. es zu verantworten hätten. Das nachzuweisen erforderte allerdings viel genauere Infor-
mationen - über diese verfügt jedoch niemand.
14 Hans Stimmann: „Berliner Abkommen", in: Bauwelt 39 (1991), S. 2092-2093, hier S. 2092.
15 Zit. nach Sontheimer, „Berlin. Potsdamer Platz".
16 Joachim Rogge: „Mit dicken Geldbündeln ins Maklerbüro", in: Hannoversche Allgemeine Zei-
tung vom 6.7.1991. Christoph Hackelsberger: „Die Rückkehr in den Fluß der Zeit", in:
deutsche Zeitung vom 30.1.1991.
17 Rogge, „Mit dicken Geldbündeln ins Maklerbüro". Klaus Härtung und Kuno Kruse: „Der Bär
ist los", in: Die Zeit, Dossier, vom 13.4.1990.
18 Andreas Oldag: „Abräumen im Hauptstadt-Monopoly", in: Süddeutsche Zeitung vom
24.10.1991.
40 JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER

einem Artikel der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 6.7.1991 heißt


es, die Interessenten kämen „mit dicken Geldbündeln ins Maklerbüro. Der Ber-
liner Wohnungsmarkt gerät aus den Fugen - Wir werden heute alles los" und
Nawrocki schreibt schon 1990 „Kein Platz in der Hauptstadt. Berlin wird noch
Jahre brauchen, um die Raumnot zu überwinden". 19 Unter diesen Bedingungen
war der Potsdamer Platz ein besonders wichtiges Projekt. In einer Vielzahl
von Artikeln in allen großen Tageszeitungen wird über die Planungsprobleme,
Planungschancen und vor allem die Bedeutung des Potsdamer Platzes ge-
schrieben. Der Potsdamer Platz als ein - wenn nicht das - Herzstück von Ber-
lin war ein ebenso Symbol- wie prestigeträchtiges Gelände, weshalb ein großes
Interesse bestand, hier zu investieren, und von gewerblichen Mietern, hier ver-
treten zu sein.
Wir können also unterstellen, dass es eine große Zahl von Investoren ge-
geben hat, die bereit gewesen wären, am Potsdamer Platz zu investieren, d.h.
zu dem Kollektivgut beizutragen. Das bestätigt nochmals folgendes Zitat: „Im
neu eingerichteten .Referat zur Investorenbetreuung' bei der Senatsbauveral-
tung stapeln sich die Projektanträge nationaler und internationaler Anleger und
Architekten." 20
Danach trat eine gewisse Ernüchterung ein, weil der Hauptstadtbeschluss
nicht direkt umgesetzt wurde. War schon der Beschluss mit 337 zu 320 Stim-
men sehr knapp ausgefallen, so blieb in der Folgezeit unklar, welche Ministe-
rien denn tatsächlich von Bonn nach Berlin ziehen würden. Die Entscheidung
darüber fiel erst am 10.3.1994. In dieser Phase konnte zumindest für ausländi-
sche Investoren der Eindruck entstehen, Deutschland stünde nicht hinter Ber-
lin. Vermutlich wurden deshalb Investitionen verzögert. Dies betraf allerdings
den Verkauf des Areals rund um den Potsdamer Platz, der bereits geschehen
war, nicht.
Zum Kontext gehört ebenfalls, dass sich das Land Berlin „von heute auf mor-
gen" mit einer Vielzahl von neuen Aufgaben konfrontiert sah: „Berlin braucht
keine neuen Aufgaben zu erfinden, sie werden vielmehr in einem Übermaß an
die Stadt gestellt und niemand kann ihnen ausweichen. Mit diesen Aufgaben
konnte in Berlin vor zwei Jahren niemand rechnen. Es ist deshalb nicht über-
raschend festzustellen, daß wir auf diese Herausforderung weder intellektuell
noch administrativ vorbereitet sind".21 Zudem bestand nach der Aufhebung des
Flächennutzungsplanes für Ostberlin keine bauleitplanerische Grundlage für
das Stadtgebiet. Ein neuer FNP konnte vor einer Bearbeitungszeit von mehre-
ren Jahren nicht erstellt werden, womit der §34 BauGB (Zulässigkeit von Vor-
haben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile) zum wichtigsten
Instrument für das Baugeschehen wurde. 22

19 Joachim Nawrocki: „Kein Platz in der Hauptstadt", in: Die Zeit vom 23.11.1990.
20 Stimmann, „Berliner Abkommen", S. 2092.
21 Stimmann, „Berliner Abkommen", S. 2092.
22 Stimmann, „Berliner Abkommen", S. 2092.
DIE NEUBEBAUUNG EINES STADTZENTRUMS 41

Der Senat

Die zentrale Entscheidung für die Erstellung des Kollektivgutes traf der Senat.
Er stand offenbar vor zwei Handlungsalternativen:
A: rascher Verkauf von Grundstücken und rasche (projektbezogene23) Planung,
B: Eigentum an den Grundstücken, langsame (Angebots-24) Planung.
Für die Handlungsalternative A können folgende Nutzen aus der Sicht des
Senats ausgemacht werden: die wirtschaftlichen Vorteile (Ansiedlung neuer Ar-
beitsplätze, erhöhte steuerliche Einnahmen), die Schnelligkeit des Bauprozes-
ses, eine überschaubare Menge an Akteuren, wenig Kontroversen. Kosten des
„raschen Verkaufs" und Folge des Ausschlusses heterogener Interessen waren,
wie dem Senat eigentlich klar gewesen sein muss, die deutliche Kritik in der
Öffentlichkeit.
Die Handlungsalternative B versprach als Nutzen einen geringeren Einfluss
der Investoren auf den Planungsprozess, möglicherweise höhere Kaufprei-
se sowie eine wahrscheinlich größere Vielfalt. Als Kosten standen dem
das höhere Risiko, später geeignete Investoren zu finden,25 und eine Vielzahl
von öffentlichen Kontroversen zur künftigen Nutzung des Potsdamer Plat-
zes gegenüber.
Der Senat hat sich für die Handlungsalternative A entschlossen, wobei die
Konsequenzen „wenig Kontroversen" und „Schnelligkeit", sowie die damit ein-
hergehenden wirtschaftlichen Vorteile angesichts des Kontextes (ökonomische
Probleme) vermutlich ausschlaggebend waren. Die Attraktivität der Schnellig-
keit und der Vermeidung von langen Planungsdiskursen für den Berliner Senat
kann angesichts der Belastung der Verwaltung mit neuen Aufgaben (siehe oben)
nicht überraschen. Vielmehr kann man unterstellen, dass die mit dem raschen
Verkauf einhergehende Verhinderung langwieriger Diskussionen bekannt war,
und auch in das Kalkül des Senats einging.

23 Bei der heute üblichen projektbezogenen Planung geht die Initiative typischerweise vom Inve-
stor aus, mit dem die Kommune gemeinsam die planungsrechtlichen Fragen bearbeitet. Cha-
rakteristisch für diese Form der kommunalen Planung ist ein konkreter Vorhaben-, Raum- und
Zeitbezug und der große Einfluss von Investoren und Grundstückseigentümer (vgl. Bundesamt
für Bauwesen und Raumordnung (Hg.): Stadtentwicklung und Städtebau in Deutschland. Ein
Überblick. Berichte, Bd. 5. Bonn 2000, S. 21.
24 Bei der Angebotsplanung wird das städtebauliche Projekt von der Stadtverwaltung vorbereitet,
vom Rat beschlossen und erst danach Investoren gesucht (Bundesamt für Bauwesen und
Raumordnung (Hg.): Stadtentwicklung und Städtebau in Deutschland, S. 21).
25 So wertete der damalige Regierende Bürgermeister Momper die Ansiedlung von debis als
großen wirtschaftspolitischen Erfolg, da das erste Mal seit dem Krieg eine Konzernzentrale
nach Berlin verlegt werde. Noch Anfang Juli 1990 warnte Momper vor dem Glauben, Unter-
nehmen würden von selbst nach Berlin kommen; Berlin werde um Ansiedlungen (und die
Hauptstadtfunktion) „kämpfen müssen" (zit. nach O.V.: „Der Senat verschenkt seine Stadt-
mitte", in: die tageszeitung vom 4.7.1990). Hier kamen also Erfahrungen, die aus der Insellage
Berlins resultierten, bei der Beurteilung der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt
zum Tragen.
44 JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER

Abb. 2a: Die Baustelle am Potsdamer Platz, 1996.

Kaufvertrag durchsetzen, dass 20% der Fläche für „allgemeine Nutzungen"


vorbehalten werden mussten, um damit eine Monostruktur mit reiner Büro-
nutzung zu verhindern.
Im Grunde sind aber alle nachfolgenden Handlungen des Senats durch die
Entscheidung für die Handlungsalternative „rasche Bebauung" vorgezeichnet.
Zugespitzt könnte man sagen, das Stadtforum und auch der von der FAZ ge-
meinsam mit dem Deutschen Architekturmuseum ausgeschriebene Wettbewerb
seien chancenlos gewesen. Sie dienten allein dazu, die Öffentlichkeit scheinbar
einzubeziehen.
Es ist wohl auch nach allen Erfahrungen in anderen Großstädten davon aus-
zugehen, dass große Unternehmen, die ein Grundstück in zentraler Lage er-
werben, „Solitare", typischerweise ein Hochhaus, mit dem Firmensymbol an
der Spitze bevorzugen, um ihr Prestige symbolisch zu repräsentieren. Dieses
Ziel kann auch Daimler-Benz und Sony unterstellt werden, wie folgende Aus-
DIE NEUBEBAUUNG EINES STADTZENTRUMS 45

Abb. 2b: Die Baustelle am Potsdamer Platz, 1996.

sage von Manfred Gentz unterstreicht: „Wir wollten Hochhäuser bauen, als
Ausdruck einer modernen Architektur, die in die Höhe strebt und die Zukunft
von Berlin symbolisiert."32 Solchen Vorstellungen trugen dann auch einige Ent-
würfe der eingeladenen sechzehn Architekten Rechnung, in dem sie mehrere
Hochhäuser vorsahen, z.B. Kleihues, Kolhoff, Ungers/Vieths. 33
Daher kann es auch nicht erstaunen, dass der Senat, trotz seiner ursprüng-
lichen Intention, Hochhäuser zu verhindern, sich damit gegen die Investoren
nicht durchsetzen konnte. Stattdessen musste der im städtebaulichen Ideenwett-
bewerb preisgekrönte Entwurf von Hilmer/Sattler vor der Akzeptanz durch

32 Giovanni di Lorenzo: „Gespräch mit Dr. Manfred Gentz", in: DaimlerChrysler Immobilien
(DCI) GmbH (Hg.), Projekt Potsdamer Platz - 1989 bis 2000, Berlin 2001, S. 60-63, hier S. 60.
33 Vgl. u.a. Werner Sewing: „Berlinische Architektur", in: Arch + 122 (1994), S. 60-70, S. 61. Lam-
pugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment.
46 JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER

Daimler-Benz beispielsweise dahingehend verändert werden, dass Hochhäuser


am Potsdamer Platz und am Landwehrkanal möglich wurden. 34

Die Unternehmen

Die Handlungsalternativen der Unternehmen, zugleich Investoren, bestanden


wohl nur darin, hier ein Grundstück zu erwerben oder nicht. Für die Hand-
lungsalternative „Erwerb" sprachen die exponierte Lage in einer Hauptstadt in
der Mitte Europas sowie der Prestige- und Symbolwert des Objekts am ehemali-
gen „Weltstadtplatz", wie das folgende Zitat aus einer Pressemappe von Sony ver-
deutlicht: „Das Grundstück, umrahmt von der Berliner Philharmonie, der
Gemäldegalerie am Kulturforum, aber auch von Reichstagsgebäude, Diploma-
tenviertel und der weitläufigen Parkanlage Tiergarten ist einer der prägnantesten
Orte der neuen Metropole. (...) Die neue Rolle von Berlin als Hauptstadt, als künf-
tiger Sitz von Parlament und Regierung des wiedervereinigten Deutschlands hat
Sony veranlaßt, in Berlin zu investieren. Ein wesentlicher Grund ist dabei die zen-
trale Lage von Berlin insbesondere im Hinblick auf die Wachstumsmärkte in Mit-
tel- und Osteuropa. Mit dem Mauerfall befand sich Berlin nicht mehr an der
Peripherie Westeuropas, sondern im Zentrum eines neuen Europas."35
Auch die Renditemöglichkeiten sprachen angesichts der optimistischen Prog-
nosen über die zukünftige Entwicklung Berlins für den Erwerb. Als Kosten die-
ser Handlungsalternative für die Investoren können die Höhe der Investition
und die Risiken der tatsächlichen Entwicklung Berlins und der Vermietung an-
geführt werden. Wie bereits erläutert, wurden die Kosten der Handlungsmög-
lichkeit „Erwerb" für Daimler-Benz aber vom Senat durch die geringen Kauf-
und Altlastensanierungskosten verringert. In den anderen Fällen trat die Stadt
an wenige bedeutende Investoren heran und nicht die Investoren an die Stadt,
wodurch aus der Sicht der korporativen Akteure die Möglichkeiten, das Han-
deln der Stadt in ihrem Sinne zu beeinflussen, stiegen. Das aber bedeutete eben-
falls, die beiden Kostenterme in der Alternative „Erwerb" senken zu können.
Das Mitspracherecht des Investors wurde von Daimler-Benz und auch den
anderen Investoren, an die die Stadt herangetreten war, weitestgehend genutzt.
Nachdem erkennbar wurde, dass der (mittlerweile neu gewählte) Senat - ent-
gegen früherer Absprachen - den Investoren in der Jury des städtebaulichen
Ideenwettbewerbs kein Mitspracherecht gewährte, wählten die Investoren ein
ungewöhnliches Vorgehen: „Nach eingehenden Diskussionen mit den Mitin-
vestoren wurde beschlossen, das Ergebnis des städtebaulichen Wettbewerbs ab-
zuwarten, aber für ein ungünstiges Ergebnis Vorsorge zu treffen. Dafür wurde
ein eigener städtebaulicher Entwurf in Auftrag gegeben. (...) Er [der britische

34 Winter, Die verpaßte Möglichkeit der Stadt Berlin, S. 9/45.


35 Sony (Hg.): Pressemappe - Sony Center am Potsdamer Platz. Berlin 2002, S. 3/13.
DIE NEUBEBAUUNG EINES STADTZENTRUMS 47

Architekt Richard Rogers; Anm. d. Verf.] sollte seinen Entwurf unter strenger
Geheimhaltung erarbeiten, weil er nur für den Fall als Gegenentwurf präsen-
tiert werden sollte, dass der Siegerentwurf des Wettbewerbs sich als nicht ak-
zeptabel erweisen sollte." 36
Wie stark der von uns skizzierte Konflikt um die Definitionsmacht war, zeigt
die Tatsache, dass es im Oktober 1991, eine Woche nach der Präsentation des
siegreichen Hilmer/Sattler-Entwurfs des Städtebaulichen Wettbewerbs, zu
einem Bruch zwischen Senat und Investoren kam. Die Investoren lehnten den
prämierten Entwurf ohne eine Überarbeitung ab; für den Senat war dieser ver-
bindlich und nicht verhandelbar. „Der Zeitpunkt für eine öffentliche Präsenta-
tion des Gegenentwurfes war damit gekommen. Die Investoren waren sich
nicht nur der Konfrontation bewusst - sie wurde geradezu gesucht."37
Vermutlich zum ersten Mal in der deutschen Planungsgeschichte trat also ein
Fall ein, der in den USA häufiger zu finden ist: Die Investoren stellten ihre eigene
Planung vor und zwar gegen einen bereits offiziell prämierten Bauvorschlag. In
den USA ist dieser Vorgang längst dokumentiert, z.B. für die „Renaissance" der
Stadt Pittsburgh, in der die Investoren den Bebauungsplan in Auftrag gaben.38
Mönninger bewertet Rogers Entwurf als Denkanstoß, vor allem hinsichtlich
der differenzierten Gebäudemassen und -höhen. Außerdem ermöglichte Ro-
gers „den Investoren mehr bauliche Selbstdarstellung", beispielsweise durch
eine größtmögliche Zahl von 1 A-Lagen rund um den Potsdamer Platz.39 Nach
Verhandlungen mit dem Senat wurde der Entwurf von Rogers aber schließlich
fallen gelassen und der offene Konflikt beigelegt. Der Senat akzeptierte, dass
der Hilmer/Sattler-Entwurf lediglich als „flexible Leitlinie" für den folgenden
Architektenwettbewerb, den Renzo Piano und Christoph Kohlbecker gewan-
nen, verstanden wurde. Dafür willigte Daimler-Benz in den vom Senat
nachträglich (zum Wettbewerb) festgelegten 20%igen Anteil Wohnnutzung ein,
obgleich ursprünglich nur 5% dafür vorgesehenen waren.40 Im Fall von Sony
wurden die 20% wahrscheinlich schon im Kaufvertrag festgelegt.
Die anfänglichen hohen Investitionen in das Kollektivgut „Potsdamer Platz"
hatten auch Wirkungen auf die Handlungen anderer Akteure und Investoren.
Zwei dieser Wirkungen wollen wir hier anführen.
Folgt man der Theorie der „kritischen Masse"41, so bedarf es einer bestimmten
Menge von Beitragenden (in einer heterogenen großen Gruppe), um ein Kollek-

36 Münzing, „Die Geschichte des Potsdamer Platz in zwölf Kapiteln", S. 131. Siehe auch Pabsch,
Zweimal Weltstadt, S. 69.
37 Münzing, „Die Geschichte des Potsdamer Platz in zwölf Kapiteln", S. 132.
38 Vgl. Jürgen Friedrichs: „Revitalisierung von Städten in altindustrialisierten Gebieten: Ein Mo-
dell und Folgerungen", in: Geographische Zeitschrift 82 (1994), S. 133-153.
39 Michael Mönninger: „Baukasten gegen Sternmodell - Richard Rogers Einfluss auf die Gestalt-
werdung des Daimler-Benz-Geländes am Potsdamer Platz", in: debis Gesellschaft für Potsdamer
Platz Projekt und Immobilienmanagement mbH (Hg.), Chronik 1989/92, Berlin 1995, S. 18f.
40 Münzing, „Die Geschichte des Potsdamer Platz in zwölf Kapiteln", S. 133.
41 Pamela Oliver, Gerald Marwell, Ruy Texeira: „A Theory of Critical Mass I. Interdependence,
Group Heterogeneity, and the Production of Collective Action", in: American Journal of
48 JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER

tivgut zu erstellen. Hier waren es wenige Akteure, die mit hohen Beiträgen einen
beträchtlichen Teil des Kollektivgutes erstellten, alle späteren hatten einen abneh-
mend geringeren Einfluss. Aufgrund der anfänglich hohen Beiträge konnten die
folgenden Investoren nun auch mit kleinen Beiträgen relativ risikolos investieren.
Die Produktionsfunktion des Kollektivgutes hat damit den nachfolgend darge-
stellten Verlauf. Die Beiträge der wenigen ersten „Einzahler" erbringen ihnen
hohe Erträge („returns"), der Grenznutzen der späteren war geringer; ihre Bei-
träge reichten aber aus, das Kollektivgut letztendlich zu erstellen.

P(E)

Erträge (E)

Die zweite Folge ist, das die Investition auch als Signal wirkt. Demzufolge
haben Investitionen großer Unternehmen zur Folge, dass kleinere und über die
Risiken einer Investition unsichere Unternehmen nun dem großen Investor fol-
gen, weil sie unterstellen, der große Unternehmer habe a) die Risiken aufgrund
einer besseren Marktübersicht bereits angemessen kalkuliert und b) dass andere
ihm folgen werden. Ein solches „signaling" wurde zunächst auf den Kauf von
Aktien angewendet, dann aber auch auf Investitionen in Städten.42
Wie oben schon angesprochen wurde, verwendete der Senat diese Annahme,
als er wenige Unternehmen aufforderte, Grundstücke am Potsdamer Platz zu kau-
fen und dort zu investieren: „Dieses Ansiedlungsvorhaben wird (...) eine ganz
wichtige und dringend notwendige Signalwirkung für die Wirtschaftsentwicklung
Berlins haben. Deshalb ist es notwendig, rasch zu Ergebnissen zu kommen."43

Sociology 91 (1985), S. 522-556. Vgl. dazu auch: Mark Granovetter: „Threshold Models
for Collective Behavior", in: American Journal of Sociology 83 (1978), S. 1420-1443. Mark Grano-
vetter/Roland Soong: „Threshold Models of Diversity: Chinese Restaurants, Residential Segre-
gation, and the Spiral of Silence", in: Clifford Clogg (Hg.), Sociological Methodology, San Francisco
1986, S. 69-104.
42 Stephen J. Appold/John D. Kasarda: „Agglomerationen unter den Bedingungen fortge-
schrittener Technologien", in: Jürgen Friedrichs (Hg.), Soziologische Stadtforschung, Opladen
1988, S. 132-149, S. 141ff.
43 Volker Hassemer: „Vorwort", in: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz
Berlin (Hg.). Informationsband zur Ausschreibung des städtebaulichen Wettbewerbes. Berlin
1991.
DIE NEUBEBAUUNG EINES STADTZENTRUMS 49

Abb. 3: Die Baustelle am Potsdamer Platz, 1996.

In jedem Falle hat dieses Signal dazu gedient, weitere relativ kleine Investo-
ren anzuziehen - z.B. die CinemaXX-Gruppe, die Hyatt Hotels Corporation,
die Berliner Volksbank - und Unternehmen dazu zu veranlassen, dort Büro-
oder Gewerberäume zu mieten. So waren bei der Eröffnung des Daimler-Benz
Areals 100% dessen, was damals bezugsfertig war (75% der gesamten Brutto-
geschossfläche), bereits belegt, vermietet oder verkauft.44 Letztendlich trug also
die kritische Masse und der von ihr ausgehende Signaleffekt dazu bei, das kom-
plexe Kollektivgut zu erstellen.

Die Kritiker

Die Entscheidungen des Senats sind auf beträchtliche Kritik gestoßen. Sie rich-
tete sich zum einen gegen das Verfahren, so früh wenigen Investoren die Grund-
stücke verkauft und nicht erst einen umfassenden Planungsprozess ermöglicht
zu haben. Hier ging es um die bereits oben erwähnten Handlungsalternativen
Geschwindigkeit und geringe Verfahrensoffenheit contra langsame Planung und

44 Hans Jürgen Ahlbrecht: „Käufer, Mieter, Partner", in: debis Immobilienmanagement GmbH
(Hg.), Chronik 1998, Berlin, 1998. S. 16f.
50 JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER

hohe Offenheit; gegen „schnelle Projekte" sprachen sich unter anderem die Pro-
fessoren Bruno Flierl und Ludwig Posener sowie Dieter Hoffmann-Axthelm
aus. 45 Letzterer kritisierte auch ausdrücklich die Vergabe von Großgrund-
stücken, ohne dass durch öffentliche Ausschreibung Wettbewerbsbedingungen
geschaffen wurden. 46
Zum anderen richtete sich die Kritik auf die Art der Bebauung. Die Viel-
zahl der Vorschläge: die früheren von Kleihues, die der FAZ und des Deut-
schen Architekturmuseums, des Städtebaulichen Wettbewerbs, die Vorschläge
in DIE ZEIT bis hin zu den 67 alternativen Entwürfen des Architekten- und
Ingenieurvereins (AIV) - sie alle lassen sich vereinfacht zu den Alternativen
„Bewahren des traditionellen Bebauungsmusters ohne Hochhäuser" contra
„Bruch mit der Tradition und Hochhäuser" gruppieren (mit Kohlhoff als
ursprünglich stärkstem Verfechter der letzteren Position); es war auch eine
Diskussion „europäische" contra „nordamerikanische" Stadt. Den Konflikt,
der über diese Alternativen entstand, belegt auch Manfred Sacks Beschrei-
bung des Entscheidungsprozesses in der Jury des Städtebaulichen Wettbe-
werbs, die bis zuletzt bei der Vergabe der ersten drei Preise diese Alternativen
diskutierte. 47
Die Kritiker trugen nur sehr wenig zur Erstellung des Kollektivgutes bei.
Aufgrund der frühen Festlegung des Senats war die Chance gering, sich zu einer
sozialen Bewegung gegen den Planungsprozess zu vereinigen. Zudem waren sie
sich zwar in der Kritik einig, nicht aber in den Vorschlägen darüber, welche Al-
ternative zu wählen sei. Diese Heterogenität der Interessen verhinderte das, was
in der Literatur zu sozialen Bewegungen als „frame alignment" 48 bezeichnet
wird: Es ließ sich kein gemeinsames Ziel definieren, das bereit genug war, alle
Handlungsalternativen aufzunehmen.
Auch das von Senator Hassemer im Frühjahr 1991 gegründete „Berliner
Stadtforum" hat wahrscheinlich nur einen geringen Einfluss auf die späteren
Planungen gehabt, wenngleich es die Aufgabe hatte, die Vorgaben für den Städ-
tebaulichen Wettbewerb zu diskutieren. Es bot der Öffentlichkeit und den Ex-
perten die Möglichkeit, auf den Htägigen Treffen Gedanken und Vorschläge
vorzutragen, doch war diese Institution wohl eher eine Kompensation dafür,
bislang die (Fach-)Öffentlichkeit nicht beteiligt zu haben.

45 Vgl. Hartung/Kruse, „Der Bär ist los". Sontheimer, „Berlin. Potsdamer Platz". Dieter Hoff-
mann-Axthelm: „Ausfahrt Potsdamer Platz", in: Bauwelt 17 (1990), hier S. 865-867, S. 865. Die-
ter Hoffmann-Axthelm: „Die Stadt, das Geld und die Demokratie. Der Streit um den Potsdamer
Platz.", in: die tageszeitung vom 14. Juni 1990.
46 Hoff mann-Axthelm: „Die Stadt, das Geld und die Demokratie".
47 Sack, „Platz für Berlin". Sewing, „Berlinische Architektur".
48 David A. Snow, E. Burke Worden, Steven K. Rochford, Robert D. Benford: „Frame Alignment
Processes, Micromobilization, and Movement Participation", in: American Soaological Review
51(1986), S. 464-481.
DIE NEUBEBAUUNG EINES STADTZENTRUMS 51

III. Folgerungen

Die Analyse des Prozesses auf der Basis der RCT und der Kollektivgut-Theo-
rie zeigt, dass ein Akteur mit seiner grundsätzlichen Entscheidung für eine
Handlungsalternative den gesamten nachfolgenden Prozess, also auch die
Handlungen aller anderen Akteure, beeinflusst hat, indem er sich und ihnen
Handlungsrestriktionen auferlegte. Die Handlungsbedingungen der Akteure,
hier als Kontext bezeichnet, lassen nach unserer Rekonstruktion den Schluss
zu, dass die Akteure nicht unter Unsicherheit handelten, sondern die Wahr-
scheinlichkeit, mit der einzelnen Nutzen und Kosten auftreten würden, sehr
wohl kalkulieren konnten. Man mag unterschiedlicher Meinung über den Pla-
nungsprozess und die heutige Bebauung sein. Aus unserer Rekonstruktion er-
gibt sich, dass der Senat die Kritik sehr wahrscheinlich antizipiert und sie als
nicht bedrohlich kalkuliert hat.
Die Analyse zeigt ferner, dass Interessenkonflikte durch „die Nebenfolgen
oder Externalitäten menschlichen Handelns für andere Menschen" entstehen,
wie Weede es formuliert.49 Hier waren die Investoren daran interessiert, die mit
dem Kauf der Grundstücke verbundenen Kosten für die Sanierung zu senken
und geringere Mieterlöse zu vermeiden, die entstanden wären, wenn die an-
gestrebten gewerblichen Flächen reduziert würden. Der Senat wiederum hatte
das Interesse, seine Definition des Kollektivguts auch nach dem Verkauf der
Grundstücke doch noch durchzusetzen, also die negativen Folgen des frühzei-
tigen Verkaufs zu verringern. Dies geschah zum einen durch den Versuch, den
Investoren weitere Auflagen zu machen, zum anderen dadurch, die Öffentlich-
keit wieder zu gewinnen, indem man das „Berliner Forum" schuf und einen
Städtebaulichen Wettbewerb durchführte, dessen Ergebnis als Druckmittel die-
nen sollte.
Besonders lehrreich erscheint in unserem Fall der Kampf zwischen Senat und
Investoren um die Definitionsmacht hinsichtlich des Kollektivgutes. Durch Re-
gelungen im Kaufvertrag und durch den städtebaulichen Ideenwettbewerb mit
den dazugehörigen Vorgaben trachtete die Stadt ihre Definitionsmacht trotz des
frühen Verkaufs zu bewahren. Nachdem den Investoren klar wurde, dass sie in
der Jury nicht als stimmberechtigte Mitglieder zugelassen wurden, gingen sie
zum „Gegenangriff" über, um die mit dem frühen Erwerb sicher geglaubte De-
finitionsmacht nicht wieder einzubüßen. Mit dem Rogers' Entwurf setzten sie
schließlich (neue) Verhandlungen mit dem Senat und einen Kompromiss durch.
Es zeigte sich also auch an diesem Beispiel, dass „die Stadt" nur von den be-
teiligten Akteuren gemeinsam in einem ständigen Aushandlungsprozess gebaut
wird. „Der Bauherr, die Politik und die öffentliche Verwaltung bauen mitein-
ander die Stadt. (...) Vor allem bei städtebaulichen Großprojekten sind Städte
und Gemeinden weiterhin gefordert, dem Gemeinwohlinteresse der Stadtge-

49 Weede, „Kosten-Nutzen-Kalküle als Grundlage einer allgemeinen Konfliktsoziologie", S. 5.


50 JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER

hohe Offenheit; gegen „schnelle Projekte" sprachen sich unter anderem die Pro-
fessoren Bruno Flierl und Ludwig Posener sowie Dieter Hoffmann-Axthelm
aus. 45 Letzterer kritisierte auch ausdrücklich die Vergabe von Großgrund-
stücken, ohne dass durch öffentliche Ausschreibung Wettbewerbsbedingungen
geschaffen wurden. 46
Zum anderen richtete sich die Kritik auf die Art der Bebauung. Die Viel-
zahl der Vorschläge: die früheren von Kleihues, die der FAZ und des Deut-
schen Architekturmuseums, des Städtebaulichen Wettbewerbs, die Vorschläge
in DIE ZEIT bis hin zu den 67 alternativen Entwürfen des Architekten- und
Ingenieurvereins (AIV) - sie alle lassen sich vereinfacht zu den Alternativen
„Bewahren des traditionellen Bebauungsmusters ohne Hochhäuser" contra
„Bruch mit der Tradition und Hochhäuser" gruppieren (mit Kohlhoff als
ursprünglich stärkstem Verfechter der letzteren Position); es war auch eine
Diskussion „europäische" contra „nordamerikanische" Stadt. Den Konflikt,
der über diese Alternativen entstand, belegt auch Manfred Sacks Beschrei-
bung des Entscheidungsprozesses in der Jury des Städtebaulichen Wettbe-
werbs, die bis zuletzt bei der Vergabe der ersten drei Preise diese Alternativen
diskutierte. 47
Die Kritiker trugen nur sehr wenig zur Erstellung des Kollektivgutes bei.
Aufgrund der frühen Festlegung des Senats war die Chance gering, sich zu einer
sozialen Bewegung gegen den Planungsprozess zu vereinigen. Zudem waren sie
sich zwar in der Kritik einig, nicht aber in den Vorschlägen darüber, welche Al-
ternative zu wählen sei. Diese Heterogenität der Interessen verhinderte das, was
in der Literatur zu sozialen Bewegungen als „frame alignment" 48 bezeichnet
wird: Es ließ sich kein gemeinsames Ziel definieren, das bereit genug war, alle
Handlungsalternativen aufzunehmen.
Auch das von Senator Hassemer im Frühjahr 1991 gegründete „Berliner
Stadtforum" hat wahrscheinlich nur einen geringen Einfluss auf die späteren
Planungen gehabt, wenngleich es die Aufgabe hatte, die Vorgaben für den Städ-
tebaulichen Wettbewerb zu diskutieren. Es bot der Öffentlichkeit und den Ex-
perten die Möglichkeit, auf den Htägigen Treffen Gedanken und Vorschläge
vorzutragen, doch war diese Institution wohl eher eine Kompensation dafür,
bislang die (Fach-)Öffentlichkeit nicht beteiligt zu haben.

45 Vgl. Hartung/Kruse, „Der Bär ist los". Sontheimer, „Berlin. Potsdamer Platz". Dieter Hoff-
mann-Axthelm: „Ausfahrt Potsdamer Platz", in: Bauwelt 17 (1990), hier S. 865-867, S. 865. Die-
ter Hoffmann-Axthelm: „Die Stadt, das Geld und die Demokratie. Der Streit um den Potsdamer
Platz.", in: die tageszeitung vom 14. Juni 1990.
46 Hoffmann-Axthelm: „Die Stadt, das Geld und die Demokratie".
47 Sack, „Platz für Berlin". Sewing, „Berlinische Architektur".
48 David A. Snow, E. Burke Worden, Steven K. Rochford, Robert D. Benford: „Frame Alignment
Processes, Micromobilization, and Movement Participation", in: American Sociological Review
51(1986), S. 464-481.
DIE NEUBEBAUUNG EINES STADTZENTRUMS 51

III. Folgerungen
Die Analyse des Prozesses auf der Basis der RCT und der Kollektivgut-Theo-
rie zeigt, dass ein Akteur mit seiner grundsätzlichen Entscheidung für eine
Handlungsalternative den gesamten nachfolgenden Prozess, also auch die
Handlungen aller anderen Akteure, beeinflusst hat, indem er sich und ihnen
Handlungsrestriktionen auferlegte. Die Handlungsbedingungen der Akteure,
hier als Kontext bezeichnet, lassen nach unserer Rekonstruktion den Schluss
zu, dass die Akteure nicht unter Unsicherheit handelten, sondern die Wahr-
scheinlichkeit, mit der einzelnen Nutzen und Kosten auftreten würden, sehr
wohl kalkulieren konnten. Man mag unterschiedlicher Meinung über den Pla-
nungsprozess und die heutige Bebauung sein. Aus unserer Rekonstruktion er-
gibt sich, dass der Senat die Kritik sehr wahrscheinlich antizipiert und sie als
nicht bedrohlich kalkuliert hat.
Die Analyse zeigt ferner, dass Interessenkonflikte durch „die Nebenfolgen
oder Externalitäten menschlichen Handelns für andere Menschen" entstehen,
wie Weede es formuliert.49 Hier waren die Investoren daran interessiert, die mit
dem Kauf der Grundstücke verbundenen Kosten für die Sanierung zu senken
und geringere Mieterlöse zu vermeiden, die entstanden wären, wenn die an-
gestrebten gewerblichen Flächen reduziert würden. Der Senat wiederum hatte
das Interesse, seine Definition des Kollektivguts auch nach dem Verkauf der
Grundstücke doch noch durchzusetzen, also die negativen Folgen des frühzei-
tigen Verkaufs zu verringern. Dies geschah zum einen durch den Versuch, den
Investoren weitere Auflagen zu machen, zum anderen dadurch, die Öffentlich-
keit wieder zu gewinnen, indem man das „Berliner Forum" schuf und einen
Städtebaulichen Wettbewerb durchführte, dessen Ergebnis als Druckmittel die-
nen sollte.
Besonders lehrreich erscheint in unserem Fall der Kampf zwischen Senat und
Investoren um die Definitionsmacht hinsichtlich des Kollektivgutes. Durch Re-
gelungen im Kaufvertrag und durch den städtebaulichen Ideenwettbewerb mit
den dazugehörigen Vorgaben trachtete die Stadt ihre Definitionsmacht trotz des
frühen Verkaufs zu bewahren. Nachdem den Investoren klar wurde, dass sie in
der Jury nicht als stimmberechtigte Mitglieder zugelassen wurden, gingen sie
zum „Gegenangriff" über, um die mit dem frühen Erwerb sicher geglaubte De-
finitionsmacht nicht wieder einzubüßen. Mit dem Rogers' Entwurf setzten sie
schließlich (neue) Verhandlungen mit dem Senat und einen Kompromiss durch.
Es zeigte sich also auch an diesem Beispiel, dass „die Stadt" nur von den be-
teiligten Akteuren gemeinsam in einem ständigen Aushandlungsprozess gebaut
wird. „Der Bauherr, die Politik und die öffentliche Verwaltung bauen mitein-
ander die Stadt. (...) Vor allem bei städtebaulichen Großprojekten sind Städte
und Gemeinden weiterhin gefordert, dem Gemeinwohlinteresse der Stadtge-

49 Weede, „Kosten-Nutzen-Kalküle als Grundlage einer allgemeinen Konfliktsoziologie", S. 5.


52 JÜRGEN FRIEDRICHS/CHRISTIANE BREMER

Seilschaft gegenüber ökonomisch starken und medial wirkungsvollen Bauherrer.


und Investoren Geltung zu verschaffen: Public Leadership in Public-Private-
Partnership." 50
Schließlich führt das Beispiel der Planungen für den Potsdamer Platz auf eir.
allgemeines Problem der Planung städtebaulicher Projekte: Der Preis für die Er-
stellung des Kollektivgtites ist fast unausweichlich, den wichtigsten Investorer.
zuvor Positionsgüter zur Verfügung zu stellen - und damit Definitionsmach:
einzubüssen.

50 Claus-C. Wiegandt: „Macht - Stadt (statt) - Planung", in: Berichte zur deutschen Landeskur.de
75 (2001), S. 320-332, hier S. 331.
ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

Die (Re)Konstruktion des Potsdamer Platzes.


Der Potsdamer Platz aus der Perspektive
der Systemtheorie

I. Einleitung
Es war einmal der Potsdamer Platz - ein Zentrum großstädtischen Verkehrs
und Flairs, ein Mythos der Stadtplanung und -geschichte, ein ödes Gelände, ein
investitionsstrategisches Filetstück kapitalistischer Interessen, ein städtebauli-
ches, ökologisches und wirtschaftspolitisches Streitobjekt, ein Experimentier-
feld internationaler Architektur. Ein konkreter Ort der Moderne - Pluralität
wie Heterogenität der Bezüge?
Die Systemtheorie in der Version Niklas Luhmanns ist bekannt für ihre
weitgehende Abstinenz in allen Fragen der wie immer lose an raumtheoretische
oder -soziologische Begriffe angelehnten Analyse. Das macht sie vorderhand
für eine Analyse des Potsdamer Platzes denkbar ungeeignet. Weder Platz noch
Ort noch Stadt noch Raum sind in der Vorlage Luhmanns begriffliche Kandi-
daten, auf die man zu Zwecken einer Analyse dessen zurückgreifen könnte, was
man, noch alltagsweltlich gestimmt, meint, wenn man ,Potsdamer Platz' sagt.
Auffällig ist freilich, daß sich in jüngster Zeit die Versuche mehren, auch aus
systemtheoretischer Perspektive einen Zugang zu raumimplikativen Fragestel-
lungen zu gewinnen. Sie wollen zunächst sondiert sein. Ihre Diskussion stimmt
freilich skeptisch; kaum wird man, von ihnen ausgehend, Anhaltspunkte für
eine erkenntnisaufschließende systemtheoretische Analyse zu einem .Ort der
Moderne' finden. Das gibt in einem weiteren Schritt Anlaß zum Rückgriff auf
den thematischen Kern der soziologischen Systemtheorie. Ihr thematisches
Zentrum hat sie, als Theorie der modernen Gesellschaft, in einer Vergegen-
wärtigung der Eigentümlichkeiten und der eigentümlichen Effekte ihrer Struk-
turform. .Funktionale Differenzierung' ist dementsprechend das Stichwort,
unter dem wir uns im weiteren Fortgang auf den Potsdamer Platz beziehen.
Erst nach einer Rekonstruktion der hierfür wichtigsten Parameter wenden wir
uns der dafür interpretatorisch bzw. methodisch eingesetzten Beobachtungs-
theorie zu. Auf ihrer Grundlage, so scheint uns, läßt sich der Potsdamer Platz
plausibel als ein Pluriversum heterogener, funktional differenzierter Kommu-
nikationen über ihn rekonstruieren. Es geht also - und wiederum eigentümlich
für die Systemtheorie - in der Konsequenz nicht um eine Analyse des Potsda-
mer Platzes qua .Gegenstand', aber auch nicht um seine .Chiffrierung', .Sym-
bolisierung' oder .Metaphorisierung' zu einem Ort der Moderne, sondern
54 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

Abb. 1: William Alsop/Jan Störmer, Entwurf für den Potsdamer Platz, 1991.

vielmehr und mit diesem konstruktivistischen Grundton um eine Analyse der


vielfältigen, freilich nicht beliebigen, sondern spezifisch differenzierten Bezug
nahmen auf ihn.
Oder anders: die Unterscheidungen ,am' Potsdamer Platz folgen nicht einem
wie auch immer gearteten Stimmenwirrwarr, lassen sich auch nicht triftig hierar
chisch, zum Beispiel herrschaftssoziologisch interpretieren, sondern gehorchen
der Logik funktionaler Differenzierung. Der .Gegenstand' einer systemtheore
tischen Analyse erschließt sich derart über die funktional differenzierten Weisen
der Kommunikation über ihn (bzw. seiner derartigen kommunikativen Kon
struktion). Das ist der Sinn einer beobachtungstheoretisch interpretierten sy
stemtheoretischen Analyse: die Beobachtung von Beobachtungen am Leitfaden
der Strukturform der Moderne.
Der dominante gesellschaftstheoretische Interpretationsrahmen der System
theorie scheint uns damit zumindest in Umrissen skizziert. O b man, dar
an anschließend, die beobachtungsleitenden Methodika der Theorievorlage
Luhmanns nicht auch kontrolliert erweitern könnte, wird uns in einigen ab
schließenden Überlegungen beschäftigen. Dem allen vorgeschaltet seien einige
kurze Überlegungen zu Fragen der kulturtheoretischen Generalisierbarkeit des
systemtheoretischen Theorievorschlags.
DIE ( R E ) K O N S T R U K T I O N DES POTSDAMER PLATZES 55

II. Kulturtheorie oder Gesellschaftstheorie?


Über unterschiedliche Lesarten der Systemtheorie.

Die Aufgabe der nachfolgenden Überlegungen ist es, das Potential einer sy-
stemtheoretischen Analyse am konkreten .Gegenstand' - und daß dies kein Be-
griff mit ontisch-ontologischer Dignität ist, muß hier betont werden - des
Potsdamer Platzes zu skizzieren. Darin liegt, erstens, eine Prämisse, die zunächst
zur Sichtbarkeit gebracht werden will. Und darin liegt, zweitens, eine Gefahr,
die man, gerade mit Blick auf den Universalitätsanspruch der Systemtheorie in
der Facon Niklas Luhmanns, benennen muß, um sie bannen zu können.
Die Prämisse der Aufforderung liegt darin, eine Theorie mit selbstauferleg-
tem universalistischem Zuschnitt müßte über jeden denkbaren Gegenstand
theoriekonsistente und diesen Gegenstand erkenntnisförmig erschließende
Sätze produzieren können. Nun muß man das innersoziologische Chisma von
Mikro- und Makrosoziologie nicht unbedingt reproduzieren wollen, um zu
sehen, daß die Systemtheorie einen deutlich makrosoziologischen und gesell-
schaftshistorischen Zuschnitt hat, der sich nicht ohne weiteres auf die Mikro-
ebene der Analyse des Konkreten herunterbrechen läßt. Hinzu kommt, daß sie,
neben allem fachspezifischen soziologischen Universalitätsanspruch, sicher
auch zu den letzten soziologischen Großtheorien gehört, die so etwas wie eine
Signatur ihres Zeitalters sind - und auch sein wollen. Dieser eher .weltbildana-
loge' Effekt der Systemtheorie Luhmanns ist, als Theorie, sicher in vielen Hin-
sichten gebrochen und fragil. Unstrittig dürfte aber sein, daß sich in ihr ein
Subtext verbirgt, der auf solche Implikationen hin angelegt ist. Zumindest läßt
sie sich, auch und trotz aller Theorie, so lesen.
Das macht es aber insgesamt schwierig, ihre Implikationen, den Kern ihres
Theorieangebotes, bis in die Facetten konkreter Gegenstände hinunter zu de-
klinieren. Das scheinbar Konkrete wird hier, wie bei anderen Theorievorlagen
auch (prominent: Hegel und Marx), zum Abstrakten. Indikator dafür ist die Ba-
nalität der Ergebnisse, die die Systemtheorie bei dieser Feier des Konkreten vor-
zulegen hat. Sie wären in vielen Hinsichten auch mit anderen Theorievorlagen -
und oftmals weitaus unkomplizierter - zu haben.
Systematisch steht hinter diesen Überlegungen die Frage, ob sich ihr spezifi-
scher Universalismus, also der (von Parsons übernommene) Anspruch, alles So-
ziale mit homogenen Theoriebegriffen zum Thema machen zu können, mit dem
faktisch deutlich sichtbaren gesellschaftstheoretischen Akzent zur Deckung
bringen läßt. Die Theorie funktionaler Differenzierung und eine zu ihr kom-
plementäre Evolutions- qua Strukturänderungstheorie, die sicher den Kern die-
ses gesellschaftstheoretischen Programms ausmachen, fügen sich nicht ohne
weiteres einem allgemeinen sozialtheoretischen Anspruch - auch wenn die Be-
griffsarbeit diesen Allgemeinheitsgrad beansprucht.
Dies en detail zu diskutieren ist hier nicht der ,Ort'. Das Ignorieren dieser
Fragestellung freilich führt mittlerweile in der rezipierenden Weiterentwicklung
56 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

der Theorie zu erheblichen Mißverständnissen. So plausibel im Einzelnen die -


in einem weiten Verständnis - .kulturwissenschaftlichen' Rekonstruktionen am
Leitfaden der Systemtheorie sein mögen:1 eine nicht zu ignorierende Gefahr des
Zugriffs auf diese Theorie liegt fraglos darin, daß ihre Begriffe so verallgemei-
nernd und ohne Verständnis für ihren theoriespezifischen Einsatzort genommen
werden, daß ihre gesellschaftstheoretische Abkunft unerkennbar wird. Man
kann dann Kafkas Erzählung Das Urteil als „Symbolsystem" daraufhin beob-
achten, in welcher Weise in ihm Erfolg und Scheitern von sozialer Beobachtung
und Kommunikation angelegt sind. Ein wenig Paradoxiesalz in die Suppe dieser
begrifflichen Beliebigkeiten und schon .riecht' es nach Systemtheorie.2 Ist es aber
nicht, weder allgemein noch spezifisch soziologisch. Ähnlich skeptisch müssen
Versuche stimmen, die soziologische Systemtheorie in einen systematisch ver-
gleichenden Kontext mit dem Dekonstruktivismus Derridas zu stellen. Das Kri-
terium hierfür - Theorien mit Universalitätsanspruch, die dementsprechend und
autologisch sensibilisiert in sich selbst wieder vorkommen - ist systemtheore-
tisch sicher nicht beliebig. Aber darauf reduziert, wäre die Luhmannsche Theo-
rie ja im Kern (philosophische) Präsentismuskritik.3
Daß die Systemtheorieinterne Entwicklung und in ihr vor allem die form- und
beobachtungstheoretische Gesamtrekonstruktion ihres Aussageuniversums eine

1 Vgl. etwa Albrecht Koschorke/Cornelia Vismann (Hg.): Widerstände der Systemtheorie. Kul-
turtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann. Berlin 1999.
2 Vgl. Nina Ort: „Zum Gelingen und Scheitern von Kommunikation. Kafkas Urteil - aus sy-
stemtheoretischer Perspektive", in: Oliver Jahraus/Stefan Neuhaus (Hg.), Kafkas „ Urteil" und
die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen, Stuttgart 2002, S. 197-219. Ihre u.E. insgesamt ge-
scheiterte Analyse sei nur am analytisch vollkommen überdrehten Fazit dokumentiert, das Li-
teraturwissenschaftler wie auch soziologische Systemtheoretiker wenn nicht verärgert, dann
zumindest ratlos macht. „Dies ist vielleicht das Unheimliche am Urteil: Obwohl undurch-
schaubar, zweifelhaft oder sinnlos - das System Recht funktioniert, obgleich dieses Funktionie-
ren allein durch das Urteil und dessen Vollstreckung beobachtbar wird. Ebenso paradox
funktioniert das Verstehen, denn eigentlich wird das Unverständliche verstanden. Die Erzählung
selbst hält die Ambivalenz von Verstehen und Nicht-Verstehen aufrecht. Kommunikation ist ge-
glückt: Der Sohn hat verstanden. Er nimmt sich das Leben. Damit bricht die Kommunikation
ab. Es kann nicht mehr angeschlossen werden. Die Kommunikation ist gescheitert." (S. 217f.).
3 Diese Gefahr bei Natalie Binczek: Im Medium der Schrift. Zum dekonstruktiven Anteil in der
Systemtheorie Niklas Luhmanns. München 2000, bei der man dann Sätze findet wie: „Wollte
man die Analogie der funktionalen [?] Differenzierung zuspitzen, könnte man sogar so weit
gehen zu behaupten, daß Systemtheorie und Dekonstruktion wie ein System und seine Umwelt
aufeinander angewiesen sind." (S. 13) Binczek knüpft ihre Studie an den von Luhmann hier und
da sog. „supertheoretischen" Anspruch an die eigene Theorie. Vgl. etwa Niklas Luhmann: So-
ziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main 1984, S. 19: „Supertheorien
sind Theorien mit universalistischen (und das heißt auch: sich selbst und ihre Gegner einbezie-
henden) Ansprüchen." Wichtig wäre hier v.a. die Frage: Wer sind oder wären die Gegner? Si-
cher nicht, so viel wird man sagen können, alle Gegenstandstheorien, die auf völlig anderen
Ebenen etwas anderes über diesen Gegenstand aussagen als der spezifische (!), nämlich sozio-
logisch-gesellschaftstheoretische Universalismus der Systemtheorie; so aber, Luhmann mißver-
stehend, etwa auch David A. Wellbery, „Die Ausblendung der Genese. Grenzen der
systemtheoretischen Reform der Kulturwissenschaften", in: Koschorke/Vismann (Hg.), Wi-
derstände der Systemtheorie, S. 19-27.
DIE (RE)KONSTRUKTION DES POTSDAMER PLATZES 57

solche Rezeption nolens volens mit provoziert hat, wird man einerseits konze-
dieren müssen. Andererseits läßt sich das aber soziologisch einfangen. Unsere
Bemerkungen zum Potsdamer Platz zumindest lassen sich von dieser Intention
leiten. Seine Rekonstruktion hat ihren Ausgangspunkt in dem Versuch, die Ana-
lyse gesellschaftstheoretisch engzuführen. Sofern auch die Beobachtungstheorie
dabei eine Rolle spielt, tut sie dies nur als Explikat gesellschafts-, und dies meint
hier: differenzierungstheoretischer Vorgaben und nicht als universell (und dann
beliebig) einsetzbare .Ich sehe was, was Du nicht siehst'-Strategie.

III. Raum - Stadt - Platz


Man muß nicht erst an Brechts Diktum erinnern, daß die Wirklichkeit in die
Funktionale gerutscht sei und ein Foto der IG Farben (genauer: des Gebäude-
komplexes) nichts über die (organisationale und wirtschaftliche) Wirklichkeit
auszusagen imstande sei, um mit der entsprechenden Skepsis auf das Unterfan-
gen zuzugehen, den Potsdamer Platz mit systemtheoretischen Bordmitteln zu
rekonstruieren. Kein Platz, keine Stadt liefert ein Bild, gar Abbild der Struk-
turform der Moderne, auf deren Analyse sich die Systemtheorie in der Prägung
Niklas Luhmanns konzentriert. Insofern führt der Versuch nicht weiter, eine
Stadt oder eben einen Platz zur Vorlage der Darstellung der Leistungsfähigkeit
der soziologischen Systemtheorie zu machen.
Das heißt zwar umgekehrt nicht, daß man systemtheoretisch die genuin mo-
derne Signatur der Stadt ignorieren müßte; historisch läßt sich dies weder leug-
nen noch ist der historisch-semantische Hinweis zu ignorieren, daß eine nicht
unwichtige Facette registrierter funktionaler Differenzierung sich eben auch an
der Kontur moderner Großstädte wie London und Paris und deren nicht mehr
zentraler Beobachtbarkeit vollzieht (man denke prominent nur an Lichtenberg).
Aber mit Raum in einem engeren und alltagssprachlich unproblematischen
Sinne, also mit Städten, Orten, Plätzen, gar Gebäuden, hat das alles nichts zu
tun, auf jeden Fall nicht in der (zu schnell suggerierten) Weise, hier bringe sich
funktionale Differenzierung zur Sichtbarkeit. „Verdichtung funktionaler Dif-
ferenzierung"4 ist also kein ernsthafter Begriff, auf den hin der Potsdamer Platz
gelesen werden könnte - genauso wenig, wie man Städte zureichend durch den
Hinweis auf die in ihnen sich ereignende „räumliche Verdichtung des Sozialen"5
begreift oder an ihnen, systemtheoretisch suggestiv, eine Kombination aus Ein-
heit und Differenz6 wahrnimmt.
Für einen Teil der soziologischen Klassik ist die Moderne unstrittig verknüpft
mit der Genese der modernen Großstadt. Die hier sich neu entwickelnden For-

4 Martina Low (Hg.): Differenzierungen des Städtischen. Opladen 2002.


5 Armin Nassehi: „Dichte Räume. Städte als Synchronisations- und Inklusionsmaschinen", in:
Low (Hg.), Differenzierungen des Städtischen, S. 211-232, hier S. 211.
6 Vgl. Nassehi „Dichte Räume", S. 211.
58 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

men sozialer Assoziationen und Verkehrsverhältnisse, die für sie gültigen neuen
Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Erfahrungsformen sind derart eigentümlich, daß
die Großstadt in dieser Hinsicht zum Inbegriff von Moderne und/oder Moder-
nität avanciert. Ob kulturtheoretisch bis -kritisch in der Variante Simmeis oder
methodisch sozialforschend mit der Nase voran in der Version Parks u.a.: an
der Großstadt läßt sich die Moderne exemplifizieren und studieren. Neben die-
sem Strang freilich - nicht zur Gänze unabhängig davon, aber doch mit anderen
Akzenten - steht die Tradition einer Theorie sozialer Differenzierung. In ihr eta-
bliert sich - in je anderer Weise bei Spencer, Weber oder Durkheim - eine Dis-
kursform, die die eigene Zeitgenossenschaft mit der Differenz von Moderne und
Vormoderne und diese wiederum in differenzierungstheoretisch qualifizierbaren
Unterschieden zu explizieren sucht.
Es fällt soziologisch bis heute schwer, beide Theoriemuster ernsthaft mitein-
ander zu verknüpfen. Man mag zwar funktionale Differenzierung mit Tempo-
steigerung des Lebens (im durchaus genauen Simmelschen Sinne!) assoziieren; zu
einem zureichenden Explikat für diese Struktur von Erwartungskonstellationen
wird der Tempobegriff deshalb nicht. Ebenso wenig bringt man umgekehrt
die Essenz moderner Großstadt(wahrnehmung) auf den Begriff, indem man die
moderne Großstadt als funktional differenzierte Großstadt rekonstruiert.7 Und
wiederum: heranassoziieren ließe sich hier zwar einiges; aber diese ersten Plausi-
bilitäten erreichen nicht die Ebene begrifflich-theoretisch kontrollierter wechsel-
seitiger Befruchtung.8
Systemtheoretisch - denn selbstredend steht die Systemtheorie in der diffe-
renzierungstheoretischen, nicht in der Großstadt-aisthetischen Tradition - also
kommt man mit der Großstadt oder gar einem ihrer vielen Plätze als einem Ort
der Moderne im Sinne der Angabe eines Raumkorrelats für eine Strukturform
nicht weiter. Wenn aber nicht so, wie dann?
Unstrittig ist zunächst nur die weitestgehende Irrelevanz des Raumbegriffs
mit Blick auf die essentiellen Konstitutionsbedingungen sozialer Systeme.
Soziale Systeme haben keine Raum-, sondern nur Sinngrenzen, und alle Raum-
angaben - (nationalstaatliche) Territorien, (kommunalpolitisch oder anders de-

7 Und diese Skepsis betrifft zu Teilen auch die Perspektive einer Rekonstitution der bürgerlichen
Gesellschaft am Potsdamer Platz unter veränderten Bedingungen, wie sie Joachim Fischer im
vorliegenden Band vertritt.
8 Das tertium comparationis für das wechselseitige Hineinkopieren beider Ansätze liegt sicher im
Parameter .Zeit'. Tatsächlich ist ja insgesamt auffällig, daß der topos des „Un-Platzes", der Hin-
weis auf den .Potsdamer Platz' als „dichte Masse in permanenter Bewegung und Präsenz" und
auf „die Auflösung des Raumes in die Zeitlichkeit der Bewegungen und des Verkehrs" (Gerwin
Zohlen: „Erblast des Mythos. Das Verfahren Potsdamer/Leipziger Platz. Rückblick nach vier
Jahren", in: Vittorio Magnago Lampugnani; Romana Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als
Experiment. Planungen am Potsdamer Platz in Berlin, Stuttgart 1994, S. 14-23 hier, S. 17) so
weit entfernt von der grundbegrifflichen Strategie der Systemtheorie nicht ist, die ontologisch-
räumliche Fixation überkommener Differenzierungsformen mit einer komplexitäts(steige-
rungs)sensiblen Temporallogik (.Ereignis'!) zu kontern.
DIE ( R E ) K O N S T R U K T I O N DES POTSDAMER PLATZES 59

finierte) Stadtgrenzen, Zentren, Peripherien etc. - erfolgen sinnförmig. In so-


ziologischer Hinsicht sind deshalb alle Räume soziale, sinnhaft konstituierte
Räume, ihre Grenzen sinnhaft konstituierte Grenzen. 9 Oder anders: daß Sozi-
alsysteme keine räumliche Grenzen .haben', schließt es nicht aus, sondern (als
Möglichkeit) ein, daß sie ihre Grenzen als räumliche Grenzen definieren.10
Genau besehen, kommt Raum in diesem Minimalarrangement zweimal vor:
zum einen als sinnhaft-sozial konstituierter Raum, zum anderen als infra-
strukturelle Möglichkeitsbedingung sozialer Systeme." So weit, so banal.12
Daran ändern auch neuere Versuche, Raum als „Medium gesellschaftlicher
Kommunikation" 13 zu rekonstruieren, nichts. Eher hat man umgekehrt den
Eindruck, daß hier am Einzelfall die Theorievorlage selbst diffundiert. Man
kann nicht in beliebiger Weise vom Raum mal als Sinnform, mal als Schema,
mal als „Klassifikationsschema" 14 , mal als Sinndimension, mal als Medium

9 Schon diese Aussage ist mit Blick auf den Potsdamer Platz, den man historisch kaum als .Platz'
bezeichnen konnte, bezeichnend. Seine jetzt aktuelle Konstruktion als Platz zumindest läßt sich
mit dem Argument historischer Kontinuität kaum solide begründen. Vgl. zu den phänomena-
len Verschiebungen und stadtgeschichtlich epochalen Veränderungen des Potsdamer Platzes: J.
Fischer (im vorliegenden Band). Als Verkehrsplatz, auf dem man sich nicht, sondern allenfalls
an ihm aufhalten konnte, weist er zumindest zu seiner Glanzzeit der 1920er Jahre eine Reinform
auf gegenüber der sonst üblichen Berliner Mischung von Schmuck-, Erholungs-, Nutz- und Ver-
kehrsplatz in einem. Der einstige Potsdamer Un-Platz zeigt sich nun eben nicht mehr in seiner
historischen Reinform, sondern vielschichtig konstituiert als: Verkehrsplatz (eine S-Bahn-Sta-
tion, zwei U-Bahnhöfe, 3 Buslinien, 2500 Parkplätze), Marktplatz (Konsum in den .Arkaden')
und Erholungsplatz (Flanieren zwischen den Gassen, Besuch der Spielbank oder der Kinos,
Ausruhen in einem der Cafes unter dem Glasdach des Sony-Center).
10 So auch Rudolf Stichweh: „Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie", in: Soziale Systeme.
Zeitschrift für soziologische Theorie 4 (1998), S. 341-358, hier S. 343: „Es sind räumliche Gren-
zen vorstellbar, die auf der Basis der Operationen eines Sozialsystems entstehen und die inso-
fern intern generierte Grenzen wären, auch wenn sie auf als vorgegeben empfundene physische
Markierungen zurückgreifen und diese reinterpretieren."
11 Man mag zwar theoretisch abstrakt davon ausgehen können, daß ich einen 20 km entfernten In-
teraktionspartner als .anwesend' traktiere, mit ihm sprechen - im Sinne des Gebrauchs von Spra-
che auf der physikalischen Grundlage der Benutzung von Schallwellen - kann ich aber sicher nicht.
In dieser Weise kann man dann Raum als eine nicht-soziale Einschränkung der Möglichkeiten von
Kommunikation auf der Basis bestimmter physikalischer Gegebenheiten begreifen. Nicht nur
macht die Qualle ohne Wasser schlapp (vgl. Niklas Luhmann, „Weltkunst", in: ders./Frederick D.
Bunsen/Dirk Baecker (Hg.), Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990,
S. 7-45, hier S. 50); auch gesprochene Sprache und die Möglichkeiten der Kommunikation auf die-
ser Basis sind ersichtlich durch nicht-soziale Parameter limitiert. In dieser Weise hat die Unwahr-
scheinlichkeit des Erreichens von Adressaten (vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 218) durchaus
auch eine raumphysikalische Komponente und in eben diesem Sinne bewirken erst z.B. telekom-
munikative Verbreitungsmedien eine „Tötung des Raumes" (Heine). Siehe zu weiterführenden
Beschreibungen zum Interaktionsraum und seinen Umweltbedingungen: Andreas Ziemann: „Der
Raum der Interaktion - eine systemtheoreusche Beschreibung", in: Thomas Krämer-Badoni/Klaus
Kuhm (Hg.), Die soziale Konstruktion des Raumes, Opladen 2003 S. 131-153.
12 Oder auch nicht. Für Anschlußfragen an den zweiten Punkt unter dem Stichwort „Ökologie
der Gesellschaft" bzw. „Ökologie sozialer Systeme" vgl. Stichweh „Raum, Region und Stadt",
S. 347f.
13 Vgl. Klaus Kuhm: „Raum als Medium gesellschaftlicher Kommunikation", in: Soziale Systeme.
Zeitschrift für soziologische Theorie 6 (2000), S. 321-348.
14 Vgl. Klaus Kuhm: „Raum als Medium gesellschaftlicher Kommunikation", S. 333.
60 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

Abb. 2: William Alsop/Jan Störmer,


Entwurf für den Potsdamer Platz,
1991.

sprechen, ohne die hochsensible begriffliche Architektur der Systemtheorie ins


beliebig Applikable zu verwässern.15
Der Grund für die systemtheoretische Zurückhaltung in Fragen des Raums
liegt tiefer. Rudolf Stichweh u.a. haben zurecht auf die Auffälligkeit hingewiesen,
daß in der Luhmannschen Theorievorlage das Medium Sinn in die drei Dimen-
sionen des Zeitlichen, des Sachlichen und des Sozialen differenziert wird, daß also
.Raum' als mögliche vierte Dimension auffällig nicht vorkommt. Analytisch bzw.
„auf dem Weg eines theoriededuktiven Arguments" ist das kaum zwingend,
denn: „Eine Sinndimension .Raum', die beispielsweise die die Wahrnehmung be-
stimmende Unterscheidung von Objekten und Stellen durch die soziale Leitun-
terscheidung von Ferne und Nähe ergänzt, ist leicht vorstellbar."16 Stichweh
vermutet, daß die auffällige Abwesenheit dieser Möglichkeit innerhalb der Luh-
mannschen Vorlage deshalb als „empirisch-historische Entscheidung" gelesen
werden muß: die „Disprivilegierung" der Raumkategorie als Sinndimension ist
„der sozio-kulturellen Evolution zuzurechnen" und systemtheoretisch deshalb
nur „nachkonstruiert". 17 Darin liegt die wichtige Einsicht, daß das theoretische

15 Rezeptionsstrategisch liegt dem offenbar eine kaum noch kontrollierbare Generalisierung der
Medium/Form-Differenz zugrunde, die soziologisch kaum noch Rückhalt hat. Auf dieser Basis
könnte man ebenso gut Baumwolle als Medium begreifen, in das sich unterschiedliche Formen -
z.B. Hemden oder Hosen - einprägen lassen.
16 Stichweh, „Raum, Region und Stadt", S. 344.
17 Stichweh, ebd.
DIE ( R E ) K O N S T R U K T I O N DES POTSDAMER PLATZES 61

Selbstverständnis der Systemtheorie als Selbstbeschreibung der modernen Ge-


sellschaft auf einem nicht-kontingenten Verhältnis von Theorieform (und damit
auch: Theoriebegriffen) und gesellschaftlicher Strukturform pocht. Für das eigene
historische Apriori, als dessen .Nachkonstruktion' die Luhmannsche Theorie be-
schrieben werden kann, kann deshalb offenbar jener kategoriale Zusammenhang
von öntologie, Raumkategorie und Logik,18 den die Theorie in Korrelation zur
Strukturform der Stratifikation sieht, nicht mehr grundbegrifflich verwertet wer-
den. Die Auszeichnung der eigenen Theorie als .Ausdruck' einer neuen Diffe-
renzierungsform - oder sagen wir besser: ihr Anspruch hierauf - muß eben
deshalb auf Ignoranz gegenüber der Raumkategorie bestehen. Die theoretische
Feinarbeit an einer Theorie sozialer Systeme, die in komplexitätsentsprechender
Korrelation zur modernen Differenzierungsform steht, setzt, statt auf Spatiali-
sierung, auf Temporalisierung von Komplexität. „Das Zeitschema ermöglicht, im
Unterschied zum Seinsschema der Tradition, einen größeren Spielraum in der
Kombination von Redundanz und Varietät. Es kann damit auf eine immense Stei-
gerung der Irritierbarkeit gesellschaftlicher Kommunikation reagieren, die als
Folge funktionaler Differenzierung eingetreten ist."19 Wie immer man die Diffe-
renz zwischen der Form stratifikatorischer und der Form funktionaler Diffe-
renzierung en detail beschreiben mag: sie hat offenbar auch mit eben jener
„Disprivilegierung" der Raumkategorie bzw. mit dem Verzicht auf sie im Rah-
men einer Theorie der Moderne zu tun.
Aus eben diesem Grunde bleibt auch .Stadt', ein weiterer grundbegrifflicher
Kandidat in diesem Ensemble wie auch ein für den Potsdamer Platz nahelie-
gender Leitbegriff, von Disprivilegierung nicht verschont. Während er im ge-
sellschaftstheoretischen Kontext für die frühe Zentrum/Peripherie-Differenz
noch zentral ist, fällt bei allen Ausführungen Luhmanns zur Weltgesellschaft
und ihren verschiedenen autonomen Funktionssystemen seine konsequente
Nichterwähnung auf. Pointiert führt dazu Stichweh aus, daß unter den Gegen-
wartsbedingungen von Globalisierung, Dezentralisierung in den Funktions-
systemen und Temporalisierung sozialer Ereignisse die gesellschaftliche Zen-
tralität der Stadt nicht mehr wiederkehren kann. Die systemtheoretische
conclusio lautet dann: „Die Stadt kann nicht mehr als definierend für Moder-
nität verstanden werden." 20
Wenn also die Form funktionaler Differenzierung der eigentliche Grund für
die Exkommunikation der Raumkategorie ist und die soziologische System-
theorie in dem Versuch der Rekonstruktion dieser Differenzierungsform ihre

18 Vgl. zur Relation von Raum und (zweiwertiger) Logik Niklas Luhmann, Soziale Systeme,
S. 525 - darauf verweist auch Stichweh, „Raum, Region und Stadt", S. 344 - sowie zur sozial-
strukturellen Korrelation von Raum- und Zeitsemantiken: Niklas Luhmann: Die Gesellschaft
der Gesellschaft. Frankfurt/Main 1997, S. 997ff., v.a. S. 1013; Luhmann versucht sich an einer
sozialstrukturellen Korrelation von Ontologie/Logik und Stratifikation/Hierarchie (S. 893ff.).
19 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1013.
20 Stichweh, „Raum, Region und Stadt", S. 355.
62 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

Quintessenz hat, dann liegt es insgesamt nahe, sich auch dem Potsdamer Platz
differenzierungstheoretisch zu nähern. Dieser Versuch kann aber nicht darin be-
stehen, sich dessen Raumarrangement differenzierungsanalog zu vergegenwär-
tigen - das ist durch die vorhergehenden Bemerkungen ausgeschlossen. Er kann
vielmehr nur darin bestehen, den Potsdamer Platz als ein .Mehrfachereignis'
nach Maßgabe funktional differenzierter Kommunikationen über ihn zu
rekonstruieren. Uns geht es also nicht um eine stadtgeschichtliche oder archi-
tektonische Erläuterung dieses Objekts, sondern um differenzierte Kommuni-
kationsprozesse und Entscheidungszusammenhänge, durch die dieser Berliner
Ort überhaupt erst sozial relevant und als Thema .gegenständlich' wird. Im Mit-
telpunkt steht deshalb die Leitfrage: Mit welchen Leitprämissen, Werteschemata,
Semantiken wird über den Potsdamer Platz kommuniziert,21 und welche jewei-
lige Funktionssystemreferenz spielt dabei eine dominante Rolle? In diesem Sinne
geht es eigentlich weniger um die thematische Ebene des Kommunikationspro-
zesses; vielmehr gilt seiner Form und Codierung unser Hauptinteresse.22

IV. Funktionale Differenzierung


Differenzierung, so wird man die grundsätzliche Abkehr von einem durch Par-
sons prominent vertretenen ,ontologischen' Systembegriff bündeln können, ist
nicht der Begriff für die Dekomposition eines Ganzen in seine Teile, sondern
vielmehr beschreibbar als ein Kopieren der das System konstituierenden Diffe-
renz von System und Umwelt in den Binnenhorizont des Systems. Während Par-
sons sich auf die Umwelt eines Systems lediglich in der Weise beziehen kann, daß
er dieses System als Teilsystem eines übergeordneten Systems rekonstruiert, 23
haben im Luhmannschen (vergleichsweise puristischen) Verständnis Systeme ihr
konstituierendes Prinzip in der Differenz von Innen und Außen. Differenzie-
rung ist auf dieser Basis immer Systemdifferenzierung und als solche eine Form
reflexiver (später heißt es: „rekursiver") Systembildung: die Wiederholung von
System/Umwelt-Differenzen im Inneren von Systemen - und noch einmal: Sy-
stemkonstitution ist die Konstitution der Differenz von System und Umwelt!
Der zentrale Effekt dieses theoretisch-paradigmatischen Umbaus ist, daß das ehe-
dem .Ganze' des Systems nun zur inneren Umwelt seiner Subsysteme sich wan-
delt und, mehr noch, nun als eine Vielzahl von (Sub-)Systemen und den dazu
relativen Umwelten rekonstruiert werden muß. Der Effekt ist damit die Diffu-

21 Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Kommunikation meint hier nicht nur das
.Reden über'; auch politische Entscheidungen oder wirtschaftliche Zahlungen oder wissen-
schaftliche Publikationen mit Bezug auf den Potsdamer Platz gelten systemtheoretisch als .Kom-
munikationen'.
22 Zu einer ersten Vorarbeit in dieser Richtung siehe: Andreas Ziemann, „Die (Re-)Konstruktion
des Potsdamer Platzes. Systemtheoretische Beobachtungen", in: Ästhetik und Kommunikation
116 (2002), S. 97-101.
23 Also etwa das Social System als Teil des allgemeinen Handlungssystems.
DIE ( R E ) K O N S T R U K T I O N DES POTSDAMER PLATZES 63

sion und Dekomposition dieses Ganzen: „This conception implies that each
Subsystem reconstructs and, in a sense, is again the whole System in the special
form of a difference between System and environment."24 Das System multipli-
ziert sich gleichsam selbst; es kreiert „specialized versions of its own identity". 25
Das gilt - auch wenn man zunächst dazu tendiert, hier schon funktionale
Differenzierung zu hören - für alle Formen der Systemdifferenzierung, also für
Segmentation, für Stratifikation wie auch für die funktionale Form der Bildung
von ,Subsystem/Umwelt-Differenzen'. Im Gegensatz freilich zu segmentaren
und stratifikatorischen Formen der Differenzierung kann diese dem Differenz-
prinzip inhärente Dekonstruktionstendenz unter der Bedingung funktionaler
Differenzierung nicht mehr kaschiert werden. Hier endgültig wird mit der
strukturellen Umstellung auf funktional spezifizierte Kommunikationsprozesse
jene eigentümlich heterarche und polykontexturale Strukturform sichtbar, auf
die hin die Systemtheorie den Begriff funktionaler Differenzierung als adäquate
Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft vorschlägt. Selbstredend weiß
sie dabei, daß auch diese Beschreibung, obwohl sie Adäquanz beansprucht,
nicht mehr als repräsentativ - im strengen Sinne von: das Ganze repräsentierend
- ausgeflaggt werden kann. Auch die wissenschaftliche Form der Beobachtung
dieser Struktur ist nur eine von mehreren möglichen Weisen der .Rekonstruk-
tion' des Ganzen der Gesellschaft, neben der andere - politische, rechtliche,
wirtschaftliche, künstlerische oder erzieherische - jeweils für sich ein Primat
beanspruchen. Diese Exklusivsicht ist freilich lediglich das Korrelat der Orien-
tierung an einer je eigenen Funktion - der Produktion unwahrscheinlichen
Wissens, der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen, der gegen-
wärtigen Vorsorge für künftig knappe Ressourcen etc. - und nicht der Aus-
druck einer Repräsentationsfunktion.
Die moderne Gesellschaft verfügt weder über ein Zentrum, das pro toto ste-
hen könnte 26 , noch über eine Superinstanz, die nach einer Rangordnung das
Verhältnis der Funktionssysteme zueinander oder gar deren operative Selbst-
schließung regeln würde. Die Autonomie der Funktionssysteme erstreckt sich
im übrigen auch auf ihre Umwelt, d.h. sie sind zwar strukturell an bestimmte
Umweltgegebenheiten gebunden, aber systemintern werden sie nicht von räum-
lichen, demographischen oder etwa individuellen Merkmalen bzw. Korrelaten
getragen und strukturiert. Autonomie und funktionales Primat verhindern
neben dem Ein- und Durchgriff eines Funktionssystems in ein anderes auch
wechselseitige Ersatz- oder Kompensationsstrategien: „Die Wissenschaft kann
im Falle einer Regierungskrise nicht mit Wahrheiten aushelfen. Die Politik hat
keine eigenen Möglichkeiten, den Erfolg der Wirtschaft zu bewerkstelligen, so

24 Niklas Luhmann: „Differentiation of Society", in: Canadian Journal of Sociology 2 (1977),


S. 29-54, hier S. 31.
25 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 31.
26 Das unterscheidet, neben allen möglichen Affinitäten in der Sensibilität für einen modernitäts-
spezifischen Epochenumbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, den System- vom diskurstheo-
retischen Ansatz, wie ihn Michael Makropoulos im vorliegenden Band vorschlägt.
64 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

Abb. 3: William Alsop/Jan Störmer, Entwurf für den Potsdamer Platz, 1991.
DIE ( R E ) K O N S T R U K T I O N DES POTSDAMER PLATZES 65

sehr sie politisch davon abhängen mag und so sehr sie so tut, als ob sie es
könnte. Die Wirtschaft kann Wissenschaft an der Konditionierung von Geld-
zahlungen beteiligen, aber sie kann mit noch so viel Geld keine Wahrheiten pro-
duzieren. Mit Finanzierungsaussichten kann man locken, kann man irritieren,
kann aber nichts beweisen"27 - und im ästhetischen Zweifelsfall auch keine in-
ternationale Spitzenarchitektur aufbauen.
.Repräsentation' ist im übrigen auch das Stichwort, mit dem - ex negativo -
auf die spezifische Form der Integration eines in Subsysteme-und-ihre-Um-
welten differenzierten Systems zu verweisen ist. Während die Einheit des
Ganzen im Zusammenhang einer stratifizierten Gesellschaft über eine integra-
tive Semantik erzeugt werden konnte (also: die Verflüchtigung des Ganzen der
Gesellschaft symbolisch und dadurch strukturell wirksam verhindert werden
konnte), fehlt für den Zusammenhang funktionaler Differenzierung eine solche
Form. Integrative Effekte liegen hier nur noch in der Weise vor, in der die ein-
zelnen Funktionssysteme wechselseitig die Freiheitsgrade der je anderen Funk-
tionssysteme einschränken: die Politik die Wirtschaft, die Wirtschaft das Recht,
das Recht die Wirtschaft, die Wissenschaft die Kunst etc. Integrative Effekte, so
kann man deshalb auch sagen, sind in dieser Weise auf die Form der Differen-
zierung selbst übergegangen.
Die spezifischen Formen der Verdichtung von Erwartungszusammenhängen
am Leitfaden einer je eigenen Funktion, als die die Funktionssysteme der mo-
dernen Gesellschaft beschrieben werden können, haben im Laufe der Theorie-
entwicklung Luhmanns zwei dominante begriffliche Umdeutungen erfahren.
Zum einen: Mit der Umstellung auf Kommunikation als der Elementaropera-
tion sozialer Systeme gelten diese nun nicht einfach mehr als Zusammenhänge
sinnhaft aufeinander bezogener Handlungen, sondern als Kommunikations-
universen, deren (selbstgesetzte) Grenzen durch formhomogene Kommunika-
tionen in einem autopoietischen Zusammenhang rekonstruiert werden. Das
politische System ist nun nicht mehr nur einfach ein Kontext aufeinander
bezogener Handlungen, sondern ein Zusammenhang politischer Kommunika-
tionen, dessen Identität durch Formhomogenität gesichert wird. Diese Form-
homogenität wiederum ergibt sich vor allem durch eine .Orientierung' der
einzelnen Kommunikationen an den codierten Kommunikationsmedien. Der
(kommunikationstheoretischen) Funktion der .Erfolgsverwahrscheinlichung'
von Kommunikation wird nun zugleich auch die (vorher so genannte) Funk-
tion der Generalisierung von Verhaltenserwartungen überantwortet.
Zum anderen spielt der Begriff der Beobachtung in den Publikationen der
letzten Jahre eine zunehmend prominente Rolle. Ohne hier die Details seiner
Kontur und vor allem seines theoriespezifischen Einsatzortes diskutieren zu
wollen, läßt sich zumindest sehen, daß der Begriff der Beobachtung - dessen
Definiens .unterscheidendes Bezeichnen' lautet - offenbar die eigentümliche
Logik funktionaler Differenzierung zu explizieren versucht: jene auffällige

27 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 762f.


66 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

Selbstblindheit aller funktionssystemspezifischen Operationen, die auf der Basis


einer für sie maßgeblichen Unterscheidung operieren, ohne im Moment des
Vollzugs die Unterscheidung dieser Unterscheidung von anderen Unterschei-
dungen mit beobachten zu können. Alle politischen oder wissenschaftlichen
oder wirtschaftlichen Beobachtungen sind in dieser Weise selbstblind. Und
,Selbstblindheit' avanciert damit zu einer neuen Variante der Beschreibung der
Form funktionaler Differenzierung.

V. Beobachtungen zweiter Ordnung

Im Rekurs auf Spencer Brown und dessen Fundamentalanweisung: draw a di-


stinctionl, definiert Luhmann jede Beobachtung „als Gebrauch einer Unter-
scheidung zum Zweck der Bezeichnung einer [...] Seite."28 Im Beobachten
werden Unterscheiden und Bezeichnen nicht nacheinander, sondern gleichzei-
tig vollzogen; und damit ist aktuell immer auch die Gegenseite der Unterschei-
dung, der sogenannte unmarked Space, appräsentiert. Durch die Bezeichnung
entsteht schließlich ein Informationswert nach dem Schema: dies und nicht x -
oder: Luhmann und keine andere Theorie.
Die Beobachtung zweiter Ordnung ist nun „die Beobachtung von etwas, was
man als Beobachtung unterscheiden kann." 29 Während sich der Beobachter
erster Ordnung darauf konzentriert, was er beobachtet, bezieht sich der Beob-
achter zweiter Ordnung darauf, wie beobachtet wird: also mit welchen Unter-
scheidungen. Diese Wie-Frage kann entweder einer Selbst- oder einer Fremd-
beobachtung gelten. Indem Unterscheidungen unterschieden werden, soll
erkannt werden, welche Unterscheidungen verwendet wurden. „Damit stößt
der Beobachter zweiter Ordnung auch auf die Unterscheidung von Unter-
scheidung und Bezeichnung. Er behandelt das Beobachtungsinstrumentarium
jetzt als Form der Beobachtung mit der Implikation, daß es andere Formen [...]
[und auch andere Beobachter] geben könnte." 30
Nimmt man diese Überlegungen als Methodikum und bezieht sie zunächst
auf die spezifisch politischen Beobachtungen und Entscheidungen über den Pots-
damer Platz, so muß man hinzufügen, daß aus systemtheoretischer Perspektive
die kommunikative Elementaroperation des politischen Systems als kollektiv
bindendes Entscheiden bei Einsatz von Macht ausgewiesen wird. An speziell
dazu eingerichteten Ämtern und an den politischen Professionsrollen ist dies un-
mittelbar zu beobachten. Neben den operativen Entscheidungen beobachtet aber

28 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/Main 1995, S. 99. Siehe grundlegend
zum Verhältnis zwischen Beobachter-, System- und Gesellschaftstheorie: Andreas Göbel: Theo-
riegenese als Problemgenese. Eine problemgeschichtliche Rekonstruktion der soziologischen Sy-
stemtheorie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000, S. 207ff.
29 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 94.
30 ebd.,S. 102.
DIE ( R E ) K O N S T R U K T I O N DES POTSDAMER PLATZES 67

die Politik auch sich selbst anhand vergangener Entscheidungen und etwa Par-
teiprogrammen bzw. Ideologien sowie anhand der Massenmedien ihre Fremd-
beobachtungen. In theoretischer Hinsicht weist Luhmann die Beobachtung
zweiter Ordnung in der Politik so aus: „Alle Teilnehmer an Politik, die Politi-
ker ebenso wie die Wähler, beobachten einander im Spiegel der öffentlichen Mei-
nung, und das Verhalten ist .politisch', wenn Teilnehmer darauf reagieren, wie
sie beobachtet werden. Die Ebene erster Ordnung wird hier durch die Massen-
medien garantiert, die kontinuierlich berichten. Das hat aber zunächst Informa-
tions- und Unterhaltungseffekte. Zur Beobachtung zweiter Ordnung kommt es
nur über Rückschlüsse, die man auf andere und auf sich selbst ziehen kann, wenn
man unterstellt, daß alle, die politisch mitwirken wollen, einander als Beobach-
ter im Urteil der öffentlichen Meinung begegnen, und daß dies genügt."11
Alle Kommunikationen und Beobachtungen hängen zudem von einem je spe-
zifischen Systemgedächtnis ab, das weitere Operationen ermöglicht, Aktuelles in
Relation zu Vergangenem setzt und andere Anschlüsse durch Vergessen limitiert.
Die Politik bildet ihr eigenes Gedächtnis mit Hilfe von Werten und Interessen ei-
nerseits und mit dem Schema links/rechts andererseits aus.32 Durch Werte bezieht
sich die Politik auf die gesamtgesellschaftliche Umwelt, durch Interessen auf ge-
sellschaftliche Sonderumwelten von Gewerkschaften, Verbänden, Protestbewe-
gungen etc. Mit dem links/rechts-Schema bezieht sie sich selbstreferentiell auf
die eigenen Systemprogrammierungen und ihre variablen Inhalte.
Öffentliche Meinung, Werte, Interessen - beobachtet man mit diesem Mini-
malinventar die .Politisierung' des Potsdamer Platzes, so ergibt sich ungefähr fol-
gendes Bild:33 Eine Gesamtfläche von ca. 75.000 m2 war bis Ende der 1980er
Jahre stadtpolitisch und planungstechnisch ziemlich unbedeutend, bis Anfang
1989 die Daimler-Benz AG mit ihrem berlinverbundenen Vorstandschef Edzard
Reuter auf diesem Gelände Konzernbereiche ansiedeln wollte. Bereits vor dem
Mauerfall war der Grundstücksverkauf zwischen Berliner Senat und Multikon-
zern zwar beschlossene Sache, nach dem Herbst 1989 wurden die weiteren Ver-
handlungen und Entscheidungen aber symbolisch aufgeladen. Nüchtern
betrachtet, ging es auf politischer Organisationsebene (in wechselnden Konstel-
lationen) um Flächennutzung und -verkauf, Bauplanung, Wirtschaftsverwaltung,
Stadtökologie sowie um Richtlinien für eine adäquate Berlinische Architektur.
Die politischen Entscheidungen waren somit vor allem an wirtschaftliche, archi-

31 ebd., S. 108.
32 Vgl. Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft. Hg. von Andre Kieserling. Frankfurt/Main
2000, S. 177ff. undS. 187f.
33 Als Grundlage dienen uns verschiedene Artikel (vgl. z.B. Dieter Hoffmann-Axthelm: „Die
Stadt, das Geld und die Demokratie", in: die tageszeitung, vom 9. Juni 1990, S. 15-16 und Werner
Sewing: „Berlinische Architektur", in: Arch+ 122 (1994), S. 60-69) und Dokumentationen (vgl.
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz Berlin (Hg.): Potsdamer
ziger Platz. Informationsband zur Ausschreibung des städtebaulichen Wettbewerbs. Berlin 1991
sowie Vittorio Magnago Lampugnani/Romana Schneider (Hg.): Ein Stück Großstadt als
riment. Planungen am Potsdamer Platz in Berlin. Stuttgart 1994).
68 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

tektonische und gemeinwohlorientierte Interessen gekoppelt. In der öffentlichen


Meinung spiegelte sich folgende heterogene Themenlage schlagzeilenartig wider:
Kapital versus Grüntangente mit entsprechendem Koalitionsstreit zwischen SPD
und AL; Imperialismus am „Pots-Daimler-Platz"; Senat verschenkt Stadtmitte
an gefräßigen Investor zum Schleuderpreis; „kein Bauen außerhalb der Stadt-
grenzen von 1920"; Inszenierung architektonischer Spitzenleistung versus
maßvolle Stadtgestaltung in Besinnung auf Berliner Architekturtradition.
Der damalige Regierende Bürgermeister Momper hat vor allem wirtschafts-
politische Werte ins Zentrum gerückt: neben der Hauptstadtfunktion und der
Bewerbung um die Olympischen Spiele sei ein Kampf um Investoren, Dienst-
leistungsansiedelungen und finanzpolitische Autonomie (wegen wegfallender
Berlinförderung) zu bestreiten. Daimler-Benz selbst hat für sein Tochterunter-
nehmen debis den „Primat der Politik" akzeptiert und mit planerischer Rück-
sicht auf den städtebaulichen Entwurf (umstrittene Gewinner: Hilmer &
Sattler) seinen eigenen Realisierungswettbewerb für 68.000 m2 Grundbesitz aus-
geschrieben. Das Gestaltungsdilemma hatten schließlich die Architekten (allen
voran Renzo Piano), indem sie sich gleichzeitig vor dem politischen (besonders
vor dem Senatsbaudirektor Stimmann) und dem privatwirtschaftlichen Auf-
traggeber zu profilieren und legitimieren hatten.34
Kurz: die Politik ist vor allem mit sich selbst und den heterogenen Möglich-
keiten der Programmierung und Konditionierung ihrer Entscheidungen befaßt.
Die Berliner Politik wollte und mußte im Verbund mit Architekten, Investoren
und kritischen Medienleuten Grundsatzentscheidungen treffen, divergierende
Interessen bedienen und einen Planungskontext festlegen.35 Die verschiedenen
Diskussionen und Gestaltungsvorschläge mündeten schließlich in das städte-
bauliche Konzept der „Kritischen Rekonstruktion". Und damit war die bei-
spielhafte retrospektive Reparatur des Stadtgrundrisses am ausgewählten
Stadtzentrum Potsdamer Platz vorgegeben.

34 Daß nicht alle den Primat der Politik in Berlin anzuerkennen bereit sind, dokumentiert exem-
plarisch die Haltung des Star-Architekten Philip Johnson. In einem Interview aus dem Jahre
1999 bekennt er, sein Projekt am Checkpoint Charlie-Friedrichstraße 200 nicht ausstehen zu
können, weil es mehr den Wünschen der Berliner Bauverwaltung entspreche denn seinen eige-
nen und der damalige Senatsbaudirektor Stimmann schlichtweg keine Ahnung vom „alten Ber-
lin" habe sowie mit „reaktionärer Dummheit" die Gesamtkonzeption Friedrichstraße zur
häßlichsten Straße der Welt gemacht habe. Konsequent ist Johnson nie nach Berlin gereist, um
sich seinen Bau anzusehen.
35 Programmatisch umschreibt Senatsbaudirektor Hans Stimmann den politischen Auftrag wie
folgt: „Mehr als andere europäische Städte braucht Berlin sowohl die Besinnung auf die eigene
Tradition als auch geistige Offenheit für neue Entwicklungen. Eine Bauverwaltung ist natürlich
nicht in erster Linie ein Ort für architekturtheoretische Zuspitzungen. Dafür gibt es die Berli-
ner Hochschulen und die Fachzeitschriften, Theorieorgane und Feuilletons der überregionalen
Presse. Aber eine Verwaltung, die für viele Jahrzehnte [...] von freiberuflich tätigen Architekten
bauen läßt, würde wohl ihrer Aufgabe nicht gerecht, wenn sie gegenüber der Öffentlichkeit
nicht Zeugnis über ihre architektonischen und städtebaulichen Absichten ablegen würde."
(Hans Stimmann: „Einleitung", in: Annegret Burg (Hg.), Neue Berlinische Architektur. Eine
batte, Berlin; Basel; Boston 1994, S. 9-13, hier S. 9)
DIE ( R E ) K O N S T R U K T I O N DES POTSDAMER PLATZES

Abb. 4: William Alsop/Jan Störmer, Entwurf für den Potsdamer Platz, 1991.
70 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

Die theoretischen Überlegungen berufen sich auf Josef Paul Kleihues' archi-
tektonischen Dialog zwischen Tradition und Moderne und werden im Ergeb-
nis von folgenden Aspekten getragen: 1) sinnvolle Rekonstruktion zerstörter
Stadträume, 2) Fortschreibung historischer Blockstrukturen, 3) neue architek-
tonische Kreativität, die gezielt das Vergangene kontrastiert. Die praktische Um-
setzung sollte dann die typisch „Berlinische Architektur" fortschreiben - die
pointierterweise von vielen Experten gerade in ihrer Heterogenität bestimmt
wird -, indem alle Entwürfe bzw. Bebauungen sich auf die Grundform der Par-
zelle beziehen sollten.36 Der politische und architektonische Konsens kommt
dann zu folgender (restriktiver) Unterscheidungslogik: 1) Typus des steinernen
Berliner Geschäftshauses sowie Fortsetzung des preußischen Stils im Sinne pu-
ritanischer Formstrenge, dessen architektonische Prinzipien Achse, Symmetrie,
Raster und Einheit von außen und innen sind. Ausgeschlossen sind so der Bezug
auf den gotischen Stil Schinkels, auf expressionistische oder dekonstruktivis-
tische Baukunst wie auch die Architekturtypik der Nachkriegszeit. 2) Maximale
Bauhöhe von 35 m; ausgeschlossen sind damit das idyllische Gartenstadt-
Konzept genauso wie eine „Stadtkrone" mittels Hochhäusern und Bürotürmen
- hier lautet die Devise Anti-Amerikanismus117 -, weiterhin ermöglicht wird aber
eine Großflächigkeit von Fassaden und Bürozonen. 3) Nutzung von mindestens
20% der Bruttogeschoßfläche der Blockbauten als Wohnraum 38 ; ausgeschlos-
sen sind folglich ein hochmodernes Dienstleistungszentrum oder reines Ge-
werbegebiet ohne urbane, zwischenmenschliche Lebendigkeit gerade ab den
Abendstunden. 4) Neukonstruktion in harmonischer Ordnung zum hi-
storischen Straßennetz; ausgeschlossen sind also eine prinzipielle stadthistori-
sche Vergessenheit und deswegen eine völlige städtebauliche Neuordnung und
Umstrukturierung der Verkehrswege. 5) Berücksichtigung einheitlicher Bau-
materialien, vor allem Terrakotta und Sandstein (der sogenannte „Kollhoff-

36 In der Sprache der Systemtheorie hat die Architektur selbst den Potsdamer Platz mit der Diffe-
renz von Medium/Form beobachtet. Die Entwurfs- und Gestaltungsfrage lautet: Wie lassen sich
Formen des Innen/Außen bzw. der Abschirmung (vgl. Dirk Baecker: „Die Dekonstruktion der
Schachtel. Innen und Außen in der Architektur", in: Niklas Luhmann/Frederick D. Bunsen/
ders., Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 67-104, hier S. 90ff.)
konstruieren und damit Stellen durch je ein Bauobjekt besetzen. Vgl. Luhmann, Die Kunst der
Gesellschaft, S. 182: „Der Raum hat sein Prinzip darin, daß eine Stelle durch nur ein Objekt be-
setzt sein kann. [...] Aber von dieser Eigenposition aus ist von der Stellenstruktur her gesehen,
jede andere zugänglich. Nur die Objekte selbst erschweren Bewegung. Die Stabilität (ein Zeit-
begriff!) des Raumes liegt also darin, daß jedes Objekt sich dort befindet, wo es sich befindet,
und dort bleibt, wenn er sich nicht bewegt." Speziell zur Architektur vgl. S. 183: „Durch Ar-
chitektur wird definiert, wie die Umgebung des Bauwerks zu sehen ist. [...] Es ist auch hier
immer die Differenz, die Grenze, die den Unterschied macht und durch das Kunstwerk zur In-
formation wird."
37 Vgl. dazu Philipp Oswalt: „Der Mythos von der Berlinischen Architektur", in: Arch+ 122
(1994), S. 78-82, hier S.79f.
38 Vgl. zum Wohnerlebnis in der debis-City, vor allem genutzt von wohlhabenden Rentnern: Janko
Tietz: „Hier bin ich jung! Operation Zukunft: Weil sie noch mal richtig was erleben wollen, zie-
hen am Potsdamer Platz in Berlin vor allem wohlhabende Rentner ein", in: Die Zeit vom 19.
Oktober 2000, Leben-Beilage, S. 6.
DIE (RE)KONSTRUKTION DES POTSDAMER PLATZES 71

Stein", ein Münsterländer Ziegel), und Verwendung .warmer Erdfarben'; aus-


geschlossen sollen demgegenüber die Verwendung vieler, nicht-abgestimmter
Bausubstanzen sein sowie die Dominanz von Holz- oder etwa Stahl/Glas-Kon-
struktionen. Letzteres kennzeichnet jedoch das Sony-Center wie auch die Zen-
trale der DaimlerChrysler Services - ein Kompromiß.
Konterkariert wird jedoch gerade die gestalterische Besinnung auf das Ein-
zelhaus auf einer eigenständigen Parzelle. Das politische Schlupfloch lautet: die
maximale Parzellengröße ist der Block. Der Block, den Daimler Benz für seine
Tochter debis erworben hat, umfaßt zum Beispiel rund 100 Parzellen: ökono-
mische Konzentration versus stadtplanerische Fragmentierung.
Den Streit um die Berlinische Architektur und ihre Legitimation am Pots-
damer Platz faßt Werner Sewing folgendermaßen zusammen: „In der Rhetorik
gewinnen diese staatlichen Rahmenbedingungen den Status von Gemeinwohl-
garantien. In der Selbstdarstellung des Senatsbaudirektors gewinnt dieses Ar-
gument eine politische Kontur: Das öffentliche Interesse der Stadt, vertreten
durch den Senat und unterstützt durch die dem Gemeinwohl verpflichtete Ar-
chitektenkammer, garantiert auf der Basis politisch legitimierter Rahmenbedin-
gungen durch das objektivierende Verfahren der Wettbewerbe die Einbindung
der partikularen Investoreninteressen in den kommunalen Konsens. [...] Wie be-
reits angedeutet, sehe ich vor allem in den mit der Fachöffentlichkeit organisier-
ten Planungsverfahren einen wesentlichen Aspekt der Legitimationsbeschaffung
dieser Politik: Legitimation durch Verfahren (Luhmann). [...] Planungskultur sub-
stituiert politische Kultur, simulierte Öffentlichkeit verschafft die Legitimation
von Öffentlichkeit."39
Als Gewinner dieser politisch-architektonischen Legitimation durch Ver-
fahren geht schließlich das Blockmodul-Bebauungskonzept der Münchner
Architekten Hilmer & Sattler hervor. Die blockförmige Parzellenordnung über-
lagert den ganzen Potsdamer Platz, jeder Block wird selbst zum großen Haus
bzw. Verwaltungsgebäude; und schlußendlich geht es nur noch um die, im
wahrsten Sinne des Wortes, VYertelrealisierung des gesamten Areals zwischen
den 4 Hauptbesitzern Daimler Benz, Sony, Hertie und ABB.
Soweit die (in sich ziemlich verworrene) Geschichte. Legt man auf sie die Fo-
lie funktionaler Differenzierung, so lassen sich, ohne Anspruch auf Vollständig-
keit, folgende Punkte markieren:

1) Die Geschichte beginnt als Wirtschaftsgeschichte. Eine Fläche wird als Bau-
land beobachtet, als knappe Ressource also, die in Eigentum zu überführen und
entsprechend zu nutzen das Interesse einer Wirtschaftsorganisation markiert.
2) .Eigentümer' - das ist eine Rolle im Wirtschaftssystem! - ist in diesem Falle
die öffentliche Hand. Das verkompliziert die Sachlage von Anfang an. Denn
diese wirtschaftssysteminterne Eigentümerrolle ist dadurch strukturell gekop-

39 Sewing, „Berlinische Architektur", S. 60f.


72 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

pelt mit dem System der Herstellung und Durchsetzung kollektiv verbindlicher
Entscheidungen. Die (wirtschaftliche) Entscheidung, zu verkaufen, so könnte
man auch sagen, ist in ihren Freiheitsgraden eingeschränkt durch weitere recht-
liche und politische Vorgaben. Politiksystemintern kommt hinzu, daß diese
Entscheidungen auf unterschiedliche Kriterien bzw. .Programme' zurückgrei-
fen können. Wirtschaftspolitische Präferenzen stehen dementsprechend neben
stadtplanerischen Präferenzen, die wiederum ökologischen oder architektoni-
schen Kriterien gehorchen könnten.
3) Die Politik sieht sich - provoziert durch eine öffentliche Meinung, durch die
alles, was sie beobachtet, beobachtet wird, und die sich dementsprechend in
ihren Handlungen genau auf diese Sachlage einrichtet (sie beobachtet also, wie
andere ihre Beobachtungen beobachten) - gezwungen, darauf zu reagieren. So
beginnen die einschlägig bekannten hearings.
4) Deren Rahmenbedingungen sind eigentlich politischer Natur. Sie fungieren -
neben legitimatorischen Effekten, die wiederum als ständig mitlaufender Ver-
dacht durch die öffentliche Meinung vermutend mitproduziert werden - als
Entscheidungshilfe im politischen Kontext. Diese .Hilfen' haben freilich wie-
derum eine eigentümliche Kontur. Sie greifen zumindest partiell auf politiksy-
stemfremde Kriterien zurück, die zum Teil wissenschaftlicher Natur, zum Teil
künstlerisch-architektonischer Natur sind. .Wahrheit' und .Schönheit', die Me-
dien des Wissenschafts- und des Kunstsystems, finden sich nun auf der Pro-
grammebene des politischen Systems wieder.
5) Das können wir an dieser Stelle nicht im Detail verfolgen. Das in sich viel-
fältige Ensemble aus unterschiedlichen Kommunikationsformen mit je unter-
schiedlichen Programmierungen 40 ließe sich wahrscheinlich nur durch eine
genaue Text- bzw. Diskursanalyse plausibel machen. Wir konzentrieren uns hier
pars pro toto auf ein Beispiel aus dem politischen Kontext.

Hoffmann-Axthelm hat in seinem vielbeachteten Artikel „Die Stadt, das Geld


und die Demokratie" mit der ihm (und dem Berliner Kolorit) eigentümli-
chen stadtplanerischen Verve den kommunalpolitischen Streit um wirtschafts-
(also: investitions- bzw. gewerbesteuer-) oder umweltpolitische Präferenzen
(.Grüntangente') mit der Präferenz für genuin stadtplanerische Kriterien kri-
tisiert. Nun könnte man mit Blick auf die .Adresse' „Hoffmann-Axthelm"
zunächst vermuten, hier ginge es, in terms funktionaler Differenzierung, um
eine wissenschaftliche Expertenmeinung aus stadtplanerischem Kontext und
dementsprechend also um eine Kommunikation im Wissenschaftssystem. Bei
genauem Blick auf den Text freilich zeigt sich, daß er sich in für das politische
System ganz eigentümlichen Strukturbahnen bewegt. Sätze wie „Stadtökolo-

40 Das gilt im übrigen nicht nur für den hier dominant beobachteten politischen Diskurs. Am
stadtplanerischen und auch am architektonisch-künstlerischen Kommunikationszusammenhang
fällt ja etwa die starke politische Programmierung dessen auf, was als .schön', oder .gelungen'
qualifiziert werden kann.
DIE (RE)KONSTRUKTION DES POTSDAMER PLATZES 73

gie fängt damit an, daß die Stadt aufhört, ihr Umland zu zerstören. Daher:
Kein Bauen außerhalb der Grenzen von 1920"41, lassen sich dementsprechend
als Selbststrukturierung einer Kommunikation als politische Kommunikation
rekonstruieren.
Die Theorie funktionaler Differenzierung steht, sobald sie einerseits strikt
differenztheoretisch (also nicht mehr: ontologisch) und andererseits kommuni-
kationstheoretisch operiert, vor der Frage, wie funktionssystemspezifische
Kommunikationen sich als solche erkennen. Wie unterscheidet sich jedes Funk-
tionssystem bei Homogenität ihrer Elementaroperation von den anderen und
(re-)produziert entsprechend spezifizierte, heterogen codierte Kommunikatio-
nen? Politisch gewendet: „wie produzieren Kommunikationen sich als politi-
sche Kommunikationen, wie erkennen sie in der Aktualisierung rekursiver
Vernetzungen die Politikzugehörigkeit anderer Kommunikationen, wenn es
doch zugleich in der Gesellschaft auch zahllose nichtpolitische Kommunika-
tionen gibt? Das ist nur eine andere Form für die Frage: wie ist eine operative
Schließung eines politischen Systems auf der Grundlage einer Politikimplika-
tion der entsprechenden Operationen möglich?"42
Wenn man nun, wozu Luhmann tendiert, die Antwort hierauf nicht nur auf
die Codierung von Kommunikation bezieht,43 sondern statt dessen operative
Schließung stärker auf „Rekursivität, Orientierung an selbstproduzierten Ei-
genwerten, Selbstversorgung mit Gedächtnis und mit Oszillation im Rahmen
eigener Unterscheidungen, also Herstellung und Fortschreibung einer eigenen
Vergangenheit und einer eigenen Zukunft" 44 bezieht, dann gewinnt die (empi-
rische!) Beobachtung von Eigenwerten (in) der Politik als eines Mechanismus
der Zuordnung bzw. Identifikation von Kommunikationen einen sehr viel deut-
licheren diskursanalytischen Zuschnitt. Daß wir Sätze wie den inkriminierten
von Hoffmann-Axthelm als politische Sätze wahrnehmen (und seinen gesam-
ten Artikel als politische Auseinandersetzung mit politischen Konzepten auf
der Basis stadtplanerischer Kompetenzen), hat nur sekundär mit Codezu-
gehörigkeiten zu tun, sondern ruht vornehmlich auf dem diskursanalytisch re-
konstruierbaren Wissen aller Beteiligten von der funktionssystemspezifischen
Zuordnung (vielleicht besser: Zugeordnetheit) solcher Äußerungen und ihrer
entsprechenden Bedeutungen. „In den Grenzen von": das erkennen alle Betei-
ligten als eine semantische Strukturvorgabe des politischen Systems, als poli-
tisch-semantischen Eigenwert.

41 Hoffmann-Axthelm „Die Stadt, das Geld und die Demokratie", S. 16.


42 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 81.
43 Damit „Kommunikationen einander unter dem Vorzeichen von Politik kontaktieren" (Luh-
mann, ebd., S. 87f.) können, „muß Macht in spezifischer Weise codiert, nämlich auf eine positive
und eine negative Position der Überlegenheit bzw. Unterlegenheit aufgeteilt werden." (Luh-
mann, ebd., S. 88) Die Grundüberlegung hierbei ist offenbar die, daß durch Codierung von
Kommunikationen alle singulären kommunikativen Ereignisse in den Binnenraum eines Codes
gebracht und dadurch als politische Kommunikationen erkennbar sind.
44 ebd., S. 111.
74 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

Abb. 5: Daniel Libeskind, Städtebaulicher Wettbewerb


Potsdamer/Leipziger Platz, 1991.

Solche - hier zugegebenermaßen nur angedeuteten - Analysen verkomplizie-


ren die Sache immens. Will man aber der - oft als nicht vorhanden kritisierten -
.Empirie' funktionaler Differenzierung auf die Spur kommen, bleibt kein ande-
rer Weg als der einer verschachtelten Analyse, der als Hypothese lediglich die
Vermutung zugrundeliegt, daß die Konstruktionen des Potsdamer Platzes der
Differenzierungsform der Moderne folgen und sich auf jeweils eigene und dabei
zugleich wechselseitig irritierende und limitierende Weise konstituieren. Man
kann derart zeigen, daß der großstädtische Ort des Potsdamer Platzes nach einer
differenzierten Funktionslogik konstruiert wurde und sich daraufhin beobach-
ten läßt:45 als politischer Raum (Zentraladresse: Berliner Senat für Stadtentwick-
lung), als künstlerischer Raum (für mögliche architektonische Gestaltung), als
wirtschaftlicher Kapitalinvestitions- bzw. Verfügungsraum (organisationale Zen-
traladressen: Sony, debis, A-i-T-Projekt, Hyatt, Spielbank Berlin, die Geschäfte
und Dienstleistungen in den Arkaden etc.). Daneben wird der Potsdamer

45 Die vieldimensionale, beobachterrelative Perspektive der Systemtheorie bzw. unsere „polykon-


textural beschriebene Funktionsräumlichkeit" scheint uns beispielhaft in den Analysen der Kri-
tischen Theorie (vgl. Christine Resch/Heinz Steine« im vorliegenden Band) und der Cultural
Studies (vgl. Udo Göttlich/Rainer Winter im vorliegenden Band) eindimensional bzw. mono-
kontextural auf Wirtschaft einerseits und populistische Politik im Verbund mit Konsumtouris-
mus andererseits verkürzt.
DIE ( R E ) K O N S T R U K T I O N DES POTSDAMER PLATZES 75

Platz zu einem massenmedial konstruierten Ort (Thema in Zeitungen - vor allem


FAZ, taz und GEOspezial -, von Publikationen oder etwa Fernsehberichten),
zu einem Thema wissenschaftlicher Reflexionen und Publikationen (Regional-
bzw. Stadtsoziologie, Kultursoziologie, Architektur, Ökonomie) sowie zu einem
Objekt rechtlicher Konditionierungen (Bauordnung Berlin, Mietrecht, AGB,
Hausordnung 46 etc.). Auf die Frage: Wessen Platz?, lautet die Antwort: je nach
Beobachtungsschema und Leitsemantiken steht er unter polykontexturalem
Struktureinfluß verschiedener Funktionssysteme. Man könnte deshalb in ande-
rem als dem ursprünglichen Verständnis noch gerade von „Funktionsräumlich-
keit" sprechen.47

VI. Schluß
Diese diskursanalytische Form der Rekonstruktion von gegenstandskonstitu-
ierenden Kommunikationen ließe sich noch en detail weiterverfolgen. Darum
kann es hier nicht gehen. Wichtig war uns zunächst und vor allem, das gesell-
schaftstheoriespezifische Analysespektrum der soziologischen Systemtheorie
mit Blick auf derartige Phänomene exemplarisch vorzuführen. Zu einer .naiven'
Rekonstruktion eines Ortes oder Platzes oder Raumarrangements zumindest
führt derart kein Weg zurück.
Und doch - in einer nicht genau spezifizierten Weise scheint eine zentrale
Komponente zu fehlen. Man kann zwar mit Fug und Recht alle Versuche ab-
wehren, an Phänomenen wie dem Potsdamer Platz soziale Strukturen - zumal
.Makro'-Strukturen der modernen Gesellschaft - als sichtbar wirksam zu sehen.
Aber heißt dies umgekehrt, daß alle Gebäude, alle Bauten, alle Gebäudekombi-
nationen systemtheoretisch keinen Aussagewert mehr haben bzw. kein Analy-
segegenstand mehr sein können? Ist der Hinweis, daß die Elementaroperationen
sozialer Systeme: Kommunikationen (und ihre Selbstreduktion auf Handlung),
und nicht etwa Steine, Mauern, Stahl und Glas sind, ein zureichender Grund, sie
nicht zu thematisieren? Ist systemtheoretisch und nur weil ,Raum' aus den oben
erwähnten Gründen keiner ihrer Grundbegriffe ist, über derartige Analyseebe-
nen, wie sie etwa die Kritische Theorie oder die Cultural Studies mit zum Teil
gewagten Annahmen über die Wirksamkeit von Gebäuden auf die psychischen
Dispositionen und Effekte ihrer Rezipienten vornehmen, nichts zu sagen?

46 Vgl. exemplarisch in der Hausordnung des Sony Centers, für deren Einhaltung das Sony
ter Property Management und ein Sicherheitsdienst sorgen, etwa folgende Verhaltensdirektiven:
„2. Betteln und Hausieren sind nicht gestattet. [...] 10. Das Sitzen ist nur auf den dafür bereit-
gestellten Bänken, nicht jedoch auf den Treppen erlaubt. Das Betreten der Grünanlagen ist un-
tersagt. [...] 12. Der Genuß von alkoholischen Getränken außerhalb der gastronomischen
Einrichtungen ist untersagt."
47 Vgl. zum Konzept gesellschaftlicher Funktionsraume Dieter Lapple: „Essay über den Raum. Für
ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept", in: Hartmut Häußermann u.a. (Hg.), Stadt
und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler 1991, S. 157-207, hier S. 198ff.
76 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

Wir möchten in einer kleinen Schlußpassage und in der Form einer Art kon-
trollierten Spekulation einige Überlegungen anstellen, in welcher Weise man
durch eine entsprechende Modifikation des theoretischen Arrangements der Sy-
stemtheorie sich derartigen Fragen aufschließen könnte.
1) Zu diesem Zweck ist es sicher unumgänglich, die Analyseebene bzw. die Sy-
stemreferenz zu wechseln und sich statt auf die Autopoiesis der Funktionssy-
steme und ihrer wechselseitigen Irritationen auf die Eigenlogik organisational
verfaßter Sozialsysteme zu konzentrieren. Das hat einen durchaus unpräten-
tiösen Sinn: Bauherren oder Auftraggeber einzelner Gebäude sind schließlich
keine Funktionssysteme, nicht ,die' Politik oder ,die' Wirtschaft, sondern kon-
krete Organisationen mit entsprechenden adressierbaren Namen: Daimler-
Chrysler, Sony, Hyatt etc.
2) Wenn es auch richtig bleibt, daß ein Gebäude der IG Farben nichts über die IG
Farben aussagt, man also ein Gebäude/Bauwerk nicht als Zeichen für eine spezi-
fische Organisationsform (oder für Lohnabhängigkeiten, Kapitalismen, Ausbeu-
tungsverhältnisse, Konzernverflechtungen etc.) nehmen und entsprechend lesen
kann, so läßt sich doch - in einer für die Systemtheorie typischen reflexiven Wen-
dung - immerhin behaupten, daß dieses Gebäude etwas darüber aussagt, daß die
Organisation, die es baut, etwas damit aussagen möchte. Oder anders: Der soziale
Gehalt eines Gebäudes erschließt sich über seine Relevanz für das Sozialsystem,
für das es sozial relevant ist; und soziologisch ist dies deshalb relevant, weil in ihm
sich ein Moment des Selbstbezuges dieses Systems realisiert.
Innerhalb der an Gehlen anschließenden und seine Theorievorlage erwei-
ternden neueren Institutionentheorie würde man auf dieses Phänomen mit dem
Stichwort der ,Selbstsymbolisierung' zurückgreifen und etwa das Sony-Center
als ein Rausymbol der Ordnung einer Organisation qualifizieren. Dahinter steht
die generelle Vermutung, daß sich soziale Ordnungen dann als Institutionen be-
zeichnen lassen, wenn in ihr ihre eigenen „Ordnungsprinzipien zur Darstellung
kommen". 48 Alle Bezeichnungen von .Institutionen' „erweisen sich bei nähe-
rem Hinsehen als Organisationen oder Interaktionsformen, in denen die Sicht-
barkeit der Ordnung in den Mittelpunkt gerückt ist, also z.B. Kirche und Staat,
Familien- und Verwandtschaftssysteme, Bildungseinrichtungen, zuweilen auch
Großbetriebe." 49 „In diesem Sinne ist deshalb .Verkörperung' bis heute ein Spe-
zifikum des Institutionellen [...]. Anders gesagt: Institutionelle Stabilisierungen
bleiben eng geknüpft an eine besondere Form der durch Sichtbarkeit suggestiv
verstärkten Ordnungs-,Magie'." 50

48 Karl-Siegbert Rehberg: „Institutionenwandel und die Funktionsveränderungen des Symboli-


schen", in: Gerhard Göhler (Hg.), Institutionenwandel, Opladen 1997, S. 94-118, S. 101.
49 ebd., S. 101.
50 Karl-Siegbert Rehberg: „Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Sym-
boltheorien - eine Einführung in systematischer Absicht", in: Gert Melville (Hg.), Institutio-
nalität und Symbolisierung. Köln; Weimar; Wien 2001, S. 3- 49, hier S. 34.
DIE (RE)KONSTRUKTION DES POTSDAMER PLATZES 77

3) Uns scheint, daß man diese Analysen der symbolischen Dimension von In-
stitutionalisierungsprozessen eng mit systemtheoretischen Überlegungen zu
„Systembildungsprozesse(n) und deren selbstreferentielle(r) Komplexitätsstei-
gerung" 51 verknüpfen kann.52 Systemtheoretisch anschlußfähig werden sie mit
Blick auf eine ihrer kardinalen Grundoptionen: soziale Systeme sind Ord-
nungsgefüge mit Selbstbezug. Funktionssysteme etwa beziehen sich auf sich
selbst in der Form von Beschreibungen ihrer selbst, wobei diese Beschreibungen
selbst Teil des operativen Vollzugs dieser Systeme sind - 5e/&srbeschreibungen
eben. Für die organisationale Ebene kann man etwa an die frühen Luhmann-
schen Überlegungen zur .Darstellung der Verwaltung für Nicht-Mitglieder' in
der Form einer formalisierten Verwaltungssprache erinnern. Der Akzent dieser
(äquivalenzfunktionalen) Rekonstruktion liegt in dem Hinweis auf die Effekte
solcher .Außendarstellung* auch für die Reproduktion dieses Selbst. Selbstdar-
stellung und Selbstverhalten lassen sich nicht wie Schein und Sein aufeinander
beziehen, sondern erstere ist ein genuines Moment der Selbstreproduktion die-
ses Systems. Was seit zwei Dezennien unter Stichworten wie .corporate design'
und .corporate identity' diskutiert wird (und viel zu viel diskutiert wird, als daß
man Wirksamkeiten unterstellen könnte), hat ähnliche Aspekte des Selbstbezugs.
Freilich ist die Luhmannsche Theorie insgesamt - das zeigt sich vor allem mit
Blick auf die Selbstbeschreibungsaspekte und -geschichten der Funktions-
systeme - sehr stark auf Formen vertexteter Elaborate solcher Selbstbeschrei-
bungen konzentriert. 53 Auffällig ist das z.B. an der Luhmannschen Dekon-
struktion des Staatsbegriffs. Aus einer klassischen institutionentheoretischen
Perspektive liegt der Affront der Systemtheorie darin, daß sie ehedem .klassi-
sche' Institutionen wie den (modernen, europäischen, souveränen, National-)
Staat zu „Selbstbeschreibungen" eines ihnen noch vorgelagerten institutionel-
len Grundarrangements in der Gestalt eines sozialen (hier: des politischen)
Systems .degeneriert'. Die jeweiligen Konkretisierungsvarianten am Staatsbe-
griff sind aber deshalb nicht einfach kontingente .Symbolisierungen' einer ihm
vorgelagerten Realität, sondern leitorientierende Gesichtspunkte für Operatio-
nen des politischen Systems.

51 ebd., S. 10.
52 Selbstredend mit erheblichen Unterschieden in den jeweiligen Prämissen: die institutionen-
theoretische Auszeichnung des Symbolbegriffs durch das anthropologische Argument der Deu-
tungs- und Weltinterpretationsbedürftigkeit des homo symbolicus wird systemtheoretisch durch
eine Art ,System«/enM<ifstheorie' mit der Konsequenz der Selbstbeschreibungsbedürftigkeit so-
zialer Systeme ersetzt. Vgl. zu Überlegungen der Vergleichbarkeit von Institutionen- und Sy-
stemtheorie Andreas Göbel: „Institution und System", in: Joachim Fischer, Hans Joas (Hg.),
Stabilisierte Spannung. Kunst, Macht und Institution. Karl-Siegbert Rehberg zum 60. Geburts-
tag, Frankfurt/Main; New York 2003, S. 185-197.
53 Vgl. zu weiteren Überlegungen mit Bezug auf den systemtheoretischen Textbegriff Andreas
Göbel: „Die Selbstbeschreibungen des politischen Systems. Eine systemtheoretische Perspek-
tive auf die politische Ideengeschichte", in: Kai-Uwe Hellmann/Karsten Fischer/Harald Bluhm
(Hg.), Das System der Politik. Niklas Luhmanns politische Theorie in der Diskussion, Opladen
2003, S. 213-235.
78 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

Abb. 6: Daniel Libeskind,


Städtebaulicher Wettbewerb
Potsdamer/Leipziger Platz, 1991.

Diese Akzentuierung freilich legt den Hauptgesichtspunkt auf genau diese


Relationen zwischen dem Code eines Funktionssystems und den variablen Wei-
sen seiner Programmierung. Symbolische Phänomene, wie sie die Institutio-
nenanalyse in den Blick nimmt - öffentliche Gelöbnisse, gehißte Fahnen, der
.symbolisch' präsentierte Orientierungswille hin auf östliche Absatzmärkte
durch Placierung eines Verwaltungs- und Dienstleistungsgebäudes auf ehema-
liges .Grenzgelände', die Imitation anerkannter groß- oder weltstädtischer
Baustile - erweisen sich demgegenüber als zweitrangig und eigentlich der Auf-
merksamkeit nicht wert.
Gelänge es, diese Textfixierung am systemtheoretischen Begriff von Selbst-
schreibung theoretisch konsistent um solche Varianten zu erweitern, dann
ließen sich eventuell auch raumsymbolische Bezugnahmen einer Organisation
auf sich selbst integrieren. Das bedürfte weiterer Ausarbeitung. Vor allem müß-
ten die sehr schnell suggestiven Hinsichten, in denen Gebäude als Selbstdar-
stellungsaspekte von Organisationen qualifiziert werden (fast zwangsläufige
Implikation: Herrschaft, Macht, Superiorität), methodisch entsprechend kon-
trolliert werden. Unter anderem müßte man ja zeigen können, wie in solchen
Formen Selektions- qua Strukturierungseffekte für weitere Kommunikationen
liegen, d.h.: wie sie operativ faktisch wirksam werden und als Selbstdarstellun-
gen zugleich auch Selbstreproduktionseffekte haben. Man könnte hier etwa an
Möglichkeiten der Karrierebeobachtung anhand der Nähe oder Ferne des Ar-
beitsplatzes zu den Räumen der Konzernspitze denken - ähnlich wie politischer
DIE ( R E ) K O N S T R U K T I O N DES POTSDAMER PLATZES 79

Einfluß am frühneuzeitlich-absolutistischen Hofe offenbar auch räumlich durch


Nähe zu den Königsgemächern symbolisiert wurde. Nicht zufällig, so scheint
uns, spricht Luhmann - wenn auch nicht an theoretisch zentraler Stelle - vom
„topographischen Gedächtnis". 54
Man kann verschiedene Gebäude voneinander unterscheiden und dann an-
nehmen, daß die damit verbundenen Erinnerungen an dortige Kontexte be-
stimmte Kommunikationen wahrscheinlicher machen - aber andere durchaus
ebenfalls möglich wären. In der Schule ist erzieherische Kommunikation hoch
wahrscheinlich, politische dagegen streng limitiert - warum sollte nicht aber
auch Werbung möglich sein, wenn verschiedene Ministerien und Schulleiter sich
nach neuen Finanzierungsmaßnahmen umsehen. Nicht der Raum konditioniert
oder verbietet in diesem Sinne bestimmte Kommunikationen, sondern sozial
etablierte Strukturen und der kommunikative Kontext selbst mit all seinen Er-
wartungsverdichtungen und (Selbst-)Beobachtungsformen.55
Wenn Selbstbeschreibungen typischerweise textlich angefertigt werden,
könnte versuchsweise der Textbegriff auch auf Gebäude und räumliche Struktu-
ren ausgedehnt werden. Als Adresse und zur Selbstdarstellung können dann Or-
ganisationen auf „ihr Haus", ihre Zentrale oder bestimmte Niederlassungen
verweisen und dies mit ihrer Systemgeschichte verbinden. Solcher Art erinnert
sich dann das (organisationale) Systemgedächtnis auch selbst anhand seiner
architektonischen Selbstbeschreibung. Mit Blick auf den Potsdamer Platz heißt
dies, er dient erstens der Politik als topographisches Gedächtnis: Die lokal
verbindlichen Entscheidungen des Berliner Senats haben sich im Raumer-
schließungsverfahren, der Auswahl an privaten Investoren und der diskutierten
Idee der Kritischen Rekonstruktion niedergeschlagen. Zweitens ist er topogra-
phisches Gedächtnis der Kunst: Die Auswahl und Anordnung der Materialien
und der Gesamtstil der Bauformen sind dauerhaft wahrnehmbar; die Bauprojekte
sind bestimmten Architekten bzw. Architekturbüros namentlich zurechenbar
(z.B. Renzo Piano, Helmut Jahn, Giorgio Grassi sowie Hein Hilmer & Chri-
stoph Sattler). Drittens ist der Potsdamer Platz ein topographisches Gedächtnis
der Wirtschaft: Die errichteten Firmensitze, Geschäftshäuser und Freizeit-Kon-
sumanlagen verweisen auf die dauerhaft räumliche Inszenierung und Symboli-
sierung von Organisationssystemen, auf die gleichermaßen räumliche wie auch
soziale Adressierungsmöglichkeit eines Unternehmens bzw. Geschäfts und sei-
ner Mitglieder, auf ökonomische Entscheidungen, Bedürfnisbefriedigung etc. Die
Bauwerke, plazierten Objekte und Architekturformen sind dabei nicht das Ge-
dächtnis selbst, sondern sein physisch-mediales Substrat. Orte und Raumstellen

54 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 775.


55 Auch kein Kirchenraum verbietet per se das Rauchen oder gewährt Asyl. Vielmehr ist das so-
ziale Arrangement eines Gottesdienstes oder der Relation von Kirche und staatlicher Ord-
nungsmacht so strukturiert, daß der Kircheninnenraum als Verbots- oder Zufluchtszone
akzeptierend interpretiert wird. Und das heißt dann: Zigarette oder polizeilicher Zugriff erst
und nur „draußen"!
80 ANDREAS ZIEMANN/ANDREAS GÖBEL

sind Umweltaspekte und können dem sozialen (vor allem: organisationalen) Ge-
dächtnis dienen, Wiederholungen zu erkennen, Ereignisse zu lokalisieren, Sinn-
strukturen zu identifizieren und vergangene Entscheidungen zu erinnern.
Die methodischen Schwierigkeiten, solche Impressionen theoretisch zu sy-
stematisieren, sind freilich erheblich. Vielleicht auch deshalb hat die Luhmann-
sche Systemtheorie sich auf deren Analyse nie konzentrieren können, sondern
statt dessen auf die demgegenüber sehr viel evidenteren Strukturierungseffekte
elaborierter Selbstbeschreibungen sich konzentriert.
U D O GÖTTLICH/RAINER WINTER

Postfordistische Artikulationen
von Stadtarchitektur, Konsum und Medien.
Der Potsdamer Platz aus der Perspektive
der Cultural Studies

I. Einleitung
Das populäre Bild, mit dem Deutschland seit der Wiedervereinigung in der Welt
verbunden wird, ist aufs engste mit der Metropole Berlin, dem Schlagwort der
Berliner Republik und der Neugestaltung des Potsdamer Platzes verknüpft. Die
einst größte Baustelle Europas ist für viele zum Synonym für Berlin geworden
und war auch das inszenierte „Epi-Zentrum" der Fußball-WM-Euphorie 2002,
wie die Berliner Zeitung titelte. Im Jahr 2001 widmete die Newsweek Berlin eine
Titelgeschichte, in der sie die Prognose von Berlin als zukunftsträchtigster Stadt
Europas mit dem Potsdamer Platz als Ausgangspunkt für eine Stadtbesichti-
gung verband. Seit dem Fall der Mauer 1989 erlebt und durchlebt die Stadt
einen umfassenden wirtschaftlichen, politischen, sozialen, vor allem aber auch
städtebaulichen Wandel, für den es kaum historische Parallelen gibt. Dabei geht
es um die Zusammenführung zweier nach dem Krieg (wieder)aufgebauter Mil-
lionenstädte mit extrem unterschiedlichen städtebaulichen Leitbildern während
der vergangenen 40 Jahre vor der Wiedervereinigung, die nun von neuen Leit-
bildern der Stadtarchitektur vom Potsdamer Platz als Dienstleistungs- und
Unterhaltungsbereich bis hin zur Machtarchitektur am Spreebogen - und
schließlich nicht zu vergessen - den neuen Verkehrswegen als drittem Leitbild,
durchdrungen werden.1 Voraussetzung hierfür war die vom Berliner Senat be-
schlossene Privatisierung öffentlicher Räume.
Durch den günstigen Verkauf von Grundstücken an private Investoren und
global operierende Konzerne versprach er sich am Potsdamer Platz zahlungs-
kräftige Unternehmen und wegweisende Initiativen, die Kommunikation und
Dienstleistungen ins Zentrum der Zukunft von Berlin rücken sollten,2 eine
Hoffnung, die sich bisher - anders als in München - allerdings nicht erfüllt hat.

1 Die Abfolge und Dominanz solcher verschiedenen Leitbilder in modernen Großstädten wäre
übrigens auch ein spannendes kulturvergleichendes Thema; man denke nur an die Ära Mitte-
rand in Frankreich mit den entsprechenden Repräsentativbauten.
2 Vgl. Roland Enke: „Vertane Chancen? Städtebauliche Planungen und Wettbewerbe für den
Potsdamer Platz", in: Yamin von Rauch/Jochen Visscher (Hg.), Der Potsdamer Platz. Urbane
Architektur für das neue Berlin. Berlin 2000, S. 29-45.
82 UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

Trotzdem hat die Nutzung der großen Fläche mitten in Berlin planerische
Phantasien und Gestaltungen, die freilich privatwirtschaftlich eingebunden sind,
hervorgebracht. Es sollte nicht nur ein nationales, sondern auch ein internatio-
nales und weltstädtisch geprägtes Zentrum entstehen. Wir haben es hier mit der
Konzeption einer „unternehmerischen Stadtentwicklung" zu tun 3 , von deren
„Bigness" und Komplexität der niederländische Architekt Rem Koolhaas4 sogar
eine produktive Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens erwartet. Die Kräfte
des Kapitals sollen ohne Rücksicht auf die Kontexte einen neuen urbanen
Zusammenhang schaffen, der der globalen Ära angemessen sei.5 Nach dem Ver-
kauf des Bauherrenrechts konnte die Politik nur noch durch Gestaltungsvor-
schriften versuchen, Einfluss auszuüben und auf diese Weise, den „Tiger zu
reiten". 6 So forderte z.B. der Geschäftsführer von Sony Berlin eine „große,
spektakuläre Architektur". 7
Sozialpolitisch und sozialräumlich geht es aber auch um die Frage, ob die Be-
wohner der wiedervereinigten Stadt mit ihren ebenfalls symbolisch unter-
schiedlich besetzten Stadtvierteln diese „Gesamtheit" auch innerlich annehmen
und ob der Platz in ihren alltäglichen Praktiken für sie von größerem Belang
ist? Nach der Ansicht von Schwedler in seinem Beitrag „Berlin - eine zweima-
lige Stadt" in einem Themenheft der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte^
das sich den neuen Parlaments- und Regierungsbauten widmet, gewinnt das
Schlagwort von der „Baustelle der deutschen Einheit" hier an Bedeutung. Als
Hinweis auf die Wirkmächtigkeit dieser Metapher können gleichfalls die ca.
130.000 fußballbegeisterten Anhänger, die während der Fußball-WM 2002 die
vielen Spiele live vor Ort am Sony-Center auf Großbildwänden mitverfolgten,
gewertet werden, deren Zusammentreffen vom ZDF nicht nur gezielt als Staf-
fage für den werbewirksamen Auftritt ihres Sportstudios am Potsdamer Platz,
sondern gerade auch für den Zweck der symbolischen Veranschaulichung der
„inneren Einheit" Deutschlands im Rahmen der WM-Begeisterung ausgesucht
wurde. Je multikultureller es in den Augen der Fernsehveranstalter unter dem
Dach des Sony-Center bei den begeisterten Fußballanhängern zuging, desto
besser für das Bild Berlins und die Außendarstellung Deutschlands in der Welt.
Der unerhoffte Erfolg des deutschen Nationalteams wurde so in vielfacher
Münze symbolischer und kapitalintensiver Gewinne ausgewertet.

3 Jochen Becker: „BIGNES? Kritik der unternehmerischen Stadt", in: ders. (Hg.), bignes? Berlin
2001.S.6-27.
4 Rem Koolhaas u.a.: S, M, L, XL, Köln 1997.
5 In bezug auf den Potsdamer Platz war Koolhaas, Mitglied der Jury der Ausschreibung, aller-
dings der öffentlich geäußerten Ansicht, dass in Berlin das nicht möglich sei, weil einem an-
tiquierten und provinziellen Stadtbegriff gehuldigt werde.
6 So äußerte sich der Berliner Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer in Bezug auf die Bau-
stelle Potsdamer Platz kurz nach der Wende, vgl. Stephan Lanz: „Den Tiger nähren, den Tiger
reiten", in: Jungle World vom 1.8.2001.
7 Vgl. Enke, „Vertane Chancen?", S. 38.
8 Hanns-Uve Schwedler: „Berlin - eine zweimalige Stadt", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B
34-35,17.08.01, S. 25-30.
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 83

Dieser Platz in Berlins neuer Mitte erscheint also nicht zufällig als das Zen-
trum der deutschen Hauptstadt, als „räumlicher Kristallisationspunkt eines
neuen Nationalstolzes", 9 mit dem sich bis hinein in die nationalen und interna-
tionalen Medien auch die „Modernität" einer Gesellschaft symbolisch wider-
spiegelt bzw. wiederspiegeln soll. Der Potsdamer Platz als Ort der Moderne, als
der er schon in Ernst Ludwig Kirchners Bild „Potsdamer Platz" von 1914 er-
scheint, kann als Startpunkt einer Erzählung angesehen werden, die nicht allein
mit Stadt und Stadtarchitektur als Ausdruck der Moderne immer wieder ak-
tualisiert wurde, sondern die Ebenen der Alltags- und der Konsumkultur
immer mehr miteinander verbunden hat, wodurch der Platz durch die Pläne zu
seiner Neugestaltung und deren Realisierung in einem spezifischen Sinne auch
politische Relevanz hat.
Angesichts der bisherigen Geschichte des Platzes und der Geschichten um
den Platz erscheint er als Lackmustest der Modernität oder gerade auch Post-
modernität, mit dem sich unterschiedliche Hoffnungen und auch Ängste ver-
binden, die dem symbolischen Repertoire der Stadtarchitektur entspringen. Der
Potsdamer Platz als dicht befahrener Verkehrsknoten, an dem die erste Ampel
in Berlin stand, als geschäftiger Ort der Bewegung oder als Moloch des sündi-
gen Nachtlebens in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts, der Platz
als Symbol der nationalen Einheit und der Zusammenführung von Ost und
West, aber auch als Markierung eben dieses Unterschieds in den Debatten der
1990er Jahre. Die Vieldimensionalität, mit der sich der Potsdamer Platz in hi-
storischer und kultureller sowie auch sozialer Hinsicht in unsere Gegenwart
einschreibt, legt aus Sicht der Cultural Studies verschiedene Zugänge Nahe.
Zum einen stellt sich die Repräsentationsfrage sowie die Frage nach den an
der Produktion und Reproduktion einer (nationalen) kulturellen Ordnung
beteiligten Dimensionen und Machtaspekte. Darüber hinaus steht der neue
Potsdamer Platz auch im Kontext globaler Architektur und der damit verbun-
denen Restrukturierung öffentlicher Räume. Zum anderen geht es um die Frage
der Handlungsmächtigkeit im Alltag. Wird der neue Potsdamer Platz Element
alltäglicher Praktiken? Kann durch diese Form von Planung überhaupt Urba-
nität entstehen? Lässt seine architektonische Ordnung auch Platz für das He-
terogene, für das Überraschende und das Ungeplante? Wird er auf eigensinnige,
widerständige oder nichtkonforme Weise angeeignet oder inszeniert sich auf
ihm nur ein „Marionettentanz der Konsumenten"? 10 Für die Cultural Studies
und deren Analyse von Machtstrukturen im Alltag und damit verbundener For-
men kultureller Präsentation und Repräsentation ergibt sich somit ein interes-
santer und weitreichender Reflexionsgegenstand und ein Prüfstein für die eigene
theoretische Zugangsweise.

9 Werner Sewing: „Herz, Kunstherz oder Themenpark? Deutungsversuche des Phänomens Pots-
damer Platz", in: von Rauch, Visscher (Hg.), Der Potsdamer Platz, S. 47-58, hier S.47.
10 Gerwin Zohlen: „Metropole als Metapher", in: Gotthard Fuchs, Bernhard Moltmann, Walter
Prigge (Hg.), Mythos Metropole, Frankfurt/Main 1995, S. 23-34.
84 UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

An dieser Stelle ist es zunächst erforderlich, die theoretischen Grundannah-


men der Cultural Studies näher zu erläutern. In einem allgemeinen Sinne um-
fasst der Begriff nämlich alle Formen von Kulturanalyse und -forschung und
somit in gewisser Weise auch alle kultursoziologischen Beiträge in diesem Buch.
In dem engeren, spezielleren Sinne, wie wir ihn verwenden, bezieht er sich auf
ein spezifisches Projekt, das in den 1960er Jahren in Birmingham entstand und
heute weltweit in inter- sowie transdisziplinärer Weise betrieben wird.11 Zentral
für Cultural Studies in diesem zweiten Sinne ist die Analyse und Kritik gegen-
wärtiger Machtverhältnisse, ausgehend zum einen von alltäglichen Erfahrungen
und Praktiken, zum anderen von der Analyse kultureller Artefakte und Texte,12
ihrer Produktion und Distribution. Cultural Studies sind aber nicht nur an Kri-
tik interessiert, sondern auch an kultureller Reflexivität, am Begreifen der Le-
benssituation unterschiedlicher sozialer Gruppen und Gruppierungen, an der
Erweiterung von deren Handlungsmächtigkeit und in einem umfassenderen
Sinne an einer Demokratisierung von Gesellschaft. Die Kritische Theorie der
Frankfurter Schule, die Diskursanalyse und andere kultursoziologische Ansätze
können mit ihrem Projekt artikuliert werden, vorausgesetzt sie verfolgen auch
diese Perspektive. Wenn sie allerdings von einem undurchdringlichen Verblen-
dungszusammenhang oder von einer alles normalisierenden Massenkultur aus-
gehen, passen sie nicht zum Projekt von Cultural Studies, das im Sinne Gramscis
den Pessimismus des Intellekts nicht ohne den Optimismus des Willens denkt.
Zum Einstieg in die Behandlung der Produktions- und Reproduktionsfrage
kultureller Ordnungen in den Cultural Studies - die sich zur Deutung des Pots-
damer Platzes heranziehen lässt - möchten wir an den Ansatz anschließen, der
in der paradigmatischen Studie Doing Cultural Studies: The Story of the Sony
Walkman von du Gay, Hall und anderen erstmals umfassend beschrieben und
angewendet wurde. 13 In der für Cultural Studies typischen Kulturanalyse wer-
den Präsentations-, Repräsentations- und Aneignungsaspekte miteinander ver-
bunden, indem anhand eines gewöhnlichen Artefakts der Alltagskultur - hier
dem Walkman - die seit seiner Einführung vielfältigen Verwendungsformen
analysiert werden, wozu der Blick auf die verschiedenen kulturellen Bedeu-
tungspraxen gelegt wird, mit denen sich das Gerät sowohl von der Produkti-
onsseite als auch der Konsumtionsseite artikuliert. Das in diesem Buch an einem
einfachen und zugleich populären Alltagsgegenstand ausgeführte methodische
und theoretische Konzept findet seine Wurzeln in den Überlegungen Richard
Johnsons und Stuart Halls aus den 1970er Jahren zur Reproduktion des Kapi-

11 Udo Göttlich, Lothar Mikos, Rainer Winter (Hg.): Die Werkzeugkiste der Cultural Studies.
spektiven, Anschlüsse und Interventionen. Bielefeld 2001.
12 Douglas Kellner: Media Culture. London/New York 1995.
13 Paul du Gay, Stuart Hall u.a.: Doing Cultural Studies. The Story ofthe Sony Walkman. London
u.a. 1997. Diese Studie ist als erster Band der sechs Bände umfassenden Reihe „Culture, Media
and Identities" erschienen, mit der das Begleitmaterial für die Open University Kurse in Milton
Keynes einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 85

tals und den Kreisläufen kultureller (Re-)Produktion und fand seitdem seine
Anwendung an unterschiedlichen kulturellen Artefakten, Texten und auch der
Architektur. Schließt man an dieses Konzept der Artikulation an, dann geraten
sowohl die Dimensionen, vor deren Hintergrund bzw. aus denen heraus der
Potsdamer Platz seine Geltung zu jeweils spezifischen Momenten im Prozess
der Systemüberwindung und des nationalen Zusammenwachsens erlangt, in den
Blick, also auch jene Momente, in denen sich der Platz im gesellschaftlichen
Diskurs, getragen durch Konsum und Medien, selbst jeweils neu artikuliert.
Beide Dimensionen verdichten sich dann in der Erscheinungsweise, mit wel-
cher der Potsdamer Platz zum Moment der Alltagskultur der Bundesrepublik
Deutschland in politischer, nationaler und ästhetischer Perspektive gerinnt,
wenn man ihn aus theoretischer Perspektive untersucht und vor dem Hinter-
grund der (Re-)Produktionsfrage artikuliert. Im besten Falle durchdringen sich
die unterschiedlichen Artikulationsweisen, etwa durch den Grad der Aktualität,
d.h. der politischen Bedeutung seiner Entwicklung. Für die Cultural Studies
handelt es sich dabei nicht nur um die unabwendbare Machtfrage, sondern ge-
rade auch um die Formen und Prozesse der Alltagskultur, die in Machtstruk-
turen münden. Dabei sucht das theoretische Konzept der Artikulation eine
Balance zwischen historischem Materialismus und (Post-) Strukturalismus, also
den theoretischen Konzepten aus den unterschiedlichen Entwicklungsphasen
der Cultural Studies, die mit dem beschriebenen Zugriff zumindest in dem von
Stuart Hall, Lawrence Grossberg und Richard Johnson (um nur die wichtigsten
zu nennen) vertretenen Strang von Cultural Studies weiterwirken.

IL Das Konzept der Artikulation


als theoretische Perspektive der Cultural Studies
Die für die späten siebziger und frühen achtziger Jahre einschlägigste Formu-
lierung für die Analyse der Verhältnisses von kultureller Produktion und Re-
produktion innerhalb der Cultural Studies, die den Ausgangspunkt des im
folgenden zu erörternden theoretischen Zugriffs auf den Potsdamer Platz aus
der Perspektive der Cultural Studies darstellt, findet sich unzweifelhaft in Rich-
ard Johnsons maßgeblichem Aufsatz „What is Cultural Studies anyway?'' 14 Das
dort erstmals dargelegte Kreislaufmodell zur kulturellen Produktion und Re-
produktion bündelte wie in einem Brennspiegel die Debatten, Fragen und Kri-
tiken der siebziger Jahre am Birminghamer Centre for Contemporary Cultural
Studies (CCCS) über den Zusammenhang von ökonomischer Produktion und
kultureller Reproduktion.

14 Richard Johnson: „What is Cultural Studies anyway?", in: Social Text 16 (1986/87), S. 38-80.
Dtsch. als ders.: „Was sind eigentlich Cultural Studies?", in: Roger Bromley, U d o Göttlich,
Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg 1999,
S. 139-188.
86 UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

Unzweifelhaft sucht Johnson den Weg über eine Vermittlungstheorie, die die
unterschiedlichen gesellschaftlichen Erscheinungen kultureller Produktion,
worunter auch die Medien fallen, in einen Zusammenhang zu bringen ver-
spricht. In diesem Kontext entwickelt sich die Frage der Produktion und Re-
produktion von Kultur in den Cultural Studies unzweifelhaft aus ihren
marxistische Wurzeln weiter fort und findet den Anschluss an die strukturali-
stische Debatte um Althusser. Mit dieser Verbindung hat sich innerhalb der
Cultural Studies die Beschäftigung mit Fragen kultureller Produktion aufge-
fächert bzw. ausgeweitet, so dass aufgrund dieser theoretischen Besonderheit
die „Produktivität" von Zeichensystemen gegenüber der Rolle ökonomischer
Faktoren deutlicher in den Vordergrund getreten ist.15 An dieser Weggabelung
setzt Johnson nun an und formuliert einen ersten Vermittlungsversuch, der
darin besteht, das produktionstheoretische Paradigma der kulturalistischen
Ausrichtung innerhalb der Cultural Studies wieder deutlicher mit texttheoreti-
schen Untersuchungen in der Folge der strukturalistischen und poststruktura-
listischen Einflüsse zu verbinden.16
Johnson sah in der bereits von Hall 17 als paradigmatisch für die Cultural Stu-
dies begriffenen Ausdifferenzierung die Gefahr, dass die Analyse ökonomischer
Produktionsweisen drohe, aus den Augen verloren zu werden. Kompliziert
wird die Lösung des Vermittlungsproblems in der Analyse kultureller Lebens-
weisen nach Johnson an dieser Stelle dadurch, dass für beide Paradigmen gilt,
dass in ihnen „Erscheinungsformen kultureller Kreisläufe"18 zu verzeichnen
sind, die allerdings nicht jeweils über produktionstheoretische und ökonomi-
sche Ketten miteinander vermittelbar sind. Zudem sind die jeweiligen paradig-
matischen Bezüge bereichsspezifisch, so dass sie nicht ohne weiteres in das
jeweils andere Paradigma zu integrieren waren.
Die sich aus Johnsons Vermittlungsmodell ergebende Verbindung von Cul-
tural Studies und Ökonomie lässt sich als Reaktion auf eine wissenschaftliche
Problemstellung umreißen, in deren Folge es den Cultural Studies um die kul-
turelle Komponente an der Produktion und Reproduktion der Gesellschaft
sowie der Repräsentation und Bedeutungsgehalte kultureller Produkte zu tun
ist. „Ganz sicher wurden die Cultural Studies durch das, was wir, auf paradoxe
Weise die Wiedergeburt eines modernen Marxismus nennen können, ebenso ge-

15 Vgl. Udo Göttlich: „Unterschiede durch Verschieben. Zur Theoriepolitik der Cultural Studies",
in: Jan Engelmann (Hg.), Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader, Frankfurt/
Main 1999, S. 49-63. Vgl. desweiteren ders.: „Die Wahrnehmung der Cultural Studies. Cultural
Studies zwischen hilfswissenschaftlicher Vereinnahmung und radikaler Kontextualität", in:
Sociologia Intemationalis 37 (1999), S. 189-219.
16 Vgl. dazu auch Udo Göttlich: „Medienökonomie und Cultural Studies", in: Klaus-Dieter Alt-
meppen, Matthias Karmasin (Hg.), Medien und Ökonomie, Bd. 1.2, Wiesbaden 2003, S. 47-74.
17 Vgl. Stuart Hall: Cultural Studies: two Paradigms, in: Tony Bennett u.a. (ed.), Culture, Ideology
and the Social Process. A Reader, The Open University Press 1981, S. 19-37. Dtsch. als ders.:
„Cultural Studies. Zwei Paradigmen", in: Bromley, Göttlich, Winter (Hg.), Cultural Studies,
S. 113-138.
18 Johnson, „Was sind eigentlich Cultural Studies?", S. 180.
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 87

prägt wie durch die transnationalen Einflüsse, die so typisch für die siebziger
Jahre waren." 1 9 In diesem Prozess ist der Ansatz einer Kritik der politischen
Ö k o n o m i e , wie sie in den Arbeiten von Marx und Engels zugrunde gelegt ist,
auf eigenständige Art reformuliert worden, d.h. er ist auf die Analyse der sub-
jektiven Seite 20 bezogen und besteht in einer Analyse u n d Beobachtung der
Taktiken des Alltags. Es handelt sich aber keineswegs u m eine Verkehrung der
Perspektive, sondern u m eine andere Zugangsweise zur Vermittlungsfrage, die
sowohl von Seiten einer traditionellen Kritik der politischen Ö k o n o m i e als auch
von einer an gesellschaftlichen u n d kulturellen Strukturbildungen interessier-
ten Perspektive jenseits des Produktionsgedankens getragen wird.
Bei diesem Gedanken einzusetzen, heißt zu erkennen, dass Johnsons Modell
des Kreislaufs der kulturellen P r o d u k t i o n u n d Reproduktion beide Denkhal-
tungen gegenläufig in sich vereint, aber die Gegenläufigkeit dann in einem
Kreislaufprozess kurzschließt. Auch die politische Ö k o n o m i e des historischen
Materialismus ist als Kreislauf konzipiert, allerdings setzt sie den Hebel aus-
schließlich bei einer Seite zur Veränderung der Verhältnisse an, nämlich bei der
P r o d u k t i o n . Cultural Studies verorten diesen Hebel aber nicht nur auf dieser
Seite, sondern zugleich auch auf der Ebene der Taktiken des Alltags u n d der
Alltagspraxen und den Aneignungsweisen von Medien und anderer symboli-
scher Formen. 2 1 Hier ist der O r t , an dem sich P r o d u k t e und Angebote insofern
bewähren müssen, als dass mit ihnen die Reproduktion einer kulturellen O r d -
nung ansetzt, indem auch die Reproduktion der Produktionsseite über Kultur
gesteuert wird. Vergleichbare Überlegungen zur Produktion und Reproduktion
kultureller O r d n u n g e n , die in das Artikulationskonzept übernommen wurden,
hat J o h n s o n anhand des M i n i - C o o p e r - A u t o m o b i l s illustriert. Diese A n w e n -
dung gibt zugleich weitere Hinweise auf den spezifischen Zugang zur Artiku-
lation des Phänomens Potsdamer Platz. Johnson führt in der Herangehensweise
zum Artefakt „Mini C o o p e r " aus:

„Ich habe dieses Auto gewählt, weil es eine Standardware des Spätkapitalismus ist,
das mit einer besonders großen Anzahl von Bedeutungen aufgeladen ist. Der Mini-
Metro-PKW hat nämlich die britische Automobilindustrie gerettet, weil er Kon-
kurrenten vom Markt vertrieb und British Leylands sich verschärfende Probleme
der Arbeitsdisziplin im industriellen Sektor lösen konnte. Er signalisierte, daß Be-
drohungen nationaler wie internationaler Provenienz gemeistert werden können.
Bemerkenswerte Anzeigenkampagnen begleiteten seinen Start. In einem TV-Spot
verfolgte eine Gruppe von Mini-Metros eine Bande von Importautos bis zu den
Kreidefelsen von Dover (und offensichtlich darüber hinaus). Vom Strand aus flo-
hen die ausländischen Fabrikate in einem Gefährt, das einem militärischen Lande-
fahrzeug ziemlich ähnlich sah. Das war die Umkehrung von Dünkirchen mit dem

19 ebd., S. 141.
20 Die Verwendung „subjektiv" erfolgt hier in Anlehnung an Johnsons Verwendung des Begriffs.
21 Vgl. Rainer Winter: Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht. Weilers-
wist2001.
8S UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

Mini-Metro als Nationalhelden. Natürlich würde ich u.a. diese Formen - nationa-
les Heldenepos, allgemeine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, innere/äußere
Bedrohung - isolieren und einer näheren formalen Untersuchung unterziehen.
Aber schon an diesem Punkt ergeben sich interessante Fragen nach der Bedeutung
des .Textes', bzw. des Rohmaterials solcher Abstraktionen". 22

Mit dieser letzten W e n d u n g eröffnet J o h n s o n nun als Charakteristikum der


Cultural-Studies-Analyse ökonomischer Kreislaufprozesse das Feld der Disk-
ursanalyse, mit der die Transformationen auf lebensweltlicher u n d kultureller
Ebene verfolgt werden. Ziel ist nicht allein die Bestimmung der ökonomischen
Verhältnisse bei der Verfestigung der Klassenverhältnisse, sondern die im kul-
turellen Kreislauf beobachtbaren Formveränderungen ökonomischer Momente.
In theoretischen Worten ausgedrückt bedeutet das:

„Der Kreislauf schließt Bewegungen zwischen der öffentlichen und der privaten
Sphäre ebenso ein wie Bewegungen zwischen konkreteren und abstrakteren For-
men. Diese beiden Pole hängen eng miteinander zusammen: Private Formen sind
konkreter und in ihrem Referenzbereich partikular, öffentliche Formen sind ab-
strakter, aber auf ein breiteres Spektrum bezogen." 23

In diese Richtung weitergedacht macht Johnson erneut auf die für die Cultural
Studies maßgebliche Scheidelinie von Kulturalismus und Strukturalismus auf-
merksam, mit der er nun die Herausforderung gestellt sieht, textuelle sprich
symbolhafte Momente einer Kultur wieder mit dem Produktionsparadigma zu-
sammenzubringen. Insofern ist Johnson sicher, „[...] dass der Begriff des Tex-
tes - als etwas, das wir isolieren, fixieren, aufspießen und untersuchen können - ,
von der extensiven Zirkulation kultureller Produkte abhängt, die von ihren un-
mittelbaren Produktionsbedingungen getrennt worden sind und vor ihrer Kon-
sumtion eine A r t von k u r z e m Schwebezustand genießen". 2 4 Das für die
Cultural Studies-Analysen seit den achtziger Jahren prägende theoretische Kon-
zept beschreibt also jenes Korrespondenz- bzw. Vermittlungsverhältnis im (an-
gelsächsischen) Doppelsinn von speaking einerseits und joinüng andererseits,
dass dann insbesondere von Hall 2 5 und Grossberg 2 6 in das für die Kulturana-
lyse maßgebliche Artikulationskonzept überführt wurde. Artikulation deutet
dabei zunächst auf die Möglichkeit, wie abseits von der Zuschreibung einer fest-

22 Johnson, „Was sind eigentlich Cultural Studies?", S. 150.


23 ebd., S.151.
24 ebd., S. 156.
25 Vgl. Stuart Hall: „Postmoderne und Artikulation" (Gespräch mit Larry Grossberg), in: ders.,
Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt (Ausgewählte Schriften 3), Berlin/Hamburg 2000,
S. 52-77. Zuerst als ders.: „On Postmodernism and Articulation: an Interview with Stuart Hall"
(ed. by L. Grossberg), in: David Morley/Kuan-Hsing Chen (ed.), Stuart Hall. Cntical Dtalogues
in Cultural Studies, New York/London 1996, S. 131-150.
26 Vgl. Lawrence Grossberg: We Gotta Get Out of This Place. Populär Conservatism and
Postmodern Culture. New York/London 1992.
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 89

stehenden Bedeutung oder Entsprechung neue Beziehungen geknüpft und Be-


deutungen verschoben werden können. Nach Hall handelt es sich bei einer Ar-
tikulation um „[...] eine Verknüpfungsform, die unter bestimmten Umständen
aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann. Es ist eine Ver-
bindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder we-
sentlich ist. Man muß sich fragen, unter welchen Bedingungen kann eine
Verbindung hergestellt oder geschmiedet werden?" 27
Es geht nicht um die Ableitung von Folgen, sondern um ein Verständnis von
Kontexten, in denen eine bestimmte Verbindung (conjuncture) materieller und
ideologischer Gegebenheiten die (strukturalen) Bedingungen für gesellschaftliche
und kultureller Praxen bilden. Wie John Hartley28 ausführt, geht es um die Ana-
lyse besonderer historischer Konfigurationen oder Formationen, die die struktu-
ralen Bedingungen sozialer Praxen, Ereignisse oder kultureller Zeugnisse wie z.B.
von Texten hervorbringen. Das Ergebnis einer solchen Artikulation fasst Gross-
berg folgendermaßen zusammen:

„Artikulation ist die Produktion von Identität oberhalb von Differenzen, von Ein-
heiten aus Fragmenten, von Strukturen über Praktiken. Artikulation knüpft diese
Praxis an jenen Effekt, diesen Text an jene Bedeutung, diese Bedeutung an jene
Realität, diese Erfahrung an jene Politik. Und diese Verknüpfungen sind wiederum
mit größeren Strukturen artikuliert etc."29

Wendet man diese Perspektive beispielsweise auf die Analyse der zeitgenössi-
sche Populärkultur an - wie Grossberg es getan hat und für deren Analyse die
Cultural Studies paradigmatisch stehen -, dann erscheint diese als Artikulation
von Beziehungen, die das Populäre historisch in sehr unterschiedlichen Formen
und Gebieten konstituiert haben. Dazu gehören Beziehungen zu so unter-
schiedlichen Feldern wie Arbeit, Religion, Moralität und Politik. Damit be-
hauptet Grossberg nicht, dass die Kategorie des „Populären" auf die gleiche Art
und Weise in jeder historischen Situation zu finden ist und dass es unwandel-
bare Formen populären Vergnügens oder gefühlsmäßiger Einstellungen gibt.
Das Populäre kann nur dann historisch verstanden werden, wenn es als Arti-
kulation bestimmter Haltungen, Praktiken oder (politischer) Einstellungen, die
sich in Stilen ausdrücken können und die auf einer bestimmten Mittelwahl be-
ruhen, gedacht wird. Dabei überlagern sich in einer Kultur neue Artikulationen
des Populären mit älteren. Zusammen bilden sie den Kontext der Populärkul-
tur, vor deren Hintergrund im folgenden die Reflexion auf den Potsdamer Platz
erfolgen soll.

27 Hall, „Postmoderne und Artikulation", S.65; ders., „On Postmodernism and Articulation",
S. 141.
28 John Hartley: „Articulation", in: Tim O'Sullivan u.a.: Key Concepts in Communication and
tural Studies, New York/London 1994, S. 17f.
29 Grossberg, We Gotta Get Out ofThis Place, S. 54.
90 UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

Cultural Studies konzentrieren sich dabei überwiegend darauf, wie Men-


schen in verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen ihre (Alltags-)
Kultur schaffen und erfahren. Interesse findet, wie die (global erzeugten und
verbreiteten) Produkte der Kulturindustrien (in lokalen Kontexten) angeeig-
net und verarbeitet werden und welche Interpretationen, Bedeutungs-
verschiebungen und Aktivitäten sich abzeichnen. Diese Perspektive stützt sich
damit nicht allein auf eine Analyse der Produktionsseite bzw. auf Produkt-
analysen, sondern auf die Praktiken und Erfahrungen im Umgang mit symbo-
lischen Formen, die jeweils kontextualisiert werden. 30 Die zu untersuchenden
Praktiken beschränken sich keineswegs auf den Medienkonsum. So hat z.B.
Michel de Certeau 31 die Aufmerksamkeit auf den Akt des Gehens gelegt. Die
Fußgänger können sich durch ihre „Äußerungen" den städtischen Raum
erobern, der ein disziplinar und strategisch organisiertes System darstellt. Der
Gehende bringt im „Verhältnis zu seiner Position eine Nähe und eine Ferne,
ein hier und da" 32 hervor. Durch Spaziergänge, durch die Orte, an denen sie
stehenbleiben, um mit alten Freunden zu reden, erfinden sie eigene Räume,
die mit Erinnerungen, Gefühlen und Mythen verbunden sind. Auf diese Wei-
se spielen die Gehenden mit der funktional bestimmten Raumaufteilung und
erschaffen die Stadt als ein Gewebe von Bedeutungen, das von ihnen mit-
gestrickt wird. Das Beispiel macht deutlich, daß der Zugang der Cultural
Studies immer ein konkreter ist, also auf Studien der Alltagskultur fußender,
da ausgewiesen werden soll, welche spezifischen Bedeutungen sowie Wir-
kungen alltägliche Praktiken hervorbringen, die z.B. von einer Betrachtung
des Stadtplans her nicht bestimmt werden können. Popsongs, Spielfilme,
Fernsehserien, aber auch städtische Räume, Plätze und Gebäude sind als
kulturelle Phänomene Teil sozialer Praxis. Indem das Konzept der Artiku-
lation dabei immer nach den jeweiligen, historisch spezifischen Bedingun-
gen fragt, die eine nicht-notwendige Verbindung differenter Elemente
zeitigen, zielt es auf einen ausgeprägten Kontextualismus bei der Kultur- und
Gesellschaftsanalyse. Kontexte und die mit ihnen verbundenen politischen
und sozialen Fragestellungen müssen in der Analyse bestimmt und hergestellt
werden. 33
Diese analytische Tiefe bei der Betrachtung und Analyse des Potsdamer Plat-
zes werden wir mangels eigener empirischer Erhebungen unter des Platzbesu-
chern oder Touristen im folgenden kaum erreichen können. Somit soll vor allem
die Problemstellung und der Rahmen beschrieben und dargelegt werden, in die

30 Vgl. Stuart Hall: „Über die Arbeit des Centre for Contemporary Cultural Studies (Birming-
ham). Ein Gespräch mit H. Gustav Klaus", in: Gulliver 2 (1997), S. 54-57, bes. S. 55.
31 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988.
32 ebd., S. 191.
33 Vgl. Lawence Grossberg: „Was sind Cultural Studies?", in: Karl H. Hörning, Rainer Winter
(Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfur/Main 1999,
S. 43-83, bes. S. 59f.
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 91

eine Analyse des Potsdamer Platzes aus der Perspektive der Cultural Studies
eingespannt ist und in die sich eine empirisch gestützte Analyse einschreiben
kann. Die Perspektive der Cultural Studies bietet die Möglichkeit zu einem
doppelten Zugriff, um die Realitäten und die Realitätsebenen des Platzes zu de-
chiffrieren. Was hat dieser Platz bzw. die Geschichte um ihn in den letzten Jah-
ren nicht alles an Zuschreibungen erfahren, aus denen heraus oftmals mehr über
die Urheber dieser Zuschreibungen und deren Intentionen zu erfahren war als
über den Platz selber?
Der Einstieg zur konkreten Analyse suchen wir im folgenden zunächst über
eine Artikulation des Potsdamer Platzes als letzte Stufe der Shopping-Mali-Ar-
chitektur, in die sich die unterschiedlichen Beobachtungen unter der Perspek-
tive „Einheit durch Konsum" eintragen lassen (3). Die im theoretischen Teil
erörterte Frage des Zusammenhangs der (Re-)Produktion einer kulturellen
Ordnung findet dabei ihre Vertiefung. Ausgehend von Michel de Certeaus
Kunst des Handelns werden wir uns dann den möglichen Praktiken der Kon-
sumenten zuwenden. Zentral ist die Frage, wie der Platz im Alltag angeeignet
werden kann. John Fiskes Analytik des Populären 34 wird helfen, diese Per-
spektive zu vertiefen. Inwiefern kann der Potsdamer Platz Teil von Populär-
kultur werden? Wir werden zeigen, daß er nur eingeschränkt zur Partizipation
und zur Entfaltung von Urbanität einlädt, sieht man von den Shopping-Mög-
lichkeiten ab (4). Abschließend werden wir die gewonnenen Ein- und Ausblicke
in die zeitgenössische Konsumkultur resümieren (5).

III. Der Potsdamer Platz aus dem Geist der Shopping Mall
Als Ausgangspunkt für den Artikulationsversuch des Platzes und seiner Rolle
als Ort der (Post-)Moderne möchten wir die wenig spektakuläre Shopping
Mall, eine dreistöckige, glasüberdachte Einkaufsstraße, wählen, die sogenann-
ten „Potsdamer Platz Arkaden", die aus der Verschränkung der Pläne von
Heinz Hilmer und Christoph Sattler mit denen von Renzo Piano und Chri-
stoph Kohlbecker in Nord-Süd-Richtung entstand und vom Bauherren gegen
den Widerstand von Stadt und Architekt erzwungen wurde. 35 (Abb. 1)
Dem unkundigen Besucher des Platzes vermag sicherlich zunächst das be-
eindruckende Sony-Center eher dazu geeignet, Assoziationen an eine Shopping-
Mall zu wecken, gerade da sich in der Gestaltung dieses wichtigen Platzteils das
von einem der maßgeblichen Architekten der amerikanischen Shopping-Mails
Victor Gruen in den fünfziger Jahren verkündete Ziel am ehesten einstellt, sich
in überdachten Räumen dennoch wie unter freiem Himmel zu fühlen: „The

34 Vgl. Rainer Winter/Lothar Mikos (Hg.): Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske
der. Bielefeld 2001.
35 Sewing, „Herz, Kunstherz oder Themenpark?", bes. S. 56.
92 UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

Abb. 1: Innenansicht
Potsdamer Platz Arkaden 2003.

underlying purpose of the enclosed mall is to make people feel that they are
outdoors" .36 Zudem steht der Sony Style Store für Konsum, Unterhaltung, Ver-
gnügen und Kommerz. Das nun in dem ursprünglichen Gesamtkonzept eine
solche Shopping Mail-Architektur oder Anlage nicht vorgesehen war und sich
dann dennoch eine solche sowohl in konkreter Gestalt der Arkaden als auch in
einem neuen Sinne für die gesamte Platzanlagc ergibt, macht die These be-
gründbar, das die Gestaltung des Potsdamer Platzes dem Charakter der Shop-
ping Mall verpflichtet ist. Das Leitbild heutiger Architektur kommt hier auf
vielfältige Art zum tragen und zeigt sich am deutlichsten dort, wo es nicht
intendiert war. Gerade in Metropolen werden zentrale Bereiche mittels eines
mobilen Finanzkapitals in Erlebnislandschaften umgeformt, bei denen offen-
sichtlich der Shopping Mall eine zentrale Bedeutung zukommt.37 Mit dieser Ver-
knüpfung von Geist und Kapital wäre auch die erste Spur artikuliert, wie sich
die Rationalität und das Muster postfordistischer ökonomischer Produktion bis
in die Anlage der Rekonstruktionsabsicht bzw. Neugestaltung eines historischen

36 Peter Gibian: „The Art of Being Off-Center: Shopping Center Spaces and the Spectacles of
Consumer Culture", in: ders. (Hg.), Mass Culture and Everyday Life, London 1997, S. 238-291,
hier S. 250.
37 Klaus Ronneberger: „Konsumfestungen und Raumpatrouillen. Der Ausbau der Städte zu Er-
lebnislandschaften", in: Becker (Hg.), „BIGNES?", S. 28-41.
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 93

Abb. 2: Eaton-Centre in Toronto.

Platzes einschreibt und somit den kulturellen Stil des Spätkapitalismus repro-
duziert. 38 Was heißt das genau?
Bisher ist die Shopping Mall sicherlich keine innerstädtische Realität in
Deutschland. Allein das CentrO in Oberhausen, mit dem eine neue Stadtmitte
auf einer Industriebrache seit Beginn der 1990er Jahre geschaffen wurde, scheint
für die hier vorgenommene Assoziation tauglich.39 Und dennoch, bedenkt man
die städtebauliche Wirklichkeit der sogenannten Global Cities, so ist der Verweis
auf die Shopping-Mails nicht zu weit gegriffen. Beispielsweise war es in Toronto
gegen Ende der siebziger Jahre gelungen, durch die Einbindung des architekto-
nisch richtungsweisenden Eaton Centre das innerstädtische Leben privatwirt-
schaftlich neu zu beleben. (Abb. 2)
Ein Problem, mit dessen Lösung die meisten nordamerikanischer Städte zu
kämpfen haben und für das eine Reihe unterschiedlicher Konzepte erarbeitet und
erprobt wurden. Für deutsche Städte stellt sich dieses Problem jedoch noch nicht,
es kann aber ein Ausgangspunkt für Überlegungen darstellen, wenn es gilt auf
einer nun innerstädtischen Brache ein einst dort sogar gelegenes Zentrum wieder

38 Vgl. David Harvey: The Condition of Postmodemity. Oxford 1989; vgl. ferner Fredric Jameson:
Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism. London/New York 1991.
39 Vgl. Becker, „BIGNES?", bes. S. 9.
94 UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

zu errichten, gerade da die beiden Stadthälften in den Jahrzehnten zuvor ihre ei-
genen innerstädtischen Zentren am .Kudamm und am Alex' entwickelt haben,
die nun in Konkurrenz zu dieser groß angelegten Neugestaltung eines Zentrums
treten. In einer Zeit also, in der Stadtzentren nicht zuletzt auch unter den Druck
ihres Umlands geraten, ist das 1991 angegangene Projekt eine Herausforderung,
die zwangsläufig auch auf den Geist der Shopping Mall treffen muß.
Ein Dienstleistungs- und Unterhaltungszentrum wie der Potsdamer Platz be-
freit zugleich von den Diskussionen um die Machtarchitektur - die die Anlage
des Spreebogens betreffen - und kreuzt stattdessen das Feld der Konsumkultur 40
mit seinen eigenen Machtdiskursen und Strukturen, die unzweifelhaft auch in der
Geschichte der Shopping Mails mit aufgehoben sind und die auch im Kontext
einer Renaissance der öffentlichen Ordnung betrachtet werden müssen.41
Die privatwirtschaftliche Umgestaltung, die das Ziel der Berliner Stadtent-
wickler war, ließ einen Ort entstehen, der von Unternehmen erschlossen, ge-
nutzt und auch kontrolliert wird. Unliebsame Personen oder Gruppen können
jederzeit ferngehalten, störende Ereignisse verhindert oder aber, wie die Zele-
brierung der Fußball-WM zeigt, auch ganz gezielt dort veranstaltet werden.

„Damit erfüllt der Potsdamer Platz, identifizieren wir ihn mit debis, alle Kriterien
einer amerikanischen Entertainement Mall. Hierfür sprechen die Konzentration
von Musicaltheater, Spielbank, einem Multiplexkino mit den 19 erfolgreichsten
Leinwänden Berlins (bei gleichzeitigem Kinosterben am Ku'damm), Disco, diver-
ser Gastronomie und Hotels".42

Der Potsdamer Platz lässt sich in seiner Mischung aus Shopping, Gastronomie,
Kinocenter, Business und Wohnbereich als ein nach außen relativ abgeschotte-
ter Bereich begreifen, der früher getrennte Milieus und Themen miteinander
verknüpft und durch private Sicherheitsdienste kontrolliert wird, die in den Ar-
kaden Uniformen der New Yorker Polizei tragen. Er wird von Dienstlei-
stungsunternehmen dominiert. Wie Sewing43 richtig feststellt, ist der Potsdamer
Platz deshalb auch eine Art Themenpark, in dem nicht nur jedes Jahr die Ber-
liner Filmfestspiele inszeniert werden, sondern durch die Kulissenhaftigkeit der
Architektur und die Mini-Wolkenkratzer werden bekannte Motive und Ele-
mente von Großstadt zitiert.
In einem erweiterten Sinne erweist sich die postfordistisch organisierte Kon-
sumgesellschaft mit diesen Strategien der Inszenierung des Konsums auch als

40 Vgl. Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism. Thousand Oaks/New Delhi/
London 1992.
41 So stellt Ronneberger, „Konsumfestungen und Raumpatrouillen", S. 36 fest: „Viele der Archi-
tektur- und Kontrollmodelle, die in den privaten Shopping Mails zum Einsatz kommen, einsch-
ließlich des Einsatzes von elektronischen Kameras, dienen den städtischen Behörden und den
Gewerbetreibenden als Vorbild für die Regulation öffentlicher Räume".
42 Sewing, „Herz, Kunstherz oder Themenpark?", S. 56f.
43 ebd., S. 55.
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 95

Kontrollgesellschaft im Sinne von Gilles Deleuze. 44 Nicht mehr traditionelle


Einschließungsmilieus wie Fabrik, Schule oder Gefängnis repräsentieren para-
digmatisch die soziale Kontrolle, sondern das Unternehmen, das Konkurrenz,
lebenslanges Lernen, Marketing und Normalisierung verknüpft. 45 Die wirt-
schaftliche Deregulierung führt also nicht zu einer Verringerung der Kontrolle,
wie der Filmemacher Harun Farocki feststellt,46 der sich in seinen neueren Ar-
beiten sowohl mit der Privatisierung des Strafvollzugs und der Entstehung einer
lukrativen Gefängnisindustrie in den USA auseinandersetzt als auch mit der
Konzipierung und Gestaltung von Shopping Mails. Dieser Prozess der „Ent-
öffentlichung des Städtischen"47 zeigt sich auch bei der Anwendung des Arti-
kulationskonzepts auf die Geschichte der Shopping Mall und ihrer spezifischen
Realisierung am Potsdamer Platz. Dies impliziert eine doppelte Hinwendung
zum Gegenstand: Wie artikuliert sich der Platz selber (speaking) und wie läßt
er sich, gestützt auch auf empirische Ergebnisse, weiter historisch und theore-
tisch artikulieren (jointing).
Folgt man Peter Gibian's Aufsatz „The Art of Being Off-Center. Shopping
Center Spaces and the Spectacle of Consumer Culture", 48 den wir hier als Folie
für die „Rahmenhandlung" nutzen, so lassen sich insgesamt fünf Phasen in der
Entwicklung von Shopping Mails unterscheiden, die allerdings nicht alle am Pots-
damer Platz auch architektonisch umgesetzt und somit gültig sind, die aber durch
die Brille des Artikulationskonzepts betrachtet auch mit der an diesem Platz vor-
liegenden Realisierung weiter keimhaft noch angelegt sind. Die von Gibian dis-
kutierten Phasen erlauben somit eine Annäherung an die Frage der spezifischen
Modernität oder Postmodernität, der wir am Potsdamer Platz gewahr werden.
Nicht zuletzt auch gerade deshalb, da die Stadtentwicklung der Global Cities in
den letzten Jahren überwiegend unter dem Leitgedanken der Verwirklichung von
Shopping Mails als „urban Spaces" erfolgte, der sich mithin auch der Potsdamer
Platz für eine erste Bewertung bzw. zur Einschätzung der Voraussetzungen, die
er als Ort der Alltagskultur mit seiner Gestaltung bietet, nicht entziehen kann.
Der große Bogen der Entwicklung spannt sich von den ersten Mails der 1950er
Jahre, die noch eher als Orte verstanden werden können, die der Enge amerikani-
scher Kleinstädte auf die grüne Wiese entflohen, hin zu den Plätzen, die sich dem

44 Gilles Deleuze: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften", in: ders., Unterhandlungen


1972-1990, Frankfurt/Main 1993, S. 254-262. Zur Rhetorik von Überwachung und Kontrolle
im Bereich von Architektur und neuen Medien vgl. auch Thoams Levin, Ursula Frohne, Peter
Weibel (Hg.), CTRL SPACE. Rhetoncs of Surveillance from Bentham to Big Brother. Karlsruhe
und Massachussetts: 2002.
45 So schreibt Deleuze: „Die Fabrik war ein Körper, der seine inneren Kräfte an einen Punkt des
Gleichgewichts brachte, mit einem möglichst hohen Niveau für die Produktion, einem mög-
lichst tiefen für die Löhne; in einer Kontrollgesellschaft tritt jedoch an die Stelle der Fabrik das
Unternehmen, und dieses ist kein Körper, sondern eine Seele, ein Gas". Deleuze: „Postskriptum
über die Kontrollgesellschaften", S. 256.
46 Vgl. Becker, „BIGNES?", bes. S. 11.
47 Ebd., S. 14.
48 Gibian, „The Art of Being Off-Center", 1997.
96 UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

sogenannten „Non-Merchandise Retailing" verschrieben haben, für die heutzuta-


ge die Mischung aus Dienstleistungs- und Unterhaltungszentren - die der Potsda-
mer Platz durchaus repräsentiert - in besonderer Weise einsteht. Hierbei geht es
auch um Prozesse des Image- und Kult-Marketing in der Konsumkultur,49 die mit
unterschiedlichen Mitteln und Strategien, also auch der durch die Shopping-Mails
geprägten Stadtarchitektur wirken, wobei diese Architektur nach Gibian wie eine
Utopie im Wortsinne wirkt, nämlich als „Nicht-Ort", was in diesem Falle nega-
tiv gemeint ist: Austauschbar, verwechselbar und für den Global Traveller überall
die gewohnte und vertraute Umgebung bietend. Bis es zu dieser Austauschbar-
keit kam, waren mehrere Etappen oder Phasen der Mail-Entwicklung zu durch-
laufen, die alle ihre Spuren in der städtischen Architektur und so auch in der All-
tagskultur hinterlassen haben. Es handelt sich um Phasen, die jeweils eine Steige-
rung der vorangegangenen Entwicklungsetappe parallel zur Entwicklung der
Konsumkultur betreffen bzw. beinhalten, aber auch aus den Fehlern und Schwie-
rigkeiten, dem Scheitern des Ziels, Konsumphantasien zu stimulieren, resultieren.
Die beiden ersten Phasen der Shopping Mail-Architektur sind unzweifelhaft
mit dem Aufstieg der amerikanischen Konsumkultur in den zwanziger und
dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts verbunden. Mit der einsetzenden Mo-
torisierung, die dann in den 1950er Jahren ihren Durchbruch fand, lag es nahe,
kleinere Geschäfte zusammen mit den ersten großen Kaufhäusern an verkehrs-
technisch günstig erreichbaren Plätzen außerhalb der Innenstädte zusammen-
zuführen. Dieser Entwicklungsschritt korrespondierte mit dem Ausbau der
Verkehrswege - insbesondere der Highways - in den Eisenhower-Jahren. Und
es ist diese Phase, in der auch die Medien, insbesondere das Fernsehen mit
neuen Werbeformen, für den Aufstieg der Konsumkultur sorgte.
In diesem Zusammenhang wird gerade für die dritte Phase der Shopping
Mail-Entwicklung hervorgehoben, dass in ihr auch die Seherfahrungen des Pan-
oramas und des Kinos miteinander verschmelzen.50 In erster Linie handelt es
sich aber um die Phase, in der die von Victor Gruen verfolgte Konzeption erst-
mals umgesetzt wird, das man nun Innenräume schafft, die den Eindruck ver-
mitteln, unter freiem Himmel zu sein. Das hatte zur Folge, dass „looking at
becomes as important as ,the buying'". 51 Das bereits bekannte Windowshopping
wurde dabei durch neue Dimensionen von Geschäften und komplexe Arten der
Warenpräsentation aufgebrochen. Dabei solle der Käufer - wie einst der Be-

49 Vgl. Udo Göttlich/Jörg-Uwe Nieland: „Daily Soaps als Umfeld von Marken, Moden und
Trends. Von Seifenopern zu Lifestyle-Inszenierungen", in: Michael Jäckel (Hg.), Die umworbene
Gesellschaft, Opladen 1998, S. 179-208. Vgl. ferner dies.: „Kult-Inszenierungen und Ver-
marktungsstrategien im Kontext von Endlosserien und Musiksendungen: Grenzen und Per-
spektiven", in: Herbert Willems (Hg.), Die Gesellschaft der Werbung. Kontexte und Texte.
Produktionen und Rezeptionen. Entwicklungen und Perspektiven, Wiesbaden 2002, S. 549-564.
50 Zu diesem Zusammenhang und zu dem damit verbundenen Phänomen des „window Shopping"
vgl. die glänzende Studie von Anne Friedberg: Window Shopping. Cinema and the Postmodem.
Berkeley und Los Angeles 1993.
51 Gibian, „The Art of Being Off-Center", S. 270.
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 97

Abb. 3: Eaton-Centre in Toronto,


Innenansicht.

trachter eines Panoramas - in ein bewegtes Bild eintreten und sich in Träumen
und Begehren auslösenden Illusionen bewegen.
Bezeichnen diese ersten drei Phasen im gewissen Sinne noch die Vorstufe der
möglichen kommenden Entwicklungen, so war spätestens mit Mails wie dem
Eaton Centre in Toronto ein Punkt erreicht, an dem man mit dem Konzept
phantasmagorischer Warenwelten wieder in die innerstädtischen Zentren
zurückkehrte: Vollklimatisiert und von der Lautstärke der Innenstädte abge-
schieden. Es ist hier nicht der Platz für eine vergleichende Betrachtung, aber ge-
rade das Eaton Centre diente an vielen Stellen bereits zur Illustration dieses
entscheidenden Umschlagpunktes in der Stadtarchitektur und der Entwicklung
der postmodernen Konsumkultur. (Abb. 3)
Für unsere These ist der Vergleich zum Eaton Centre insofern interessant,
als dass der Potsdamer Platz in seiner Gesamterscheinung nicht nur die Mög-
lichkeit zu einer zentralen Mall nach diesem Vorbild geboten hätte, sondern
auch ohne diese direkte Anlehnung Elemente der vierten und fünften Phase, -
die aktuell an verschiedenen Orten in Umsetzung befindlich ist - in sich ein-
schließt. Unser Blick durch die Brille der Mall Architektur, d.h. auf die Art, mit
der sich die Architektur in den Innenstädten der Global Cities manifestiert,
macht deutlich, wo zum einen Anleihen genommen wurden und wo zum an-
deren der Stil des globalen postfordistischen Kapitalismus sich in einem addi-
tiven System von wechselseitigen Beeinflussungen durchsetzt, so daß sich auch
der Potsdamer Platz als Mall artikuliert.
Phase vier der Mails schreibt also die Entwicklung der „introverted center"
aus Phase drei fort, wobei die Architekten nicht nur einen Bezug zu den Glas-
arkaden und Passagen des neunzehnten Jahrhunderts herstellen, sondern wie
gesagt, in die Innenstädte zurückkehren. Generell werden die Shopping Mails

Bayerische.
Staatsbibliothek
München
98 UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

zu in sich geschlossenen Einheiten, die nicht Teil einer gelebten Gemeinschaft


sind, sondern eine eigene Welt bzw. Einheit bilden, so dass „[...] the enclosed
mall can be seen as a sort of city in itself", wobei ,,[t]he sidewalk cafes - with
umbrellas as playfull reminders of the weather that is not there [...]" 52 eine Si-
tuation wie unter freiem H i m m e l vorgaukeln. Die naturnahe Modellierung mit
B ä u m e n u n d Wasserarchitektur war dabei einer der folgerichtigen gestalteri-
schen Schritte, und gerade Wasser gehört auch zu diesem Potsdamer Platz mit
d e m prototypisch, vielleicht auf eigene Art die fünfte Phase der Shopping Mail-
Architektur eingeläutet ist, die nun aber in dem Aufbrechen der zwei- bis drei-
geschossigen Arkadenarchitektur als Bestandteil des „introverted center"
besteht und sich nun in die Vertikale ausbreitet. Ein Dienstleistungszentrum mit
U n t e r h a l t u n g s - und Konsummöglichkeiten bietet dazu eine der Voraussetzun-
gen, u n d vielleicht ist es dann doch kein Widerspruch, wenn die Mall, also hier
die besagten „Arkaden", in diesem neuartigen Typus von Shopping Mall, der
auf neue Art in den städtischen R a u m eingreift, nur mehr als Marginalie der
Phase drei aufgeht. Generell aber durchdringen sich bezogen auf die gesamte
Platzarchitektur die vierte und die fünfte Phase in der Schaffung eines aus-
tauschbaren Ortes. Das Ergebnis beschreibt Gibian wie folgt:

„We get afrisson in recognizing a sameness of mechanical reproduction behind a


mall's downtown-style diversity. Instead of a competition of unique one-owner
speciality shops, most malls offer outlets of the same widespread franchise chains.
Reproduced clones of an entirely standardized mall design, in fact, often reappear
throughout the continent - with the same Muzak, fixtures, and controlled climate -
denying regional differences or local color."53

Das Ziel bzw. der Charakter der Mails in der fünften Phase, die wie gesagt als
„vertical" oder „urban malls" bezeichnet werden, besteht nun im Aufbrechen die-
ser Geschlossenheit und in der Bewältigung der Konsumentenströme, die sich auf
Laufbändern oder schnellen, gläsernen Fahrstühlen durch die verschiedenen Ebe-
nen des „Hyperraums" bewegen. So scheint es kein Zufall, wenn der eingangs er-
wähnte Newsweek -Artikel herausstreicht, das am Potsdamer Platz der schnellste
Fahrstuhl der Welt im Einsatz ist, mit dem man in 20 Sekunden die 28 Stockwerke
des Daimler-Buildings bewältigen kann. Durch ihre Bewegungen versuchen die
Besucher sich den Raum anzueignen, der kognitiv nur schwer zu bewältigen ist.

„Even more than the suburban malls, these new projects link architecture and
entertainment. The stress is on affective „experience" [...] because a mall is not ,an
object, a thing', but is ,an environmental phenomenon', a spectacle surrounding its
perceivers: The question of what it is is less urgent than the question of how it feels."54

52 ebd., S. 271 f.
53 ebd., S. 272.
54 ebd., S. 276.
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 99

Abb. 4: Ansicht Potsdamer Platz vom Leipziger Platz aus.

Die neuen Malis und vielleicht auch der Potsdamer Platz artikulieren somit die
neue Stufe der Konsumkultur, in der sich innerstädtische Zentren nicht nur als
Plätze für Dienstleistungen und öffentliche Dinge darbieten, sondern auch
als Orte des Entertainment, der Unterhaltung, die den Alltag in vielfältigen
Ebenen zu durchdringen beginnen. Und dazu ist die Einbindung des Verkehrs
und der Verkehrströme auf neue Art nötig. Während in den ersten Phasen der
Mail-Entwicklung die Richtung dieser Verkehrströme in die Peripherie ging,
kehrt sich die Situation bei den neueren Malis um. Und vielleicht ist der Pots-
damer Platz daher der Prototyp einer postmodernen Mall, indem alle Arten
von Verkehr bis hin zu PKW's und Bussen nun wieder durch ihn hindurchge-
hen und man selbst unter freiem Himmel das Gefühlt hat in einem geschlos-
senen Raum zu sein, der einem das Gefühl gibt unter freiem Himmel zu sein.
Insofern lassen sich die Arkaden gegenüber dem Gesamteindruck der Platz-
anlage als Shopping Mall als Anachronismus aus Phase drei der Mail-Archi-
tektur betrachten. (Abb. 4)
Was die detaillierte Analyse dieser fünften Phase in bezug auf den Potsdamer
Platz betrifft, müssen wir nun an dieser Stelle noch weiter ins Detail gehen.
Nachdem wir eine Ahnung dafür zu geben versucht haben, wie sich der Platz
aus dem Geist der Shopping Mall entwickeln lässt bzw. artikuliert, ist nun der
Blick auf die Nutzung des Platzes für alltägliche Ereignisse von Interesse, um
aus der Perspektive der Cultural Studies abschließend betrachten bzw. analy-
100 UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

sieren zu können, wie sich auf und mit dem Platz die kulturelle Ordnung einer
postindustriellen und postfordistischen Konsumentenkultur (symbolisch) re-
produziert und vielleicht transformieren lässt.

IV. Populäre Praktiken?


Ein zentrales Merkmal von Cultural Studies in den 80er und 90er Jahren war,
dass sie den Konsum in einer kritischen Perspektive als aktive Fabrikation be-
stimmten. Dabei betonten sie die Handlungsmächtigkeit der Konsumenten, ihre
Selektion bestimmter Objekte, die Bricolage ihrer Praktiken. Dies hat ihnen bis-
weilen den Vorwurf eingebracht, unkritisch dem Markt und seinen Möglichkei-
ten zu huldigen. Sieht man genauer hin, so geht es Cultural Studies aber eher um
ein Ausloten der (Handlungs-)Möglichkeiten im postfordistisch organisierten
Spätkapitalismus, die immer artikuliert mit den Prozessen der Produktion, der
Regulation und der Identität sind. Wegweisend waren bei der Entfaltung dieser
Perspektive die Arbeiten von Michel de Certeau und John Fiske, die eng mit-
einander verknüpft sind.55
In Kunst des Handelns zeigt de Certeau in Abgrenzung zu Bourdieus' Ana-
lysen,56 die das Eingebundensein in soziale Strukturen und die Reproduktion
bestehender sozialer Ungleichheiten ins Zentrum rücken, und zu Foucaults Mi-
krophysik der Macht, 57 in der die Kategorie des Widerstandes relativ unbe-
stimmt bleibt, die „Kombinationsmöglichkeiten von Handlungsweisen" auf, die
durch kreative Gebrauchsweisen, durch „kombinierende und verwertende Kon-
sumformen", durch Prozesse des „Wilderns" in den Konsumwelten und städte-
baulichen Umwelten der Gegenwart eine populäre Kultur hervorbringen, 58
welche in der Regel unsichtbar bleibt. Zentral für seine Analyse ist der taktische
Charakter vieler Alltagspraktiken. „Die Taktik hat nur den Ort des Anderen (...)
Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig (...) Sie
muss andauernd mit den Ereignissen spielen, um .günstige Gelegenheiten' dar-
aus zu machen".59 Im Lesen, im Unterhalten, im Kochen, im Spazierengehen, im
Fernsehkonsum entdeckt de Certeau listvolle Praktiken der Wiederaneignung
eines durch Machtstrategien und funktionalistische Rationalität organisierten Sy-
stems. Der „gemeine Mann" ist der „Held des Alltags",60 der durch seine Ope-
rationen bzw. Umgangsweisen Widerstand leistet. Dieser wird nicht durch den

55 Vgl. zum Folgenden auch Winter, Die Kunst des Eigensinns, S.198ff.
56 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frank-
furt/Main 1982.
57 Michel Foucault: Überwachen und Straf en. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main 1976.
Ders.: Mikrophysik der Macht. Berlin 1980.
58 Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 12f.
59 ebd., S. 23.
60 ebd., S. 9.
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 101

subversiven Inhalt oder die formalen Qualitäten von architektonischen A n o r d -


nungen oder (medialen) Texten hervorgebracht, sondern primär d u r c h eine
Kunst der Aneignung, die Räume und Texte in etwas Eigenes verwandelt. In tak-
tischen Streifzügen durch das Dickicht der Lebenswelt werden differente Verg-
nügen u n d Interessen verwirklicht. Auf diese Weise möchte de Certeau eine
F o r m der Kulturanalyse entwickeln, die der Pluralität und Heterogenität des
Alltagslebens gerecht wird. D e r utopische Charakter von de Certeaus Alltags-
konzept zeigt sich darin, dass sozialer und kultureller Wandel nicht als radikaler
Bruch konzipiert wird, sondern eine den sozialen Praktiken immanente P o t e n -
tialität darstellt. Deren Entfaltung hängt aber auch von der jeweiligen Konfigu-
ration der Machtverhältnisse ab. D e Certeaus Analyse der .Geographie des
Möglichen' möchte gerade auf die Spannung zwischen dem Tatsächlichen u n d
d e m Möglichen in den alltäglichen sozialen Praktiken hinweisen.
Inwiefern nun bietet der Potsdamer Platz diese Möglichkeiten? Wird er
durch alltägliche Praktiken zu einem populärkulturellen Erfahrungsraum? Vie-
les weist daraufhin, dass er von den Berliner Bürgern noch nicht einmal als
R a u m zur Entfaltung von Urbanität genutzt, sondern viel mehr sogar gemie-
den wird. 6 1 Er wird vor allem als eine „location" für Touristenströme betrach-
tet 6 2 , welche die d o r t inszenierte Stadt zwangsläufig wohl eher flüchtig
rezipieren und kaum die Zeit haben, den Potsdamer Platz sich lustvoll a n z u -
eignen. „Die Betreiber sprechen seit Ende 1998 konstant von statistisch 70000
Besuchern pro Tag, davon allein 100000 an den Wochenenden, vorwiegend Tou-
risten". 6 3 D e n mit dem M y t h o s des „einst lebhaftesten Platz" Europas v e r b u n -
denen O r t fehlt es offensichtlich an Authentizität, wie K o m m e n t a t o r e n im
Anschluss an de Certeaus Analysen feststellen, die eine Voraussetzung für p o -
puläres Vergnügen darstellt. Was der Platz anstatt dessen zu bieten scheint, ist
Inszeniertheit:

„Derartige Inszenierungen sind spätestens dann problematisch, wenn sie in ihrer


nostalgischen Vergessenheit eine andere Art von Authentizität an den Rand drän-
gen, nämlich die der Menschen, die mit den Orten einen sehr praktischen und per-
sönlichen Umgang gepflegt haben: eine alltägliche, situative Authentizität, die eher
flüchtig ist, bisweilen banal, und die sich nicht primär an Konsumbedürfnissen ori-
entiert. Dagegen generieren die Arkaden, Höfe und Passagen, die bei Investoren
so beliebt sind, eine besondere Form der Lesbarkeit: Indem sie sich dem Stadtbe-
nutzer als leicht verständlicher Parcours anbiedern, versuchen sie dessen Wege und
Handlungen berechenbar zu machen. Unter dem Gebot der Rentabilität wird der
Stadtraum zur Prognose seiner Benutzung durch die Menschen, also Kunden". 64

61 Vgl. Elke Wittich: „Leberkäs und Pepsi", in: Jungle World vom 8.3.2000. Vgl. ferner Kathrin
Gerlof, „Die Einsamkeit der angefangenen Sätze". In: Freitag vom 17.8.2001.
62 „Am Potsdamer Platz darf sich der Berliner selbst als Tourist fühlen", lautet der Text einer Wer-
bebeilage der Berliner Zeitung, die Sewing, „Herz, Kunstherz oder Themenpark?", S. 57 zitiert.
63 ebd., S. 50.
64 Tina Veihelmann, Tobia Hering: „Sehnsucht nach banalen Räumen", in: Freitag vom 18.5.2001.
102 UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

Auch wenn der Potsdamer Platz eher Ort des vorstrukturierten Konsums ist,
schließt dies allerdings in der Perspektive de Certeaus nicht aus, dass er trotz-
dem listig und kreativ gelesen und angeeignet werden kann. Die Artikulation
des Konsums mit der postfordistischen Ökonomie und der Privatisierung öf-
fentlicher Räume bietet hierfür aber nicht die besten Voraussetzungen und
schafft auch kaum Gelegenheiten abseits der Events, die vom am Platz ansässi-
gen Organisationen und Institutionen inszeniert werden.
Mit Blick auf die Arbeiten von John Fiske lässt sich dennoch auch unter den
genannten Einschränkungen eine Vorstellung von der Macht der Subordinier-
ten geben, die sich den Platz auf eigenständige Art aneignen.65 So beschreibt
er,66 wie die „Shopping mall" in unzählige Räume transformiert werden kann,
die zumindest temporär von den .Schwachen' kontrolliert werden. Konstruiert
zu Zwecken des Kommerzes, wird sie von den Konsumenten auch gemäß ihrer
eigenen Bedürfnissen genutzt. Ältere Menschen besuchen sie wegen deren Kli-
maanlagen oder machen dort ihren täglichen Spaziergang, jüngere verwandeln
sie in Treffpunkte des „hanging out", nutzen gratis die Computerspiele oder
kaufen Jeans, die sie anschließend an einigen Stellen zerreißen, um sie in Sym-
bole einer neuen Gemeinschaft zu verwandeln. Fiske führt noch weitere Bei-
spiele dafür an, dass es seiner Ansicht nach in der postmodernen Gesellschaft
keine Ordnung der Dinge gibt, die das Subjekt fest positioniert und soziale
Auseinandersetzungen determiniert. Die Strategien des Systems sind nicht
immer wirksamer und erfolgreicher als die Taktiken von „the people". Gleich-
zeitig weist Fiske67 daraufhin, dass die .Starken' verletzbar sind. Denn die
.Schwachen' entscheiden durch ihre taktischen Selektionen und Manöver dar-
über, welche Produkte kommerziell erfolgreich werden. Fiske konzipiert Sub-
jektivität in einem poststrukturalistischen Sinn als nomadische Gestalt, 68 die
sich geschmeidig und flexibel in den Alltagswelten der komplexen, sozial diffe-
renzierten Gesellschaften der Gegenwart bewegt, Allianzen je nach Problem-
lage und Situation eingeht, wechselt und neu knüpft.
Wir sollten uns darüber im klaren sein, dass wir es hier eher mit Idealvor-
stellungen zu tun haben, mit geglückten Formen des Widerstands, mit der Geo-
graphie des Möglichen im Sinne de Certeaus, auf die Cultural Studies trotz
gegenteiliger Zeichen immer hinweisen und diese daher auch als Möglichkeiten
ausweisen. Vieles weist daraufhin, dass Shopping Mails und somit auch der
Potsdamer Platz „sich ungezwungen in Besitz nehmen [lassen], weil sie einen
klar begrenzten Platz in der multifunktionalen Bedürfnisstruktur des Stadtbe-
nutzers haben. Es ist gar nicht schlimm, dass ihnen das .gewisse Etwas' fehlt.
Denn dadurch verweisen sie auf andere Orte der Stadt, die man dann aufsucht,

65 Vgl. Winter, Die Kunst des Eigensinns; und ferner Winter/Mikos (Hg.), Die Fabrikation des
Populären.
66 John Fiske: Lesarten des Populären. Wien 2000, S. 26-55.
67 Vgl. Winter/Mikos (Hg.), Die Fabrikation des Populären.
68 Lawrence Grossberg: „The in-difference of television", in: Screen 28 (1987), S. 28-45.
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 103

um gerade das zu finden".69 Um mehr Licht in diese Prozesse zu bringen, sind


jedoch empirische Untersuchungen erforderlich, wie sie neuerdings Ien Ang in
Sydney durchgeführt hat.70
Allerdings lassen die Dominanz von Dienstleistungsunternehmen, die hohen
Mieten bzw. Kaufpreise, die dazu führen, dass überwiegend Geschäftsleute tem-
porär dort wohnen,71 vermuten, dass sich gerade kein lebendiges, multikulturel-
les urbanes Viertel entwickelt. Eher ist ein Vergnügungs- und Ausflugsort primär
für Touristen entstanden, deren Praktiken gerade nicht Urbanität oder eine po-
puläre Kultur hervorbringen. An einem Ort, dessen Lebendigkeit durch Touri-
stenströme hervorgebracht wird, ergibt sich eine neue Form von Komplexität (im
Sinne von Koolhaas), die sich weniger durch die architektonische Gestalt, als
durch die Bewegungen von Menschen, charakterisieren lässt, so durch die Ge-
schwindigkeit, mit der sie die Räume durchqueren. Wenn dies stimmt, dann sind
diese Bewegungen einsamer Individualitäten - wie die auf Flughäfen und ande-
ren Nicht-Orten - wohl auch durch Indifferenz gekennzeichnet, die das Cha-
rakteristikum der heutigen Informationsgesellschaft ist.72 Zudem könnten das
Sony-Center oder der Büroturm von Daimler-Chrysler, der an amerikanische
Vorbilder aus den 30er Jahren anknüpft, auch in Chicago oder New York stehen.
Ähnliches gilt für große Teile der anderen Gebäude. Der Potsdamer Platz, der
insbesondere im Zuge der Fußballweltmeisterschaft massenmedial inszeniert eine
nationale Ganzheit suggerierte, lebt von Bildern und Oberflächen, die ihn so-
wohl zu einem austauschbaren Ort in der Weltökonomie machen als auch gleich-
zeitig Bedeutung vermitteln. Nicht nationale Einheiten oder Regierungen sind
entscheidend, sondern die „Flows" von Kapital, Waren, Technologien, Bildern,
Zeichen und Menschen.73
Erforderlich wäre aber auch eine „globalization from below", wie sie z.B.
von der in London entstandenen Bewegung „Reclaim the Streets", einer ge-
genkulturellen Koalition aus Ökoaktivisten, Ravern und New Age-Begeister-
ten, die auf karnevaleske Weise Party und Politik kombiniert, initiiert wurde. 74

69 Veihelmann, Hering, „Sehnsucht nach banalen Räumen".


70 Inhalt von Angs Studie „Youth, Interethnic Relations and Public space in Parramatta" - die auch
zu einem Fernsehbeitrag für die Serie „Hybrid Life" des australischen Sender SBS geführt hat - ist
die Freizeitgestaltung jugendlicher palästinensischer Migranten, die sich in der Shopping-Mall in
Parramatta, einem Wohnviertel Sydneys zu ihren täglichen Streifzügen treffen. Mode, Musik und
das Interesse an Sport und Filmen sind die Hauptinhalte ihrer Konversationen bzw. des „hanging
out". Die Kleidung dient ihnen als Symbol der Kennzeichnung von Gruppenzugehörigkeit, wobei
von den männlichen Jugendlichen die Sportmarke adidas und eben nicht Nike bevorzugt wird.
Ien Ang fasst die Projektintention auf einer Homepage (www.uws.edu.au/rcis/projects/) dahin-
gehend zusammen, daß die Forschungsarbeit: „[...] in focusing on youth interactions, recognises
the unique position that youth play in the cultural negotiation of ethnic diversity and interethnic
relations. Public space is frequently the site where this negouation is most manifest."
71 Gabriele Schambach: „Clean, Cool, Chic", in: Freitag vom 10.9.1999.
72 Scott Lash: Critique of Information. London u.a. 2002.
73 Arjun Appadurai: Modemity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis 1996.
74 Naomi Klein: No Logo! Sonthofen 2001. S. 321ff.
104 UDO GÖTTLICH/RAINER WINTER

Abb. 5: WM 2002-Übertragung im Sony-Center.

Erst diese Formen des Widerstandes, bei denen Feier, Tanz, Theater und Vergnü-
gen im Zentrum stehen, machen auf die Enteignung des öffentlichen Raumes
durch privates Kapital und deren Logos aufmerksam und können im Widerstand
gegen das globale Kapital eine kreative, lebendige und körperbetonte Populär-
kultur schaffen, wie sie im Zentrum der Cultural Studies-Kritik steht. (Abb. 5)

V. Ein- und Ausblicke in die globale Konsumkultur

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die neuen Mails und auch der Pots-
damer Platz, der als öffentlicher Raum inszeniert ist, aber unter privatwirt-
schaftlicher Kontrolle steht, eine neue Stufe der Konsumkultur und des
veränderten Alltags artikulieren, indem sich innerstädtische Zentren nicht nur
als Plätze für Dienstleistungen und öffentliche Dinge darbieten, sondern immer
mehr als Orte des Entertainment, der Unterhaltung präsentieren, die den Alltag
in vielfältigen Ebenen und Bahnungen zu durchdringen beginnen und unter
kontrollierten Bedingungen ablaufen. Unsere Analyse legt nahe, dass die sym-
bolische Einheit der Stadt am Potsdamer Platz auch primär durch Konsum und
Entertainment hergestellt wird. Hiermit wäre er Ausdruck der postfordistischen
STADTARCHITEKTUR, KONSUM UND MEDIEN 105

Phase des Kapitalismus, in der Konsum und Medien eine zentrale Bedeutung
gewonnen haben. Der (quasi-)öffentliche und zum Teil spielerische Charakter
des Potsdamer Platzes lädt ein zur Realisierung einer Konsum-Subjektivität, die
während ihres Aufenthalts eine temporäre und partielle Integration in das neue
Berlin erleben kann. Entscheidend ist, dass hier nicht eine Öffentlichkeit ent-
steht, die sich durch Versammlung, Diskurs und freiwillige Assoziation aus-
zeichnet, sondern eine Bühne für ein virtuelles Selbst geboten wird, das sich im
durch Phantasien und Wünsche aufgeladenen „window Shopping", in den Bil-
dern von Werbung und Kino, im neugierigen Umgang mit den neuesten Pro-
dukten der Unterhaltungsindustrie voyeuristisch erleben und bestätigen kann.
Insofern würde sich wie in (anderen) Shopping Mails am Potsdamer Platz ein
„glückliches Bewusstsein" realisieren, das sein verloren geglaubtes (nationales)
Selbst in der Verführung durch Konsum und Medien wiedergefunden hat. Der
Potsdamer Platz verspricht eine symbolische Integration durch die Teilhabe an
den Konsum- und Medienwelten der Postmoderne. Erst wenn die nationale
Blickrichtung verlassen wird, lassen sich auch populäre Praktiken erahnen, die
in den Machtverhältnissen des globalen Zeitalters Widerstand artikulieren kön-
nen, der auf Demokratisierung von Lebensverhältnissen und eine Rückgewin-
nung des öffentlichen Raums zielt.
CHRISTINE R E S C H / H E I N Z STEINERT

Die Widersprüche von Herrschaftsdarstellung -


Bescheidenes Grosstun als Kompromiss.
Der Potsdamer Platz aus der Perspektive
der Kritischen Theorie

Lassen Sie uns mit einer methodischen Vor-Bemerkung beginnen: Das sozial-
wissenschaftliche Reden über den Potsdamer Platz, das wir hier betreiben, ist
praktisch und stadtplanerisch irrelevant. Es findet außerhalb der Diskussionen
statt, die Folgen für die Gestaltung der Stadt haben. Die Soziologie ist allenfalls
dann ein relevanter Gesprächspartner, wenn Sozialbauten entstehen und Soziale
Probleme zu erwarten und zu managen sind. Wenn es um Herrschaftsarchitek-
tur geht, bleibt sie ungefragt. Hier entscheiden die, die über „echtes Geld" und
über „echte Macht" verfügen.
Weil sozialwissenschaftliche Analysen keine nennenswerte praktische Re-
levanz haben, entsteht aber auch die Möglichkeit zur Reflexivität. In der ent-
lasteten Position, in der wir uns befinden, entsteht die Möglichkeit zu verste-
hen, entsteht die Möglichkeit, nach den Bedingungen und Voraussetzungen zu
suchen, die den Potsdamer Platz in dieser Form möglich gemacht haben. Das
ist nicht ganz leicht. Das ist deshalb nicht ganz leicht, weil Sozialwissen-
schaftler mit dem für die Öffentlichkeit bestimmten Wissen arbeiten müssen.
An wichtigen Informationen partizipieren nur die beteiligten Akteure, So-
zialwissenschaftler werden da ferngehalten. Journalistische Recherchen, In-
teressen-Konflikte der Akteure und auftretende Widersprüche machen andere
Perspektiven als die der ganz offiziellen PR-Arbeit aber zumindest ansatz-
weise zugänglich.
Am Potsdamer Platz wird uns Herrschafts-Selbstdarstellung vorgeführt - als
Aneignung eines Stadtzentrums durch mächtige Wirtschaftskonzerne und in
Form von Überwältigungs-Architektur. Die Diskussionen über die neuen Bau-
ten in Berlin sind dagegen vom Bemühen geprägt, überall Demokratie zu sehen.
Die schon im Ausschreibungstext genannte Vorgabe, eine „kritische Rekon-
struktion der Geschichte" solle da entstehen, wird auch in den Pracht-Bild-
bänden noch verwendet, mit denen man, immerhin ein Jahrzehnt später, das
abgeschlossene Projekt auch den Nicht-Berlinern nahe bringt.'

1 Schon kurze Zeit nach der Eröffnung ist der Potsdamer Platz dann aber kein Thema mehr. Für
die kulturindustrielle Öffentlichkeit kommen sozialwissenschaftliche Analysen zu spät. Zu spät
kam auch die 6stündige (!) Dokumentation Die Legende vom Potsdamer Platz. Der am 30.12.02
auf 3Sat zu nachtschlafender Zeit (zwischen 23 und 5 Uhr) ausgestrahlte und weitgehend vom
108 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

Die Wiedervereinigung und die Entscheidung, Berlin zur Hauptstadt zu ma-


chen, haben die Aufmerksamkeit der europäischen Länder und der USA auch
auf das Hauptstadt-Zfoaprojekt gelenkt. Die artikulierte Furcht vor einem
neuen Groß-Deutschland wurde mit Solidaritätsbekundungen beantwortet.
Auf der politischen Bühne dominiert die politisch korrekte Diskussion, wenn
von Berlin die Rede ist. Dass bei der Bebauung „Geschichte kritisch rekon-
struiert" werden solle, ist Teil davon. Zu sehen ist sie aber nicht so einfach, die
kritische Rekonstruktion, zumindest nicht am Potsdamer Platz. Die Diskre-
panz zwischen Hör- und Sichtbarem ist beachtlich. Beim Machen dominiert
Angeberei, beim Reden herrscht Bescheidenheit vor.
Das Reden über Architektur - von Expertenkritiken vielleicht abgesehen -
lässt sich am ehesten mit dem Reden über Musik vergleichen. Beiden Formen
der Kulturkritik stellt sich die Aufgabe, den Gegenstand zu versprachlichen.
(Das Reden über Filme fällt leichter, weil die Textebene dominant gemacht wer-
den kann. Romane werden oft nur inhaltlich nacherzählt. Und auch Malerei
wird nicht selten auf reine Bildbeschreibungen verkürzt.) Architektur- und
Musik-Kritiken sind häufig von „subjektiven Eindrücken" geprägt und an der
Sache kaum überprüfbar. Das macht es leicht möglich, dass Machen und Reden
auseinanderfallen.
Im ersten Abschnitt wird an die Theorie der Kulturindustrie knapp und für
diesen Kontext zugespitzt erinnert. Mit der Interpretation der Architektur am
Potsdamer Platz und der Analyse des Redens über sie wird dann die zentrale
These genauer ausgeführt: Die herrschende Klasse in Deutschland baut monu-
mental und redet bescheiden. Sie hat auch hierzulande ihre Scham verloren, lässt
sich aber von den internationalen Konkurrenten „klein" halten, für die man zu-
gleich „groß" tut. Das „neue Berlin" ist ein Kompromiss: bescheidenes Groß-
tun. Zum politisch korrekten Reden gehört auch die „Goldenen Zwanziger
Jahre"-Industrie, die derzeit wiederbelebt wird und die uns in einem ausführ-
lichen Exkurs beschäftigt. Abschließend wird zu fragen sein, was uns die tou-
ristische Haltung lehrt, die uns von zeitgenössischer Architektur zugedacht
wird und die wir bereitwillig einnehmen.

Regisseur Manfred Wilhelms selbst finanzierte Film, der zwischen 1995 und 2000 gedreht wurde,
hat drei Teile und hätte durchaus in konsumierbaren Einheiten gesendet werden können. Wenn
aber das Thema erledigt ist, bleibt nur das Nachtprogramm auf einem Kunstsender. Die auto-
nome, von Verkaufszwängen entlastete Produktion garantiert freilich noch keine Reflexivität. Die
Länge kommt auch durch ein spezifisches Verständnis, was dokumentarisch sei, zustande: immer
wieder Sequenzen, in der Real- und Filmzeit identisch sind. Zugleich wird aber mit hochartifizi-
eller Montage gearbeitet: Es entsteht ein impressionistischer Bilderbogen aus historischen Fotos,
Sonnenuntergängen und sonst nächtlichen Lichtspielen, ästhetisierter Baustelle, Ornamenten, die
durch den Massenverkehr entstehen uswusf. In der Langzeitbeobachtung wurden verschiedene
subjektive Eindrücke und Erzählungen festgehalten. Der Film führt Faszination (und Ausdauer)
vor, wird aber nicht als Erkenntnis-Medium verstanden.
DIE WIDERSPRÜCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 109

I. Kulturindustrie: her- und dargestellte Herrschaft


Die ersten Beispiele, die in dem Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der
Aufklärung2 verwendet werden, sind die „neuen Monumentalbauten" der
„staatenumspannenden Konzerne", die „düsteren Wohn- und Geschäftshäu-
ser der trostlosen Städte", die „Betonzentren" und die „neuen Bungalows
am Stadtrand", die „hygienischen Kleinwohnungen" für die Individuen und
die „Wohnzellen" in ihren „wohlorganisierten Komplexen". Architektur ist
Kulturindustrie: Sie definiert, was ein Mensch ist und welche Rechte er hat -
und sie tut das in einer sehr materiellen Weise. Gleich am Beginn des Kul-
turindustrie-Textes werden uns auch die beiden Seiten dieser Definition, was
ein Mensch ist und was ihm zusteht, vorgeführt: Architektur ist die Darstel-
lung von Herrschaft in den Zentren der Verwaltung und in der Organisa-
tion des Lebens der Verwalteten. Beides ist eine Angelegenheit von hohem
Ernst. An Architektur ist nichts lustig und unterhaltsam - außer vielleicht
in den Pavillons der Weltausstellung (in dem Buch geht es um die in Paris
1937), die zur Verherrlichung des technischen Fortschritts gebaut wurden -
und das schließt ihre leichte Entfernbarkeit, nachdem sie ihren Zweck erfüllt
haben, mit ein.
Es hat in der Architektur nie wie in der Musik eine starke Unterscheidung
zwischen „ernster" und „unterhaltender" Architektur gegeben. Was in der Li-
teratur und der Musik seit dem 19. Jahrhundert so wichtig gemacht wurde -
einen gehobenen Bereich der Kunst von den Niederungen der Unterhaltung zu
unterscheiden - wurde in der Architektur nie bedeutsam. Es gibt wohl teure
und billige Bauten, raffinierte und langweilig einförmige, aber die Gegenüber-
stellung von „ernster" und „unterhaltender" Architektur gab es herkömmlich
nicht. Es ist leicht zu sehen, warum das so ist: Architektur hatte immer die Auf-
gabe, die zeitgenössische Form der Herrschaft darzustellen. Und Herrschaft ist
eine ernste Angelegenheit: Es steht uns nicht zu, von ihr amüsiert zu sein. Viel-
mehr sollen wir beeindruckt, bescheiden und klein gemacht werden - oder wir
sollen in einen funktionalen Rahmen gebracht werden, der uns zu Brauchbar-
keit und zumindest Unauffälligkeit zwingt.
Mit der „Postmoderne" hat sich das geändert. Neuerdings zielt Architek-
tur darauf, uns zu amüsieren und „Erlebnisse", „Inszenierungen" und „be-
sondere Erfahrungen" zu vermitteln. Besonders offensichtlich ist das in
den Vergnügungsparks und Einkaufszentren - den wichtigen neuen Aufga-
ben für Architektur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einkaufs-
zentren und Vergnügungsparks sind sorgfältig konstruierte Umwelten für
„Einkaufserlebnisse" und entspannte „Unterhaltung"; ganze Innenstädte

2 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.


Amsterdam 1947. (Zitiert nach Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 5. Frankfurt
1987.)
110 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

Abb. 1: Daniel H. Burnham,


Flatiron Building, 1902.

werden einerseits nach dem Modell von Einkaufszentren umgestaltet, ver-


sprechen aber andererseits eine „Erfahrung von Urbanität" (das im Kontrast
zu den Einkaufszentren, deren durchgestaltete Gleichförmigkeit und gut
bewachte Sicherheit als steril verschrieen wird, um per Produktdifferenzie-
rung mit ihnen konkurrieren zu können). Vergnügungsparks, die von Disney
genauso wie die Imitationen dieses Verkaufsschlagers, sind unterhaltend
und bildend - und wiederum sicher und hygienisch. Wir kaufen unsere Auf-
regungen mit einer Versicherung: Sie sind garantiert harmlos und vorherseh-
bar; sie sind nicht zwischenmenschlich, sondern bloße Simulationen; sie
fordern uns nur als Zuschauer, als Publikum, Teilnehmer sind wir nur an der
Kasse.
Das ist es genau, was am Potsdamer Platz geschieht: Die bekannte Mischung
aus Verwaltung/ Wohnen/ Rummel/ Einkauf organisiert sich nach der Kon-
troll-Phantasie von einer Innenstadt, in der alles geordnet ist.
Was noch überraschender ist: Auch die Herrschaftsarchitektur hat ihren
Ernst verloren. Gebäude, die die Kapitalmacht darstellen, also Verwaltungs-
zentren und Bankentürme, aber auch die baulichen Darstellungen des Staates
sind amüsant geworden. Natürlich sind sie immer noch auffällig grandios und
anspruchsvoll, sie bringen uns in eine Position, in der wir zu ihnen aufblicken
müssen - aber sie haben auch diese Spiegelfassaden, die uns blenden und in
denen wir den Himmel sehen können, sie haben diese unpassenden Kronen an
der Spitze, sie tragen verspielte Nischen und Säulen, scharfe Kanten und glän-
zende Materialien.
DIE WIDERSPRÜCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 111

Das ist nicht die Herrschaft, die wir kennen. Die Regierungsgebäude (und
die Gefängnisse3) und neuerdings auch die Gebäude des Kapitals stellen eine
Herrschaft dar, die von den Imperativen der Kulturindustrie geprägt ist. Ein un-
persönliches, ortloses Kapital materialisiert sich in Verwaltungsgebäuden, die
durch sensationelle Gestaltungen zur Attraktion werden. Die Verwaltungs-
tempel werden in ein Tourismus-Zentrum eingebaut. Dem Betrachter wird
nicht Respekt abverlangt, indem man ihn per Bannmeile auf Distanz hält. Viel-
mehr ist er als Bewunderer eingeplant. Darauf wird zurückzukommen sein.

II. Hauptstadtbau in Deutschland


Städteplanung handelt immer davon, wem die Stadt gehört. Für solche Aneig-
nung haben verschiedene soziale Positionen verschiedene Möglichkeiten. Wenn
öffentliche Orte oder gar ganze Städte in Besitz genommen werden, fällt uns das
dann auf, wenn es lautstark geschieht. Es sind die Fußball-Fans, die Samstags
grölend durch die Straßen ziehen und die Strecke vom Bahnhof zum Stadion bei-
nahe unpassierbar machen, die uns stören. Dass die Yuppies Innenstädte völlig
selbstverständlich in Besitz genommen haben, fällt schon weniger auf- wenn
uns auch „ihre" Sekt-Feste gelegentlich nerven, weil sie uns beim geordneten
Einkauf behindern. Die nachhaltige Aneignung von öffentlichem Raum durch
private Investoren und in Form von Herrschaftsarchitektur nehmen wir dage-
gen nur noch stillschweigend und nur gelegentlich zur Kenntnis, wenn sie ge-
baut wird und wenn wir auf touristische Erlebnisse aus sind.

Entmachtung der Stadtplaner

Politische und wirtschaftliche Herrschaft manifestiert sich durch die Besetzung


des öffentlichen Raums mit Gebäuden. Der Potsdamer Platz ist deshalb ein in-
teressantes Beispiel, weil eine ganze Innenstadt gebaut wird, und er ist ein in-
teressantes Beispiel, weil die Stadt vor der Wirtschaft kapituliert hat. Über die
Selbst-Entmachtung der Stadtplaner braucht man sich freilich nicht mehr zu
echauffieren. Das ist vielfach geschehen: „Potsdaimler Platz" ist das prägnante-
ste Schlagwort dafür.
Am Frankfurter Projekt, den Güterbahnhof / das Messegelände zu bebauen,
wurde ersichtlich, worum es bei solchen Skandalisierungen geht. Es gibt eine
Schadenfreude, wenn die Reichen ihre Interessen nicht durchsetzen können.
Die Stadt hat ihren Entwurf gegen den der Deutschen Bank durchgesetzt. In

3 Vgl. dazu genauer Heinz Steinert: „Kulturindustrie: E-U-Kultur und das autonome Publikum",
in: Zeitschrift für kritische Theorie 10 (2000), S. 73-87. Der gesamte Abschnitt ist - leicht gekürzt
- diesem Aufsatz entnommen.
112 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

einem solchem Fall schlägt man sich schon einmal auf die Seite der Politiker, die
man ansonsten auch nicht besonders wertschätzt. Was aber ist der Effekt für die
Bürgerinnen und Bürger? Zunächst handelt es sich um ein riskantes Unterneh-
men. Das Mitspracherecht der Konzerne ist begrenzt, die als Investoren ge-
braucht werden und in Frankfurt (zu einem nicht geringfügigen Teil) auch noch
gefunden werden müssen. Entscheidender aber ist, dass es zwischen Politik und
Wirtschaft ein immer schon vorausgesetztes Bündnis, einen Konsens darüber
gibt, wie diese Städte in den Städten zu konzipieren seien: die allen bekannte
Mischung aus Verwaltung/ Wohnen/ Einkauf/ Rummel mit der dazugehörigen
Verkehrsplanung.
Wenn die Stadt einen höheren Anteil an Wohnen einfordert, wie es am
Potsdamer Platz geschehen ist, kommt ihr die Wirtschaft gerne entgegen. Sie
beschwert sich aber auch lauthals, wenn die Verkehrsanbindung nicht mit öf-
fentlichen Geldern finanziert wird, und übernimmt dann doch selbst und bereit-
willig die Kosten4: „peanuts" zum Wohl des Großen und Ganzen - und zum ei-
genen und eine Gelegenheit, ganz nebenbei zu zeigen, wer wirklich überlegen ist.
Dass die „Demokratie als Bauherr" durchaus eine wichtige Rolle spielt, wird
von den Empörern gerne übersehen. Der „Ausverkauf" des Potsdamer Platzes
setzt nämlich Berlin als Hauptstadt voraus. Die Hauptstadt-Entscheidung war
ein Angebot an das unter Bedingungen der Globalisierung ortsungebundene
Kapital, am Standort Deutschland festzuhalten. Mercedes gehört nicht länger
nach Stuttgart (auch wenn der Stammsitz dort verblieben ist) wie BMW nach
München, Daimler-Chrysler gehört nach New York und jetzt auch nach Ber-
lin, gehört Deutschland. Flughafen-Ausbau, die Abwanderung von Messen und
die D G Bank von Frank O. Gehry am Pariser Platz unterlaufen Frankfurts
Selbstbild der „heimlichen Hauptstadt" - diese Selbstherrlichkeit endet mit
Bonn. Köln wird die Repräsentanz der Kultur auf internationalem Boden ent-
zogen: Berlin soll auch Kulturhauptstadt werden. Nur Hamburg als alte Bür-
ger- (im Gegensatz zu den Feudal-Städten München und Berlin) und als
Hafenstadt kommt einigermaßen ungeschoren davon. Hauptstadtbau in
Deutschland bedeutet faktisch die Verabschiedung vom föderalistischen Prin-
zip, auch wenn die politische Klasse bemüht ist, das Gegenteil zu behaupten. 5

4 Zu diesem Affront gegen die Stadt vgl. die Selbstdarstellung des Konzerns in: DaimlerChrysler
GmbH (Hg.): Projekt Potsdamer Platz 1989-2000. Berlin 2001. In der Chronologie heißt es dort:
„Nach langen Diskussionen sah sich dIM (Daimler-Benz Inter-Services Immobilienmanagement
GmbH) gezwungen, den Bau des Regionalbahnhofes in eigener Regie zu übernehmen. Nur so
konnte man die Termine und damit die rechtzeitige Fertigstellung des Regionalbahnhofes
steuern und die Erreichbarkeit des Areals für den Zeitpunkt der geplanten Inbetriebnahme des
Projekts 1998 sichern." (S. 140)
5 Vgl. dazu die Selbstdarstellung der Politiker in: Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen (Hg.): Demokratie als Bauherr. Die Bauten des Bundes in Berlin 1991-2000. Ham-
burg 2000. Dort schreibt Manfred Rettig: „Immerhin konnte Berlin mit seiner städtebaulichen
Leitlinie der .Kritischen Rekonstruktion' klare Akzente in der Stadtplanung setzen. Der städ-
tebauliche Einfluss des Bundes hielt sich schon aus föderalen Gründen in Grenzen. Ausnahmen
bildeten allerdings die Bereiche Spreebogen und Spreeinsel." (S. 15)
DIE WIDERSPRUCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 113

Abb. 2: Ludwig Mies van der Rohe,


Hochhausprojekt am Bahnhof
Friedrichstraße, 1921/22.

In Berlin und besonders am Potsdamer Platz wird nicht nur Föderalismus ab-
gebaut, es wird auch der Slogan der Wiedervereinigung realisiert: „Es soll zu-
sammenwachsen, was zusammen gehört." Neben Spreebogen (Kanzleramt) und
Reichstag gibt es keinen geeigneteren Ort als Potsdamer und Leipziger Platz, um
das zu versinnbildlichen. Dass die „staatenumspannenden Konzerne" das betrei-
ben, überrascht nur Leute, die sie unterschätzt haben, die in der Wiedervereini-
gung, in Berlin, eine Chance gesehen haben, selbst an die Macht zu kommen.
Die Wirtschaft konnte am Potsdamer Platz fortsetzen, was politisch schon
entschieden war: Abbau des Föderalismus und Konkurrenz mit den bedeuten-
den zentralistischen Hauptstädten Europas - Paris und London. Selbst die
„größte Baustelle der Welt" wird unter diesen Bedingungen vermarktbar und
zur geeigneten Metapher für den Anspruch, Weltstadt zu sein. Mitterand hat
sich in Paris mit dem Umbau des Louvre als Monarch mit einem neo-absoluti-
stischem Denkmal unsterblich gemacht. Die Achse der drei Triumphbogen von
Tuilerien-Park über den Are de Triomphe bis zu seiner Vergrößerung im „Tor-
haus", dem „Grande Arche" in La Defense, den Mitterand zur Revolutionsfeier
im Jahr 1989 eingeweiht hat, sind die gegenwärtige Reminiszenz an die Monar-
chie. Thatcher und jetzt Blair setzen der endgültigen Zerstörung der Arbeiter-
kultur ein Denkmal: In den Docklands soll das internationale Finanzkapital
siedeln. Es ist eine veredelte Industrie-Brache, Ausdruck einer „leistungsstar-
ken Dienstleistungsgesellschaft". Auch hier wurde damit geworben, wie schön
Mega-Baustellen sind. In Berlin „tanzten die Kräne" freilich in der Innenstadt,
gebaut wird das Stadtpalais des 21. Jahrhunderts.
114 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

Re-Feudalisierung und Populismus

Im Vergleich zu den Feudalherren, die „das Volk" mit ihrer Architektur beein-
druckt und auf Distanz gehalten haben, aber auch/är das Volk Feste veranstaltet
haben, wird das zeitgenössische Stadtpalais in eine touristische Attraktion einge-
baut. Es ist die Permanenz des Festes, die hier stattfindet. Wenn Wirtschaftsbosse
als Fürsten auftreten, gilt es auch, Warenförmigkeit als Herrschaftsprinzip zu de-
monstrieren: „Das Volk" bekommt nichts spendiert, vielmehr muss es zahlen. Es
geht um die Verfügung über Freizeit und Konsumkraft. Im Gegensatz zum feuda-
len hält das zeitgenössische Stadtpalais der Herrschenden die Untertanen nicht auf
Distanz, es bietet ihnen vielmehr Logenplätze an: Sie sollen sich einen Sitzplatz
im Kaffeehaus kaufen und sich von der Fassade in Ruhe beeindrucken lassen.
Gegenüber der Selbstdarstellung von Bürgerlichkeit ist neu, dass Überwäl-
tigungs-Architektur und damit Reichtum schamlos zur Schau gestellt wird. Die
bürgerliche Villa wurde hinter einem „blickdichten" Zaun und großen Garten
versteckt. Man schätzte den Vorteil der zurückgezogenen Lebensweise und ver-
zichtete klugerweise darauf, Neid zu provozieren. Man war sich der „sozialen
Frage" bewusst, bearbeitete sie durch Wohltätigkeit - privater Art und mit der
Erfindung der Sozialversicherung dann auch staatlicherseits. Das bürgerliche
Modell ist geprägt von der Angst vor Revolutionen und bestrebt, durch politi-
sche Reformen Aufstände zu vermeiden.
Die gegenwärtige Rückkehr zu feudalen Prinzipien passt dagegen in eine Si-
tuation, in der Populismus als Politik/orm dominiert Populismus ist Identitäts-
im Gegensatz zu Interessenpolitik. Sie ist Organisation nach Köpfen (Volkspar-
tei) statt nach Interessen (Arbeiterpartei). Und Populismus ist kulturindustrielle
Politik: Sie muss nicht nur gemacht, sie muss dargestellt werden: „Die Darstel-
lung des Politikers als Interessenvertreter ist aber unspektakulär, auf Solidität,
Verlässlichkeit, Klugheit und Gelassenheit gerichtet - etwa so wie die eines guten
Vermögensverwalters oder Anwalts.... Die dem entgegengesetzte Form von Po-
litikdarstellung ist die Demonstration von persönlicher Macht, wie das der Adel
und die Monarchie durch spektakuläre Prachtentfaltung tat (wie es manche Re-
ligionen bis heute tun). ... Man identifiziert sich mit einer großartigen Person,
während man die Vertretung seiner Interessen lieber einer seriösen Person anver-
traut. Populismus kehrt damit in Aspekten zu vordemokratischen Formen der
Politikdarstellung zurück: Der Monarch - wie übrigens der Diktator - bean-
sprucht, den Staat, das Gemeinwesen zu repräsentieren und verlangt vom Volk,
dass es sich mit ihm in dieser Funktion identifiziert. Das tut der populistische Po-
litiker in abgeschwächter Form ebenfalls."6
Wenn man diese Analyse auf Hauptstadtbau in Deutschland und die Selbst-
darstellungen anderer Herrschaftsfraktionen (wie die Wirtschaft) bezieht, wird

6 Heinz Steinen: „Kulturindustrielle Politik mit dem Großen & Ganzen: Populismus, Politik-
Darsteller, ihr Publikum und seine Mobilisierung", in: Internationale Politik und Gesellschaft
4 (1999), S. 402-413, hier S. 405f.
DIE WIDERSPRÜCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 115

der Prunk verständlich. Hier wird eine großartige Nation gemacht, mit der sich
„das Volk" identifizieren soll. Die herrschende Klasse bezieht die Untertanen
ein. Dazu passt das monumentale Kanzleramt, das vorführt, wo die Macht im
Lande sein soll.7 Der dazugehörige Kanzlergarten lässt keinen Zweifel, dass es
hier um neo-feudale Selbstdarstellung geht: Es ist ein Schlosspark. Hier wird
„das Volk" auf Distanz gehalten. Der Kanzler will seine öffentliche Inszenie-
rung selbst kontrollieren und setzt sich klugerweise keinen unvorgesehenen und
ungeschützten Zugriffen von Journalisten und sonstigen Besuchern aus. Ein-
mal im Jahr aber darf „das Volk" die „heiligen Hallen" besichtigen. Hier wird
Hof gehalten: „Einladung zum Staatsbesuch. Bundesregierung in Berlin öffnet
ihre Türen für die Bürgerinnen und Bürger", heißt es dann.
Gleich neben dieser Demonstration von persönlicher Macht wird der Reichs-
tag und Sitz des Bundestages in ein touristisches Ereignis eingebaut. Der Blick
auf die Abgeordneten wird zwar zum knappen Gut - die Touristen stehen
Schlange, um die von ihnen gewählten Repräsentanten von der Kuppel aus zu
betrachten -, aber auch zur öffentlichen Show gemacht. Mit dem Umbau des
Reichtags wurde der Souverän zum Teil des Politik-Spektakels. Er darf jetzt
„live" und „von oben" zuschauen, wie über ihn geredet wird. Er ist erhaben
und überlegen - solange er Tourist ist, einen Moment lang, auf den er lange ge-
wartet hat.
Was am Potsdamer Platz gebaut wird, ist eine andere Version einer Kult-
stätte. Hier entsteht kein Stadtteil, in dem gelebt wird. Rudi Thiessen formu-
liert für die nationalsozialistische Architektur, „dass dort, wo der Kult sich Platz
schafft, eben keine Stadt mehr ist". 8 In zeitgenössischen Kultstätten geht es
darum, das kapitalistische Ritual der ökonomischen Prosperität darzustellen
und zu zelebrieren. Auch die Besucher dürfen sich wohlhabend fühlen und
können das auch, weil alle anderen ohnehin ferngehalten werden. Die Formel
vom „Kunden als König", von der jeder weiß, dass sie dazu dient, den Leuten
das Geld aus der Tasche zu ziehen, ermöglicht es freilich zugleich, sich aufzu-
spielen, den „Herrenmenschen" zu mimen.

Die Architektur einzelner Gebäude und insgesamt: eine Leistungsschau

Das Festhalten an der Traufhöhe (auch wenn sie am Potsdamer Platz nicht
streng reglementiert war), die funktional völlig überholt ist, hat es in Berlin ver-
hindert, dass die Konkurrenz mit anderen Städten ausgetragen wird, indem man
die Höhe der Gebäude zum relevanten Kriterium macht. Die New Yorker Sky-

7 Vgl. dazu genauer Christine Resch: „.Dem deutschen Volk Staat zeigen': Das Bundeskanzler-
amt und die Instrumentalisierung der Nazi-Zeit", in: Oliver Brüchert/Christine Resch (Hg.),
Zwischen Herrschaft und Befreiung. Politische, kulturelle und wissenschaftliche Strategien.
schrift zum 60. Geburtstag von Heinz Steinen, Münster 2002, S. 285-297.
8 Rudi Thiessen: Stadt und Meer. Berlin 2000, S. 48.
116 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

Abb. 3a: Renzo Piano/Christian


Kohlbecker, Bürohochhaus am
Potsdamer Platz, 1994.

line sieht aber gerade durch die Höhe und die Verzierungen der historischen
Hochhäuser filigran und freundlich aus. Die niedrige und breite Bauweise am
Potsdamer Platz macht die Gebäude dagegen massig und drückend, klotzig und
herrschaftlich. Einige Beschreibungen mögen das vergegenwärtigen.
Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist der „Kollhoff-Tower", den Mercedes
großspurig „Chicago in Berlin" nennt. Die Verwendung von rotem Klinker bei
der Fassadengestaltung erinnert an handwerkliche Bauweise und macht das Ge-
bäude schwer und kompakt, unverwüstlich. Trotz der Höhe des stufenförmig
angelegten Gebäudes wächst es nicht in den Himmel, sondern drückt nach
unten. Mit der monumentalen Form und der massiven Fassade hebt es sich
deutlich von allen anderen Gebäuden ab. Kollhoff arbeitet mit einer „veralte-
ten" Ästhetik und setzt damit einen markanten Punkt, der sich nicht in das Ge-
samt-Ensemble einfügt.
Das spitzwinkelige Bürohochhaus von Renzo Piano, das - vom Potsdamer
Bahnhof kommend - gemeinsam mit dem „Kollhoff-Tower" den ersten Zugang
zum Platz rahmt, steht im Kontrast dazu. Die durchsichtige Glasfassade macht
es transparent, leicht und schwebend. Das wird noch dadurch unterstützt, dass
die unteren Stockwerke zurückversetzt sind: Das Gebäude wird von Säulen ge-
tragen. Erst im hinteren Teil wird es flach und breit. Es nimmt die Traufhöhe
des in die Fassade integrierten „Haus Huth" auf. In diesem Teil wird auch das
Glas durch Terrakotta-Fassaden ersetzt: Das macht das Gebäude „schwerer"
DIE WIDERSPRÜCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 117

Abb. 3b: Renzo Piano/Christian


Kohlbecker, Bürohochhaus am
Potsdamer Platz, 1994.

und stellt damit auch optisch ein „Gleichgewicht" her. Das Gebäude kann nicht
auf die Spitze fallen.
Am anderen Ende des Potsdamer Platzes befindet sich das debis-Haus
(Renzo Piano). Zusammen mit dem Hotel Hyatt (Jose Rafael Moneo) und der
Zentrale der Berliner Volksbank (Arata Isozaki) bilden sie ein Gegengewicht zu
den beiden Hochhäusern. Diese drei Gebäude kennzeichnet eine horizontale
Bauweise und die glatte, unspektakuläre Fassade - in verschiedenen Terrakotta-
Tönen: hell, fast gelb das debis-Haus, rot das Hotel, hell- und dunkelbraun die
Bank. Diese Art von Gebäuden ist uns vertraut: Es sind Verwaltungszentren
von Großkonzernen (und Hotels), die so aussehen - hier nur leicht (post)mo-
dernisiert: beim debis-Haus, indem das Erdgeschoss zurückversetzt ist und auf
Rundpfeilern ruht, bei der Bank, die einen tunnelartigen Durchbruch aufweist,
der mit Bambus begrünt ist und Durchblick gewährt, das Hotel mit dem auf-
fallenden und einladenden Eingangsbereich, aber hier wäre „Schwellenangst"
auch nicht angebracht. Es sind die Materialien, die untypisch und auffallend
sind. Aber schon die langgezogenen und nur durch Fenster aufgelockerten Fas-
saden sind uns bekannt: Verwaltungen haben diese abweisenden Fronten und
erfordern lange Fußmärsche, um den richtigen Eingang zu finden. Dass sie
118 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

trotzdem nicht besonders monumental wirken, hat mit der dichten Bebauung
zu tun. Nie steht man einem ganzen Gebäude gegenüber, immer sind es nur
kleine Ausschnitte. Mit etwas Distanz (etwa von der Berliner Stadtbahn aus ge-
sehen) und auf den kunstvollen Fotos im Bildband, den Mercedes herausgege-
ben hat, kommen die Gebäude und der gesamte Platz erst richtig zur Geltung:
Alles wird großartig und beeindruckend.
Der Beschreibung einzelner Gebäude genug. Einige fehlen: das Musical-
Theater und Kasino etwa, das den Platz abschließt. Man könnte auch die klei-
nen Büro- und Wohnhäuser genau beschreiben. Man würde es nur tun, wenn
man Pläne und Fotos in Architektur-Bildbänden zur Verfügung hat. Bei einem
Spaziergang am Potsdamer Platz dagegen verschwimmen die Häuser ineinan-
der. Es variieren Farben, Materialen und Bauweisen, aber ganz häufig sind es
Gebäude-Komplexe, die man betrachtet und die nicht scharf voneinander ab-
gegrenzt sind. Das trifft auch auf das Sony-Center zu, das nach dem Entwurf
von Helmut Jahn gebaut wurde.
Es sind nicht die einzelnen Gebäude, die es charakterisieren. Vielmehr ist es
das ovale Dach, das einen großen Platz überspannt, um den sich die Häuser
gruppieren. Dieser Platz bildet das Zentrum des Gebäude-Komplexes. Der
Büroturm (Verwaltungs-Sitz der DB) direkt am Potsdamer Bahnhof zieht
durch die Höhe und die kreisförmige Rundung die Aufmerksamkeit auf sich.
Wenn man von da aus einen Spaziergang unternimmt, bleiben die vielen Zu-
gänge zum Platz am stärksten in Erinnerung, die eine magische Anziehungs-
kraft ausüben. (Abb. 4) Fast ungewollt betritt man immer wieder den Platz und
schaut nach oben. Unter dem überdachten Platz des Sony-Centers fühlt man
sich zugleich außerhalb und innerhalb des Gebäude-Komplexes. Die vielen Ein-
und Ausgänge gewähren Blicke nach draußen und auf den freien Himmel.
Durch Glasfassaden kann man von außen ins Innere von Gebäuden schauen
und wird wohl auch von denen, die drinnen sind und gelegentlich auf die fran-
zösischen Balkone treten, als draußen wahrgenommen uswusf.
Das Changieren zwischen Innen und Außen ist insgesamt eines der zentralen
Gestaltungsmomente am Potsdamer Platz: transparente Glasfassaden, wie wir
es vom Centre Pompidou in Paris kennen, die die Besucher des Museums zu
Ausstellungsobjekten machen; (wellenförmige) verspiegelte Glasflächen, die die
Umwelt ins Gebäude hineinziehen; zurückversetzte Erdgeschosse; Balkone im
Inneren des Musical-Theaters, von denen man in die Eingangshalle schauen
kann; auch die Arkaden mit den Lokalitäten im ersten Stock, die einen Blick auf
die (überdachte) Straße gewähren.
Trotz einzelner Gebäude - am Auffälligsten demonstriert durch den „Kollhoff-
Tower", der durch die roten Ziegelsteine massiv und unverwüstlich aussieht -, die
an die monumental gewordene Moderne der späten 20er Jahre erinnern, charak-
terisiert den Platz insgesamt eine „postmoderne" Bauweise. Verspiegeltes und
durchsichtiges Glas bringen „Bewegung" in die häufig langgezogenen Mauern.
Menschen, Bäume, der Himmel und das gegenüberliegende Haus verschwimmen
in der Spiegelung zu hübschen, ja netten Bildern. Das ist auch notwendig: Die Ter-
DIE WIDERSPRÜCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 119

Abb. 4: Renzo Piano/Christian Kohlbecker,


Realisierungsplan Potsdamer Platz, Grundriß Erdgeschoßebene, 1994.
120 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

rakotta-Fassaden sehen nämlich billig aus, sind von Plastik kaum zu unterschei-
den. Erst in der Spiegelung hat die warme Farbe einen angenehmen Effekt. Beim
Sony-Center hat man darauf verzichtet. Dieser Gebäude-Komplex ist ganz ver-
spielt, der Selbst-Darstellung der Unterhaltungsindustrie angemessen.
Inzwischen ist auch antizipiert, dass „postmoderne" Herrschaftsarchitektur
nicht mehr für die Ewigkeit Bestand haben soll. Es darf „billig" aussehen, weil
jeder weiß, welche enormen Summen das Projekt gekostet hat. Viel schamloser
kann sich Reichtum nicht darstellen.
Den Architekten wiederum wurde mit der Bebauung einer ganzen Innen-
stadt die Möglichkeit zu einer gigantischen Leistungsschau geboten. Matthias
Pabsch kommt in seiner umfassenden Interpretation zu dem Ergebnis, dass der
neue Potsdamer Platz die Corporate Identity der Konzerne verkörpere, erkauft
mit dem Verlust von Öffentlichkeit. Und er bezweifelt, dass sich unter den Be-
dingungen von Globalisierung noch einmal eine Weltstadt machen ließe, die
durch spezifische Eigenschaften, die nur an einem speziellen Ort zu finden
waren, bestimmt sei. Den bleibenden Wert des Potsdamer Platzes sieht er in der
Versammlung der internationalen Architekten-Elite und ihrer Leistungsschau.9
Wie aber gelingt es, trotz Schamlosigkeit und Re-Feudalisierung, die „poli-
tisch korrekteste" Hauptstadt der Welt zu bauen?

III. Politisch korrektes Reden über Herrschaft:


Geschichts-(Re)konstruktionen

Geschichte ist negativ vorhanden

Die Doktrin der Stadt, bei der Bebauung eine „kritische Rekonstruktion der
Geschichte" zu leisten, wird auch für das Projekt Potsdamer Platz übernom-
men (und selbstverständlich für die Regierungsgebäude).10
Um zu überlegen, was da kritisch rekonstruiert wurde, ist es sinnvoll zu
schauen, was nicht rekonstruiert, was zerstört wurde. Geschichte am Potsdamer
Platz ist nämlich zunächst negativ vorhanden: die untergründigen Nazi-Bunker,

9 Vgl. Matthias Pabsch: Zweimal Weltstadt. Architektur und Städtebau am Potsdamer Platz. Ber-
lin 1998, S. 121f.
10 Zur Kritik an diesem Konzept vgl. Pabsch, Zweimal Weltstadt. Er beschreibt das als Abgren-
zung vom „weltweit verwendeten amerikanischen Stadtmodell": „Städtisches Leben solle auf
den Straßen und Plätzen stattfinden und nicht im Inneren von Gebäudekomplexen." (S. 62) Und
auch er stellt die Frage, was da eigentlich rekonstruiert werden solle: „Die Fluchtlinien und Par-
zellengrenzen, die zu jeder Zeit nur instabiler Zustand eines dynamischen Prozesses waren, pe-
riodisch neuen Eingriffen unterworfen? Oder gar die Prozesse, die Entstehungsvoraussetzungen
selbst? Beide Wege versprechen eher geringen Erfolg. Im ersten Fall erhält man ein Denkmal,
das mit dem Makel der Willkür leben müsste. Der zweite bedeutet eine sehr fragwürdige Insze-
nierung. Am Potsdamer Platz ist die Traditionslinie irreparabel unterbrochen, für eine Rekon-
struktion fehlen die Voraussetzungen." (S. 65)
DIE WIDERSPRUCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 121

das seinerzeit unrealisierte Speer-Germania, das bombardierte Berlin, die (abge-


rissene) Mauer mit dem dazugehörigen Brachland. (Die Mauer freilich lässt sich
kaum wegretuschieren. Sie verleiht dem Potsdamer Platz gegenwärtig einen Insel-
Charakter: Sofern er nicht ohnehin noch von Baustellen umgeben ist, kehren ihm
die Gebäude ringsherum den „Rücken" zu. Auf auffälligsten ist das an der Staats-
bibliothek und der Philharmonie zu sehen, die in den 60er Jahren nach Entwür-
fen von Hans Scharoun dort gebaut wurden. Das Historische verbindet sich nicht
mit dem Gegenwärtigen.)
Skandalisierungen als „neu-teutonisch" wurden zwar angestrengt betrieben,
sind aber nichts Rechtes geworden. Man hat auch vorgebeugt: am Potsdamer
Platz und bei den Regierungsgebäuden. Die Vorliebe der Nazis für Stein, be-
sonders für Marmor, wollte man nicht teilen und rekonstruieren. Glas und Ter-
rakotta wurden für die Fassaden bevorzugt. Es sollte gerade kein steinernes
Berlin entstehen. Die Nazi-Bunker konnte man nicht ganz beseitigen, obwohl
man das gerne getan hätte. Sie sind einfach zu massiv, die Anzahl der Kriegsjahre
und die Hierarchie-Stufe der Nazi- Führungskräfte, die darin Schutz finden soll-
ten, lässt sich an der Dicke der Wände ablesen. Aber immerhin: Zubetonieren
konnte man sie.11 Und an die Mauer sollte nach Möglichkeit auch nichts erin-
nern - von einigen Schmuckstücken für Touristen abgesehen: zusammenwach-
sen ist angesagt. 1989 wird zur Stunde Null.
Der Prachtbildband, den Mercedes veröffentlicht hat, beginnt seine Chrono-
logie entsprechend auch erst 1989. Und zur „Berliner Republik" gehört es ganz
zentral, die Nazi-Zeit endlich und endgültig zu historisieren. Hier wird nicht
darüber nachgedacht, wie sich die verschiedenen Generationen, wie sich Deut-
sche und Türken, wie sich die Enkel der Täter und die der Opfer unterschied-
lich darauf beziehen können, schon gar welche Konsequenzen aus der Barbarei
gezogen werden müssten.12 Zur Ideologie der „Berliner Republik" gehört es, die
Nazi-Zeit zur Geschichte zu machen. Historisieren bis Vergessen ist angesagt.
Die Stunde Null 1989 kommt da gelegen. Die Wirtschaft ist, um auch das noch
anzumerken, an einer „kritischen Rekonstruktion" von Geschichte nicht inter-
essiert. Das wird ihr von der Politik als Zugeständnis abverlangt.

Weimarer Republik

Interessanter für eine „kritische Rekonstruktion der Geschichte" ist dagegen


Berlin als Weltstadt in der Weimarer Republik. Mit der Industrialisierung im 19.
Jahrhundert und der Ansiedlung der Arbeiterschaft in der Nähe der Produk-
tionsstätten - Siemensstadt etwa - und der Eingemeindung der Dörfer rund um

11 Vgl. dazu genauer Dietmar Arnold: Der Potsdamer Platz von unten. Eine Zeitreise durch dunkle
Welten. Berlin 2001.
12 Vgl. dazu Kathy Laster und Heinz Steinert: „,La vita e bella.' Absurdismus und Realismus in der
Darstellung der Shoa", in: Mittelweg 36, 8 (1999), S. 76-89; für diesen Kontext besonders S. 78.
122 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

Berlin nach dem Ersten Weltkrieg ist Berlin zu einer Großstadt geworden, die
für kurze Zeit mehr Einwohner hatte als Paris. Das beflügelte auch seinerzeit den
Größenwahn: London und New York wurden bemüht, wenn es darum ging,
Berlin mit anderen Städten zu vergleichen. Solche Selbstbilder, sofern sie hinrei-
chend öffentlich kolportiert werden, schaffen dann auch die dazugehörige Rea-
lität: Weltstädte werden für intellektuelle Szenen attraktiv. In den 20er Jahren
war das unter anderem in Berlin der Fall. Darauf wird zurückzukommen sein.
Wie aber materialisiert sich die „kritische Rekonstruktion" dieser Zeit in der
gegenwärtigen Architektur? Auf der einfachsten Ebene gehört es zu diesem
Vorgehen, historische Relikte zu erhalten: das 1912 erbaute Haus Huth ist be-
kannt geworden. Und dass das Cafe Josty - eines der bekannten Künstler-Cafes
von damals - im Sony Center wiedereröffnet wurde, gehört auch in den Bereich
der Nostalgie für Touristen. Wir kennen das aus Wien: Auch das Cafe Zentral
ist eine Touristenfalle. Die künstlerische Szene, die sich da aufhielt, gibt es nicht
mehr. Solche Orte lassen sich nicht nachstellen. Sie entstehen aus den Aktivitä-
ten der Subkultur. Aus dem Josty ist ein überteuertes Edel-Restaurant gewor-
den. Ein solches befindet sich auch im Haus Huth: Nostalgie muss man sich
leisten können. Dass der Potsdamer Platz als Verkehrsknotenpunkt mit dem da-
zugehörigen bunten Leben bekannt war und jetzt von einer Auto-Firma besetzt
wird, wird damit nicht gemeint sein. Das kann man als „unfreiwillige Ironie"
einordnen. Tatsächlich bedarf es auch nur einiger weniger Anspielungen, um
die Großstädte der 20er Jahre lebendig zu machen.
Mit dem „Kollhoff-Tower" am Potsdamer Platz wird man dazu angehalten,
die Anfänge des Hochhausbaus in Amerika, in New York und Chicago zu as-
soziieren. Es sind diese treppenförmigen Gebilde, die diese alten Wolkenkrat-
zer überwältigend und zugleich zierlich machen. Beim genauen Hinschauen
wird man dann auch schnell der Unterschiede gewahr. Die Stufen sind massi-
ver geworden: Das Haus wächst nicht in den Himmel, es drückt nach unten. Im
Vergleich zu den amerikanischen Städten wirkt die Innenstadt in Berlin, wirkt
der Potsdamer Platz schwerfällig.
Das auch schon erwähnte Haus mit der Adresse „Potsdamer Platz 11" von
Renzo Piano dagegen stellt einige raffinierte Bezüge zu den 20er Jahren her. Es
ist die verspätete Umsetzung eines Entwurfs von Mies van der Rohe, den er
1921 für ein Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße gemacht hat. (Der Eingang
zum Potsdamer Bahnhof ist eine zweite Reminiszenz an den Meister: Hier wird
der Eingang zur Neuen Nationalgalerie zitiert). Berühmt geworden ist eine Va-
riation seines Entwurfs: der spitze Winkel ist abgerundet. Dass diese beiden
Entwürfe leicht verwechselt werden, hat mit einem anderen berühmten
Gebäude zu tun: dem Flatiron in New York, 1902 gebaut. Das Flatiron ist die
Inkarnation eines spitzen Baus, mit dem zwangsläufig jede spätere Version ver-
glichen wird. Das ist besonders dann der Fall, wenn, wie am Potsdamer Platz,
keinerlei Notwendigkeit besteht, Bauwerke in ein bestehendes Strassennetz hin-
einzubauen, sie also mutwillig so konstruiert werden. Die Legende von der
DIE WIDERSPRÜCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 123

Weltstadt Berlin wird in den zwei wichtigsten Dimensionen aktualisiert: als An-
eignung der Errungenschaften der 20er Jahre und als Wiederholung des seiner-
zeitigen Anspruchs, mit New York (und Chicago) gleich gestellt zu sein. Das
Ganze geschieht zugleich mit einer bescheidenen Geste, wie sie dem Anliegen
einer „kritischen Rekonstruktion" entspricht: In Deutschland darf es in der
Städte-Konkurrenz nicht darum gehen, die internationalen Metropolen zu
übertrumpfen. Selbstbewusstsein manifestiert sich in der Formel „So etwas
Schönes (wie das Flatiron) haben wir jetzt auch". Das ist schlicht und zugleich
anspruchsvoll genug. (Abb. l-3a/3b)
(Wenn es dann noch gelingt, die anderen Staaten dazu zu bringen, in Berlin
herrschaftliche Botschafts-Gebäude zu errichten, ist man vor Angriffen wegen
Monumentalität oder noch schwerer wiegenderen aus dem Ausland gut ge-
wappnet. Da die Selbstdarstellungen der Mächtigen in erster Linie Selbstdar-
stellungen für die Mächtigen und erst dann für „das Volk" sind, lässt sich auch
das „befreundete Ausland" beim Bau der Repräsentations-Stätten nicht lum-
pen, das weniger befreundete wird sich hüten, sich „klein" zu machen.)
Noch stärker als mit der Architektur wird uns der Bezug zur Weimarer Re-
publik allerdings durch die Wiederbelebung des kulturellen Berlin der 20er
Jahre aufgedrängt. Wenn man auf dieses Thema aufmerksam geworden ist, fällt
auf, dass es von vielen Sektoren der Kulturindustrie forciert wird. Aus der „Kri-
tischen Rekonstruktion der Geschichte" wird eine „Die Goldenen Zwanziger
Jahre"-Industrie, die als Konzept für Stadt-Marketing auch viel brauchbarer ist.

Exkurs: Die vergoldeten Zwanziger Jahre

Die Ausstellung, die im Sommer 2001 in der Neuen Nationalgalerie zu sehen


war: „Der Potsdamer Platz. Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang
Preußens" 13 vergegenwärtigt die Weltstadt Berlin, wie sie zu Beginn des vorigen
Jahrhunderts erfahrbar gewesen sein soll. Mit Kirchners Gemälde „Potsdamer
Platz", das mit 1914 datiert ist, wird die Ausstellung benannt und beworben
(Abb. 5). In der Broschüre, die man mit der Eintrittskarte erhält, heißt es: „Als
Beitrag zum Preußenjahr 2001 stellt die Nationalgalerie das von ihr 1999 erwor-
bene Meisterwerk, Ernst Ludwig Kirchners 1914 gemalten .Potsdamer Platz', in
das Zentrum einer Ausstellung, die Glanz und Ende des Königreiches Preußen
im Schatten des Ersten Weltkrieges anschaulich macht. Mit dem Fokus auf den
Potsdamer Platz erinnert die Ausstellung zugleich an die legendäre Drehscheibe
der Weltstadt Berlin im Moment der architektonischen Wiedergeburt dieses my-
thischen Ortes des modernen Berlins im beginnenden 21. Jahrhundert."
Diese Ausstellung wird gegen den kulturindustriellen Anlass - Preußenjahr
2001 - verwendet, um an die Weltstadt Berlin der 20er Jahre zu erinnern, sie zu

13 Katalog zur Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie: Katharina Henkel/Roland März (Hg.):
Der Potsdamer Platz. Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens. Berlin 2001.
124 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

Abb. 5: Ernst Ludwig Kirchner,


Potsdamer Platz. Berlin 1914.

feiern und sie touristisch zu vermarkten. Preußen kommt in der Ausstellung näm-
lich nicht vor, in keinem der 16 Ausstellungsräume taucht es als Motto auf.14 Das
lässt sich leicht erklären. Das Königreich Preußen ist für das gegenwärtige Berlin
und Deutschland als positive Tradition ungeeignet. Genau die wird aber für den
Hauptstadtbau gebraucht und nicht noch eine historische Epoche, die man
womöglich politisch aufarbeiten muss. Mit der Erzählung von der „legendären
Drehscheibe der Weltstadt Berlin" gelingt es dagegen, Hauptstadtbau als religiö-
sen Akt darzustellen - eine Wiedergeburt eines mythischen Ortes eben.

Stadtmarketing in Berlin und Wien

Es ist die kulturelle Produktivität der 20er Jahre, die mit solchen Ausstellungen
in den Vordergrund rückt. Berlin wird zur Stadt der Intellektuellen, der Boheme,
der Cafes mit ihren kritischen Geistern und scharfen Beobachtern. Berlin wird
zur weltoffenen Großstadt, attraktiv für inzwischen prominente und kanoni-
sierte künstlerische Subkulturen: Die Expressionisten, der Berliner „Club Dada",
Döblin und sein „Berlin Alexanderplatz" gehören hier ebenso her wie Max Rein-
hardt, Brecht und Piscator als Erneuerer des Theaters, Alban Bergs „Wozzek"

14 Im Kunstmagazin art, Nr. 7, Juli 2001, nehmen Rose-Marie und Rainer Hagen die Sonderaus-
stellung, die dem „Potsdamer Platz" gewidmet sei (und nicht Preußen), als Anlass, Kirchners
Gemälde in einer ihrer „Bildbefragungen" zu interpretieren, S. 72-77.
DIE WIDERSPRUCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 125

wurde hier uraufgeführt uswusf. Was hier neu aufgelegt wird, ist eine „Die gol-
denen Zwanziger Jahre"-Industrie 15 , die schon in den 60er Jahren einmal Kon-
junktur hatte.16 Es sind die Analogien zur Wiener Jahrhundertwende-Industrie,
die uns auffallen.17 Klimt, Schiele und Kokoschka, Sigmund Freud, Karl Kraus,
Schönberg und Mahler, Ludwig Wittgenstein werden als Gewährsleute für die
kulturelle Produktivität des Jahrhundertwende-Wiens benannt.
In beiden Fällen wird die Lebensweise einer kleinen intellektuellen Subkul-
tur retrospektiv zur für diese historische „Epoche" hegemonialen erklärt. Fast
hundert Jahre später wird uns angetragen, auf diese, die damalige Zeit prägende,
intellektuelle Produktivität mit Faszination zu reagieren. Der Mythos ist
verlockend, aber bedauerlicherweise nicht haltbar. Die Wiener-Jahrhundert-
wende-Industrie verschweigt den Antisemitismus, der die künstlerischen Akti-
vitäten hervorgebracht hat, weil die jüdischen Intellektuellen von anderen
Formen gesellschaftlicher Partizipation, der Politik etwa, ausgeschlossen waren.
Was schon aus einer Rückzugs-Position entstanden ist, wurde nur wenig später
ganz zerstört: Die heute gefeierten Protagonisten der Wiener Jahrhundertwende
wurden ermordet oder vertrieben. Aber davon muss man nicht reden. Was auch
immer zur Jahrhundertwende gezählt wird: In allen kulturindustriellen Retro-
spektiven endet sie vor dem Sieg der Nazis, und dass diese den Antisemitismus
nicht erst erfinden mussten, weiß man zwar, aber wozu es unnötigerweise auch
noch sagen. Die Vorstellung, Österreich sei das erste von den Nazis okkupierte
Land, ist da angenehmer.
In Berlin ist die zeitliche Eingrenzung viel einfacher: Die Goldenen Zwanzi-
gerjahre haben gerade einmal fünf Jahre gedauert. Bis 1918 tobte der Weltkrieg.
Es folgte der Bürgerkrieg und die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht, um nur die Prominenten zu nennen. Die Reaktion war auch dann
noch allgegenwärtig: der Kapp-Lüttwitz-Putsch von 1920 demonstriert die Macht
der Freikorps. 18 1923 schließlich die Inflation und dann 1929 die Weltwirt-

15 Das Kunstmagazin art, Nr. 8, August 2001, startet eine Serie mit dem Titel „Neue Sachlichkeit
- Die bewegten Zwanziger", Nr. 9, September 2001 ist dann Berlin gewidmet: „Im Zentrum des
Geschehens - Glanz und Elend der Metropole Berlin". Otto Dix steht im Mittelpunkt dieser
zweiten Folge, S. 44-51. Im September 2001 erscheint - nach nur drei Jahren - auch ein neuer
Reiseführer der Reihe Merian. Auch dort findet sich ein Artikel von Wolf Thieme, „Verwehte
Spuren", der als sentimentale Reise ins Gestern charakterisiert wird. Der Dokumentarfilmer
Thomas Schadt hat die 20er Jahre-Nostalgie mit einem Remake des Stummfilms aus dem Jahre
1927 von Walter Ruttmann „Berlin - Die Sinfonie der Großstadt" aufgegriffen.
16 Aus dieser Zeit stammt Adornos Essay „Jene Zwanziger Jahre" (1962) und ein Radio-Gespräch
zwischen Theodor W Adorno und Lotte Lenya, moderiert von Adolf Frise, 1960 im HR ge-
sendet. In diesem Gespräch wird sehr deutlich, dass die „goldenen Zwanziger" die Innenper-
spektive der seinerzeitigen Boheme beschreiben. Adorno reflektiert: es war ein kleiner Kreis
ohne Massenbasis, obwohl es heute so aussähe, als ob es der Geist der Zeit damals gewesen wäre.
17 Zur Analyse der Jahrhundertwende-Industrie vgl. Heinz Steinert: „Kunst und Wissenschaft
in Wien der Jahrhundertwende. Gesellschaftliche Grundlagen von Theoriebedarf", in: K. Ludwig
Pfeiffer/Ralph Kray/Klaus Städtke (Hg.), Theorie als kulturelles Ereignis, Berlin 2001, S. 181-204.
18 Vgl. dazu ausführlich Jost Hermand/Frank Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik.
München 1978.
126 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

schaftskrise. In diesen wenigen Jahren dazwischen existierte Berlin als Weltstadt.


Viel Spielraum, sie auszuweiten, hat man nicht. Die politisch befreite Gesellschaft,
die 1918/19 als Möglichkeit aufblitzte, war schon erfolgreich niedergeschlagen.
An das Berlin der 20er Jahre zu erinnern, hieße an die gescheiterte Revolu-
tion zu erinnern. Die kulturelle Produktivität, die stattdessen in den Reminis-
zenzen in den Vordergrund rückt, war vor allen Dingen der Durchsetzung des
Fordismus geschuldet, war eine wirtschaftliche „Errungenschaft".

Fordismus und Massenkultur: damals

Fordismus strukturierte auch im Bereich der Künste die Produktionsbedin-


gungen: Die Sache, die später auf den Begriff „Kulturindustrie" gebracht wird,
entfaltet sich in Deutschland in den 20er Jahren, in den Anfängen des Fordis-
mus.19 Unter diesen Bedingungen ist es selbst in klassenkämpferischen Zeiten
möglich, die „Masse" zu entdecken. Oder umgekehrt: Es ist gerade der Bür-
gerkrieg, der Vorstellungen vom Pöbel hervorbringt, der bekanntlich immer nur
als Masse auftritt. Verstädterung ist die eine Voraussetzung, die das Reden von
Massen plausibel machte. Der kapitalistische Produktionsprozess, wie Kracauer
in „Das Ornament der Masse" zeigt, eine andere: „Den Beinen der Tillergiris
entsprechen die Hände in der Fabrik." Beide kennen das Ganze nicht, an deren
Herstellung sie beteiligt sind. Das Ornament ist sich Selbstzweck, und der Pro-
duktionsprozess auch: „Die Waren, die er aus sich entlässt, sind nicht eigentlich
darum produziert, dass sie besessen werden, sondern des Profits wegen, der sich
grenzenlos will."20 Mit der Entstehung einer Angestellten-Schicht ist eine wei-
tere Bedingung erfüllt, die es plausibel macht, über „Masse" nachzudenken. Die
Schreibmaschine wird erfunden und mit ihr die „Tippmamsells". Es sind die
Angestellten und die „kleinen Ladenmädchen", wie Kracauer sie nennt, die als
Kunden gewonnen werden müssen. Und es sind die zu diesen Künsten gehöri-
gen Unterhaltungstempel, die das Stadtbild verändern. Es entsteht eine „Aus-
geh-Kultur", die Straßen und Plätze auch abends zu belebten Orten macht.
Langsam bildet sich die kulturindustrielle Öffentlichkeit heraus, die die städti-
sche Lebensweise im 20. Jahrhundert kennzeichnet. Dazu gehört entscheidend das
Zeitungswesen und der politische Kampf darum, wer die Redaktionen besetzt.
Die heute kanonisierten Literaten, am bekanntesten Kurt Tucholsky, aber auch ei-
nige aus Wien übersiedelte Künstler, u.a. Alfred Polgar und Billy Wilder,21 haben
von journalistischer Arbeit gelebt und sich in diesem Bereich engagiert. Im schon

19 Zur Verbindung von fordistischer Massenproduktion und Kulturindustrie vgl. genauer Heinz
Steinert: Kulturindustrie. Münster 1998.
20 Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. 1927, zitiert nach der Suhrkamp Taschenbuch-
Ausgabe, Frankfurt/Main 1977, S. 54 und S. 53.
21 Vgl. dazu Gregor Streim: „Zwischen Weißem Rößl und Mickymaus. Wiener Feuilletonisten im
Berlin der zwanziger Jahre", in: Bernhard Fetz/Hermann Schlösser (Hg.), Wien/Berlin, Profile,
Band 7, Wien 2001.
DIE WIDERSPRUCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 127

zitierten Gespräch hebt Adorno die Möglichkeiten hervor, die seinerzeit bestan-
den hätten und die die Faszination für die 20er Jahre auslösen: Geistige Welten
hingen mit politischer Realität zusammen, sie seien erst später auseinandergefal-
len, Befreiung war möglich, die Welt war damals wirklich offen.22
Öffentlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts weist noch eine Besonderheit
auf: Es gibt eine intellektuelle Kaffeehaus-Öffentlichkeit und eine starke Ver-
bindung von Kunst und Populärkultur. Brecht hat Texte verfasst, die für Frie-
drich Hollaender und sein Kabarett bestimmt waren. Tucholsky, Ringelnatz
und Kästner schrieben für das Kabarett „Wilde Bühne". Die Kabaretts, Varietes,
ein tanzbarer Jazz, die Operette und selbstverständlich das Kino machen die
kulturelle Produktivität dieser Zeit aus. In dieser Kaffeehaus-Szene kultivierte
man eine Lebensweise, die kollektive Zusammenarbeit und sexuelle Befreiung
charakterisiert. Hier werden auch demokratische Formen entwickelt: Lotte
Lenya erzählt das anschaulich für die Arbeit mit Brecht.23
Daneben entsteht ein ganz anderer Typus von kollektiver Arbeit: die kultur-
industrielle Arbeitsteilung, wie sie von Kracauer in der Analyse der „Tillergiris"
reflektiert wird. In jenen 20er Jahren hat sich vor allem die Massenkultur durch-
gesetzt: eine nach den industriellen Idealen rationalisierte Kultur. Groschenheft-
chen, die Bestseller von Hedwig Courths-Mahler, die „vaterländischen Romane"
von Ernst Jünger und Konsorten sind es, die ein Millionenpublikum erreichen.

Die seinerzeitige Massenkultur wird halbherzig tradiert

Diese fordistische Massenkultur ist es aber nicht zuerst, die tradiert wird. Nur
ein kleiner Teil davon eignet sich für nostalgische Neu-Auflagen. Die CD-Edi-
tion „Berliner Musenkinder", die seit ein paar Jahren auf dem Markt ist, ist ein
eindrucksvolles Beispiel dafür. Diese Edition führt kulturindustriellen Perfek-
tionismus vor: Die Aufnahmen sind derart authentisch reproduziert, dass sie
zwar unhörbar werden, aber den Sound einer Schallplatte mit allen Kratzern,
die sie nur haben kann und das Aufnahme-Verfahren, das uns dieser Tage reich-
lich unprofessionell vorkommt, gekonnt zelebriert. Hier musste nicht mühsam
erst eine „Patina" hergestellt werden. Fast jeder kann heute und das beinahe
ohne Kosten, alte Schallplatten auf CDs überspielen und ein paar „Dumme",
die das kaufen, gibt es immer. Ein anderer Teil der fordistischen Massenkultur
aus dieser Zeit hat inzwischen ohnehin schon Kult-Status, wie die Verfilmung
von „Professor Unrat", und muss jetzt nur noch in den entsprechenden Kon-
text gerückt werden. Mit der umstrittenen Namensgebung „Marlene Dietrich
Platz" ist das geschehen. Das Musical-Theater, das sich dort befindet, bezeugt

22 Im Essay „Jene Zwanziger Jahre" (1962) betont Adorno dagegen das Präfaschistische der kul-
turellen Produktionen: „...; als hätte die geflissentlich hervorgekehrte Unordnung schon nach
jener Ordnung gegiert, die dann der Hitler über Europa brachte." (Zitiert nach: Gesammelte
Schriften. Band 10.2., Frankfurt/Main 1977, S. 499-506, hier S. 501.)
23 Radio-Gespräch mit Theodor W. Adorno, moderiert von Adolf Frise, 1960 im HR gesendet.
128 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

freilich schon, wie schwer man sich mit den populären Künsten der 20er Jahre
tut: Es wurde mit einer Inszenierung des „Glöckners von Notre Dame" eröff-
net. Die „Goldene-Zwanziger-Jahre"-Industrie wird halbherzig betrieben und
die „kritische Rekonstruktion" erst recht. Über Paul Linckes seinerzeit um-
strittene „Frau Luna" heißt es auch, sie könne als „ironisch gebrochener Spie-
gel der gesellschaftlichen Wirklichkeit Berlins verstanden werden". 24 Noch
einfacher wäre „kritische Rekonstruktion" und der Mythos der 20er Jahre nicht
zu haben gewesen. Kulturindustrie, über deren Perfektionismus man gelegent-
lich doch noch verblüfft sein kann und mit dem alle dilettantischen Anstren-
gungen entwertet werden, weist andererseits frappierende Mängel auf.

Reaktionen auf die intellektuelle Subkultur damals

Die heutigen Gewährsleute für die „Goldenen Zwanziger" hat man seinerzeit
nicht gerade geschätzt und hochgeachtet. (Brecht ist, von seinem 100. Geburts-
tag abgesehen, der kulturindustriell in aller Breite begangen wurde, ohnehin
„Kommunist" geblieben.25 Ein paar wenige Dokumente mögen das veran-
schaulichen: Kurt Tucholsky schreibt am 28. April 1921 in der Zeitung „Die
Weltbühne" über den Prozess gegen George Grosz, John Heartfield, Rudolf
Schlichter sowie Wieland Herzfelde als Verleger wegen „Beleidigung der
Reichswehr": „Das milde Urteil war vielleicht hervorgerufen durch ein Gut-
achten des Reichskunstwarts Redslob, der forsch und energisch für Grosz Par-
tei ergriffen und dabei mit feinstem Takt vermieden hatte, auf das Politische der
Sache einzugehen. Das imponierte ein wenig, denn der Reichskunstwart unter-
steht dem Ministerium des Innern - und vor einer Behörde hat ein preußischer
Richter immer Respekt. Vor der Kunst weniger."
Über die Skandale, die Strawinskys „Sacre du Printemps", die Aufführungen
„Neuer Musik" Mitte der 20er Jahre ausgelöst haben, reflektiert Max Butting:
„Die Parteien bedienten sich der Bezeichnungen modern, jüdisch, internatio-
nal, kulturbolschewistisch, links, atonal oder, die anderen der Worte teutsch, re-
aktionär, Mittelstandsmusik und so fort."
Bert Brecht beschreibt eine Reise nach Berlin 1921: „Man hatte mir eben ir-
gendwo zu verstehen gegeben, dass man auf mein Vorhandensein in dieser Stadt
keinen direkten Wert legte, man hatte es für unnötig gefunden, mir noch ein
weiteres Mittagessen bei Aschinger zu finanzieren, und als ich in der Unter-

24 Einen ersten Überblick über das Repertoire, das aus den 20er Jahren bezogen hätte werden kön-
nen, bietet der Band: Beiträge zur Popularkulturfoschung 15/16: „ Es liegt in der Luft was
tisches... " Populäre Musik zur Zeit der Weimarer Republik. Baden-Baden 1995. 7.u Kabarett,
Operette und Revue vgl. den Aufsatz in diesem Band: Heinz Geuen: „.Das hat die Welt noch
nicht gesehen': Kabarett, Operette und Revue als Embleme populärer Kultur der 20er Jahre",
S. 52-68, hier S. 62.
25 Im Insel Verlag ist kürzlich allerdings ein literarischer Stadtführer erschienen: Michael Bienert:
Mit Brecht durch Berlin. Frankfurt/Main, Leipzig 1998.
DIE WIDERSPRUCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 129

grundbahn saß, war in meinem Kopf eine eigentlich leere Stelle, die ich nicht
mehr ausfüllen konnte." 26
„Die Angst war nicht unbegründet; seit einiger Zeit bekam Tucholsky ano-
nyme Anrufe und Briefe, in denen er als .Gift speiender Jude', .verdammter Bol-
schewik', ,dämlicher Judenlümmel' und Vaterlandsverräter' beschimpft wurde." 27
Es ist schon bemerkenswert, wie leicht die nachträgliche Vereinnahmung
gelingt. Die Faszination für das bunte Leben und die kulturelle Hoch-Zeit wird
uns nämlich vor allem anhand der Artefakte nahegebracht, die die Boheme
hinterlassen hat. Die Artefakte werden zum Ausdruck einer historischen und
gesellschaftlichen Situation, die diese Spitzenprodukte „unserer" Kultur her-
vorgebracht hat. Im Bereich der Hochkultur herrscht dann auch die von Kultur-
industrie erwartete Perfektion vor.

Nachträgliche Vereinnahmung: Kirchner - Dix - Grosz


oder die politische Aufwertung der Kapitulation vor der Herrschaft

Die Faszination für die „Goldenen Zwanziger Jahre", wie Adorno in seinem
Essay „Jene Zwanziger Jahre" 28 bemerkt und wie die Ausstellung „Potsdamer
Platz" mit Kirchner als bedeutenden Vertreter zeigt, wird zu einem nicht un-
wesentlichen Teil mit Artefakten hergestellt, die lange vor dieser Zeit entstanden
sind. Toulouse-Lautrec und Kirchner malen die Huren mit jenem freundlichen
Blick, der die Projektion romantischer Wünsche, wie Adorno 1962 bemerkt,
„nach sexueller Anarchie, nach red light district und wide open city auf die
zwanziger Jahre" ermöglicht.
Das eingangs erwähnte Gemälde „Potsdamer Platz" von Kirchner zeigt zwei
lebensgroße „Kokotten" im Vordergrund eines Platzes, einige vereinzelte Per-
sonen, Freier, im Hintergrund. Die eine der beiden Prostituierten trägt einen
Witwenschleier. Die Interpreten sind sich einig: Der Witwenschleier diente der
Tarnung, denn im wilhelminischen Berlin war Prostitution verboten. Sie sind
sich auch darin einig, dass Kirchner Kriegs-Erfahrungen darstellt. Das Bild wird
als „epochales Gemälde" angepriesen und für 18 Millionen Mark aus einer Pri-
vatsammlung erworben: Bund, Länder, Berlin, Deutsche Bank und Siemens
haben keine Kosten gescheut, das Gemälde in den Besitz der Neuen National-
galerie zu bringen. Es handelt sich schließlich um eine „Ikone des deutschen Ex-
pressionismus" 29 - und die gehören dieser Tage nach Berlin.
In Kirchners Gemälden werden die „Kokotten" zu eleganten Damen, die das
Unterkühlte und Anonyme, wie die Stimmung auf den Straßen und öffentli-
chen Plätzen gemalt wird, schätzenswert macht. Hier wird Hochachtung der

26 Alle Zitate in: Ruth Glatzer (Hg.): Berlin zur Weimarer Zeit. Panorama einer Metropole 1919
1933. Berlin 2000, hier S. 305, 323, 274.
27 Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Reinbek 1988, S. 71.
28 Adorno, „Jene Zwanziger Jahre", hier S. 500f.
29 Vgl. dazu Verntssage Berlin, Nr. 2/01, S. 20ff.
CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

Abb. 6: Otto Dix, Selbstbildnis als Soldat, 1914/15.

Einsamkeit zelebriert, wie sie als Freiheit dann erfahrbar ist, wenn man der so-
zialen Kontrolle der Kleinstadt gerade entkommen ist. Die Kokotten bilden das
Zentrum des Bildes, bei Kirchner häufig auf Rondellen placiert: Sie werden den
Betrachtern zum Anschauen präsentiert. Dazu kommt, dass man die Frauen
nicht als Huren erkennt. Dass es sich um Kokotten handelt, kann nur aus der
Kenntnis anderer Gemälde zurückgeschlossen werden: Kirchner hat „Kokot-
ten" häufig im Titel verwendet und diese sehen den Frauen ähnlich, die das Bild
„Potsdamer Platz" zeigt. Wenn es überhaupt Prostitution ist, die hier dargestellt
wird, dann muss es „upper-class"-Prostitution sein.30 Die Berlin-Bilder von

30 Regina Schulte: Sperrbezirke. Tugendhaftigkeit und Prostitution in der bürgerlichen Welt. Frank-
furt/Main 1979, schreibt, dass die meisten Prostituierten Wert darauf legten, gut angezogen zu
sein, aber auch darauf, nicht aufzufallen. Sie beschreibt auch, wie sie es bewerkstelligen, doch auf
sich aufmerksam zu machen. Und weiter: „Die reichere Prostitution war gekennzeichnet durch
ihr Auftreten in bestimmten, vom vornehmen Publikum besuchten Straßen, Restaurationen usw.
Die City Berlins, vor allem die Friedrichstraße, war beherrscht von der wohlhabenderen und ver-
schwenderischeren Ebene der Prostitution. Ihre Repräsentantinnen traten extravagant auf." (S. 30)
DIE WIDERSPRÜCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 13 1

Kirchner „veredeln" das Großstadtleben. Mit wenigen Ausnahmen sind diese


Bilder geschönt und deshalb ein so guter Ausgangspunkt für die 20er Jahre-In-
dustrie: Sie sind sozial verträglich.
Einige Selbstbildnisse, das „Selbstbildnis als Soldat" (1915) besonders, sind
dagegen Angstbilder. Kirchner malt sich mit einem verstümmelten Arm, ihm
fehlt eine Hand: Er kann nicht mehr malen. Darauf verweisen die Staffelei und
das Bild mit einem weiblichen Akt im Hintergrund. Der Krieg hat seine Exi-
stenz zerstört und ihn krank gemacht. Auf diesem Selbstbildnis ist die Angst
vor dem Verlust der künstlerischen Fähigkeit und damit vor dem Verlust des
Lebens dargestellt.
Eine gesellschaftskritische Haltung ist aus diesen Selbstbildnissen allerdings
nicht zu beziehen. Kirchner steht eine politische Strategie, den Krieg zu bear-
beiten, nicht zur Verfügung: Er flüchtet verängstigt und derangiert in die
Schweiz, zunächst in ein Sanatorium, und malt sehr freundliche Landschafts-
bilder. Verdrängen, ablenken und ausweichen eignet er sich als Haltung an. Po-
litische Gegenwehr setzt bekanntlich eine „intakte Persönlichkeit" voraus und
es gehört zu den Kriegstaktiken, diese zu zerstören.
Schon die Berlin-Bilder von Otto Dix, die tatsächlich aus den 20er Jahren
stammen, legen die Verherrlichung dieser Zeit nicht mehr nahe. Das Großstadt-
Triptychon (1927/28) von Dix ist da aufschlussreich: Der mittlere Teil zeigt
die „gute Gesellschaft" bei ihren Vergnügungen, die beiden Seitenteile die
Straßenprostitution und Kriegskrüppel. Hier werden uns Glanz und Elend der
Klassengesellschaft vorgeführt. Aber so richtig amüsiert sich auch die „gute Ge-
sellschaft" nicht. Auch sie sieht gelangweilt aus und besonders die Frauen in
ihrer übertriebenen Aufmachung, mit Pelzen, Federn und Schmuck behangen,
aber mit verbittertem Blick, sind aufdringlich und abweisend zugleich. Alle ge-
sellschaftlichen Positionen sind widerwärtig, die Unterschicht nur ein wenig
mehr, lernen wir.
Otto Dix' Selbstbildnis als Soldat (1914/15) (Abb. 6) stellt im Gegensatz zu
Kirchner weniger das eigene Erleiden dar. Dass es sich um einen Soldaten han-
delt, stellt nur der Titel klar. Zu sehen ist ein Mann, der überall einen Hinterhalt
befürchtet, der dazu gebracht wird, grundsätzlich misstrauisch zu sein und des-
sen Gesichts-Züge - verstärkt noch durch die rote Farbe und den „Boxer"-
Nacken (wie wir ihn inzwischen von Fotos von Mike Tyson kennen) - aggressiv
werden, wenn man sich dem Bild nähert. Das Verhältnis zu einer Gesellschaft,
die unberechenbar und irrational geworden ist, ist hier dargestellt. Es ist zugleich
eine Selbstdarstellung als Kämpfer. Dix malt sich als Soldaten, vor dem man sich
fürchten muss, einen in die Enge getriebenen Menschen, der Angst hat, der sich
aber wehren wird, der töten wird, um zu überleben. In diesem Selbstporträt ver-
bindet sich die doppelte Anforderung, die an Soldaten gestellt wird: Sie müssen
Helden spielen, sich selbst überhöhen und werden zugleich entindividualisiert,
als Menschenmaterial verwendet. Diese zwei widersprüchlichen Anforderungen
hat Dix auch jeweils für sich gemalt: in einem Selbstporträt als Schießscheibe
(1915) und einem als Mars (1915).
CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

Abb. 7: George Grosz, Der General, 1919.

Hier ist nichts mehr geschönt - im Gegenteil -, aber eine politische Haltung,
kann daraus auch kaum bezogen werden. Ins Groteske verzerrte Menschen er-
zeugen bei den Betrachtern einen Ekel, der sich nicht malen lässt, der nur als
Gefühl hergestellt werden kann. Ekelhaften Situationen setzt man sich nicht
freiwillig aus. Vielmehr schaut man angewidert weg. Misanthropie und Rück-
zug werden uns als angemessene Reaktion angetragen.
Auch George Grosz, der mit dem „bösen Blick" gemalt hat, bringt uns dazu,
Situationen zu sehen, von denen wir lieber nichts wissen wollen: hässliche Ge-
sichter und die Darstellung von Sex ohne Erotik, aber als Geschäft. Hier wird
Warenform kritisiert. Und es sind die politischen Satiren, die die Betrachter
dazu bringen, über die Aufgeblasenheit der herrschenden Klasse zu lachen. Ge-
orge Grosz verändert die Perspektive: Im Gegensatz zu Kirchner und Dix malt
er nicht mehr die „geschundene Kreatur". Entsprechend gibt es auch kein
Selbstbildnis als Soldat, dafür eines, das „Der General" (1919) heißt (Abb. 7).
Er karikiert die herrschende Klasse als „Stützen der Gesellschaft" (1926): die
Repräsentanten des Staates, des Militärs, der Religion, der Arbeiterbewegung,
der Medien. Das trifft auch dann noch zu, wenn er doch Kriegskrüppel zeich-
net: Es ist der verächtliche und sarkastische Blick „derer da oben", der darge-
stellt wird: „Des Vaterlandes Dank ist euch gewiss!" (1919) heißt eine kleine
DIE WIDERSPRUCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 133

Zeichnung, die einen verkrüppelten Bettler in Soldatenuniform zeigt und zwei


hochgestellte Herren, die sich gepflegt unterhalten.
Die Emotionen, die zu dieser künstlerischen Haltung und Strategie gehören,
sind Hass, Zorn und Wut auf die Obrigkeit. Aus einer diffusen Kritik an gesell-
schaftlichen Zuständen wird Herrschaftskritik. Im Gegensatz zu Max Beck-
mann, dessen Bilder auch diese Haltung repräsentieren, aber in einer „ernsthaf-
ten" Art und Weise, sind die Bilder von George Grosz, der auch mit John Heart-
field gearbeitet hat, dadaistisch geprägt. Ironie wird zum zentralen Modus der
Herrschaftskritik.
Mit Kirchner, Dix und Grosz ist das Spektrum der Möglichkeiten umrissen,
Kriegs- und sonstige Erfahrungen mit Herrschaft zu bearbeiten. Es reicht von
persönlicher Kapitulation über allgemeinen Ekel bis zur politischen Kritik. Die
Aufwertung von Kirchner, wie sie derzeit passiert, ist politisch prekär. Bevor
sich Kirchner in die Schweizer Berge zurückzog, hat er in seinen Berlin-Bildern
jene Kriegsfolgen „veredelt". Was damit gegenwärtig aufgewertet wird, ist Re-
signieren und Kapitulieren vor herrschaftlichen Zumutungen. Politische Gegen-
wehr ist nicht vorgesehen. Kirchners „Kokotten" sind feine Damen und so
charakterisieren sie heute jene Zwanziger Jahre: Die sind damit keine Zeit des
Elends und der brutalen Konflikte, sondern nostalgisch eine der eleganten
Amoral.

Das politisch korrekte Schweigen

Diese fünf Jahre der Weimarer Republik sind tatsächlich die einzige Zeit in der
Geschichte Berlins, auf die sich eine symbolische Politik, wie sie für den Haupt-
stadtbau in Deutschland gebraucht wird, positiv beziehen kann. Das gelingt aber
auch nur, wenn ausschließlich „Kultur" zählt, wenn man vom Fordismus, wenn
man von der repressiven Politik, dem Sieg der Reaktion in einem Bürgerkrieg,
wenn man vom Antisemitismus, Antikommunismus und Prä-Nationalsozialis-
mus nicht redet und die seinerzeit nicht gerade privilegierten Intellektuellen zu
den Repräsentanten dieser Zeit macht. Die gegenwärtige „Goldene Zwanziger
Jahre"-Industrie mit ihrem Akzent auf Hochkultur verallgemeinert die seiner-
zeitige gebildete Lebensweise. Über die gesellschaftlichen Zustände kann und
will man nicht reden.
Die Wiener Jahrhundertwende-Industrie und die Berliner „Goldenen Zwan-
ziger" haben gemeinsam, dass eine Intellektuellenkultur, die seinerzeit ange-
feindet wurde, deren Vertreter dann ermordet oder vertrieben wurden, jetzt
hochgehalten wird, aber aus den falschen Gründen. Die Kultur wird entpoliti-
siert. Den Protest gegen die aufgeblasene Herrschaft, die Kritik an der arrogant
ungleichen Gesellschaft kann man sich so affirmativ - als „unsere" kulturelle
Produktivität - aneignen.
134 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

IV. Die Inszenierung des touristischen Blicks:


der Souverän als Publikum
Wie schon mehrfach erwähnt, bringt uns zeitgenössische Herrschaftsarchitektur
in die Position von Zuschauern. Wir laufen durch die Welt - sogar durch die Welt
der Herrschaft - mit einem touristischen Blick. In der Architektur am Potsdamer
Platz wird dieser touristische Blick sehr offensichtlich. Städte und Gebäude be-
eindrucken den touristischen Blick nicht durch ihre praktische Funktionalität (die
ist interessant für Leute, die länger an diesem Ort leben), sondern eher in ihrem
Charakter als Sehenswürdigkeit, in ihrer Schönheit oder ihren sensationellen Ei-
genschaften. Der touristische Blick heftet sich an Fassaden und richtet sich auf
Stimmungen und Gefühle, die dadurch erzeugt werden. Touristen interessieren
sich für Landschaften und Städte als zeitweisen Hintergrund für eigene Aktivitä-
ten - die Suche nach preiswerten Erregungen und stiller Erholung (und nach der
Dokumentation dieser Erlebnisse, damit man nachher etwas zu erzählen hat).
Der Tourist ist entschlossen, so viel wie möglich herauszuholen. Und er
bleibt nicht lange, er und sie haben kein Interesse an einem Ort als Ort, an dem
man lebt, er und sie wollen daher alle Erhaltungsarbeiten unsichtbar gehalten
wissen, er und sie wollen Probleme nicht sehen. Ein Tourist ist an gegenwärti-
ger Herrschaft und Unterdrückung nicht interessiert. Der Tourist will von
Armut, Obdachlosigkeit oder drogensüchtiger Verzweiflung nicht belästigt
werden - außer sie können unter fachmännischer Anleitung zu einer Erfahrung
von „slumming" verwendet werden.
Der Tourist wird sich nicht widersetzen, wenn solche „unpassenden" Figu-
ren entfernt werden - und der Tourismus-Manager wird genau das tun: alles aus
dem Weg räumen, was eine Waren-Erfahrung behindern könnte. Genau das ist
in den Innenstädten in der ganzen (post-industriellen) Welt in letzter Zeit ge-
schehen: Bettler, Obdachlose, ungebärdige Jugendliche sind nicht erlaubt, wir
wollen und brauchen nicht an die Unsicherheit darüber erinnert werden, dass
wir (noch) nicht ausgeschlossen sind. Und wenn wir zu den erfolgreichen „Lei-
stungsträgern" der Gesellschaft gehören, leben wir unter einem so strengen und
engen Zeitbudget, dass wir es uns nicht erlauben können, uns auf Unregel-
mäßigkeiten einzulassen. (Auch der Tourist ist nicht notwendig eine Person, die
freie Zeit und nichts zu tun hat, er ist nicht notwendig ein Flaneur, sondern häu-
fig in ein Programm von Sehenswürdigkeiten und Pflichterlebnissen einge-
spannt, die absolviert werden müssen.)
Der Tourist will eine Show genießen und unterhalten werden. Wir nehmen die
Show aber auch nicht richtig ernst, wir haben vielmehr ironische Distanz dazu
und lassen uns nicht billig vereinnahmen.31 Das ist durchaus eine angemessene

31 Wir gehen gekonnt mit Waren um - auch mit politischen Waren. Zum komplizierten Verhältnis
zwischen touristischer Haltung und politischem Subjekt, wie es unter Bedingungen von popu-
listischer Politik entworfen wird, vgl. Steinert, „Kulturindustrie", S. 73-87.
DIE WIDERSPRUCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 135

Reaktion auf die kulturindustriellen Angebote. In der Wettbewerbsvorgabe für


den Potsdamer Platz wird genau die Form von kulturindustrieller Einzigartig-
keit eingefordert, die zwingend auf die dejä-vu-Erlebnisse hinausläuft, mit denen
wir souverän umgehen können: „Statt nämlich aus der Fülle gelebter Urbanität
und städtischen Verkehrs arbeiten zu können, sollten die Architekten laut Wett-
bewerbsvorgabe ,Orte herausragender visueller und sozialer Qualität' schaffen,
um die Inszenierung des öffentlichen Lebens' zu ermöglichen."32
Inzwischen sind shopping-centers mit den dazugehörigen Vergnügungsstät-
ten auch hierzulande so weit verbreitet, dass jeder weiß, woran man die „Ins-
zenierung des öffentlichen Lebens" erkennt. Inzwischen wird die „Erfahrung
von Urbanität" 33 , die diese Städtchen versprechen, zur reflektierten Vorgabe:
Es geht um Inszenierungen davon. Es wird gar nicht mehr vorgegeben, dass
eine Stadt gebaut wird. Der Gebrauchswert wird nebensächlich, die Eigen-
schaften, die das Stadt-Viertel als Kulisse hat, sind entscheidend: als Kulisse für
die eigenen Aktivitäten der Touristen.

Die Permanenz des Außergewöhnlichen: standardisiert

Die Besucher derartiger „Inszenierungen von öffentlichem Leben" können sich


darauf verlassen, dass ihnen die Örtlichkeiten vertraut sind, dass ihnen nichts
fremd ist und sie sich ungestört präsentieren können. Das heißt aber auch, dass
das Flanieren und Beobachten langweilig wird. Und ein nachhaltiger Eindruck
ist auch unwahrscheinlich. Erinnerungen können bei diesen Stadt-Städtchen
nicht mehr mit einer spezifischen Urbanität verknüpft werden, wie das bei Be-
suchen in Paris, Prag und auch München der Fall ist - und wie das, den litera-
rischen und künstlerischen Zeugnissen folgend, auch für das Berlin der
Weimarer Republik zugetroffen haben muss.
Horkheimer und Adorno haben ein solches Phänomen - die Wiederkehr des
Immergleichen - seinerzeit an Film-Klischees kritisiert: „Der Film kann es sich
leisten, das Paris, in dem die junge Amerikanerin ihre Sehnsucht zu stillen ge-
denkt, in trostloser Öde zu zeigen, um sie desto unerbittlicher dem smarten
amerikanischen Jungen zuzutreiben, dessen Bekanntschaft sie schon zuhause
hätte machen können." 34
Dass Kulturindustrie - im Gegensatz zur emphatischen Vorstellung von
Kunst - Erfahrung verhindert, ist eine der zentralen Kritiken. Das zitierte Bei-
spiel ist eines von unzähligen, mit denen Horkheimer und Adorno zeigen, wie
das geschieht.

32 Gerwin Zohlen: „Erblast des Mythos", in: Vittorio Magnogno Lampugnani/Romana Schneider
(Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment. Planungen am Potsdamer Platz in Berlin, Stuttgart
1994, S. 14-23, hier S. 23 (unsere Hervorhebung).
33 Zu den (Un)Möglichkeiten dieser Erfahrung vgl. Kursbuch Stadt. Stadtleben und Stadtkultur
an der Jahrtausendwende. Stuttgart 1999. Dieser Band enthält auch zwei Beiträge über Berlin.
34 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, hier S. 174f.
136 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

Tourismus, der Potsdamer Platz als Kulisse dafür, funktioniert nach dersel-
ben Logik. Es geht um Wieder-Erkennen dessen, was man zuhause kennen ge-
lernt hat: den Freizeitpark und die Shopping-Mall für die Reichen, Jungen und
Schönen. Der von der Stadt durchgesetzte Anteil von 20 Prozent der Fläche für
Wohnungen - im Vergleich zu nur fünf Prozent, die Mercedes angestrebt hat -
ist, so beurteilen es zumindest Häußermann und Kapphan, „hinsichtlich der
Zielsetzung, eine lebendige Innenstadt zu schaffen, ein viel zu geringer An-
teil".35 Wenn es dagegen um eine „Inszenierung von Öffentlichkeit" geht, reicht
das vollkommen aus. Mit einer „gewachsenen" Stadt, in der soziales Leben
räumliche Spuren hinterlässt, haben wir es ohnehin nicht zu tun - nur mit der
schon erwähnten Kulisse. Die Verallgemeinerung der touristischen Haltung, die
mit einem geringen Wohnanteil erreicht wird, sorgt dafür, dass der touristische
Blick auch in Zukunft nicht gestört wird - von Leuten, die einfach mit ihrem
Alltag beschäftigt und von der Permanenz außergewöhnlicher Ereignisse nicht
besonders begeistert sind. Hier entsteht ein Innenstadt-Tourismus, nicht nur
für eigens zu diesem Zweck Angereiste, auch für die Berliner selbst. Es ist zu-
mindest der Ort, den sie ihren Besuchern zeigen.
Der Potsdamer Platz ist ein Tourismuszentrum, das Innenstadt fingiert. Am
markantesten geschieht das in der Alten Potsdamer Straße. Diese großen Bäume,
die auf der Brache überlebt haben - Königslinden - stellen städtisches Flair her:
Mit Natur wird der Eindruck einer historischen Altstadt erzeugt. Ansonsten ist
es die Abwesenheit von Souvenirläden und Tourismus-Informationen, die As-
soziationen an Disneyland verhindern soll. Hier wird richtige Innenstadt ge-
spielt. Wie brüchig diese Inszenierung ist, wurde schon mehrmals angedeutet:
Der Potsdamer Platz ist eine Insel - ein Touristen- und Angestellten-Viertel. Die
einen kommen nur zur Arbeit hierher, die anderen für den schnellen Konsum,
der noch nicht einmal besonders edel ist und damit für diejenigen, die ihn sich
leisten können, enttäuschend. Die Besucher werden in Franchising-Cafes mit
standarisiertem Angebot abgespeist, statt Boutiquen finden sie in den Arkaden
nur Kaufhäuser vor. Der Bildungs- und der Einkaufs-Tourist werden vor Ort
enttäuscht. Das Bildungs-Angebot ist nicht ausreichend, das Waren-Angebot ist
nicht exklusiv genug. Das Bestreben, ein Stadtzentrum und Edel-Viertel zu
kreieren, ist schon im Ansatz gescheitert. Die Attraktivität dieser Kulisse erhöht
sich mit der räumlichen Distanz. Für eine Stadtrundfahrt ist das Gelände - im
Vorbeifahren mitgenommen - ein markantes Panorama. Brachen aller Art - auch
Vergnügungsbrachen - kommen aus dem Sightseeing-Bus am besten zur Gel-
tung. Ein schneller Blick genügt.
Damit könnte man es bewenden lassen. Dieser Tourismus hat aber eine
politische Implikation, die ein paar weiterführende Überlegungen notwendig
macht.

35 Hartmut Häußermann/Andreas Kapphan: Berlin: von der geteilten zur gespaltenen Stadt?
Sozialraumlicher Wandel seit 1990. Opladen 2000, S. 255.
DIE WIDERSPRUCHE VON HERRSCHAFTSDARSTELLUNG 137

Herrschaft und Ruinen schauen: der Souverän als Publikum

Interessant ist, dass da ein Tourismus entsteht, der in Herrschaft-Schauen be-


steht. Herrschaftliche Überwältigungs-Architektur zu betrachten gehört zwar
traditionell zu den touristischen Aktivitäten der gebildeten Klasse, aber als
Relikte vergangener Zeiten. Es sind die Gebäude der untergegangenen Herr-
schaft, die bestaunt werden. Es gehört zu den bürgerlichen Errungenschaften,
auf einen „Bildersturm" verzichtet zu haben. Die Künste der besiegten Herr-
schaft wurden ästhetisiert und entpolitisiert und konnten so vereinnahmt wer-
den. Dass sich die zeitgenössische Herrschaftsarchitektur in einen touristischen
Kontext stellt und als Vergnügungs-Viertel präsentiert, kennen wir noch nicht
so lange.
Im touristischen Kontext wird auch die Formel einer „kritischen Re-
konstruktion der Geschichte" noch einmal interessant. Üblicherweise wird
nämlich in die Zukunft gebaut - das Motto: „Hier entsteht das Berlin des
3. Jahrtausends" hätte sich kulturindustriell angeboten. Musealisiert und als
Touristenfallen verwendet werden dagegen historische Stadtkerne, so es sie gibt.
Noch in den 80er Jahren wurde in Frankfurt, das zugleich schon Manhattan
imitierte, der „Römer" und die „Ostzeil" dem historischen Vorbild entspre-
chend nachgestellt und so ein Versuch unternommen, eine „kitschige Innen-
stadt" touristisch zu vermarkten.
Berlin baut sein Innenstadt-Museum dagegen neu. Wir sind „live" dabei,
wenn Ruinen gebaut werden. Die Pointe daran ist, dass inzwischen wieder „Bil-
dersturm" betrieben wird und wir verfallene Bauwerke nicht konservieren, son-
dern abreißen. Insofern bauen wir auch nicht die Ruinen der Zukunft, sondern
gleich die der Gegenwart. Das deckt sich mit Vorstellungen der Romantik, von
der die Nazis bekanntlich fasziniert waren. Herrschafts-Architektur wird von
ihrem Zustand als Ruine her gedacht.36 Dazu passt, dass man auf beständige,
kostbare Materialien verzichtet und Terrakotta gewählt hat: Das „Billige" sieht
schneller verfallen aus. Herrschaftsdarstellung erhebt inzwischen keinen An-
spruch auf Ewigkeit mehr. Man führt vor, dass man es sich leisten kann, jede
Mode mitzumachen. In ein paar Jahren wird die „Urban Centers" niemand
mehr haben wollen.
Mit der „Inszenierung von Öffentlichkeit" am Potsdamer Platz wird der
Bürger zum Kunden. Damit korrespondiert die Architektur der Regierungsge-
bäude, indem sie „Orte der Selbstdarstellung" schafft. Der Architekt des Kanz-
leramtes Axel Schuhes hebt diese Idee in einem Interview im „Spiegel"37

36 Vgl. dazu Thiessen, Stadt und Meer. Dort heißt es: „Die Ruinenfaszination stammt aus dem
Traum der Romantik, dass gerade das Verfallene seine ursprüngliche Größe in die Jetztzeit über-
trägt. Der Ruinenzustand ist der ursprünglichere. (So werden Speer und sein Bauherr darüber
einig sein, dass nur das architektonischen Wert besäße, was auch als Ruine noch monumental
ist. Ruinenwerttheorem.)" (S. 40)
37 Der Spiegel 17/2001, S. 200-206. Vgl. dazu auch Die Zeit vom 26.4.2001. Dort schreibt Hanno
Rauterberg: „Mehr als jedes andere Ministerium hat sich das neue Kanzleramt auf die Bedürfnisse
138 CHRISTINE RESCH/HEINZ STEINERT

mehrmals hervor. Und was „Dem deutschen Volke" gegenwärtig noch bedeu
tet, macht die begehbare Kuppel des Reichtages offensichtlich: Der Souverän
wird zum Publikum.

der Berichterstatter eingelassen, in vielen Räumen wurden eigens Fernsehscheinwerfer an


der Decke installiert, und natürlich ist auch der Saal für Pressekonferenzen von besonderer Raf
finesse. Über eine Brücke betritt der Kanzler den Raum, verschwindet dann kurz hinter einer
Wandscheibe und taucht anschließend wie durch eine Erscheinungsluke an seinem Rednerpult
wieder auf. Es ist das mediale Spiel aus Selbstdarstellung, Offenbarung und Camouflage, das hier
eine raumliche Form gefunden hat."
HANNELORE BUBLITZ/DIERK SPREEN

Architektur einer Geschlechterkonstruktion.


Der Potsdamer Platz aus der Perspektive
der Gender Studies

I. Einleitung
Der neue Potsdamer Platz 1 kann als architektonischer Topos eines massen-
medialen, verdichteten Raums aufgefasst werden, der alle Zeichen einer virtu-
ellen, in gewisser Weise unwirklichen' Welt in sich birgt. Er stellt eine mediale
Anordnung dar, in der die Bauten Gegenstand ästhetischer Inschriften sind.
Dabei handelt es sich um Signaturen, die den .nackten Körper' der Architek-
tur zum Schauplatz visueller Ein-Drücke machen. Die architektonische Fläche
wird freigemacht für die Installation von Überwachungs-, Disziplinierungs-
und Kontrolltechnologien. Einer politischen Symbolik entkleidet schließt sich
der ,nackte' Körper der Architektur mit politischen Machttechnologien und
medialen Anordnungen einer simulierten Wirklichkeit zusammen. Dem kor-
respondiert die Absage an den Körper als Träger einer politischen Bedeutung.
Der Potsdamer Platz erscheint so als panoptisches Diagramm einer macht-
technologischen Architektur wie auch als mediale Anordnung eines konstru-
ierten Raums, der als Sozialtechnologie funktioniert. Was hier kultur- und
zeitspezifisch verkörpert wird, sind Technologien der flexiblen Produktion des
Körpers, dessen entscheidende Kriterien Sichtbarkeit und Transparenz sind
und dessen Einheit in eine Vielzahl von Oberflächen zerfällt.
Im Folgenden wird der Potsdamer Platz als Darstellung und Verkörperung
einer historisch singularen Geschlechterkonstruktion aufgefasst. Dabei geht es um
die Frage, inwiefern der architektonische Körper als - fassadenhaft - verkleidetes
Bauwerk einer geschlechtlichen Codierung unterliegt und welcher spezifische
Modus einer Geschlechterkonstruktion in die Architektur des Potsdamer Platzes
eingeschrieben ist.2 Denn es handelt sich hier um einen strukturierten Raum, des-

1 Wenn im Folgenden vom .Potsdamer Platz' die Rede ist, dann ist damit entsprechend der all-
täglichen Berliner Sprachregelung zumeist das ganze neu bebaute Areal zwischen Kulturforum
und Leipziger Platz gemeint.
2 Die Frage ist, inwiefern sich in der architektonischen Repräsentation nicht nur eine Vorstellung,
ein Bild, eine Codierungskonvention verkörpert, sondern in der Bedeutung bereits ein mehr
oder weniger willkürliches Konstrukt seinen Ausdruck findet. Das Spektrum der Repräsenta-
tion reicht damit von darstellender Verkörperung bis zur dinglichen Realisierung. Der reale Kör-
per wäre dann lediglich ein Attribut der Repräsentation.
140 HANNELORE BUBLITZ/üIERK SPREEN

sen Konstruktionsprinzip einer Verräumlichung der symbolischen Geschlech-


terordnung gleichkommt und dessen Oberflächen sich als medial konstruierte Ge-
schlechtskörper spiegeln. Der Potsdamer Platz visualisiert - auf der Ebene der
Gestaltung des Areals und auf der Ebene der Repräsentation des Baukörpers - ein
.Manifest der Geschlechterordnung'. Es handelt sich gewissermaßen um eine ,Ver-
geschlechtlichung des Raumes'.3
Mit Bezug auf die Kategorie des .leeren Körperbilds', das von Marie-Luise
Angerer im Anschluss an Jaques Lacan medien- und geschlechtertheoretisch
verwendet wird, erscheinen die Fassaden des Potsdamer Platzes als .leeres
Körperbild', das durch die Phantasiemaschine der Konsum- und Kontrollge-
sellschaft mit symbolischen Geschlechterkonstruktionen gefüllt wird.4 Indem
der technologisch konstruierte Körper nicht mehr an organisch-morphologi-
sche, reale Körper zurückgebunden wird, entfällt hier jedoch das Moment der
Spiegelung des Realen. Die Grenzen von medialem Raum, Körper und Bild
verschwimmen. In der Artifizialität des Potsdamer Platzes ist kein Moment
enthalten, das der symbolischen Ordnung entgleitet. Als Zitadelle der sym-
bolischen Ordnung stellt der Potsdamer Platz die .Generierung eines Realen
ohne Ursprung oder Realität' dar, der die Vervielfachung fraktaler Objekte
entspricht. 5 An die Stelle der Referenz von Zeichen und Symbolen auf etwas
Reales und dessen Repräsentation tritt die völlige Ablösung der Zeichen vom
Realen. Die Simulation wird zum modellhaften Muster der Wirklichkeits-
produktion. 6
Im Folgenden wird der Potsdamer Platz zunächst als verdichtetes, innerstäd-
tisches Areal der artifiziellen Gesellschaft interpretiert. Die Interpretation über-
treibt dabei zugleich in idealtypischer Art und Weise. Zunächst soll geklärt
werden, warum der Potsdamer Platz als technologisch verdichteter und trans-
parenter Raum verstanden werden muss. Anschließend wird mit dem Problem
der Körpergrenzen im verdichteten Raum die Frage nach der dem Potsdamer
Platz inhärenten Geschlechterkonstruktion aufgeworfen. Es erweist sich schließ-
lich, dass er einer Junggesellenmaschine gleicht. Der Potsdamer Platz visualisiert
die Junggesellenmaschine als Körperbild einer städtischen Architektur und als
Zitadelle einer Machtordnung, in der das Geschlecht scheinbar auf völlig belie-
bige Weise konstruiert wird, gleichwohl aber der binären Geschlechtermatrix
verhaftet bleibt.

3 Vgl. Kerstin Dörhöfer: „Symbolische Geschlechterzuordnungen in Architektur und Städtebau",


in: Martina Low (Hg.), Differenzierungen des Städtischen, Opladen 2002, S. 127-140.
4 Marie-Luise Angerer: Body options. körper. spuren, medien. bilder. Wien 2000.
5 Jean Baudrillard: „Videowelt und fraktales Subjekt", in: ars electronica (Hg.), Philosophien der
neuen Technologie. Berlin 1989, S. 113-131.
6 Jean Baudrillard: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin 1978, S. 39-48.
ARCHITEKTUR EINER GESCHLECHTERKONSTRUKTION 141

Abb. 1: Marcel Duchamp


(1915-1923), La mariee mise ä nu
par ses celibataires, meme, Schema
von Roger Aujame.

II. Der Potsdamer Platz als verdichteter Raum


Das Leitbild der Berliner Stadtplanung in den 90er Jahren heißt Verdichtung.7
Der Begriff der Verdichtung dient in der Berliner Städtebaudebatte zunächst
zur Markierung all jener Positionen, welche die .Wiederkehr' der Stadt einkla-
gen. Er lässt sich allerdings auch in machttheoretischer Hinsicht verwenden,
denn der neue Potsdamer Platz stellt in mehrfacher Hinsicht einen verdichte-
ten Raum dar. Der Zweck dieser Verdichtung besteht in der Produktion und
Regulierung von Kommunikations-, Begehrens- und Körperströmen. In min-
destens fünf aufeinander abgestimmten Dimensionen greifen Machtechniken so
ineinander, dass diese Produktion und Regulierung erfolgreich funktioniert. In
der medialen Dimension konstituiert der Potsdamer Platz einen panoptischen
Raum. Durch die Verräumlichung der Warenästhetik beherrscht er die ästhe-
tische Dimension. In der symbolisch-politischen Dimension repräsentiert er als
Telezitadelle den uneingeschränkten Fluss globaler Kapital- und Informations-
ströme. In der sozialen Dimension verkörpert er eine Gesellschaft, in der die
Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit fällt. In der Zeitdimension ver-

7 Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie (Hg.), Planwerk In-


nenstadt. Em erster Entwurf. Berlin 1997, S. 6.
142 HANNELORE BUBLITZ/DIERK SPREEN

dichtet er die Geschichte zu einem Mythos, der das, was neu ist, als immer
schon Gewesenes hypostasiert.
Bedingung für das ,verdichtende' Ineinandergreifen dieser fünf Machtdimen-
sionen ist der totale, artifizielle Charakter des neuen Potsdamer Platzes. Er stellt
keine historisch gewachsene Stadt dar, sondern bildet eine auf der tabula rasa des
zweiten Weltkrieges und des Ost-West-Konflikts errichtete, bis ins kleinste De-
tail durchkonstruierte, künstliche Lebenssphäre, vergleichbar einer Raumstation
im All. Als Modell einer verdichteten, technisch konstruierten Welt, bietet der
Potsdamer Platz sich geradezu als architektonische Verkörperung von Künst-
lichkeit dar, in der Natur, verstanden als Äußeres, als ursprünglich und unab-
hängig von der künstlichen Ordnung Existierendes, verschwunden ist. Damit
wird auch die räumliche Anordnung von Innen und Außen negiert, die ein
grundlegendes Charakteristikum der Moderne darstellte. Im verdichteten Raum
gibt es kein Außen mehr.8
Solche rein künstlichen Konstruktionen erlauben eine weiter reichende Kon-
trolle aller in ihrem Bereich verlaufenden Lebensströme und Handlungsprozesse,
als das in historisch gewachsenen, daher notwendig .verwinkelten' und für die
Blicke der Macht weniger durchdringbaren Räumen der Fall sein kann. Spezifi-
sches Kriterium der Architektur am Potsdamer Platz ist nicht, das sie künstlich
ist, sondern das sie eine verdichtete Stadt verkörpert. Sie ist quasi aus einem Stück.
Damit korrespondiert, dass ihre Fassaden keine Geschichte widerspiegeln, son-
dern diese lediglich mythologisch simulieren. Letztlich ist das neue Viertel am
Potsdamer Platz eine in alle Raumdimensionen ausgedehnte Betonstruktur, die
mit verschiedenen Fassaden behängt worden ist. Die Idee zu einer solchen Ar-
chitektur stammt von Marcel Breuer, der Martin Wagners Konzept einer ge-
sichtslosen und völlig flexiblen Großstadtarchitektur übernimmt. Er beschreibt
bereits 1929 das Grundmuster einer Architektur, in der die Gebäude in einfach-
ster Form konstruiert sind und ihr „Äußeres nur einen Grundrhythmus zu den
dauernd wechselnden überraschenden und individuell-vielseitigen Farben und
Lichtformen der City bildet. Sie sind der nackte Körper, den die wechselnde Zeit
aktuell-verschiedenartig bekleidet" .9 Die Phänomenologie des Stadtbildes ist eine
Täuschung, denn sie verkörpert kein geschichtliches Werden, sondern eine reine

8 Die Unterscheidung von Innen und Außen bezog sich im modernen Denken sowohl auf die
Abgrenzung eines begrenzten Raums der Gesellschaftsordnung von äußeren Naturräumen als
auch auf die Abgrenzung des als Fortwirken der Natur verstandenen Unbewussten im Inneren,
das, in die Raummetaphorik gefasst, zugleich als das Außen des menschlichen Geistes, der Ver-
nunft oder des Bewusstseins galt. Mit dem Einbruch dieser Unterscheidung fällt die Souverä-
nität des Subjekts, die zwischen der natürlichen Ordnung der Triebe und der gesellschaftlichen
Ordnung der Vernunft vermittelt. An die Stelle der Dialektik von Innen und Außen in der Zi-
vilisierung von Natur treten ausschließlich künstliche Kräfte, tritt ein Spiel von Hybridität und
Künstlichkeit (Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/Main
2002, S. 198f.).
9 Dietrich Neumann: „Die ungebaute Stadt der Moderne", in: Thorsten Scheer, Josef Paul Klei-
hus, Paul Kahlfeld (Hg.), Stadt der Architektur - Architektur der Stadt. Berlin 1900-2000. Ber-
lin 2000, S. 161-174, hier S. 171; Hervorhebung durch die Verf.
ARCHITEKTUR EINER GESCHLECHTERKONSTRUKTION 143

Abb. 2: Das Glasdach über dem Forum im Sony-Center.


144 HANNELORE BUBLITZ/DIERK SPREEN

Konstruktion. Das ganze architektonische Gebilde ist daher ein organloser Kör-
per im Sinne von Gilles Deleuze und Felix Guattari, d.h. es bildet eine glatte Ober-
fläche, ein undifferenziertes Fließen von Wunschströmen.10 Allerdings realisiert
er nicht die .revolutionäre' und .schizophrene' Verkettung von Wunschströmen,
sondern er stellt vielmehr die Bedingung der Möglichkeit für eine Codierung
durch die symbolische Ordnung dar. Die .nackten', nach denselben Prinzipien er-
richteten architektonischen Körper erlauben ihre .Bekleidung' im Sinne einer
Machtanordnung.

Der panoptische Blick

Die umfassende Artifizialität ist es, welche die Verdichtung des Raums möglich
macht. In der medialen Dimension sind es allgegenwärtige, aber dennoch verbor-
gene Videokameras, die einen verdichteten Raum der Blicke erzeugen. Der Raum
wird für die überwachenden Blicke vollständig transparent, wohingegen der über-
wachende Blick sich dem Sehen entzieht, weil die Videokameras in der Regel weit
über Kopfhöhe und verborgen angebracht sind. Sinn der Überwachung ist neben
dem Gebäudeschutz, dass Störungen der Begehrensströme unterbleiben. Die
Transparenz des überwachenden Blicks findet sich in den Glasfassaden im Sony-
Bereich sinnlich verkörpert. Vor den Glasscheiben wird jeder sichtbar und zu-
gleich einem anonymen Blick unterworfen. Der anonyme Blick der Masse richtet
sich durch das Glas auf sich selbst, so dass eine reflexive Selbstkontrolle stattfin-
det und die Gefahr verschwindet, die von einer versammelten Masse ausgehen
könnte. Auf dem Potsdamer Platz flaniert, konsumiert und genießt man; hier
wohnt man nicht, sondern hier hält man sich zeitweise auf. Arbeit erscheint hier
nicht als Verausgabung von Muskel, Nerv und Schweiß, sondern als ein Lebens-
gefühl. Anders als in den 20er Jahren ist der Potsdamer Platz kein Verkehrskno-
tenpunkt, kein Tor zur Stadt' für Pendler. Auch versammelt sich hier niemand -
etwa zum Zwecke einer politischen Kundgebung -, vielmehr durchzieht die indi-
vidualisierte Masse aus Konsumenten und Touristen den Stadtraum in frei flot-
tierenden Strömen. Diese Ströme folgen einem regulierten Begehren.

Phantasmatischer Raum

Reguliert wird dieses Begehren durch die Verräumlichung der Warenästhetik. Der
Potsdamer Platz weist weniger eine für die moderne Stadt typische Schaufen-
sterarchitektur auf - obwohl auch diese sich dort findet, etwa in der Mall -, viel-
mehr bilden seine Fassaden eine einzige leere Reklamefläche. Die Stadteile und
Gebäude tragen Markennamen - Sony-Center, Daimler-City, A+T-Kolonnaden -
und werden zur warenästhetischen Fläche, ohne überhaupt noch Waren abbilden

10 Gilles Deleuze/Felix Guattari: Anti-Ödtpus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt/Mair


1974, S. 15.
ARCHITEKTUR EINER GESCHLECHTERKONSTRUKTION 145

zu müssen. Warenästhetik ist der Spiegel des Begehrens, denn die bunten und
leuchtenden Oberflächen der Waren lesen die Wünsche von den Augen ab. 11
Aber das Begehren kommt niemals zum Abschluss; weil es konstitutiv über den
Blick der anderen vermittelt ist, verfehlt es sich systematisch selbst. Diesen
Mangel spiegelt der warenästhetisch-verdichtete Raum als solchen zurück. Die
leeren Reklamefassaden überbieten die gewöhnliche Logik der warenästhetischen
Begehrensproduktion. Sie verzichten auf jede Erinnerung an einen Gebrauchs-
wert. Dadurch wird der ganze Raum zu einem Ort, der iürjede Sehnsucht offen
ist und damit das Versprechen enthält, sie zu befriedigen - die totale Apotheose
des warenförmigen Konsums. Der Potsdamer Platz bildet einen lückenlosen
phantasmatischen Raum, wenn man unter dem Phantasma den Schauplatz der
Realisierung und Inszenierung des Begehrens versteht.12 Als Maschine der Wün-
sche und Wunder ruft er die Massen an, die ihn durchstreifen. Sie verfallen damit
einem prüfenden Blick auf sich selbst. Das scheinbar so leichte und genießerische
Flanieren über den Platz wird zur ständigen Selbstprüfung. Diese kann nur ne-
gativ ausfallen, weil im Blick des zum Versprechen verkehrten gespiegelten Man-
gels der reale Körper nicht bestehen kann. Die Negation des Realen, die dieser
Raum produziert, macht auch die lebendigen Körper zu ,nackten Körpern'. Diese
sind nun offen für die konstruierten Körperbilder, die in den flexiblen Ge-
schlechtsavataren des C/wwex-Zeitalters sinnlich werden.

Zitadelle

Umgeben von Wassergaben und Landwehrkanal, Grüntangente und Tierpark,


Potsdamer Straße und Kulturforum bildet das Viertel eine nach Innen über-
wachte und nach Außen abgeschlossene .Stadt in der Stadt', d.h. eine postmoderne
Zitadelle. Die Zitadellen des 16. und 17. Jahrhunderts dienten der Sozialdiszipli-
nierung. Sinn jener Festungen in der Festung war die Kontrolle der potenziell auf-
sässigen Bürger der Stadt. Sowohl die die Stadt umgebenden Befestigungsanlagen
als auch die zentralen Zitadellen stellten geometrische Regularfestungen dar, die
zugleich das Prinzip der politischen Macht verdeutlichten. Im Idealfall liefen die
Straßen von der mittig liegenden Zitadelle strahlenförmig nach außen. Sie waren
so angelegt, dass sie von den Wällen der Zitadelle aus mit Kanonen bestrichen
werden konnten. Außerdem ermöglichte die Anordnung für eine gute blick-
mäßige Kontrolle.13 Auf die gradlinig-strahlenförmige Anlage kann die Machtar-
chitektur heute verzichten, weil die Videokameras auch verwinkelte Anlagen dem
überwachenden Blick erschließen können. Anders als die seine Vorläufer ist die
Zitadelle, die der Potsdamer Platz bildet, keine militärische Anlage; auch symbo-

11 Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt/Main 1971, S. 62-64.


12 Salvoj Zizek: Mehr-Gemeßen. Wien 1997, S. 15.
13 Henning Eichberg: Festung, Zentralmacht und Sozialgeometrie. Kriegsingenieurwesen des 17.
Jahrhunderts in den Herzogtümern Bremen und Verden. Köln/Wien 1989, S. 425.
146 HANNELORE BUBLITZ/DIERK SPREEN

lisiert sie keine politische Zentralmacht. Sie verkörpert vielmehr die Macht der
globalisierten Kapital- und Informationsströme.14 Im Innern Berlins, der Haupt-
stadt Deutschlands, die weder mit historischer noch mit neuer Machtarchitektur
geizt, ist ein Raumschiff des globalen Informationskapitalismus gelandet.15 Des-
sen Machtprinzip basiert auf der Kontrolle der Kommunikation. Das Sony-Motto
„Wer schweigt, verschwindet", das zugleich eine Drohung ist, bringt auf den
Punkt, worum es geht. Darum nämlich, wer in Zukunft zu sprechen befugt ist und
wer nicht. Was der Potsdamer Platz symbolisiert, ist die Macht sprechen zu kön-
nen. Insofern er diese Macht repräsentiert, ist er eine Zitadelle der symbolischen
Ordnung und der Diskursmacht. Er steht für die kontrollierte Verdichtung der
weltweiten Kommunikation, die sich bislang noch recht unkontrolliert in den
Netzen verstreut.
Diese Zitadelle markiert zugleich die in die symbolische Ordnung eingeschrie-
bene Geschlechterhierarchie, welche in den Dimensionen, Proportionen, Mate-
rialien und in der Formgebung des Potsdamer Platz-Areals zum Ausdruck
kommt. Hier dominieren die Hochhäuser der Geschäftswelt als moderne .Ka-
thedralen für das Management'. Die in diesen Gebäuden tätigen local servants, d.h.
die überwiegend niedrig entlohnten weiblichen Arbeitnehmerinnen (Sekretärin-
nen, Kellnerinnen, Verkäuferinnen und das Heer der Putzfrauen) bleiben un-
sichtbar. Die Überlegenheit des Business gegenüber dem Reproduktionsbereich
zeigt sich auch darin, dass die Wohnungsanteile des Potsdamer Platzes verglichen
mit den Hochhäusern und den hochverdichteten Blöcken des Geschäftsareals ver-
borgen bleiben. Dadurch reproduziert sich die geschlechtsspezifische Arbeitstei-
lung als Vergeschlechtlichung der Raumstrukturen.16

Privatisierte Öffentlichkeit

In der sozialen Dimension äußert sich die Tendenz zur Verdichtung des Raums
durch die Aufhebung des Gegensatzes zwischen privatem und öffentlichem
Raum. Eine Stadt „ist eine Ansiedlung, in der das gesamte, also auch das alltäg-
liche Leben die Tendenz zeigt, sich zu polarisieren, d.h. entweder im sozialen
Aggregatzustand der Öffentlichkeit oder in dem der Privatheit stattzufinden."17

14 Dezentralisiert etabliert diese Macht kein territoriales Zentrum noch beruht sie auf festgelegten
Grenzziehungen, sondern sie arrangiert und organisiert eine Vielzahl von Austauschverhältnis-
sen, hybriden Identitäten und flexiblen Hierarchien. Darin ist die Zitadelle des Potsdamer Plat-
zes durchaus dem Begriff des .Empire' vergleichbar. Dieser bezeichnet kein historisches Regime,
das aus territorialen Eroberungen hervorgegangen ist, sondern eine Ordnung, welche die Ge-
schichte vollständig suspendiert, den Raum in seiner Totalität und das gesellschaftliche Leben
in seiner Gesamtheit umfasst (vgl. Hardt/Negri, Empire, S. 13.).
15 Dieter Hoffmann-Axthelm: Anleitung zum Stadtumbau. Frankfurt/Main 1996, S. 60f.
16 Dornhöfer, Geschlechterzuordnungen, S. 131f.
17 Hans Paul Bahrdt: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Rein-
bekl961,S.38.
ARCHITEKTUR EINER GESCHLECHTERKONSTRUKTION 147

Die Stadt ist wesentlich ein marktförmig organisiertes Siedlungs- und Wirt-
schaftsgefüge. In ihr stellen sich andauernd beliebige und flüchtige Kontakte
zwischen Unbekannten her, die nach bestimmten, durch Sanktionen abgesi-
cherten Regeln ablaufen und die den jeweiligen sozialen Hintergrund der Ak-
teure ausklammern. In der Öffentlichkeit regelt sich sozialer Verkehr durch
Distanz; Persönliches oder Intimes findet in der Privatsphäre statt. Die Tren-
nung der Sphären des Privaten und des Öffentlichen ist für das bürgerliche
Leben in der Stadt konstitutiv. In der modernen, industriellen Großstadt wird
diese Trennung bereits problematisch. Die Straßen und Plätze repräsentieren
keine Öffentlichkeit mehr, sondern den Verkehr. An die Stelle des öffentlichen
Kontaktes, tritt der kontaktlose Transit. Dem entspricht eine starke Betonung
des Individualismus; dagegen wird der öffentliche Raum der Stadt vom Städter
oftmals als .Dschungel' und als eine entfremdete Welt wahrgenommen. Die
Städter fliehen ins Land. Folge ist das Verfließen der Großstädte in die Land-
schaft, das Wuchern der suburbs und garagelands}1
Die Verdichtung des Raums am Potsdamer Platz rekonstruiert nicht einen
öffentlichen Stadtraum, sondern sie konstituiert einen privaten und überwach-
ten Raum. Die stadtkonstitutive Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit
wird aufgehoben. Unter den intimen Augen der Videokameras, im Spiegel des
Begehrens der individualisierten Masse und durch die symbolische Kontrolle
der Kommunikation verschwindet die Möglichkeit, die Distanz zum öffent-
lichen Anderen herzustellen, die den städtischen Bürger charakterisiert. Der
Körper betritt keine Stadt, sondern einen allgemeinen virtuellen Raum, der sich
nahtlos und unaufdringlich an ihn anschmiegt, sich mit ihm verbindet und ihn
trägt - eine medial-architektonische Matrix, welche die Differenz zwischen
Körper und Raum durch Strategien der Verdichtung aufhebt. In der urbanen
Landschaft des Potsdamer Platzes zeigt sich die zunehmende Privatisierung
öffentlicher Räume und deren Verschiebung zur geschlossenen Konstruktion
von Einkaufs- und Freizeitzentren. Sie vermeidet die zufällige Begegnung
unterschiedlicher Bevölkerungen dadurch, dass sie eine Reihe geschützter und
isolierter Innenräume schafft. Dabei ist die geschlossene Konstruktion des Pots-
damer Platzes zugleich ein grenzenloser Raum: In ihm verschwindet die - po-
litische - Öffentlichkeit in der kontrollierten Zerstreuung der Menge. Privates
und Öffentliches lässt sich nicht mehr unterscheiden.
Entsprechend dieser Privatisierung des Öffentlichen ist der Potsdamer Platz
von sozialen Imaginationen frei. Er bleibt unbeschrieben, transparent, die ein-
zige Graffiti-freie Zone Berlins (vom Regierungsviertel einmal abgesehen).
Tags - so heißen die unverständlichen Signaturen, die Jugendliche auf Haus-
wände und U-Bahn-Wagen sprühen - haben keine Botschaft. „Es ist diese
Leere, die ihre Kraft ausmacht".19 Graffiti stört die symbolische Ordnung. Sie

18 ebd.,S. 100-105.
19 Baudrillard, Kool Killer, S. 30.
148 HANNELORE BUBLITZ/DIERK SPREEN

stellt eine Antwort auf das als entfremdet wahrgenommene urbane Leben dar,
denn sie entwendet die Fassaden der Ordnung der Zeichen. Die Transparenz
des Potsdamer Platzes lässt „die Leute kollektiv ohne Antwort". 20 Die ganze
Anordnung zeigt sich damit als Massenmedium.

Der Mythos ,Potsdamer Platz'

In der Zeitdimension verdichtet sich die Geschichte des Potsdamer Platzes zu


einem Mythos. Im offiziellen Diskurs wird der Potsdamer Platz als historische
Rekonstruktion der verdichteten .europäischen Stadt' gefeiert. Beim städte-
baulichen Wettbewerb 1991 wurde der Entwurf von Hilmar & Sattler prämiert,
welcher der späteren Planung zugrunde liegt. Dieser Entwurf markiert, „mit
seiner streng an der europäischen Stadt angelehnten Rekonstruktion, den kon-
servativen Extrempol." 21 Blockbebauung, (in etwa) eingehaltene mittlere Ber-
liner Traufhöhe, Zitate der 20er Jahre kennzeichnen die Architektur in dem
neuen Stadtviertel. Die Glasfassaden, insbesondere im Sony-Komplex (aber
auch im Debis-Bereich), zitieren das Columbus- und das Telschow-Haus. Für
die vergleichsweise kleinen Hochhäuser am Platz selbst gibt es Vorbilder, etwa
den Entwurf von Havestadt & Contag, Bruno Schmitz und Otto Blum (1910),
Martin Wagners Umgestaltungsentwurf (1928) oder die Planung für das .Haus
Berlin' durch Hans und Wassili Luckhardt und Alfons Anker (1929-31). Schon
Karl Friedrich Schinkel hatte für das spätere Josty-Grundstück einen Turm
gefordert. In Berlin sind die Hochhäuser des Potsdamer Platzes zwar (noch?)
etwas Außergewöhnliches, aber durch den geschickten diskurspolitischen
Rückgriff auf die Geschichte dieses Stadtviertels und die historischen Ideen
zu seiner Bebauung kann er dennoch als .Rekonstruktion' dargestellt wer-
den. Damit wird die Geschichte dieses städtischen Areals zu einem Mythos
verdichtet. Die Erzählung dieses Mythos ist schon den Touristenführern zu ent-
nehmen; behauptet wird, dass der neue Potsdamer Platz die Geschichte ver-
körpert und gewissermaßen auf den Punkt bringt. Als geschichtsträchtig gelten
dabei für den Potsdamer Platz insbesondere die 20er Jahre.22 Daniel Libeskind
hat darauf hingewiesen, dass dieser Mythos den Fluss der Zeit zu einem kom-
pakten Ganzen zu verdichten und still zu stellen trachtet:
„Die auseinandergerissenen Bruchstücke der Geschichte haben nie als
Ganzes existiert, weder im idealen noch im realen Berlin. Und ich glaube auch
nicht, daß sie sich, in irgendeiner hypothetischen Zukunft, wieder zusammen-

20 ebd., S. 33.
21 Matthias Pabsch: Zweimal Weltstadt. Architektur und Städtebau am Potsdamer Platz. Berlin
1998, S. 72.
22 Zur Rekonstruktion des Diskurses, der diesen Mythos konstituiert vgl. Dierk Spreen: „.Wer
schweigt, verschwindet.' Potsdamer Platz und Mythos Berlin", in: Die Neue
furter Hefte 3 (2000), S. 171-173.
ARCHITEKTUR EINER GESCHLECHTERKONSTRUKTION 149

fügen lassen. Vor allen Dingen stimmt es nicht, daß Berlin so war, wie es durch
den Goethe-Mythos, den Schinkel-Mythos, den Mythos der zwanziger Jahre
auf uns gekommen ist - es war überhaupt nie so. Es hat nie ein Berlin gegeben,
und es wird niemals etwas sein, das in irgendeiner hypothetischen Zukunft wie-
der zu einer Metropole (oder wie auch immer man es nennen will - die Große
Stadt der Zukunft), zusammengefügt werden könnte." 23

III. Dekonstruktion von Körpergrenzen


Als verdichteter Raum massenkulturell gespiegelter Oberflächen und als Ort
transversaler Bewegungen bietet der Potsdamer Platz Raum für alle möglichen
Dekonstruktionen: Das die Grenzziehungen des Städtebaulichen und des Kör-
pers ständig Überschreitende, dessen Oberfläche durch Bewegungsströme um-
herschweifender Menschenströme gebrochen wird, artikuliert sich in der
.entkörperten' Zirkulation und in massenkulturell .kultivierten' Oberflächen
ebenso wie es sich in der Transparenz des baulichen Körpers spiegelt. Die Ar-
tifizialität zeigt sich im Dekor einer Konstruktion, deren Materialität sich unter
wechselnder Reklame in Farbe, Form und Licht und in Fassadenkonstruktio-
nen auflöst. Übrig bleibt ein Raum virtuell fließender Körper und elektronisch
gesteuerter Kommunikation. In ihn ist die Differenz eines morphologischen
Körpers und seines imaginären Körperbilds auf spezifische Weise eingeschrie-
ben: Bildet einerseits die Morphologie die Voraussetzung für seine geschlecht-
liche Spiegelung im Körperbild und das Medium andererseits die Bedingung für
die Produktion wirklicher Körper, so löst sich die Grenze zwischen Körper und
Bild im verdichteten medialen Raum auf. Hier kommt ein Körperbegriff zum
Tragen, der von einem .Schwellendasein' (Marie-Luise Angerer) des Körpers
ausgeht. In ihm sind nicht nur Diskurs und Materialität miteinander ver-
schränkt, sondern Raum und Körper werden eins. Der Körper bewegt sich nun
nicht mehr in einer Art Übergangsraum zwischen dem - subjektiven - Ort des
Sehens und dem - den Körper spiegelnden und ihn in der Distanz objektivie-
renden - Ort des Blicks. Vielmehr wird die Nichteinholbarkeit des Ortes, von
wo der Blick auf den Körper fällt, durch die Oberflächenstruktur einer Archi-
tektur abgelöst, die fortlaufend fraktale Körperbilder erzeugt, d.h. Körperbil-
der, in denen jeder immer nur sich selbst anblickt. Hier regiert nicht der Blick
des Anderen, sondern die panoptische .Bildschirmapparatur' einer Architektur,
aus der soziale Interaktivität gelöscht wird. Im Blick dieser machttechnologi-
schen Anordnung spiegelt sich die virtuelle und fraktale Struktur eines Tech-
nokörpers, der im Taumel seiner Oberfläche versinkt.24

23 Daniel Libeskind: Kein Ort an seiner Stelle. Schriften zur Architektur - Visionen für Berlin.
Dresden/Basel 1995, S. 88.
24 Baudrillard, „Videowelt und fraktales Subjekt", S. 116.
150 HANNELORE BUBLITZ/üIERK SPREEN

IV. Transparente Architektur einer Geschlechterkonstruktion

In der aktuellen Bekleidung des .nackten' Baukörpers des Potsdamer Platzes


wird eine Art .Geschlechterapparat' (Anne Balsamo) wirksam. In ihr ver-
schränken sich architektonischer Körper und Geschlechtertechnologien. Dabei
wird der Geschlechtskörper zum Epiphänomen der verwendeten Technologien.
Er verkörpert nun Eigenschaften technologisch erzeugter Bilder. Gleichzeitig
unterliegt die Rede über den Körper einer irreduziblen Zweideutigkeit, die zu
einer Fusion und Konfusion von Körper und Bild, von physischer Materialität
und diskursiver Codierung führt. Der Körper erscheint auf diese Weise als
,Nicht-Ort' einer Auflösung der Grenzen zwischen der Dimension des Sym-
bolischen, der Darstellung, des Bildhaft-Figurativen und der jenseits der Di-
mension der Zeichen situierten Dimension des Realen, die von Lust, Schmerz,
Trauma, Tod und Zeitlichkeit bestimmt ist. Zwischen diesen Dimensionen ist,
soweit es den Körper betrifft, keine trennscharfe Unterscheidung möglich.25
Die geschlechtliche Markierung des Körpers stellt aus der Perspektive de-
konstruktivistischer Geschlechtertheorien eine der Verkleidungstechnologien
dar, die dem Körper gleichsam ein der Kulturkleiderordnung entsprechendes
.natürliches' Aussehen geben. Dabei ist die Infragestellung des Körpers als Vor-
aussetzung von Geschichte, symbolischen Ordnungen und Technologien eines
der zentralen Anliegen dieser Theoriebildung. Sie verweist auf Konstruktionen
und Technologien, bei denen der Eindruck entsteht, die kulturellen Bedeutun-
gen würden auf den realen Körper als unerlässliche Spiegelbilder folgen.26 Folgt
man Judith Butler, dann ist der Körper aber ein dem symbolischen Spiegel vor-
gängig gesetzter oder bezeichneter Körper: „Diese Bezeichnung vollzieht sich
dadurch, daß sie einen Effekt ihres eigenen Verfahrens hervorbringt, nämlich
den Körper, und dennoch zugleich behauptet, diesen Körper als das zu ent-
decken, was jeder Bezeichnung vorhergeht."27
Im Zuge neuer Körpertechnologien ist immer wieder von der Auflösung
der Materialität des Körpers die Rede. Daran knüpfen sich Hoffnungen auf das
Verschwinden des geschlechtlich markierten Körpers und der mit dieser Markie-

25 Julika Funk: „Das iterative Geschlecht. Zur verzögerten Historizität von Geschlechterdifferenz",
in: metis 9 (2000), S. 67-86, hier S. 76, hier S. 66; vgl. auch Birgit Erdle: „Der phantasmatische und
der decouvrierte weibliche Körper. Zwei Paradigmen der Kulturation", in: Feministische Studien
2(1991), S. 65-78.
26 Vgl. Hannelore Bublitz: „Geschlecht als historisch singuläres Ereignis. Foucaults poststruktura-
listischer Beitrag zu einer Gesellschafts-Theorie der Geschlechterverhältnisse", in: Gudrun-Axeli
Knapp, Angelika Wetterer (Hg.), Soziale Verortung der Geschlechter. Gesellschaftstheorie und
feministische Kritik. Münster 2001, S. 256-287; Hannelore Bublitz: „Wahr-Zeichen des Ge-
schlechts. Das Geschlecht als Ort diskursiver Technologien", in: Andreas Lösch, Dominik Schräge,
Dierk Spreen, Markus Stauff (Hg.), Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen,
dien und Körpern. Heidelberg 2001, S. 167-183.
27 Judith Butler: „Kontingente Grundlagen. Der Feminismus und die Frage der .Postmoderne'",
in: Seyla Benhabib u.a. (Hg.), Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der
genwart. Frankfurt/Main 1993, S. 31-58, hier S. 52.
ARCHITEKTUR EINER GESCHLECHTERKONSTRUKTION 151

Abb. 3: Urban Entertainment Center (Sony Center).

rung verbundenen Machtordnung.28 Anne Balsamo widerspricht allerdings der


These, dass die Geschlechtlichkeit des Körpers in der technologisch konstruier-
ten Kultur obsolet geworden sei. Sie macht darauf aufmerksam, dass auch neue
Technologien weit davon entfernt sind, die Materialität des Körpers zu vernei-
nen. Auch wird der Körper keineswegs geschlechtslos.29 Durch Zusammen-
schluss heterogener Elemente und Operationen und unter Rückgriff auf eine
binäre Geschlechtermatrix wird technisch konstruierten Körpern ein Geschlecht
eingeschrieben. Auch Technokörper sind geschlechtlich markierte Körper. Sie bil-
den einen privilegierten Ort kultureller Symbole und Zeichen. Allerdings zeigen
sich in der Koppelung von Körper und Medien vielschichtige Überschreitungen
und Überschreibungen der binären Geschlechtergrenzen. Visualisierungstechni-
ken tragen zur Fragmentierung des Körpers bei. Sie transformieren den Körper
in ein visuelles Medium. Dem Blick von Visualisierungstechniken unterworfen,
wird der Körper zum Objekt technologischer Rekonstruktionen. Der Ge-
schlechtskörper ist daher ständigen technisch-medialen Umformungen unter-
worfen. Er wird zum fluktuierenden Effekt von Diskursivität. 30 Seine Ver-
vielfältigung bringt die Geschlechterbinaritat in Verwirrung und enthüllt ihre

28 Vgl. Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frank-
furt/Main 1995, S. 62-72; Donna Haraway: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu
Feminismus und Technowissenschaft. Hamburg/Berlin 1995, S. 165-184.
29 Anne Balsamo: Technologies of the gendered body. Reading cyborg women. London 1996, S. 6-11.
30 Vgl. Funk, „Das iterative Geschlecht".
152 HANNELORE BUBLITZ/DIERK SPREEN

grundlegende Unnatürlichkeit. 31 Dennoch schreiben sich in die körperlichen


Oberflächenstrukturen - gerade bei transgressiven, die Geschlechtergrenzen
überschreitenden Körpern - erneut ideale Verkörperungen des Geschlechts ein,
welche die hierarchischen Strukturen der symbolischen Geschlechterordnung re-
produzieren. Die Transgression spiegelt als solche lediglich das Kräfteverhältnis
der sozialen Ordnung wieder, in der die Kultur jeden auf seinen Platz verweist.
Das heißt, dass auch mediale Konstruktionen den ohnehin diskursiven Kon-
struktionsmodus von Körpern als Geschlechtskörper nicht hintergehen. Tech-
nisch-mediale Umschriften machen sowohl auf die konstruierte Natur des Ge-
schlechts aufmerksam, als auch auf die Kontingenz hybrider Entwürfe von
Geschlechtskörpern.
In der technischen Konstruktion des Potsdamer Platzes wird der Modus die-
ser Geschlechterkonstruktion im wörtlichen Sinne durchsichtig: Die Transpa-
renz des architektonischen Baukörpers macht die künstliche Hervorbringung
des Geschlechtskörpers als Ort einer Einschreibefläche sichtbar, die keineswegs
als unerlässliches Spiegelbild auf den realen Körper folgt, sondern sich in das
Spiel von Referenzen in einer Zeichenkette auflöst. Der Körper wird zum Ort,
an dem das Geschlecht sichtbar gemacht und markiert wird. Jenes ist nicht die
Bestätigung oder Spiegelung eines vordiskursiven, .natürlichen' Körpers. Der
.nackte' Körper als dem symbolischen Spiegel vorausgesetzter ist bereits Effekt
des Spiegels als Medium und damit des Bezeichnungsvorgangs. Symbolische Zei-
chen produzieren den Körper erst als Geschlechtskörper durch Einschreibung
des Geschlechts in Oberflächen. Dies ist aus diskurstheoretischer Sicht kein Vor-
gang, der an einem unbeschriebenen, .nackten' Baukörper Spuren der Einschrei-
bung hinterlässt. Vielmehr handelt es sich darum, dass der .nackte' Körper als
Einschreibefläche erst hervorgebracht wird. Geschlecht erscheint hier im visu-
ellen Ein-Druck auf der Oberfläche des .leeren' Körpers, der wiederum durch
die Konstruktion einer .Leere' als solcher erst hervorgebracht wird.

V. „Ich ist ein Anderer" - Spiegelungen als Metapher einer


Vermischung oder reine Technologie?
Wenn Lacans Modell des Spiegelstadiums von einer originären Verkennung
des Subjekts im Feld des Blicks ausgeht, dann wird vorausgesetzt, dass das Sub-
jekt zwar keine unmittelbare, authentische Körpererfahrung hat, sich aber gleich-
zeitig durch den Eintritt in die Ordnung der Signifikanten ebenso wenig
zugänglich ist. Ein unlösbarer Konflikt, der nur den Ausweg eines fiktiven Kör-
persubjekts bietet. Unausweichlich geschieht die Produktion wirklicher Körper
durch Aufnahme des Körpers in die symbolische Ordnung der Repräsentation.
Sie ist mit seiner Idealisierung, dem Eindruck seiner Vollkommenheit verbunden

31 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main 1991, S. 218


ARCHITEKTUR EINER GESCHLECHTERKONSTRUKTION 153

und mit dem gesellschaftlich evozierten Begehren verwoben, einen perfekten


Körper zu haben. Die symbolische Repräsentation des Körpers geschieht durch
den Blick des Dritten bzw. der symbolischen Ordnung. Der Blick auf das Spie-
gelbild des Körpers erfolgt vom Ort des Anderen und der symbolischen Ord-
nung aus. Körperlichkeit und Subjektivität konstituieren sich demnach immer
nur als Zeichen innerhalb einer Zeichenkette; sie sind als .authentische Körper'
niemals außerhalb eines Systems von Differenzen präsent. Dabei geht das Bild des
Körpers dem realen Körper voraus. Dieser folgt dem unerreichbaren Imaginären
des Körperbilds unaufhörlich nach - ohne jemals mit ihm zur Deckung zu kom-
men. Daraus folgt die Annahme einer Nicht-Identität und Fiktionalität des Sub-
jekts als authentischer Einheit, der in dem Versuch des becoming-the-other
angelegt ist. Zugleich geht Lacan von einem ,Mehr-des-Bildes', dem Realen, das
sich .hinter dem Bild' verbirgt, aus. Die Materialität des Körpers ist, so Angerer
im Anschluß an Lacan, die Verkörperung des Spiegelkörpers (des Ideals) und des
Körperbilds, das sich einer subjektiven Körpergeschichte verdankt. Hier verbin-
det sich also der Körper als Ort imaginärer und symbolisch-diskursiver Beset-
zungen und als Ort einer psychischen Realität des Subjekts, einer Spur subjektiver
Erfahrungen, die in die Morphologie des Körpers eingeschrieben ist. Der Körper
entgleitet also dem Rahmen medialer Körperbilder, insofern die Wahrnehmung
des eigenen Körpers sich einem unbewussten Realen verdankt. Angerer nimmt
an, dass es einen ,Raum von Gewicht' gibt, der den realen Körper, das subjektive,
reale Körperbild nicht mit medialen Körperbildern zusammenfallen lässt. Es gibt
immer ein Moment, so Angerer, das der symbolischen Ordnung entgleitet, das
nicht greif- oder sichtbar ist. Der Körper befindet sich demnach auf der Schwelle
zwischen einem subjektiven Raum/Bild, das sich in der Morphologie, vor allem
aber in die Motorik und die Affekte des Körpers einschreibt und einem Ort des
Blicks, des Anderen, der symbolischen Ordnung.
Die Frage ist, was mit dieser spiegelbildlichen Konstruktion des Körpers im
Kontext einer medial-virtuellen Umwelt geschieht. Zum einen zeigt sich, dass in
der warenästhetischen Welt der Fassaden das Moment der Verkennung insofern
keine Rolle mehr spielt, als hier die intersubjektive Beziehung von realem Kör-
per und Spiegelbild, von Ich und Anderem aufgegeben wird. Hier herrscht aus-
schließlich das Regiment der Zeichenordnungen. Zugleich wird damit der
Rahmen der Geschlechterkonstruktion insofern gesprengt, als die Begrenztheit
des subjektiven Körperbilds aufgehoben wird. Mit dem Eintritt in den artifiziellen
Raum des Potsdamer Platzes findet lediglich eine imaginäre Spiegelung techno-
logisch erzeugter Bilder statt, die nicht mehr an reale Körperbilder zurückge-
bunden werden. Die Trennung von Körper und Technologie wird aufgehoben; es
kommt zur Spieglung organloser, technisch erzeugter Körperbilder. Der reale
Körper, in den subjektive Erinnerungsnarben einschrieben sind, erscheint nicht
mehr als das den Rahmen medialer Körperbilder Überschreitende. Das Reale
wird nun vielmehr definiert als das, was sich äquivalent reproduzieren lässt.
Im Gegensatz zum Spiegelstadium Lacans, bei dem ein vor dem Spiegel be-
findlicher realer Körper im Anderen bzw. der symbolischen Ordnung ,gespie-
154 HANNELORE BUBLITZ/DIERK SPREEN

gelt' wird, regiert in der technologisch-ästhetischen Umgebung des verdichte-


ten Raums der technologische Blick einer panoptischen Überwachungsappara-
tur und Reklameindustrie. Sie spiegeln keine intersubjektive Beziehung. Hier
wird - sieht man davon ab, dass der Potsdamer Platz als .Stadt in der Stadt' kein
totales, die gesamte Gesellschaft erfassendes Gefüge ist - auch nichts mehr in
reale Körper eingeschrieben. Vielmehr spiegeln sich nur noch technisch-ästhe-
tische Oberflächen von geschlechtlich codierten Körperfragmenten. Diese
wären dann Brechungen eines fraktalen Körperbilds bzw. eines Körperfrak-
tals.32 Damit löst sich die Differenz von Körper und Bild, von Körper und Um-
welt auf. Was übrig bleibt, sind Techno-Körper, die sich in sich selbst spiegeln.
Die Vermischung von Ich und Anderem wird aufgelöst zugunsten der Etablie-
rung einer Ordnung des Anderen, die durch unvermittelten Kurzschluss mit
der Ordnung des Selbst zusammenfällt.33
Die mediale und architektonische Anordnung des Potsdamer Platzes, die
Transparenz seiner warenästhetischen Fassaden füllen das .leere Körperbild' durch
immer neue Visualisierungen imaginärer Körperbilder, die nicht nur den Reiz des
Makellosen und der Idealität ausstrahlen, sondern das reale zugunsten des ima-
ginären Körperbilds tilgen. Damit verschwindet die Spur individueller wie kol-
lektiver Geschichte. Wird das kulturelle Geschlecht damit zum ausschließlich
imaginären Konstrukt, das sich nicht mehr an einen physischen Körper und seine
Erinnerungsspuren zurückbinden läßt? Ihrer Individualität entkleidet verweisen
die historischen Erfahrungs- und Erinnerungsspuren, die sich dem physischen
Körper unbewusst einschreiben und sich letztlich undechiffrierbar überlagern,
nicht mehr auf die Einzigartigkeit eines realen Körpers. Dieser wird vielmehr aus-
schließlich mit medial konstruierten und codierten Körperbildern ausgefüllt.
Die sich selbst spiegelnde Verkleidung von Oberflächen und Fassa-
den scheint frei zu sein von den binären Aufteilungen moderner Machtgren-
zen. Aber in den kreuz und quer von Verwerfungen durchzogenen Spiege-
lungen bleibt die technologische Konstruktion des Potsdamer Platzes der
symbolischen Geschlechterordnung verhaftet, indem sie diese nicht (mehr) auf
einen realen Körper, ein reales Subjekt zurückspiegelt. Durch Visualisierung-
stechniken reflektiert sie - austauschbare - Elemente eines fragmentierten Kör-
perbilds und lässt damit die Differenz der Geschlechter als einheitlicher und
differenter Geschlechtskörper verschwimmen. Es kommt zur technischen
Kombination von Elementen der Geschlechtercodes. Gleichwohl bleibt
dabei die symbolische Geschlechterordnung als duale Matrix erhalten. Weit
entfernt vom Verschwinden des Geschlechts in der Leere der technologischen
Konstruktion und deren Spiegelcharakter, bleibt die Verkleidung des Körpers
der symbolischen Geschlechterordnung und der in sie eingeschriebenen Dif-
ferenz verhaftet. Aber anstatt eine Inschrift darzustellen, die in ihrer spezifi-
schen Individualität so unentzifferbar bleibt, wie ein Bild von Cy Twombly,

32 Baudrillard, „Videowelt und fraktales Subjekt", S. 117.


33 ebd.,S. 119f.
ARCHITEKTUR EINER GESCHLECHTERKONSTRUKTION 155

wird der Körper mit Geschlechterfragmenten behängt. Signaturen des Männli-


chen und Weiblichen vermischen sich zu einem uneinheitlichen Körperbild,
dessen einzelne Teile austauschbar bleiben. Hier spiegelt sich die flexible Ge-
staltung von Fassadenwirklichkeiten in der flexiblen Bedeutung von Ge-
schlechtskörpern. Die medial-architektonische Matrix löst zwar die Differenz
von Körper und Umwelt auf, aber die Geschlechterordnung bleibt als Matrix
der Bekleidung von Körpern als Geschlechtskörper erhalten. Fragmente dieser
Ordnung besetzen die ihrer Geschichte entkleideten Körper. Zwar lassen sich
diese Fragmente beliebig kombinieren, aber sie bleiben immer deutlich lesbar.
Heraus kommt eine Geschlechterkonstruktion, welche die zweigeschlechtliche
Ordnung aufrecht erhält und verstärkt, zugleich aber am einzelnen Körperbild
beliebige Kombinationen erlaubt. Unisex symbolisiert nicht das Ende der sym-
bolischen Ordnung, sondern ihre totale Gültigkeit.

VI. Der Potsdamer Platz als machine celibataire


Symbol dieser Geschlechterkonstruktion ist das sich selbst tragende Glasdach
über dem Sony-Innenhof. Hier visualisiert sich der Mythos der zölibatären Ma-
schine im Körperbild einer städtischen Architektur. Im Mythos der Junggesel-
lenmaschine, die wesentlich autoerotisches Symbol ist, zeigt sich die Welt als
eine, die auf völlig beliebige Weise zusammengebaut wird.
Marcel Duchamps auch als .Großes Glas' bekannte Installation .Die Braut von
ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar' von 1923 besteht aus zwei im Glas ver-
einigten Elementen (vgl. Abb. 1). Oben sieht man die Bilder, die mit der Braut in
Zusammenhang stehen - ein lange, kurvenreiche, liegende Figur, die am oberen
Rand aufgehängt erscheint. Der links herunterfallende Teil symbolisiert ihr Ske-
lett. Es handelt sich um einen organlosen und entkleideten Körper, der zudem eine
Art Maschine ist. Im unteren Teil erkennt man mechanische Anordnungen, wel-
che die Junggesellen darstellen. Neun .männische Gussformen' (Duchamp), die
leere, aufblasbare Hüllen sein sollen, repräsentieren den Gendarm, den Kürassier,
den Schutzmann, den Priester, den Laufburschen, den Warenhausausläufer, den
Lakai, den Leichenträger und den Bahnhofsvorsteher. Sie verkörpern verschie-
dene Aspekte der symbolischen Ordnung, sind aber ebenso leer und nackt, wie
die Braut. Im Vordergrund erkennt man radlose Wagen, eine .Wassermühle', die
durch ein Schaufelrad angetrieben wird. Der Wagen bewegt .Scheren', die sich
über der .Schokoladenscheibe' kreuzen. Rechter Hand befinden sich Kreise, wel-
che als .Augenzeugen' die .Blendung durch das Ausspritzen' begleiten. Die ganze
Junggesellenmaschine visualisiert das Bezugssystem von Sex und Tod.34 Michel
Carrouges schreibt dazu: „In ihrer wunderbaren Zweideutigkeit stehen die Jung-
gesellenmaschinen gleichzeitig für die Allmacht der Erotik und deren Verneinung,

34 Michel Carrouges: „Gebrauchsanweisung", in: Harald Szeemann (Hg.), Les machines celiba-
taires / Junggesellenmaschinen, Venezia 1975, S. 21-49.
156 HANNELORE BUBLITZ/DIERK SPREEN

für Tod und Unsterblichkeit, für Tortur und Disneyland, für Fall und Auferste-
hung.... Es scheint uns, dass in den Junggesellenmaschinen die Verweigerung der
Frau und noch viel mehr der Prokreation als Grundbedingung für den Bruch mit
dem kosmischen Gesetz [...] und noch mehr als Bedingung für die Erleuchtung,
die Freiheit und die magische Unsterblichkeit sichtbar wird".35
Das 920 Tonnen schwere Glasdach über dem Sony-Forum lässt sich mit dem
.Großen Glas' vergleichen. Sony zufolge soll das Glas den Fudschijama reprä-
sentieren. Bei dem Dach handelt es sich um eine selbstragende technische Kon-
struktion, die aber für organische Natur steht. Damit erinnert es an den Aufbau
von Duchamps Installation, denn konstruierte Hüllen des Weiblichen (Symbol
der Natur und gewölbte, weiche Form) und des Männlich-Jungessellenhaften
(selbsttragende, rein technische Maschine) werden in einer transparenten glä-
sernen Fläche vereinigt (Abb. 2 u. 3).
Wie Duchamps Junggesellenmaschine ist der Potsdamer Platz eine konsu-
mistische Wunschmaschine, in der das Geschlecht scheinbar frei vom Anderen
konstruiert werden kann. Visualisiert wird das Bedürfnis nach einer Welt, in der
technisch-ästhetische Perfektion herrscht und die natürliche (Re-)Produktion
außer Kraft gesetzt wird. Sie zielt darauf ab, die gesellschaftlichen Kontroll-
prozeduren und -apparaturen direkt in das Selbst einzuschreiben und mit an-
deren Kräften zusammenzuschließen.
Ihre Wirkung beruht nicht auf den in ihr enthaltenen Einschreibungen, son-
dern auf einem autoerotischen, automatischen Mechanismus. „Auf die Frage:
was produziert die zölibatäre Maschine, was wird vermittels ihr produziert?
scheint die Antwort zu lauten: intensive Qualitäten." Es scheint, als kündigten
sich hier neue Verbindungen der Geschlechter an, „als befreite der maschinelle
Erotismus weitere schrankenlose Kräfte". 36 Es ist die komplette Liebes- und
Kastrationsmaschine, die hier operiert.
Die Verfügung über sich selbst, die der Einzelne erhält, ist jedoch nur die
Macht der Junggesellenmaschine, welche die symbolische Ordnung exekutiert.
Es gibt in dieser Maschine keinen realen Körper, kein reales Subjekt, das von
der technischen Norm abweicht und sich dem Automatismus der Spieglung
imaginärer Körperbilder widersetzen kann. Die Spur subjektiver Erfahrungen
und Erinnerungen verschwindet. Der offene, organische Körper wird ersetzt
durch einen Techno-Körper.
Der Potsdamer Platz verkörpert ein architektonisches Dispositiv der technisch
erzeugten Materie, in dem die Macht des kontrollierenden Blicks universalisiert
wird. Von Sicherheitskameras überwacht, ist man immer im Blick einer techno-
logisch organisierten Machtordnung. Die Frage ist jedoch, ob sich in den Instal-
lationen der Architektur des Potsdamer Platzes überhaupt noch der Ort und
Blick des Anderen als symbolischer Ordnung manifestiert oder ob sich diese, in
der Produktion von Bildern, auflöst in virtuelle Simulationen des Geschlechts.

35 Michel Carrouges, zit. n. Szeemann (Hg.), Les machines celibataires / Junggesellenmaschmen,


1975, S. 7.
36 Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, S. 25f.
ARCHITEKTUR EINER GESCHLECHTERKONSTRUKTION 157

VII. Labor der artifiziellen Gesellschaft

Die in der medialen, ästhetischen, symbolischen, sozialen und historischen


Dimension idealtypisch herauskristallisierbaren Verdichtungen korrespondieren
miteinander. Der Potsdamer Platz ist als eine Stadt zu verstehen, in der auch an-
derenorts auffindbare Machtstrategien kumulativ miteinander verzahnt werden.
Er stellt ein in die Stadt eingelassenes, in sich abgeschlossenes Laboratorium der
Macht in der artifiziellen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts dar. Inner-
halb Berlins ist der Potsdamer Platz eine Heterotopie; man lebt dort nicht, son-
dern man durchstreift ihn für einige Zeit und verlässt ihn dann wieder. Als
Entwurf einer Totalität, in den die ganze Gesellschaft eingetragen werden könnte,
taugt er jedoch nicht. Gegen die Schwundhysterie Jean Baudrillards und anderer
ist auf dem heterotopen Charakter solcher verdichteten Räume zu bestehen.37 Im
21. Jahrhundert sind sie die Knoten, zwischen denen das Netzwerk der Macht in
der Gesellschaft gewoben wird, aber weder können sie die ganze Gesellschaft in
eine totale Zitadelle verwandeln noch ersetzen sie aufs Ganze gesehen das Reale
der Körper und der Gesellschaft durch bloße Simulationen. Die Verdichtung der
Macht, die der Potsdamer Platz verkörpert, ermöglicht es der soziologischen Ana-
lyse jedoch, wie durch ein Vergrößerungsglas auf die Gesellschaft zu blicken.

37 Balsamo dechiffriert den Verlustdiskurs, der um den Körper kreist, als .hysterical male dis-
course'. Der von Invasion, Eroberung und Schwund bedrohte Körper gehört zu der „Rhetorik
eines Panik-Postmodernismus" (Balsamo, Technologies, S. 30). „Der weibliche Körper", schreibt
sie, „funktioniert weiterhin als das Zeichen eines gendered body, dem ein nichtmarkierter
(menschlicher) Körper gegenüber steht, von dem es nun (im Spätkapitalismus) heißt, daß er den
Diskurssystemen von Macht und Wissen unterworfen wird." (ebd.) Die klassische Opposition
zwischen einem geschlechtlich neutralen Körper des Menschen und einem anderen, als weiblich
markierten Körper bleibt erhalten. Diepantc results im Körperdiskurs rühren daher, daß zum
ersten Mal auch der männliche, als .menschlich' neutralisierte Körper unter den Einfluss dieses
.totalisierenden' Macht- und Wissenssystems gerät
MICHAEL MAKROPOULOS

Ein Mythos massenkultureller Urbanität.


Der Potsdamer Platz aus der Perspektive
von Diskursanalyse und Semiologie

„Am Potsdamer Platz möchte man sich


nicht aufhalten, er ist das totale Heute." 1

I. Aussichten auf eine Metropole


Das bemerkenswerteste Gebäude am Potsdamer Platz in Berlin stand eigentlich
auf dem Leipziger Platz - und dort stand es nur etwas mehr als fünf Jahre: Die
„Info-Box", jener mehrstöckige rote Container auf schrägen schwarzen Stel-
zen, in dem die Neubebauung des Platzes von 1995 an einem verblüfften Pu-
blikum zwar nicht als architektonische und urbanistische, wohl aber als
organisatorische und logistische Spitzenleistung präsentiert wurde, war inte-
graler Bestandteil einer immateriellen Seite des epochalen Projekts, die seiner
materiellen in nichts nachstand.2 (Abb. 1) Denn die „Info-Box" war nicht nur
der Ort einer spektakulär inszenierten multimedialen Öffentlichkeitsarbeit der
Investoren und der politischen Verwaltung im Modus des Superlativs; die
„Info-Box" war auch der vorerst letzte Ausdruck jener symbolischen Bedeu-
tung der Baustelle im 20. Jahrhundert, in der sich der modernistische Bruch mit
der Vergangenheit und das konstruktivistische Pathos des Fortschritts zu einem
produktivistischen Ensemble verschränken, dessen Faszination mindestens bis
in die 20er Jahre dieses Jahrhunderts reicht.3 Der Mythos „Potsdamer Platz" -
um den es im Folgenden gehen soll - ist allerdings mehr und in mancher Hin-
sicht anderes als die symbolische Aufladung der Baustelle. Und mit der kom-
munikativen Offensive, die die Neubebauung des Platzes in den 90er Jahren
begleitet hat und in der „Info-Box" ihren Kulminationspunkt hatte, wurde jene
mythische Beschwörung dieses Ortes nur vollendet, die schon länger betrieben
worden war und die gewissermaßen den eigentlichen immateriellen - und so-

1 So Iris Hanika: „Zukunft und sonst gar nichts", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berliner
Seiten vom 6.3.2002.
2 Vgl. INFO BOX: Der Katalog, Berlin 1997. Dazu vgl. Thomas Fietz: Architektur als
stand medialer Darstellung am Beispiel der INFO BOX am Potsdamer Platz, Diss. ing. TU
Cottbus 1999, bes. Kap. 3 u. 7.
3 Zur symbolischen Dimension der Baustelle im 20. Jh. vgl. Hans Pröfener: „Flirting with Disa-
ster. Zur Symbolgegenwart der .Baustelle'", in: ders. (Hg.), Zeitzeichen Baustelle, Frankfurt/
Main 1998, S. 8-47.
160 MICHAEL MAKROPOULOS

Abb. 1: Info Box am Potsdamer Platz.

ziologisch belangvollen - Teil dieser Neubebauung bildet. Pointiert gesagt:


Wäre der Potsdamer Platz nicht schon ein Mythos gewesen, bevor überhaupt
der Gedanke seiner Neubebauung realisierbar wurde, dann hätte es auch keine
„Info-Box" gegeben, die diese Neubebauung zur Attraktion machen sollte und
dem Mythos dieses Ortes eine neue Dimension verlieh. Schließlich ist es der
Mythos „Potsdamer Platz", der die diskursive Blaupause für die soziale Aneig-
nung dieses urbanistischen Großunternehmens bildet, das mehr symbolisiert
als die architektonische und soziale Wiedergewinnung der jahrzehntelang ent-
leerten Mitte einer geteilten Stadt, mehr auch - und am Ende sehr anderes - als
die deutsche Wiedervereinigung nach dem Ende des Kalten Krieges. Denn im
Mythos „Potsdamer Platz" ist der reale Potsdamer Platz das topologische Zen-
trum einer imaginären Metropole der Moderne, einer vergangenen wie einer
künftigen. Und in gewissem Sinne auch einer idealtypischen.
Natürlich kann man mit Gründen darüber streiten, ob Berlin überhaupt in der
Lage ist, diese Rolle zu spielen, wieder zu spielen, nachdem es für eine kurze, aber
paradigmatische Zeitspanne in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die Haupt-
stadt der Klassischen Moderne mit all ihren widersprüchlichen oder wenigstens
doch ambivalenten und im Rückblick keineswegs unproblematischen Tendenzen
war.4 Aber für den Mythos ist dies nebensächlich. Denn als diskursive Realität
eines kollektiven Imaginations- und Sehnsuchtsraums erfüllt der Mythos die so-
ziale Funktion eines positiven Erwartungshorizontes. Und der kann unter Um-
ständen in einem sehr vermittelten, mehrschichtigen und perspektivisch vielfach

4 Im konzeptuellen Aufriß vgl. Michael Makropoulos: „Tendenzen der Zwanziger Jahre. Zum
Diskurs der Klassischen Moderne in Deutschland", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 39
(1991), S. 675-687.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 161

gebrochenen Verhältnis zur Wirklichkeit stehen, die er überformt - zumal wenn


der Mythos einem zwar historischen, nicht aber vergangenen, sondern weiterhin
bestehenden Erwartungshorizont diskursive und damit kommunikativ-präsenti-
sche Realität verleiht. Das ist beim Mythos „Potsdamer Platz" eminent der Fall,
denn er ist nicht einfach ein aktualisierter historischer Mythos, sondern ein re-
troaktiver Mythos, der zwar in den 20er Jahren begründet, aber erst im Nachhin-
ein, nämlich in der kritischen Reflexion auf die Klassische Moderne durch die
Postmoderne, in seiner ganzen Dimension ausgefaltet wurde, die wiederum auf
seine primäre Form zurückwirkt und diese zur paradigmatischen werden läßt. Im-
merhin hat erst die vorbehaltlose Positivierung seines zentralen Elements im Ver-
lauf der 70er und 80er Jahre die Potentiale dieses Mythos entfaltet, die in den 20er
Jahren angelegt und prototypisch durchgespielt worden waren. Dieses Element -
so lautet die allgemeine Hypothese der folgenden Überlegungen - ist massenkul-
turelle Urbanität als spezifisch moderne Lebensform. Und die soziale Funktion
des Mythos „Potsdamer Platz" ist die retroaktive Selbstbegründung dieser Le-
bensform. Es ist eine ausgesprochen voraussetzungsvolle Selbstbegründung.

II. Der Platz ohne Eigenschaften


Vielleicht das Aufschlußreichste am Mythos „Potsdamer Platz" ist nicht seine
strukturelle Komplexität, die sich im mehrschichtigen diskursiven Ensemble syn-
chroner und diachroner Perspektiven manifestiert, in denen sein Objekt, eben der
Platz als pars pro toto der Moderne, überhaupt erst als solches konstituiert wird;
das Aufschlußreichste oder wenigstens doch ausgesprochen Unselbstverständli-
che und deshalb durchaus Erklärungsbedürftige am Mythos „Potsdamer Platz"
ist vielmehr die bloße Tatsache, daß es gerade diesen Mythos überhaupt gibt und
daß ausgerechnet der Potsdamer Platz zum Mythos wurde. Sicher, der Potsda-
mer Platz war einst, in den späten 20er Jahren, Verkehrszentrum von Berlin, das
jetzt, nach New York und London, mit etwa 4,3 Millionen Einwohnern zur dritt-
größten Stadt der Welt und zur größten Industriemetropole Europas aufgestie-
gen war.5 Der Mythos „Potsdamer Platz" knüpft an diese historische Situation
an, in der man in Berlin glaubte, in der modernsten Stadt der Welt zu leben, und
in der man diese Modernität nach dem Ende des Kaiserreichs erstmals nicht mehr
nur erduldete oder gar ablehnte, sondern zunehmend akzeptierte, positivierte und
durchaus forcierte.6 Modernität wurde zum - offiziellen wie inoffiziellen - Zen-
trumsmotiv für das Selbstbild Berlins als Metropole des Fortschritts in Europa
und darin zum identitätsbildenden Faktor einer Stadt, deren rasantes Wachstum

5 Vgl. Henning Köhler: „Berlin in der Weimarer Republik", in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte
Berlins, Bd. 2, München 1987, S. 795-923, bes. S.876ff., zur Einwohnerzahl S. 898.
6 Vgl. Helmut Lethen: „Chicago und Moskau. Berlins moderne Kultur der 20er Jahre zwischen
Inflation und Wirtschaftskrise", in: Jochen Boberg, Tilman Fichter, Eckhard Gillen (Hg.), Die
Metropole. Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, München 1986, S. 190-213, bes. S. 195f.
162 MICHAEL MAKROPOULOS

und beschleunigter Aufstieg in die Reihe der Weltstädte, gerade nicht auf Tradi-
tion aufbauen konnte - und in Abgrenzung gegen Paris, wo dieser forcierten Mo-
dernität skeptischer begegnet wurde, auch nicht aufbauen wollte.7 Aber auch das
modernistische Selbstbewußtsein Berlins erklärt nicht wirklich, warum ausge-
rechnet der Potsdamer Platz zum Inbegriff für Urbanität und zum imaginären
Zentrum einer wünschenswerten Stadtkultur werden konnte. Schließlich war er
nicht einmal ein Platz im urbanistischen Sinne, sondern einfach eine - übrigens
nicht einmal besonders große, sondern allenfalls verkehrstechnisch problemati-
sche und für die damalige Wahrnehmung chaotische - Straßenkreuzung ohne
nennenswerte transsituative Gestaltung des Areals oder der angrenzenden Be-
bauung, wie schon der flüchtige Vergleich mit dem benachbarten Leipziger Platz
zeigt, dessen achteckige Anlage sorgfältig gestaltet und anspruchsvoller bebaut
war - und der nicht nur nicht zum Mythos wurde, sondern seit der Wende zum
20. Jahrhundert nur noch als schmückender östlicher Vorplatz des eigentlichen,
eben des Potsdamer Platzes angesehen wurde.8 (Abb. 2 u. 3)
Eine Erklärung für die prima vista unwahrscheinliche Karriere des Potsdamer
Platzes deutet sich aber an, wenn man die Fragestellung umkehrt und wenigstens
probehalber einmal unterstellt, daß es möglicherweise genau das scheinbar Defi-
zitäre dieses Platzes war, was ihn zum mythisch überformbaren pars pro toto für
Modernität werden ließ. In diesem Sinne - und gewissermaßen die retroaktive
Mythisierung zusammenfassend - hat Gerwin Zohlen die kulturgeschichtliche
Bedeutung des Potsdamer Platzes gesehen, der zwar nicht das topographische,
aber doch seit der Jahrhundertwende das funktionelle Zentrum von Berlin war:
„Er war die Drehscheibe des Verkehrs, über die die Menschenmassen per Auto,
Bus, Eisen- und Straßenbahn in die Stadt geschleust wurden. So besehen war er
die erste Manifestation der Moderne in Berlin, wenn man die Moderne durch die
technischen Erfindungen von Eisenbahn, Auto und allgemein durch die Mecha-
nisierung charakterisiert." Aber der Verweis auf die realen Verkehrstechniken und
die zentrale Bedeutung des Platzes für den Berliner Verkehr ist nur der Aus-
gangspunkt für das eigentliche und tiefer ansetzende Argument: Auch „die
Moderne", so Zohlen, habe „architektonische Formen oder, hegelianischer ge-
sprochen, ästhetische Niederschläge gefunden. Allerdings sind sie bezogen auf
einen städtischen Platz negativ. Es ist die Un-Form. Das ist an den Dokumenten
zum Potsdamer Platz aufs beste ablesbar. Wo immer man in die literarische
Überlieferung hineinsieht: Zwar wurde er als quirlendes, quellendes, lärmendes,
kubistisch splitterndes Gebilde wahrgenommen, doch nie als Platz. Er war sozu-
sagen der Un-Platz par excellence und gerade dadurch so signifikant und fas-
zinierend, geeignet, zum Statthalter der .schönen neuen Zeit' promoviert zu
werden. Etwas überspitzt gesagt, war der Potsdamer Platz eine dichte Masse in

7 Vgl. Daniel Kiecol: Selbstbild und Image zweier europäischer Metropolen. Paris und Berlin
schen 1900 und 1930. Frankfurt/Main 2001, bes. S. 86ff.
8 Vgl. Matthias Pabsch: Zweimal Weltstadt. Architektur und Städtebau am Potsdamer Platz. Ber-
lin 1998, S.20ff. bzw. S. 18.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 163

Abb. 2: Potsdamer Platz, 1928.

permanenter Bewegung und Präsenz, ja, die Auflösung des Raumes in die Zeit-
lichkeit der Bewegungen und des Verkehrs. Aus diesem kühlen Grunde eignete er
sich auch zur leiblichen Demonstration der damals funkelnagelneuen Relati-
vitätstheorie Albert Einsteins."9 Deshalb hatte dieser „ästhetische Niederschlag"
der Moderne auch eine paradoxale Struktur. Denn der Potsdamer Platz war ge-
stalthaft nicht wahrnehmbar, und das erwies sich nicht zuletzt in der Tatsache, daß
der Platz - abgesehen von den Luftaufnahmen - als Platz nicht abgebildet werden
konnte. „Es bedarf langer kartographischer und Katasterstudien", bemerkt Zoh-
len, „um im Bildmaterial den Platz erkennen zu können". Man sehe zwar einzelne
Gebäude oder Straßeneinmündungen, „doch nicht den Platz. Er war nicht foto-
gen, mehr, er war nicht zu fotografieren, weil er als Platz nicht existierte. Aus kei-
nem Blickwinkel bot er sich dem Kameraauge ganz".10 Und selbst auf den
Luftaufnahmen verschwindet der Potsdamer Platz fast neben der vergleichsweise
überdeutlichen Präsenz des großen Achtecks, mit dem der Leipziger Platz das ur-
bane Terrain an dieser Stelle beherrscht.
Un-Form, reale Gestaltlosigkeit, eigentlich bloßes Phantasieprodukt - der
Potsdamer Platz war im Vergleich zu den bis dahin realisierten städtischen Funk-

9 Gerwin Zohlen: „Erblast des Mythos", in: Vittorio Magnago Lampugnani/Romana Schneider
(Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment. Planungen am Potsdamer Platz in Berlin, Stuttgart
1994, S. 14-23, hier S. 17f.
10 Zohlen, „Erblast des Mythos", S. 18.
164 MICHAEL MAKROPOULOS

tionsarealen gleichsam der Platz ohne Eigenschaften, wie man in Anlehnung an


Robert Musils Romantitel sagen könnte.11 Aber genau das machte ihn zum idea-
len Kandidaten für die Symbolisierung von Wirklichkeiten, die ontologisch
ebenso unbestimmt waren wie der Raum und die Bewegungen der Elemente in
der modernen Physik. Gerade seine Gestaltlosigkeit, so lautete dann die These,
gerade die komplette Nicht-Form des Potsdamer Platzes war es, die ihn prädesti-
nierte, zur materiellen Referenz für Urbanität zu werden, in der diese als imaginäre
Qualität städtischer Vergesellschaftung durch ihre topologische Situierung buch-
stäblich territorialisiert werden konnte. Gerade in seiner Unform der 20er Jahre,
so ließe sich das Argument erweitern, eignete sich der reale Platz hervorragend als
materielle topologische Referenz der neuen immateriellen Wirklichkeiten, die zu-
nehmend zur alltäglichen Lebenswelt großer Massen städtischer Individuen wur-
den. Und nicht obwohl, sondern gerade weil der Potsdamer Platz lange Zeit kaum
mehr war als eine Straßenkreuzung, so ließe sich die These spezifizieren, konnte
er zum Inbegriff einer bestimmten, genuin modernen Realität werden, nämlich
Urbanität als einer Lebensform, die sich nicht in substantiellen, sondern in
funktionellen Realien manifestierte. Aber die These führt noch auf ein weiteres.
Fragt man nämlich - diskursanalytisch - nach den Plausibilitätsbedingungen die-
ser Rolle des Potsdamer Platzes, dann wird man auf einen impliziten und nicht
weiter in Frage gestellten Materialismus des Immateriellen verwiesen, der noch
für die abstraktesten Wirklichkeiten geradezu automatisch eine konkrete materi-
elle - und idealerweise topologisch-territoriale - Referenz sucht. Die scheinbare
Selbstverständlichkeit dieser materiellen Fundierung immaterieller Wirklichkei-
ten, überhaupt die Verankerung abstrakter Realitäten in konkreten Realien und
zumal die fraglose Erwartung ihrer „leiblichen Demonstration", wie Zohlen im
Horizont der Philosophischen Anthropologie schreibt, ist freilich alles andere als
zwingend und verweist auf eine Wirklichkeitskonzeption, in der sich ein spezifi-
sches Dispositiv, also ein bestimmtes strategisches Ensemble von Diskursen und
Praktiken realisiert. Das ist der eigentliche Ausgangspunkt einer Analyse des My-
thos „Potsdamer Platz", die diesen nicht einfach als Legende, als Ideologie und
damit als Unwahrheit, sondern als diskursive Realität eines kollektiven Imagina-
tionsraumes, Erwartungshorizontes und Weltverhältnisses problematisiert. Und
er führt auf die Frage nach den konstitutiven Elementen und funktionellen Struk-
turen dieses Dispositivs als eines zugleich historisch konstituierten und Histori-
sches Konstituierenden. Kurz: Er führt auf die Frage nach dem spezifischen
Verhältnis von Wissen und Macht als Verhältnis eines Gegenstandsfeldes, das nicht
a priori gegeben ist, zu einer „komplexen strategischen Situation in einer Gesell-
schaft", die „unmittelbar hervorbringend" ist, wie Michel Foucault erklärt hat.12

11 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek 1978.


12 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt/Main 1977,
S. 114 bzw. 115. Dazu vgl. mit weiteren Verweisen Michael Makropoulos: „Foucaults Moderne",
in: Joseph Jurt (Hg.), Zettgenössische französische Denker: eine Bilanz, Freiburg/Brsg. 1998,
S.103-118. Zum Konzept des Diskurses vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 165

Abb. 3: Leipziger Platz, 1928.

Dahinter steht das kritische Projekt einer radikalen Infragestellung der Evi-
denzen und Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft und ihrer Einbettung in
eine Geschichte der Wahrheit als Voraussetzung einer „anderen Politik der Wahr-
heit".13 Foucault hat deshalb zwei Distanzierungen vorgenommen und miteinan-
der verbunden, die in der Regel getrennt werden, nämlich Historisierung und
Alienisierung, also die Verfahren des Historikers einerseits und des Ethnologen
andererseits. Auf der einen, der historisierenden Seite, handelt es sich um den
Komplex der Archäologie und der Genealogie als komplementäre analyti-
sche Operationen. Archäologie stellt dabei weder die Frage nach dem Ursprung
noch die nach dem Ermöglichungsgrund einer Wissensformation oder einer
Ereigniskonstellation im Sinne ihrer kausallogischen Ableitung, sondern die Frage
nach ihrem „historischen Apriori", also ihrem komplexen Entstehungsnexus.14
Entsprechend fragt die Genealogie nicht nach den konstituierenden Instanzen ge-
schichtlicher Zusammenhänge, seien dies konkrete Subjekte oder abstrakte Struk-
turen, sondern nach ihrer inneren Konstitution.15 Archäologie und Genealogie

München 1974, bes. S.. 7-31, sowie Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/Main
1973, bes. S. 115ff.
13 Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 54.
14 Vgl. Foucault, Archäologie des Wissens, S. 184.
15 Vgl. Foucault, Dispositive der Macht, S. 32ff.
166 MICHAEL MAKROPOULOS

werden damit zu Verfahren einer radikalen De-Ontologisierung gegebener Rea-


litätsbestände. Mit ihnen verbindet sich auf der anderen, der alienisierenden Seite
jener Komplex, der die Analyse von Diskursen zur Analyse von Dispositiven er-
weitert und zu Verfahren einer ebenso radikalen De-Semantisierung verdichtet.
Diskursanalyse fragt nicht nach der Zurechnung, Bedeutung oder - im Gegensatz
zur Ideologie - nach der Wahrheit von Wissensformationen, sondern nach ihrer
Positivität und ihrem inneren Funktionieren. Darin manifestiert sich ihr nicht-
hermeneutischer Zug. Aber Diskurse sind nicht nur institutionalisierte Aussagen,
deren Regeln und Funktionsmechanismen positiv ermittelt werden können; das
Konzept des Diskurses ist bei Foucault vielmehr über die Erschließung eines
distinkten Gegenstandes hinaus vor allem die Eröffnung eines historisch-sy-
stematischen Problemfeldes auf einer mittleren Ebene, die sich den bekannten Un-
terscheidungen zwischen transzendental und empirisch, universell und individuell
oder ideal und real entzieht.16 Denn diskursive Ordnungen sind Ordnungen, die
den Praktiken nicht vorausliegen, die aber auch nicht aus ihnen hervorgehen, son-
dern mit ihnen als variables Arrangement von Diskursen entstehen.17 Es sind „ge-
mischte Zustände", wie Gilles Deleuze erklärt hat, die als solche analysiert werden
sollen, weil sie als solche Realitäten konstituieren.18 Und diesen gemischten Zu-
ständen entspricht das Dispositiv als Konzept eines „Durcheinanders", eines
„multilinearen Ensembles", das eine gegebene gesellschaftliche Situation dadurch
strategisch finalisiert, daß es Wirklichkeiten auf ihre Möglichkeitspotentiale hin
konstituiert.19 Darin besteht denn auch die spezifisch soziologische Bedeutung
dieses theoretischen Konzepts: Die strategische Verschränkung von Diskursen
und Praktiken zu Machtdispositiven generiert Selbst-, Welt- und vor allem Sozi-
alverhältnisse, also Formen der gesellschaftlichen Erfahrung und ihr entspre-
chende Formen der individuellen und kollektiven Lebensführung.

III. Technisierte Mobilität


und ästhetisierte Oberflächenhaftigkeit
Die Arbeit am Mythos „Potsdamer Platz" begann in der zweiten Hälfte der
20er Jahre. In diese Zeit datiert die diskursive Konstitution des Potsdamer Plat-
zes als paradigmatischem Ort der Moderne, die später für die retroaktive My-
thisierung zum konzeptuellen Archiv werden sollte. Und sie zentriert sich um
zwei Phänomene, die zwar nicht vollständig neu waren, die sich jetzt aber da-

16 Vgl. Bernhard Waldenfels: „Ordnung in Diskursen", in: Fran^ois Ewald/Bernhard Waldenfels


(Hg.), Spiele der Wahrheit, Frankfurt/Main 1991, S. 277-297, bes. S. 285ff.
17 Vgl. Waldenfels, „Ordnung in Diskursen", S. 288.
18 Gilles Deleuze: „Die Dinge aufbrechen, die Worte aufbrechen", in: ders., Unterhandlungen.
1972-1990, Frankfurt/Main 1993, S.121-135, hier S. 125.
19 Gilles Deleuze: „Was ist ein Dispositiv?", in: Ewald/Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit,
S. 153-162, hier S. 153.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 167

durch zu eigenqualitativen und darin charakteristischen Wirklichkeiten der Mo-


derne verdichteten, daß sie diskursiv erschlossen, konzeptuell formiert und
damit als soziale Gegenstands- und Problemfelder konstituiert wurden.
Das eine Phänomen ist der Verkehr, der zunehmend die zeitgenössische Er-
fahrung von Modernität bestimmte. „Der Verkehr" schrieb Siegfried Kracauer
1926, „ist heute mehr und mehr in sein Zeitalter gelangt. Alles verkehrt mitein-
ander, jede Schranke ist aufgehoben, für die Autos werden besondere Bahnen
gebaut. Schnelligkeit: so lautet das Losungswort." 20 Berlin, das war jetzt die
schnellste Stadt der Welt, „rasendes Tempo" wurde zum quasi offiziellen Topos
ihrer Selbstbeschreibung, und am Potsdamer Platz war dieses Tempo sinnlich
wahrnehmbare Realität.21 Der Verkehr wurde zum „strukturierenden Element
und Fortschrittssymbol" eines neuen, weltstädtischen Zivilisationstyps. 22
Gewiß, die zeitgenössischen Beschreibungen des Berliner Verkehrs waren eher
„von dem Wunsch geprägt", in einer Weltstadt zu leben, deren Vorbilder man
in Paris, London, New York und Chicago mit ihrem Autoverkehr sah, als daß
sie eine reale Entsprechung in Berlin gehabt hätten, wo der motorisierte Ver-
kehr sich um 1930 vor allem auf die öffentlichen Verkehrsmittel beschränkte. 23
Aber mit der Selbstbeschreibung Berlins als „schnellste Stadt der Welt" korre-
spondierte immerhin eine beschleunigte und mitunter beinahe rauschhafte
Wahrnehmung, die sich in der Erfahrung zunehmender „Intensivierung des
Lebenstempos" niederschlug, wie Walter Benjamin ein Charakteristikum der
modernen großstädtischen Lebensform beschrieben hat, das mit der Intensi-
vierung der Arbeit im Zuge der maschinellen Produktion korrespondiert.24 Do-
minant wurde diese Erfahrung intensivierter Mobilität, Geschwindigkeit und
Beschleunigung im topologischen wie im soziologischen Sinne dann gegen
Ende der 20er Jahre, in denen Berlin den Zeitgenossen als „riesige Zirkulati-
onsmaschine" erschien, „die die festgefrorenen Grenzen von Herkunft und
Klasse aufmischt" - eine Erfahrung, die allerdings keineswegs als Problem, son-
dern als Voraussetzung einer wünschenswerten Lebensform gedeutet wurde,

20 Siegfried Kracauer: „Chauffeure grüßen", in: ders., Schriften, Bd. 5.1, Frankfurt/Main 1990,
S. 376-377, hier S. 377.
21 Bodo-Michael Baumunk: „Die schnellste Stadt der Welt", in: Gottfried Korff/Reinhard Rürup
(Hg.), Berlin, Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt, Berlin 1987, S. 459-472, hier
S. 459.
22 Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 26.
23 Hans Stimmann: „Weltstadtplätze und Massenverkehr", in: Boberg u.a. (Hg.), Die Metropole,
S. 138-143, hier S. 139f.: Am 1. Juli 1929 waren in Berlin 95 463 Kraftfahrzeuge registriert, aber
nur knapp die Hälfte davon, nämlich 42 844, waren PKW. Eine ähnliche Zahl, nämlich 97 000
findet sich bei Köhler, „Berlin in der Weimarer Republik", S. 862. Vielleicht nicht unwichtig
auch dieses Detail: „1929 wimmelten auf dem damaligen Auguste-Viktoria-Platz, dem heutigen
Breitscheidplatz, mehr Automobile als auf dem Potsdamer Platz.". So Eva Schweitzer: Groß-
baustelle Berlin. Wie die Hauptstadt verplant wird. Berlin 1996, S. 153.
24 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften, Bd. V I , Frankfurt/Main 1982,
S. 497. Dazu vgl. Michael Makropoulos: „Subjektivität zwischen Erfahrung und Erlebnis. Über
einige Motive bei Walter Benjamin", in: Gerard Raulet/Uwe Steiner (Hg.), Walter Benjamin:
Ästhetik und Geschichtsphilosophie, Bern 1998, S. 69-81.
168 MICHAEL MAKROPOULOS

wie Helmut Lethen erklärt hat.25 Und manchmal ist es dann tatsächlich ein ein-
ziger Satz, der den positiven Erwartungshorizont einer Epoche bündelt wie ein
Brennglas das Licht: „Die Stadt der Geschwindigkeit", erklärte Le Corbusier
1925, „ist die Stadt des Erfolges".26 So wenig diese Sentenz, die die Utopie einer
durchgreifend funktionellen Stadt ebenso emphatisiert wie legitimiert, auf Ber-
lin bezogen war, so sehr drückt sie doch aufs Pointierteste das Motiv dieser kol-
lektiven Positivierung der Beschleunigung aus. Denn die Stadt des gesteigerten
Verkehrs war im damaligen Erwartungshorizont die Stadt einer neuen, nicht
nur strukturell garantierten, sondern geradezu strukturell forcierten Selbstent-
faltung zunehmend großer Massen von Individuen, die aus ihren tradierten so-
zialen und lokalen Bindungen freigesetzt worden waren.
Das andere Phänomen ist die Kultivierung der Oberfläche, die sich vor allem
in der rationalisierten Gestaltung der Neuen Sachlichkeit manifestierte, und die
sich in den Fassaden des Neuen Bauens ebenso ausdrückte wie in der nächtli-
chen Illumination der Stadt durch kommerzielle Reklamewelten, die vor allem
in den Spiegelungen auf regennassem Asphalt ihre besondere Wirkung entfal-
teten und Berlin jetzt nach Paris zur „neuen Lichtstadt Europas" machten. 27
Die Kultivierung der Oberfläche war zunächst gleichsam konkretisierte Ab-
straktion, nämlich die alltägliche konkrete Visualisierung der abstrakten sozia-
len Wirklichkeiten urban realisierter Modernität durch elementaristische
Formgebung. Mit ihr korrespondierten aber auch neue Möglichkeiten der sinn-
lichen Wahrnehmung überhaupt, die als körperliche Spuren starker visueller
Eindrücke geradezu taktile Qualitäten hatten und eine neue, spezifisch moderne
Erfahrung generierten. Ihr prototypisches Medium wurde der Film, wie Ben-
jamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz zu zeigen versuchte, der seinerseits ein re-
troaktives Manifest jener ästhetischen Tendenzen der späten 20er Jahre ist, die
entscheidenden Anteil an der gesellschaftlichen Etablierung einer technisierten
Kommunikationskultur hatten.28 Denn gerade die avantgardistischen Tenden-
zen der zwanziger Jahre waren nicht ausschließlich ästhetische, vielmehr war
die Synthese von Kunst und Technik für sie konstitutiv - und das nicht meta-
phorisch im Sinne so genannter .künstlerischer Techniken', sondern buchstäb-
lich. Die Synthese von Kunst und Technik wurde dabei in zwei Richtungen
unternommen: Technisierung der Kunst einerseits und Ästhetisierung der Tech-
nik andererseits waren die zweifache Antwort auf das Wirklichkeitsproblem der
Moderne, das sich mit der Jahrhundertwende als Krise der Anschaulichkeit ma-
nifestierte und spätestens mit der vehementen Modernisierung der europäischen

25 Lethen, „Chicago und Moskau", S. 192 bzw. 194f.


26 Le Corbusier: „Leitsätze des Städtebaus", in: Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste
zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Braunschweig 1975, S. 84-89, hier S. 89.
27 „Das Licht wurde (...) Teil der öffentlichen Selbstinszenierung" der Stadt, die in der großen Ak-
tion „Berlin im Licht" im Oktober 1928 gipfelte. So Baumunk, „Die schnellste Stadt der Welt",
S. 460.
28 Vgl. Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit",
in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, Frankfurt/Main 1974, S. 431-469, hier S. 464f.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 169

Gesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg, gerade in den Metropolen als Pro-
blem der Wahrnehmung stellte.29 Vor diesem Hintergrund war das Motiv der
Avantgarde zunächst ein geradezu erzieherisches: Ziel der neuen Kunst war die
Einübung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens in die neuen tech-
nisierten sozialen Wirklichkeiten der Moderne. Aber die Kultivierung der
Oberfläche im Sinne ihrer reflexiven Bearbeitung war darüber hinaus auch die
massenwirksame Realisierung der avantgardistischen Entgrenzung des Äs-
thetischen ins Alltägliche durch die Auflösung der bürgerlichen Ästhetik des
Erhabenen. 30 Und die performative Oberflächenhaftigkeit ästhetisierter Wirk-
lichkeiten vollzog geradezu sinnlich wahrnehmbar die Abkehr von der bürger-
lichen Kultur und signalisierte die nachdrückliche Etablierung einer neuen
Massenkultur, deren vielfältige Realisierungen das klassisch-moderne Berlin zu
einer Stadt machten, die einen regelrechten „Kult der Oberfläche" betrieb, wie
Janet Ward gezeigt hat.31
Ende der 20er Jahre war Berlin also nicht nur die schnellste Stadt der Welt,
sondern auch die Stadt der Oberflächenhaftigkeit - und beides in einem durch-
aus positiven Sinne. Denn der Verkehr war die massenhafte Aneignungsform der
Technisierung sozialer Wirklichkeiten. Und die Oberflächenhaftigkeit war die
massenhafte Aneignungsform der Ästhetisierung sozialer Wirklichkeiten.
Deshalb waren Verkehr und Oberfläche auch die beiden prominenten Elemente,
die die ersten umfassenden Planungen für die radikale Umgestaltung des Pots-
damer Platzes zu einem „Weltstadtplatz" in den späten 20er Jahren leiteten.32 Ihr
Manifest bildet das abstrakte Funktionsmodell eines „Weltstadtplatzes", das der
sozialdemokratische Stadtbaurat Martin Wagner 1928/29 entwarf, und das voll-
ständig im Horizont der fordistischen Konzepte rationaler Gesellschaftsorgani-
sation und der programmatischen Abstraktion der Architekturen des Neuen
Bauens stand.33 (Abb. 4) Darin wird die Technisierung des Alltags, die sich im
Verkehr manifestiert, mit seiner Ästhetisierung, die sich in den abstrakten
Oberflächen manifestiert, durch ein Drittes organisch verbunden, nämlich Öko-

29 Vgl. für Berlin Knut Hickethier: „Beschleunigte Wahrnehmung", in: Boberg u.a. (Hg.), Die Me-
tropole, S. 144-155. Vgl. auch Michael Makropoulos: „Wirklichkeiten zwischen Literatur, Ma-
lerei und Sozialforschung", in: Gerhart von Graevenitz (Hg.), Konzepte der Moderne, Stuttgart
1999, S. 69-81.
30 Dazu immer noch instruktiv Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/Main 1974, bes.
S. 49ff.
31 Janet Ward: Weimar Surfaces. Urban Visual Culture in 1920s Germany. Berkeley/Los Angeles/
London 2001, S. 9 (Übersetzung vom Vf.).
32 Vgl. Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 25ff.
33 Zu den Konzepten rationaler Gesellschaftsorganisation vgl. Charles Maier: „Zwischen Taylo-
rismus und Technokratie. Gesellschaftspolitik im Zeichen industrieller Rationalität in den zwan-
ziger Jahren in Europa", in: Michael Stürmer (Hg.), Die Weimarer Republik, Königstein 1980,
S. 188-213. Zum Neuen Bauen vgl. Norbert Huse: ,Neues Bauen' 1918-1933. Moderne Archi-
tektur in der Weimarer Republik. Berlin J1985, bes. S. 109ff. Zur Synopse der einzelnen Ratio-
nalisierungskonzepte vgl. Detlev J.K. Peukert: Die Weimarer Republik 1918-1933. Krisenjahre
der Klassischen Moderne. Frankfurt/Main 1987, bes. S. 87ff., sowie Detlev J.K. Peukert: Max
Webers Diagnose der Moderne. Göttingen 1989, bes. S. 70ff.
170 MICHAEL MAKROPOULOS

nomisierung - und zwar einer Ökonomisierung, die nicht über die produktive,
sondern über die konsumtive Sphäre bestimmt ist und ihren spektakulären Aus-
druck in den Reklamewelten der Warenästhetik findet, die 1929 anläßlich
der Berliner „Weltreklameschau" vom Architekturkritiker Adolf Behne vorbe-
haltlos als Verwirklichung des avantgardistischen Konstruktivismus positiviert
wurden. 34 Wagners „Programm für die Gestaltung solcher Plätze", das die all-
gemeine Vorgabe für die Pläne zur grundlegenden Umgestaltung des Potsdamer
Platzes Ende der 20er Jahre war, bestimmt diese Plätze als „Organismen mit
ausgeprägtem formalen Gesicht". Ihre „Dimensionierung" sei „in erster Linie
eine Aufgabe des Verkehrstechnikers", der die „Verkehrskapazität des Platzes"
am hochgerechneten Verkehrsaufkommen der „nächsten 25 Jahre" kalkuliert.
Damit sei auch die „beschränkte Lebensdauer eines Weltstadtplatzes" gegeben,
aus der sich ergibt, daß „die den Platz umgebenden Bauten keine bleibenden
wirtschaftlichen wie architektonischen Werte besitzen". „Mit diesen Anforder-
ungen", so Wagner weiter, „wächst sich ein Weltstadtplatz zu einem hochquali-
fizierten und teuren technischen Bauwerk aus, dessen Kosten durch die den Platz
umgebenden Bauten entweder ganz oder teilweise wieder aufgebracht werden
müssen. Dem Fließverkehr auf dem Platz muß ein .Standverkehr' entgegenge-
stellt werden, der die Konsumkraft der den Platz kreuzenden Menschenmassen
festhält (Läden, Lokale, Warenhäuser, Büros usw.). Man kommt so zu einer
Konzentration der Bauten, die sich in ihren .Fluchtlinien' den Ganglinien der
Fußgänger, also der Konsumkraft, anzuschließen haben." Damit war die „Ver-
kehrslösung mit der architektonischen Gestaltung" über die warenästhetische
Oberflächenwirkung zu einem organisch funktionierenden Ganzen „verkop-
pelt". „Klarste Formen, die während des Tages wie während der Nachtstunden
ihre charakteristische künstlerische Wirkung ausüben, sind grundlegende Vor-
aussetzung des Weltstadtplatzes. Ein flutendes Licht bei Tage und herausfluten-
des Licht bei Nacht erzeugen ein gänzlich neues Gesicht des Platzes. Farbe,
Form und Licht (Reklame) sind die drei Hauptelemente für neue Weltstadt-
plätze".35 Daß man in Berlin allerdings gerade auf die „ästhetische Lichtreklame"
setzte, wie Bodo-Michael Baumunk betont, verweist nicht nur auf die nach-
drückliche Ästhetisierung des metropolitanen Raumes, sondern auch auf den
Anspruch, „die Ausdrucksformen großstädtischer Modernität nicht im Sinne
kapitalistischen Wildwuchses, sondern eines wie auch immer gearteten Gemein-

34 Vgl. Jochen Boberg: „Reklamewelten", in: Boberg u.a. (Hg.), Die Metropole, S. 184-189, sowie
Adolf Behne: „Kunstausstellung Berlin", in: Das Neue Berlin 8 (1929), S. 150-152. Zum Kon-
zept der „Warenästhetik" vgl. Wolfgang Fritz Haug: „Zur Kritik der Warenästhetik", in: Kurs-
buch 20 (1970), S. 140-158.
35 Martin Wagner: „Das Formproblem eines Weltstadtplatzes", in: Tendenzen der Zwanziger
Jahre. 15. Europäische Kunstausstellung Berlin 1977, Berlin '1977, S. 2/105. Zu den problema-
tischen eigentumsrechtlichen, finanziellen und kommunalpolitischen Aspekten des Umbau-
projekts, die schließlich seine Realisierung vereitelten, vgl. Ludovica Scarpa: Martin Wagner und
Berlin. Architektur und Städtebau in der Weimarer Republik. Braunschweig/Wiesbaden 1986,
S. 106ff.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 171

Abb. 4: Martin Wagner, Entwurf zur Umgestaltung des Potsdamer Platzes, 1928.

schaftsgeistes und Gemeinwohls angewandt zu haben".36 „Ordnung und Schön


heit" waren dafür die Leitbegriffe.37 „Bewegung und Geschwindigkeit", erklärt
Matthias Pabsch, sollten damit ihrerseits zur „architektonischen Form" werden,
„der Konsum schwang sich zum städtebaulichen Gestaltungsfaktor auf", und
ihm war dann „ein weiteres neues Gestaltungselement geschuldet", nämlich die
Reklame. Verkehrsgerechtigkeit, Oberflächenhaftigkeit und Warenästhetik führ
ten damit nicht nur zu einer förmlichen „Verzeitlichung des Bauens", in der die
Beschleunigung und die Lichteffekte den „Weltstadtplatz zu einem flüchtigen
virtuellen Erlebnis" in einem durchaus positiven Sinne des Begriffs überhöhten. 38
Sie machten ihn auch zum paradigmatischen Ort der intensivierten Erfahrung

36 Baumunk, „Die schnellste Stadt der Welt", S. 460. Vgl. auch Ward, Weimar Surfaces, S. 95, die
auf eine „dramatic scientization of advertizing in Weimar Germany" verweist.
37 Vgl. Kiecol, Selbstbild und Image zweier europäischer Metropolen, S. 90f.
38 Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 27. Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Frank
furt/Main 1971, S. 10f., der über die Gestaltung der Dinge hinaus, ausdrücklich die Konditio
nierung der Sinnlichkeit betont.
172 MICHAEL MAKROPOULOS

mit artifiziellen Wirklichkeiten, die im funktionellen Dreieck von Technisierung,


Ästhetisierung und Ökonomisierung zum Inbegriff von Urbanität, und durch
diese hindurch, von Modernität wurden. (Abb. 5 u. 6)

IV. Massenkultur als Kontingenzkultur


Die konsumistische Ökonomisierung der sozialen Wirklichkeit realisierte sich
im Horizont von beschleunigter Mobilität und funktionalistischer Gestaltung
allerdings nicht nur in der warenästhetisch grundierten Kultivierung der Ober-
fläche, sondern vor allem in der historischen Etablierung der Massenkultur, die
gerade im Berlin der 20er Jahre mit der Entstehung und ersten Erprobung
mediengestützter Massenkommunikation einherging.39 Schließlich bedeutet
Ökonomisierung mehr als die bloße Strukturierung der sozialen Wirklichkeit
nach Prinzipien des Warentauschs; Ökonomisierung bedeutet vielmehr darüber
hinaus vor allem die gesellschaftliche Etablierung einer funktionellen Struktur
universeller Vermittelbarkeit, Vergleichbarkeit und Vernetzbarkeit - oder we-
nigstens doch der strukturellen Anschlußfähigkeit heterogener Elemente. Ihr
Prinzip ist die zum sozialen Dispositiv universalisierte Kommunikation. Und
obwohl die gegenwärtig unbezweifelbar erscheinende Wünschbarkeit der Kom-
munikation in den gesellschaftlichen Diskursen anderes suggerieren mag - und
die politische Positivierung kommunikativer Vernunft gegenüber technisch-öko-
nomischer Zweckrationalität zu beglaubigen versucht -, ist Kommunikation als
Paradigma eines spezifischen Welt-, Selbst- und vor allem Sozialverhältnisses
nicht gegen-ökonomisch, sondern zutiefst ökonomisch.40 Genau das ist am Ende
dann auch der entscheidende Zusammenhang, der massenkulturelle Wirklichkei-
ten in einem sehr anderen als dem bloß kommerziellen Sinne des Begriffs zu
ökonomisierten Wirklichkeiten werden läßt. Sie sind Realisierungen einer nicht
autoritativ, sondern kommunikativ strukturierten und damit potentiell verallge-
meinerten Verfügbarkeit. Darin besteht ihre soziale Positivität: Massenkulturelle
Wirklichkeiten verallgemeinern die Disposition der Verfügbarkeit im umfassen-
den gesellschaftlichen Maßstab. Ihr prominenter topologischer wie funktionel-
ler Ort war ebenfalls der Potsdamer Platz. Und vielleicht konnte der Potsdamer
Platz überhaupt nur deshalb zum Mythos werden, weil er sich nicht nur als to-

39 Zu Berlin als „Metropole der Medien" vgl. Lethen, „Chicago und Moskau", S. 209ff, sowie Bau-
munk, „Die schnellste Stadt der Welt", S. 462ff.
40 Insofern ist es dann freilich ausgesprochen problematisch, eine essentiell kommunikativ struktu-
rierte Lebenswelt gegen ein essentiell ökonomisch strukturiertes System zu stellen, wie Jürgen Ha-
bermas es unternommen hat, weil Kommunikation gerade nicht die soziale Gegenwelt zur Welt
der Ökonomie ist, sondern die gesellschaftliche Form der Ökonomisierung. Daß es dabei nicht
um Kommunikation im Sinne interaktionistisch fundierter intersubjektiver Anerkennung geht,
auf deren Basis Habermas das Konzept der Vergemeinschaftung in seinem Theorem der „Ratio-
nalisierung der Lebenswelt" modernisiert hat, sei hier allerdings nicht weiter problematisiert. Vgl.
Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Frankfurt/Main 1981, S. 456ff.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 173

Abb. 5: Lichtschmuck der


Siegessäule durch die Fa. OSRAM
zur Berliner Lichtwoche 1928.

pologischer Ort von Urbanität anbot, sondern auch als topologischer Ort einer
Massenkultur, die im modernistischen Diskurs der Klassischen Moderne zum
allgemeinen Dispositiv der gesellschaftlichen Aneignung durchgreifend artifizi-
eller, nämlich technisierter und ästhetisierter Wirklichkeiten wurde. Denn be-
schleunigte Zirkulation und forcierte Konsumtion, eine neuartige Kultur der
Zerstreuung und nicht zuletzt dann die tendenziell durchgreifende Kultivierung
der Oberfläche, die im Zuge der avantgardistischen Gestaltung betrieben wurde,
generierten in ihrer massenkulturellen Form nicht nur die weitreichende Positi-
vierung urbaner Lebensformen, sondern ermöglichten mit dieser auch die weit-
reichende Positivierung artifizieller Wirklichkeiten überhaupt.41
Massenkultur - so könnte man sagen - war die zureichende Bedingung für
den Mythos „Potsdamer Platz", die seine notwendige Bedingung, nämlich die

41 Zur Kultur der Zerstreuung als Surrogat eines transzendentalen Obdachs vgl. Siegfried Kra-
cauer: „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland", in: ders., Schriften, Bd. 1, Frank-
furt/Main 1971, S. 205-304, hier S 282ff.
174 MICHAEL MAKROPOULOS

Eigenschaftslosigkeit des realen Platzes und seine Eignung als materielle Refe-
renz immaterieller Qualitäten, vervollständigte, indem sie sie strategisch for-
mierte. Schließlich ist Massenkultur mehr als die Summe der universalisierten
Freizeit- und Konsumkulturen, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts zur domi-
nierenden, wenn nicht zur hegemonialen kulturellen Wirklichkeit der moder-
nen Gesellschaften geworden ist. Und ihre historische Etablierung signalisiert
auch mehr als die epochale Umstellung von bürgerlichen - und proletarischen -
Bildungskulturen auf eine einzige, klassen- und schichtenübergreifende, also
tendenziell egalitäre Unterhaltungskultur.42 Massenkultur ist vielmehr weit über
diese manifesten Realisierungen hinaus eine Kultur eigenen Typs, die sich nicht
nur von den traditionellen Eliten-, sondern auch von den traditionellen Popu-
larkulturen unterscheidet. Sie ist die gesellschaftliche Realisierung eines eigen-
ständigen spezifisch modernen Weltverhältnisses. Und im Zusammenspiel mit
den umfassenden gesellschaftlichen Rationalisierungstendenzen der Klassischen
Moderne ist Massenkultur deshalb nicht ein akzidentieller Modernisierungsef-
fekt, sondern ein substantieller Modernisierungsfaktor. Sie verleiht metropoli-
taner Urbanität als spezifisch moderner Lebensform einen eigenständigen
Realitätscharakter mit einem spezifischen Erfahrungsraum und mit einem
ebenso spezifischen, nämlich offenen Erwartungshorizont.
Erst die massenkulturelle Aneignung der artifiziellen großstädtischen Wirk-
lichkeiten - so ließe sich die These von Lethen weiterführen - machte Mo-
dernität für breitere Gesellschaftsschichten historisch erstmals auf eine sehr
alltägliche Weise unproblematisch.43 Denn Massenkultur organisiert nicht nur,
sondern generiert überhaupt erst ein positives gesellschaftliches Verhältnis
zu artifiziellen Wirklichkeiten, indem sie diesen irreduzibel kontingenzförmi-
gen Wirklichkeiten jenen Selbstverständlichkeits- und Vertrautheitscharakter
verleiht, der ihre empirische Präsenz in eine „quasi-transzendentale" Evidenz
überführt.44 Ebenso pointiert wie paradoxal gesagt: Massenkultur macht die arti-
fiziellen Wirklichkeiten zwischen Technisierung, Ökonomisierung und Ästheti-
sierung unbeschadet ihrer Künstlichkeit zur modernen Lebenswelt im strikten
Sinne.45 Und zwar dadurch, daß sie die Erfahrung der Individuen formt, indem

42 Zur Geschichte der Massenkultur vgl. Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der
Massenkultur 1850-1970. Frankfurt/Main 1997, S. 16ff., sowie Franz Dröge/Michael Müller:
Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder die Geburt der Massenkultur. Ham-
burg 1995, S. 28ff., die im übrigen das konstitutive Moment des Konsums für die Massenkultur
betonen und explizit von „Massen- bzw. Konsumkultur" sprechen (S. 23).
43 Vgl. Lethen, „Chicago und Moskau", S. 196f.
44 So ließe sich in Anlehnung an Foucaults „Quasi-Transzendentalia" formulieren, „die für uns das
Leben, die Arbeit und die Sprache sind". Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Ar-
chäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/Main 1969, S. 307.
45 .Paradoxal' gesagt, weil Artifizialität der Inbegriff des Unselbstverständlichen ist, „Lebenswelt*
hingegen den „zu jeder Zeit unerschöpflichen Vorrat des fraglos Vorhandenen, Vertrauten und
gerade in diesem Vertrautsein Unbekannten" bezeichnet. „Alles, was in der Lebenswelt wirklic.n
ist, spielt in das Leben hinein, (...) aber es bleibt in seiner Kontingenz verdeckt, d.h. nicht als auch-
anders-sein-könnend empfunden." So mit Bezug auf Husserls Definition von Lebenswelt as
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 175

sie ihre Wahrnehmung auf diese neuen Wirklichkeiten ausrichtet, wie Benjamin
mit Blick auf den Film erklärt hat, der durch sein konstitutiv technisches Prin-
zip der beschleunigten Montage, vor allem aber durch die geradezu körperlich-
taktile Wirkung seiner Bilder, die menschliche Wahrnehmung sensomotorisch
in die Struktur dieser neuen, ebenso ästhetisierten wie technisierten und damit
grundlegend artifiziellen Wirklichkeiten einüben sollte.46 „Der Film dient", so
Benjamin, „den Menschen in diejenigen neuen Apperzeptionen und Reaktionen
zu üben, die der Umgang mit einer Apparatur bedingt, deren Rolle in seinem
Leben fast täglich zunimmt. Die ungeheure technische Apparatur unserer Zeit
zum Gegenstande der menschlichen Innervation zu machen - das ist die
geschichtliche Aufgabe, in deren Dienst der Film seinen wahren Sinn hat." Denn
der Film, dem nicht nur Benjamin zentrale Bedeutung für die Massenkultur bei-
maß, war das privilegierte Medium für die „Ausrichtung der Realität auf die
Massen und der Massen auf sie" - also für jenen „Vorgang von unbegrenzter
Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung", in dem „sich im an-
schaulichen Bereich" wiederhole, „was sich im Bereiche der Theorie als die zu-
nehmende Bedeutung der Statistik bemerkbar macht".47
Und doch ist das nur die Grundlegung für die eigentliche gesellschaftliche
Funktion und die konstituierende Positivität der Massenkultur. Indem sie die
artifiziellen Wirklichkeiten der Moderne zur selbstverständlichen Lebenswelt
macht, entgrenzt Massenkultur zugleich jedes instrumentelle Verhältnis zu kon-
kreten oder abstrakten Artefakten in ein weitgehend unproblematisches, wenn
nicht ausgesprochen positives Verhältnis zum Prinzip der Artifizialität selbst.
Massenkultur bildet damit nicht nur die soziale Akzeptabilitätsbedingung arti-
fizieller Wirklichkeiten, sondern darüber hinaus auch die soziale Realisie-
rungsbedingung für die konstruktivistische Disposition, die sich in diesem
durchgreifend artifiziellen Realitätsverhältnis manifestiert. Auch hier auf den
funktionellen Kern des Sachverhalts zugespitzt: Massenkultur macht nicht nur
die konkreten artifiziellen Realien und auch nicht nur die abstrakten artifiziellen
Realitäten der Moderne zur Selbstverständlichkeit, sondern auch ihr Konstitu-
tionsprinzip, indem sie ein spezifisches Realitätsverhältnis im Kreuzungsfeld
technisierter und ästhetisierter Wirklichkeiten kommunikativ als konstruktivi-
stischen Modus der gesellschaftlichen Erfahrung etabliert. In dieser Perspektive
ist Massenkultur dann allerdings nicht mehr nur das allgemeine Dispositiv für
die soziale Aneignung artifizieller Wirklichkeiten, sondern auch das allgemeine

„Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten" Hans Blumenberg: „Lebenswelt und


Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie", in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben,
Stuttgart 1981, S. 7-54, hier S. 23.
46 Vgl. Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", S. 463ff.
Das bedeutet: Gerade wenn Benjamin an der Unterscheidung von .harten' existentiellen und
.weichen' kulturellen Realitäten festgehalten hat, war seine These, daß die neuen technisierten
und ästhetisierten Wirklichkeiten als sensorisch konditionierende die neuen Existentialien seien.
47 Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", S. 444f. bzw.
S. 440.
176 MICHAEL MAKROPOULOS

Abb. 6: Kempinski im „Haus Vaterland" bei Nacht, 1930.

Dispositiv für die gesamtgesellschaftliche Realisierung eines durchgreifend kon-


struktivistischen und gerade darin spezifisch modernen Selbst- und Weltver-
hältnisses, nämlich einer bestimmten historischen Form von Subjektivität und
Objektivität in ihren wechselkonstitutiven Bezügen. Im funktionellen Zentrum
dieser Form steht der irreduzible Potentialis des modernen Kontingenzbe-
wußtseins - also jene individuelle und kollektive Disposition, die prinzipiell jede
Wirklichkeit mit der Möglichkeit ihrer Veränderung und konstruktivistischen
Überbietung konfrontiert, und die sich vielleicht am treffendsten mit einem Wort
von Musil als „Möglichkeitssinn" beschreiben läßt.48 Das ist es am Ende auch,
was ihre epochale Attraktivität ausmacht: Massenkultur ist die spezifische Kul-
tur eines kontingenzförmigen Realitätsverhältnisses und gerade darin die soziale
Realisierung des „Möglichkeitssinns" - wie trivialisiert und standardisiert auch
immer er sich im kulturindustriell modulierten Ausdrucksarsenal dann konkre-
tisieren mag. Entscheidend ist die Erweiterung, Entgrenzung und am Ende dann
die tendenzielle Virtualisierung der individuellen und kollektiven Erfahrung im

48 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S.16. Zum Kontingenzbewußtsein vgl. Michael Makro-
poulos: Modernität und Kontingenz. München 1997, bzw. Michael Makropoulos: „Modernität
als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts", in: Gerhart von Graevenitz/ Odo Marquard
(Hg.), Kontingenz (Poetik und Hermeneutik XVII), München 1998, S. 55-79.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 1 77

gesellschaftlichen Maßstab, deren .materielle' Fundierung konsumistisch ver-


fügbare technisch bestimmte Mobilität und ästhetisch bestimmte Oberflächen-
haftigkeit ist.49 Massenkultur - so müßte man deshalb gegen die grandiose Kritik
der „Kulturindustrie" von Max Horkheimer und Theodor W Adorno einwen-
den - ist zwar in der Tat „totale Gesellschaft", aber nicht durch Verlängerung
der Herrschaft in die Kultur im Zuge ihrer reellen wie formellen Subsumtion
unter das kapitalistische Verwertungsprinzip, sondern durch die gesellschaftli-
che Etablierung artifizieller und darin schlechterdings kontingenzförmiger Rea-
litätsverhältnisse, ihre kommunikative Strukturierung und ihre konsumistische
Aneignung. 50 Das - nicht zuletzt - war auch das eigentliche Pathos der Welt-
stadtemphase, die im Berlin der 20er Jahre nicht nur modernistische Selbstdeu-
tung und identitäre Selbstkonstitution wurde, sondern mindestens ansatzweise
auch konkrete - sozialdemokratische - Kommunalpolitik: Die Freisetzung der
Individuen aus ihren tradierten Bindungen an lokale und regionale Loyalitäten
und Identitäten, die in einem sehr konkreten Sinne als individuelle Selbstentfal-
tung erlebt wurde, steckt ebenso in dieser Emphase wie die Positivierung einer
zwar nicht vollständig, aber doch weitgehend artifiziellen gesellschaftlichen Er-
fahrung als Voraussetzung individueller und kollektiver Realisierungen des
„Möglichkeitssinns". Darin besteht schließlich auch das „urbane Versprechen",
das die kulturelle Attraktivität der Metropole ausmacht.51

V. Urbanität und Mythisierung


Die Metropole ist der geradezu prototypische Kontingenzraum im doppelten
Sinne des Begriffs: Sie ist der Raum gesteigerter Ereignishaftigkeit als sozialem
Modus jener zweiseitigen Unbestimmtheit, in der die Bestände der Wirklich-
keit und am Ende auch die Wirklichkeit selbst weder notwendig noch unmög-
lich, sondern auch anders möglich sind. Allerdings sind sie dies nicht nur in dem
Sinne, daß sie veränderlich und also zufällig, sondern auch in dem Sinne, daß sie
veränderbar und folglich manipulierbar sind.52 Und vielleicht gibt es deshalb
eine spezifische Attraktivität der Stadt, ja geradezu eine „Erotik der Stadt", wie
Roland Barthes erklärt hat, eine Erotik der Stadt, die für ihn nichts anderes war
als „Sozialität" überhaupt, und die deshalb auch nichts zu tun hat mit „einer der
hartnäckigsten Mystifikationen des städtischen Funktionalismus", nämlich dem

49 Zur Synopse von Mobilität und Massenkultur vgl. Maase, Grenzenloses Vergnügen, 179ff. u.
235ff. Zum Individualverkehr vgl. Thomas Kühne: „Massenmotorisierung und Verkehrspolitik
im 20. Jahrhundert: Technikgeschichte als politische Sozial- und Kulturgeschichte", in: Neue
Politische Literatur 41 (1996), S. 196-229.
50 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.
Frankfurt/Main 1969, S. 128-176 bzw. 4.
51 Rudolf Lüscher/Michael Makropoulos: „Revolte für eine andere Stadt", in: Ästhetik und
munikation 49 (1982), S. 113-125, hier S. 114.
52 Ausführlich vgl. Makropoulos, Modernität und Kontingenz, S. 7ff.
178 MICHAEL MAKROPOULOS

„Konzept des Vergnügungsortes". „Die Erotik der Stadt", so Barthes, „ist die
Lehre, die wir aus der unendlich metaphorischen Natur des Stadtdiskurses ziehen
können", also jener „Natur" des Stadtdiskurses, die uns wie „bei jedem beliebi-
gen kulturellen oder sogar psychologischen Komplex vor endlose Metaphern-
ketten" führt, „deren Signifikat immer im Hintergrund bleibt oder selbst zum
Signifikant wird". Die irreduzible Metaphorizität führt nun dazu, daß die Stadt
„semantisch und ihrem Wesen nach" der „Ort der Begegnung mit dem anderen"
ist, und „deshalb ist das Zentrum der Treffpunkt der ganzen Stadt". Denn „das
Stadtzentrum wird als Ort des Austauschs von sozialen Aktivitäten erlebt, und
ich würde fast sagen: von erotischen Aktivitäten im weiten Sinn des Begriffs.
Mehr noch, das Stadtzentrum wird immer als Raum erlebt, in dem subversive
Kräfte agieren und aufeinandertreffen, Kräfte des Bruchs und des Spiels." Das
Zentrum, so Barthes mit Blick auf die Rolle von Paris, wird „semantisch immer
als der privilegierte Ort erlebt", als besonderer Ort, „an dem der andere ist und
wir selbst der andere sind, als der Ort, wo man spielt. Umgekehrt ist alles, was
nicht zum Zentrum gehört, das, was nicht Spielraum ist, was nicht Anderssein ist:
die Familie, der Wohnort, die Identität". 53 Und spätestens hier wird klar, was die
eigentliche, vielleicht unwiderstehliche, zweifellos aber unabweisbare Attrakti-
vität der Metropole ausmacht und massenkulturelle Urbanität als raumgestützte
Kontingenzkultur ausgesprochen wünschbar werden läßt: Die Metropole ist der
Ort, an dem potentiell jeder sein kann, was Charles Baudelaire Mitte des 19. Jahr-
hunderts in seinem Prosagedicht über „die Menge" noch als Privileg des Künst-
lers, des Dichters, festhielt, nämlich „jenes unvergleichliche Vorrecht, nach Belie-
ben er selbst und ein anderer zu sein".54
Die Metropole ist der spezifische Ort einer „Kultur der Übervölkerung", wie
Rem Koolhaas erklärt hat, und darin ist sie der „Brutkasten einer künstlichen,
von Menschen herbeigeführten Erfahrung". 55 Aus diesem Grund ist die Metro-
pole - nach der Definition von Dieter Hoffmann-Axthelm - aber auch „dieje-
nige Großstadt, die nicht mehr zwischen Fremden und Einheimischen unter-
scheidet".56 Sie ist der spezifische Ort einer „Generalisierung von Fremdheit",
wie sich systemtheoretisch sagen ließe, die die Individuen nicht „vollinkludiert",
sondern „kontextspezifisch" in der „Form von funktional differenzierten Iden-
titätszuschreibungen" vergesellschaftet.57 Nicht systemtheoretisch gesagt, ist das
die „unvollständige Integration" als strukturelles Charakteristikum urbaner Ver-

53 Roland Barthes: „Semiologie und Stadtplanung", in: ders., Das semiologische Abenteuer, Frank-
furt/Main 1988, S. 199-209, hier S. 206f.
54 Charles Baudelaire: „Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa", in: Sämtliche Werke, Bd. 8, Mün-
chen, Wien 1985, S. 113-307, hier S. 149.
55 Rem Koolhaas: „Manhattan - Leben und Architektur in Metropolis", in: Freibeuter 2 (1979),
S. 131-141, hier S. 140 bzw. 141.
56 Dieter Hoffmann-Axthelm: Die dritte Stadt. Bausteine eines neuen Gründungsvertrages. Frank-
furt/Main 1993, S. 218.
57 Vgl. Kai-Uwe Hellmann: „Fremdheit als soziale Konstruktion. Eine Studie zur Systemtheorie
des Fremden", in: Herfried Münkler, Karin Meßlinger, Bernd Ladwig (Hg.), Die
rung durch das Fremde, Berlin 1998, S. 401-459, hier S. 440ff., Zit. S. 443.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 179

gesellschaftung.58 Und darin ist die Metropole dann der spezifische Raum einer
strukturell garantierten Freiheit, die nicht so sehr die Freiheit im Gewühl der
Menge ist, die Georg Simmel im Blick hatte und die Benjamin für das Paris Bau-
delaires als Tiefenstruktur urbaner Erfahrung erschlossen hat, sondern die struk-
turelle Freiheit in der irreduziblen Heterogenität urbaner Wirklichkeiten, die
eine Kultur des Experiments und der Konstruktion im Dauerzustand generiert.59
Das hat Robert Park 1915 in ein eindringliches Bild gefaßt: „Nicht nur Verkehr
und Kommunikation, sondern vor allem die Segregation der städtischen Bevöl-
kerung" etablieren „sittliche Distanzen, die die Stadt zu einem Mosaik kleiner
Welten" machen, die sich zwar berühren, die aber nicht ineinander dringen. Das
gebe den Individuen die Möglichkeit, „schnell und einfach von einem sittlichen
Milieu in ein anderes zu wechseln", und es fördere „das faszinierende, doch
ebenso gefährliche Experiment eines Lebens in mehreren verschiedenen sich be-
rührenden, aber ansonsten weit getrennten Welten zu gleicher Zeit". Sicherlich,
räumte Park ein, all dies neige dazu, „dem städtischen Leben einen oberflächli-
chen und zufälligen Charakter zu verleihen", ebenso, wie es dazu neige, nicht
nur „soziale Beziehungen zu komplizieren", sondern darüber hinaus auch „neue
und abweichende Individualtypen zu produzieren", so daß sich auch das Pro-
blem der sozialen Kontrolle auf ganz neue Weise stelle. Zugleich führe Urbanität
andererseits aber ein positives „Element der Möglichkeit und des Abenteuers"
in die soziale Wirklichkeit ein, das zum „Stimulus" hinzutrete, den das städti-
sche Leben ohnehin enthalte, und die Stadt werde so zu einem sozialen Raum,
der die Freisetzung und Entfaltung von Individualität bis hin zum Exzentrischen
nicht nur ermöglicht, sondern geradezu wünschenswert macht. Denn „die kleine
Gemeinschaft", erklärte Park, „toleriert Exzentrizität oftmals nur. Die Stadt da-
gegen belohnt sie."60
Wenn aber massenkulturelle Urbanität als allgemeines Dispositiv der gesell-
schaftlichen Verwirklichung durchgreifend artifizieller Realitätsverhältnisse ein
neues Selbst- und Weltverhältnis generiert, in dessen Zentrum die Entgrenzung
der individuellen und kollektiven Erfahrung steht und dessen Subjektivitätsef-
fekt ein geradezu konstruktivistisches Verhältnis zu Identitäten bildet, stellt sich
für sie vehement das Problem der Selbstbegründung. Dabei ist klar, daß eine
Selbstbegründung durch bloße topologisch-territoriale Materialisierung un-
zureichend wäre, wenn es darum geht, diesem Dispositiv jene Qualität unbe-

58 So Hans Paul Bahrdt: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau.
Reinbekl961,S. 39ff.
59 Vgl. Georg Simmel: „Die Großstädte und das Geistesleben", in: Jahrbuch der Gehe-Stiftung 9
(1903), S. 185-201, bes. S. 199; Walter Benjamin: „Über einige Motive bei Baudelaire", in: ders.,
Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, Frankfurt/Main 1974, S. 605-653, bes. S. 618ff.
60 Robert E. Park: „The City: Suggestions for the Investigation of Human Behavior in the Urban
Environment", in: Robert E. Park/Ernest W Burgess, The City, Chicago/London 1925, S. 1-46,
hier S. 40f. (Übersetzung vom Vf.) Dazu vgl. Michael Makropoulos: „Stadtkultur und Grenz-
persönlichkeit. Differenzerfahrung im Lichte Robert Ezra Parks", in: Sociologia Internationa-
lis 35 (1997), S. 27-38.
180 MICHAEL MAKROPOULOS

zweifelbarer Evidenz, wenn nicht unabweisbarer Notwendigkeit zu verleihen,


die seine historische Kontingenz stillstellt. Denn die Selbstbegründung durch
Materialisierung des Immateriellen, die noch vollständig im Horizont des Ma-
terialismus des 19. Jahrhunderts steht, erweist sich gerade dann als kontingent
und könnte auch anders möglich sein, wenn es darum geht, nicht nur artifizi-
elle Wirklichkeiten zu fundieren, sondern artifizielle Realitätsverhältnisse als
Effekte eines produktivistisch auf Dauer gestellten „Möglichkeitssinns", weil
schließlich gerade diese Realitätsverhältnisse jede artifizielle Wirklichkeit mit
der Möglichkeit ihrer konstruktivistischen Überbietung konfrontieren.
Genau hier kommt nun der Mythos - im semiologischen Sinne - als spezifi-
sche diskursive Operation ins Spiel. „Der Mythos", erklärt Barthes, „ist eine Aus-
sage", also „ein Mitteilungssystem, eine Botschaft". Er ist eben „kein Objekt, kein
Begriff oder eine Idee", sondern „eine Weise des Bedeutens, eine Form". Deshalb
„kann alles, wovon ein Diskurs Rechenschaft ablegen kann, Mythos werden".
„Jeder Gegenstand der Welt", so Barthes, „kann von einer geschlossenen, stum-
men Existenz zu einem besprochenen, für die Aneignung durch die Gesellschaft
offenen Zustand übergehen". Denn der Mythos, so Barthes, überformt die Dinge
„mit einem gesellschaftlichen Gebrauch, der zur reinen Materie hinzutritt". 61
Aber nicht jeder Diskurs ist ein mythischer. Der Mythos ist vielmehr für Barthes
„insofern ein besonderes System, als er auf einer semiologischen Kette aufbaut,
die bereits vor ihm existiert; er ist ein sekundäres semiologisches System", das eine
„Verschiebung" im System der Bedeutung bewerkstelligt. „Alles vollzieht sich so,
als ob der Mythos das formale System der ersten Bedeutung" - also das Verhält-
nis von Signifikant und Signifikat, das im Zeichen konventionell festgelegt ist -
„um eine Raste verstellte", so „daß im Mythos zwei semiologische Systeme ent-
halten sind, von denen eines im Verhältnis zum andern verschoben ist". Der My-
thos ist eine „Metasprache", in der man von der „Objektsprache" spricht, und die
den Diskurs auf eine bestimmte Weise formiert.62 Der Mythos ist deshalb sekun-
där. Trotzdem verbirgt er nichts. Seine Funktion, erklärt Barthes, ist es, etwas „zu
deformieren, nicht etwas verschwinden zu lassen". „Der Mythos verbirgt nichts
und stellt nichts zur Schau. Er deformiert. Der Mythos ist weder eine Lüge noch
ein Geständnis. Er ist eine Abwandlung." Daher komme es auch, daß der My-
thos eine Aussage ist, die „viel stärker durch ihre Absichten" bestimmt sei „als
durch ihren Buchstaben". Trotzdem „ist die Absicht darin gewissermaßen
erstarrt, gereinigt, verewigt und durch den Buchstaben abwesend gemacht".63 Die
„konstitutive Doppeldeutigkeit der mythischen Aussage", so Barthes, habe
deshalb „für die Bedeutung zwei Folgen: sie zeigt sich als eine Nachricht und zu-
gleich als eine Feststellung." Dahinter stehe „der Wille, die Bedeutung" aufzula-
den, sie dem Bereich der Konvention, der immer auch der Bereich einer mehr
oder weniger dauerhaft stillgestellten Kontingenz ist, zu entziehen und „durch

61 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/Main 1964, S. 85f.


62 ebd., S. 92f.
63 ebd., S. 102, 112 bzw. 105.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 181

Abb. 7: Karstadt-Werbung in den


größeren Berliner Tageszeitungen
im Juni 1929.

in einigen Tafen

die ganze Bürgschaft der N a t u r schwerer zu machen". 64 Darin besteht für Bart-
hes denn auch das „eigentliche Prinzip des Mythos: er verwandelt Geschichte in
N a t u r " . D e r Mythos ist ein „.Natürlichmachen' des Begriffes" - und darin be-
steht seine „wesentliche Funktion": Er zielt „auf die Erweiterung eines primären
Systems" zu einer schlechterdings unbezweifelbaren „Ultra-Bedeutung" ab. 65
Vor diesem Hintergrund formuliert Barthes nun seine „semiologische Defini-
tion des Mythos in der bürgerlichen Gesellschaft", seine soziale Funktion: „der
Mythos ist eine entpolitisierte Aussage". 66 Er ist eine Aussage, deren Gegenstand,
eben das primäre semiologische System eines objektkonstituierenden Diskurses,
der Bedeutungspolitik entzogen wird, eine Aussage, die - mit Foucault gesagt -
nicht mehr Einsatz einer „Politik der Wahrheit" ist. 67 „Der Mythos", erklärt Bar-
thes, „leugnet nicht die Dinge, seine Funktion besteht im Gegenteil darin, von
ihnen zu sprechen. Er reinigt sie nur einfach, er macht sie unschuldig, er gründet
sie als N a t u r und Ewigkeit, er gibt ihnen eine Klarheit, die nicht die der Erklärung
ist, sondern die der Feststellung." Dadurch, daß „er von der Geschichte zur Natur

64 ebd.. S. 105 bzw. 108, Anm. 8.


65 ebd., S.S. 112f., 114 u. 118.
66 ebd., S. 130.
f-7 Michel Foucault: „Wahrheit und Macht", in: ders., Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 21-54,
hier S. 54.
182 MICHAEL MAKROPOULOS

übergeht, bewerkstelligt der Mythos eine Einsparung. Er schafft die Komplexität


der menschlichen Handlungen ab und leiht ihnen die Einfachheit der Essenzen,
er unterdrückt jede Dialektik, jedes Vordringen über das unmittelbar Sichtbare
hinaus, er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, eine in
Evidenz ausgebreitete Welt, er begründet eine glückliche Klarheit. Die Dinge ma-
chen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein."68 Denn der Mythos „ent-
zieht dem Objekt, von dem er spricht, jede Geschichte", jedes Gewordensein. 69
Der Mythos, der für Barthes Inbegriff der „bürgerlichen Ideologie" ist, „verwan-
delt unablässig die Produkte der Geschichte in essentielle Typen". Sein Zweck sei
es, „die Welt unbeweglich zu machen" und ihr dadurch ihre Historizität zu neh-
men.70 Mit einem Wort: Mythen sind Ontologisierungen. Und Mythisierungen
sind bedeutungspolitische Operationen, die historisch entstandene und also irre-
duzibel kontingente Wirklichkeiten ihrer Historizität und damit ihrer Kontingenz
entheben. Sie fügen objektbezogenen Diskursen eine weitere Bedeutungsschicht
hinzu, die die Objekte der Diskurse enthistorisiert, indem sie sie gleichsam natu-
ralisiert. Sie überformen historisch entstandene Bedeutungen mit transhistorischen
Ultra-Bedeutungen, die die Frage nach der Legitimität oder wenigstens der
Wünschbarkeit historischer Wirklichkeiten zwar nicht gegenstandslos machen,
aber doch stillstellen. Deshalb sind Mythen hervorragende Instrumente der Selbst-
begründung historisch-sozialer Wirklichkeiten.

VI. Aspekte der Deontologisierung massenkultureller


Urbanität
„Der wahre Anspruch der Großstadt", erklärt Koolhaas mit einigem Pathos, be-
steht darin, „eine total von Menschen erdachte Welt zu schaffen, d.h. ,im Innern'
der Phantasie leben zu wollen". 71 Der Mythos „Potsdamer Platz" ist nicht zu-
letzt im Lichte dieser emphatischen Positivierung von Urbanität die Ontologi-
sierung ihrer massenkulturellen Form. Denn der Mythos „Potsdamer Platz" ist
als Ultra-Bedeutung der Diskurse über den Potsdamer Platz eine Selbstbegrün-
dung massenkultureller Urbanität, die dieser nicht nur unbezweifelte historische
Präsenz, sondern schlechterdings unbezweifelbare transhistorische Evidenz ver-
leihen soll. Als ob sie die letztgültige Form der Moderne wäre. Das ist am Ende
allerdings auch das Problem, das sich in der Perspektive einer kritischen Analyse
von gesellschaftlichen Dispositiven stellt, zu der Foucault die Diskursanalyse er-
weitert und finalisiert hat. Und es ist ein doppeltes Problem.
Im Dispositiv massenkultureller Urbanität manifestiert sich zunächst eine im-
plizite funktionelle Besonderheit des urbanistischen und architektonischen Dis-

68 Barthes, Mythen des Alltags, S. 13lf.


69 ebd., S. 141.
70 ebd., S. 146f.
71 Koolhaas, „Manhattan - Leben und Architektur in Metropolis", S. 140.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 183

kurses der Moderne, die mit der Selbstverständlichkeit der materiellen Fundie-
rung immaterieller Wirklichkeiten korrespondiert und der räumlichen Organisa-
tion der materiellen Wirklichkeit eine besondere soziale Bedeutung verleiht. Das
wird an den Planungen der späten 20er Jahre zur Umgestaltung des Potsdamer
Platzes auf geradezu beispielhafte Weise deutlich - und es wird bei der Neube-
bauung des Areals um den Potsdamer Platz in den 90er Jahren auf souveräne
Weise ignoriert. Die Entwürfe der 20er Jahre zielten schließlich nicht nur darauf,
die Verkehrsprobleme und die unbefriedigende urbanistische Situation am Pots-
damer Platz zu lösen, sondern vor allem darauf, einen „Weltstadtplatz" zu kon-
struieren, dessen Kriterium konsumistisch verfügbare technisierte und ästhetisierte
Artifizialität als Grundstruktur einer modernistisch-metropolitanen Lebensform
war.72 Das Projekt stand damit im strategischen Horizont jener produktivistischen
Organisierung der individuellen und kollektiven Kräfte, die die funktionalistische
Architekturmoderne betrieb - auch wenn es nicht die Auflösung der tradierten
verdichteten und gemischten Stadtstruktur zum Ziel hatte, wie etwa die funktio-
nellen Stadtutopien Le Corbusiers. 73 Aber als prinzipiell dynamistische Konzep-
tion zielte es doch auf die materielle Generierung einer Optimierungsgesellschaft,
die nicht nur die forcierte Entfesselung alter und die schrankenlose Erschließung
neuer Produktivkräfte betrieb, sondern auch die nachdrückliche Realisierung der
aufklärerischen Idee individueller und kollektiver Selbstentfaltung als Verwirk-
lichung des konstruktiven Vermögens des Menschen. Indem dauerhafte Mobi-
lität und beschleunigte Zirkulation hier gleichsam räumlich institutionalisiert
werden sollten, verweist die Konzeption des „Weltstadtplatzes" damit auf die Tie-
fenstruktur einer Vergesellschaftungsform, deren schillernde Oberflächenstruk-
tur Karl-Siegbert Rehberg mit Blick auf die funktionalistischen Planungen
der späten 20er Jahre für den Potsdamer Platz als „städtebaulich und architek-
tonisch gestaltete Zirkulationssphäre" einer nachbürgerlichen, nämlich „konsu-
mistischen Massen-Bewegungsgesellschaft" beschrieben hat.74 (Abb. 7) Es ist die
Oberflächenstruktur durchgreifend ökonomisierter, vor allem aber grundlegend
technisierter und ästhetisierter und eben darin irreduzibel artifizieller Sozialver-
hältnisse, die hier im buchstäblichen Sinne materielle Form werden sollten. Und
wenn es zutrifft, daß „die Wichtigkeit der Architekturen" in der modernen Ge-
sellschaft daher kommt, „daß sie nach und nach den Platz des Königs einnehmen"
und für den Übergang von der autoritativen „Souveränitätsmacht" zu einer ano-
nymen „Disziplinarmacht" von grundlegender Bewandtnis sind, wie Francois

72 Zu den Planungen für den Potsdamer und den Leipziger Platz im Kontext der funktionalisti-
schen Architekturmoderne vgl. Dietrich Neumann: „Die ungebaute Stadt der Moderne", in:
Thorsten Scheer, Josef Paul Kleinhues, Paul Kahlfeldt (Hg.), Stadt der Architektur - Architek-
tur der Stadt. Berlin 1900-2000, Berlin 2000, S. 161-173, bes. S. 171ff., sowie Pabsch, Zweimal
Weltstadt, S. 37ff.
73 Vgl. Thilo Hilpert: Die funktionelle Stadt. Le Corbusiers Stadtvision - Bedingungen, Motive,
Hintergründe. Braunschweig 1978, bes. S. 116ff.
7
4 Karl-Siegbert Rehberg: „Der Potsdamer Platz als gesellschaftsdiagnostisches Artefakt", in:
Ästhetik und Kommunikation 116 (2002), S. 84-86, hier S. 85.
184 MICHAEL MAKROPOULOS

Ewald in einem Kommentar zu Foucaults Theorie der Disziplinargeseilschaft be-


merkt hat, dann signalisiert dies exakt das soziologische Problem, das sich mit der
Ontologisierung spezifisch massenkultureller Urbanität stellt.75 Denn massen-
kulturelle Urbanität markiert gewissermaßen das Übergangsstadium zu einer
anderen, nicht architektonisch, sondern medial generierten Vergesellschaftung.
Deren Referenz ist aber nicht so sehr die raum-zeitliche Materialität disziplinarer
Machtdispositive, sondern eher die räum- und zeitenthobene Virtualität kom-
munikativer Machtdispositive.76 Und spätestens in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts tritt mit der hegemonialen Durchsetzung der Massenkultur die tele-
technische Deterritorialisierung als Referenz artifizieller Vergesellschaftung an die
Stelle ihrer bautechnischen Territorialisierung.
Die historische Etablierung der Massenkultur setzt die Architektur damit
tendenziell von den spezifischen sozialen Funktionen frei, die sie in der Klassi-
schen Moderne beanspruchte, und die sie für die Klassische Moderne auch
hatte. Deshalb ist es auch kein Zufall, daß mit der endgültigen Etablierung der
Massenkultur in den 60er und 70er Jahren zugleich das Ende der Dominanz
des Internationalen Stils und vor allem des funktionalistischen Dogmas in der
Architektur einherging, gegen das nicht zuletzt die Neubebauung des Potsda-
mer Platzes als Wiedergewinnung der gemischten, verdichteten und komplexen
„europäischen Stadt" geplant wurde. 77 Was Heinrich Klotz als postmoderne
Re-Semantisierung der Architektursprache gegen ihre klassisch-moderne De-
Semantisierung gedeutet hat, wäre damit in einem erheblichen Maße mit ihrer
Freisetzung aus der modernistischen Verschränkung von Architektur und Ver-
gesellschaftung durch die Auflösung des Dispositivs der massenkulturellen
Urbanität erklärt. 78 Das wird angesichts der Neubebauung des Areals um
den Potsdamer und Leipziger Platz gerade in ihrer intendierten Normalität
besonders deutlich: Sie nimmt zwar den Mythos auf, zitiert ihn - wie etwa im
Nachbau des Verkehrsturms von 1924 und seiner funktionslosen Plazierung an
seinem alten Standort, der jetzt am Rande der Kreuzung liegt -, aber sie folgt
ihm nicht.79 Gewiß, der Potsdamer Platz ist wieder ein Zentrum der Massen-

75 Fran^ois Ewald: „Eine Macht ohne Draußen", in: Ewald/Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit,
S. 163-170, hier S. 166. Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Ge-
fängnisses. Frankfurt/Main 1976, bes. S. 181 ff- u. 251 ff., sowie Foucault, Sexualität und Wahr-
heit,BdA,S.mil.
76 Vgl. - wenn auch mit repressionslogischem Bias - Gilles Deleuze: „Kontrolle und Werden", in:
ders., Unterhandlungen, S. 243-253, hier S. 250f.
77 Vgl. Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 62f. Vgl. auch Andreas Muhs/Heinrich Wefing: Der Neue
Potsdamer Platz. Em Kunststück Stadt. Berlin/Brandenburg 1999, S. 122f.
78 Vgl. Heinrich Klotz: Kunst im 20.Jahrhundert. Moderne - Postmoderne - Zweite Moderne.
München 1994, S. 8ff.
79 Die „kalkulierte Gewöhnlichkeit (...) haben die Bauherren und Architekten angestrebt. Alltäg-
lichkeit und Normalität sollten Einzug halten in das neue Quartier, ununterscheidbar sollte es
werden vom Idealbild einer metropolitanen Lebendigkeit" - in der freilich vom „Durcheinan-
der (..) nichts geblieben" und „der Genius loci des neuen Potsdamer Platzes (...) der einer fun-
kelnagelneuen Tadellosigkeit" sei. So Muhs/Wefing, Der Neue Potsdamer Platz, S. 127 bzw. 124.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 185

kultur, und zumindest unterirdisch ist er wieder ein Verkehrsknotenpunkt,


wenn auch nicht von gleicher funktioneller Zentralität wie im frühen 20. Jahr-
hundert. Aber die Deterritorialisierung massenkultureller Urbanität ist hier
vollendet - und zwar gerade dadurch, daß die reale Neubebauung des Platzes
sie nicht mehr symbolisiert und auch nicht mehr symbolisieren soll, sondern
einfach integriert. In gewisser Weise hat sich die Architektur damit vom mo-
dernistischen Dispositiv und von den daraus folgenden hypertrophen An-
sprüchen der Klassischen Moderne an sie emanzipiert. Deshalb signalisiert das,
was als Mittelmäßigkeit und Normalität der Neubebauung des Platzes gedeu-
tet werden kann - und in der öffentlichen Diskussion ja auch so gedeutet wor-
den ist -, auf der anderen Seite doch auch, daß die klassisch-moderne Kopplung
von immateriellen Qualitäten an materielle Referenzen ihre realitätskonstitu-
ierende Zentralität eingebüßt hat. Insofern markiert der gebaute neue Potsda-
mer Platz vielleicht den definitiven Abschied von der klassisch-modernen
Selbstverständlichkeit einer kontrafaktischen Einheit der Wirklichkeit, die sich
in ihrem äußersten Fall eben in der Korrespondenz von realen Räumen und
imaginären Horizonten Ausdruck verleihen sollte. Und zweifellos stützt der
neue Potsdamer Platz die These, daß die nachdisziplinäre, nämlich die kom-
munikative Moderne, die „leibliche Demonstration" von Modernität nicht
braucht - und ihre materielle Referenz, nämlich die Architektur, gerade deshalb
von ihrer sozialen Funktion freisetzen kann.80
Wenn aber die Neubebauung des Potsdamer Platzes auch aus diesem Grund
nicht ein Gesamtentwurf im Sinne der Planungen der späten 20er Jahre, sondern
„angesichts der hier versammelten Bauten der internationalen Architektenelite"
eher eine „Leistungsschau der Architektur des ausgehenden 20. Jahrhunderts" ist,
wie Pabsch konzediert, dann zeigt sich darin nicht nur die Abkehr vom Gesamt-
gestaltungsanspruch.81 Es zeigt sich darin auch die Abkehr von einer Idee der Ur-
banität, die diese an die raumgestützte Entfaltung des „Möglichkeitssinns"
koppelte und damit gerade die Virtualisierungen des Realitätsverhältnisses an Ma-
terialitäten rückband. Und das führt auf das zweite Problem, das der Mythos
„Potsdamer Platz" als Ontologisierung massenkultureller Urbanität aufwirft:
Es ist das allgemeine Problem des „Möglichkeitssinns" als funktioneller Struktur
moderner Selbst- und Weltverhältnisse, die sich auf paradigmatische Weise in mas-
senkultureller Urbanität als Inbegriff von Modernität sozial realisiert und im My-
thos „Potsdamer Platz" idealtypisch manifestiert.82 Als „Quasi-Transzendentalie",
wie sich im Sinne von Foucault sagen ließe, verweist der „Möglichkeitssinn" ge-

80 Daß dies auch die Möglichkeit einschließt, sich der intendierten Normalität zu „verweigern",
beweist ausgerechnet ein kulturindustrieller Weltkonzern wie Sony. So Peter Rumpf: „Städte-
bauliche und architektonische Entwicklung von 1990 bis 2000", in: Scheer u.a. (Hg.), Stadt der
Architektur - Architektur der Stadt, S. 361-370, hier S. 367.
81 Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 122.
82 Und die - so könnte man hinzufügen - 1930 von Musil in seinem Roman ironisiert wurde, wo
er seinem „Mann ohne Eigenschaften" beinahe systemtheoretisch eine „Welt von Eigenschaf-
ten ohne Mann" entgegengestellt. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 150.
186 MICHAEL MAKROPOULOS

radezu lebensweltlich auf das moderne „Feld möglicher Erfahrung". 83 Aber der
„Möglichkeitssinn" leitet nicht nur das alltägliche Selbst- und Weltverständnis
moderner Individuen, sondern auch die grundlegende anthropologische Bestim-
mung des Menschen als Möglichkeitswesen, die als „fundamentale Disposition
des Wissens" seine epistemologische Zentralität in der Moderne begründet.84 Des-
halb ist es nicht zufällig, wenn das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen gerade
in der Klassischen Moderne anthropologisch als konstitutive Möglichkeitsoffen-
heit gefaßt und in seiner avanciertesten Bestimmung bei Helmuth Plessner aus
dessen „exzentrischer Positionalität" abgeleitet wird - so sehr Plessner auch im
Gegenzug die situative Begrenztheit der Kontingenz betont hat.85 Und eben-
sowenig zufällig hat Foucault ausgerechnet die humanwissenschaftliche Be-
stimmung des Menschen als Möglichkeitswesen historisiert und durch diese
Historisierung deontologisiert. „Eines ist auf jeden Fall gewiß", lautet die Con-
clusio seiner „Archäologie der Humanwissenschaften": „Der Mensch ist nicht
das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen
Wissen gestellt hat". Der Mensch sei vielmehr „eine Erfindung, deren junges
Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das bal-
dige Ende". 86 Und die .„Anthropologisierung"', so Foucault, sei „heutzutage die
große innere Gefahr der Wissenschaften".87 Denn sie korrespondiert in seinem
Konzept der Moderne mit einer „auf das Leben gerichteten Machttechnologie",
die dieses Leben als „Gesamtheit grundlegender Bedürfnisse, konkretes Wesen
des Menschen, Entfaltung seiner Anlagen und Fülle des Möglichen" versteht und
seine intensivierende Optimierung betreibt.88
Am Ende war es deshalb nicht nur die massenkulturelle Urbanität, die im
Mythos „Potsdamer Platz" durch Ontologisierung ihrer Historizität entrissen
und auf Dauer gestellt werden sollte, sondern durch sie hindurch auch das mo-
derne Bild des Menschen als Möglichkeitswesen. Schließlich sind „die Mythen",
wie Barthes in seiner Mythenanalyse bemerkt, „nichts anderes als das unauf-
hörliche, unermüdliche Ersuchen, die hinterlistige und unbeugsame Forderung,

83 Michel Foucault: „.Was ist Aufklärung?'. Un cours inedit", in: Magazine Litteraire 207 (1984),
S. 35-39, hier S. 39 (Übersetzung vom Vf.).
84 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 462; zur Wissensordnung der Humanwissenschaften vgl.
S.413ff.
85 Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die
phische Anthropologie. Gesammelte Schriften. Bd. IV. Frankfurt/Main 1981, bes. S. 360ff. u.
S. 421 ff., Zit. S. 401. Die situative Begrenzung der Kontingenz hebt Plessners Position in der Tat
aus den modernistischen Tendenzen der Klassischen Moderne heraus. Dazu vgl. Makropoulos,
Modernität und Kontingenz, S. 141 ff. Daß freilich gerade die optimierende Überbietbarkeit jeder
Situation Kontingenz generiert und eben nicht begrenzt, relativiert wiederum diese systemati-
sche Bedeutung der Situativität. Dazu vgl. Michael Makropoulos: „Historische Kontingenz und
soziale Optimierung", in: Rüdiger Bubner/Walter Mesch (Hg.), Die Weltgeschichte - das
gericht?, Stuttgart 2001, S. 75-89, bes. S. 84.
86 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 462.
87 ebd., S. 417.
88 Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. I, S. 172 bzw. 173.
EIN MYTHOS MASSENKULTURELLER URBANITÄT 187

die verlangt, daß alle Menschen sich in dem ewigen - und doch datierten - Bild
erkennen, das man eines Tages von ihnen gemacht hat, als ob es für alle Zeiten
sein müßte." 89 Daß dies auch für ein modalontologisches Bild des Menschen
zutrifft, ist in der Perspektive seiner Definition des Mythos implizit, weil sie
nicht nur auf ein bestimmtes Bild des Menschen gerichtet ist, sondern auf das
begründende Konzept der conditio humana überhaupt. „Der Mythos von der
conditio humana", hat Barthes anläßlich einer Photoausstellung über „die Uni-
versalität der menschlichen Gesten im alltäglichen Leben in allen Ländern der
Welt" bemerkt, „stützt sich auf eine sehr alte Mystifikation, die seit jeher darin
besteht, auf den Grund der Geschichte die Natur zu setzen." 90

89 Barthes, Mythen des Alltags, S. 147.


90 ebd., S. 17.
Potsdamer Platz
Ein chronologischer Abriß mit Bildern und Karten

Die Vorgeschichte des Potsdamer Platzes beginnt 1685. Mit dem Edikt von
Potsdam, das den hugenottischen Religionsflüchtlingen aus Frankreich Glau-
bensfreiheit und wirtschaftliche Hilfe gewährte, setzte die massenhafte Besied-
lung des Gebietes westlich der Berliner Festungsanlage ein. Unter der Herrschaft
von Friedrich I. (1657-1713) vergrößerte sich die Stadt damit vor allem durch die
Anlage der Dorotheen- und der Friedrichstadt. Sein Nachfolger Friedrich Wil-
helm I. (1713-1740) setzte die Erweiterung und insbesondere die Befestigung der
Stadt nach militärischen Gesichtspunkten fort. Berlin entwickelte sich damit
nicht nur zum administrativen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum
Preußens, sondern auch zu dessen größter Garnison.
Zwischen 1732 und 1738 wuchs die Friedrichstadt nach Süden und Westen bis
zum Gebiet um das spätere Potsdamer Tor, das damals noch ein Wiesen- und
Sumpfgelände war. Nach Maßgabe des Friedrichstadtplans von Philipp Gerlach
wurde die spätere Leipziger Straße nach Westen verlängert und mündete ent-
sprechend barocker Städtebauprinzipien an ihrem Endpunkt in einen großflächi-
gen Stadtrandplatz (Abb. 1). Dieses „Octogon", der spätere Leipziger Platz, war
einer der drei neuen inneren Torplätze, die Berlin nach Westen hin begrenzten.
Da die Plätze nicht nur als Markt-, sondern auch als Exerzierplätze genutzt wur-
den, besaß das „Octogon" ursprünglich keine gärtnerische Gestaltung. Es war
zunächst ein geometrisch angelegter Nutz- und Durchgangsraum. Zusammen
mit den anderen zwei Plätzen, dem „Quarre" (dem späteren Pariser Platz) und
dem „Rondell" (dem späteren Belle-Alliance- und dann Mehringplatz), be-
stimmte das „Octogon" auch den westlichen Verlauf der Akzisemauer, die ab
1735 gebaut wurde und neben dem Schmuggel vor allem die Desertion von Sol-
daten verhindern sollte. Auf einer Länge von 17 Kilometern besaß sie 14 Tore
(Abb. 2). Eines dieser Tore war das zunächst im barocken Stil errichtete Pots-
damer Tor am „Octogon", aus dem die Straßen nach Westen führten, die jetzt
ebenfalls neu angelegt wurden: die „Allee von Potsdam" (die spätere Potsdamer
Straße), die über die „Schafbrücke" (die spätere Potsdamer Brücke) (Abb. 3 u. 4)
führte und die beiden preußischen Residenzen Berlin und Potsdam verband,
sowie die „Potsdamer Allee" (die spätere Bellevuestraße) Richtung Charlotten-
burg. 1740 dann wurde zum ersten Mal die Ortsbezeichnung „Platz vor dem
Potsdamer Thore" offiziell verwendet. Der so bezeichnete Platz diente inzwi-
schen auch als Ausgangspunkt zu Fahrten in den Tiergarten, der ab 1742 in eine
öffentlich zugängliche Parkanlage umgewandelt worden war.
Trotzdem wurde das Gebiet vor dem Tor des Leipziger Platzes außerhalb der
Akzisemauer bis zum späten 18. Jahrhundert nur langsam, vereinzelt und ohne
weitergehende Planung bebaut. Während das als Hauptplatz des barocken En-
sembles konzipierte „Octogon" sorgfältig als Platz projektiert worden war, ent-
190 POTSDAMER PLATZ

wickelte sich das Areal außerhalb der Toranlage, abgesehen von minimalen
funktionellen Anforderungen, weitgehend ungeplant und wurde nach wie vor
hauptsächlich für den Gartenbau genutzt. Zwar entstanden einige Gastwirt-
schaften wie der „Richardsche Kaffeegarten" (der spätere „Kemper-Hof"), die
zu einem beliebten Treffpunkt des Berliner Bürgertums wurden; aber erst ab
1790 wich die gärtnerische und landwirtschaftliche Nutzung nach und nach
einer Bebauung mit Sommer- und Landhäusern. Diese Entwicklung des Areals
westlich vom Potsdamer Tor, die zwischen 1800 und 1820 ihren Höhepunkt er-
reichte, führte, neben seiner Entwicklung zum sommerlichen Ausflugs-, Erho-
lungs- und Vergnügungszentrum, auch zur Errichtung von Sommerresidenzen
mit Gärten, bei denen sich die bürgerlichen Bauherren des neu entstehenden
Tiergartenviertels an Landhäusern des Adels orientierten. Die Entwicklung des
Tiergartenviertels stagnierte in der Zeit zwischen der preußischen Niederlage
gegen Napoleon 1806 und den Befreiungskriegen 1813-1815. Zwar hatte Frie-
drich Gilly 1797 im Zuge der Planung eines Denkmals Friedrichs des Großen,
das auf dem „Octogon" im Stil der französischen Revolutionsarchitektur er-
richtet werden sollte (Abb. 5), auch das Potsdamer Tor neu entworfen und den
Platz vor dem Tor als ellipsoiden Schmuckplatz konzipiert; aber die Entwürfe
wurden nicht ausgeführt.
Die eigentliche Geschichte des Potsdamer Platzes beginnt 1814, als nach dem
Sieg über Napoleon das „Octogon" in Leipziger Platz umbenannt wurde. Karl
Friedrich Schinkel, der von Gillys Projekt beeindruckt gewesen war, entwarf
für den Leipziger Platz einen neugotischen Dom als nationales Denkmal für die
soeben siegreich beendeten Befreiungskriege. Auch dieser Entwurf, der wie
schon bei Gilly das „Octogon" in einen architektonisch gebundenen Raum
transformieren sollte, wurde nicht ausgeführt. Aber wenigstens sein Entwurf
für das Potsdamer Tor wurde teilweise realisiert. Die von ihm geplante und
1823/24 ausgeführte neue Toranlage definiert den Potsdamer Platz als runden
Vorplatz des achteckigen Leipziger Platzes und ordnet die Straßen sternförmig
neu (Abb. 6). Das alte Potsdamer Tor wurde durch zwei Torgebäude in Form
eines viersäuligen dorischen Prostylos ersetzt (Abb. 7), die mit einem Ei-
sengitter verbunden waren und eine Militärwache und ein Zollbüro enthielten.
Da der Ankauf von Grundstücken vor dem Potsdamer Tor inzwischen jedoch
zu teuer geworden wäre, konnte der Entwurf nur in seiner östlichen Hälfte ver-
wirklicht und die Idee des kreisrunden Vorplatzes nicht ausgeführt werden.
Schinkels Planung für den Leipziger Platz wurde schließlich vom König ver-
worfen und der Platz zwischen 1824 und 1828 nach Plänen von Peter Joseph
Lenne in einen Schmuckplatz umgewandelt (Abb. 8), dessen zwei Rasenflächen
sich der Geometrie des „Octogons" anpaßten und mit drei Gebüschgruppen
verziert wurden. Nachts wurde der Platz von Laternen an den acht Ecken der
Rasenfläche beleuchtet.
Der ländliche Charakter des Gebiets außerhalb des Potsdamer Tores ver-
schwand erst mit der Festsetzung des neuen Bebauungsplanes von 1828. An die
Stelle der Gärten trat eine vorstädtische Mietshausbebauung. Bis 1830 waren
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 191

die Ränder der Bellevuestraße fast vollständig bebaut, ab 1830 folgten die spä-
tere Ebert- und Lennestraße mit einer Bebauung für gehobenere Ansprüche.
Der 1826 entstandene und 1841 korrigierte Plan von J-C. Seiter (Abb. 9) zeigt
die zunehmende Randbebauung der Vorstadtstraßen und verwendet zum ersten
Mal die Bezeichnung „Potsdamer Platz". Im Zuge der Verwirklichung des Tier-
gartenplans von Lenne aus dem Jahr 1832 wurden die Potsdamer und die Bel-
levuestraße mit neuen Bäumen bepflanzt, außerdem um 1843/44 die Straßen des
„Geheimratsviertels", die Eichhorn-, Schelling-, Link- und Köthener Straße an-
gelegt. Die Kaiserin-Augusta-Straße (das spätere Reichpietschufer) entstand
etwa 1850. Entscheidend für die weitere Entwicklung des Potsdamer und des
Leipziger Platzes als Doppelplatzanlage sowie ihre spätere Wandlung zum Zen-
trum einer modernen Metropole war aber etwas anderes: 1838 war die erste
preußische Eisenbahnlinie von Berlin nach Potsdam und mit ihr der südlich
vom Potsdamer Platz gelegene Potsdamer Bahnhof eröffnet worden (Abb. 10).
1841 wurde 600 Meter weiter südlich der Anhalter Bahnhof eingerichtet, der
den Anschluß nach Sachsen und später zu den südeuropäischen Ländern bil-
dete. Der aus der Ferne kommende Strom von Reisenden wurde als erstes vom
Potsdamer Platz, vom Leipziger Platz und von der Leipziger Straße angezogen.
Damit war die Trennung zwischen Stadt und Land an dieser Stelle in kürzester
Zeit fast völlig aufgehoben, zumal die veränderte Verkehrssituation zur Folge
hatte, daß die umliegenden neuen Stadtviertel rasch und dicht bebaut wurden.
1843 erstellte Lenne einen Bebauungsplan für das Gelände vor dem Potsdamer
und Anhalter Tor (Abb. 11), der in diesem Bereich den Bebauungsplan von 1828
ersetzte. Das Gebiet der „Unteren Friedrichstadt" und des gerade entstehenden
„Geheimratsviertels" wurde eingemeindet. Der Schafgraben wurde als Umge-
hungskanal der Spree zwischen 1845 und 1850 nach Plänen Lennes zu einer
schiffbaren Wasserstraße (dem späteren Landwehrkanal) ausgebaut (Abb. 12).
1819 hatte Berlin knapp 200 000 Einwohner, 1877 aber schon über eine Mil-
lion. Um dieses Wachstum zu bewältigen, wurde bereits 1861 ein neuer Be-
bauungsplan von James Hobrecht aufgestellt, der in der verabschiedeten Form
ein Jahrhundert lang Gültigkeit haben sollte, obwohl er in einzelnen Abteilun-
gen schon bald revidiert wurde. Die Stadtfläche wurde von 3511 auf 5923 Hek-
tar erweitert, womit die städtischen Bauvorschriften, die unter anderem das
Verhältnis von Bauhöhe und Straßenbreite regelten, auch auf die Vororte über-
tragen wurden. Von 1863 an gab es wegen des wachsenden Verkehrsaufkom-
mens erste Bemühungen, den Potsdamer Platz großräumiger zu gestalten. Dazu
trug 1867 auch der Abbruch der Akzisemauer bei. Die zu beiden Seiten der
Mauer verlaufenden Straßen wurden zur „Königgrätzer Straße" (der heutigen
Stresemannstraße) vereint; der einstmals innere Stadtplatz des Leipziger Plat-
zes und der äußere Vorplatz des Potsdamer Platzes wuchsen zu einer Doppel-
platzanlage mit dichter Randbebauung zusammen. Damit verloren die untere
Friedrichvorstadt und das Geheimratsviertel ihren Status als Vororte; der nun-
mehr an das „Millionärsviertel" angrenzende Tiergarten lag bis 1881 aber wei-
ter außerhalb der Stadtgrenze (Abb. 13).
192 POTSDAMER PLATZ

Nach der Reichsgründung 1871 wurde Berlin neben preußischer Hauptstadt,


die es blieb, Hauptstadt und Verwaltungszentrum des Deutschen Reiches. Die
Nähe zum Regierungsviertel in der Wilhelmstraße und die Unterbringung von
Ministerien und Parlamenten an der Leipziger Straße und am Leipziger Platz
führten zur weiteren Aufwertung und Verdichtung der Gegend um den Pots-
damer Platz, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft 1872 auch der neue Pots-
damer Bahnhof eröffnet wurde. Die Anbindung an den Reiseverkehr förderte
die Ansiedlung von Luxushotels wie des „Grand-Hotel Bellevue" oder des „Pa-
last-Hotels", später dann 1907/08 auch des „Hotel Esplanade" und luxuriöser
Restaurants, so daß sich das Viertel von dem ursprünglichen Wohngebiet zu
einem Mischgebiet mit einer Nutzung durch Verwaltung, Handel und Gastro-
nomie entwickelte. Zwischen den beiden Bahnhöfen einerseits und der
innerstädtischen Leipziger sowie der Friedrichstraße andererseits, bildete sich
ein dominantes Stadtzentrum und vor allem das Zentrum eines metropolitanen
Amüsierbetriebs. Hier befand sich das bekannte „Cafe Josty" und das „Wein-
haus Huth", und neben dem Potsdamer Bahnhof lag das „Haus Potsdam" (seit
1914 „Haus Vaterland") mit dem gigantischen „Cafe Piccadilly", den „Kam-
merlichtspielen am Potsdamer Platz" (Abb. 14 u. 15) und einer Art Vergnü-
gungspark mit Variete und 8 Etablissements in 12 Sälen mit Themen aus aller
Welt und spektakulären Inszenierungen wie den Rheinterrassen mit Loreleyp-
anorama, künstlichem Sonnenschein, stündlichem Gewitter und anschließen-
dem Regenbogen. Im Bürotrakt des „Haus Vaterland" hatte die Universal-Film
AG (UfA) ihren Sitz, und vom Vox-Haus in der Potsdamer Straße 10 wurde am
29. Oktober 1923 das erste Radio-Unterhaltungskonzert gesendet. In der Leip-
ziger befand sich außerdem auch eines der berühmtesten Warenhäuser dieser
Zeit, das 1896 von Alfred Messel erbaute Warenhaus „Wertheim", das sich
1904-1906 mit zwei weiteren Bauabschnitten bis auf den Leipziger Platz aus-
dehnte und damit dieses Areal - im Vorfeld der Friedrichstraße - zu einer Kon-
sumsphäre von zentraler Bedeutung verwandelte (Abb. 16). Der umfassende
Strukturwandel bewirkte eine Abnahme der Wohnbevölkerung in diesem Ge-
biet, während der Potsdamer Platz selbst, wie auf Marauns Verkehrsplan von
Berlin aus dem Jahr 1894 (Abb. 17) zu sehen ist, zu einem Verkehrsplatz von
zentraler Bedeutung für die Stadt wurde. Um die Jahrhundertwende verfügte
das Areal des Potsdamer und Leipziger Platzes über die urbane Struktur, die es
im Prinzip bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges behalten sollte, und das nicht
zuletzt deshalb, weil sich das Gebiet um den Platz im Verlauf des späten 19.
Jahrhunderts auch zu einem führenden Dienstleistungs- und Vergnügungs-
standort entwickelt hatte. 1908 wurde die U-Bahn eröffnet, die den Potsdamer
und den Leipziger Platz unterfuhr und Zugänge zum unterirdischen Bahnhof
sowohl am Potsdamer wie am Leipziger Platz und da direkt gegenüber dem
Warenhaus Wertheim hatte. Dennoch verschob sich das Gewicht innerhalb des
Doppelplatzes Potsdamer und Leipziger Platz zunehmend zum einst unbedeu-
tenderen Potsdamer Platz, der zu einer Drehscheibe des städtischen Lebens
wurde, während der Leipziger Platz als traditioneller Schmuckplatz die Funk-
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 193

tion einer Übergangszone zwischen dem Potsdamer Platz und dem innersten
Zentrum Berlins bekam.
Als verkehrsreichster Platz Europas avancierte der Potsdamer Platz in
den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts endgültig zum Symbol der Weltstadt
(Abb. 18). Der Platz war Knotenpunkt der verschiedenen Verkehrsmittel. Fern-
bahn, S-Bahn, U-Bahn sowie 26 Straßenbahn- und Omnibuslinien brachten
täglich Zehntausende zu diesem Zentrum der Berliner Innenstadt, das abends
von den Lichtreklamen in einen deutschen Piccadilly Circus verwandelt wurde
(vgl. Abb. 19). Gleichzeitig fungierte der Leipziger Platz mit seinen Grünanla-
gen und Blumenständen als eine städtische Oase, die mit ihrem Warenhaus, das
wegen seiner offenen Auslagen das modernste von Berlin war, und ihren reprä-
sentativen Gebäuden wie dem Mosse-Palais und dem preußischen Landwirt-
schaftsministerium den Übergang zur Friedrichstraße und in das alte Zentrum
Berlins bildete (Abb. 20). Man bemühte sich immer wieder, die starke Verdich-
tung und die zunehmenden Verkehrsprobleme des Potsdamer Platzes, der
schon vor der Jahrhundertwende von mehr als 20 000 Wagen täglich befahren
wurde, zu bewältigen und das Wachstum des Viertels wie der ganzen Stadt
durch eine urbane Planung zu strukturieren. Das konzentrisch aufgebaute Ber-
lin des 19. Jahrhunderts sollte durch eine radial gegliederte und dezentralisierte
Stadt abgelöst werden. In diesem Sinne initiierte der Architekten- und Ingeni-
eurverein den städtebaulichen Wettbewerb „Groß-Berlin", dessen Ergebnisse
1910 in der „Allgemeinen Städtebau-Ausstellung Berlin" gezeigt wurden. Ob-
wohl aus politischen und wirtschaftlichen Gründen keiner der vier prämierten
Entwürfe realisiert wurde, war dieser Wettbewerb doch ein wichtiges Stück
Planung für die zukünftige Entwicklung der Großstadt. Ein Teil der Preisträ-
ger empfahl eine Aufhebung des Potsdamer und Anhalter Bahnhofes zugun-
sten einer unterirdischen Verkehrsführung und eine Monumentalisierung der
Innenstadt als Kontrast zu den immer mehr ausufernden Randbezirken.
Beispielhaft dafür ist der mit einem 4. Preis ausgezeichnete Entwurf von Have-
stadt & Contag, Bruno Schmitz und Otto Blum, der eine repräsentative
Nord-Süd-Achse vorsah (Abb. 21) und den Leipziger und Potsdamer Platz zu
einer großflächigen Platzanlage vereinigte, die zum ersten Mal im Entwurf eines
turmartigen Hochhauses gipfelte. Diese erste Nord-Süd-Achsenplanung bildete
den Vorläufer für die städtebaulichen Visionen von Mächler und Speer. Der Be-
bauungsplan Martin Mächlers aus den Jahren 1917-1920 verfolgte die Idee einer
von der Spree bis südlich des Landwehrkanals reichenden, die alte Ost-West-
Achse durchkreuzenden Nord-Süd-Achse, an der alle Gebäude konzentriert
werden sollten, die für Berlin als Haupt- und Weltstadt eine repräsentative Be-
deutung hatten. Der Potsdamer Platz spielte in dieser Planung nur noch eine
Nebenrolle; der Potsdamer Bahnhof wäre zugunsten einer unterirdischen
Nord-Süd-Bahn aufgegeben worden.
Mächlers Entwurf übte großen Einfluß auf die Planungen anderer Architek-
ten aus, aber wie meist blieben die Ideen auf dem Papier. 1925 bekam Berlin eine
neue, vereinheitlichte Bauklassenbestimmung, die die alte Streifenbauordnung
194 POTSDAMER PLATZ

ersetzte. Es wurden fünf neue Hauptbauklassen mit einer Ausnutzung von ein
bis fünf Zehnteln der Baufläche eingerichtet, wobei die Bauklasse auch die
Bauhöhe und die Anzahl der Geschosse regelte; in besonderen Fällen wurde
auch eine Bebauung von sechs oder sieben Zehnteln zugelassen. Den verschie-
denen Stadtvierteln wurde der traditionell ringförmigen Einteilung ent-
sprechend jeweils eine Bauklasse zugeordnet. So wurde in der Stadtmitte am
dichtesten und höchsten gebaut, während die Ausnutzung der Fläche und die
damit verbundene Bauhöhe nach außen hin abnahmen. Diese Einteilung, die
der alten Stadtstruktur angepaßt war, hatte zur Folge, daß der sich ständig ver-
dichtende Stadtkern sich nicht - etwa im Sinne der schon 1910 vorgeschlagenen
radialen Erweiterungsmodelle - weiter ausbreiten konnte, und so entstanden,
mit Blick auf die amerikanische Großstadtarchitektur, die ersten Vorschläge für
Hochhäuser.
Das anhaltende Verkehrschaos auf dem Potsdamer Platz führte 1925 zur
Aufstellung des ersten Verkehrsturms in Europa (Abb. 18), dem Vorläufer der
heutigen Verkehrsampel. Architekten und Stadtplaner versuchten, diesem Ver-
kehrknotenpunkt eine neue Form zu geben, wobei die Organisation seiner
Funktionen und Wegführungen im Vordergrund stand. Werner Hegemann und
Oskar Lange veröffentlichten 1925 den Vorschlag einer Anhebung des Fußgän-
gerverkehrs auf ein zweites Geschoß, das von einer einheitlichen Bebauung um-
geben wurde, die die traditionellen Formen des Leipziger und Potsdamer
Platzes berücksichtigte (Abb. 22). Der Stadtbaurat Martin Wagner verfolgte in
seinem Entwurf von 1929 (Abb. 23) die Vision eines organisch gestalteten
Weltstadtplatzes: Im Mittelpunkt des zusammengefaßten Potsdamer und Leip-
ziger Platzes befindet sich ein mehrstöckiges Verkehrskarussell - mit einem Cafe
in der obersten Etage -, in dem die verschiedenen Formen des Verkehrs auf der
Schiene, mit dem Auto, als Fußgänger ohne Kreuzung und Niveauschneidung
über den Platz geführt werden sollen. Die Randbebauung des Leipziger Platzes
zitiert das „Octogon"; der Scheitelpunkt des Potsdamer Platzes wird durch
einen gestaffelten Hochhausbau markiert. Marcel Breuer legte im gleichen Jahr
einen Alternativvorschlag zur Verkehrsführung über mehrere Ebenen und ein
Rampensystem vor, bei dem die Fußgängerwege in den Untergrund verlegt wur-
den. Breuers Entwurf war in vieler Hinsicht eine Antwort auf die gleichzeitigen
Diskussionen zur Umgestaltung des Alexanderplatzes (Abb. 24). Er erhob den
Verkehr zum dominanten Gliederungsprinzip und verwarf gleichzeitig den von
Wagner angeregten Kreisverkehr, der bei steigendem Verkehrsaufkommen
weder Flexibilität noch Rückstaumöglichkeiten bot. Breuer entwickelte das aus
den USA bekannte Kleeblattschema der kreuzungsfreien Begegnung zweier
vierspuriger Straßen entsprechend den Gegebenheiten des Potsdamer Platzes
weiter, indem er die Straßenbahnführung, die Zugänge zur U-Bahn und eine un-
terschiedliche Verkehrsdichte berücksichtigte. Den entstehenden, langgestreck-
ten Platzraum faßte er dann architektonisch mit zurückhaltend modernistischen
Fassadenwänden und Straßenüberbauungen ein. Auch er behandelte den Platz
so, als sei er frei von existierender Architektur, die neue Form hatte mit der alten
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 195

Raumfolge nichts gemein. Breuers Fassadengestaltung übernahm allerdings


Wagners Vorstellungen einer glatten, abstrakten und völlig flexiblen Groß-
stadtarchitektur, die zugleich Oberfläche der vielfältigen Farben und Lichtfor-
men der City bildet. Hier wurde die für andere Bauten aus der Not entwickelte
Idee der vorgeblendeten, zeitgenössischen Fassade zum städtebaulichen Prin-
zip erhoben.
Eine andere Variante städtebaulicher Modernität enthielt der Entwurf der
Brüder Luckhardt und Alfons Ankers [wie viele andere städtebaulich geradezu
konventionell]. Für den in der Blickachse der Leipziger Straße liegenden, städ-
tebaulich zentralen Scheitelpunkt des Potsdamer Platzes, sah er ein turmähnli-
ches, „gläsernes" Geschäftshaus, das „Haus Berlin" vor (Abb. 25 u. 26). Manche
zeitgenössischen Kommentare erkannten hier eine Vermittlung zwischen radi-
kal modernen und konservativen Ideen städtischer Architektur. Das „Haus Ber-
lin" wurde von den Behörden 1931 zwar genehmigt, aber es wurde im Gegensatz
zu ihrem „Telschow-Haus" von 1929 (Abb. 27) und dem 1929-1931 nach Plä-
nen von Erich Mendelsohn erbauten „Columbushaus" (Abb. 28) nicht realisiert.
Auch Mendelsohn hatte 1928/30 eine Studie zum Potsdamer und Leipziger Platz
(Abb. 29) angefertigt, in der die beiden Plätze auf ihrem historischen Grundriß
mit einer die Blockränder klar definierenden, jeweils auch in der Höhe verein-
heitlichten Bebauung neu formuliert wurden. Aber sein streng horizontal ge-
gliedertes und sanft gekurvtes „Columbushaus", das die Vorgaben von Verkehrs-
und Reklameerfordernissen für die neue Architektur zu erfüllen schien, war ein
Solitär. Seit Schinkel einen Turmbau als Nationaldenkmal für diese Stelle vorge-
schlagen hatte, waren damit immer wieder städtebauliche Dominanten ins Ge-
spräch gebracht worden. Bruno Schmitz hatte bei seinem Beitrag zum
Groß-Berlin Wettbewerb hier einen hohen Rundbau vorgesehen, Martin Wag-
ner selbst regte hier 1928/29 einen senkrecht aufstrebenden Bau an, und Erwin
Gutkind antwortete darauf mit einem sensationellen 14-gcschossigcn Hochbau,
der als monumentaler Reklameträger streng horizontal gegliedert war (Abb. 30).
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 sollte sich am
Potsdamer Platz zunächst wenig ändern. Abgesehen von der Umbenennung
von Straßen wie der Friedrich-Ebert-Straße in „Hermann-Göring-Straße",
wurde bis 1939 nur eine unterirdische Nord-Süd-Schnellbahn mit einem neuen
S-Bahnhof Potsdamer Platz gebaut. Alle oberirdischen Projekte wurden mit
Blick auf die monumentale Umgestaltung Berlins zur Reichshauptstadt „Ger-
mania" storniert und jede Bautätigkeit unterbunden. 1937 verkündete Adolf
Hitler „seinen unabänderlichen Willen und Entschluß, Berlin nunmehr mit
jenen Straßen, Bauten und öffentlichen Plätzen zu versehen, die es für alle
Zeiten als geeignet und würdig erscheinen lassen werden, Hauptstadt des Deut-
schen Reiches zu sein". Im gleichen Jahr wurde Albert Speer zum „General-
bauinspektor für die Neugestaltung der Reichshauptstadt" ernannt und entwarf
in enger Zusammenarbeit mit Hitler eine gigantische Nord-Süd-Achse
(Abb. 31). Als Wiederaufnahme des Mächler-Plans (ohne dessen funktionelle
Ideen der Verkehrsführung) wurde diese Achse, die vom Humboldthafen bis
196 POTSDAMER PLATZ

zum nördlichen Tempelhof reichen sollte, als von nationalsozialistischen Mo-


numentalgebäuden flankierte, in sich abgeschlossene Aufmarschfläche von 7 Ki-
lometern Länge und 156 Metern Breite geplant. Die monumentale Achse wäre
nur von wenigen Straßen wie der Potsdamer, der Margarethen- und der Eich-
hornstraße gekreuzt worden, die über einen „Runden Platz" mit 210 Metern
Durchmesser geführt worden wären (Abb. 32). Aber auch ohne daß diese Pla-
nungen, die 1942 weitgehend abgeschlossen waren, wegen des schon weit fort-
geschrittenen Zweiten Weltkrieges Realität wurden, war die weitere Umgebung
des Potsdamer Platzes von einer Topographie der nationalsozialistischen Herr-
schaft wie der Neuen Reichskanzlei, dem Reichsluftfahrtministerium, dem
Reichspropagandaministerium und einer Topographie des Terrors wie dem
Volksgerichtshof und den Hauptquartieren von Gestapo, SA und SS umgeben.
Das Gebiet um den Potsdamer Platz wurde Anfang der 40er Jahre durch die
Speerschen Umgestaltungspläne bereits in seinem Bestand betroffen, dann aber
vor allem durch die alliierten Bomben und die Kampfhandlungen der letzten
Kriegstage um die nahegelegene Reichskanzlei stark in Mitleidenschaft gezogen.
Die meisten Gebäude waren zerstört oder durch Brandbomben ausgeglüht
(Abb. 33-35). Am 2. Mai 1945 begannen an der Potsdamer Brücke die Ver-
handlungen zur endgültigen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945. Bei der
Aufteilung der eroberten Hauptstadt in Sektoren griffen die Siegermächte auf
die alte Stadtgrenze zurück, so daß zwischen dem Potsdamer und dem Leipzi-
ger Platz der sowjetische vom britischen und vom amerikanischen Sektor ab-
gegrenzt wurde. Angesichts der Zerstörungen des Areals dauerten hier allein
die Auf räumungsarbeiten bis zum Ende der vierziger Jahre. Trotzdem erwachte
bald wieder neues Leben, vor allem weil die Sektoren der Stadt hier am Pots-
damer Platz ein Dreiländereck (Abb. 36) bildeten, das zu einem florierenden
Schwarzmarkt (Abb. 37) wurde. Mit Beginn des „Kalten Krieges" wurde der
Potsdamer Platz aber nicht nur zu einer Stelle der Verbindung, sondern auch
der Konfrontation zwischen Ost und West. 1953 war er zusammen mit der
Leipziger Straße einer der Schauplätze des Aufstandes vom 16. und 17. Juni
(Abb. 38), der von der SED-Regierung mit Hilfe sowjetischer Panzer nieder-
geschlagen wurde. Das während der Auseinandersetzungen angezündete „Co-
lumbushaus" brannte nun völlig aus und wurde 1956 abgerissen.
Unmittelbar nach Kriegsende wurde mit dem Wiederaufbau Berlins begon-
nen. Im Sommer 1946 fand die Ausstellung „Berlin plant" statt. Ein Pla-
nungskollektiv unter der Leitung von Hans Scharoun, dem damaligen Leiter der
Abteilung für Bau- und Wohnungswesen beim Magistrat von Groß-Berlin, sah
in den Zerstörungen des Bombenkriegs die historische Chance für die endgül-
tige Abwendung von der Stadt des 19. Jahrhunderts und initiierte den „Kollek-
tivplan" als Konzeption einer „Stadtlandschaft", die in vier Funktionsbändern-
Cityband, Kulturband, Wohnband, Arbeitsband - den topographischen Gege-
benheiten des Urstromtales der Spree folgen und gleichzeitig den Leitgedanken
der strikten Funktionstrennung, der 1934 in der „Charta von Athen" formuliert
worden war, durch ein Konzept gleichwertiger Stadtteile realisieren sollte, die
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 197

durch ein regelmäßiges Netz von Verkehrswegen miteinander verknüpft wur-


den. Im Gegensatz zu dieser Stadtutopie, die die zwar unter Trümmern lie-
gende, aber vorhandene Infrastruktur ausklammerte, stand der wenige Wochen
zuvor vorgestellte „Zehlendorfer Plan" von Willi Görgen und Walter Moest,
der sich vor allem auf eine Verbesserung der vorhandenen Stadtstruktur durch
eine neue Verkehrsplanung konzentrierte. Die starren Achsen des Speer-Planes
sollten durchbrochen und der Verkehr auf geschwungenen Linien entlang
großzügiger Grünanlagen verlaufen; weiträumige, mit den radialen Ausfall-
straßen gekoppelte Verkehrsringe sollten das Zentrum entlasten. Eine der
Hauptstraßen wäre dabei über den Potsdamer Platz verlaufen, die zentrale
Ost-West-Verbindung zwischen der Friedrichstadt und Charlottenburg sollte
mit einem Durchbruch der Leipziger Straße und der Zimmerstraße zum Kur-
fürstendamm geschaffen werden. Und Max Taut wollte in seinem Entwurf von
1946 die Metropole als Landschaftsstadt mit Einfamilienhäusern wieder auf-
bauen. Von 1947 an wurde dann die umfassende Enttrümmerung des Stadtge-
biets vorangetrieben und der Wiederaufbau forciert. Karl Bonatz, der 1947
Nachfolger von Scharoun geworden war, entwickelte in Zusammenarbeit mit
Walter Moest den „Neuen Plan von Berlin", der eine begrenzte Umstrukturie-
rung der nur teilweise zerstörten Stadt vorsah. Das Verkehrskonzept basierte
auf einer Mischung von Radial- und Ringstraßen, Potsdamer und Leipziger
Platz sollten in das geplante Straßensystem eingebunden werden. Auf der Basis
dieser Verkehrsplanung entwarf Richard Ermisch im selben Jahr eine „Wie-
deraufbauplanung Innenstadt Berlin", die die historischen Plätze auf ihrem be-
stehenden Grundriß durch moderne Architektur neu gestaltete. Leipziger und
Potsdamer Platz wurden dabei zu einer monumentalen, wie auch schon in
älteren Entwürfen auf ein Hochhaus ausgerichteten Platzabfolge zusammen-
gefaßt und gleichzeitig ausgedehnt. Der „Groß-Berlin Kompositionsplan Zen-
trum mit Hauptstraßennetz" aus dem Jahr 1953 schließlich zeigt ein noch
vereinigtes Berlin in seinen historischen Strukturen unter Berücksichtigung der
„Traditionsinseln" und „städtebaulichen Dominanten" (Abb. 39). Er spielte
keine Rolle mehr, da sich in der Westberliner Wirklichkeit der Bereich um den
Kurfürstendamm seit Beginn der fünfziger Jahre zum neuen Stadtzentrum ent-
wickelt hatte, wodurch die stark zerstörte Friedrichstadt ihre frühere zentrale
Bedeutung verlor. In Ostberlin verschob sich dem entsprechend das Zentrum
in Richtung Alexanderplatz. In Rücksicht auf die angestrebte Wiedervereini-
gung der Stadt und die Rückverlagerung des Zentrums in die alte Mitte Berlins
wurde deshalb von westlicher Seite keine eigenständige Planung für die südli-
che Friedrichstadt initiiert.
Der Wiedervereinigungsgedanke spielte auch im internationalen städtebau-
lichen Wettbewerb „Hauptstadt Berlin", den der Bundesminister für Woh-
nungsbau und der Senat von Westberlin 1957 ausschrieben, eine zentrale Rolle.
Trotz der politischen Gegensätze zwischen Ost und West wurde der Bereich
der historischen Innenstadt zur Planungsgrundlage für das neue Zentrum in der
Mitte Berlins als einer zukünftigen Haupt- und Weltstadt. Das 1956 geplante
198 POTSDAMER PLATZ

und 1957 im Flächennutzungsplan festgelegte Tangentenviereck von Stadtau-


tobahnen umrahmte im wesentlichen das Planungsgebiet, Fixpunkte bildeten
die bedeutenden historischen Gebäude der Innenstadt und die Friedrichstraße
sowie Unter den Linden als zu erhaltende Achsen. Mit dem 1. Preis des Wett-
bewerbs wurde 1958 der Entwurf von Friedrich Spengelin, Fritz Eggeling und
Gerd Pempelfort ausgezeichnet. Der Plan griff zwar historische Baustrukturen
auf, aber diese Strukturen wurden im Bereich des Potsdamer Platzes völlig auf-
gelöst. Die „offene, durchgrünte Stadtlandschaft" mit ihrer Konzentration von
Funktionsbereichen in Gebäudekomplexen oder Hochhäusern bestimmte auch
die Entwürfe der anderen Preisträger, etwa den von Hans Scharoun, der einen
2. Preis zugesprochen bekam. Er löste den historischen Stadtgrundriß größ-
tenteils zugunsten eines übergeordneten Grünbereichs auf, der die Geometrie
des Leipziger Platzes zwar übernimmt, aber in einen neuen städtebaulichen
Kontext überträgt und die Verkehrsbereiche für Fußgänger und Autofahrer
trennt.
Als Reaktion auf den Westberliner Hauptstadtwettbewerb, der das östliche
Stadtgebiet mit einbezogen hatte, obwohl sich die Wege der beiden deutschen
Staaten 1948/49 getrennt hatten, schrieben die Regierung der DDR und der Ma-
gistrat von Groß-Berlin einen „Ideenwettbewerb zur sozialistischen Umge-
staltung des Zentrums der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen
Republik, Berlin" aus. Die Planungen beschränkten sich auf das eigene Gebiet
und die Ergebnisse des Wettbewerbs wurden zur Grundlage für die weitere
Entwicklung des östlichen Stadtzentrums. Angesichts einer Ende der 50er Jahre
steigenden Migration von Ostberlin wie aus der gesamten DDR nach Westber-
lin und von hier in die Westzonen befestigte die SED-Führung unter Deckung
der sowjetischen Besatzungsmacht die Sektorengrenze am 13. August 1961 mit
einer Mauer, wodurch dann die Teilung Berlins besiegelt wurde. Die Doppel-
platzanlagc Potsdamer und Leipziger Platz, nunmehr durch eine Mauer ge-
trennt, wurde gleichzeitig zum Symbol und zur Schnittfläche der geteilten Stadt
(Abb. 40-42). Auf der Westberliner Seite wurden systematisch Gebäude abge-
rissen, zumal ein vorläufiger Bebauungsplan von 1960 ohnehin nur den Erhalt
des ehemaligen Hotels Esplanade vorgesehen hatte. Nach dem Mauerbau wur-
den dann auch der unter dem Potsdamer Platz gelegene U- und S-Bahnhof ge-
schlossen und die durch den Tiergarten führende „Entlastungsstraße" gebaut.
Das Gebiet wurde auf östlicher Seite der Mauer zum erheblichen Teil gestaffelte
Grenzanlage, auf westlicher Seite der Mauer Brachfläche (Abb. 43-45).
Die erste große bauliche Intervention im Gebiet um den Potsdamer Platz war
die Errichtung des Kulturforums. Die Planung begann mit der neuen Philhar-
monie von Hans Scharoun, die eigentlich beim ehemaligen Hotel Esplanade in
direkter Beziehung zum Leipziger Platz errichtet werden sollte. Allerdings
wurde der Standort für ein sich entwickelndes Kulturforum wegen der geplan-
ten Westtangente - einer Stadtautobahn im Bereich des Potsdamer Platzes - als
zu beengt betrachtet, so daß der nicht weit entfernte Matthäikirchplatz zum
neuen Zentrum der Planung wurde. Daneben wurde ein Gebiet für künftige di-
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 199

plomatische Vertretungen ausgewiesen und im Gedanken an eine zukünftige


Hauptstadt auch ein Regierungsviertel. Nach dem Bau der Philharmonie zwi-
schen 1960 und 1963 folgte die Neue Nationalgalerie von Ludwig Mies van der
Rohe zwischen 1965 und 1968. Der nächste Schritt war dann die Errichtung der
Staatsbibliothek von Hans Scharoun zwischen 1967 und 1978, für deren Stan-
dort der historische Verlauf der Potsdamer Straße ab 1966 verändert wurde. Mit
dem Bau der neuen Potsdamer Brücke und der Verlegung der Potsdamer Straße
wurde Platz für ihre Realisierung geschaffen, wobei die abweisende Rückwand
der Staatsbibliothek mit den Magazinen nach Osten orientiert wurde und die
den Benutzern vorbehaltenen Räume gegen den zu erwartenden Verkehrslärm
der Westtangente abschirmen sollte.
Auch in der Stadtbaupolitik der 70er Jahre blieb der Bereich des Potsdamer
Platzes brachliegendes Abstandsgebiet zwischen Ost und West. 1972 erwarb
der Senat von Westberlin das Gelände des Potsdamer Personenbahnhofs
von der DDR. 1973 wurden die noch vorhandenen Ruinen auf dem Gebiet
zwischen Köthener und Linkstraße abgerissen, darunter auch das „Haus
Vaterland". Im selben Jahr wurde der „Städtebauliche Ideenwettbewerb Land-
wehrkanal-Tiergartenviertel" ausgeschrieben, für dessen städtebauliche Ent-
würfe kein 1. Preis vergeben wurde. Die ersten vier Preisträger wurden zu einer
Planungsgruppe zusammengeschlossen, die mit Vertretern der Senatsbauver-
waltung eine neue übergreifende städtebauliche Lösung und Bebauungsstruk-
tur erarbeiten sollte. Das Gebiet um den Potsdamer Platz blieb dabei weiterhin
ausgespart, da das Preisgericht 1973 empfohlen hatte, diesen Bereich für spätere
Entwicklungen offenzuhalten und gleichzeitig Zwischennutzungen zu konzi-
pieren. Die Ergebnisse des Wettbewerbs und der Planungsgruppe blieben al-
lerdings ohne direkte städtebauliche Konsequenzen. Von 1977 an wurde dann
vom Senat die „Internationale Bauausstellung Berlin" (IBA) geplant, in deren
Vorbereitungsphase 1979 der Begriff vom „Zentralen Bereich" geprägt wurde
- ein Gebiet, das vom Zentrum Westberlins bis zum östlichen Kreuzberg reichte
und schließlich auch zum Planungsgebiet der IBA wurde. Diese neuen Planun-
gen bedeuteten einen Umbruch im städtebaulichen Selbstverständnis der Stadt,
denn das Tiergartenviertel und die südliche Friedrichstadt, die noch im Flächen-
nutzungsplan von 1965 einer hauptstädtischen Zentrumsfunktion zugeordnet
waren, sollten nun zu Mischgebieten am Rand Westberlins ausgebaut werden.
Der Potsdamer Platz und das Gelände des ehemaligen Potsdamer Bahnhofs
wurden allerdings auch hier weiterhin ausgespart. Seit Beginn der 80er Jahre
setzte auf Westberliner Seite allerdings eine systematische dokumentarische
Spurensuche nach der Geschichte dieses Areals ein. Leon Krier legte 1980 für
das Gebiet Kulturforum und Potsdamer Platz eine Planung vor, in der
das Kulturforum gleichsam als Pendant zur Museumsinsel Ost eine Insel in
einer Parklandschaft würde, die durch die Erweiterung des Tiergartens ge-
schaffen werden sollte. Die geplante Nord-Süd-Straßenverbindung legte er zu-
gunsten eines breiten Grünstreifens hinter Philharmonie und Staatsbibliothek
dicht an die Mauer. Zur gleichen Zeit wandten sich Bürgerinitiativen entschie-
200 POTSDAMER PLATZ

den gegen die umstrittene Planung der Westtangente, die mittlerweile auch von
den Planern der zwischen 1979 und 1987 stattfindenden IBA in Frage gestellt
wurde. Der Planungsdirektor für die Neubaugebiete der IBA, Josef Paul Klein-
hues, schlug 1980 statt der Stadtautobahn einen städtischen Nord-Süd-Boule-
vard vor, der das Gebiet des Kulturforums als verkehrsberuhigten Raum mit
einer dichten Wohnbebauung verbindet, wobei der städtebauliche Zusammen-
hang mit Potsdamer und Leipziger Platz berücksichtigt und das Gebiet mit dem
Tiergartenviertel und der südlichen Friedrichstadt verflochten werden sollte.
Nachdem die Kontroversen um den weiteren Ausbau des Stadtautobahnnet-
zes im Frühjahr 1981 zum Wahlkampfthema wurden, hob die damalige Berliner
Regierung die Planung und den Bau der Westtangente auf. Im ersten Rahmen-
plan der IBA-Neubaugebiete wurde für den Bereich des Potsdamer Platzes eine
geschlossene Wohnbebauung vorgesehen, und zwar zwischen Kulturforum,
Potsdamer Platz und Landwehrkanal. Daraufhin wurde vom Senator für Stadt-
entwicklung und Umweltschutz nach einem Gutachterverfahren zu den IBA-
Neubaugebieten und zum Planungsverfahren im „Zentralen Bereich" ein
Rahmenkonzept für die IBA-Neubaugebiete erstellt, das den Bereich zwischen
Kulturforum und südlicher Friedrichstadt weiterhin als grün gestaltete „offene
Mitte" frei hielt. Damit stand der IBA dieses Gebiet für ihre weitere Planung
nicht mehr zur Verfügung. Der „Städtebauliche Rahmenplan der IBA-Neubau-
gebiete Südliche Friedrichstadt und Südlicher Tiergarten im Kontext" von Josef
Paul Kleinhues aus dem Jahr 1984 stellt damit eine Zusammenfassung der Pla-
nungen aus den Vorjahren und eine Art städtebaulichen Idealplan und Diskus-
sionsbeitrag über die Dauer der Internationalen Bauausstellung hinaus dar.
Zur Belebung des Kulturforums wurde 1983 ein „Internationales Gutachten
Kulturforum" ausgeschrieben. Der Wettbewerb zielte darauf, den veränderten
stadträumlichen Vorstellungen und Gedanken zur Nutzung in diesem Bereich
auch im Zusammenhang mit den neuen Planungen zum Nord-Süd-Verkehr Ge-
stalt zu geben. Hans Hollein legte 1984 einen Plan für das zentrale Gebiet des
Kulturforums rund um den Matthäikirchplatz vor, der die sehr unterschiedli-
chen Solitare der Neuen Nationalgalerie und der Philharmonie mit Hilfe von
Terrassen und Freitreppen verband und so eine städtebaulich definierte und
beruhigte Zone schuf. Provisorisch wurde über dem Gebiet zwischen Gleis-
dreieck und Kemperplatz im technischen Versuchsbetrieb eine Magnet-
schwebebahn errichtet (1991 wieder abgerissen). Im Ostteil der Stadt verlagerte
sich ähnlich wie in Westberlin der Wohnungsbau auch wieder in die ehemalige
Innenstadt, und 1988 begann die DDR im Umfeld von Potsdamer und Leipzi-
ger Platz in unmittelbarer Mauernähe mit der Errichtung des Wohngebietes
an der Otto-Grotewohl-Straße (jetzt wieder Wilhelmstraße). Der Senat
von Westberlin beschloß im Oktober 1989, daß eine Grüntangente im offen ge-
haltenen „Zentralen Bereich" zum konzeptionellen Bestandteil der Bundes-
gartenschau (BUGA) 1995 werden sollte. In den geplanten Grüngürtel vom
Spreebogen bis zum Potsdamer Platz wurde auch das 1988 im Rahmen eines
Gebietsaustausches von der DDR übernommene Lenne-Dreieck mit einbezo-
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 201

gen. Dieser Beschluß wurde nach den politischen Umwälzungen von 1989/90,
die eine völlig neue städtebauliche Situation im Bereich Potsdamer und Leipzi-
ger Platz schufen, und dem Verkauf eines großen Grundstücks unmittelbar am
Potsdamer Platz an Daimler-Benz sowie angrenzender Grundstücke an Sony
und Asea Brown Boveri im Sommer 1990, 1991 dann revidiert. Am 9. Novem-
ber 1989 öffnete sich nach einer Zeit massiver Abwanderung aus und friedlicher
Demonstrationen in der DDR, die die Verunsicherung und den Rückzug des
alten, auch von der Sowjetunion nicht mehr unterstützten Regimes bewirkten,
die Mauer zwischen Ost und West. In der Nacht vom 11. zum 12. November
1989 wurde unter lokaler und zugleich global-medialer Aufmerksamkeit auf
westlicher Platzseite, die Mauer zwischen Potsdamer und Leipziger Platz von
Osten aus durch Grenztruppen der DDR zu Fall gebracht.
Der Fall der Mauer, die Wiedervereinigung Berlins und seine neuerliche Be-
stimmung zur deutschen Hauptstadt rückten den Potsdamer und den Leipziger
Platz in den Mittelpunkt städtebaulicher Konzeptionen. Der Umstand, daß die-
ses Areal, das lediglich seine Geschichte und Spuren seiner baulichen Vergan-
genheit bewahrt hatte, die Chance bot, als zentraler Doppelplatz zum Ort und
zum Symbol einer dynamischen Zukunft der Stadt Berlin zu werden, löste eine
intensive Debatte aus. Der Berliner Senat für Stadtentwicklung und Umwelt-
schutz schrieb am 28. Juni 1991 einen internationalen städtebaulichen Ideen-
wettbewerb zum Potsdamer/Leipziger Platz und seinen benachbarten Flächen
aus, dem ein Bewerberauswahlverfahren vorausging. Sechzehn Architektur-
büros wurden eingeladen. Das Wettbewerbsgebiet, welches den Potsdamer und
Leipziger Platz einschließt, war im Norden durch die Lenne-Straße, die Ebert-
und Voßstraße, im Osten durch die Otto-Grotewohl- bzw. Wilhelmstraße, die
Niederkirchner Straße und die Köthener Straße begrenzt. Nach Süden bildete
der Landwehrkanal bis zur Potsdamer Brücke und nach Westen die neue Pots-
damer Straße mit der Entlastungsstraße die Grenze. Es handelt sich hierbei um
ein fast vollständig brachliegendes Gebiet von 480 000 qm im Zentrum einer
Großstadt, auf dem sich einige wenige unter Denkmalschutz stehende Gebäude
befanden, die in ihre Umgebung einzubinden waren und als „Orte der Erinne-
rung" Bestand haben sollten. Ziel war, diesen Bereich in das polyzentrische Ge-
füge Berlins zu integrieren und gleichzeitig die bestehende Monofunktion des
Kulturforums abzubauen. Die Ausschreibung forderte außerdem einerseits eine
klare Definition des Potsdamer Platzes, andererseits seine Verbindung mit dem
Leipziger Platz. Der Erhalt beziehungsweise die kritische Rekonstruktion des
alten Stadtgrundrisses mit seinem charakteristischen Straßenraster und ge-
schlossener Blockrandbebauung wurde als Voraussetzung für die Wiederge-
winnung von Urbanität verstanden.
Abgabetermin für die Entwürfe war der 11. September 1991. Als Favoriten
blieben übrig: Heinz Hilmer und Christoph Sattler (für das städtebauliche Ge-
samtkonzept) (Abb. 46), Renzo Piano (für Daimler-Benz), Helmut Jahn (für
Sony) und Giorgio Grassi (für Asean Brown Boveri). „Nicht das weltweit ver-
wendete amerikanische Stadtmodell der Hochhausagglomeration", erklärten
202 POTSDAMER PLATZ

Hilmer und Sattler, „sondern die Vorstellung von der kompakten, räumlich kom-
plexen europäischen Stadt liegt dem Entwurf zugrunde. Städtisches Leben soll sich
nicht im Inneren großstrukturierter Gebäudekomplexe, sondern auf Straßen und
Plätzen, das heißt zwischen einzelnen Gebäuden entfalten." Gerade das wurde in
der Debatte allerdings heftig bekämpft. Die später gebaute Wirklichkeit hat vieles
von dem, was der Städtebauentwurf intendierte, hinter sich gelassen (Abb. 47).
Der mehrfach in der Geschichte aufgegriffene Plan, am westlichen Scheitelpunkt
des Potsdamer Platzes ein markantes Hochhaus zu errichten, wurde gleich drei-
fach verwirklicht (Abb. 48). Insgesamt durchgehalten wurde die Anlehnung an
den Grundriß der historischen Doppelplatzanlage, wobei der Leipziger Platz als
Komplement des Potsdamer Platzes noch seiner Fertigstellung harrt.

Zusammengestellt von Joachim Fischer und Michael Makropoulos

Quellen:

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Berlin, Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt. Hrsg. von Gottfried Korff und Reinhard
Rürup, Berlin 1987.

Berlin im Abriß. Beispiel Potsdamer Platz. Ausstellung und Katalog Berlinische Galerie. Verant-
wortet v. Janos Frecot, Helmut Geisert, Hartmut Kurschat, Dieter Radicke u. Andreas Reide-
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Muhs, Andreas/Heinrich Wefing: Der Neue Potsdamer Platz. Ein Kunststück Stadt. Berlin/Bran-
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Neumann, Dietrich: „Die ungebaute Stadt der Moderne", in: Thorsten Scheer, Josef Paul Kleihues,
Paul Kahlfeld (Hg.), Stadt der Architektur - Architektur der Stadt. Berlin 1900-2000, Berlin
2000, S. 161-174.

Pabsch, Matthias: Zweimal Weltstadt. Architektur und Städtebau am Potsdamer Platz. Berlin 1998.

Lampugnani, Vittorio Magnago/Romana Schneider (Hg.): Ein Stück Großstadt als Experiment. Pla-
nungen am Potsdamer Platz in Berlin. Stuttgart 1994.
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 203

Abb. 1: „Plan de la Ville de Berlin, Schmettau 1764"


(gesüdet „Octogon" Mitte rechter Bildrand).
204 POTSDAMER PLATZ

BERLIN Berlin um 1760


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Abb. 2: Berlin um 1760.

Abb. 3: Carl Ludwig von Oesfeld,


Grundriß der Königlichen Residenzstadt Berlin, 1778.
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 205

Abb. 4: Achteck (Octogon), Rhoden-Plan, 1772.

^3t,ii ^ f * «p

Abb. 5: Friedrich Gilly,


Entwurf für ein Denkmal Friedrichs des Großen auf dem Octogon, 1797.
206 POTSDAMER PLATZ

Abb. 6: Karl Friedrich Schinkel,


Entwurf für das Octogon mit dem Grundriß der Kathedrale, 1814.

Abb. 7: Karl Friedrich Schinkel, Entwurf für das Potsdamer Tor, 1823.
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 207

Abb. 8: Peter Joseph Lenne, Entwurf für den Leipziger Platz, 1828.
208 POTSDAMER PLATZ

t , ,;

Abb. 9: J.C. Seiter, Grundriß von Berlin, 1826 (Ausschnitt).


CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 209

Abb. 11: Peter Joseph Lenne, Schmuck und Bauanlagen der Residenzstadt Berlin,
1843 (Ausschnitt).
210 POTSDAMER PLATZ

Abb. 12: Plan von Berlin (Ausschnitt), 1874.

Abb. 13: Friedrich Ferdinand Albert Schwartz,


Villa im „Millionärsviertel" Bellevue- Ecke Lennestraße, 1876.
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 211

Abb. 14: Max Mißmann, Blick vom Leipziger auf den Potsdamer Platz, 1927.

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A b b . 15: Max Mißmann, „Haus Vaterland" von Franz Schwechten,


Ansicht von Norden, 1926.
212 POTSDAMER PLATZ

Abb. 16: Das Kaufhaus „Wertheim" am Leipziger Platz, um 1936.

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Abb. 17: Marauns Großer Verkehrs-Plan von Berlin, 1894 (Ausschnitt \


CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 213

Abb. 18: Der Potsdamer Platz, mit Verkehrsturm, 1933/34.

Abb. 19: „Nachtzauber in Berlin", o.J. (vermutlich 1928).


214 POTSDAMER PLATZ

Abb. 20: Der Leipziger Platz 1928.

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Abb. 21: Havestad & Contag/Bruno Schmitz/Otto Blum, Perspektivische An-


sicht Leipziger/Potsdamer Platz, 1909/10.
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 215

Abb. 22: Werner Hegemann/Oskar Lange,


Vorschlag zur Neugestaltung des Potsdamer Platzes, 1925.

Abb. 23: Martin Wagner, Entwurf zur Umgestaltung des Potsdamer Platzes, 1928
(Modell).
216 POTSDAMER PLATZ

Abb. 24: Marcel Breuer, Entwurf zur Umgestaltung des Potsdamer Platzes, 1929
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 217

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Abb. 25: Hans und Wassil Luckhardt/Alfons Anker, Entwurf für den
Westabschluß des Potsdamer Platzes mit Hochhaus, 1932 (Photomontage).

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Abb. 26: Hans und Wassil Luckhardt/Alfons Anker,


„Haus Berlin", 1929-31 (Modell).
218 POTSDAMER PLATZ

Abb. 27: Hans und Wassil Luckhardt/Alfons Anker, Telschow-Haus, 1926-28.

Abb. 28: Erich Mendelsohn, Columbushaus, 1928-32.


CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 219

Abb. 29: Erich Mendelsohn,


Studien für die Umgestaltung des Potsdamer Platzes, 1928.

Abb. 30: Erwin Gutkind, Entwurf für ein Hochhaus am Potsdamer Platz, 1930.
220 POTSDAMER PLATZ

Abb. 31: Albert Speer, Planung zur Neugestaltung Berlins mit Nord-Süd-Achse,
1938 (Modell).

Abb. 32: Albert Speer, Detail Leipziger Platz, 1940.


CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 221

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Abb. 33: Potsdamer Platz Juni 1945.

Abb. 34: Potsdamer Platz mit Überresten der Schinkelschen Torhäuser, 1946.
222 POTSDAMER PLATZ

Abb. 35: Blick von der Stresemannstraße Richtung .Haus Vaterland', Juli 1945.

Abb. 36: Henry Ries, Markierung des Grenzverlaufs zwischen sowjetischen und
britischem Sektor am Potsdamer Platz, 1948.
CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 223

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Abb. 37: Schwarzmarkt am Columbushaus, 1948.

Abb. 38: Sowjetische Panzer am Potsdamer Platz, 17. Juni 1953.


224 POTSDAMER PLATZ

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Abb. 39: Kompositionsplan Groß-Berlin, 1953.


CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 225

Abb. 40: Potsdamer Platz nach Enttrümmerung und Mauerbau, 1962.

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Abb. 41: Luftaufnahme Potsdamer Platz mit Weinhaus Huth, nach 1961.
226 POTSDAMER PLATZ

Abb. 42: Potsdamer Platz Grenzanlagen, 1967.

Abb. 43 Allee Potsdamer Straße, 1981.


CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 227

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Abb. 44: Blick von der Staatsbibliothek auf den Potsdamer Platz entlang der alten
Potsdamer Straße (auf deren rechter Seite „Weinhaus Huth"), 1990.

Abb. 45: Areal südlich vom Potsdamer Platz mit Weinhaus Huth, 1990.
228 POTSDAMER PLATZ

Abb. 46: Heinz Hilmer/Christoph Sattler, Entwurf zum Städtebaulichen Wettbe-


werb Potsdamer/Leipziger Platz, 1991 (Modell).

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Abb. 47: Berlin - Rund um den Potsdamer Platz, 2000.


CHRONOLOGISCHER ABRISS MIT BILDERN UND KARTEN 229

Abb. 48: Hochhäuser von Piano/Kohlbecker, KoUhoff, Jahn am Potsdamer Platz


vom Leipziger Platz aus gesehen, 2002.
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wortet v. Janos Frecot, Helmut Geisert, Hartmut Kurschat, Dieter Radicke u. Andreas Reide-
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Knieper, Hildebrand Machleidt, Wolfgang Schäche, mit einem Beitrag des Landeskonservator
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Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie (Hg.): Planwerk Innen-
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LITERATUR/DOKUMENTATIONEN ZUM POTSDAMER PLATZ 233

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London 2001.
Willems, Manfred (Regie): Die Legende vom Potsdamer Platz. Sechsstündige Dokumentation, aus-
gestrahlt auf 3Sat am 30./31.12.02 zwischen 23.00 und 5.00 Uhr.
Winter, Frank: Die verpaßte Möglichkeit der Stadt Berlin. Ein Prozeßbericht über die öffentliche
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als Experiment. Planungen am Potsdamer Platz in Berlin, Stuttgart 1994, S. 14-23.
Abbildungsnachweise

Abbildungen Fischer

Abb. 1: Carl Ludwig von Oesfeld, Grundriß der Königlichen Residenzstadt Berlin, 1778.
Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, Berlin 1991, S. 6.

Abb. 2 : Ernst Ludwig Kirchner, Potsdamer Platz. Berlin 1914.


Bildnachweis: Magdalena M. Moeller, Ernst Ludwig Kirchner. Die Straßenszenen 1913-1915, Mün-
chen 1993, Abb. 74.

Abb. 3 : Leipziger Platz mit Kaufhaus Wertheim, 1920.


Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz. Berlin 1991, S. 78.

Abb. 4: Die nationalsozialistischen Kommandozentralen 1936.


Bildnachweis: Die Zeit vom 3.8.1990.

Abb. 5: Ausschnitt dem Speerplan für die Neugestaltung Berlins in der Nähe vom Potsdamer/Lei-
pziger Platz, 1940.
Bildnachweis: Alan Balfour, Berlin. The Politics of Order, New York 1990, S. 70.

Abb. 6: Blick von der Stresemannstraße in Richtung .Haus Vaterland' im Juli 1945.
Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz. Berlin 1991, S. 92.

Abb. 7: Berlin, Mauer über den Potsdamer Platz, ca. 1965.


Bildnachweis: Schöning & Co + Gebrüder Schmidt, Berlin.

Abb. 8: Offizieller Stadtplan von Ost-Berlin 1984.


Bildnachweis: Alan Balfour, Berlin. The Politics of Order, New York 1990, S. 184.

Abb. 9: Rudolf Schäfer: Baugelände Potsdamer/Leipziger Platz, Berlin, Luftaufnahme, September


1994.
Bildnachweis: Vittorio Magnago Lampugnani/Romana Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als
Experiment.

Abb. 10: Alte Potsdamer Straße, Blickrichtung Potsdamer Platz, 1980.


Bildnachweis: Berlin im Abriß. Beispiel Potsdamer Platz, Berlin 1981, S. 207.

Abb. 11: Weinhaus Huth am Rande der Baugrube Regionalbahnhof, Januar 1997.
Bildnachweis: Muth/Wefing, Der Neue Potsdamer Platz. Berlin-Brandenburg 1998, S. 89.

Abb. 12 : Potsdamer Platz Arkaden, 2001.


Bildnachweis: DaimlerChrysler GmbH (Hg.), Projekt Potsdamer Platz. 1989-2000, Berlin 2001,
S. 42.

Abb. 13: Potsdamer Straße, 2001.


Bildnachweis: DaimlerChrysler GmbH (Hg), Projekt Potsdamer Platz. 1989-2000, S. 51.
236 ABBILDUNGSNACHWEISE

Abbildungen Friedrichs/Bremer

Abb. 1: Das Baugelände am Potsdamer Platz, 1994.


Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 10.

Abb. 2a/b-3: Die Baustelle am Potsdamer Platz, 1996.


Bildnachweis: INFO BOX. Der Katalog, S. 138/139 u. S. 141.

Abbildungen Göbel/Ziemann

Abb. 1-4: William Alsop/Jan Störmer, Entwurf für den Potsdamer Platz, 1991 (Perspektivische
Gesamtansicht, Städtebauliches Gesamtkonzept, Entwurfsskizzen, Grundrisse Ebenen - 1 , 0, +1).
Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 79-81.

Abb. 5 u. 6: Daniel Libeskind, Städtebaulicher Wettbewerb Potsdamer/Leipziger Platz, 1991


(Modell, Grundrißkonzept).
Bildnachweis: Matthias Pabsch, Zweimal Weltstadt, Berlin 1998, S. 66/67.

Abbildungen Göttlich/Winter

Abb. 1: Innenansicht Potsdamer Platz Arkaden 2003.


Bildnachweis: Michael Makropoulos.

Abb. 2: Eaton-Centre in Toronto.


Bildnachweis: Toronto and Niagara Falls. Florenz 1996. S. 56.

Abb. 3: Eaton-Centre in Toronto, Innenansicht.


Bildnachweis: Toronto and Niagara Falls. Florenz 1996. S. 57.

Abb. 4: Ansicht Potsdamer Platz vom Leipziger Platz aus.


Bildnachweis: Michael Makropoulos.

Abb. 5: WM 2002-Übertragung im Sony-Center.


Bildnachweis: anonym.

Abbildungen Resch/Steinen
Abb. 1: Daniel H. Burnham, Flatiron Building, 1902.
Bildnachweis: Paul Goldberger: Wolkenkratzer. Das Hochhaus in Geschichte und Gegenwart. Stutt-
gart 1984, S. 17.

Abb. 2: Ludwig Mies van der Rohe, Hochhausprojekt am Bahnhof Friedrichstraße, 1921/22.
Bildnachweis: Scheer u.a. (Hg.), Stadt der Architektur - Architektur der Stadt, S. 163.

Abb. 3a/b: Renzo Piano/Christian Kohlbecker, Bürohochhaus am Potsdamer Platz, 1994.


Bildnachweis 3a: Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 159.
Bildnachweis 3b: Michael Makropoulos.
ABBILDUNGSNACHWEISE 237

Abb. 4: Renzo Piano/Christian Kohlbecker, Realisierungsplan Potsdamer Platz, Grundriß Erdge-


schoßebene, 1994.
Bildnachweis: Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 81.

Abb. 5: Ernst Ludwig Kirchner, Frauen auf der Straße, 1915.


Bildnachweis: Moeller, Ernst Ludwig Kirchner. Die Straßenszenen 1913-1915, Abb. 75.

Abb. 6: Otto Dix, Selbstbildnis als Soldat, 1914/15.


Bildnachweis: Christos M. Joachimides/Norman Rosenthal/Wieland Schmied (Hg.): Deutsche
Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik 1905-1985. München 1986, Nr. 162.

Abb. 7: George Grosz, Der General.


Bildnachweis: Der Potsdamer Platz. Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens. Katalog
zur Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie. Hg. v Katharina Henkel und Roland März. Berlin
2001.

Abbildungen Bublitz/Spreen

Abb. 1: Marcel Duchamp (1915-1923), La mariee mise ä nu par ses celibataires, meme, Schema von
Roger Aujame.
Bildnachweis: Harald Szeemann (Hg.), Les machines celibataires /Junggesellenmaschinen, Venezia
1975, S. 23.

Abb. 2: Das Glasdach über dem Forum im Sony-Center (Photo: Jürgen Henkelmann).
Bildnachweis: Postkarte.

Abb. 3: Urban Entertainment Center (Sony Center).


Bildnachweis: INFO BOX. Der Katalog, S. 196.

Abbildungen Makropoulos

Abb. 1: Info Box am Potsdamer Platz.


Bildnachweis: INFO BOX. Flyer.

Abb. 2: Potsdamer Platz, 1928.


Bildnachweis: Boberg u.a. (Hg), Die Metropole, S. 136-137.

Abb. 3: Leipziger Platz, 1928.


Bildnachweis: Pabsch, Zweimal Weltstadt, S, 17.

Abb. 4: Martin Wagner, Entwurf zur Umgestaltung des Potsdamer Platzes, 1928.
Bildnachweis: Scheer u.a. (Hg.), Stadt der Architektur - Architektur der Stadt, S. 172.

Abb. 5: Lichtschmuck der Siegessäule durch die Fa. OSRAM zur Berliner Lichtwoche 1928.
Bildnachweis: Janet Ward, Weimar Surfaces, Urban Visual Culture in 1920s Germany, Berkeley/Los
Angeles/London 2001, S. 109.

Abb. 6: Kempinski im „Haus Vaterland" bei Nacht, 1930.


Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 83.
238 ABBILDUNGSNACHWEISE

Abb. 7: Karstadt-Werbung in den größeren Berliner Tageszeitungen im Juni 1929.


Bildnachweis: Ludovica Scarpa, Martin Wagner und Berlin. Architektur und Städtebau in der
marer Republik. Braunschweig/Wiesbaden 1986, S. 187.

Abbildungen Chronologischer Abriß

Abb. 1: „Plan de la Ville de Berlin, Schmettau 1764".


Bildnachweis: Topographischer Atlas Berlin. Hg. von der Senatsverwaltung für Bau- und Woh-
nungswesen, Berlin 1995, S. 17.

Abb. 2: Berlin um 1760.


Bildnachweis: Topographischer Atlas Berlin, S. 16.

Abb. 3: Carl Ludwig von Oesfeld, Grundriß der Königlichen Residenzstadt Berlin, 1778.
Bildnachweis. Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 6.

Abb. 4: Achteck (Octogon), Rhoden-Plan, 1772.


Bildnachweis: Balfour, Berlin. The Politics of Order, S. 19.

Abb. 5: Friedrich Gilly, Entwurf für ein Denkmal Friedrichs des Großen auf dem Octogon, 1797.
Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 52.

Abb. 6: Karl Friedrich Schinkel, Entwurf für das Octogon mit dem Grundriß der Kathedrale, 1814.
Bildnachweis: Balfour, Berlin. The Politics of Order, S. 34.

Abb. 7: Karl Friedrich Schinkel, Entwurf für das Potsdamer Tor, 1823.
Bildnachweis: Balfour, Berlin. The Politics of Order, S. 41.

Abb. 8: Peter Joseph Lenne, Entwurf für den Leipziger Platz, 1828.
Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 53.

Abb. 9: J.C. Seiter, Grundriß von Berlin, 1826 (Ausschnitt).


Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 54.

Abb. 10: Julius Henning/Carl Schulin, Der Potsdamer Bahnhof, 1839.


Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 24.

Abb. 11: Peter Joseph Lenne, Schmuck und Bauanlagen der Residenzstadt Berlin, 1843 (Ausschnitt).
Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Em Stück Großstadt als Experiment, S. 54.

Abb. 12: Plan von Berlin (Ausschnitt), 1874.


Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 25.

Abb. 13: Friedrich Ferdinand Albert Schwartz, Villa im „Millionärsviertel" Bellevue- Ecke Lenne-
straße, 1876.
Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 32.

Abb. 14: Max Mißmann, Blick vom Leipziger auf den Potsdamer Platz, 1927.
Bildnachweis: Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 20.
ABBILDUNGSNACHWEISE 239

Abb. 15: Max Mißmann, „Haus Vaterland" von Franz Schwechten, Ansicht von Norden, 1926.
Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 82.

Abb. 16: Das Kaufhaus „Wertheim" am Leipziger Platz, 1936.


Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 78.

Abb. 17: Marauns Großer Verkehrs-Plan von Berlin, 1894 (Ausschnitt).


Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 55.

Abb. 18: Der Potsdamer Platz mit Verkehrsturm 1933/34.


Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 70.

Abb. 19: „Nachtzauber in Berlin", o.J. (vermutlich 1928).


Bildnachweis: Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 59.

Abb. 20: Der Leipziger Platz 1928.


Bildnachweis: Pabsch, Zweimal Weltstadt, S.17.

Abb. 21: Havestad & Contag/Bruno Schmitz/Otto Blum, Perspektivische Ansicht Leipziger/Pots-
damer Platz, 1909/10.
Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 56.

Abb. 22: Werner Hegemann/Oskar Lange, Vorschlag zur Neugestaltung des Potsdamer Platzes,
1925.
Bildnachweis: Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 32.

Abb. 23: Martin Wagner, Entwurf zur Umgestaltung des Potsdamer Platzes, 1928 (Modell).
Bildnachweis: Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 39.

Abb. 24: Marcel Breuer, Entwurf zur Umgestaltung des Potsdamer Platzes, 1929.
Bildnachweis: Scheer u.a. (Hg.), Stadt der Architektur - Architektur der Stadt. S. 171.

Abb. 25: Hans und Wassil Luckhardt/Alfons Anker, Entwurf für den Westabschluß des Potsdamer
Platzes mit Hochhaus, 1932 (Photomontage).
Bildnachweis: Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 51.

Abb. 26: Hans und Wassil Luckhardt/Alfons Anker, „Haus Berlin", 1929-31 (Modell).
Bildnachweis: ¥zbsch,Zweimal Weltstadt, S. 48.

Abb. 27: Hans und Wassil Luckhardt/Alfons Anker, Telschow-Haus, 1926-28.


Bildnachweis: Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 34.

Abb. 28: Erich Mendelsohn, Columbushaus, 1928-32.


Bildnachweis: Scheer u.a. (Hg.), Stadt der Architektur - Architektur der Stadt, S. 144.

Abb. 29: Erich Mendelsohn, Studien für die Umgestaltung des Potsdamer Platzes, 1928.
Bildnachweis: Pabsch, Zweimal Weltstadt, S. 41.

Abb. 30: Erwin Gutkind, Entwurf für ein Hochhaus am Potsdamer Platz, 1930.
Bildnachweis: Scheer u.a. (Hg.), Stadt der Architektur - Architektur der Stadt, S. 173.
240 ABBILDUNGSNACHWEISE

Abb. 31: Albert Speer, Planung zur Neugestaltung Berlins mit Nord-Süd-Achse, 1938 (Modell).
Bildnachweis: Scheer u.a. (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 59.

Abb. 32: Albert Speer, Detail Leipziger Platz, 1940.


Bildnachweis: Balfour, Berlin. The Politics of Order, S. 70.

Abb. 33: Potsdamer Platz Juni 1945.


Bildnachweis: Berlin im Abriß. Beispiel Potsdamer Platz, Berlin 1981, S. 68.

Abb. 34: Potsdamer Platz mit Überresten der Schinkelschen Torhäuser, 1946.
Bildnachweis: Balfour, Berlin. The Politics of Order, S. 140.

Abb. 35: Blick von der Stresemannstraße Richtung .Haus Vaterland', Juli 1945.
Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, Berlin 1991, S. 92.

Abb. 36: Henry Ries, Markierung des Grenzverlaufs zwischen sowjetischem und britischem Sek-
tor am Potsdamer Platz, 1948.
Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 98.

Abb. 37: Schwarzmarkt am Columbushaus, 1948.


Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 99.

Abb. 38: Sowjetische Panzer am Potsdamer Platz, 17. Juni 1953.


Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 60.

Abb. 39: Kompositionsplan Groß-Berlin, 1953.


Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Em Stück Großstadt als Experiment, S. 61.

Abb. 40: Potsdamer Platz nach Enttrümmerung und Mauerbau, 1962.


Bildnachweis: Scheer u.a. (Hg.), Stadt der Architektur. Architektur der Stadt, S. 294.

Abb. 41: Luftaufnahme auf Mauerbau nach 1961, Weinhaus Huth.


Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 62.

Abb. 42: Potsdamer Platz Grenzanlagen 1967.


Bildnachweis: Balfour, Berlin. The Politics of Order, S. 195.

Abb. 43: Allee Potsdamer Straße 1981.


Bildnachweis: Berlin im Abriß. Beispiel Potsdamer Platz, S. 125.

Abb. 44: Blick von der Staatsbibliothek auf den Potsdamer Platz entlang der alten Potsdamer Straße
(auf deren rechter Seite „Weinhaus Huth"), 1990.
Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 126.

Abb. 45: Areal mit Weinhaus Huth 1990.


Bildnachweis: Mauter u.a., Der Potsdamer Platz, S. 143.

Abb. 46: Heinz Hilmer/Christoph Sattler, Entwurf zum Städtebaulichen Wettbewerb Potsda-
mer/Leipziger Platz, 1991 (Modell).
Bildnachweis: Lampugnani/Schneider (Hg.), Ein Stück Großstadt als Experiment, S. 73.
ABBILDUNGSNACHWEISE 241

Abb. 47: Berlin - Rund um den Potsdamer Platz.


Bildnachweis: Postkarte, Photo: Günter Schneider, Kunst und Bild GmbH.

Abb. 48: Hochhäuser von Piano/Kohlbecker, KoUhoff, Jahn am Potsdamer Platz vom Leipziger
Platz aus gesehen.
Bildnachweis: Postkarte, Photo: Günter Schneider, Kunst und Bild GmbH.

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Staatsbibliothek
München

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