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Buytendijk
Allgemeine Theorie
der menschlichen Haltung
und Bewegung
Reprint
Springer-Verlag
Berlin • Heidelberg • New York .1972
NIEDERSÄCHS.
STAATS- U . UN IV.-
B1BU0THEK
GOTTINGEN
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%
ALLGEMEINE THEORIE
DER MENSCHLICHEN HALTUNG
UND BEWEGUNG
VON
DR. F. J. J. BUYTENDIJK
O. PROFESSOR DER PSYCHOLOGIE
DIR REICHSUNIVERSITÄT UTRECHT/HOLLAND
SPRINGER-VERLAG
BERLIN •GÖTTINGEN - HEIDELBERG
1956
TITEL DER ORIGINALAUSGABE:
P R O F . D R . F. J. J. BUYTEN DIJK
ALGEMENE THEORIE DER MENSELIJKE HOUDING EN BEWEGING
ANTWERPEN: UITGEVERSMIJ N. V. STANDAARD-BOEKHANDEL 1948
V o rw o rt
w Durch eine Reihe übersetzter Werke kennen wir F. J. J. B u y t e n d i j k als
Biologen, Phänomenologen und Philosophen, in dessen Schaffen sich die Fähig
keit zu präziser Analyse und sicherer Wertung sachlicher Forschungsergebnisse
mit einem klaren Blick für Unterschiede des Wesens vereinigt. Das vorliegende
Werk über die menschliche Haltung und Bewegung stellt einen wichtigen Beitrag
zur sog. Verhaltensforschung dar. Es gehört also zu den wissenschaftlichen Bestre
bungen, die aus einem Bedürfnis nach Ergänzung der klassischen Wissenschaften
der Physiologie und Psychologie entstanden sind, weil dort das Lebewesen in
seiner eigentlichen Wirklichkeitsstruktur nicht genügend in den Blick kommt.
Die konkreten Phänomene, vor die sich Ärzte, Pädagogen, Leibeserzieher u. a.
gestellt finden, konnten nicht durch die einfache Vereinigung der Erkenntnisse
jener heterogenen Wissensgebiete verstanden werden. Physiologie und Psycho
logie vermitteln ja doch Einsichten aus derart differenten Sphären, daß eine
Zusammenschau der Befunde kaum möglich ist. Die Physiologie analysiert die
physikalischen und chemischen Vorgänge eines überaus komplizierten stofflichen
Substrates, die Strukturen, welche die Funktionen ermöglichen und bedingen,
aber sie nicht begreifen lassen. Die Psychologie beschäftigt sich mit Bewußtseins
inhalten, Erlebnissen, die den leiblichen Vorgängen vorausgehen oder sie begleiten,
aus denen diese als lebendige Ereignisse aber nur wie ein Wunder hervorgehen
können. Die Bewegung als sinnvolle Verrichtung, als Aktion und Reaktion, Tat,
Stellungnahme und Leistung, als Realisierung eines vitalen Bezuges, also als
eigentliche Funktion ist jedoch nicht eigenständiges Objekt dieser Wissenschaften.
Es ist noch nicht lange her, daß man sich beim Bemühen um einen wissen
schaftlichen Zugang zur lebendigen Bewegung — und das gleiche galt fü r den
Gesamtbereich der leiblichen Phänomene — in einer ähnlichen Lage befand, wie
sie einmal K i e r k e g a a r d fü r die Frage nach Wesen und Bedeutung des Sexuellen
treffend charakterisiert hat. Er klagte, daß man sich in deren Beantwortung teile,
und zwar „so, daß der eine Teil sich geniert zu sagen, was der andere sagt und des
halb die Erklärung des einen toto coelo verschieden wird von der des anderen“ .
Das heiße aber, „auf alles verzichten und den Menschen die schwere Last auferle
gen, die man selbst nicht mit einem Finger anrührt, die Last, in beiden Erklärun
gen Sinn zu finden, während die respektiven Lehrer immer nur einen vortragen“ .
Wir wissen heute, daß der Versuch der Gestalttheorie zwar das Verdienst in
Anspruch nehmen kann, im Bereich der Physiologie das Ganzheitliche der orga
nismischen Strukturen in den Blick gebracht zu haben. Aber den Graben zwi
schen den beiden schon durch ihr methodisches Vorgehen radikal geschiedenen
Wissensgebieten der Physiologie und Psychologie konnte auch sie nicht über
brücken, weil auch hier nicht die vitale Funktion als vom Subjekt bestimmt und
auf dieses bezogen begriffen, sondern einer „Einführung des Subjektes in die
Physiologie“ (von W eizsäcker ) ausgewichen wurde.
Erst die Verhaltensforschung hat das Problem klar gesehen .und in Angriff
genommen. Sie hat das Subjekt als Grund und Zentrum des Verhaltens in und
zur Umwelt in den Gegenstand der Forschung mit einbezogen. Das geschah mehr
oder weniger bewußt, war zum Teil auch einfach selbstverständliche, nicht weiter
IV
1 Die holländische Ausgabe dieses Buches erschien 1948, die Literatur wurde daher vom
Verfasser nur bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt. Auf seinen Wunsch haben die Über
setzer jedoch einige neuere, zugehörige Arbeiten der deutschen Literatur in Anmerkung
beigefügt.
Tnhalkvm fifh n is
V II. Sprung und Wurf. (Das Ganze und die Teile) 197
1. Das Sich-Richten auf das Entfernte . . 197
2. Analyse des S p r u n g e s ................................. 198
3. Untersuchungen über das Werfen . . . . 199
4. Die vollkommene Bewegungsgestalt . . . 202
N a m e n v e r z e ic h n is . ................................................................................................................ 365
A. Prinzipien einer funktionellen Bewegungslehre
I. Methodische Grundlagen
1. Einleitung
Ein Wartender eilt auf eine nahende Freundin zu. Er stolpert, fängt sich
wieder und lacht. Er streckt zur Begrüßung die Hand aus, holt einen Brief aus der
Tasche und liest errötend daraus vor. Später geht er nach Hause, ißt und trinkt.
Er setzt sich mit gerunzelter Stirn an den Schreibtisch, seufzt. Begibt er sich zur
Ruhe, so schläft er während der Nacht in wechselnder Haltung, bis er am Morgen
die Augen aufschlägt und einen neuen Tag beginnt. Eine ununterbrochene Kette
von Haltungen und Bewegungen bildet so die äußere Erscheinungsform des dahm-
fließenden menschlichen Daseins.
Vom ersten Atemzug des Neugeborenen und dem Weinen und Strampeln des
Wiegenkindes bis zur müden Gebärde des Greises und dem letzten Atemzug des
Sterbenden wechseln Haltungen und Bewegungen miteinander ab. Dynamische
Grundformen entfalten sich in der Jugend, wandeln sich in der Pubertät. Sie
passen sich den Forderungen wechselnder Umstände an, werden zu Gewohnheiten
und erstarren im Alter zu Schemen.
Wie können wir diese Vielfalt der Erscheinungen, dieses Stehen und Gehen,
diese Aktionen und Reaktionen, Handlungen, Ausdrucksbewegungen und
Gebärden, die Stellung von Kopf, Rumpf und Gliedern, das Mienenspiel des
Antlitzes, den Bewegungsreichtum von Bein und Arm, Hand und Auge, von
einem einheitlichen methodischen Gesichtspunkt aus erfassen ? Inwiefern sind die
motorischen Äußerungen des Tieres mit denen des Menschen vergleichbar ? Oder
zeigt die Motorik vielleicht verschiedene, aufeinander nicht reduzierbare Aspekte ?
Wie können wir die motorischen Äußerungen erfassen, ohne daß wir durch eine
zu weitgehende Abstraktion das Wesentliche aus dem Auge verlieren, oder uns
im bloßen Haftenbleiben am Unmittelbar-Konkreten an das zufällige Vielerlei
verschwenden ?
Wie wird man für eine Lehre der menschlichen Bewegungen die angemessene
Weise des Fragens finden ? Was bedeutet hier Erklären, V erstehen und Begreifen ?
Kann man die Erkenntnis der menschlichen Haltung und Bewegung als einen Teil
der biologischen oder medizinischen Wissenschaften ansehen ? Wie steht sie ins
besondere in Beziehung zu Physiologie und Psychologie ? Inwiefern wäre etwa die
einfachste Bewegung, wie ein Zurückziehen der Hand, die Bewegung der Augen,
ein unpersönliches Natur-Geschehen ? Auf welche Weise sollte eine Bewegungslehre
in einer Philosophie des Lebendigen und in einer philosophischen Anthropologie
gegründet sein ?
Solche Fragen drängen sich uns als Hinweise auf eine tiefgreifenden Proble
matik auf, wenn wir uns auf Möglichkeit und Methodik einer Wissenschaft
von der menschlichen Haltung und Bewegung besinnen.
Buytendijk, Haltung und Bewegung 1
2 Prinzipien einer funktionellen Bewegungslehre
1 Cl a y , J.: Ontstaan en Ontwikkeling vän het energie-beginsel, S. 89. Den Haag 1942.
1*
4 Prinzipien einer iunktionellen Bewegungslehre
das Verhalten bezogen ist. Es werden von uns also keine Bewegungen, sondern
sieh irgendwo bewegende Menschen wahrgenommen. Es ist für eine tiefdringende
Einsicht sicher wichtig, was unter diesem „sich" und diesem „irgendwo" zu ver
stehen sei und wie man diese Momente vielleicht aus einem beide umfassenden Sein
begreifen könne. Doch wir wollen uns hier, unter Weglassung derartiger Fragen,
auf das Feld beschränken, in dem diese Bewegungen und Haltungen sich voll
ziehen, auf die „Sphäre der Verhaltensweisen" von Tier und Mensch.
Es ist daher abzusehen von dem persönlichen Gehalt der Bewegungen und von
den speziellen Situations-Strukturen, in denen sie auftreten. Beide Momente
geben der wahrgenommenen Bewegung eine besondere Bedeutung, die ihren
Ursprung in der besonderen Art und Weise hat, in der dieser Mensch in diese
Situation verwickelt ist. Diese besondere Weise wurzelt wiederum in seiner
geschichtlichen Position, in seiner Vergangenheit und Zukunft, in seinen Stre
bungen, Absichten, sittlichen Prinzipien, Gemeinschaftsbindungen usw. Nur in
einer anthropologisch begründeten Psychologie, die diese konkreten Bezüge als
zentriert in der menschlichen Existenz erfaßt, kann eine vollständige Lehre vom
menschlichen Verhalten entwickelt werden.
Beschränkt man sich auf die allgemeinen Merkmale von Haltung und
Bewegung, so wählt man einen zwischen dem psychologischen und dem
physiologischen gelegenen Gesichtspunkt. Wir sprechen dann von dem funktio
nellen Aspekt. Von hier aus werden Bewegungen und Haltungen formell als
Funktionen begriffen. Das heißt, sie werden begriffen als wahrgenommene
Erscheinungen in ihrem Bezogensein auf etwas, das außerhalb des Wahrgenom
menen liegt und von wo aus sie als sinnvoll begriffen werden können. Dabei kann es
sich beispielsweise um einen angestrebten Effekt handeln, wie etwa bei einer zielge
richteten Tätigkeit, oder aber auch um einen innerlichen Zustand, ein Gefühl mit
einer hieraus resultierenden Ausdrucksbewegung. In beiden Fällen vollbringt der
Mensch etwas. Es wird etwas getan, und was getan wird, geschieht durch den Leib.
Es ist unmöglich, das in dieser Betrachtungsweise aus dem unverkennbaren
Zusammenhang von Körperprozessen und Funktionen des Individuums ent
springende psycho-physische Problem nun auch innerhalb der Grenzen dieser
selben Betrachtungsweise zu lösen. Denn von diesem Gesichtspunkt aus sehen wir
den Menschen ja als ein sich verhaltendes Wesen und zugleich als ein physiko
chemisches System, in dem etwas geschieht. Eine Klärung der Beziehung zwischen
den so gewonnenen beiden unvergleichbaren Bildern wird erst ermöglicht durch
einen Standpunkt, von dem aus das leiblich sich verhaltende In-der-Welt-Sein als
unteilbar-einheitliche Seinsweise ergründet wird. Dann werden die Grenzen von
Physiologie und Psychologie überschritten, indem man beide Wissenschaften
philosophisch zu begründen sucht.
3. Die Möglichkeit, die objektiv meßbare Zeit und damit die beobachtete
Veränderung in immer kleinere Teile aulzuteilen (Differenzierungsmöglichkeit).
Die Naturwissenschaft ist berechtigt, die Erscheinungen als solche Prozesse
aufzufassen. Das entspricht der Stellungnahme eines Menschen, der als
Zuschauer ein Geschehen teilnahmslos beobachtet. Was stattfindet, geschieht
unabhängig von seinem Eingriff. Was er wahrnimmt, ist daher in diesem Sinne
objektiv. Über eine exakte Deskription hinaus wird die Wissenschaft darum
bemüht sein, durch das Aufzeigen des zureichenden Grundes, der jenes Verände-
. rangsdifferential herbeigeführt hat, zu einer Erklärung zu kommen. Auch dieses
Erklärungsbedürfnis entspricht dem alltäglichen Verhalten des Menschen; aber
hier ergibt sich doch ein Unterschied.
Zureichend ist in der klassischen Physik nicht ein logisch unabweislieher
Grund wie im menschlichen Dasein, sondern eine „K raft", die als quantitativ-
variabler Naturfaktor gedacht wird (Druck oder Stoß, die Anziehung von Massen,
von elektrischen Ladungen usw.). Für die moderne Physik hat dieser Kraftbegriff
nur einen vorläufigen und heuristischen Wert. Als Endziel der wissenschaftlichen
Forschung aber wird angestrebt, den Prozeß als eine nach mathematisch formu
lierbaren (auch etwa statistischen) Gesetzen sich vollziehende Veränderung zu
begreifen.
Wenn in Gegenüberstellung dazu das Geschehen als Funktion aufgefaßt wird,
so wird in bezug auf die Veränderung nicht gefragt, wie diese sich vollzog, sondern
was geschah, was getan wurde. Das bedeutet, daß eine derartige Frage vernünf
tigerweise nur gestellt werden kann, wenn man gewiß ist, daß der Endzustand nicht
bloß anders als der anfängliche ist, sondern eine andere Bedeutung hat. Bedeutung
hat etwas jedoch nur, wenn es als Wert auf etwas anderes bezogen wird, das als
Wertmaß gilt.
So denkt der natürliche Mensch, wenn er das Verhalten anderer beobachtet ,
und so denkt der Ingenieur. Eine derartige Überlegung kann rieh entweder auf eine
Maschine und ihre Funktion als Ganzes, also etwa auf die Fortbewegung eines
Fahrzeuges auf der Straße oder auf Schienen beziehen. Sie kann aber auch eine
Teäfunktion, also etwa das Gleichmaß einer rotierenden Bewegung oder den Ab
lauf einer Explosion betreffen. Die Prüfung eines Motors wird von der Frage
beherrscht, wie alle Teile funktionieren; sie setzt also voraus, daß etwas getan wird.
In dem Maße, wie dieses Etwas dem für das Tun geltenden Wertmaßstab ent
spricht, wird es als gut oder schlecht, d. h. als gelungen oder mißlungen, beurteilt.
Man könnte mit Recht bemerken, daß diese funktionelle Betrachtungsweise
eigentlich nicht das Geschehen selbst, sondern eine vorgestellte Beziehung betrifft,
. die nur für den beobachtenden Menschen besteht und daher relativ zu seinem
Standpunkt ist. Wenn man den Begriff der Naturwissenschaft auf die Erkenntnis
eines Geschehens also unabhängig von jeglicher als Wertung verstandenen Subjek
tivität, einschränkt, so ist die Technik in wesentlichen Teilen lediglich eine Lehre
der Maschinenkonstruktionen und keine Naturwissenschaft. Sie ist jedoch immer
zugleich eine objektive Wissenschaft, weil die Idee der Konstruktion und die aus ihr
hervorgehende Zusammensetzung der Maschine doch auch objektiv gegeben und
nicht bloß subjektive Vorstellungen sind.
In der Natur als Objekt der Naturwissenschaft sind nach der landläufigen
Ansicht keine Ideen wirksam und verwirklicht. Es besteht kern objektiv-sinnvoller
Prozeß und Funktion 9
gestaltet sich unter Abstraktion von den Qualitäten. Das ist die Bedingung
einer rein mathematischen Deutung und der durch sie erlangten Gewiß
heit der Erkenntnis. Die Entwicklung der quantitativen Methode wurde
jedoch nur durch die besondere Art des physikalischen Gegenstandes und der damit
verbundenen Fragestellung ermöglicht. Den Physiker interessiert, wie E ddington
sagt1, an einem konkreten Naturgeschehen wie denn Hinabgleiten eines Elefanten
auf einer schiefen Ebene ausschließlich die Masse, der Schwerpunkt, der Reibungs
koeffizient und der Neigungswinkel. Alles übrige gehört nicht zu seinem Gebiet.
Ganz anders ist der Aspekt der Biologie als selbständige Wissenschaft. Ein
mal kann man, ohne die Evidenz der Natur-Erfahrung zu verleugnen, unmöglich
von der Existenz tierischer Individuen und menschlicher Personen absehen. Zum
andern zeigt sich die Beziehung von Tier zu Umwelt nie als eine Reihe von
Prozessen, sondern sie offenbart sich immer nur in Erscheinungen, die sich in ihrem
Sinngehalt auf etwas anderes beziehen. Wir nennen diese Phänomene Funktionen
oder Verhaltensweisen, weil unter diesen Begriff nicht nur zweckgerichtete
Handlungen, sondern auch Ausdrucksbewegungen fallen, somit also sämtliche be
deutungserfüllten vitalen Bewegungen und Haltungen.
Diese Funktionen können wir beobachten und in ihrer Eigengesetzlichkeit
untersuchen. Das setzt jedoch immer eine Einsicht in den Sinn des Bezuges von
Individuum und Umwelt voraus. Dann erst kann man von Greifen, Suchen,
Abwehren, von Erhalten und Wiederherstellen des Gleichgewichtes, von Gehen,
Laufen usw., kurz, von allem, was Tier und Mensch tun können, sprechen. Von
all diesen Leistungen kann man nicht absehen, wenn man den Begriff der
lebendigen Haltung und Bewegung entwickeln und aufrechterhalten will. Dann
hat man jedoch methodisch den funktionellen Gesichtspunkt gewählt und bewegt
sich in einem gänzlich anderen phänomenalen Bereich als der Physiker und Tech
niker und auch als der physikalisch oder mechanisch denkende Physiologe, der sich
mit den im Körper ablaufenden Prozessen beschäftigt.
In der Lehre von den menschlichen Bewegungen spielen die Prozesse im Nerven
system dann auch nur insofern eine Rolle, als sie eine Teilbedingung für das Auf
treten der Funktionen darstellen. Zwar spricht man auch in der analytischen
Organphysiologie von Funktionen z.B. der Milz oder der Lunge und verbindet damit
die Vorstellung, diese Organe „täten" etwas zur Erhaltung des Individuums,
ähnlich wie man metaphorisch sagt, ein Maschinenteil „tu e" etwas. Es ist jedoch
klar, daß man sowohl in der Organphysiologie als auch bei der Beobachtung einer
funktionierenden Maschine ohne irgendwelchen Schaden und ohne Abänderung
der Untersuchung die teleologische Betrachtungsweise völlig vermeiden kann,
indem man einfach nur feststellt, daß ein bestimmtes Ereignis von einem anderen
gefolgt wird.
Das ist jedoch unmöglich, wenn man die Bewegungen als Funktionen auffaßt.
Die Aussage, man halte sich im Gleichgewicht, man richte sich auf, ergreife,
suche oder überspringe etwas usw., meint mehr als nur die Aufeinanderfolge einer
bestimmten Anzahl von Ereignissen. Die Funktion in ihrem konkreten Verlauf,
die Weise, wie man sein Gleichgewicht behauptet, etwas ergreift, springt usw.,
wird ja durch den angestrebten Endzustand bestimmt, d.h. durch das Zukünftige'.
zeugt, daß bei der experimentellen Erforschung der Prozesse (z. B. in der Thymus
drüse), die Frage führend ist, was die Funktion dieses Organes sei, d. h. was das
Organ „tue“ . So deutet auch die Grundtatsache, daß diese Brüse in der Jugend
groß ist und in der Pubertät verschwindet nach dem Urteil eines jeglichen
Physiologen auf eine funktionelle Bedeutung für das individuelle Leben hin,
welche die künftige Forschung wird klären müssen.
Bezüglich der Bewegungen ergibt sich eine ähnliche methodische Einstellung.
Auch hier kann man einerseits mit Hilfe der allgemeinen Physiologie der Neuronen
und ihrer Beziehungen das mögliche Geschehen deuten; andererseits kann man das,
was wirklich geschieht (z.B. eine Flexionsbewegung nach einem starken Hautreiz) er
fassen und als Prozeß analysieren; schließlich kann eine solche Flexionsbewegung
als Funktion, und zwar als Flucht vor einem schädlichen Reiz begriffen werden.
Bei der Frage nach dem funktionellen Zusammenhang vegetativer und ani
malischer Erscheinungen müssen gewiß auch psychologische Erfahrungen be
rücksichtigt werden, z. B. die Wärmeemßfindung bei der Temperaturregulation, die
Schmerzempfindung bei einer Fluchtbewegung. Zur Feststellung und Erforschung
der formellen Gesetzlichkeit als solcher jedoch ist eine psychologische Erkenntnis
ebensowenig notwendig wie die der körperlichen Prozesse.
Bei der Auffassung der Bewegungen als Funktionen geht es um vitale Bezüge
und vitale Werte, um Verhaltensweisen und Situationszusammenhänge, um
Stellungnahme, Aktion und Reaktion als objektiv feststellbare sinnvolle Phäno
mene.
1x1"diesem Sinne verstanden hat der „Behaviörismus“ als eine Lehre vom Ver
halten sich mit vollem Recht sowohl von der Schul-Physiologie als von der Schul-
Psychologie entfernt.
Zu Unrecht jedoch haben einige Forscher (W atson) versucht, die Verhaltens
lehre der Tiere als eine methodisch der physikalischen verwandte Beschreibung
und kausale Erklärung eines „Geschehens" aufzufassen. Dies wäre theoretisch nur
möglich, wenn man das spezifisch Biologische der Erscheinungen aus dem Auge
verlöre. •Wenn aber der Behaviorist (und der Physiologe) für die tierischen Bewe
gungen Bezeichnungen wählt, die nur dann begrifflich inhaltvoll sind, wenn sie
sich auf deren als sinnvoll, d. h. als Funktionen begriffenen ungeteilten Verlauf
beziehen, so geschieht das nicht nur „vorläufig*' oder „der Kürze halber'*.
Wie unabweisbar sich die Sphäre der Verhaltensweisen als eigenes phäno
menologisches Thema der Wissenschaft aufdrängt, mag ein Beispiel erläutern.
V on Ü xküll , der sich einer Psychologisierung der Begriffe bei der Untersuchung,
der Bezüge von Tier und Umwelt heftig widersetzte, hatte dennoch kein Bedenken,
als sein Schüler B rock bei der Beschreibung des Verhaltens einer Eremitkrabbe
gegenüber einer Seeanemone von Sich-Nähem, Abwarten, Angreifen usw. sprach.
Auch ein Neurophysiologe wie Magnus kann nicht umhin, von einem Sich-Auf-
richten, Sich-Hinlegen, éiner Erhaltung des Gleichgewichtes, einem Sich-Um-
wenden beim Fallen, also von Verhaltensweisen zu sprechen.
Man kann dabei die Verwendung dieser Begriffe nicht mit einem Haften an
einem unwissenschaftlichen Sprachgebrauch erklären, sondern sie ist kennzeich
nend für die Denkweise, welche die experimentelle Forschung beherrscht. Die
integralen Bilder des elementaren tierischen Verhaltens, auf welche diese Be
griffe abheben, sind in ihrer Einheit als Bezugsformen von Tier und Umwelt, als
Funktionelle Bewegungslehre ist keine Bewegungspsychologie 15
menschen. Diese Einsicht wurzelt in einem „Vermögen", wie wir auch ein Ver
mögen zur Wahrnehmung von Farben und Formen und zur Erkenntnis ihrer
wesentlichen Verwandtschaft besitzen.
Keines der menschlichen Vermögen ist unfehlbar, doch verbürgen sie die
Möglichkeit eines Wissens von einein bestimmten phänomenalen Bereich. So
können wir grundsätzlich den Sinn der vitalen Funktionen erkennen und so auch
über die Möglichkeit eines objektiven Urteils hinsichtlich der Bedeutung der Be
wegungen verfügen. Den Beweis für die Richtigkeit dieses Urteils wird man viel
fach ebensowenig unmittelbar erhalten können, wie auf anderen Gebieten der
Naturwissenschaft. Dementsprechend wären dann auch sämtliche experimentellen
Kontrollen und Motivierungen aus anderen Wissenschaften (analytische Physiolo
gie, Psychologie, Anthropologie) erforderlich, um dem Urteil die Gewißheit zu
verschaffen, die im „direkten“ Verstehen allein nicht genügend gewährleistet ist.
1 N a torp - R : Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaft, S. 366. Leipzig und
Berlin 1910.
Gesetz und Prinzip 17
und Absichten des handelnden Individuums) zu vermeiden, aber sie verkannte die
Tatsache, daß die Beschreibung immer schon eine Erklärung enthält, Was jedoch
in jeder Wissenschaft vermieden werden soll, ist eine Beschreibung des Ablaufs der
Erscheinungen, als seien sie der äußere Aspekt einer verborgenen Wirklichkeit,
Daß es eine von unserem Denken unabhängige Wirklichkeit gibt, mag dem For
scher eine innere Gewißheit sein ; es ist jedoch immer die Frage, ob wir über die
Mittel verfügen, diese Wirklichkeit kennenzulernen. Der Positivismus z. B.
verneint dies.
In der modernen Physik findet diese sog. vorsichtige Haltung viele Anhänger.
Das Ideal der Wissenschaft liegt dann ausschließlich in einem Festlegen der
Gesetzlichkeit der Erscheinungen, ohne Spekulation über Ursachen, ohne «imagerie
physique» (D u h e m ). Dennoch ermittelt auch die physikalische Erkenntnis Ur
sachen, selbst wenn der Physiker sie nicht als solche bezeichnet.
Für die methodische Grundlegung einer Bewegungslehre ist die Einsicht von
Bedeutung, daß in der Physik die ergründeten Gesetze als Annäherungen an den
wirklichen Zusammenhang der Erscheinungen aufgefaßt werden. Mit den in
den mathematischen Formulierungen der Gesetze vorkommenden Begriffen
{Masse, Kraft, Energie usw.) will der Physiker ja auf die Wirklichkeit Hinweisen.
Diese Hinweise sind unvermeidlich, denn die Forschung schöpft aus ihnen neue
Möglichkeiten. Das Feststellen der Gesetze ist wichtig, aber was man als
Wirklichkeit betrachtet, ist die Triebfeder der Wissenschaft, »qui ne peut pas
s’empêcher de rechercher une explication en dehors de la loi, au delà de la loi«
(Meysrson )1.
Eine Bewegungslehre, die sich als eine selbständige Wissenschaft der funktio
nellen Beziehungen von Individuum und Umwelt entwickeln möchte, wird die
Wechselwirkung zwischen der Beschreibung der Regelmäßigkeit des Geschehens
einerseits und den hypothetischen Annahmen bezüglich des tätigen Individuums
andererseits immer beachten müssen. Es geschieht dies in dem Bestreben, neben
der Erkenntnis der Gesetze Prinzipien zu ergründen.
Die Prinzipien, derer sich die Wissenschaft bedient, um die Regelmäßigkeit der
Erscheinungen zu begreifen, haben für unsere Erkenntnis nicht den gleichen Wert,
wie das Feststellen der Naturgesetze. Die Prinzipien sagen nichts aus über den
konkreten Verlauf der Ereignisse, sondern sie sind „die obersten Voraussetzungen,
gemäß welchen eine theoretische Darstellung der Bewegungen nach ihrem gesetz
lichen Zusammenhang überhaupt nur möglich ist" (N atorp)8,
In der Physik kennt man eine Anzahl von Prinzipien oder Grundsätzen. Außer
dem Trägheitsprinzip sind die Minimumprinzipien bereits in der klassischen
Physik aufgestellt worden, u. a. das Prinzip der kleinsten Zeit (F e r m â t ) und der
kleinsten Wirkung (M a u p e r t ü is ). In der modernen Physik kennt man die Un-
bestimmtheitsrelation (H e is e n b e r g ) und das Relativitätsprinzip (E i n s t e in ).
Oft hat man die Begriffe Grundsatz und Gesetz nicht scharf genug unterschie
den. So spricht man manchmal vom G esetz, manchmal auch vom Prinzip von der
Erhaltung der Energie. Cl a y zieht es vor, vom Energieprinzip zu sprechen. Man
kann mit diesem Begriff nämlich den Gedanken verbinden, „daß dieses Prinzip
unabhängig ist von Ort und Zeit und von subjektiver Willkür und dadurch eine
objektive Realität hat, welche sich uns in der erkannten Form aufdrängt"1.
Die Voraussetzungen, die in den Prinzipien ausgedrückt sind, beziehen sich
auf den gegebenen Gegenstand der Wissenschaft, in der Physik also auf die
Materie, Zeit, Raum, Bewegung oder Energie. Sie verweisen auf die dynamischen
Eigenschaften des auf seine gesetzlichen Veränderungen hin erforschten Gegen
standes, auf unveränderliche, unreduzierbare Merkmale also, welche die Grund
struktur des Geschehens bedingen. So ist es begreiflich, daß in der Physik die
Grundsätze oft in der Art formuliert werden, daß von einem Streben oder von
Tendenzen geredet wird. Man sagt, daß es ein Streben nach Gleichgewicht, nach
einem Verlauf in der kürzesten Zelt und gegen ein Minimum von Widerstand gäbe
sowie nach der Erhaltung von Stoff und Energie. In der Physik ist man sich des
metaphorischen Gehaltes derartiger Ausdrücke ebenso bewußt wie in der Chemie,
wenn man von Affinitäten spricht®.
Aber ist das in den Lebenswissenschaften auch der Fall ? Gibt es nicht bei den
Organismen in Wirklichkeit Strebungen, Tendenzen, Affinitäten ? Weisen nicht
die Prinzipien der Biologie auf die wirklichen Grundstrebungen hin ?
Es ist für die Wissenschaft, die doch auch in der Biologie nur die Erscheinungen
der Natur zum Gegenstand hat, nicht notwendig, diese Fragen zu beantworten.
Wenn etwa in der Biologie das Prinzip der Selbsterhaltung oder der Erhaltung der
Art als Voraussetzung und Leitfaden zum Ordnen der Erscheinungen angenommen
wird, so ist es gleichgültig, ob es in der lebendigen Natur wirklich solch ein Streben
gibt. Aber es ist eine unabweisbare Tatsache, daß sich die Natur so offenbart,
als ob dem so sei. Vielleicht liegt hinter diesem erscheinenden Streben eine andere
Wirklichkeit verborgen.
Da es ebenso wie in der Physik in der Biologie viele Prinzipien gibt, stellt sich
die Frage nach ihrem gegenseitigen Zusammenhang, ihrer Rangordnung und nach
ihrer Reduzierbarkeit auf andere Prinzipien. Dabei muß die fortschreitende
Forschung den Weg zeigen. So entsteht eine Verbindung zwischen Naturwissen
schaft und Naturphilosophie, die in der modernen Physik vielfach bewußt auf
genommen wird. In den Lebenswissenschaften ist dieses Band viel inniger, denn
der Fortschritt von Forschung und Einsicht hängt in dieser Wissenschaft engstens
mit der Entdeckung neuer Prinzipien und mit den Annahmen einer in der
Existenz von Mensch und Tier wurzelnden Wertordnung zusammen. Nach der
ganz elementaren Selbsterfahrung des Menschen sind die motorischen Funktionen
von Strebungen abhängig. Wenn man jedoch eine Psychologisierung der funk
tionellen Betrachtung vermeiden will, so spricht man besser nicht vom bewußten
oder unbewußten Charakter solcher Strebungen oder Tendenzen, sondern von den
Prinzipien, die den formalen Ausdruck solcher Strebungen darstellen.
Die Bewegungslehre wird dann zu einer methodisch begründeten Beschreibung
der Funktionen im oben entwickelten Sinne. Sie will die geltenden Gesetze
(Regeln) für die als Funktionen begriffenen motorischen Erscheinungen kennen**
1 Clay , J .: a. a. O. S. 98.
* Prof. Dr. A. G. M. van Melsen (Nijmegen) ist der Ansicht, daß ein© Unterscheidung
zwischen Gesetz und Prinzip in der Physik nicht mehr sinnvoll ist. Ein Prinzip wird durch
eine Integralgleichung, ein Gesetz durch eine Differentialgleichung dargestellt. (Margenau ,
H .: The nature o f physical reality, S. 422 ff. New York 1950.)
Gesetz und Prinzip 19
lernen. Daneben jedoch ist es ihre Aufgabe, die Prinzipien zu ermitteln, die im
Wesen von Mensch und Tier gründen.
Ein ideales Beispiel der funktionellen Betrachtungsweise einer menschlichen
Bewegung finden wir in der von L isting, D onders und H elmholtz durchgeführ
ten klassischen Untersuchung der Augenbewegungen. W ir müssen uns bei dieser
Forschung etwas länger aufhalten, weil sie es uns ermöglicht, die methodischen
Grundlagen einer Bewegungslehre besser als durch eine rein theoretische Reflexion
kennenzulernen.
Es war schon seif langem bekannt, daß die beiden Augen des Menschen sich
immer gleichzeitig, in gleicher Richtung und in gleichem Maße bewegen, obwohl den
anatomischen Gegebenheiten nach die Möglichkeit einer Einzelbewegung durchaus
bestehen bleibt. Die scheinbar zwangsläufige Verbindung der Augen beruht
nicht auf Prozessen im Nervensystem, sondern auf den im normalen Leben
immer vorhandenen Bedingungen einer binocularen Wahrnehmung. Man kann
daher auch durch Übung die normale Lage der Sehlinien innerhalb gewisser
Grenzen verändern. Man kann dies auch durch das Anbringen eines Prismas vor
einem Auge und einige andere experimentelle Bedingungen erreichen.
Durch die äußeren Augenmuskeln vermögen wir unseren Sehlinien jede
Richtung zu geben. Auch eine Drehung um die Sehlinie ist möglich. Man nennt
diese Bewegungen des Augapfels raddrehende Bewegungen, weü die Iris dabei wie
ein Rad gedreht wird. Solche Rotationsbewegungen können wir nicht willkürlich
ausführen. Sie treten jedoch, wie H elmholtz aufzeigte, unwillkürlich auf, wenn
man das Gesichtsfeld vor einem der Augen durch ein Doppelprisma (mit nicht ganz
parallelen Seiten) einer geringen Verkantung unterwirft.
L isting aber hat aufgezeigt, daß auch beim normalen Sehen rotierende
Bewegungen der Augen Vorkommen. Wenn man ausgeht von der sog. primären
Stellung der Sehlinien (ungefähr übereinstimmend mit einem geradeaus gerich
teten Sehen bei „natürlicher“ Haltung des Kopfes), so treten bei vertikalen oder
horizontalen Bewegungen des Fixationspunktes keine Rotationsbewegungen des
Augapfels auf. Wenn man jedoch die Augen zugleich oder nacheinander um eine
vertikale und eine horizontale Achse dreht, wie man das beim Schauen in die Ecke
des Zimmers ohne Kopfbewegungen tut, so findet eine Raddrehung statt, die für
jede Blickrichtung einen bestimmten Wert hat. Dieser Wert kann in einer Formel,
in der die Winkel der horizontalen und vertikalen Augendrehungen verkommen,
ausgedrückt werden.
: Wie D onders gezeigt hat, wird das Ausmaß der Rotation ausschließlich
durch den Endstand der Sehlinien bestimmt. Sie ist unabhängig von den zu
diesem Endstand führenden Augehbewegungen. Die Rotation ist also gleich
groß, ob man nun sofort schräg aufwärts schaut, oder aber die Augen zunächst
seitwärts und.dann aufwärts-wendet. Das Gesetz von D onders lautet'also auch:
„wenn die Lage der Sehlinien im Verhältnis zum Kopfe gegeben ist, so gehört dazu
eine bestimmte und unveränderliche Rotation“ .
W ir haben es hier mit einem echten und sogar mathematisch' formulierbaren
Bewegungsgesetz zu tun, d. h. mit einer gesetzmäßig verlaufenden Funktion. Daß
dies tatsächlich der Fall ist und hier nicht ein Prozeß im Körper, sondern eine
Funktion des Organismus vorliegt, geht aus der Weise hervor, wie das L isting-
DoNDERSsche Gesetz erklärt wird.
2*
20 Prinzipien einer funktionellen Bewegungslehre
eigenen Art der tierischen und menschlichen Existenz gründet. Solange wir diese
Art nicht durchschauen und als ungeteilte Einheit begreifen können, werden wir
dazu neigen, mehrere unabhängige Prinzipien zur Erklärung der Vielfalt der
Erscheinungen vorauszusetzen. Tatsächlich findet man in der Biologie eine
Anzahl regulativer Prinzipien, die jeweils eine beschränkte Tragweite zu besitzen
scheinen und deren gegenseitiger Zusammenhang noch völlig ungeklärt ist. Dies
ist verständlich, da ein Prinzip oft aus einem sehr beschränkten Erfahrungsgebiet
gewonnen wird. Die fortschreitende Forschung lehrt dann meistens, es als eine
besondere Erscheinungsweise eines umfassenderen Prinzips zu begreifen.
Mit diesem Problem der Tragweite und des gegenseitigen Zusammenhangs der
Prinzipien in der Bewegungslehre hat sich G oldstein beschäftigt1. Er warnt vor
der Annahme einer Vielheit von Grundsätzen. Das organische Leben wird, wie er
meint, nur von einem Prinzip beherrscht, das in bestimmten Situationen auf
verschiedene Weise zum Ausdruck kommt. Dies Prinzip sei uns — nach G old
stein — in der Tat bekannt: das Grundprinzip, nach dem alle Aktivität auf
einer „Auseinandersetzung zwischen Organismus und Umwelt“ beruht, beherrsche
alle animalischen Leistungen. Die Weise, wie einer konkreten Situation ent
sprochen wird, hängt jedoch von der besonderen Aufgabe ab, die der Organismus
erfüllen muß. Es gibt immer ein Verhalten, welches als das zweckmäßigste und
bequemste vorgezogen wird. Dieses „Prinzip des ausgezeichneten Verhaltens“
werden wù* unten ausführlich besprechen und es wird sich zeigen, daß es nicht
auf das' Prinzip der Ökonomie zurückzuführen ist.
Sowohl die Gesetze als auch die Prinzipien der Lebenswissenschaften beruhen
bislang auf einer sehr fragmentarischen Erfahrung. Man kann höchstens von
einigen Regeln und Annahmen sprechen. Dies gilt namentlich für die Bewegungs
lehre, die über einen ersten Versuch der Ordnung der Funktionen noch nicht
hinausgekommen ist. Wenn sie sich zu einem vollständigen und gesicherten
System der Erkenntnis auswachsen soE, so wird die empirisch festgestellte
Gesetzmäßigkeit in Haltung und Bewegung fortlaufend aus Prinzipien begriffen
werden müssen. Es wird sich dann heraussteilen, daß manche der vorläufig an
genommenen Grundsätze auf Gestaltmerkmale zurückzuführen sind, andere
dagegen Erscheinungsweisen des Strebens nach Selbsterhaltung darstellen. Zwei
Grundsätze haben sich jedoch bis jetzt in der Bewegungslehre als selbständige
Prinzipien behaupten können : das Prinzip der besten Orientierung, vermittels
dessen H elmholtz die Gesetze der Augenbewegung meisterhaft erklärte, und
das Prinzip der Ökonomie in der Ausführung, das die ganze Arbeitsphysiologie
beherrscht.
II. D ie Selbstbewegung
1. Kennzeichnung der Selbstbewegung
Die Erscheinung des sich bewegenden Menschen oder Tieres behält ihre
Eigenart bei, auch wenn die Selbst-Bewegungen sinnlos sind, sofern man das sich
bewegende „Selbst" als unabhängig von der Situation betrachtet. Es erscheint
eine eigentümliche Art der Bewegung, die man in schematisierter Form auch an leb
losen Gegenständen beobachten kann. M ichotte2 hat diesen Sachverhalt in
3____________
überzeugender Weise aufgezeigt. Verändert man die Form eines auf ein weißes
Tuch projizierten schwarzen Fleckes, so entsteht unter bestimmten Bedingungen
der Eindruck einer spontanen (Selbst)-Bewegung. Die Bewegung, z. B. nach Art
eines Wunnes oder einer Raupe, scheint dann nicht von außen her verursacht zu
werden als ein Ausstülpen, Vorrücken, Größerwerden, Ausfließen u, ä., sondern
erscheint als eine von innen her bestimmte Bewegung des Fleckes als Ganzem.
Sie wird als Selbstbewegung bezeichnet, weil es scheint, als entstehe sie von selbst
(spontan) und als sei sie die Äußerung eines unabhängigen, selbständigen
Aus-sich-selbst-Seins. Die Untersuchungen Michottes zeigen, daß der Begriff
der Selbstbewegung — ebenso wie etwa die Erfassung des ursächlichen Zusammen
hanges — der Anschauung entspringt und dennoch einen rational begründeten,
verstandesmäßigen Inhalt hat. Die Selbstbewegung schließt den Begriff eines
„S elbst" ein, jedoch noch nicht im Sinne eines sich verhaltenden Subjekts und
erst recht nicht im Sinne eines erkennenden oder zielstrebigen Subjekts. Das
„S elbst", das sich selbst bewegt, ist nur ein Seiendes, das sich durch seine Begren
zung als ein gestaltetes Ganzes zeigt und diese Begrenzung in der Bewegung
überschreitet. Deshalb stellt die Selbstbewegung in der Anschauung etwas ganz
anderes dar als das (pflanzliche) Wachstum. Während hierbei eine Grenze ver
schoben und eigentlich — man denke etwa an eine zeitraffende Filmreproduktion
wachsender Pflanzen — in dem Mehrwerden, Aufsteigen, Sich-Erheben und Aus
dehnen eine „ekstatische" Bewegung vollzogen wird, kennzeichnet die tierische
Selbstbewegung eine Selbst-Beständigkeit in der Verwandlung. Das Tier-Sein
ist nicht begrenzt, sondern es hat eine Grenze, d. h. es verwirklicht sein Sein auch
an dieser Grenze. Das Tier-Sein demonstriert diese Seinsweise, indem es nicht
— wie ein toter Gegenstand — durch eine Begrenzung bestimmt und eingeschlos
sen wird, sondern über diese Begrenzung verfügt.
Mit Recht hat man von alters her die Selbstbewegung als wichtigstes Kenn
zeichen des tierischen Lebens angesehen, trotz der Unklarheit dieses Begriffes
in logischer Hinsicht. Niemand kann ja die Frage beantworten, was oder wo
dieses Selbst ist, das sich selbst bewegt, ebensowenig wie man das Zustande
kommen dieser Bewegung verstandesmäßig fassen kann. Die Selbstbewegung
ist nicht zu begreifen, aber sie ist wahrnehmbar, und zwar so evident, daß dieser
Begriff sich innerhalb und außerhalb der Wissenschaft trotz seiner fehlenden
Klarheit behauptet.
Unter welchen Verhältnissen wir von Selbstbewegung sprechen und welche
Bedeutung dieser Begriff für den Umgang mit Lebewesen und für ihre Beurteilung
hat, läßt sich an einem einfachen Beispiel erläutern. Stellen wir uns einen
Schwerkranken oder einen von einem ernsten Unfall Betroffenen vor, bei dem die
Frage beantwortet werden soll, ob er noch lebe oder schon gestorben sei. Man
wird in einem solchen Falle nach einem Kriterium, einem eindeutigen Lebens
zeichen suchen. Der Arzt wird dabei indirekt vorgehen können und dies in
Ermangelung eines direkten Kriteriums tun müssen. Das Urteil gründet sich
dann auf die Erfahrung von Vorgängen, die ablaufen, wenn das Leben noch
nicht erloschen ist. Ein solcher Vorgang ist der Kreislauf, den man am
einfachsten am regelmäßig klopfenden Herzen feststellen kann. Diese Erschei
nung ist jedoch nur ein Anzeichen, dessen indikativer Wert auf Erfahrung
beruht.
Kennzeichnung der Selbstbewegung 23
Dem Laien ist die Atmung ein viel deutlicheres Zeichen des noch vorhandenen
Lebens, Sie ist eine Bewegung, und zwar die erste des selbständig in die W elt
tretenden Neugeborenen, und, wie man glaubt, auch die letzte vor dem Tode.
Die Atmung ist kein Zucken der Muskeln, das auch nach dem Tode noch auf-
treten kann, sondern eine Funktion, die wir unbewußt sogar im tiefsten Schlaf
vollziehen. W er atmet, tut etwas, und so betrachtet man die Atmung häufig
als ein unverkennbares Kriterium des Lebens. Die Person muß ja noch leben, muß
selbst, wenn auch nur bewußtlos, noch da sein, um selbst etwas leisten zu können.
Der Arzt jedoch urteilt von einem anderen Gesichtspunkt aus. Er weiß auf
Grund von Tier-Experimenten von der Automatic der Atmungsbewegungen und
ist daher der Meinung, daß nur scheinbar die Person atmet, während in Wirklich
keit ein Teil des Nervensystems, eine Zellgruppe im verlängerten Mark den
Atemmuskeln rhythmische Reize sendet. Die Atmung gilt ihm daher als ein
Prozeß (oder als die Funktion des „relativ selbständig lebenden“ Atemzentrums).
Gewiß, die Erfahrung spricht dafür, daß auch die Person meist noch lebt, solange
die Atmung nicht stillsteht. Das bedeutet jedoch nichts anderes als die
empirische Gewißheit, daß der noch atmende Mensch die Möglichkeit der Selbst
bewegung hat. Er ist bewußtlos, vielleicht bald tot, doch er kann auch wieder
„zu sieh“ kommen.
Es ist also klar, daß sowohl dem Arzt als dem Laien nur die Selbstbewegung das
objektive Kriterium für das persönliche — oder beim T ier: das individuelle — Leben
ist. Deshalb wird in dem geschilderten Falle von den ängstlich Umstehenden und
vom Arzt nach dem Vorhandensein eben dieses Kriteriums gesucht. Schon eine re
aktive Bewegung, z, B. auf einen starken Hautreiz hin, zeigt m it großer Wahr
scheinlichkeit, daß der Mensch selbst noch lebt, nicht bloß in ihm noch etwas lebt,
Gewißheit gibt es jedoch erst dann, wenn der Bewußtlose nicht durch einen
Reiz in Bewegung kommt, sondern sich spontan bewegt. Es ist dies der Fall,
wenn er sinnvoll auf einen Eindruck reagiert, die Augen beim Anruf aufschlägt
oder die Hand drückt, welche die seine hält. Dann ist er also wieder „bei sich".
Der Unterschied zwischen Leben und Tod des Individuums kann durch eine
analytische Untersuchung überhaupt nicht festgestellt werden. Die Analyse
kann lediglich mehr oder weniger bestimmbare Bedingungen der Möglichkeit der
Selbstbewegung ermitteln, die sich in der unmittelbaren Wahrnehmung als d ai
ausschließliche Kriterium des individuellen Lebens darstellt.
Wenn bei einem völlig gelähmten Menschen durch künstliche Atmung die
Blutzufuhr zu den Organen und die in ihnen stattfindenden Prozesse ermöglicht
werden, so sind wir nicht in der Lage, zu unterscheiden, ob der Mensch noch
lebt, oder aber ob nur die Organe in ihm fortleben, ihn überleben. Nuj: hypo
thetisch wäre darüber etwas auszusagen1.
Wenn man die Quelle unserer begründeten, gesicherten, gültigen und daher
objektiven Erkenntnis ausschließlich in der Analyse und der darauf eventuell
folgenden Synthese suchte, so hätte der Begriff der Selbstbewegung keinen
wissenschaftlichen Gehalt.
1 W eizsäcker , V. v o n : (Der Gestaltkreis, S. 167. Leipzig 1943) bemerkt: „Physik
setzt voraus, daß in der Forschung ein Erkenntnis-Ich einer W elt als einem von ihr unabhän
gigen Gegenstand gegenübergestellt sei. Biologie erfährt, daß das Lebende sich in einer
Bestimmung befindet, deren Grund selbst nicht Gegenstand werden kann.“
24 Prinzipien einer funktionellen Bewegungslehre
Über den Begriff „Synthese" herrscht in dieser Hinsicht ein sehr verbreiteter
Irrtum, Man meint, es ließe sich in einer Synthese wiedergewinnen, was bei
einer analytischen Betrachtungsweise verlorenging. Es könne also eine nach
trägliche Zusammenfügung der beobachteten Teilprozesse zu einer vollständigen
Einsicht in das individuelle, funktionelle Verhalten führen. Diese Ansicht ist
aus zwei Gründen irrig. Erstens schließt die Analyse der Erscheinungen als Pro
zesse einen Übergang zur funktionellen Betrachtungsweise aus. Zweitens setzt
die Analyse den physikalischen Raum voraus, wogegen die individuellen Funk
tionen, auch die Selbstbewegungen, sich in der Sphäre der Beziehung zwischen
dem Selbst und dem Fremden vollziehen. Man kann die allgemeinste, unspezifi-
sche Form einer solchen Beziehung bereits an einem sinnlos in einem bestimmten
Felde sich bewegenden lebendigen „Etw as" (oder dessen Abbild) beobachten.
Sie zeigt schon das Zum-Anderen-Sein in der eigenen Begrenzung, durch die das
andere als Widerstand begegnet und zugleich überschritten wird.
2. Das Subjekt
In der Anschauung der Selbstbewegung erfassen wir das Selbst-Sein als ein
Subjekt-Sein (ein être sous-jeté), das ebensosehr der eigenen Begrenzung unter
worfen ist als es andererseits das Vermögen ihrer Überschreitung impliziert.
Dies ist die animalische Art des In-der-Welt-Seins.
Wenn wir für das animalische Leben den Begriff der Selbstbewegung prägen,
so m uß dieser als das Kriterium und Wesensmerkmal der animalischen Existenz
verstanden werden. Das bedeutet nicht nur die Bildung eines philosophischen,
sondern auch eines wissenschaftlichen Begriffes.
Als philosophischer Begriff führt er zu der Frage, was dieses ,,Selbst", das
sich bewegt, in Wirklichkeit sei; als wissenschaftlicher Begriff läßt er uns fragen,
welche Einsicht in die Ordnung der Naturerscheinungen durch diesen Begriff
erworben werde.
Hier soll uns nur dies letztere Problem beschäftigen, und zwar insbesondere
im Hinblick auf die Lehre der menschlichen Bewegung. Im voraus m issen wir
uns darüber im klaren sein, daiß das „Selbst" als Subjekt, das bewegend Über
den eigenen Leib verfügt und sich als Ursache der wahrgenommenen Bewegung
offenbart, nicht „irgendw o", etwa im Nervensystem lokalisiert, und ausfindig
gemacht werden kann1.
Die animalischen Funktionen setzen ein Subjekt voraus, das sich bewegt
und — Eindrücke empfangend — bewegt wird. Ebenso wie der Funktions
begriff, ermöglicht erst der Begriff des Subjekts eine Bewegungslehre. A lle
konkreten Erfahrungen über das Verhalten von Mensch und Tier werden dadurch
a priori begründet. Wahrnehmung, Handlung und Ausdrucksbewegung sind die
drei wichtigsten Verhaltensfunktionen, die sich in der Bezugssphäre von Indi
viduum und Umwelt vollziehen und die den Begriff des Subjektes voraussetzen.
Das Subjekt ist es, welches etwas wahmimmt, tut, oder zum Ausdruck bringt.
Deshalb sagt von W eizsäcker mit R echt: „Leben erscheint, wo etwas sich
bewegt, also durch angeschaute Subjektivität“ *. Sehr wichtig ist in dieser
1 Vgl. über den Zusammenhang vom Erleben des „Selbst" und eines „inneren Raumes"
Abt. IV (Die Problematik der Ausdrucksbewegungen).
1 W eizsä c k e r , V. v o n : Der Gestaltkreis, S. 167. Leipzig 1943.
Das Subjekt 25
b riD ÏÏ kS ta n d ig e " jedoch ist uns nur in Form lebender Organismen gegeben,
y as aue, » . M Xier 0<jer diesen Menschen nennen,
d ifz u d ‘e ich überall und nirgends im Tier oder Menschen
Mensch selbst; sie ist nicht etwa der K op f oder
S c ü e L nod* hgendein Bewußtseinsinhalt, sondern „fcriW " dies alles als
? i n L Der Mensch kann sich selbst und auch etwas anderes bewegen,
ÏÏÏÏÂ £ ^ ere — men,
verlieren. Das SuhjeW i s t t o t r je n d e Ç ™ d a t e R e g u n g ,
£
und jedweder Form e* ® j Monade nennen, ein echtes »ens singulare«,
T r Z ed?c1ion« u n te ü b a rT d einfach, ohne Gestalt oder Räum lich
e n ê t a cajm bfed action«, u einen Tein metaphysischen Punkt. V fir
keit, ohne En s e en diesem Begriff der Monade ausschließlich
in der M m Inhalt zukommt. D eutlich
sagt das die scholastische Philosophie: B as Subjekt ist kem „ens" sondern nur
quo ens est", wodurch das Seiende ist. ç .
Dennoch ist.e s von größter Bedeutung, das Subjekt m unsere Betrach
tungen über die menschliche Bewegung e r f ü h r e n oder, anders gesagt, d ie «
Bewegungen als Selbstbewegungen zu verstehen. Aber wenn das Subjekt
philosophisch nicht anders zu bestimmen ist, denn als metaphysischer Punkt,
also ohne Dimension, Inhalt und Form, ja wenn es nicht einmal „ens“ , sondern
nur das „W odurch“ des Seienden ist, wo kann dann der W ert eines solchen
Begriffes in der Wissenschaft liegen? Ist es nicht eine bloße Anlehnung an den
üblichen Sprachgebrauch, wenn man in dem Erfahrungsgebiet der W issenschaft
von einem Subjekt spricht?
Selbstbewegung und Reflex 27
Der Begriff Subjekt scheint mir von grundsätzlicher Bedeutung zu sein, weil
erst der Begriff der Selbstbewegung als Grundkategorie der lebendigen mensch
lichen Bewegungen die Einsicht in solche Bewegungen ermöglicht,
ihren Nägeln. Aber sie möchten unter keinen Umständen einen abgeschnittenen
Nagel kauen,.auch wenn er der eigene ist. Ein Blutstropfen, der nach einem Stich
in den Finger hervorquillt, erregt weniger Abneigung, als Blut an einem Taschen
tuch, einer Tasse oder einem Tellerrande — und sei es das „eigene". Wir könnten
diese Beispiele vermehren. Der Psychiater und der Kinderpsychologe wissen,
welch eine große Rolle der Ekel im Zusammenhang mit „eigen" und „frem d"
beim Aufbau des normalen menschlichen Lebens, der zwischenmenschlichen
Beziehungen von Liebe und Haß und ihrer pathologischen Entartungen spielt.
Die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden ist eine der wich
tigsten Grundlagen für die Einsicht in den Begriff der Leiblichkeit. Unser Leib
ist dasjenige, was uns am meisten von allen erfahrbaren Dingen eigen ist, das uns
am wenigsten fremd, am wenigsten entgegen und also am wenigsten zuwider ist.
Der Leib ist das fühlbare, tastbare Eigene. Er ist auch deshalb unser eigener, weil
wir ganz über ihn verfügen. Soweit der Mensch sich als Subjekt, als sich Selbst
bewegendererlebt, vermittelt ihm der eigene Leib die Außenwelt, d. h. das „andere".
Durch den Leib kann ein fremder Gegenstand seine Fremdheit und Unzugänglich
keit verlieren und sich uns angliedem als etwas, das dann mehr ein Stück von
uns selbst wird. Vor allem dann, wenn der Gegenstand an unseren Bewegungen
teilnimmt, z, B. unsere Kleidung, ein Federhalter, ein Spazierstock, dehnt
sich unser I eib gleichsam auf ihn aus. Wir tasten die Außenwelt mit ihm ab,
beherrschen ihn dermaßen, daß auch die feinsten dynamischen Nuancen auf ihn
übertragen werden können.
Den sich bewegenden Leib haben wir als dasjenige, wodurch wir auf das
Uneigene, Andere, Fremde einwirken. Aber wir sind auch unentrinnbar Leib in
der Subjekt-Werdung gegenüber der Außenwelt; für die wir zum Objekt werden
können. Wenn man meine Hand berührt, berührt man mich selbst; wenn ich
nach etwas greife, bewege ich selbst meine Hand. Wenn L eibn iz sagt: »Toute
action appartient à un sujet«, so muß man dies ergänzen, indem man sagt:
toute passivité appartient à un sujet. Das leiblich-körperliche In-der-Welt-Sein
als Subjekt ist das Erfahren und Überwinden von Widerstand, es ist das Be-
stimmt-Werden und das Bestimmen, ist Eindruck und Ausdruck und deshalb
auch Wahmehmcn und Sich-Bewegen. Die Einheit beider, in der Existenz
begründet, ist der tragende Grund für die Ursprünglichkeit des Gegensatzes von
eigen und fremd, von Selbst-Sein und Anderes-Sein.
Die Bedeutung des Gegensatzes eigen— fremd für die Entfaltung von Selbst
gefühl und Selbstbewegung zeigt sich vielleicht am deutlichsten, wenn wir die
funktionelle Störung, die in dieser Polarität auftreten kann, ins Auge fassen.
Sie ist seit JANET in der Medizin als die psychasthenische Entfremdung der
Außenwelt und die damit einhergehende Selbstentfremdung bekannt. Es kommt
vor, daß der Psychastheniker, der alle Dinge sehr scharf wahmimmt und gut und
logisch denken kann, alles Gewöhnliche als unwirklich erfährt, weil es ihm nicht
opponiert ist, ihn nicht zum Subjekt macht. Diese Entfremdung geht einher
mit einem „Fremd"-Werden der eigenen Bewegungen, des Gehens, des Schreibens
und des Sprechens. Objektiv ist dabei keine einzige Bewegung gestört, aber der
Patient durchlebt die Selbst-Bewegung in ihrem Vollzug nicht mehr als die
eigene, nicht mehr als Selbstvollzug, sondern als mechanisch verlaufend. Diese
sog. funktionelle Störung oder Neurose ist dann keine Störung einiger Funktionen,
30 Prinzipien einer funktionellen Bewegungslehre
sondern eine Störung im Wesen der Persönlichkeit, Sie verweist auf die Bedeu
tung der Subjektivität des Daseins als leibhaftes Sein und als Selbstbewegung
in und mit einer eigenen Welt.
Nicht nur die analytische Physiologie, sondern auch die analytische Psychologie
verkennt das Wesen des menschlichen Daseins und der Selbstbewegung, die gar
kein psychologisches Phänomen ist. Was könnte der physiologische oder psycho
logische Gehalt von Tätigkeiten wie Schreiben oder Sprechen, Gehen oder Lachen
sein? Für die Bewegungslehre ist die Einsicht von grundlegender Bedeutung,
daß die Bewegungen in ihrem komplexen Vollzug leiblich sind. Man kann dies
auch so ausdrücken: Die Bewegung vollzieht sich in der psycho-physischen
Einheit des Menschen, wobei aber diese Einheit nicht als ein noch so inniges
Zusammenwirken zweier verschiedener Wirklichkeiten (res extensa und res
cogitans) verstanden werden darf. Sie bezieht sich vielmehr auf eine phänomenale
Welt, welche der Unterscheidung einer physischen und psychischen vorausgeht
und zugrunde liegt. Dieser andere, grundlegende Gehalt ist die Wirklichkeit des
menschlichen Seins als leibliches In-der-Weit-Sein.
Die Betrachtung des Begriffes Selbstbewegung und die Einführung des Begrif
fes Subjekt in die Bewegungslehre zwingt uns zu der Einsicht, daß diese Lehre
anthropologisch begründet sein muß und daß sie nicht ein Kapitel der Phy
siologie oder der klassischen Psychologie sein kann. Eine solche Begründung
setzt eine Zuwendung zu den Phänomenen voraus, und so wird eine Einsicht in
das Wesen des Menschen und seiner Haltung oder Bewegung ermöglicht. Damit
soll freilich nicht gesagt sein, daß die physiologischen und psychologischen Tat
sachen nicht von sehr großem Wert für die Erklärung des Zustandekommens, der
Ausführung und des spezifisch gebildeten Verlaufes der Bewegungen wären. Sie
behalten ihren Wert als Einzelaspekte einer übergeordneten Betrachtungsweise,
die eine Zusammenarbeit jener beiden Wissenschaften auf höherem Niveau be
wirkt, indem sie die Begriffe Selbstbewegung, Subjektivität und Leiblichkeit
in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Die Einführung und die Entwick
lung dieser Begriffe ermöglicht uns erst eine umfassende Einsicht in die polare
Einheit von unbewußtem Geschehen und bewußtem Tun.
Das Subjekt ist der schöpferische Grand sowohl aller Bewußtseinsinhalte und
aller bewußten Handlungen, Leistungen und Entscheidungen, als auch sämtlicher
„unbewußter" Phänomene, ihrer Genese und ihrer leiblichen Äußerungen. Es
ist damit die Möglichkeit gegeben, eine Verbindung von Bewegungslehre und
Tiefenpsychologie anzustreben und die menschliche Bewegung auch mit dem
Charakter, dem Temperament, den typologischen Merkmalen von Älter und
Geschlecht und mit dem sozialen Lebenskreis in Zusammenhang zu bringen.
Wenn die Bewegungslehre sich auf diese Weise zu einem integrierenden
Bestandteil der Anthropologie entwickelt, so wird sie auch den angewandten
Wissenschaften vom Menschen, wie Pädagogik, Soziologie und vor allem auch
der Medizin unentbehrlich sein,
2. Das Gestalt-Problem
solche Lehre stand in voller Übereinstimmung mit der von D escartes inspirierten
Naturbetrachtung, welche den Körper als eine verwickelte Maschine deutete:
im Menschen „wohne“ eine Seele, die das aus den Reizungen der Sinnesorgane
entstandene, an sich chaotische Material der Empfindungen aufnehme und in
der synthetischen Verknüpfung dieser Elemente Vorstellungen und abstrakte
Begriffe bilde.
Schon im Jahre 1890 hat von E hrenfels in einer Publikation1, deren große
Bedeutung man erst später erkannte, darauf hingewiesen, daß wahrnehmbare
Ganzheiten, wie etwa eine Melodie oder eine geometrische Figur, eine eigene
„Gestaltqualität'' besitzen. Diese wird nicht durch Synthesis aus den Einzel
elementen, den Tönen oder Linien und Punkten, gebildet, sondern ist als ur
sprünglicher Wahrnehmungsgehalt gegeben. Die Gestalt ist nicht nur mehr als die
Summe der Teile, sondern auch etwas anderes, Als einen Beweis seiner These
führte von E hrenfels die Transponierbarkeit einer Melodie an, deren Töne dabei
ja als elementare Empfindungsinhalte verändert werden, während die Melodie sich
als Einheit, als Gestaltqualität erhält.
Zu Unrecht hat man den Einwand erhoben, die Beständigkeit des Ganzen
. (der Melodie) beruhe auf der Erhaltung der Relationen der Teile, und eine Gestalt
sei nichts anderes als eine Summe von Proportionen. Dies wird widerlegt durch
die Tatsache, daß sich in jeder optischen oder akustischen Gestalt viel mehr Relati
onen einstellen als nur diejenigen, die für die Gestaltqualität wesentlich sind.
Wollte man also die Gestalt eine Summe von Relationen nennen, so wäre es für
die Gestaltwahmehmung dennoch notwendig, die wesentlichen Proportionen von
den nebensächlichen zu unterscheiden. Die Einzelrelationen sind uns in der Wahr
nehmung von Ganzheiten ebensowenig als elementare Eindrücke gegeben wie die
Einzelempfindungen von Tönen, Farben und Linien. Aus optischen, akustischen,
tastbaren Gestalten konstituiert sich die wahrgenommene Welt. Wir bauen sie
nicht sekundär durch Assoziationen von Elementen auf, die aus einem Strom von
Reizen entständen. (Einer früheren Meinung zufolge waren die Reize das einzige,
was das Subjekt von seiner Umgebung empfängt.)
Ein Beispiel für den Primat der Gestalt in der Wahrnehmung ist unsere Fähig
keit, ein menschliches Antlitz sogar in einer Karikatur wiederzuerkennen, auch
wenn wir uns nicht darüber im klaren sind, worauf die Ähnlichkeit beruht,*
dies gelingt uns bei einem schlecht gezeichneten Bild nicht.
Gestalten sind nicht nur Ganzheiten, sie besitzen auch eine Organisation,
durch die „natürliche“ Teile als Glieder unterscheidbar sind. Jeder dieser Teile
hat eine gewisse Funktion im Ganzen, manche sind für die Gestaltqualität wesent
lich (dominant), andere nebensächlich. Die Teile (z. B. des Antlitzes) sind relativ
selbständig, doch eine Bedeutung kommt ihnen erst im Ganzen zu. In der
Gestalt entfaltet sich eine Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und den Teilen.
Das Ganze bestimmt die Teile; und umgekehrt haben die Teile eine Funktion für
das Ganze, indem sie den Bedeutungsgehalt, den Sinn der Totalgestalt bestimmen.
Sogar in der skizzenhaften Zeichnung eines Gesichtes beeinflußt der heitere oder
traurige Ausdruck der Mundlinie den Ausdruck der Augen und verändert den
qualitativen Eindruck des Ganzen.
1 E hrenfels , Chr . v o n : Über Gestaltqualitäten. Vjschr. Wias. Philos. 14, -249 (1890).
Die Gestalt-Gesetze 33
3. Die Gestalt-Gesetze
Diese einfachen Beispiele zeigen bereits, daß es bei der Gestaltwahrnehmung
Gesetze gibt, welche die Beziehung von Teil und Ganzem bestimmen. Diese
Gesetze sind hauptsächlich auf Grund von Experimenten über die optische Wahr
nehmung von den Begründern der Gestaltpsychologie (W ertheimer , K öffka
und K öhler ) sowie ihren Schülern und Nachfolgern genauer formuliert worden.
Wir schließen uns in der nachfolgenden kurzen Darstellung der wichtigsten Ge
setze der Monographie M atthaeib an1, welche ebenso wie das obengenannte Buch
G uillaumeb eine gute und klare Übersicht des Gestaltproblems gibt.
a) Der Primat des Ganzen. Die alltägliche Erfahrung von der unmittelbaren
und schnellen Gestalt-Wahrnehmung und Wiedererkennung sowie das erst
sekundäre Auftreten der partiellen Wahrnehmungen wurde in zahlreicher) Experi
menten bei Erwachsenen, Kindern und Tieren® bestätigt.
Je schwieriger die Wahrnehmung (unscharfe oder kurz exponierte Figuren)
und je „primitiver" das Individuum (Tiere, Kinder), um so mehr tritt die Total
gestalt hervor. Käme die Gestalterfassung in einem „höheren“ psychischen Akt
(„schöpferische Synthese" nach W ündt) zustande, so wären dem primitiven
Bewußtsein (Kindern, niedrigeren Tieren) nur Teile, abstrakte Elemente gegeben.
Dies ist jedoch keineswegs der Fall.
b) In einer Gestalt bestimmen das Game und die Teile einander wechselseitig.
Die Teile sind im Ganzen relativ unselbständig. Wird eine Ganzheit erfaßt (etwa
die einer Figur oder Melodie), so heben sich die Teile nicht ab. Das starke
Hervortreten eines Teiles stört umgekehrt die Einheit der Gestalt.
Die Gültigkeit dieses Gestalt-Gesetzes ist insbesondere durch Experimente
über die Wahrnehmung von Ornamenten und die sog. optischen Täuschungen
bewiesen worden.
c) Es gibt in einer Gestalt dominierende Teile. Es können dies entweder selb
ständige Elemente (Linien, Töne) oder bestimmte Relationen von Teilen unter
einander sein. Namentlich Gestalten mit einer betont expressiven Kraft können
sich bereits durch eine geringe Modifikation in ihrem Ausdrucksgehalt ver
wandeln. Man denke etwa an den Gesichtsausdruck und an die Gebärden.
d) Gestalten unterscheiden sich nach der Bestimmtheit ihrer Organisation. Es gibt
also sämtliche Übergänge von einer gegenseitigen Durchdringung der Teile, die so
ausgeprägt sein kann, daß das Ganze eine amorphe Masse wird bis zu einer
maximalen Ungebundenheit, einem Chaos. Zwischen beiden Extremen stehen die
Gestalten mit einer größeren oder geringeren Festigkeit der Struktur. Im Hin
blick auf den Widerstand, den eine Gestalt hierdurch störenden Einflüssen zu
bieten vermag, spricht man auch von „starken" und „schwachen" Gestalten.
e) Das Gesetz der ,,Prononciertheü” W ertheimers . Gestalten neigen dazu,
prononcierte Formen anzunehmen. Sie erscheinen dann als total, geschlossen,
einfach und sinnvoll. Es gibt daher auch bestimmte prononcierte Formen, die
leicht wahrgenommen werden, wie etwa der Kreis, und denen sich andere Figuren
annähem, wenn-sie unter sehr kleinem Gesichtswinkel oder bei kurzer Darbietung
betrachtet werden. Wenn eine Figur etwas von einer idealen, prononcierten
1 Matthäei, R .: Das Gestaltproblem. München 1929.
1 Sogar bei Fischen gelten die Gesetze der Gestalt-Walirnehmung; vgl. M e e s t e r s , A .:
Die Organisation des Gesichtsfeldes der Fische. Diss. Groningen 1940.
Buytendijk, Haltung und Bewegung 3
34 Prinzipien einer funktionellen Bewegungslehre
Gestalt abweicht, wird dieses entweder nicht bemerkt oder als ein Fehler aufgefaßt.
Unter bestimmten Umständen tritt sogar eine scheinbare Bewegung in der
exponierten Figur auf, ein „Druck in die Richtung einer Korrektur" (K offka )
oder ein sog. ,,Prägnanzdruck'' (K öhler ).
Symmetrische Figuren werden etwas leichter als asymmetrische aufgefaßt.
Ein Winkel von 85 oder 95° kommt uns als ein „schlechter" rechter Winkel
vor. Bei einer Anzahl im Dunkel kurz aufleuchtender, zu einem Kreis geordneter
Punkte, deren einer .etwas nach innen vorspringt, beobachten wir, daß dieser
Punkt sich in den Kreis einzuordnen scheint.
Es ist nicht die Absicht, hier eine vollständige Übersicht von den eigen
tümlichen Merkmalen der Gestalten und der Gesetzmäßigkeit ihrer Wahrnehmung
zu geben; auch wollen wir nicht die Versuche beschreiben, welche diese Gesetze
demonstrieren und erhärten. Außer in den bereits genannten Werken findet man
darüber eine gute Zusammenfassung in den Artikeln, die K offka im „Handbuch
der Physiologie" geschrieben hat1. Es sind darin auch die so wichtigen Experi
mente über die Scheinbewegung beschrieben, die erst von W ertheimer auf
Grand einer allgemeinen Gestalttheorie erklärt wurden.
Die Gestalttheorie hat für die Lehre der menschlichen Bewegung eine
zweif ache Bedeutung.
Erstens führte die Erforschung der Formwahrnehmung zu einer Theorie über
die Prozesse im Zentralnervensystem, die sich von der üblichen Denkweise
prinzipiell unterscheidet. Für uns ist diese Theorie von Interesse, weil sie auch
das Zustandekommen der koordinierten Bewegung erklären will.
Zweitens kann man die vollzogene Bewegung selbst im Sinne einer in der Zeit
verlaufenden Einheit einzelner Bewegungsphasen als eine Gestalt auffassen.
Dabei ergibt sich zwischen dem Ganzen und den Teilen derselbe gesetzmäßige
Zusammenhang, der bezüglich einer wahrgenommenen Figur oder einer Melodie
erwähnt wurde. Man unterscheidet dann die Bewegungen (und Melodien) als
dynamische oder Zeitgestalten von jenen Formen des optischen Wahmehmungs-
feldes, die als statische oder Raumgestalten bezeichnet werden.
sich also die Gestalttheorie nicht von der (mechanistischen) Reilexlehre. Auch
diese betrachtet ja die Prozesse im Nervensystem als das Wesentliche und
Eigentliche, die Funktion dagegen als etwas nur Scheinbares.
Das so zweckmäßige Zurückziehen der mit dem Feuer in Berührung kommen
den Hand diente schon D escartes als Beispiel einer Lebensäußerung, deren
scheinbar funktionell-sinnvolles Geschehen auf einen maschinellen Prozeß
reduziert wurde. Man beschreibt dies jetzt‘ in der Physiologie als die Fort
leitung eines Reizes durch einen sensiblen Nerven in eine präformierte Rücken
marksbahn zu einem motorischen Nerven und von da aus zu einer Muskelgruppe.
Die Gestalttheorie verwirft die statisch-anatomische Struktur, die seit
D escartes als Erklärungsgrundlage der tierischen Leistungen angenommen
wurde und unterscheidet sich allerdings in dieser Hinsicht grundsätzlich von der
mechanistischen Auffassung der Lebenserscheinungen. Die Gestalttheorie hat
einen dynamischen Ausgangspunkt.
Sie setzt etwa voraus, daß eine Erregung im „Felde" des Zentralnerven
systems sich in Abhängigkeit von Art und Ort des Reizes ausbreitet, so daß
bestimmte motorische Nervenzellen erregt werden. Dieses „F eld" ist einer
Wasserfläche vergleichbar, auf der ein Steinwurf eine fortschreitende Wellenfront
entstehen läßt, die sich je nach dem Zustand des Gewässers (Tiefe, Form,
eventuelle ölschicht und namentlich Anwesenheit anderer Wellenbewegungen)
zu einer Wellenfigur gestalten kann, von der bestimmte Punkte zugleich oder
nacheinander in Bewegung kommen. Oder das zentralnervöse Feld läßt sich
einer mit feinem Pulver bestreuten Platte vergleichen, auf der „Klangfiguren"
entstehen, wenn der Rand durch Bogenstriche in Schwingung versetzt wird.
Auch hier ist die Klangfigur vom Zustand der Platte (Gleichmäßigkeit der Dicke
und der Elastizität, bereits bestehende Schwingungen, Befestigungspunkte der
Platte usw.) abhängig.
Bekanntlich versucht die Reflexlehre komplizierte Reaktionen aus einer
Kombination einfacher Reflexe und aus einem kettenförmigen Zusammenschluß
von Reflexen zu erklären. Von Anfang an hat ihr jedoch die so häufig verschieden
artige Wirkung eines Reizes bei unterschiedlicher Ausgangslage des Körpers
Schwierigkeiten bereitet. Zur Erklärung dieses Phänomens mußte sie u.a. den
Begriff der „Schaltung" einführen, durch den die maschinelle Theorie von der
Wirkungsweise des Nervensystems nach dem Modell einer (automatisch wirkenden)
Telefonzentrale verstanden wird. Während man sich in wissenschaftlichen
Abhandlungen dieses „Denk-Modells" nicht mehr bedient, findet man in einfachen
Lehrbüchern jene Theorie noch immer auf diese Weise dargestellt.
Die Gestaltlehre als „dynamische" Theorie erklärt die Veränderung der
Reflexe bei Veränderung der Ausgangslage ganz anders. Das Nervensystem
ist dieser Theorie zufolge nicht ein unveränderlicher Apparat mit einer festen
Struktur, durch die die Wirkung, wie bei einer Maschine, präformiert wäre,
sondern es ist ein sich durçh äußere und innere Umstände fortlaufend verwandeln
des, bewegliches Feld. Auf diese Weise wird ein und derselbe äußere Vorgang
einmal als sinnvoller Reiz, ein anderes Mal als Störung wirken können.
Man nimmt daher im Nervensystem „Reizfiguren" an; sie bestimmen die
Innervationsgestalten, welche die Bewegungsvollzüge verursachen. Diese sind
also primär durch eine Einheit der Prozesse als Ganzheit gegeben und entstehen
3*
■13
' i
W ird ein BUd von unregelmäßiger Form für einen kurzen Augenblick auf die
Netzhaut projiziert, so wird eine abgerundete, einfache, symmetrische Form
wahrgenommen. Nach der Gestalttheorie könnte dieser psychische Vorgang aus
dem sich spontan einstellenden Gleichgewicht in einem physikalischen System
erklärt werden. Dies wäre also ein Prozeß, der sich in einem Teil des Nervensystems
abspielt. Auch alle Phänomene von Kontrastwirkung (z. B. der Farben)
sowie die Wahrnehmung von Schembewegungen haben die Gestaltpsychologen
aus Feldprozessen im Nervensystem zu erklären versucht. Eine derartige Erklä
rung muß freilich immer eine allgemein theoretische bleiben, da man ja die
konkreten Zellprozesse und ihre Wechselwirkungen, die den Gestaltcharakter
bestimmen, nicht kennt. Argumente für die Richtigkeit der Gestalttheorie
hat man gewöhnlich auf die konkreten morphologischen Verhältnisse gegründet.
So gibt es etwa eine innige Verbindung zwischen allen Zellen gerade in denjenigen
Teilen des Nervensystems (z. B. der Hirnrinde), in denen man die ausgeprägteste
Einheit der Prozesse annehmen muß.
das Bedürfnis nach einer solchen Ablehnung sowohl der maschinellen Betrachtung,
weil sie den Tatsachen nicht gerecht wurde als auch des Vitalismus, weil die
Einführung einer immateriellen Realität („Psychoide" (Hier „Entelechie") zu
keiner einzigen konkreten Erklärung führt.
Aber wir glauben auch, daß die Gestalttheorie nicht geeignet ist, Erklärungen
konkreter Lebenserscheinungen zu geben ! Sie vermag nur die Möglichkeit anzu
deuten, wie man sich Ganzheits- (Gestalt-) Prozesse physikalisch im Nerven
system vorstellen kann. Dabei spricht sie aber ebensosehr in Metaphern und
betreibt ebensosehr „H im m ythologie" wie die geschmähte Reflexlehre.
Man bedenke jedoch, daß diese Reflexlehre nie so naiv war, die Funktionen aus
schließlich aus den statischen Verhältnissen, der Struktur, erklären zu wollen.
Immer werden dynamische Faktoren wie Wechselwirkung, Irradiation, Ver
stärkung, Hemmung, Induktion, Rückwirkung aus der Peripherie, Erregbar
keitswandel, Latenz oder Refraktär-Perioden vorausgesetzt, um Regulationen,
Adaptationen und komplizierte (gestaltete) Wirkungen zu erklären.
Diese Erklärungen waren zudem stets a posteriori gefunden, und es gelang
nicht, eine Wirkung auf Grund der Theorie vorherzusagen. Das ist jedoch in
gleicher Weise auch bei der Gestalttheorie der Fall.
Gegen die Gestalttheorie muß zudem der grundsätzliche Ein wand erhoben
werden, daß sie durch ihren parallelistischen Standpunkt einem vollständigen
Physikalismus verhaftet bleibt und daher den unreduzierbaren Wesensunter
schied von Prozeß und Funktion verkennen muß. Sie lehnt auch die Einführung
des Subjektes in die Biologie ab und kann daher die Bewegung nie als Selbst
bewegung verstehen. Sie anerkennt — ebensowenig wie die Reflexlehre — das
Urphänomen des organischen Seins, den jegliche Haltung und Bewegung
begründenden Bezug des Tieres zu seiner Umwelt, des Menschen zu seiner W elt,
Die Gestalttheorie des Nervensystems kann zwar zu einer Theorie der geform
ten Einheit von Individuum und Umwelt ausgebaut werden, aber sie verbleibt
bei einer unzulässigen Reduktion der funktionellen Selbstbewegungen auf
Prozesse.*1 Man kann das sinnerfüllte Geschehen nicht aus den Gesetzen der
physikalischen Gestalten, nicht aus den kausalen Bezügen der Naturerscheinungen
erklären.
Auch wenn man mit E. B ech er * die physikalischen Gestalten mit Recht als
„universal-kausal-kohärente System e" definiert, oder mit D riesch * von „G anz
heits-Kausalität" spricht, so kann auch durch diese Begriffe der Sinngehalt der
Funktionen nicht erklärt werden, ebensowenig wie die Subjektbezogenheit der
vitalen Erscheinungen. Die obenerwähnte Bemerkung J anet * »L a perception
1 Das geht auch gerade wieder aus einer umfassenden Darstellung, die noch die weitere
Entwicklung der Gestalttheorie berücksichtigt, hervor: M etzgbk , W., Psychologie. Dann
stadt, 1954, s. S. 278—301. Im Anschluß an K obhler wird einer Schicht: „Physikalische
Welt — physikalischer Organismus" eine andere: „Psychophysische Weltvorgänge — psycho
physische Körper-Ich-Vorgänge'‘ gegenübergcstellt. „Ohne Sprung" werden diese ver
schiedenen Ebenen zu einem lückenlosen Gesamtbild „mittels des Kunstgriffs der Einsetzung
des anschaulich Erlebten an die Stelle bestimmter zentral-physiologischer Prozesse" ver
bunden.
1 B bchbr, E .: W . Köhlers physikalische Vorgänge, die der Gestaltwahraehmung zu
grunde liegen. Z. Psychol. 87, S. 1 (1921),
• D r u sc h . H .: Philosophie des Organischen, S, 542 ff. Leipzig 1923.
Kann die Gestalttheorie die Bewegungslehre begründen ? 39
d’une forme est autre chose que celle d’un objet« hat denn auch einen tieferen
Sinn, als G uillaume und die anderen Gestaltpsychologen einzusehen vermögen.
Zu den Dingen, nicht aber zu den Gestalten, hat der Mensch (und das Tier) eine
funktionelle Beziehung. Die Dinge zwingen zum Reagieren, erwécken die Absicht
zum Handeln. A uf die Dinge hin ist die Aufgabe, die wir erfüllen wollen oder
müssen, ausgerichtet. Das Ding hat eine andere Bedeutung als die Gestalt, eine
Bedeutung, die vom Subjekt, seiner Vorgeschichte und seinem Ort in und mit
der W elt bestimmt wird. Daher die Bemerkung M ichottes : „Dieselben Reize“
— und wir fügen hihzu, auch dieselben Reizgestalten — „erwecken einen anderen
Eindruck, je nachdem man sich vornimmt, anders m it den Dingen zu handeln“ ,
und: «un facteur subjectif qui joue un rôle considérable également dans l’orga
nisation intuitive est l’influence de la tâche1».
Noch auf andere Weise können wir zur Überzeugung kommen, daß die Gestalt-
Theorie den eigentlichen Charakter der Funktionen der Tiere und des Menschen
verkennt. Wenn wir über das wogende Meer blicken und dabei einer nahrung
suchenden Möwe mit den Augen folgen, wie sie über das Wässer dahinfliegt, sich hier
hin und dorthin wendet, so beobachten wir zwei Bewegungsformen. Die erste
— die des Meeres — stellt in der Projektion eine regelmäßige Wellenlinie
dar, die andere eine sehr unregelmäßige Kurve. Jene ist „reine Gestalt"
der Wellenbewegung und als solche sinnlos, die unregelmäßige Bewegung der
Möwe jedoch erfassen wir als sinnerfüllt. Aber dieses Erfassen vollzieht sich
nicht in einem Urteil, sondern im unmittelbaren Erschauen des Vogels in seiner
situativ bedingten Bewegung. Ebenso wie bei einer Melodie geht der wesent
liche Gehalt einer funktionellen Bewegung über eine bloße Gestalt hinaus.
„Eine Melodie ist eine Gestalt auch für den Unmusikalischen. Der Musi
kalische aber erfaßt außer der Gestalt noch etwas Wesentliches, was in der
Melodie selbst drin steckt, nämlich ihren „Sinn“ . So würde ein „unmenschlicher“
Physiologe das Verhalten der Tiere und des Menschen bestenfalls als gestaltmäßige
Abläufe erfassen und eventuell keinen Unterschied zu den physischen Gestalten
im Sinne K öhler * sehen. Und doch hat der Mensch außerdem die Fähigkeit, in
dem Verhalten der Lebewesen den Sinn, d. h. „das M otiv in der Gestalt wahr
zunehmen"*. Dieses Auf-etwas-gerichtet-Sein, dieser Bedeutungsgehalt der
Funktionen ist als ihr sich unmittelbar zeigender Sinn erfahrbar, und zwar um so
evidenter, je mehr sie durch Selbstbewegung bedingt werden. Das Subjekt ist
der bestimmende Grund für die wirklichen Funktionen; und gerade dieses
Subjekt mit seinen Bedürfnissen, Absichten, Vorsätzen, Motiven, mit seiner
eigenen W elt und seinem eigenen Leibe, vermag die Gestalttheorie nicht zu
ergründen.
Ch . B ö h l e r 8 unterteilt deshalb als Kinderpsychologin die Lebenserscheinun-
gen in zwei Grundtypen: den „Reiz-Reaktionsprozeß“ und den „Aufgabebeset-
zungs- und ErfüllungsVorgang". Der erste wäre im Sinne der Gestalttheorie
erklärbar, der zweite nicht. Diese Unterscheidung ist jedoch nicht scharf
genug. Einerseits nämlich stellt das Phänomen der Reiz-Reaktion mehr dar
als einen in einer objektiven Struktur bewirkten Prozeß, wie L e w i n 1 in einer
kritischen Abhandlung bemerkt; andererseits üben bei der Handlung auf Grund
eines Bedürfnisses auch die äußeren Dinge durch ihren „Aufforderungs-
Charakter“ eine Wirkung aus. L e w in , der den Wert der Gestalttheorie
sehr hoch einschätzt, ist der Meinung, daß sie nicht immer angemessen inter
pretiert werde. Sie dürfe nicht so verstanden werden, als sei die Umwelt eines
Individuum als eine physikalische Gestalt zu definieren, sondern: die „Umwelt
ist . . . wesentlich psychologisch von dem betreffenden Individuum her zu defi
nieren . . . korrelativ zu dem momentanen Zustand des betreffenden Individuums“ ,
Dies mag in der Tat für die Untersuchungen L e w i n » und seiner Mitarbeiter
gelten, aber es scheint uns, daß diese vom Subjekt her bestimmte Definition der
Situation eines Organismus der eigentlichen Absicht der Gestalttheorie nicht
gemäß sei. Ein Anhänger dieser Lehre könnte eine solche Definition höchstens als
„vorläufig" gelten lassen. Auch in der analytischen Physiologie, wo die Methodik
auf ein Verstehen des vitalen Geschehens im Sinne von Prozessen abzielt, spricht
man nur „vorläufig" von Schmerzreizen, von Fern-Sinnen oder von Hunger
kontraktionen des Magens.
Das Grundprinzip der Gestaltthcoric zeigt sich deutlich, wenn L ewin das
Individuum als „ Gesamtperson mit ihrer bestimmten Aufbaustruktur" definiert
und dem hinzufügt: „Dabei verdient der Zustand jenes speziellen innerseelischen
Systems besondere Beachtung, das als Energiequelle des momentanen Geschehens
vorwiegend in Frage kommt.“ Der Gestalttheorie ist die Person allerdings nur
eine Struktur und daher eine Energiequelle, die Umwelt ein System von Feld
kräften. Als ihr Objekt ist das Psychische ebensosehr wie das Physische eine in
Raum und Zeit gegebene Kräftegruppierung. Deshalb ist diese Theorie zwar nicht
mechanistisch im Sinne des {methodischen) Materialismus, aher ohne Zweifel ist
„ K öhijsrb Lebewesen in noch höherem Grade eine Maschine als das Gebilde
seiner Vorgänger“ (Ch . B uhler ).
Die Gestalttheorie deutet das lebendige Geschehen ausschließlich als eine
Sammlung von Prozessen und nicht als ein System von durch ein Subjekt
bestimmten und auf dieses bezogenen Funktionen. 13. P etermann kommt zu
einer ähnlichen Schlußfolgerung. Die Gfestalttheoric ist nach seiner Zusammen
fassung2 eine „Abbildtheorie” , insofern als die neurophysischen und psycho
physischen Gestaltprozesse angeblich unmittelbar von objektiven Bedingungen
abhängen. Sie hat den Charakter einer „Automaientheorie” , insofern als sich der
geordnete Zusammenhang in „blinder" Notwendigkeit vollzieht. Es stellt sich
immer eine von den Ausgangsbedingungen abhängige, kausal verlaufende W ir
kung ein.
Die Gestalttheorie ist also" nicht fähig, die Bewegungen als die funktionellen
Beziehungen von Subjekt zu Situation wesensgemäß zu begreifen. Aber dennoch
ist sie als Theorie der im Nervensystem verlaufenden, die Bewegungen bedingenden
Prozesse ohne Zweifel wertvoller als die klassische RcHexlehrc.*
Die koordinierte Bewegung beruht auf einer zentralen Verteilung der Reizbar
keit, die sicher als eine Einheit im Sinne einer Gestalt aufgefaßt werden muß.
Im großen und ganzen kann man vier nervöse Gebiete unterscheiden: das peri
phere, das spinale, das subcorticale und das corticale Feld, die für das Zustande
kommen jeder normalen Bewegung erforderlich sind. Was sich in diesen Gebieten
wirklich abspielt, ist unbekannt. Die Untersuchungen und theoretischen Betrach
tungen der Gestaltpsychologen legen es jedoch nahe, die Prozesse in jedem dieser
Felder nicht summativ aufzufassen, da sie als Figuren auf einem Hintergrund
die den physikalischen Gestalten eigenen Merkmale aufweisen. Es wird sich noch
zeigen müssen, wieweit es möglich ist, diese Theorie zur Erklärung spezifischer
Erscheinungen, wie des Stehens, der Wiederherstellung des Gleichgewichtes, der
Lokomotion usw. anzuwenden.
6. Die Bewegungsgestalten
Abgesehen von den Prozessen im Nervensystem kann man die Bewegungen
selbst, wie sie sich uns darbieten, als dynamische Gestalten ansehen. Mit dieser
Betrachtungsweise stoßen wir auf das, was wir die zweite Bedeutung der Gestalt
theorie für die Lehie der menschlichen Bewegung genannt haben. Sie führt zu
wissenschaftlichen Fragestellung, inwiefern die Gestaltgesetze für die Bewegungen
gelten.
In den nächsten Kapiteln wird sich uns diese Frage wiederholt bei den
speziellen Haltungen und Bewegungen stellen. Jetzt wollen wir sie nur im Hinblick
auf die allgemeine Grundlage einer Bewegungslehre besprechen. Die Frage nach
den Gestaltmerkmalen der motorischen Äußerungen ist dann der Fragestellung
homolog, die sich auch auf anderen Gebieten der Biologie, insbesondere in der
Morphologie und Systematik ergibt. Vor allem durch die Wiederbelebung der
schon von G o e t h e gemeinten „bildbedingten'1 Biologie wurde der Zusammen
hang von Gestalttheorie und Morphologie erneut begründet.
W o l f u . T r o l l 1 beginnen denn auch ihre wichtige Abhandlung: „Goethes
morphologischer Auftrag; Versuch einer naturwissenschaftlichen Morphologie"
mit den Worten: „Morphologie treiben heißt die Tatsache, daß die Naturkörper,
die belebten sowohl wie die unbelebten, gestaltet sind, wissenschaftlich ernst
nehmen".
Eine Lehre von den Bewegungen ist erst dann möglich, wenn man eingesehen
hat, daß sie sich als geformte Einheiten im Sinne von Gestalten vollziehen und daher
ebenso wie alle lebendigen Formen auf ihre Gestaltmerkmale: Differenzierung,
Beziehung des Ganzen zum Teil, Form Verwandtschaft und Formgenese, unter
sucht werden müssen. Außer einer Analyse der unsere Bewegungen bedingenden
Prozesse und ihrer Deutung als sinnvolle Beziehungen von Subjekt und Außen
welt, als durch die Selbstbewegung realisierte Funktionen und Verhaltensweisen,
umfaßt die Bewegungslehre also auch eine „Morphologie der B e w e g u n g Ihr
Gegenstand ist der — wenn auch so flüchtig wie eine Melodie — geformte
Bewegungsvollzug, der sich unmittelbar der Anschauung darbietet und auf seine
Strukturmerkmale hin untersucht werden soll. Eine derartige Untersuchung ist
etwas grundsätzlich anderes als eine begrifflich-kausale Analyse.
Wenn wir neben der analytischen und funktionellen dann auch die tyfiologischc
Untersuchung in unsere Erforschung der menschlichen Bewegung einbeziehen, so
überschreiten wir dabei die historisch gewachsenen Grenzen sowohl der Physiologie
als auch der Psychologie. Aber wir tun dies unter der Führung des Objektes, auf
das unsere Untersuchung gerichtet ist, nämlich der Bewegung, die sich uns in ihrem
Vollzüge auch als dynamische Gestalt darbietet. Daher möchten wir noch folgenden
Satz des Physiko-Chemikers W olf und des Botanikers T roll in diesem Zusammen
hang zitieren: „M an mag also die ursächliche Methode noch so hoch bewerten, sie
bedarf zu ihrer Ergänzung und Unterbauung der u f bildlichen Behandlungsart, wenn
anders die Biologie, statt sich einer einseitigen theoretischen Forderung zu ver
schreiben, den Bück für die Totalität ihres Objektes offenzuhalten willens is t " l.
Aber die Morphologie der Bewegung ist nicht nur für eine Typologie der
menschlichen Bewegung im engeren Sinne grundlegend, sondern der typische
Gehalt sämtlicher Ausdrucksbewegungen und Handlungen ist überhaupt nur im
Erschauen der ungeteilten, geformten Bewegungseinheit erkennbar.
Dies zeigen besonders deutlich die Untersuchungen K lemm* und seiner Mit
arbeiter über Bewegungen bei Sport und Arbeit, auf die wir bei der Besprechung
der einfachen menschlichen Leistungen noch mehrmals zurückkommen werden.
K l e m m * definiert eine Bewegungsgestalt als „ein leibliches Tun, dessen Impulse
ein gegliedertes Ganzes mit übergreifenden Eigenschaften büden". Schon diese
Bestimmung zeigt, daß sämtliche Handlungen als Gestalten betrachtet werden
müssen. Ohne Zweifel gibt es viele, deren „Gliederung" unausgeprägt, deren
Form einfach ist und bei denen „übergreifende" Merkmale nahezu fehlen. Es
sind dies jedoch die Grenzfälle und nicht die Grundelemente vollwertiger
Bewegungen, deren Genese ein eigenes Problem darstellt.
Die Bewegungsgestalt kann in ihrem Verlauf objektiv beobachtet werden,
aber erst im Erleben des Vollzuges selbst gewahrt man den Strom der Impulse,
die dynamischen Akzente, die Gliederung in Haupt- und Nebensächliches, den
wesentlichen Sinn- und Ausdrucksgehalt, Der Ausdruck wird denn auch von der
dynamischen Bewegungsgestalt bestimmt. K l im m hat weiterhin aufgezeigt, daß
die Bewegung im Ganzen ihres Vollzuges — etwa beim W urf — genauer bestimmt
ist als in ihren Teilmomenten.
Die verschiedenen obenerwähnten, auf Grund der Erforschung optischer
(und akustischer) Wahrnehmung aufgestellten Gestaltgesetze gelten auch für die
Bewegungsgestalten. Es gibt bei den Bewegungen nicht nur einen Primat des
Ganzen, was wir bezüglich ihrer Genese noch näher erörtern werden, sondern es
kann in der Motorik auch eine gegenseitige Bestimmung des Ganzen und der Teile
aufgezeigt, werden. Bei jedem Sprung und W urf und erst recht bei mehr
differenzierteren Bewegungen wie Schreiben oder Sprechen, heben sich dominie
rende Faktoren ab. Man kann die Bewegungen nach der Gediegenheit ihrer
Organisation abstufen. Auch die „Tendenz" zur Annahme prononcierter Formen
läßt sich bei ihnen feststellen. „A uch bei den Bewegungsgestalten gibt e i Grade
der Ausgeprägtheit und Unterschiede in der Gestalthöhe*",
1 a. a. 6. S. 19.
1 K lemm, 0 .: Zwölf'Leitsätze zd einer Psychologie der Leibesübungen, Neu® Psychol
Studien, Bd. IX, Heft 4, S.389 (1938).
* a.a.O. S. 393.
Bewegungsraum und Bewegungszeit in physischer und psychischer Hinsicht 43
AbeT auch der psychologische (sog. subjektive) Zeit- und Raumbegriff kann
uns zum Begreifen der vitalen Bewegung nur indirekt dienlich sein. Mit „sub
jektiv“ meint man ja in der Psychologie die mehr oder weniger bewußte Erkhm s-
weise der Eindrücke und Handlungen beim Menschen (und beim Tier). Derselbe
„objektive" Raum kann in ganz verschiedenen Weisen erlebt werden, wie es ein
jeder erfährt, der etwa eine Landschaft von einem Gebirge aus betrachtet, einen
Dom besichtigt oder nach längerer Abwesenheit in die Heimat zurückkehrt.
Bezüglich der Zeit aber erfahren wir die Dauer einer Minute oder eines Tages als
länger oder kürzer, je nach der Intensität des sich in diesem Zeitraum ereig
nenden seelischen Erlebnisgehaltes. Diese Arten des Erlebens sind als Bewußt
seinsinhalte Gegenstand der Psychologie.
Er schuf den glücklich gewählten Begriff „Um welt“ und bezeichnete damit den
Teil der Umgebung, mit dem das Tier oder der Mensch durch seine Sinnes- oder
„M erk'-O rgane und seine motorischen oder „W irk“ -Organe in Wechselwirkung
steht. Die „Um welt“ besteht also aus einer „M erkwelt" und einer „W irkw elt".
Diese Begriffe wurden für die Biologie sehr fruchtbar, indem sie zur Erforschung
der spezifischen Umwelt einer jeden Tierart führten.
Aber in ihrem theoretischen Gehalt zeigen sich diese Vorstellungen dem
physikalischen W eltbild entnommen. Ihr Ausgangspunkt ist ja das Tier als
isoliertes Objekt m it einem bestimmten anatomischen Aufbau seines Nerven
systems, seiner Sinnesorgane und Glieder. Auf diese soll die physikalisch gedachte
Außenwelt durch eine Anzahl von Reizen einwirken, die im Nervensystem zur
„Synthese“ kommen und so (das „W ie“ wird nicht definiert und kann auch nicht
gedacht werden) die Merkmale der Außenwelt darstellen. Organismus und Außen
welt sind magisch aufeinander abgestimmte Dinge, die durch ihre Strukturen auf
einander einwirken können. Diese Betrachtungsweise enthüllt sicher einen Aspekt
der Erscheinungen, doch sie vermag den eigentlichen funktionellen Bezug nicht
zu erfassen.
W ir wollen demgegenüber unter dem vitalen Raum (Umwelt) nicht einen
Ausschnitt des physikalischen Raumes im Sinne einer Merk- und Wirkwelt ver
stehen, sondern wir betrachten ihn ausschließlich als die Bedingung jeglicher
Wahrnehmung und Handlung in vitaler Hinsicht. Er ist also die apriorische
Bedingung für die Möglichkeit der Wahrnehmung und der Bewegung des Subjektes,,
die Bedingung seiner sämtlichen möglichen Funktionen. Diese Auffassung
erfordert eine nähere Erläuterung.
1 Von Uexk Üll meint fälschlich,- seinen „U m welt''-Begriff vom Raum-Begriff K ants
ableiten zu können. Vgl. für eine Kritik hierauf die Arbeit des V e r l: Das Umweltproblem.
Schweiz, Rundschau 1946,
46 Prinzipien einer funktionellen Bewegungslehre
der Physik, wodurch ihr geometrischer Ort bestimmt werden kann. Dieser Ort
steht zunächst jedoch keineswegs in Beziehung zum Beobachter als lebendigem und
erlebendem Wesen. Die Ordnung vollzieht sich mit innerer Notwendigkeit ; nicht
in einem abgehobenen Aktus, nicht in einem begrifflichen, bewußten Urteil,
sondern indem wir sehen, hören und tasten, bemerken wir die Räumlichkeit der
Dinge. Diese Räumlichkeit selbst ist jedoch nicht ein Merkmal des Wahrge
nommenen, das ebenso wie andere Merkmale, etwa Größe oder Farbe, auch fehlen
könnte. Der reine Anschauungsraum entspricht also nicht der Erfahrung, denn er
könnte dann, da Erfahrungen ja nie notwendig sind, auch fehlen. Bei einer reinen
Haltung anschauenden Denkens ergibt sich denn auch eine „intuitive" (nicht eine
logische) Notwendigkeit zur Annahme der Axiome der Euklidischen Geometrie.
W ie B ecker 1 ausgeführt hat, kann es denn auch für denVerstand, oder besser,
für den denkenden, reflektiv eingestellten Menschen keinen anderen Raum geben,
als den dreidimensionalen euklidischen. Die Ansicht der kritischen Empiristen wie
etwa R eichenbach », wonach auch dem euklidischen Anschauungsraum nur ein
durch die menschliche Organisation bedingter, also zufälliger Vorzug vor den in der
theoretischen Physik entwickelten nicht-euklidischen Räumen zukomme, muß
daher abgelehnt werden. B ecker zeigt, daß nur der euklidische Raum der reine
Anschauungsraum sein kann.
Ohne Zweifel können wir uns durch eine andere Lebensweise an ein anderes
RaumWW gewöhnen. So gewöhnt sich etwa der Motorradfahrer an das verzerrte
Bild, das er in dem konvexen Spiegel an seinem Steuer sieht und wonach er sein
Verhalten regelt. Aber der Verstand erfaßt, trotz des Scheines der verzerrten
Wahrnehmung, doch die in einem solchen gekrümmten Raum sich zeigenden
Verhältnisse als optische Täuschungen. Ebenso entsteht nie ein Zweifel an der
Gültigkeit der euklidischen-geometrischen These, daß parallele Linien sich einander
nie kreuzen, obwohl die perspektivische Wahrnehmung, etwa der Bahnschienen,
uns eines anderen zu belehren scheinta.
Schon aus dieser Erörterung geht hervor, daß der von K a n t gemeinte reine
Anschauungsraum von einer ganz anderen Ordnung ist als die uns umringende
räumliche W elt mit ihren perspektivischen und optischen Täuschungen. Eben
diese W elt jedoch nennen wir den Umgangsrüum. Ihn gibt es nur für den leben
digen Menschen mit seinen vitalen, animalischen Funktionen. Er ist auf unsere
Organisation als Sich-bewegen-könnender-Leib und auf unsere Wahrnehmungen
und Selbstbewegungen als Funktionen bezogen, nicht auf eine verstandesmäßige
Einstellung. Daraus ergibt sich die Existenz mehrerer Umgangsräume. Es muß
aber nun begriffen werden, daß diese Umgangsräume — obgleich in der Erfahrung
entwickelt — dennoch apriorische Formen unserer vitalen Wahrnehmung und
Bewegung darstellen.
W ir wollen dies am Beispiel der Reehts-links-Unterseheidung und der sog.
Größenkonstanz erläutern:.
sich unsere alltäglichen Bewegungen vollziehen, immer oben und unten, vorne und
hinten, rechts und links. W ir bezeichnen damit Richtungen in bezug auf
unsere eigene Person, die jedoch durch unsere Bewegungsmöglichkeüen auf Grund
unserer Organisation bestimmt sind. Der Mensch hat für rechts und links nicht
nur ein Gefühl im Sinne eines intuitiven Wissens, sondern er hat dieses Gefühl
auf Grund seiner polaren Ausrichtung mit einer vorwärts gewandten „H aupt
Richtung. Die W elt seiner Existenz kann durch eine durch die Hauptrichtung
gehende und senkrecht auf der Erde stehende Fläche in zwei gleichwertige Hälften
geteilt werden. , Eine jede dieser Hälften ist Tast- und Greiffeld einer Hand, ist
Feld einer Gruppe von Blickpunkten, auf welche die Augen sich richten können,
wenn sie von der Hauptrichtung abweichen. Der Mensch hat die rechte und linke
Hälfte seiner W elt nicht auf Grund von Erfahrung mit gewonnenen Eindrücken
und vollzogenen Bewegungen, sondern der Bezug von rechts und links ermöglicht
erst das funktionelle Verhältnis zur Umgebung und liegt so allen unseren vitalen
Erfahrungen und Bewegungen a priori zugrunde.
K ant hat diesen Sachverhalt bereits einigermaßen verstanden. „D as bloße
Gefühl eines Unterschiedes meiner zwei Seiten" genügt einer Orientierung nicht.
Jegliche Orientierung erfordert ein „subjektives Prinzip", d. h, ein Apriori; „Das
Apriori der Ausgerichtetheit auf rechts und links gründet jedoch im „subjektiven"
Apriori des In-der-W elt-Seins, das mit einer vorgängig auf ein weltloses Subjekt
beschränkten Bestimmtheit nichts zu tun h at", sagt H eidegger 1. Das hier
Gemeinte ist sehr einfach. W enn wir von der rechten und linken Seite eines fahren
den Schiffes sprechen, so ist das nur verständlich, weil wir uns selbst formal als
das sich bewegende Schiff vorstellen können. Ein Schiff jedoch hat nicht zwei
Seiten in der Weise eines auf sie eigens bezogenen Subjekts. Ein Ding existiert ja
nicht als ein Selbst und kann daher auch nichts haben. Der Mensch (und auch das
Tier) hat ein gewisses Selbst-Sein in der W elt, und nur soweit das individuelle
Leben als ein Selbst-Sein begriffen wird, kann man sagen, daß es ausgerichtet,
orientiert ist. Das wird nur ermöglicht durch das apriorische Schema eines vitalen
Raumes.
Zur schematischen Struktur des Raumes gehört der Rechts-Links-Gegensatz,
der das Ausgerichtetsein von Auge und Olm, K opf, Hand und Fuß bedingt. Der
Bewegungsraum ist also vor aller Bewegung schematisch im Gegensatz von rechts
und links gegeben, und zwar nicht als Bewußtseinsinhalt, sondern als Existenz
grund, als Bedingung des Sich-bewegen-Könnens.
5. Vitaler Raum und Größenkonstanz
W eiterhin können wir den apriorischen Charakter des vitalen Raumschemas
anhand der sog. Größenkonstanz erläutern.
Wenn wir zwei gleich große, doch in verschiedener Distanz von uns befindliche
Gegenstände betrachten, so wird der weiter entfernte das kleinere Bild auf
unserer Netzhaut entwerfen. Da eine Dimension bei größerem Bild auch größer
gesehen wird, wird auch der nähergelegene Gegenstand uns größer erscheinen
müssen. Dies k t in der Tat oft der Fall, etwa wenn wir in eine Baumallee
hinein oder an einer Häuserreihe entlangschauen. Die einfachste Erfahrung
zeigt jedoch, daß heim Umhersehen im alltäglichen Umgangsraum die Größe der
1 a.a.O, S. HO.
48 Prinzipien einer funktionellen Bewegungsichre
Dinge keineswegs abhängig von ihrer Entfernung ist. Betrachten wir etwa den
Finger unseres ausgestreckten Armes, den wir unseren Augen dann bis auf 20 am
nähern, so müßte die Fingerspitze auf Grund dey Größenzunahme des Netzhaut-
bildes um das Dreifache an Größe zunehmen. Im wirklichen Sehen jedoch bleibt
die Größe des Fingers konstant. So müßte auch eigentlich eine durch die Zimmer
tür auf uns zukommende Person der Größenzunahme gemäß, wie eine Lawine
anschwellen, wie wir es in diesem Falle indirekt auf dem Mattglas eines Photo
apparates beobachten können. Die direkte Wahrnehmung jedoch folgt der
Größenkonstanz. Trotz der wechselnden Größe des Netzhautbildes behauptet sich
also unter vitalen Umständen eine unveränderlich wahrgenommene Dimension
der Dinge.
Diese Größenkonstanz wird jedoch nur so lange beibehalten, als der normale
vitale funktionelle Bezug zur Umwelt gewahrt bleibt. Er kann in zweifacher Weise
unterbrochen werden: durch eine reflexive Einstellung und durch abnorme Lebens
umstände. Zerstören wir die vitale Beziehung zu unserer Umgebung, inderh wir
etwa unser Augenmerk ausschließlich auf die Dimension eines sich nähernden
Dinges im Vergleich zu einem Maßstab richten, so stellt sich keine Größen
konstanz mehr ein. Sie verschwindet auch bei einer künstlichen Verkleinerung
und Homogenisierung des Gesichtsfeldes sowie bei manchen psychasthenischen
Zuständen, bei denen der normale Bezug zur Außenwelt gestört ist. Bei starker
Ermüdung ergibt sich beim normalen Menschen etwas Analoges, Es kann
sich dann z. B. eine „Mikropsie“ einstellen; Gegenstände und vor allem
Personen können dann plötzlich kleiner erscheinen. Allgemein bekannt ist
dieses Phänomen für die Hörer einer Vorlesung, eines Kollegs oder einer Predigt,
wobei der Redner auf einmal sich weit zu entfernen scheint und seine Größe
abnimmt.
Man hat das Phänomen der Größenkonstanz unter mancherlei Umständen
erforscht und hat es auch bei Tieren aufzeigen können. Letzteres widerlegt die
Annahme, daß eine visuell sich einstellende Größenzunahme durch ein Verstandes
urteil korrigiert werde. Der Verstand hat mit der unveränderlichen Größe der
gesehenen Dinge nichts zu tun. Es kostet viel Mühe und erfordert einen gewissen
Bildungsgrad, um verstehen zu können, daß wir „eigentlich" die Dinge anders
sehen als wir sie undurchdacht zu sehen meinen. Die Erklärung der Lehre von der
Perspektive verursacht dem Zeichenlehrer denn auch die größte Mühe und dem
Kind und dem ungeübten Erwachsenen fällt es schwer, einen vor uns stehenden
Tisch oder eine auf uns zugehende Person zu zeichnen. Das ist die Folge der
Tatsache, daß wir alles anders sehen, als es auf dem Mattglas einer Kamera er
scheinen würde. Das Auge ist zwar auch eine Kamera, doch die Organisation des
vitalen Raumes ist schwerlich m it dem Netzhautbild in Übereinstimmung zu
bringen. Beim Zeichnen besteht denn auch die Aufgabe nicht in einer Wiedergabe
dessen, was wir um uns herum sehen, sondern in einem Zeichenentwurf, allenfalls
einer Konstruktion, die dem Betrachter den Eindruck vermittelt, als ob er selbst
um sich herumschaue. W ir sehen in unserem Umgangsraum die „w irkliche" Größe
der Dinge, wir müssen jedoch die „scheinbare" Größe zeichnen. Ebenso sehen wir
innerhalb weiter Grenzen die „w irkliche" Form, etwa das Rundsein eines Tellers,
auch dann, wenn er schräg vor uns steht. Das Zeichnen belehrt uns über die
Schwierigkeit, das Sehen der scheinbaren Form zu erlernen.
Naher und ferner Raum 49
der Erkenntnislehre, sondern in ihrer „Dinghaftigkeit” als ein „Dies” und ein
„Jenes” mit ihren beständigen, auf das Subjekt bezogenen Eigenschaften,
Im fernen Raum sind wir orientiert durch Blickrichtungen, durch den Horizont**
durch parallaktische, auf Erfahrung gegründete Distanzwahmehmung und durch
die relative Größe der uns aus Erfahrung bekannten Gegenstände. Im nahen Raum,
sind wir orientiert durch die Struktur der Situation, durch die Abhängigkeit von
unserem Standpunkt und durch die Eigenschaften der Dinge, die ihren Bestimmungs
grund in unseren Bewegungen haben, wie etwa ihre Größe und ihre Form.
Die fernste Ebene, die unseren Wahmehmungsraum begrenzt, scheint eine
weitgehend beständige Lage zu haben und sich uns nur unter krankhaften Um
ständen zu nähern. U e x k ü ll erzählt: „Als ich nach einem schweren Typhus den
ersten Gang ins Freie machte, hing die fernste Ebene wie eine bunte Tapete in
etwa 20 m Entfernung vor mir herab, auf der alle sichtbaren Dinge abgebildet I
waren.” Außerhalb von 20 m — so fährt er fort — gab es keine Dinge, die ferne {
oder nahe waren, sondern nur größere oder kleinere Gestalten. Sogar die Wagen, j
die an mir vorüberfuhren, wurden, nachdem sie die fernste Ebene passiert hatten, I
nur kleiner, scheinbar ohne sich weiter zu entfernen.1 Diese Mitteilung steht noch !
ganz allein, aber sie legt bereits die Vermutung nahe, daß der vitale Raum des '
Menschen sich in seiner Größe aus mancherlei Gründen verändern kann, Viel
leicht ist diese auch vom Alter und vom Ermüdungsgrad abhängig.
Der Umfang des Raumes, innerhalb dessen Größenkonstanz herrscht, ist in
viel höherem Maße dem Wechsel unterworfen. Dies lehrt bereits die alltägliche
Erfahrung. Experimentelle Daten fehlen jedoch noch ganz. Jedenfalls kann man
sagen, daß die Genauigkeit der menschlichen Bewegung durch die Beständigkeit
des nahen optischen Raumes gesichert ist. Verwandelt man diesen, etwa vermittels
einer binokularen Lupe wie beim Präparieren kleiner Tiere, so müssen die Be
wegungen sich nicht nur dem veränderten Bilde anpassen, sondern cs verändern
sich auch die durch die Bewegungen auftretenden Widerstände. V on B rücke
bemerkte, daß beim Schneiden unterm Mikroskop ziemlich hartes Holz den Ein
druck von Kork oder Wachs macht,
der Struktur des vitalen Raumes und der Selbstbewegung einstellt. Die Über-*
einstimmung vollzieht sich zwar, wie alle Koordinierung und Orientierung, um«»
auffällig, gründet jedoch in der wichtigen Bedingung des apriorischen Bewegungs
raumes. Bei starken Affekten (Angst, W ut) kann auch bei voll erhaltenen*.
Bewußtsein die Entsprechung zerfallen, ebenso wie bei Ermüdung oder V er
giftungen, etwa Betrunkenheit. In all diesen Fällen sind jedoch, ebenso wie in*
Traum, noch drei andere Momente des Geschehens, an dem wir in der Selbst
bewegung teilnehmen, einer Veränderung unterworfen: der W irklichkeits
charakter, die Widerstände und die Zeit.
i . Der Zusammenhang von vitalem Raum und vitaler Zeit
Die letzte Bemerkung führt uns zu einem auch von E. S t r a u s 1 verfolgten
Gedanken, nämlich dem des Zusammenhanges von vitalem Raum und vitaler Zeit»
S t r a u s , geht dabei von dem Begriff der „F em e" aus. „N ur solange ich.auf m eine
W elt gerichtet bin, in ihr, im Einigen und Trennen mich empfindend, bewege und
bewegend empfinde, öffnet sich mir die Feme, gliedert sich mir die Feme in F em e
und N ähe." Beide jedoch, die Feme und die Nähe sind jenes, das ich noch nicht
habe, wo ich noch nicht bin oder was ich nicht mehr habe oder wo ich
nicht mehr bin. So gehört zur Fem e und Nähe das Zeitmoment des „N o ch -
nicht" oder „N icht-m ehr". Das „D o rt" und „H ier", das in allen Beziehungen
zwischen dem Menschen (dem Tiere) und seiner Umwelt vorkommt, ist nicht
nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Bestimmung, denn sie be
zeichnen das vitale, in sich gespannte Verhältnis zwischen dem Bewegen-Können
und seinem in Distanz gegebenen Zweck. Für einen schlechten Schwimmer ist
eine Sandbank, wo er wieder festen Boden unter die Füße bekommen kann, v iel
weiter entfernt als für einen Geübten. Bei Krankheit und Ermüdung rückt das
Nahe in die Fem e, wie auch für einen Fliehenden die Haustür weiter entfernt ist,
als wenn er sonst ruhig nach Hause spaziert.
In der „natürlichen“ Lage, welche die Ausgangshaltung der Selbstbewegung
bildet, gibt es noch nicht die Trennung von Zeit und Raum, die man bei einer
begrifflichen und auch schon bei einer avitalen, sachlichen, distanzierten Stellung
nahme vollziehen kann. Die Zeit ist in unserer Beziehung zur Außenwelt im m er
eine Bewegungszeit, als welche sie die räumlichen Veränderungen prägt. fF tn «
nichts geschieht und keine Selbstbewegung stattfindet, gibt es auch keine Zeit. D as
Geschehen wird immer durch eine auf das Subjekt bezogene Ortsveränderung
bestimmt. Das Subjekt kann dieser Veränderung im Mitvollzug folgen oder sich
ihrer enthalten. Auch wenn etwas an uns voribergeht, liegt darin ein Heran
nahen und ein Sich-Entferüen, Ereignisse also, die immer eine Veränderung in
bezug auf und durch uns selbst darstellen, sofern eine mögliche Selbstbewegung
sich darauf abstimmt und eventuell realisiert.
1 Im Anschluß an den Gedanken von E. Straus hat L. B in sw a nq er das Rautnproblcm
in der Psychopathologie erforscht und den Gegensatz zwischen „eigenem Raum" und „frem
dem Raum" hervorgehoben. B in sw a n g er nimmt jedoch mehr einen existentinlontologischen,
Strau s einen psychologischen Ausgangspunkt. So will B in sw anger den von Ihm entwickel
ten Begriff „gestimmter Raum" als den Raum, „in dem sich das menschliche Dasein als ein
gestimmtes aufhält" auffassen. Bezüglich des Zusammenhanges des Ranmerlebens und der
Raumstruktur bemerkt B in sw a n g e r , daß „Erlebensform und Raumgestalt nur die beiden
Pole einer noetisch-noematischenEinheit darstellen". Z. Neur. 145,598 (1933). — S t r a u s , E .:
Vom Sinn der Sinne, S. 297 ff. Berlin 1935.
Der Zusammenhang von vitalem Raum und vitaler Zeit 53
System des Tieres schon’ gereizt, wenn es springt." Die beiden Zeitsysteme ent
sprechen also einander nicht, denn das mit dem Zwischenraum und dem Ausgangs
punkt gleichzeitig in der Wahrnehmung gegebene Ziel ist dennoch als das Zu
künftige, im Sinne'des Späteren und des räumlich Entfernten, wirksam. Bei allen
zielgerichteten Bewegungen gibt es für das funktionelle Geschehen ein anderes
Zeitsystem als für das physikalisch-physiologische. Wenn ich meinen Fuß auf
die Stelle setze, die ich vor mir sehe, so ist das Sehen früher als die Bewegung.
„Ich setze meinen Fuß in das Vergangene". Das ergibt eine theoretische und
praktische Paradoxie, wenn man den Menschen als „Reizem pfänger" (als physi
kalisch-physiologisches System) mit dem „lebendigen Subjekt" identifiziert. Die
Inkommensurabilität der Zeitsysteme zeigt gerade, daß eine Gleichstellung von
„Reizem pfänger" und Subjekt — Straus sagt „erlebendes", in unserem Sinne
müßte man „lebendiges" Subjekt sagen — unzulässig ist. S traus schließt daraus,
daß eine „epiphänomenalistische, physiologische Psychologie ein unmögliches
Unternehmen ist". W ir fügen dem hinzu, daß ebensowenig weder eine physika
lische noch eine psychologische Erklärung der funktionellen Selbstbewegung
m öglich sind, weil die Lebernfunktionen sich in einem anderen Raum-Zeitsystem
vollziehen als die physischen und psychischen Prozesse.
auch angemessen aus, wenn wir sagen, daß wir bezüglich des weiteren Verlaufes
gewisse Erwartungen hegen.
Auch für die Bewegungslehre ist nun die Frage wichtig, wie das möglich sei,
denn auch die Bewegung ist ja eine dynamische, sich entwickelnde Gestalt, und
zwar in dem Sinne, daß in dem bereits Geschehenen der weitere Verlauf schema
tisch vorgezeichnet äst. Bei einem physikalischen Geschehen, auch bei einem
Prozeß im Körper, gibt es eine Aufeinanderfolge von Phasen, wobei das Noch-
nieht-Sem des Zukünftigen sich vom Nicht-mehr-Sein des Vergangenen abhebt.
Es gibt im physikalischen Bereich keine Entwicklung im organischen Sinne,
keinen „Gestaltwandei“ , wie er bereits von K . E . von B ae r 1 begriffen worden ist.
V on E hrenfels nennt den physikalischen Aspekt die chronomorphe Zeitbetrach
tung und stellt ihr eine topomorphe Zeitbetrachtung gegenüber, für die die Zeit
nicht homogen vorwärtsschreitet, vielmehr der Übergang vom Gegenwärtigen in
das Zukünftige sich nicht mit dem vom Vergangenen ins Gegenwärtige deckt. V on
E hrenfels verdeutlicht diese Betrachtung durch das Bild eines norwegischen
Wasserfalls, der von der senkrechten Felsenwand unmittelbar ins Meer stürzt.
„D er uns unbekannte Lauf des Flusses oberhalb des Felsgrates stellt die Zukunft
dar, der Wasserfall die Gegenwart und das spiegelnde Meer die Vergangenheit.“
Das Büd ist vielleicht nicht sehr glücklich gewählt, doch es kann wenigstens zeigen,
daß die Vergangenheit ebenso wirklich ist, wie das fließende Heute, das unablässig
in sie übergeht und mit ihr verschmilzt, während das Zukünftige noch verborgen
ist, aber sich im Heute bereits richtunggebend bekundet.
Den durch von E hrenfels erst vorläufig angedeuteten Zusammenhang von
Gestalt und Zeit hat von W eizsäcker in seinem Buch „D er Gestaltkreis"**
sowie in einem später erschienenen Vortrag „Gestalt und Zeit“ * näher untersucht.
Beim Abtasten eines Gegenstandes entstehen geformter Eindruck und geformte
Bewegung gleichzeitig. Der Eindruck bestimmt die Form der Bewegung und um
gekehrt bestimmt die Bewegung die Form des Tastbildes. V on W eizsäcker zieht
hieraus eine weitreichende Schlußfolgerung. Die „R elativität“ zwischen Orga
nismus und Umwelt ist eine Bestimmung, die eine einsinnige Richtung der
Kausalität gerade aufhebt. Das lebendige Geschehen ist nicht ein Prozeß, auch
nicht ein geformter Prozeß im Sinne der Gestalttheorie, in dem nach einem be
stimmten Gesetz die Phasen aufeinanderfolgen, sondern es ist immer eine sich in
der Kohärenz zwischen Organismus und Umwelt vollziehende Formentwicklung.
Jede Bewegung entwickelt sich in dieser Weise als geformte Ganzheit, solange die
sensomotorische Einheit als kreisförmige Verbindung gewahrt bleibt.
Wenn man von dem isolierten Organismus ausgeht, so ist auch die geformte
Bewegung das Resultat einer gesetzmäßigen Umformung intra-organischer
Prozesse. Geht man umgekehrt von der Umgebung aus, so könnte diese durch
Zusammenfügen ihrer Kräfte im Sinne von Vektoren als Resultante eine Bewegung
verursachen. Beide Ausgangspunkte ermangeln jedoch des zureichenden Grundes,
denn es ist unerläßlich, den geformten Eindruck als den einzigen vital wirksamen
vorauszusetzen, und seine Umformung in eine geformte Selbst-Bewegung ist
unerklärlich. Sie wäre nur nach Analogie einer sinnvollen Beantwortung einer Frage
verständlich, nach Analogie also einer geistigen, durch Einsicht vermittelten Be
ziehung. In der vitalen Sphäre gibt es jedoch keine Einsicht, sehr wohl aber
lebendige Entwicklung, Genese der Formen, ohne daß von einem prius und
posterius gesprochen werden könnte. V on W eizsäcker nennt diese Formgenese
„Gestaltkreis“ . Aul ihn kann das Kausalitätsprinzip nicht angewendet werden, so
daß er auch nicht als in der physikalischen ¿eit verlaufend gedacht werden kann.
Die Beziehung zwischen Zeit und Gestalt entwickelt von W eizsäcker anhand
Ainpc einfachen Experimentes, bei dem sich die sogenannte „Regel der konstanten
Figurzeit" ergibt. Läßt man in der Luft mit dem Finger einen Kreis beschreiben, so
dauert die Totalbewegung innerhalb weiter Grenzen ebenso lange, wenn der K reis
groß, wie wenn er klein ist1. Bei anderen Figuren, einer Ellipse, Spirale u. a..
gehört zu jedem Krümmungsgrad eine bestimmte Geschwindigkeit. Bei der Gene
se einer figuralen Form ist die Bewegungsform an eine bestimmte Zeit gebunden.
W ir können weder die Geschwindigkeit noch die Figur unabhängig voneinander
variieren, wenigstens solange die Bewegung „ohne Überlegung“ und ununter
brochen ausgeführt wird.
D erwort , der diese Versuche durchgeführt hat8, faßt sein Resultat folgender
maßen zusammen: „D er Effekt bestimmt sich im einzelnen Bewegungsabschnitt
nicht zwangsläufig aus seinen Komponenten, sondern das aktuelle Geschehen
richtet sich vorwegnehmend nach dem E ffekt“ . Bei einer physikalischen Bewegung
ist die Kreisfigur die Folge einer konstanten Kraft. Bei einer vitalen Bewegung
ist die Kreisfigur die Bedingung einer bestimmten Kräftezusammensetzung und
ihres zeitlichen Verlaufes.
Zwischen der Dauer und der Form einer Bewegung gibt es einen funktionalen
Zusammenhang. Wenn die Geschwindigkeit sich verändert, so verändert
sich die Form und umgekehrt. Das ist sehr gut darzustellen am Beispiel
der Handschrift und auch der Fortbewegung eines Pferdes oder Hundes,
Bei zunehmender Geschwindigkeit setzt das Pferd sich zunächst in Trab
und dann in Galopp, wobei jede Bewegungsweise eine eigene Koordination
und also ein eigenes Innervationsbild hat. Auch bei der Fortbewegung ist die
Bewegungsform nicht aus sukzessiven Phasen und ihrem Kausalzusammenhang
erklärlich. Die Bewegung prägt selbst ihr bestimmtes Verhältnis zu Raum und Zeit.
Außerdem vollzieht sich jede organische Bewegung von einem Hier zu einem
D ort, wobei das Spätere als das „Erwartete“ potentiell schon in dem Hier
enthalten ist, in seiner Verwirklichung aber auch ausbleiben kann.
„D ie Bewegung des Organismus vollzieht sich nicht in Raum und Zeit, sondern
der Organismus bewegt den Raum m it der Zeit*.“ W enn man eine Bewegung nur
als Gestalt an sich betrachtet, also im Sinne eines in einem homogenen, physi
kalischen Raume registrierbaren Verlaufes, so verkeimt man ihren eigentlichen
Z«Sf«ngscharakter. Als Leistung im Sinne feiner den vitalen Raum gestaltenden
Selbst-Bewegung hat die menschliche (und tierische) Bewegung ihre eigene
1 Ganz durchgängig gilt .das nach einer von mir ausgeführten Untersuchung nicht
(Vgl.: Miscellaiiea Psychologica A lbert M ichqtte . S. 297. Louvain 1947.)
* D erwort ,. A .: Untersuchungen Über Zeitverlauf figurierter Bewegungen beim Menschen.
Pflügers Arch. 240, 661— 676 (1938).
* W eizsäcker , V . v.: D er Gestaltkreis. Leipzig 1944.
Die Systematik der menschlichen Bewegung. Einteilung der physiologischen Funktionen 57
Zeit. Bei ihrer Veränderung verändert sich auch die Leistung und damit der
Sinn der Bewegung1.
Es ist das Verdienst von W eizsäcker *, den auch von ihm selbst lange Zeit
eingenommenen Standpunkt der Gestalttheorie überwunden zu haben, indem
er auf Grund der Erfahrung zwei grundlegende Merkmale der lebendigen Bewegung
entdeckte. Das erste ist die Bewegungsform, die nach dem „Gestaltkreis“ sich
in räumlicher Hinsicht in der Begegnung von Organismus und Umwelt entwickelt;
das zweite fordert, daß „Form in zeitlicher Hinsicht als Genese jeweiliger Gegenwart”
aufgefaßt werde. Letzteres zeigt eine Verwandtschaft mit von E hrenfels , den
wir, zur Erklärung der konkreten Gegenwart einer Melodie als ganzheitlicher
Zeitgestalt, eine topamorphe Zeitauffassung einführen sahen.
Nach der Ansicht von W eizsäcker* ermöglichen erst die Begriffe „Gestalt
kreis“ und „zeitüberbrückende Gegenwart“ “ eine grundsätzliche Unterscheidung
des Lebendigen vom Toten und ein Begreifen der vitalen Bewegung als Selbst-
Bewegung: „Damit ist das Programm der biologischen Bewegungslehre abschließend
umschrieben
Die Zukunft wird über die Richtigkeit dieser Aussage entscheiden müssen.
Jedenfalls bedeutet es einen Fortschritt, daß mit der Lehre von den Lebens
erscheinungen sich auch die Bewegungslehre grundsätzlich vom physikalischen
Denken frei macht. Ihre Begriffe werden allmählich schärfer bestimmt und in
ihrem gegenseitigen Zusammenhang klarer gegliedert werden müssen. Die ständige
Fühlungnahme m it dem fruchtbaren Boden der Erfahrung soll dabei die Gewähr
gegen ein Absinken in eine nur deduktive und sterile Begriffsschematik bieten,
welche den Fortschritt der Wissenschaft eher hemmen als fördern würde.
Gehen, wie sich noch leigen wird, nicht nur eine Bewegung der Beine* E in e
funktioneile Betrachtungsweise der Hand etwa wird den Zusammenhang m it d e n
Augenbewegungen nicht vernachlässigen dürfen.
Mir scheint, wir können die menschlichen (und tierischen) Bewegungen n ie
von einem einzigen Gesichtspunkt aus einteilen. Jegliche vitale Bewegung z e ig t
ja einen dreifachen Aspekt, der ebenso viele Gesichtspunkte für eine Systematik d e r
Bewegung bietet. W ir unterscheiden nämlich bei allem, was ein Individuum tu t,
bei jeder von ihm geleisteten oder im Organismus auftretenden Bewegung d ie
Ausführungsweise, den Anlaß und die Bedeutung.
An der Bewegung, wie sie in ihrem objektiven Verlauf wahrnehmbar und b e
schreibbar ist, können wir die Ausführungsweise unmittelbar erfassen. Sie w ird
gekennzeichnet durch einige quantitativ variierende Eigenschaften, darüber
hinaus durch ihre qualitative Form, die Bewegungsgestali.
Verstehen wir die Bewegung nicht als ein isoliertes Phänomen, sondern als
Selbstbewegung einer bestimmten Person, oder erfassen wir sie in ihrem geform ten
Verlauf als die Darstellung eines persönlichen Charakters, so führt das zu ein er
tyßologischen Charakteristik der Bewegung.
Betrachten wir die Bewegungen in ihrer konkreten Ausführung, abhängig von
einer bestimmten Situation, so ergibt sich aus dieser Einstellung eine Einteilung
nach dwn Anlaß oder dem Beweggrund, Da jedoch die vitale Bewegung gerade in
ihrer konkreten Ausführung stets unter dem Aspekt einer Beziehung zum
Subjekt auftritt, bedeutet eine solche Rangordnung immer eine Einteilung nach
dem Grade von Zwangsläufigkeit und Freiheit.
Schließlich bietet sich auch die Möglichkeit einer echt funktionellen Ordnung
der menschlichen Bewegungen, wenn wir von ihrem Bedeutungsgehalt oder Sinn
ausgehen. Es wird sich noch näher zeigen, daß der Sinn eines Verhaltens nicht
mit seinem Ziel identisch ist. Das Ziel ist nur eine bestimmte Art der Bedeutung,
die eine Bewegung haben kann. Jedenfalls ist der Sinn einer Bewegung nur zu
begreifen durch eine möglichst vollständige Einsicht in die Umstände, die Situation
ihrer Ausführung (und ihre historische Entwicklung).
Von den drei genannten Gesichtspunkten aus gewinnen wir also vier E in-
teilungsmöglichkeiten, von denen sich zwei auf die Ausführungsweise und je eine
auf den Beweggrund und auf den Sinn beziehen. Es sind dies die folgenden; :
1. Die intra-empirische Einteilung nach der unmittelbar wahrnehmbaren A us
führungsweise, dem empirisch gegebenen Verlauf, der Gestalt.
2. Die typologische Einteilung im H inblick auf das Verhältnis der Bewegungs
gestalt zur Person.
3. Die trans-empirische Einteilung nach dem Grad der Freiheit und Zwangs
läufigkeit, also bezogen auf das Verhältnis zum Subjekt, dem „Selbst“ .
4. Die funktionelle Einteilung nach dem Sinn der Bewegung.
als der Begriff „Säugetier", welcher wieder allgemeiner als der Begriff „katzen
artiges Tier“ ist. Eine derartige Einteilungsform kann bei den Bewegungen nicht
angewandt werden. Ohne Zweifel können auch hier viele empirische Einzelheiten
zu einer Gruppe, etwa der der Ausdrucksbewegungen, vereinigt werden. Diese kann
man dann wiederum je nach der durch den Ausdruck angedeuteten Richtung ein-
teilen, etwa: Zu- oder Abwendung, Zusammenschrumpfen, Wegsinken, Sich-
Dehnen, Sich-Aufrichten. Es leuchtet ein, daß eine derartige Einteilung sich aus
schließlich auf die Funktion oder die Bedeutung der Motorik bezieht.
Eine bestimmte Ausdrucksbewegung, etwa der Wut* kann nach ihrer Aus
führungsweise, ihrem Verlauf, betrachtet und z. B. der Gruppe der rasdien oder
impulsiven Bewegungen zugerechnet werden. Diese Gruppe umfaßt jedoch auch
das automatische Ergreifen eines Werkzeuges durch den Arbeiter, den Sprung
eines Athleten oder den Anschlag eines geübten Pianisten. Aus diesen Beispielen
ersieht man bereits, daß -eine Einteilung nach den sog. objektiven Merkmalen der
isolierten Bewegung sehr heterogene Erscheinungen in eine Gruppe vereinigt und
daher eine ebenso „künstliche" Systematik wie die LiNNÄsche liefert, bei der die
Pflanzen nach der Anzahl ihrer Staubfäden eingeteilt werden.
Die Ausdrucksweise der Wut kann außerdem als ein Merkmal des Charakters
einer bestimmten Person oder Personengruppe betrachtet werden. Es gibt eine
kindliche, männliche, weibliche Art der Wutäußerung, und sie unterscheidet sich
nach der Rasse, dem Volk, dem Stande und dem individuellen Charakter.
Die typischen Merkmale einer Person oder Gruppe kehren jedoch in all ihren
Verhaltensweisen wieder; die systematische Einteilung der Bewegungen nach
ihren typologischen Eigenschaften zeigt sich also auch eher als eine dynamische
Typencharakteristik denn als eine natürliche Systematik der Bewegungen.
Das ändert jedoch nichts an der Notwendigkeit einer Erfassung der Bewegungs
typen für die Lehre von den menschlichen Bewegungen. Sie zeigt sich nicht nur
in vielen praktischen, etwa pädagogischen Fragen, sondern auch in theoretischer
Hinsicht, weil das persönliche Gepräge einer Bewegung zugleich auf ein trans-
empirisches Merkmal der motorischen Äußerung, nämlich die Bezogenheit auf das
„Selbst" in seiner Freiheit und Zwangsläufigkeit, verweist.
Dieselbe W utlußerang, die wir in ihrem Verlauf und in ihren typologischen
Besonderheiten erforschen, kann aber auch in ihrer Beziehung zu dem Bewegungs
m otiv der Aktivität betrachtet werden1. Es ergibt sich daSei nicht nur die Frage,
ob sie eine spontane Aktivität oder eher eine Reaktion ist, sondern auch in welchem
Umfange und in welcher Weise das Subjekt zu seiner eigenen Bewegung in Be
ziehung steht. Dies jedoch kann nicht nur aus der Situation und'evtl, aus dem
introspektiv erhobenen Erlebnisgehalt vor, während und nach der Bewegung
erkannt werden, sondern auch aus dem unmittelbar erfahrbaren, geformten Ver
lauf. Die intra-empirischen Merkmale verweisen auf die Gründe der motorischen
Funktion, weil jeglicher,auch der mechanische Bewegungsverlauf es erlaubt, auf
die betreffenden Im pulse zu schließen. Aber es handelt sich hier nicht nur um eine
Schlußfolgerung, denn Michotte konnte zeigen, daß die Ursache unmittelbai
wahrnehmbar ist.
Der Grund der Unmöglichkeit einer von einem einzigen G esichtspürft aus
entwickelten Bewegungssystematik Hegt also in der Bewegung selbst. D iese ist
- 1 Ein Motiv ist ein durch seinen Sinn wirksames Antezedens.
62 Prinzipien einer funktionellen Bewegungslehre
Rechteck das zweite wegdrängt, imtnimmt oder bei der Flucht ergreift. Die
Wahl dieser Bezeichnungen erwies sich von geringen Abwandlungen in der
Geschwindigkeit und der Dauer der Berührung der beiden Rechtecke, also vom
Eindruck der Beziehungen, abhängig. Michotte hat seine Versuche auf mannig
fache Weise variiert und kommt zu der Schlußfolgerung: «l’impression de
causalité physique est une donnée phénoménale sui generis.»
Es ist nicht leicht, eine einfache Erklärung dieser unmittelbaren Wahrnehmung
der Ursache einer Bewegungsänderung zu geben. Man nimmt gewöhnlich eine
gewisse „Einfühlung” an, wodurch wir die wahrgenommenen Bewegungen inner
lich mitvollziehen und in uns selbst die für den weiteren Verlauf erforderlichen
Impulse empfinden. Diese Theorie ist von besonderer Bedeutung für die Wahr
nehmung menschlicher Bewegungen. Je mehr man etwa als Zuschauer eine
sportliche Leistung miterlebt und je besser man das Sporttreiben aus eigener
Erfahrung kennt, um so mehr kann man die Innervationsimpulse in ihrem
sukzessiven und simultanen Zusammenhang sowie ihre Abstimmung auf die
Anforderungen der Situation „einfühlen” 1. Man ist dann — wie ein Musik
hörender Musiker — fähig, die zeit-räumlichen Merkmale des Bewegungsvollzuges
dynamisch zu verstehen. So erhalten Bezeichnungen wie locker, flüssig, eckig usw.
einen reicheren Bedeutungsgehalt, als wenn sie nur auf eine Ortsveränderung
der Körperteile angewendçt würden.
Man sieht also nicht nur was getan wird, sondern auch w ie und weshalb es getan
wird. Die Intentionalität einer Bewegung zeigt sich uns auch in der Wahrnehmung.
Es folgt daraus, daß eine intra-empirische Bewegungs-Einteilung sich nicht
nur auf die in Zeit und Raum verlaufende Ausführung bezieht, sondern zugleich
auf die den Verlauf und die Bewegungsgestalt bestimmenden Kräfte. Dennoch
wird damit der Unterschied dieses empirischen gegenüber dem von uns als
trans-empirisch bezeiehneten Gesichtspunkt nicht aufgehoben. Jene unmittelbar
angeschauten Kräfte müssen ja als koordinierte Innervations-Impulse hinsichtlich
des Subjektes als „causae secundae” aufgefaßt werden, während wir das Subjekt
selbst die causa prima seiner Bewegungen nennen könnten. Der Grad der Freiheit
oder der Zwangsläufigkeit einer Handlung, der Spontaneität oder der Reaktivität
einer Bewegung, .kann am konkreten Verlauf an sich denn auch nicht erfaßt
werden, selbst dann nicht, wenn wir die wirksamen Impulse bemerken.
Die Eigenschaften, die wir bei der Ausführung einer menschlichen Tätigkeit
beobachten können, lassen sich fast immer als Gegensätze gruppieren. Einfache
Beispiele bieten die Gegensatzpaare rasch-langsam und fließend-eckig. Während
jenes oberflächlich gesehen ein rein quantitativer, physikalisch definierbarer
Gegensatz zu sein scheint, bezieht sich dieses auf die totale Gestalt der Bewegung
und zeigt sich daher auch in ihrer räumlichen Projektion, im statischen Bild also,
das wir von der Bewegungsform entwerfen können.
Bei einer näheren Betrachtung stellt sich jedoch heraus, daß der wesentliche
Gehalt auch des Gegensatzes rasch-langsam keineswegs nach Art eines rein
physikalischen Maßes — als W eg in der Zeiteinheit — aufgefaßt werden kann.
Jede menschliche Bewegung, ein Spaziergang oder der Anlauf zum Sprung, eine
Kopfwendung oder eine Abwehrbewegung des Armes, das Graben mit dem
Spaten oder das Aufstehen vom Stuhl trägt ihr eigenes Zeitm aß als eine Norm in
1 Vergl. B u y t e n d ijk . F. J. J.r D as FußbaUspiel. Würzburg (o, Jg.).
64 Prinzipien einer funktionellen Bewegungslehre
sich. Was im einen Falle schnell, ist im anderen langsam. Beim Ermitteln eines
metrischen Merkmales ist es also nicht erlaubt, sich von funktionellen Gesichts
punkten zu lösen.
Bei gegensätzlichen Merkmalen, welche die Bewegungs/orm betreffen, verh ü t
es sich dagegen ganz anders. Sie sind in einem statischen Projektionsbild, in einer
Kurve — wie in einer Handschrift — ebensogut wahrnehmbar wie im werdenden
Bewegungsvollzug selbst. Hier handelt es sich nicht um Eigenschaften, welche
sich auf die funktionelle. Situation beziehen, sondern um eigenständige, rein
intra-empirische Merkmale der Bewegung.
Von einer fließenden Bewegung sprechen wir, wenn ihre verschiedenen
Phasen allmählich ineinander übergehen, oder wenn mehr oder weniger aus
gedehnte Teile der Bewegungskurve verschiedenen aufeinanderfolgenden
Abschnitten der Kurve zugerechnet werden können, während eine eckige
Bewegung abrupte Übergänge, in der Kurve punktförmige Verbindungen zeigt.
Zwischen beiden Gestalt-Typen gibt es mancherlei Übergänge, so daß wir danach
eine abgestufte Reihe motorischer Äußerungen aufstellen können. W ir können
so einerseits Bewegungen verschiedenartiger Bedeutung und andererseits unter
verschiedenartigen Umständen von verschiedenen Personen ausgeführte Bewe
gungen vergleichen. Freilich sieht man dann von zahlreichen besonderen Eigen
schaften ab und untersucht die Bewegung ausschließlich auf ein einziges Gestalt
merkmai hin. Dies erweist sich jedoch als fruchtbar, wenn man dieses Merkmal
mit den typologischen Eigenschaften der die Bewegung vollziehenden Person in
Zusammenhang bringen will. Eine solche Unterscheidung und Einteilung der
Bewegungen kann besonders dann von praktischem Interesse sein, wenn man den
W ert bestimmter Gestaltmerkmale kennt und auf diese Weise zu pädagogischen
Schlußfolgerungen kommen will. Die gegensätzlichen Merkmale, die wir an
Vollzugsweisen feststellen können, schließen einander als Eigenschaften ans. Eine
Bewegung ist rasch oder langsam, ruhig oder unruhig, im Rhythmus gleichmäßig
flf o r ungleichmäßig. Unbeschadet der Tatsache, daß es allerlei Übergänge geben
kann, besteht begrifflich eine scharfe Trennung, so wie zwischen W eiß und
Schwarz, groß und klein, dick und dünn. Auch hier ändert ja die Möglichkeit von
Übergängen nichts an dieser Tatsache.
Es gibt an den lebendigen Bewegungen jedoch auch gegensätzlich® Merkmale
anderer Art, Eigenschaften, die sich nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar
immer zugleich anwesend sind. Solche Gegensatzpaare nennen wir polare Merk
male. Sie sind den zwei Seiten eines Dinges oder den zwei Polen eines M agnete«
vergleichbar. Obwohl entgegengesetzt und sich relativ ausscMießend, kommen
sie iTTimpr notwendigerweise zugleich an einem konkreten Objekt vor.
Polarität ist also die Struktur eines konkret gegebenen Etwas, in der zwei
gegensätzliche aber einander gegenseitig bestimmende Richtungen wirksam sind.
Diese Gegensätze sind nur in ihrem Zusammen-Sein, ihre in sich gegensätzliche
Einheit bildet die Struktur des konkreten Objektes,
Insofern sie als „F orm " ein unteilbar zusammenhängendes Ganzes darstellt
und zugleich eine Vielheit von Teilen zeigt, kommt eine solche polare Struktur
jeder Gestalt zu. Je „höher" ihre Entwicklung, desto ausgeprägter die Einheit,
aber um so deutlicher auch die Gliederung, die Selbständigkeit der Teile. Diese
gegensätzlichen Momente polaren Charakters verwirklichen sich beide zugleich
Die typologische Einteilung 65
in konkreten Gestalten. Da dies auch für die Bewegungsgestalt gilt, kann man
Bewegungen m it geringer Ausprägung polarer Merkmale von solchen mit
besonderer Betonung derartiger, einander in ausgeglichener Spannung haltender
Merkmale, unterscheiden. W ie ein „starker** Magnet ein vollkommenerer, ein
„besserer" Magnet ist, so ist auch eine Bewegung vollkommener, wenn sie, in
einer geschlossenen Einheit verlaufend, eine reiche innere Gliederung mit Selb
ständigkeit der Bewegungsmomente gegenüber der um fasenden Totalität zeigt.
Die Verschiedenartigkeit der polaren Merkmale des konkret Lebendigen
ermöglicht eine Rangordnung der motorischen Äußerungen nach ihrer vitalen
Wertigkeit. Diese Rangordnung richtet sich nach objektiv wahrnehmbaren
Merkmalen, die jedoch nach ihrem vitalen W ertgehalt beurteilt werden. W ir
werden daher bei der Besprechung der normativen Typologie auf die polaren
Gegensätze noch näher eingehen.
(Greifen, Abwehren, usw.), teilweise psychologische sind, indem sie ja die Qualität
der Empfindungen (Schreck, Hunger u, ä.) betreffen.
Die zweite Gruppe der physiologisch bekannten Bewegungen, die spontanen
Automationen, sind viel weniger erforscht, was aus der Art der experimentellen
Methode erklärlich ist, mit deren Hilfe man nach Ursachen fahndet, indem man unter
stabilen Bedingungen die Folgen der Abwandlung eines einzigen Faktors unter
sucht. Daher liegt es für die analytische Physiologie des Nervensystems nahe,
sich vorwiegend m it der Erforschung der Reizreaktionen zu beschäftigen. Zur
Erhaltung konstanter Effekte müssen alle variablen Umstände soweit als m öglich
ausgeschaltet werden. Das geschieht u. a. durch eine Wegnahme der höheren
Teile des Nervensystems, wodurch fast alle spontanen Bewegungen ver
schwinden. Nur der spontane Automatismus der Atmungsbewegungen bleibt
erhalten und ist genau erforscht worden, wobei ò d i u. a. eine Abhängigkeit
vom „m ilieu interne" (der Blutzusammensetzung) zeigte. Auch die sog. spon
tanen Gehbewegungen, die z. B. beim Hunde m it durchtrenntem Rückenmark
auftreten, sind in der Physiologie näher untersucht worden. Die instinktiven
Handlungen dar Tiere, die sowohl durch äußere Reize (bestimmte Situationen)
ale auch aus spontanem Antrieb entstehen, haben namentlich durch ihre
Abhängigkeit von hormonalen Einflüssen das Interesse der Physiologen gefunden.
Schließlich unterscheidet man von den Reflexen, Reaktionen und spontanen
Automatismen, die sämtlich unbedingt, arttypisch auftretend, auf angeborenen
Mprihanicmp!« beruhen sollen, noch die bedingten, erworbenen Reflexe und R eak
tionen. Hierzu hat man sämtliche Gewohnheiten oder angelernten Handlungen
rechnen wollen, indem man sie nach den klassischen Vorstellungen P awlow » zu
erklären versuchte. Solche Bewegungen sollen durch die wiederholte Kom bination
von unbedingten, spezifischen Reizen mit irgendeinem zunächst unwirksamen
Reiz entstehen, bis letzterer nach Bildung neuer Reflexbahnen im Nervensystem
die gleiche Wirkung erzeugt wie die anderen.
Die hier ohne Kritik kurz skizzierte neuro-physiologische Einteilung der
Bewegungen ist eine echt trans-empirische, weil sie eine Einteilung nach den
vorausgesetzten Ursachen darstellt. Den Unterschied zwischen Ursachen und
Bedingungen hat man jedoch fast immer aus dem Auge verloren, so daß die sog.
kausalen Erklärungen meist nur konditionale Deskriptionen sind. Auch
schenkt diese Physiologie den Beziehungen der erforschten Bewegungen zum
individuellen Dasein keine Aufmerksamkeit. Die Bewegung wird nicht als
Selbst-Bewegung begriffen, daher wird der Grad von Zwangsläufigkeit und
Freiheit nicht beachtet.
Die Physiologie kennt ja grundsätzlich nur zwangsläufige Bewegungen, gleich
gültig, ob sie durch äußere oder innere Reize bewirkt, werden. Die „w illkürliche"
Bewegung des Menschen ist ihrer Ansicht nach nur dem Scheine nach „fre i", in
W irklichkeit ist sie eine komplizierte bedingte Reaktion, verbunden m it dem
subjektiven Empfinden einer freien Entscheidung oder Motivierung.
Von der meist von Biologen ausgeübten vergleichenden Tierphysiologie wird
die trans-empirische Einteilung der medizinisch orientierten Physiologie: einfache
Reflexe, komplizierte (höhere) Reflexe oder Reaktionen, Kettenreflexe oder
instinktive Reaktionen, spontane Instinkthandlungeni bedingte Reaktionen oder
Gewohnheiten, fast immer übernommen. Allmählich hat sich jedoch die tierische
Die trans-empirische Einteilung 69
----- —j -------- Y ‘ a^s0 bei einem Reflex geschieht, hängt von den „Strukturen“ ,
nicht jedoch von der Organisation der Impulse ab. Dagegen trifft das letztere
auf alle anderen Handlungen, deren Tier und Mensch in vitaler Hinsicht
fähig sind, zu. Es kommt dann zu einer „Gefttgebildung“ im Sinne einer Neu-
strukturierung. Pas erfordert das Eingreifen „des übermechanischen Faktors
der Betriebsleitung". In einem solchen Falle muß also das I (die plan
mäßigen Impulse) in die Hauptformel aufgenommen werden. Nach der Annahme
VON U e x k ü l l » kann das im Merkorgan, im W irkorgan oder in beiden stattfinden;
JJi
Trotzdem muß die Psychologie völlig enttäuschen, wenn man nach einem
Einteilungsschema der menschlichen Bewegungen fragt, das die Beziehung zum
Subjekt als Grundlage haben soll. Es beruht dies auf dem Fehlen einer Einsicht
in das Wesen der psychologischen Grunderscheinungen. Ein Beispiel soll diese
Behauptung erläutern.
Viele Psychologen haben die enge Verknüpfung von Bewegungen und Vor
stellungen eingesehen.. Einerseits meint man, es könnten sich ohne angedeutete
Bewegungen kein? Vorstellungen bilden, andererseits sollen alle Vorstellungen
Bewegungen verursachen und regulieren. Die Vorstellungen brauchen nicht
immer bewußt zu werden, vielmehr können sie auch als unbewußte Schemen,
als „vitale Phantasie“ (Palagyi) wirksam werden. Darin liegt ohne Zweifel
ein Kern von Wahrheit. Es fehlt jedoch bisher eine Einsicht in das
Wesen der Vorstellungen als solche. Erst die vorzügliche - phänomenologische
Untersuchung Sartres über »L ’Imaginaire1« hat uns den Merkmalsreichtum
der Vorstellungen und die Mannigfaltigkeit der Beziehungen zwischen den
„im ages“ und den anderen psychischen Erscheinungen gezeigt. Erst durch diese
Erkenntnis könnte man zu einer wirklichen Einsicht in den genetischen Zu
sammenhang zwischen Vorstellung und Bewegung kommen, jedoch nicht ohne
ein« besonders darauf gerichtete Untersuchung.
In den üblichen psychologischen Lehr- und Handbüchern werden die mensch
lichen Bewegungen auf dieselbe Weise eingeteilt wie in der Physiologie. Der einzige
Unterschied besteht vielleicht darin, daß man den Reflexen als Merkmal ihren gänz
lich „unbewußten“ Verlauf hinzufügt, was auch für die automatischen Bewegungen
gilt, die jedoch aus bewußt kontrollierten Bewegungen entstanden sein sollen.
Einige Versuche zu einer psychologischen Einteilung der Bewegungen seien
noch erwähnt. H omburger unterscheidet:
a) initiative Bewegungen („eigent&tig und selbstbestim m t"),
b) reaktive Bewegungen („reizbedingt und frem dbestim m t"),
c) automatische Bewegungen („selbsttätig und vorbedingt“ ),
d) auxiliäre Bewegungen („behelfsm äßig und ausfallsbedingt“ ).
G rünbaum 1 gab eine differenziertere, auf den Zusammenhang mit dem
Bewußtsein gerichtete Einteilung und unterschied:
1. passive Bewegungen ;
2. rem physiologische, organisch zweckmäßige R eflexe, die außerhalb des Be
wußtseins verlaufen und nie willkürlich reproduzierbar sind, z. B . der Pupillenreflex;
3. Reflexe, deren Verlauf wohl bemerkbar ist, aber deren innerer Ursprung
außerhalb unseres Bewußtseins und außerhalb unseres Willens liegt, z. B . der
Patellarsehnenreflex;
4. psychische Reflexe, z. B, unwillkürliche Abwehrbewegungen, bei deren
Ausführung man das Unwillkürliche deutlich bemerkt. Man erlebt also sowohl
den Ablauf, als auch den psychischen Ursprung, nämlich die Unwillkürlichkeit.
Sie entstehen durch Übung ;
5. Automatismen, zunächst willkürlich ausgeführte und bewußt eingeübte Be
wegungen, die in Entstehung und Verlauf durch feste Assoziationen mit sinnlichen
Eindrücken gelenkt werden, Auch als Automatismen sind sie noch immer bew ußt;*
1 Sartb», J. P.: L'Imaginaife. Paris 1940.
* Ghünbaum, A. A.: Wil m Bewegixtg. Ned. Tijdsehr. v. Genesk. 1919, S.202S.
72 Prinzipien einet funktionellen Bewegungslehre
» cf. xje Wabthens: Une Philosophie de l'Ambigüité, S. 328. Louvain 1951 : »La liberté
est tonjoora une rencontre, un passage, un échange de l'extérieur et de l’intérieur.«
74 Prinzipiell einer funktionellen Bewegungslehre
Selbst ist hier und jetzt als wahmehmend-handelndes tätig, sondern ich gehe
ganz in dem örtlichen Bedrohtsein meines Leibes auf. In der reflektorischen
Bewegung drückt sich daher der Verlust der Verfügungsgewalt über diesen
Körperteil aus, was wir an dem Unvermögen, den Reflex zu unterdrücken,
bemerken.
A udi mehr oder weniger komplizierte Bewegungen können sich zwangs
läufig vollziehen, wie die Reaktionen bei Schrecken und Angst, die Abw ehr
bewegungen und die Gleichgewichts-Wiederherstellungsreaktionen. Sie treten ohne
unser Zutun auf, „ehe wir davon wissen“ , wie man bezeichnenderweise sagt.
Sie können jedoch mehr oder weniger weitgehend unterdrückt werden, aber nur
dann, wenn man so sehr in die Situation eingeordnet ist, daß man über seinen
Leib verfügt. Dies gelingt meist, wenn man eine bestimmte Haltung annim m t
und dabei Muskelanspannungen entwickelt. Einen gut analysierten Fall bietet
uns das Einstellen auf Ausgleich eines Druckes oder Stoßes. Wenn eine solche
Einwirkung von einer bestimmten Seite zu erwarten ist, so können wir ihr durch
eine sog. Versteifungsinnervation oder durch die Intention einer rasch ent
wickelten ausgleichenden Muskelanspannung derart Vorbeugen, daß durch den
Stoß keine Ortsveränderung mehr auftritt. Wer über Glatteis schreitet, ist auf
eine mögliche Gleichgewichtsstörung eingestellt. Dasselbe gilt im Gefecht, und
die Kunstfertigkeit des Angriffes zielt auf einen unerwarteten Schlag, auf den
die a«sgl*irh«>T>dft Einstellung also nicht ausgerichtet ist.
W ie unwillkürlich die Reaktionen auch sein mögen, sie betreffen dennoch
uns selbst und unser Dasein in der Situation und sind daher echte Selbst
bewegungen. Ihre Zwangsläufigkeit beruht auf der Situation mit ihrem raschen,
unerwarteten W echsel. Die Situation ihrerseits wird jedoch mit durch das
Subjekt m it seinen Vorsätzen, Erlebnissen, seiner Vorgeschichte und seinen
spezifischen Absichten „gem acht" und die dominierenden Merkmale der Situation
kommen in der Reaktions- und Haltungsbereitschaft mit zum Ausdruck.
Außer den Reflexen als den unbeherrschbaren zwangsläufigen, Bewegungen
und den beherrschbaren zwangsläufigen Reaktionen gibt es viele von selbst,
unbewußt und autonom ablaufende Bewegungen1. Es gehören hierzu die meisten
Bewegungen des Alltags, auch alle partiellen (Homburg* auxüiare) Bewegungen
im Verlaufe einer freien, motivierten, beabsichtigten Handlung. Wenn ich aus
irgendeinem Grunde ein Buch aus dem Schrank holen will, schiebe ich meinen
Stuhl rückwärts, stehe in bestimmter Weise auf, gehe durch das Zimmer, indem
ich den Möbeln ausweiche und ergreife das Buch m it automatisch regulierter
Hand- und Armbewegung, Sämtliche partiellen Bewegungen geschehen „v o n
selbst“ . Sie sind vollkommen abgestimmt auf die Struktur der Umgebung und
abhängig vom Aufbau und den mechanischen Bedingungen des Körpers. A ber
auch Tradition, Stil und persönliche Erfahrung üben einen Einfluß auf sie aus.
Sie werden reguliert durch die optische Wahrnehmung und ihre während der
Bewegung stattfindende Umwandlung, wie auch durch die sensiblen Eindrücke,
die durch die Bewegung in den Körperteilen ausgelöst werden. Während wir
* Die autonomen Bewegungen sind auch automatisch, aber ebenso wie die zwangsmä&igen
Reaktionen und die willkürlich«! Bewegungen, dem Verlaufe nach. Die Einteilung Grün-
baums führt denn auch zu einem Verständnis des Freiheit«- und Zwang*l!Aiifigk«>t»»p^fB ¿or
Bewegung und ihrer Beziehung zum Selbst.
Die funktionelle Einteilung 75
darauf unten näher eingehen werden, darf die Vereinigung dieser so häufigen
Bewegungen zu einer Gruppe vorläufig genügen. Neben den Reflexen und
Reaktionen stellen sie also die autonomen Bewegungen dar. Sie verhalten sich zum
Subjekt so wie die beweglichen Körperteile, über die wir ja wie über Mittel verfügen
können. Zudem haben wir gelernt, sie zu gebrauchen, so wie wir gelernt haben,
einen Bleistift oder ein Fahrrad, aber auch unsere Arme und Beine zu benutzen.
Im Zusammenhang mit den sog, willkürlichen Bewegungen, die gänzlich von
uns selbst, ja von unserer W illkür abhängen sollen, braucht uns das viel umstrittene
Problem der W illensfreiheit hier nicht zu beschäftigen, da es auf einem
anderen Feld, auf einem anderen Niveau liegt. Die Willensakte als solche werden
innerlich vollzogen; als die Verkörperung eines Willensaktes ist die willkürliche
Bewegung eine äußerlich oder innerlich befohlene Tat. Der Ausführung geht
eine mehr oder weniger deutliche Vorstellung der Handlung, wenigstens der
Hauptrichtung ihrer Bewegung voraus. Auf mannigfache W eise hat man die
„Ursache" der willkürlichen Bewegung zu definieren versucht. Man spricht von
BewegungsVorstellungen, Bew egunppltnen oder Bewegungsschemen als den
„K eim en" für die Entfaltung der Bewegungsgestalten, wobei dann determinierende
Tendenzen, dominierende Faktoren, prospektive Einstellungen auf einen End
punkt oder Zweck wirksam sein sollen1 — Begriffe, die jedoch keineswegs her
friedigend sind. Ebenso wie bei den Reflexen, Reaktionen und autonomen
Bewegungen ist uns völlig unbekannt, wie und wodurch die Ausführung einer
willkürlichen Bewegung zustande kommt.
Die alltägliche Erfahrung und Experimente über Widerstände, Störungen,
Nebenaufgaben usw. lehren uns jedoch, daß auch während der Ausführung die
willkürliche Bewegung noch an das Subjekt gebunden ist. Die Person beherrscht
die Ausführung, wenn auch nicht in allen Phasen. Im Maße dieser Beherrschung
liegt ein deutlicher Unterschied zu den bisher genannten Bewegungsgruppen.
Wenn die am meisten „freien " Bewegungen die vom Subjekt beherrschten sind,
so wäre eine vorläufige trans-empirische Einteilung der menschlichen Bewegungen
folgendermaßen durchzufuhren:
1. Reflexe oder zwangsläufige, selbständige Bewegungen;
2. Reaktionen oder zwangsläufige, beherrschbare Bewegungen;
3. autonome oder verfügbare Bewegungen;
4. willkürliche oder frei beherrschte Bewegungen.
Die Zukunft wird zeigen, wieweit diese Einteilung die Keime einer echten
Systematik in sich trägt und wieweit sie zur Einsicht in die grundlegenden
Beziehungen; der Bewegungen zum Subjekt wesentlich beitragen kann.
,1Das Büchlein von R évèst („Die menschliche Hand“) versucht eine funktionelle Dar
stellung der Hand zu geben. Sehr schön: F ocuxon , H en ri, Éloge de la main, in: »Via das
Formes«, Paris 1947: »La main est action, elle prend, elle crée, et parfois on dirait qn’elle
pense« . . . »ainsi l'esprit fait la main, la main fait esprit.«
G ibt es sinnlose Bewegungen ? 77
W orten: die Erregung ist Me W elt für das Selbst-Sein, die Bewegung das Selbst-
Sein für die Welt. Beide Momente bleiben immer unzertrennlich verbunden.
Wenn die Selbstbewegung fehlt» fehlt auch die Erregung und ohne diese gibt es
keine Selbstbewegung. Dies zeigt uns das strampelnde Kind, bei dem weder
von Handlung noch von Ausdrucks-Bewegung die Rede ist, weil das primitive
Selbst-Bewegen nicht auf ein Ziel gerichtet ist und keinen Ausdrucksgehalt hat.
Das Sich-Bewegen des Wiegenkindes ist sicher eine Verhaltensweise, aber die
Differenzierung in eine der beiden Hauptrichtungen hat sich noch nicht voll
zogen. Dies meinen wir auch, wenn wir einmal urteilen: das Kind strampelt und
schreit vor Hunger und zum anderen m it gleichem R echt: das Kind will etwas
trinken. Im ersten Falle fassen wir die Bewegungen als Ausdrucksbewegungen
auf, die noch wenig charakteristisch und spezifisch sind und daher ebensosehr
Hunger als etwa Schrecken ausdriicken können. Im zweiten Falle verstehen wir
eben dieses Schreien und Strampeln als eine, wenn auch unzweckmäßige, un
differenzierte und unspezifische Handlung, die ebensosehr auf das Erreichen eines
anderen Zieles als die Stillung, etwa auf das Aufgenommenwerden aus der Wiege,
ausgerichtet sein könnte. Bedenken wir die Verhältnisse, wenn jemand herumspa
ziert oder ruhig dasteht. Ohne Zweifel gibt es dabei eine durch das Subjekt be
dingte Aktivität, aber sie ist keine typische Handlung oder Ausdrucksbewegung.
Beim Stehen treten wechselnde Mnskelanspannungen auf, die zwar keine groben
Änderungen bewirken, die aber doch ein Tun bestimmten Inhalts darstellen, ebenso
wie das Halten eines Gegenstandes, das Offenhalten der Augen, das Geschlossen
halten des Mundes. Für eine Handlung fehlt jedoch das Fortschreiten der Aktivität
in Richtung auf einen Endpunkt. Ziellosigkeit kennzeichnet nicht nur das Stehen,
sondern auch das Herumspazieren und jegliche Form einer spielenden Tätigkeit.
Hierin stimmen sie mit den angeführten sog. sinnlosen Bewegungen überein.
Das Gemeinsame solcher Tätigkeiten wie Stehen, Spazierengehen, Herumschauen
usw. ist eigentlich ein statisches Verhältnis zur Außenwelt und zur A ktivität selbst.
Es liegt darin eine Verwandtschaft m it den Ausdrucksbewegungen, so daß sie des
öfteren als Ausdruck von GefüUszusttnden oder Antrieben, Bindungen oder
Erregungen aufzufassen sind. Fragt man nach dem Grund des Spielens usw.,
so erteilt man meist die Antwort, es gäbe keinen, man mache es „nur s o ". Eine
genaue Selbsterforschung lehrt, daß die Tätigkeitsform gewählt wird, weil sie
„angenehm " ist. Es wird hier etwas getan, nur um es eben zu tun. Das ist am
deutlichsten beim Spiel, und die spielerischen Bewegungen müssen daher funk
tioneil von Handlungen und Ausdrucksbewegungen unterschieden werden,1
Die Handlung ist am meisten dynamisch, sie bewegt sich auf ein Ziel hin;
Ausdruck und spielerische Bewegungen entspringen einem konstanten Verhältnis
zu den Dingen. Ein Ausdruck spiegelt ja einen inneren Zustand, das Spiel ist ein
B esch äftigt-S «» mit etwas. Am meisten statisch sind die Mallungen, das Stehen,
Sitzen, Liegen und die Haltungen der Glieder. Eine Haltung ist ein .aktives
Nicht-Bewegen oder ein aktives Sich-Entspaimen, eine Ausgangslage für Be
wegung oder Ruhe; aber sie kann auch der Ausdruck eines Empfindens oder
unseres Verhältnisses zur Umgebung (z. B. Aufmerksamkeit, Staunen) sein.
Nach diesen Überlegungen leuchtet ein, daß Haltung und Bewegung oft doppel-
sinnig sind und oft gar eine Unterscheidung von Handlung und Ausdrucks-
1 Vgl. hierzu meine Abhandlung: „Das Spiel von Mensch und Tier." Berlin 1933.
80 Prinzipien einer funktionellen Bewegungslehre
bewegung unmöglich ist. Diese Unterscheidung gelingt nie, wenn wir nur einen
Teil der Situation oder eine einzige Phase des Verlaufes Überblicken. D er fu n k
tionelle Gehalt entsteht ja erat durch die Beziehung zwischen der Situation u n d
ihrer Entwicklung.
W erfe ich im Vorübergehen an einem Hause einen Bück in ein Zimmer u n d
sehe dort jemanden m it erhobener flacher Hand, so kann dies alles M ögliche b e
deuten : die Phase einer Handlung, etwa das Erschlagen einer Mücke, den A us
druck des Schreckens oder der Abneigung, sogar einen Gruß, also eine repräsen
tative Gebärde. Lassen wir Letzteres beiseite, so bleibt die Möglichkeit eines
Verstehens als Handlung oder Ausdruck. Ob die Bewegung im ersten oder im
zweiten Sinne zu verstehen ist, hängt davon ab, ob wir ihre Ausrichtung auf einen
Sinn unmittelbar mitsehen, diesen Sinn dem Beobachteten entnehmen können.
Dazu jedoch ist Einblick in die Situation und ihre Entwicklung erforderlich.
Erst daun differenziert sich unsere Auffassung, indem sich der W esensunterschied
von Handlung und Ausdrucksbewegung zeigt. Im ersten Falle gibt es eine B e
ziehung zwischen dem konkreten Phänomen der Bewegung und einem Punkt, auf
den sie gerichtet ist, wo sie endet, d. h. ihre Bestimmung, ihr Ziel erreicht. Im
zweiten Falle ist die Bewegung ein Bild, d. h. das Sichtbarwerden eines Sinnes in
einer Gestalt.
Die Hauptemteüung der Bewegungen in Handlungen und Ausdrucks
bewegungen beruht nicht auf einigen zufälligen Merkmalen oder auf vorausgesetz
ten Ursachen, sondern sie gründet h i einem w esen tlich en Unterschied von m ensch
lichem und tierischem Verhalten1,
Stellen wir uns das Gesicht eines Menschen vor, der etwas Hartes zerbeißt.
Niemand wird leugnen, daß der Biß eine Handlung ist und das Bild des A ntlitzes
durch die Anspannung sämtlicher Muskeln, die das Ziel erreichen helfen, ver
ständlich wird. Um dies verstehen zu können, muß jedoch der Anlaß dieser
an sich fremden, asymmetrischen Verziehung des Gesichtes bekannt sein oder
jedenfalls vermutet werden. Erat in der Annahme, daß die Person etwas tu t,
kann man die Abweichung in den gewöhnlichen, ruhigen Zügen als eine Phase im
Verlauf einer Handlung verstehen, so daß sich das Bild im Lichte des Begriffes
der Handlung erhellt. Gibt es eine solche Annahme oder Erwartung nicht, so
kann dasselbe Bild des Gesichtes nur als Ausdruck verstanden werden. D as
Muskelspiel ist dann nicht mehr auf das zukünftige, z, B. das Durchbeißen einer
Nuß gerichtet, sondern die Züge erhalten eine eigene Bedeutung, die vom Zu
stand der inneren und äußeren Situation abhängt. Die mimischen Züge müssen
als ein Bild für sich aufgefaßt, werden, nämlich als Ausdrucksbüd**.
Dieses Beispiel ist nicht nur lehrreich zur Darlegung des apriorischen Charak
tere der Begriffe Handlung und Ausdruck, sondern es zeigt auch, wie eine Handlung
zugleich Ausdrucksbewegung sein kann. Beißt nämlich jemand auf etwas sehr
Hartes, oder auf etwas Härteres als er erwartete, so ist die einseitige Anspannung
der Gesichtsmuskeln, wobei vielleicht auch ein Auge zugekniffen wird, nicht mehr
ausschließlich ein Mittel zum Erreichen des Zieles. Gewisse Muskelkontraktionen
und Spannungen würden sinnlos, wenn man die Gesichtszüge allein als Phase
einer Handlung anslhe. Man spricht dann von „überflüssigen" Bewegungen oder
ziellosen Mitbewegungen. Biese bedingen jedoch gerade den Äusdruckscharakter
des Antlitzes, gestalten ein Bild, das den Zustand darstellt, den vorhandenen
Widerstand und die Anstrengung, die Überraschung und das Mühsame.
Bei einer näheren Betrachtung der -Merkmale von Handlung und Ausdrucks
bewegung können wir den bereits geschilderten Unterschied noch weiter heraus
arbeiten. Weil eine Handlung nach einem Ziel ausgerichtet ist, sich einer Endphase
als ihrer Vollendung immer mehr nähert, schreitet sie sukzessive fort und ändert
sich von Augenblick zu Augenblick. Macht man von einer Handlung eine
Momentaufnahme, so ist das Bild, das ja nur eine Durchgangsphase darstellt,
meistens unverständlich, sinnlos.
Ganz anders gestaltet sich bei einer Ausdrucksbewegung das Verhältnis
zwischen ihrem Sinn und dem Verlauf sowie der Zeit im allgemeinen. Der Aus
druck trägt seine Bedeutung in sich, ist seinem Wesen nach nicht auf ein Ziel
gerichtet. Die in der Zeit verlaufende Veränderung der Ausdrucksbewegung
braucht selbst keinen Sinn zu haben. Der Anfang eines zornigen Gesichts
ausdruckes ist, weil undifferenziert, vielleicht noch undeutlich, stellt aber bereits
eine zunehmende W ut dar. Diese selbständige Bedeutung einer jeden Phase
zeigt sich noch deutlicher, wenn sich in der Entwicklung des Ausdrucksbildes
mehrere Zustandsänderungen abspielen, wie beim Schmecken oder wenn man
einem dramatischen Ereignis folgt. Im Gegensatz zu der Handlung ist bei der
reihen Ausdrucksbewegung die ganze Bedeutung im Bilde einer jedèn Phase
enthalten, wenn sich auch diese Bedeutung in der Zeit verwandeln kann, z. B.
im Sinne einer Entwicklung oder eines Übergehens in eine andere.
Eine Handlung läuft ab, aber ein Ausdruck dauert. Von einer Handlung ist zu
erwarten, daß sie in einer bestimmten Zeit ausgeführt wird. Sie beginnt in einem
objektiv feststellbaren Zeitpunkt und ist auch in einem bestimmten Augenblick
zu Ende. Eine Handlung hat einen Verlauf. Ohne ihre funktionelle Bedeutung
zu'verändern, kann man sie schnell oder langsam ausführen. Eine Ausdrucks
bewegung dagegen stellt sich ein, schwillt an und klingt a b ; sie durchläuft dabei
mehrere Differenzierungsphasen, ohne eine Zeitdistanz zu durchmessen. Die Zeit ist
als ein integrierendes Moment in die Funktion selbst einbezogen. Die Dauer eines
Lachens oder Weinens verwandelt ihren Ausdrucksgehalt. Die Zeit hat nicht nur
einen Intensitäts-, sondern auch einen Qualitätswert für die Ausdruckserscheinun
gen. Eine Unterscheidung Bergsons übernehmend, können wir sagen, die Handlung
vollziehe sich in einer »tem ps espace«, der Ausdruck in einer »tem ps durée«.
Die »tem ps espace« können wir objektiv feststellen, nicht aber subjektiv
erleben. So lehrt die Erfahrung denn auch, daß wir im Handeln keine Zeit erleben,
sondern daß jede Tätigkeit uns die Zeit vergessen läßt. Bei einer Ausdrucks
bewegung jedoch bildet die Dauer ein integrierendes Moment des innerlich
Erlebten, bestimmt die Qualität des Gefühls oder der Stimmung m it, ohne in einer
Aufeinanderfolge von Zeitmomenten teilbar zu sein1.i
i Vgl. von W bizs Ac k xm Begrifl der „zeitüberbriickenden Gegenwart" („Wahrheit und
.Wahrnehmung". Leipzig 1942) und den verwandtenBegriffM inkow sk » : »Synchronisme vécu«.
BuyUndük, Hzltun, tu*! Bcmpug 6
82 Prinzipien einer funktionellen Bewegungslehre
W ir definierten eine Funktion als ein auf etwas anderes sinnvoll bezogenes
Geschehen. Die Handlung ist auf ihr Ende als auf ihr Ziel bezogen; der A usdruck,
der seinen Bedeutungsgehalt in sich selbst trägt, ist auf unser So-Sein-m -
der-W elt bezogen. Fragt man bei einer Handlung, wohin sie führt, so erkundigt
man ach beim Ausdruck nach dem Zustand, in dem einer sich befindet.
Diesen Zustand lesen wir an den Gesichtszügen» der Haltung, dem B ück
und den Bewegungen ab, weil die Ausdrucksbewegungen die Gemütsverfassung
offenbaren.
Die Ausdrucksbewegungen sind nicht nur zwecklos, sondern sie können sogar
sehr unzweckmäßig sein. Und dennoch haben sie eine Bedeutung als Offenbarung
pjnw inneren Zustandes. Wenn Mensch und Tier ausschließlich als zielgerichtete
Strukturen (Maschinen) begriffen werden könnten, dann könnte es keine Aus
drucksbewegungen geben. So hat D a r w i k denn auch ihr eigentliches W esen ver
kannt, indem er sie als Reste zweckmäßiger Handlungen auffaßte. Das W esen des
Lebendigen beruht also nicht auf der Leistung, dem Tun von etwas, sondern auf
dem Selbst-Sein in einer Situation, das sich durch das Tun erhält. So sind die
Bewegungen, welche den inneren Zustand, die „Befindlichkeit" dieses Selbst-
Seins zum Ausdruck bringen, ursprüngliche Funktionen, die weder auf H and
lungen reduzierbar sind noch aus ihnen entspringen.
Es ist nicht immer leicht, die repräsentativen Bewegungen von Ausdruck und
Haltung zu unterscheiden. Das findet seinen Grund darin, daß wir inneres und
äußeres Leben, die in der konkreten Einheit der Existenz unmittelbar verbunden
sind, im reflexiven Denken über unser eigenes und anderes Dasein in zwei Seins
weisen gespalten auffassen, die scheinbar in Beziehung zueinander stehen, indem
das Innere das Äußere gewollt hat und dieses das Innere repräsentiert. Deshalb
ist die Frage nach einer Handlung und Ausdrucksbewegung zweideutig. Man
kann darauf zwar antworten, daß eine Handlung einen bestimmten Vorsatz, pin*»
Absicht „vertrete", während ein Ausdruck demgegenüber ein Gefühl oder eine
Stimmung „repräsentiere" . D och ist eine derartige Ausdrucksweise m etaphorisch,
wenn wir die ursprüngliche, funktionelle Struktur der Bewegungen im B licke
haben. Erst sekundär können sämtliche Handlungen und Ausdrucksbewegungen
einen repräsentativen Charakter erhalten, wobei sie jedoch ihren ursprünglichen
funktionellen Sinn verlieren. Sie sind dann keine echten Handlungen, keine
Ausdruckserscheinungen mehr, sondern verwandeln sich intentional in Gebärden,
Eine repräsentative Bewegung ist nur beim Menschen möglich und besteht in
einer Gebärde, im gesprochenen W ort oder dessen Ersatz in Zeichensprache
und Schrift. Es ist charakteristisch für diese repräsentativen Bewegungen, daß der
Sinn der Bewegung nicht anschaulich gegeben ist. Die Bewegung verweist auf
etwas anderes, das nicht in ihr selbst liegt und worauf sie sich auch nicht bezieht.
Zwischen Zeichen und Bezeichnetem besteht denn auch eine ganz andere B e
ziehung als zwischen einer Ausdnicksbewegung und ihrem Sinn oder einer Hand
lung und ihrem Ziel. Beim Sprechen etwa gestaltet sich zwischen dem W ahr
nehmbaren und seiner Bedeutung ein viel lockereres Verhältnis als bei Ausdruck
und Handlung. In diesen erscheint der Sinn sichtbar, beim Sprechen wird er durch
das W ort nur vertreten. Man kann denn auch unmöglich die repräsentativen
Bewegungen aus den Ausdrucksbewegungen ableiten. Das zeigt sich am deut
lichsten in den Theorien über den Ursprung der menschlichen Sprache und die
Die Problem atik von H aitang und Fortbewegung 83
Mißverständnisse über die sog. Sprache der Tiere1. Es ist unangemessen, bei
Tieren repräsentative Bewegungen anzunehmen. Was man dafür ansah, sind
Ausdrucksbewegungen oder Handlungen mit Ausdruckscharakter. Oben haben
wir schon darauf hingewiesen, daß es zwischen den Grundformen der motorischen
Funktionen einen gegenseitigen Zusammenhang gibt. Einer der wichtigsten ist
wohl, daß fast jede Handlung und jede Gebärde durch die W eise ihrer Aus
führung Ausdrucksgehalt besitzt. Während sich ein Ausdruck bei jeder, sogar
minimalen Variation der Ausführung in seiner Bedeutung verändert, wie das
vor allem die Mimik zeigt, kann eine Handlung in mehrfacher W eise ausgeführt
werden. Es gibt viele „W ege“ zur Erreichung des Zieles, zur Erfüllung des Sinnes
der Handlung.
gungen, die eine stehende Haltung ermöglichen, liegen teils im Aufbau der G elenk
kapseln und Bänder, teils in Anordnung und Innervation der Muskeln. Ganz ohne
Muskelaktivität ist ein freies Stehen unmöglich. Das liegt an der Labilität des
Gleichgewichtes der Körperteile, deren gemeinsamer Schwerpunkt oberhalb der
sehr beweglichen Gelenke liegt. Von den ersten Untersuchungen von B o re lli *1
(1679) bis zu den exakten Messungen von B raune und F ischer1, hat m an
Schwerpunktsbestimmungen zur Grundlage der Mechanik des Stehens (und
Gehens) gemacht8.
Zur begrifflichen Klärung des Stehens als Prozeß und Funktion ist eine E in
sicht in die ununterbrochene Muskelaktivität und ihre Veränderung schon beim
geringsten Stellungswechsel erforderlich. Bei jeglicher anderen Form des Stehens,
wenn man sich mehr oder weniger auf ein Bein stützt, beim Wechsel der H altung
der Arme und des Kopfes, beim Anlehnen oder beim Tragen von Lasten, stellt sich
jeweils - eine andere Muskelwirkung ein. Auch beim Stehen in einer der drei
genannten Grundstellungen zeigt der Körper Schwankungen, vor allem vor- und
rückwärts. Neueren Untersuchungen (S childbach *) zufolge sind die Schwankun
gen bei zusammengenommenen Hacken am geringsten bei einem Winkel v on 30— 45°
zwischen den Füßen. Bei einer Spreize von zwei Fußbreiten sind die Schwankun
gen noch geringer. Es gibt wichtige individuelle Unterschiede; Übung hat dagpg^n
keinen Einfluß. Allerdings bewirkt, wie allgemein bekannt, das Schließen der
Augen eine größere Standlabilität. Ob es auch bei Blinden eine größere Labilität
gibt, ist mir nicht bekannt.
In der Frage der zweckmäßigsten Haltung beim Stehen bestand lange Zeit keine
Übereinstimmung. Die Beantwortung dieser Frage ist von praktischem In
teresse für die optimalen Bedingungen verschiedener Arbeitsformen, welche die
freie Wahl der Haltung und ihre Abwechselung beschränken. Auch für Menschen,
die stehen müssen, kann eine Verbesserung der Haltung auf die Dauer von
hygienischer Bedeutung sein, zumal eine „schlechte" Haltung verschiedene
pathologische Abweichungen zur Folge haben kann (Rückgratverkrümmungen,
Abweichungen in Knie- und Fußstellung, Plattfüße, schlaffe Bauchmuskeln usw.).
Je mehr unsere Kenntnisse über das Stehen durch die Untersuchungen von
Psychologen, Arbeitsphysiologen und Orthopäden gewachsen sind, desto mehr
wächst auch unsere Überzeugung von der geringen „instinktiven" Sicherheit des
Menschen selbst für die gewöhnlichste Körperhaltung. Das Stehen ist nur hin
sichtlich allgemeiner Merkmale eine vitale Funktion, in seinen Besonderheiten ist
es von vielerlei Faktoren abhängig. Seine besondere Weise wird auch in hohem
Maße durch die Tradition und den Stil einer Bevölkerungsgruppe bestim m t, w o
durch hygienische und funktionell zweckmäßige Momente in den Hintergrund
treten können.
1 B orelli : De Motu Animalium, Lugduni Batavorum 1679.
1 B raune u . F ischer : Über die Lage des Schwerpunktes des menschlichen Körpers.
Abh. Math, und Phys. Kl. Siebs. Ges. Wiss. 45 (1889).
* Stein dler ; Mechanics of normal and pathologieal locomotion in man. p, 34. London
1935. — Die Lage des Schwerpunktes bei den Tieren steht in engem Zusammenhang mit ihrer
Lokomotion: "From the phylogenetic point of view it is of extreme interest to follow ihe
changes in the Situation of the weight Center from species to species, ainee its poaition is
almost symbolical for the character of locomotion.”
* Schildbach : Arbeitsphysiologie. 11, 158 (1940).
Die Mechanik des Stehens 87
Bei der Ermittlung der zweckmäßigsten W eise zu stehen, können wir den von
M en se n d iic k entwickelten Gedanken nicht übergehen. Die erwähnte Haltung
von aktiver Ruhe ist ihrer Ansicht nach die zweckmäßigste und hygienisch vor
teilhafteste, weil sie — insbesondere während des Wachstums — eine harmonische
Entwicklung fördert und häufig vorkommenden pathologischen Abweichungen
zuvorkommt, Außerdem sei diese Haltung der weiblichen Gesundheit zuträglich,
weil durch die erforderliche Anspannung der Bauchmuskeln und das ausgiebigere
Rückwärts-Kippen des Beckens die Bauchorgane wie in einer Schale gehalten
würden. Eine nähere Erörterung der detaillierten Zweckmäßigkeitsbetrachtungen
M ensendieck * würde uns hier zu weit führen; wir wollen nur auf zwei ihrer all
gemeinen Prinzipien hinweisen. Das eine betrifft die Fußstellung, das andere die
Methode der Haltungsverbesserung.
M e n s e n d ie c k hat sich mit großem Nachdruck für ein Stehen m it parallel
gerichteten Füßen eingesetzt. Lange Zeit warf man dagegen ein, dies sei unnatür
lich, weil kaum jemand „von selbst“ diese Fußstellung einnehme. Das ist jedoch
unrichtig, denn diese Stehform ist bei Naturvölkern recht allgemein verbreitet und
auch Kinder stehen vorzugsweise mit parallelen, .manchmal sogar m it nach innen
gewandten Fußspitzen.
G aulhofer 1 hat das Problem der Fußstellung historisch, soziologisch, ana
tomisch und funktionell genau untersucht. Für eine eingehende Orientierung
findet man in seinem Werk alle Angaben aus der Literatur in vorzüglicher, kriti
scher Weise besprochen. Er zeigt den Wechsel der Fußstellung in verschiedenen
Kulturperioden und die traditionelle Bedingtheit des Stehens m it nach außen
gewandten Fußspitzen bei geschlossenen Hacken. Besonders in der zweiten
H älfte des 19. Jahrhunderts hat man die militärische Haltung m it auswärts ge
wandten Füßen als normaler angesehen und aus anatomischen und bewegungs-»
mechanischen Gründen verteidigt. Auch für den Turnunterricht wurde diese Fuß
stellung als die am meisten erwünschte gefordert. G aulhofer zufolge ist M en sen
d iec k wahrscheinlich die erste Turnlehrerin, die das Stehen in paralleler Fuß
stellung vertrat*.
G aulhofe R» funktionelle Einteilung der verschiedenen Formen des Stehens
erscheint uns wichtig. Er unterscheidet A rbeitsteilungen, Ausgangsstellungen,
Ruhestellungen und Schaustellungen und zeigt in einer Kulturgeschichte der
Haltung, wie die Stilformen insbesondere durch militärisches Reglement, durch
das Fechten und den Tanz bestimmt wurden und wie sie das ästhetische Em p
finden geformt haben. Die parallele Fußstellung wird auch von G aulhofer als die
zweckmäßigste angesehen*.
Mensendieck* weiteres Prinzip zur Methode der Haltungsverbesserung ver
dient unsere Aufmerksamkeit, weil es in das wichtigste Problem der funktionellen
1 G aulmofer, K,: Di© Fußhaltung; ein Beitrag zur Stilgeschichte der menschlichen
Bewegung. Kassel 1930.
* a. a. O. S. 181.
* So schreibt er S. 213 ; „Von einigen wenigen Fällen abgesehen, in denen die Auswärts
drehung des Fußes bereits im Knochenbau festgelegt ist, zeigt sich ganz klar die Notwendig
keit, bei jeder Körperschulung strenge darauf zu sehen, daß die Füße in der Grundstellung
und der Gehrichtung getragen werden, also parallel und geradeaus. Das ist nicht nur die
beste Bereitschaftshaltung für den Gang, sondern auch die statisch beste aufrechte und sym
metrische Stellung mit geschlossenen Beinen."
88 Die Problematik von Haltung u n i Fortbewegung
Befrachtung des Stehens, das ist die Frage nach der automatischen Tonusvertei-
lung, einführt. Entscheidend für diè MENSENDIECK-Methode ist die W eise, wte die
Anweisung zur Korrektur der Haltung (und Bewegung) gegeben wird. Schon dar
Begriff „Instruktion" oder Anweisung ist jedoch vielen modernen T u m -T h e o re ti-
kem ein Stelli des Anstoßes. Sie meinen, jegliche Form einer Vorschrift als un
natürlich ablehnen zu müssen, zum mindesten dürfen sie nur indirekt gegeben
werden, mdem man Handlungsaufträge erteilt, welche die gewünschte K orrektu r
automatisch mit sich bringen (Gaulhofer ).
M e n s e n d ie c k appelliert an die vernünftige Einsicht des Schülers, der ganz
genaue Anweisungen für ein analytisches, anatomisch-mechanisches Verständnis
der erwünschten Haltung erhält. Auf diese Weise soll die Einsicht in die'richtige
Innervation verm ittelt werden. Das allein genügt jedoch nicht; es muß vielm ehr
noch drei weiteren Bedingungen entsprochen werden. Neben der optischen K on
trolle (nötigenfalls im Spiegel) wird eine kinaesthetische Kontrolle, d, h. eine
Entwicklung des Muskelgefühls gefordert. Als Drittes soll eine Auslösung von
imaginären Stellungs- und Bewegungsempfindungen (Achsenempfindung.Zentrums-
^Tnpfindnn^ Empfindung der Streckung, von Flächen und Räumen, der Bezie
hungen zwischen den Körperteilen), die das „Körperschema" betreffen, hinzu
kommen. Auf diese W eise erreicht man zunächst eine mehr oder weniger bew ußt
gewollte und kontrollierte schematische Haltung (und Bewegung), die sich jedoch
allmählich zu einer „zweiten Natur" entwickelt und durch die wechselnden
Umstände des Alltags ihren schematischen Charakter, nicht jedoch ihre Grundform
verliert. Einer zur Zeit der Entwicklung ihrer Methoden geltenden Ansicht fol
gend, hat Mensendieck diese Automatisierung einer zunächst bewußten, will
kürlichen Haltung und Bewegung dem Ausschleifen von Bahnen und der B ildung
von Reflexen zugeschrieben. Es wird sich zeigen, daß die heute sich bahnbrechen
den Auffassungen über das Erlernen von Bewegungen nicht mit den populären
physiologischen Betrachtungen MENSENDXBCKa iberemstimineu. Das gleiche gilt
allerdings für die in den meisten Lehrbüchern der Physiologie entwickelten V or
stellungen.
Obwohl Mensendieck eine mechanistische Erklirangsweise anwendet und das
Erlernen und Verbessern von Haltung und Bewegung mit einer Veränderung der
Körperprozesse in Zusammenhang bringt, ist ihre praktische Methode im E ntw urf
dennoch funktionell ausgerichtet, und zwar weil sie — ohne die entsprechende
theoretische Einsicht — das Körperschema als das subjektiv erlebte B ild von
Haltung und Bewegung und die Regulierung durch die sinnlichen Empfindungen
zugrunde legt. W ie so oft geht auch in der Leibeserziehung die Praxis der Theorie
voran und es entstehen trotz sehr unvollkommener Motivierung gute Methoden. E s
ist Aufgabe der Wissenschaft, diesen theoretischen Rückstand aufzuholen. Das soll
auch beim zentralen Problem des Stehens, der automatischen Regulierung der
Tonusverteilung, geschehen.
Das Stehen ist eine unteilbare, ganzheitliche Aktivität des Subjektes, doch es
kommt durch Mittel zustande, die jeweils eine beschränkte und lokale Bedeutung
haben. Die wichtigsten dieser Hilfsmittel sind die sog. Haltungsreflexe, und wir
werden das Verhältnis dieser Reflexe zur totalen Aktivität des Individuums näher
zu untersuchen haben. Dazu müssen wir jedoch von einer Anzahl von Einzel-
momenten der physiologischen Analyse ausgehen. -
Das Prinzip von Ausgleich und Anpassung 89
isoliert bei einer kurzdauernden raschen Dehnung, die etwa durch einen Schlag
auf die Sehne bewirkt werden kann, auf. Diese Sehnenreflexe können unter
günstigen Umständen bei sämtlichen Muskeln (Flexoren und Extensoren) aus
gelöst werden, wobei manchmal eine Dehnung von 0,05 mm in 1/20 sec bereits
genügt und die Kontraktion in einer synchronen, einfachen Zusammenziehung der
Muskelfaser besteht. Die zweite lange Phase, der sog. myotatische Reflex, ist nur
bei jenen Muskeln a^ufzuzeigen, die normalerweise gegen die Schwerkraft arbeiten.
Es sind dies die Streckmuskeln (Extensoren) der Extremitäten des Versuchstieres.
An den Flexoren kann im allgemeinen kein myotatischer Reflex ausgelöst werden.
Das Experiment lehrte noch eine andere interessante Einzelheit. Der m yo
tatische Reflex tritt nämlich besonders in den langsam reagierenden (meistens'
roten), tiefer liegenden- Teilen der Streckmuskeln, die ein Gelenk übergreifen,
auf (B e n n y - B r o w n 1). S o ist (auch beim Menschen) der tiefere, dem Knochen ^
anliegende Teil weiß und schnell reagierend. Bei den Wadenmuskeln gibt es einen *
tiefer liegenden, roten Muskel (m. Soleus) und einen oberflächlichen, weißen
Muskel (m. gastrocnemius). Der myotatische R eflex wird durch einen langsamen
Rhythmus (5— 8 ‘in der Sekunde) ausgesandter Impulse erhalten. Hierauf führt
man das Ausbleiben einer Ermüdung zurück
Das sind die wichtigsten Tatsachen. Deutet man die Eigenreflexe als einen
Prozeß, so ist es klar, daß es für das Zustandekommen der Spannungszunahme bei
Dehnung des Muskels eine nervale Verbindung von dep Receptoren im Muskel
übefr das Zentralnervensystem und den mötoriscnen Nerv bis zu den Muskelfasern
notwendig geben muß. Die Geschwindigkeit des Reflexes iit erklärlich, weil die
Verbindung der sensiblen und motorischen Nerven im Rückenmark über wenige
Nervenzellen (und Synapsen) läuft.
5. Die Stützreaktion
' Wenn man steht, so steht man auf einer Unterlage, und unter normalen Ver
hältnissen bildet die durch die Füße empfundene Berührung ein Moment der ganz
heitlich wahrgenommenen Situation, welche die Bedingung des Stehens d a rstellt :
Keiner stellt sich, der nicht auf irgendeine'Weise bemerkt, daß er sich stellen kann,
daß eine Unterlage zum Stehen da ist. Meistens bemerkt man dies, indem die
Fußsohle durch dep, Boden gereizt wird und zwar in verschiedener Weise, je nach
dem der Boden hart oder weich, rauh 'oder glatt und der Fuß beschuht oder nackt
ist. Außerdem nimmt der Fuß beim Aufstellen eine bestimmte Stellung ein. Beim
Menschen flacht sielj das Fußgewölbe etwas ab, so daß seine Bänder gedehnt
werden. Beim Hunde werden die Zehen beim Stehen etwas zurückgebogen und
gespreizt.
Die physiologische Untersuchung lehrt, daß beim Tier durch die Berührung
der Fußsohle mit einer Unterlage und durch die beim Stehen charakteristische
Stellung des Fußes und der Zehen unter bestimmten Umständen automatisch eine
Streckung des Beines erfolgt. Man nennt dies den (positiven) Stützreflex, der sich
also in zwei Teilmomente, einen Sohle-Berührungs-Reflex und einen Fußsteh*
Reflex gliedert. Man nennt diese Reflexe auch wohl Reaktionen, um so ihre
Variabilität und ihren nur in geringem Maße zwangsläufigen Charakter zum Aus
druck zu bringen.
1 D enny -B rown , B .: Proc. R oy. Soc. London 104, 252 u. 371 (1929).
02 Die Problematik von Haltung und Fortbewegung
Beim Stehen ist das Bein mit einem Stützpfeiler zu vergleichen, W odurch
kommt diese, bei einer zusätzlichen Belastung noch zunehmende Versteifung des
Beines zustande? Vermittels des myotatischen Reflexes werden beim Stehen
zwar die Kräfte, welche die Stellung in einem Gelenk verändern könnten, ausge
glichen, aber er kann nicht die versteifte Streckstellung des Beines bewirken.
Hierzu ist die sog. Versteifungsinnervation in Streckstellung erforderlich, bei der
sämtliche um das Gelenk gelagerten Muskeln angespannt werden. Der m yo-
statische Reflex der Extensoren kann die Ursache nicht sein, da er m it einer E r
schlaffung der Flexoren einhergeht. Löst man bei einem Reflexpräparat eine
Kontraktion der Extensoren aus, so nimmt die Spannung in den Flexoren ab
(reziproke Hemmung).
M a g n u s und seine Mitarbeiter stellten bei einem kleinhirnlosen H und eine
Streckung des Beines fest, wenn in Rückenlage und bei vorgebeugtem K opf die
Fußsohle berührt wurde. Schon eine geringe Berührung des Fußes führt dabei zu
einer Streckung des Beines, wenn und in dem Maße, wie der Finger zurückgezogen
wird. Es sieht so aus, als ob die sich zurückziehende Hand des Experim entators
wie ein Magnet den Fuß des Tieres mitzöge; weshalb man diese Bewegung den
Magnetreflex nennt. Die Streckung hält so lange an, wie die Berührung fort
dauert. W ird sie aufgehoben, so kehrt das Bein wieder in die Beugestellung
zurück.
Die Magnetreaktion ist eine reine Fußsohle-Berührungsreaktion, denn eine
Berührung des Fußrflckens ist unwirksam, während schon die Berührung der
Fußsohlenschwiele mit einem Wattebausch den Reflex auslösen kann. Bei
kleinhirnlosen Hunden kann der Reflex in jederbeüebigen Haltung ausgelöst werden,
wobei die Stärke der Reaktion allerdings von der Stellung des Kopfes, des Beckens
und des anderen Beines abhängt. Normale Hunde zeigen nach R a d e m a k e r 1 die
Magnetreaktion in sehr wechselndem Ausmaß und bei demselben Tier kann die
Intensität unberechenbar variieren. In Rückenlage fehlt sie fast immer. Bei
jungen Tieren ist das Phänomen weder im normalen Zustand noch nach W eg
nahme des Kleinhirns auszulösen. Beim Menschen hat man die Magnetreaktion
nicht beobachtet; sie fehlt auch beim Säugling. Ob sie bei Kindern, die zu stehen
und zu gehen anfangen, auftritt, ist nicht untersucht worden. Auch wissen wir
nicht, ob diese (und andere) Reflexe in einer bestimmten Entwicklungsphase
plötzlich auftreten, oder allmählich entstehen.
Der positive Stützreflex, dessen eine Komponente, den Magnet- oder Sohle-
Berührungs-Reflex wir näher kennenlemten, enthält als anderes Moment den
Fußstellungs-Reflex. Auch dieser wurde am Hunde experimentell erforscht,
wobei sich folgendes zeigte:
Die Magnetreaktion, wird durch die Reizung der Sohlenhaut ausgelöst. Man
nennt diesen Reiz und daher auch den Reflex einen exterozeptiven. Die B ein
streckung, die man beim kleinhirnlosen Hund durch Zurückbeugen und Spreizen
der Zehen regelmäßig auslösen kann, wird demgegenüber durch die Dehnung der
kleinen Fußmuskeln verursacht. Das ist ein propriozeptiver Reiz Und daher
spricht man auch vom propriozeptiven Stützreflex. Im Gegensatz zu der extero
zeptiven Reaktion bleibt er auch nach Wegnahme des Großhirnes noch bestehen
und ist als eine kurzdauernde, plötzliche Streckbewegung auch nach Rücken- j
marksdurchtrennung am Hinterbein des Hundes noch auszulösen (der Extensor-
Stoß S HERRINGTONs).'
1 Auch wenn man, wie neuerdings R. W agner („Probleme und Beispiele biologischer
Regelung“ , Stuttgart 1954) diesen „Apparat" nicht mehr nach dem einfachen Reflexschema
sondern als Regler im technischen Sinne begreift, bleibt er ein funktionelles Hilfsmittel. M»«
nimmt jetzt an, daO im peripheren Bogen Muskel-Rückenmark zwei Koppelungskreiae
ineinander greifen. Der eine hat einen dehnungsempfindlichen Fühler im Muskel. Er treibt
bei dessen Dehnung ohne Gegenkoppelung die Erregung in die Höhe. Der Fühler des andern
liegt in der Sehne und ist spannungsempfindlich. Er arbeitet mit Gegenkopplung und hemmt
die Erregung.
Kritik an der Reflexlehre 95
oder verstärkt, wie man das im Experiment nachahmen kann, sondern das
Subjekt bestimmt, wie er in Zukunft verlaufen wird.
Während vom myotatischen R eflex wenigstens die kurzdauernde erste Phase
als Sehnenreflex beim normalen Menschen auslösbar ist, kann weder die Stütz
reaktion noch einer ihrer beiden Komponenten gesondert beim Menschen nach
gewiesen werden. Beim Tier ist eine gewisse Selbständigkeit der Stützreaktion
vorhanden. Beim normalen Hund findet man sie jedoch nur in einer Situation,
in der das Suchen einer Stütze (gegebenenfalls das Aufstehen) sinnvoll ist. So
lesen wir bei R a d e m a k e r 1: „W enn man einen normalen Hund an Nackenfell
und Schwanz in Bauchlage in der Schwebe hält, so hält das Tier die vier Beine
gebeugt und seinen Rücken hohl und schlaff. Bei Berührung der Fußsohle etwa
eines Hinterbeines, tritt eine Streckung desselben ein, die fortbesteht, solange die
Berührung anhält. Auch die Rückenmuskeln spannen sich an, so daß der Rücken
steif und weniger hohl wird. Infolge der Berührung senden die sensiblen End
organe der Fußsohle Reize aus, die über das Zentralnervensystem, also reflek
torisch, eine Anspannung der Muskeln des berührten Beines und des Rückens
bewirken (exterozeptive Stützreaktion oder Magnetreaktion). Am Bein kon
trahieren sich zunächst die Streckmuskeln, so daß eine Streckung erfolgt, darauf
auch die übrigen Muskeln, wodurch das Bein in Streckstellung fixiert wird.“
Was hier im Sinne eines zwangsläufig sich vollziehenden Prozesses beschrieben
wird, ist in W irklichkeit eine sinnvolle Funktion des Tieres, ein auf die Situation
abgestimmtes Verhalten. Selbstverständlich sind für dessen Ausführung sowohl
Endorgane als Muskeln und Nervenzellen eine notwendige Voraussetzung.
Wesentlich ist dabei nicht, daß die sensiblen Endorgane gereizt werden, sondern
vielmehr, daß hierdurch ein sinnvoller Eindruck zustande kommen kann. Eine
Wiederholung des beschriebenen Experimentes bei mehreren Tieren unter wech
selnden Umständen zeigt denn auch deutlich, daß wir es hier m it einem Verhal
ten, nicht mit einem Reflex zu tun haben.
W ir haben schon erwähnt, daß der exterozeptive und propriozeptive Stütz
reflex bei einem kleinhimlosen Hund viel regelmäßiger auftreten. Die Vertreter
der Reflexlehre erklären das aus einer geringeren Hemmung der Reflexe bei
einem solchen Tier. R a d e m a k e r weist darauf hin, daß ein kleinhimloser Hund
immer mit übermäßig gestreckten Beinen steht. Die Beine werden beim Gehen
übermäßig stark gehoben und ausgestreckt. Er ist der Ansicht, daß diese Störun
gen vielleicht auf einer verstärkten positiven (und negativen) Stützreaktion
beruhen, da ein normalerweise vorhandener hemmender Einfluß des Kleinhirns
wegfällt. Es ist jedoch viel wahrscheinlicher, daß umgekehrt das Maßlose aller Be
wegungen die grundlegende Abweichung nach Kleinhim extirpation darstellt und
auch die verstärkte Stützreaktion daraus folgt. Ein normales Tier reagiertauf einen
Eindruck „m aß'V oll, mittels einer ausgleichenden senso-motorischen Wechsel
wirkung während der Ausführung. Nach der Wegnahme des Kleinhirns ist dieses
Gleichgewicht unterbrochen, wodurch jetzt beim normalen Tier fehlende oder
nur angedeutete Reaktionen hervortreten können. Diese bleiben jedoch noch
sinnvolle Funktionen, was auch für die beschriebenen Stützreaktionen gilt. Sie
sind auf die Erhaltung der Berührung ausgerichtet. Die Berührung der Fußsohle
oder das Zurückbeugen und Spreizen der Zehen sind für das normale Tier
1 Nederl. Leerb. der Physiol. V. S. 140.
96 Die Problematik von Haltung und Fortbewegung
Dominanten in der „R eiz-G estalt" (dem totalen geformten Eindruck der Situa
tion), auf die es mit Aufstehen reagiert. Aber diese Dominante ist nur dann
wirksam, wenn das Tier (optisch und taktil) auf Stehen hin orientiert ist. D eshalb
fehlen (meistens) die Stützreaktionen in Rücken- oder Seitenlage. Nim m t m an
diese funktionelle Erklärung an, in der also grundsätzlich von Prozessen, R eiz
verlauf, Zentren, vorausgesetzten hemmenden oder verstärkenden Einflüssen
abgesehen wird, so stellt die verstärkte Magnetreaktion nach Kleinhirnextirpation
nur den besonderen Fall einer nach einer Läsion im Zentralnervensystem stets
auftretenden Störung dar. Eine solche Läsion verursacht immer das Zurückfallen
einer Funktion auf eine weniger differenzierte Stufe, einen ausgeprägteren
Schematismus der Funktionen und eine Abnahme der Kraft der Beziehung
des Subjektes zur umfassenden Situation. Das bedeutet nichts anderes als da
Zurückbleiben von Bruchstücken automatischer Verhaltensweisen, die sich als
zwangsläufige Reflexe präsentieren können.
Wenn der Bezug zur Situation stark reduziert ist, wie etwa nach Durchtren
nung des Rückenmarkes oder nach Dezerebration, so werden die Reflexe begreif
licherweise zu einem großen Teil von der Muskeltonusverteilung abhängen, die
selbst normalerweise wiederum durch die funktionelle Situation beherrscht wird.
Der nach Rückenmarksdurchtrennung am Hinterbein des Hundes auslösbare E x
tensor-Stoß wurde schon von S h e r h in g t o n als der Überrest einer Leistung, und
zwar eines Galoppsprunges, aufgefaßt. Man kann ihn jedoch auch als eine partielle
positive Stützreaktion deuten. Jedenfalls ist es interessant, daß die Beinstrek-
kung durch propriozeptive Reizung bestimmter Fußmuskeln auch dann ausgelöst
werden kann, wenn nur noch das Rückenmark mit der Peripherie Zusammen
arbeiten Diese Tatsache weist wohl darauf hin, daß auch im normalen Leben ein
gewisses Maß von Selbständigkeitder Streckbewegung zu erwarten ist, wenn, wie beim
Galoppsprung oder beim Sich-Aufrichten, der Fuß plötzlich den spezifischen
Eindruck einer Boden-Berührung erfährt.
Es gibt eine innige, sinnvolle Beziehung zwischen der Fußstellung beim
Stehen (oder beim Galoppsprung) und der Streckung des Beines, aber es wäre
unrichtig, jeden innigen Zusammenhang im Organismus einen Reflex zu nennen.
Dieser Zusammenhang ist ja auch beim Stehen nicht zwangsläufig, nicht
unbedingt. Er kann denn auch nicht aus einem Struktur-Prozeß begriffen werden,
sondern nur aus seiner Bedeutung in einer bestimmten Situation, d.h. als eine Funk
tion. Das Rückenmark kann von sich aus noch einen Rest sinnvoller Beziehungen
zur Umwelt gewährleisten. Das sieht man am besten bei den niedrigeren W irbel
tieren. Ein Frosch mit hoch durchtrenntem Rückenmark kann noch die normale
hockende Haltung einnehmen und einen Hautreiz mit einer gelenkten Bewegung
abwischen.
der Beinmuskeln dem Gewicht anpassen. Auch das vollzieht sich nicht reflek
torisch; jedoch bis zu einem gewissen Grade automatisch, wenn nämlich der
„V orsatz" zum Lastentragen schon eingewurzelt ist. Eine genauere Beobachtung
zeigt, daß der Ausgleich des größeren Druckes keineswegs ausschließlich durch eine
größere Anspannung der Beinmuskeln erfolgt. Der ganze Körper wird in einer
anderen Haltung eingestellt, ein zweckmäßiges reaktives Verhalten, das in hohem
Maße von der Erfahrung abhängt.
Beim sog. ruhigen Stehen, wobei keine spezifische Ausgangshaltung oder
expressive Stellung eingenommen wird, verteilt sich der Druck meist nicht
gleichmäßig auf beide Beine. Das Bein, das hauptsächlich das Gewicht trägt,
nennt man das Standbein, das andere das Spielbein. Der letzte Name ist gut
gewählt, denn dieses Bein ist nicht nur weniger angespannt, weniger in die Trag
arbeit eingeschaltet, sondern es kann auch bis zu einem gewissen Grade frei,
zwecklos, also spielerisch bewegt werden. W ird nun in einer solchen Stellung der
Körper aktiv oder passiv in Richtung des Spielbeines verlagert, so tritt darin
natürlich mehr Spannung auf. W ir empfinden das als natürlich, weil die spontane
Spannungszunahme der „N atur" des stehenden Menschen, der diese Position be
haupten will, entspricht. Ebenso natürlich finden wir es, daß man sich bei starkem
Seitendrack gegenstemmt und eine starke Gewichtsverschiebung, welche die verti
kale Projektion des Schwerpunktes außerhalb der Stützfläche fallen läßt, durch
eine Umstellung des Beines zu beheben versucht.
Diese entgegenstemmenden und umstellenden Reaktionen sind ebenso spon
tane und automatische Äußerungen der Behauptung einer aufrechten Haltung,
wie Abwehrbewegungen Äußerungen der Selbstbehauptung sind. Es sind reaktive
Aktivitäten, Verhaltensweisen, die durch die Situation und die Intentionalität der
persönlichen Einstellung bedingt werden.
Derartige einfache reaktive Verhaltensweisen gibt es auch beim Tier. R ad e
maker hat sie ausführlich bei Hunden, auch nach verschiedenen Läsionen des
Zentralnervensystems untersucht. W ird bei einem stehenden Hund ein Bein, z. B.
das rechte, passiv gehoben, so fühlt man bei passiver Rechtsbewegung des Rumpfes
eine sich entwickelnde Streckung und Abduktion des angehobenen Beines. Diese
von RAdemaker so genannte ,,Schunkelreaktion*‘ findet sich auch bei blinden
und labyrinthlosen Tieren und ebenso nach Kleinhim exstirpation; nach Wegnahme
des Großhirnes ist sie weniger ausgeprägt. Die Reaktion verschwindet jedoch nach
Durchtrennung des Himstammes oder des Rückenmarkes. Neugeborene Hunde
zeigen die Reaktion noch nicht, vielmehr erst wenn sie etwa drei W ochen alt sind.
Auch beim Menschen fehlt dieses Ausgleichen in den ersten Lebensmonaten,
aber sie stellt sich beim Kind ein, sobald es das Stehen (und Gehen) gelernt hat.
Der Denkweise der Reflexlehre entsprechend hat man die Ursache der Strek-
kung und Abduktion des Spielbeines in einem Reiz gesucht, der in den Abduktoren
des Standbeines ausgelöst werden soll. In ähnlicher W eise erklärt man die Gegen-
stemm-Reaktion bei seitlichem Druck aus der passiven Dehnung der Abduktoren
der Seite, nach der das Tier gedrückt wird. Auch bei der Umstellungsreaktion
kann man ein Reflexschema (a posteriori) konstruieren.
Alle diese Reaktionen setzen jedoch eine passive Seitwärtsbewegung in nor
maler stehender Haltung und eine Einstellung des Tieres auf Ausgleichung voraus.
Verändert man die Situation, so ändert sich auch die Reaktion. W ird etwa die
BuytaDdlJk, iUtani und 7
98 Die Problematik von Haltung und Fortbewegung
Unterlage, auf der ein Hund steht, rechts abwärts bewegt, so stellt sieh eine reak
tive Abduktion des rechten Beines ein. Darauf m ißte das Muke Bein eigentlich m it
einer stärkeren Streckung reagieren, tatsächlich a,ber tritt eine Beugung ein.
W ie sehr auch beim Menschen das reaktive Verhalten durch die Situation stnn-
voll bedingt ist, zeigt ein wieder B ademaker entliehenes Beispiel. W enn man
stehend das linke Bein hebt und nun das rechte Bein aktiv abduziert, so w ird das
linke Bein gestreckt und aufgestellt. Stellt man jedoch einen Stuhl unter das
angehobene Bein, so nimmt diesmal gerade die Beugung zu.
Diese Beispiele, die man bei Mensch und Tier vermehren könnte, zeigen also,
daß die Voraussetzung einer Anzahl von Reflexen, die zwangsläufig und konstant
bei Dehnung von Muskeln, bei Druck auf die Fußsohle usw. auftreten sollen, völlig
unbewiesen ist. Nimmt man dennoch das Bestehen derartiger Reflexe an, so m uß
für jeden Fall ein eigener Hemmungs- oder Verstärkungsmechanismus konstruiert
werden. Das ist a posteriori natürlich immer möglich, zudem muß man stets einen
Unterschied zwischen passiver und aktiver Dehnung der Muskeln machen.
Gerade bei der Korrektur von Störungen beim Stehen und bei der Anpassung
an Belastungsänderungen, veränderte Position der Unterlage usw., zeigt es sich,
daß der O rganism u s nicht nur auf Reize und Kräfte aus der Umgebung reagiert,
sondern in die Entstehung dieser Reize und Kräfte auch selbst mit ein bezogen ist.
Anstatt der Annahme einer Anzahl von Reflexen m it ihrer je nach der Situation
einsetzenden Hemmung oder Bahnung nimmt man besser eine Anzahl grund
legender Verhaltensweisen an, die vom Subjekt beherrschte Tätigkeitsformen und
Hah^r sinnvoll auf die Situation abgestimmt, echte Funktionen, darstellen. D ie
Erfahrung lehrt ja, daß die ganzheitliche Situation das Teilgeschehen regelt und daß
nur der Sinn des ganzen Verhaltens das Einzelgeschehen im Körper verständlich macht.
Man kann das Stehen, d, h. die automatische Spannungsverteilung in den
Muskeln nicht als die Resultante einer Anzahl von Prozessen, sondern nur als
eine Verhaltensweise des Individuums begreifen, beider bestimmte regulative P rin
zipien das Verhalten beherrschen. Es gelten infolgedessen für die einfache Leistung
des Stehens und Stehen-Bleibens bestimmte Regeln, die den Eindruck von
Gesetzen (im physikalischen Sinne) erwecken können, sobald man die Beziehung
des Subjektes zur Situation durch Läsionen im Zentralnervensystem reduziert.
W enn man bedenkt, daß ein Mensch auf sehr verschiedenartige Weise stehen
kann und daß bei jeglicher, sogar geringer Stelungslnderung eine ganz andere
Verteilung der Muskelspannungen erforderlieh ist, so ist die Erklärung aus einer
Anzahl elementarer Reflexe auch aus diesem Grande nicht haltbar. Ihr Vorkom
men während des normalen Verhaltens ist völlig hypothetisch. Die vielfach ver
breitete Ansicht, wonach der von L iddell und Sherrington beim R eflex
präparat gefundene myotatische Reflex auch beim Stehen wirksam sei, fußt nur
auf der Tatsache, daß es beim Stehen Muskelspannungen geben muß, die bei plötz
licher Muskeldehnung zunehmen müssen, weil man sonst die Position unmöglich
behaupten könnte. D ie Tatsache, daß man darauf eingestellt ist, die Haltung zu
behaupten, ist jedoch nie aus der Reizkonstellation verständlich, weil diese vom Subjekt
bestimmte Einstellung gerade die Bedingung für die Wirksamkeit der Reizkomtellation
bildet.
Das Stehen ist eine Form des Verhaltens, eine Selbst-Aktivität; das Stehen-
Bleiben ist eine Aufgabe, die ununterbrochen als Funktion vollzogen werden m uß.
Natürliche and bequeme Haltungen, Die gelöste Haltung 99
Das Vermögen zum Stehen-Bleiben bleibt erhalten, solange die funktionelle Ein
stellung des Subjektes als unteilbare Aktivität und Reaktivität vorhanden ist und
solange nicht die Mittel zu ihrer Verwirklichung fehlen. Auch wenn nach der Ent
fernung eines großen Teiles des Zentralnervensystems Stehen noch zustande
kommt, setzt dies den Fortbestand einer lebendigen Einheit voraus, die — wie
mangelhaft auch immer — ein Verhalten zeigt. Dieses Verhalten kann dann auch
nicht als die Bewegung einer Maschine, sondern muß als „Selbstbewegung in einer
Situation“ verstanden werden. Wenn der Mensch den Boden als etwas zum Stehen
erfährt — was auch ein Tier, sogar ein lädiertes Tier noch kann — dann verfügt das
Subjekt nicht nur über seinen Leib, sondern auch über den. Boden. Dieser ist also
nicht als ein physikalisches Objekt oder als eine Reizgestalt gegeben, sondern als
Vorbedingung und regulative Grundlage für das Stehen als Verhaltensform.
im Fußgelenk kam er zu dem Ergebnis, daß unsere Skeletmuskeln, ebenso wie die
glatten Muskeln, nicht nur eine einzige Länge bei minimaler Spannung besitzen,
sondern daß diese Länge ohne Spannungsinderung variiert werden kann. D aher
können wir uns, wenigstens um die Mittelstellung der Gelenke hemm, an ver
schiedene Stellungen der Glieder anpassen, indem durch die entsprechende Ände
rung der Muskellänge die größtmögliche Gelöstheit entsteht. Weitere Untersuchun
gen werden die Ansichten W achholder » noch verifizieren müssen. D ie größte
Schwierigkeit wird dabei die Messung der Muskelspannung darstellen. Aus den B eob
achtungen von Jacobsohn und Schultz1 wissen wir jedenfalls, daß in der sog.
Ruhe immer noch eine geringe Innervation der Muskeln besteht, die wir jedoch
durch eine aktive Entspannung in verschiedenen Haltungen aufheben können.
einer bestimmten Winkelstellung zwischen Rum pf und Arm zu geben. Dem liegt
nicht eine bewußte Wahl, sondern eine unbewußte Tendenz zugrunde. W ir können
auch in anderer Weise auf etwas zeigen und dabei etwa den Rum pf fixieren. Das
geschieht, wenn die Situation es fordert, oder wenn wir durch diese Unbeweglich
keit etwas ausdrücken wollen, ln allen diesen Fällen wird der Betreffende die
Ausführung der Handlung als „gezwungen", manchmal sogar als lästig oder unan
genehm empfinden, der Zuschauer wird sie als „unnatürlich" beurteilen. Außer
dem zeigt sich dann die Leistung als weniger gut; es werden beim Zeigen mit
geschlossenen Augen größere Fehler gemacht, sobald der Rum pf fixiert wird.
Zur Erklärung der oben erwähnten Handstellungen kann man die mechani
schen Kräfte, die zwischen den Fingern wirken, sowie die anatomischen Verhält
nisse an den Gelenken, Sehnen und Bindern in Betracht ziehen; auch die Wirkung
der Schwerkraft, vor allem aber die Länge und Spannung der Muskeln, in diesem
Falle die überwiegende Verkürzung der Flexoren, sind zu berücksichtigen. Bern
Zeigeversuch kann man als bevorzugte Haltung erwarten, daß es im Gleich
gewicht zwischen Adduktoren und Abduktoren zu einem Spannungsminimum
kommt. Man bat allerdings ein solches Spannungsminimum bei den bevorzugten
Haltungen noch nicht aufweisen können und das dürfte experimentell auch
schwierig sein. Die Annahme, daß das Prinzip des Spannungsminimums in der
Regel die bequemste (natürlichste) Haltung bestimmen wird, entspricht jedoch
dem allgemeinen Prinzip des minimalen Energieverbrauchs.
Aber weshalb gibt es gerade bei einer bestimmten Winkelstellung zwischen
Rum pf und Arm ein Spannungsminimtim ? G o l d s t e in stellt diese Frage m it
Recht. Die Versuche lehren, daß die bevorzugte Zeigehaltung nicht immer die
gleiche ist. Das ist aus der Abhängigkeit der tonischen Muskelinnervation von der
Haltung anderer Körperteile zu erklären. Tatsächlich kann man aufzeigen, daß
die bequemste Zeigehaltung — objektiv nach der Genauigkeit beurteilt — von
Kopfhaltung, Augenstellung usw., aber auch von „zentralen“ Faktoren, von
bewußten und unbewußten Prozessen und von der Einstellung der Versuchsperson
abhängt. Letzteres geht aus der verschiedenen W irkung einer Seitwärtsbewegung
der Augen hervor, einmal ohne etwas zu fixieren (evtl, bei geschlossenen Augen)
und zum anderen indem man dabei aufmerksam etwas ansieht. Im ersten Falle
ist die Augenbewegung zwecklos: die bequemste Zeigefläche wendet sich nach der
Seite entgegengesetzt der Augenbewegung. Bei einer zielgerichteten Augenbewegung
dagegen verlagert sich diese Fläche gerade nach der Seite der Blickrichtung.
Es ist also nicht die Augenbewegung allein, die die Muskelspannungen verändert.
G o l d s t e in folgert denn auch, daß subjektiv bequemste und objektiv zuträglichste
Verhaltensweisen (er spricht vom , .ausgezeichneten Verhalten") von der funktio
neilen Einstellung des Subjektes abhingen. Aus den lokalen Spannungsverhältnis
sen in den Muskeln kann man also zwar die bequemsten Stellungen erklären, wobei
man eine Bevorzugung des Spannungsminimum in sämtlichen Muskeln insgesamt
annehmen muß. Aber diese lokalen Spannungsverhältnisse hängen ihrerseits
w eder von der Situation, den zentralen und peripheren Bedingungen und dem
gegebenen Auftrag, aber auch von den Absichten und Erlebnissen der Pereon ab.
Die Erklärung des Ergebnisses der Zeigeversuche aus dem Prinzip des Span-
nungsmimmuin verlangt meines Erachtens noch einige Erläuterungen. Das Auf-
etwas-Zeigen ist ein aktives Verhaßten, bei dem eine gewisse Arbeit geleistet und
102 Die Problematik von Haltung und Fortbewegung
Der Tonus der Extremitäten wird, wie gesagt, nicht nur durch die Stellung des
Kopfes in Beziehung zum Rum pf, sondern auch durch die Stellung des Gleich
gewichtsorganes (der Otolithen) im Raume bestimmt. Bei Rückenlage einer decere-
brierten Katze und einer Stellung der Mundspalte in einer ungefähr in der Mitte
zwischen horizontal und vertikal stehenden Fläche ist der Strecktonus in allen
Beinen maximal. Dreht man das Tier um 180°, so ist der Tonus minimal.
Der Einfluß der Lage des Gleichgewichtsorganes kann den Einfluß der Stellung
des Kopfes zum Rum pf entweder verstärken oder abschwächen. Die Kombination
beider Momente ermöglicht eine große Vielfalt der Haltungen des Tieres. Außer
dem erwähnen Magnus und de K l e y n 1 den oft erheblichen Unterschied der
Bedeutung beider Momente bei verschiedenen Individuen derselben Art, wodurch
es in vielen Fällen unmöglich ist, die Wirkung der Kopfstellung auf die Tonusver
teilung vorherzusagen.
Gewöhnlich nennt man den Einfluß der KopfsteUung auf die Muskelspannung
der Glieder Reflexe und spricht von tonischen Hals- und Labyrinthreflexen auf
die Extremitäten. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn man sich nur dessen
bewußt bleibt, daß der Begriff Reflex nur die Zuordnung einer bestimmten
motorischen Wirkung zu einem bestimmten peripheren Zustand unter bestimmten
Umständen ausdrückt. Damit ist jedoch noch nicht erklärt, weshalb diese W ir
kung gerade so und nicht anders ausfällt. Zur Erklärung wird der Reflex erst dann
verwendet, wenn man ihn als einen Prozeß deutet, wobei auf Grand der Struktur
des Nervensystems ein Reiz einen konstanten Effekt bewirken muß. W ie schon
dargelegt, stellt ein derartiger Reflex nur einen Grenzfall dar3. Die Funktionen
lassen sich aber nicht auf Grund der an einem Präparat beobachteten Reflexe
erklären, und so müssen wir auch in diesem Falle den Einfluß der Kopfhaltung auf
den Extremitätentonus, d.h. auf die Körperhaltung, funktionell zu begreifen ver
suchen. Es scheint zunächst, als ob man in einigen Fällen die Haltung eines nor
malen Tieres aus den Reflexen eines deeerebrierten Tieres erklären könne. W ir
geben dazu ein Beispiel3. „W enn eine Katze auf dem Boden steht und den K opf
beugt, um aus einer Schüssel zu trinken, so wird durch kombinierte Hals- und
Labyrinthreflexe der Strecktonus der Vorderbeine verinindert, das Vorderteil des
Tieres nähert sich dem Boden, so daß die Schnauze die Schüssel erreicht. Die Hais
und Labyrinthreflexe üben auf die Hinterbeine eine entgegengesetzte Wirkung aus,
so daß hierdurch nur geringe Veränderungen eintreten.” In dieser Argumentation
werden die Reflexe als die Ursache der Haltung des normalen Tieres aufgefaßt.
Deshalb wurde in diesem Zitat das W ort durch" hervorgehoben! Es ist jedoch die
Frage, ob die Haltungsweisen tatsächlich durch eine Kombination von Reflexen
zustande kommen. Die Erfahrung lehrt, daß eine normale Katze sehr oft die
Kopf Stellung ohne jeglichen Wechsel im Tonus der Glieder ändert. Das mit
gestreckten Vorderbeinen sitzende Tier kann aufwärts, seitwärts und abwärts
blicken, ohne daß sich die Streckung ändert. Weshalb sind die Reflexe in diesem
1 Magnus, R., u. A. de K leyn : Haltung und Stellung der Säugetiere, Handb. d. Physiol,
Bd. 15 I, S. 56.
* Auch Sherrington (a. a. O. S.7) betrachtet den Reflex als eine reine Abstraktion, weil
sämtliche Teile des Zentralnervensystems miteinander in Wechselwirkung stehen — also
aus einem anderen als von uns im ersten Kapitel angegebenen Grund.
* Nach M a g n u s u . d e K l e y n (a.a. O. S. 58).
106 D ie Problematik vom Haltung und Fortbewegung
Phase im Schreiten dargestellt hat, wobei man nach der Seite blickt, nach der der
Fuß gestellt wird, Beim geschmeidigen Sehnellauf erfolgt ganz offensichtlich eine
geringfügige Kopfdrehung nach der Seite des aufsetzenden Fußes1. Die Streckung
des Beines dieser Seite im gleichen Augenblick folgt aus der Zweckmäßigkeit der
Bewegung und hat mit den Halsreflexen nichts zu tun.
Körpers ausgledchen. Dazu genügt schon eine schwache Stütze außerhalb der
Fußfläche. Namentlich beim Aufstützen mit gestreckten Armen haben die
ausgleichenden Kräfte günstige Angriffspunkte,
Beim Suchen nach der stabilsten Haltung besteht die Neigung, die Beine oder
ffinpn der stützenden Arme völlig zu strecken oder sogar zu überstrecken. D urch
den Bau des Knie- und EUbogengelenkes werden die Extremitäten dann zu festen
Staben, die eine vollständigere Lösung der Muskeln ermöglichen. Auch auf andere
Weise versucht man, in allen Ruhehaltungen die aktive Spannung der Muskeln
durch den passiven Widerstand der Knochen zu ersetzen. Findet man keine
Stütze in der Umgebung, so sucht man eine am eigenen Körper. Man setzt dann
etwa die Hand so in die Hüfte, wie sie auf einer SesseUehne ruhen könnte. Azn
Tisch sitzend legen wir den K opf auf den Unterarm und ohne Tisch stützen wir die
Arme auf die Knie. Ein anderes Mittel ist das Kreuzweise-Halten der Arme oder
das E in h a lten der Finger beider Hände, mit denen man dann die Knie oder den
Nacken umfaßt. »D ans toute attitude un peu prolongée, notre corps tend donc à
prendre la position qui lui assure, avec le moindre effort, l’équilibré le plus
stable.«
W ie richtig diese Folgerung auch sein mag, wir dürfen dennoch nicht wie
Sou Riau die häufigen typischen Haltungen des Menschen ausschließlich aus dem
Bedürfnis nach stabilem Gleichgewicht und aus dem Prinzip der geringsten
Spannung erklären. Die vorzugsweise eingenommenen Haltungen scheinen mir
durch ihren Ausdrucksgehalt stark traditionell gebunden zu sein, so daß sie auch
charakteristische individuelle Unterschiede zeigen. Außerdem haben die durch die
Bewegungeli in den verschiedenen Körperteilen ausgelösten Empfindungen
keineswegs die gleiche Bedeutung für das Erleben unserer Leiblichkeit und für
unsere Stimmungen. Eine genaue Analyse dieser Empfindungen fehlt noch und
würde auf Schwierigkeiten stoßen, weil diese erat in wirklichen Situationen ent
stehen und unter experimentellen Bedingungen größtenteils fehlen,
8. »Loi d’asymétrie«
Die häufigste, die „natürliche” Haltung des Menschen ist asymmetrisch.
Souriau weist auf die Plastiken in den Museen und auf das tägliche Leben hin.
D ort plaudern zwei Leute auf der Straße, ein Soldat liest einen Anschlag, rin
Arbeitsloser lehnt über ein Geländer, ein Kutscher schläft auf dem B ock, ein
Dienstmädchen steht an der Tür usw. Alle diese Leute nehmen eine asymmetri
sche Haltung ein. Man könnte meinen, daß sie nur zufällig so stehen und daß
die Häufigkeit der Asymmetrie auf der Wahxscheinlichkeit beruhe, daß man in
irgendeiner Bewegungsphase angehalten hat. Aber dann müßte gerade in den
ersten Augenblicken des Stillstehens die Asymmetrie am stärksten ausgeprägt « i n ,
doch die Erfahrung lehrt das Gegenteil. Sehr oft steht man zunächst in
symmetrischer Haltung, und erst wenn man sich einen Augenblick später end
gültig hinstellt, erscheint die Asymmetrie. Aus welchem Grund aber? Souriau
antwortet: »Nous aimons mieux fatiguer doublement une partie du corps pour
que l’autre prenne un repos com plet«, denn unangenehme Empfindungen
werden erst auf die Dauer unerträglich. »Q u’ici la souffrance augmente, cria
nous est presque égal, mais que là, du moins, elle cesse!« Ein doppelter D ruck,
eine doppelte Spannung bewirken nicht eine doppelte Empfindungsintensität.
■Loi d'asymétrie« 111
Daher begrenzen wir bei Belastung des einen Körperteils zugunsten eines
anderen nicht nur einen unangenehmen Eindruck, sondern verringern auch
die Empfindung als solche.
In dieser Erklärung steckt sicher ein Kern von Wahrheit. Ein mit einem Arm
gehobenes Gewicht kommt uns nicht schwerer vor, als wenn wir es m it zwei Händen
heben, aber das Tragen an einem Arm führt eher zu einer Unangenehmen Empfin
dung, die man durch Z u h ilfe n a h m e des anderen Armes verringern kann. Doch
am liebsten läßt man die Arme abwechselnd ruhen.
Beim symmetrischen Stehen gibt es fast immer eine geringe Mehrbelastung
einer Seite und die am meisten behinderten Glieder werfen nun »par un mouve-
ment d’dgoisme m achinal« das Körpergewicht mehr nach der anderen Seite »les
laissant s'arranger comme ils pourront«.
Die Asymmetrie der menschlichen Haltungen wäre also aus dem unbewußten
Streben nach einer minimalen Spannungsempfindung, oder besser nach einem
optimal angenehmen Körpergefühl zu erklären. Offenbar ist uns eine örtlich inten
sive Spannung weniger unangenehm als eine weniger intensive aber ausgedehnte,
vorausgesetzt, daß die lokale Spannung hin und wieder aufgehoben werden kann.
Das könnte auch erküren, weshalb man beim Sitzen gern eine schiefe Haltung
einnimmt, überwiegend auf einem Sitzbdnhocker lagert, die Beine übereinander-
schlägt, sich auf einen Arm stützt, usw.
Insgesamt hätte die Asymmetrie also zwei Ursachen: das imbewußte Streben
nach einem optimal angenehmen Körpergefühl und das Streben nach größt
möglicher Stabilität. Das erste Moment überwiegt beim ruhigen Stehen oder
Sitzen, das zweite bei Bedrohung des Gleichgewichtes.
Asymmetrische Haltungen treten jedoch nicht nur in Ruhe oder bei Be
drohung des Gleichgewichtes auf, sondern auch beim aktiven Stehen oder Sitzen,
bei gespannter Aufmerksamkeit, beim Lauschen, m lebhafter Unterhaltung, in
Erwartung eines Ereignisses und weiter in allen Situationen, in denen der Mensch
„H altung annimmt". W ie ist das zu erklären ? „H altung annehmen“ heißt sich
Persönlich einer Situation, einer Person oder einer Sache gegenüberstellen, wobei die
Haltung sowohl die persönliche Selbständigkeit als auch die Beziehung zur
Situation ausdrückt. Diese Beziehung kann eine Zu- oder Abwendung sein, aber
gerade wenn man persönlich „H altung annimmt“ , behalt man sowohl bei positiver
als auch bei negativer Einstellung zur Außenwelt immer noch eine gewisse Reserve.
Der Mensch will bei sich selbst bleiben und geht nicht auf in Zuwendung oder Flucht.
D iese Ambivalenz kommt in der Asym m etrie der Haltung zum Ausdruck.
Asymmetrische Haltungen findet man mehr beim Manne als bei der Frau und
dem Kind. Das Kind und auch die Frau, die weniger reserviert und ambivalent-,
unmittelbarer in ihrer Beziehung zur W elt sind, neigen ihrer Natur nach mehr zu
einer symmetrischen Haltung und zeigen seltener asymmetrische Gesichtszüge1.
* Man wird vielleicht ein wenden, daß jeder, auch jedes Kind und jede Frau, etwas asym
metrisch steht oder sitzt. Insbesondere ein Kind kann schwer lange in derselben Haltung
ausharren. Die unauffällige (unpersönliche) Haltung, die man früher von Kindern und Frauen
verlangte, enthielt zugleich die Forderung, still und steif zu stehen und zu sitzen. Zwischen
dem Respekt (der Symmetrie) und der Bequemlichkeit (die leichte Asymmetrie forderte)
wurde dann ein Kompromiß geschlossen.
Daß unter bestimmten Umständen (z. B . Verlegenheit) Kinder und Frauen asymmetrische
Haltungen annehmen, ist allgemein bekannt. Vgl. dazu die Bemerkung auf der nächsten Seite.
112 Die Problematik von Haltung und Fortbewegung
Die asymmetrische Sitzweise mit gekreuzten B einei, oder mit auf den Arm ge
stütztem K opf, das Stehen mit einer H a n d in der Seite und mit schiefem K op f,
finden wir bei einem Kind „ältlich“ , bei einer Frau „m ännlich".
Jeder Mensch steht jedoch symmetrisch, wenn seine Haltung vollkommene und
rückhaltlose Ehrfurcht oder Untertänigkeit ausdrückt, wie im Gebet oder einem
Vorgesetzten gegenüber. Hier soll die Ambivalenz fehlen, aber auch das Persönli
che im Sinne einer individuellen Haltung. Es ist zwar dennoch eine persönliche
Haltung, die aber nur besagt: „H ier bin ich ". So steht auch ein guter Redner
spvnp.m Publikum gegenüber. Er nimmt nicht Haltung an. Es ist interessant, daß
zu all»« Zeiten in den Abbildungen von Göttern und Richtern symmetrische
Haltungen tiberwiegen, womit der Künstler darstellt, daß nur ihr Am t, nicht das
individuelle zufällige Verhältnis zu einer Situation von Bedeutung ist. Erst wenn
die Vorstellung erhabener Menschen als Götter oder Heilige durch den Gedanken
einer allgemeinen menschlichen Gleichwertigkeit beeinflußt wird, sehen wir
asymmetrische Haltungen in unserem Sinne auftreten. Die griechische Plastik
unterscheidet sich daher in der Haltung von der ägyptischen oder archaischen, die
gotische oder die Darstellung der Heiligen in der Renaissance von der romani
schen, Nur dem Toten gibt man, auch heute noch, eine symmetrische Haltung,
weil er nur noch ein gestorbener Mensch ist.
Im vollen Em st des einer Person oder einer Sache Gegenüber-Seins, in der
reinen Konfrontation, stellt sich der Mensch mit seiner frontalen Fläche dem
anderen gerade gegenüber. Jedes kritische, doppelsinnige, verlegene, zweifelhafte,
upiAlarisehe Verhältnis drückt sich in einer Asymmetrie aus. Sie realisiert sich in
der Mimik durch einseitige Muskelwirkung, eine einseitig engere Lidspalte oder in
einem verzogenen M und; in der Haltung durch Drehung des Rumpfes, entgegen
gesetzte Stellung der Glieder, Neigung des Kopfes zur Schulter. Einer eindrucks
vollen Landschaft gegenüber bleibt man symmetrisch stehen, aber nicht »i«»™
Gemälde von ihr. Das betrachtet man kritisch.
Der ehrfurchtsvoll Zuhörende steht aufrecht, das verlegene Mädchen oder der
verliebte Jüngling geben sich eine Haltung, winden sich in allerlei Kurven. Sogar
in der Art, wie K iddung und Frisur getragen wird, als Mode oder individuell, unter
scheiden wir den Ausdruck ernster Würde von einer spielerischen Gleichgültigkeit.
Der Soldat, der unter Kameraden sein Käppi schief aufsetzt, tut das nicht bei
einer Inspektion.
Es liegen also mehrere Gründe für die Asymmetrie der menschlichen H altung
vor. Sie kann Folge einer funktionellen Tendenz zu einer minimalen Unlust bei
maximaler Stabilität sein; sie kann durch die Fixierung einer Aktivitätsphase oder
bei Aktivitltseinleitung entstehen; sie kann Gefühle und Stimmungen m m Aus
druck bringen. Schließlich tritt sie als die Darstellung einer Grundform unseres
Bezuges zur W elt auf, als die persönliche Einstellung, die wir das „Annehmen von
H altung" nannten. Das kann es beim Tier nicht geben, weil dort die exzentrische
Position des Geistes in der Objektivierung seiner selbst und des Gegebenen fehlt.
9. »Lol d’ alternance«
Zum dritten Haltungsgesetz von Souriau können wir uns kurz , Das
Streben nach minimaler Unlust bei maximaler Stabilität bestimmt unsere
Haltungen in funktioneller Hinsicht. Die asymmetrische Haltung hat dabei den
Das Gehen. Die Grundlage des Gehens 113
muß sich in einer doppelten Ausrichtung und in einer polaren Spannung der
Funktionen äußern. Sie zeigt sich in einer aktiven und in einer passiven Stellung
nahme zu den Dingen; die polare Spannung der Funktionen wird durch ihre
Gegensätzlichkeit im ununterbrochenen Zusammenhang bedingt. Die Umwelt-
Gerichtetheit führt zu einer Spannung und diese wiederum zu einer Selbst
bewegung, wenn ein bestimmter Grenzwert überschritten wird. Als die Erfüllung
der Bewegungstendenz hebt sie die Spannung auf. Spannung und Entspannung
wechseln miteinander also notwendigerweise ab, indem die Spannung Bewegung,
diese wiederum Entspannung bewirkt. In dem Maße, wie die Entwicklung eine
höhere Stufe erreicht und die Integration des Individuums als Ganzes ebenso
wie die Selbständigkeit der Teile zunimmt, prägt sich dieser Wechsel deutlicher
aus, wechseln Ruhe und Arbeit, Spannung und Entspannung miteinander ab.
Aus dem Wesen der tierischen Existenz läßt sich, im Zusammenhang mit der
Architektonik der W irbeltiere, die Diskontinuität der Bewegung im Sinne von
Muskelspannung und Entspannung verstehen. Mit der Befreiung von der Erde,
mit dem Sicherheben auf säulenartigen Gliedern, erhält diese Diskontinuität die
Form eines schrittweisen Vorwärtsgehens.
c) Das rhythmische Beugen und Strecken ist schon beim jungen Kind die
allgemeinste Äußerung des Bewegungsdranges und zeigt sich an den Beinen
auch viel früher als das Gehen. U m könnte die Frage aufwerfen, weshalb nicht
die anderen im Hüftgelenk möglichen Bewegungen, wie Innen- und Außen
rotation, A b- und Adduktion als rhythmische Bewegungen ausgeführt werden.
Beim Wiegenkind in Rückenlage sehen wir fast ausschließlich das „Stram peln“ ,
also Beugung und Streckung, meistens zugleich in H ilft- und Kniegelenk, jedoch
nur dann und wann eine Rotation oder eine A b- und Adduktion. Eine physio
logische Erklärung hierfür ist schwer zu geben. Zwar wissen wir, daß insbesondere die
Extensoren starke m yotatische (Eigen-) Reflexe zeigen, die vielleicht nach einer
Dehnung durch zufällige Beugung leicht eine Streckung veranlassen können.
Aber weshalb die dann auftretende Dehnung der Beugemuskeln erneut zu ihrer
Kontraktion führt, kann man aus den Experimenten über die Eigenreflexe nicht
erklären. Das kann man nur feststellen.
Rhythmische Beugung und Streckung sehen wir im Tierversuch, bei einem
Frosch etwa, immer als Folge eines starken Hautreizes auftreten, der primär
eine Flexion im Sinne einer Fluchtbewegung verursacht. Man sagt denn auch,
daß der Beugereflex leicht in einen rhythmischen E ffekt übergehe, aber das ist
keine Erklärung. Das Strampeln des Kindes wird jedoch keineswegs durch
einen starken äußeren (schädlichen) R eiz ausgelöst und ist also sicher primär
kein Beugereflex. Es ist auch primär keine Fluchtbewegung, sondern eine
abwechselnd zentrifugale und zentripetale Bewegung, die, auch wenn sie von
Erwachsenen ausgeführt wird, reine Äußerung eines Bewegungsdranges ist. Sie tritt
insbesondere in Gefühlszuständen mit überwiegender Unfähigkeit zur ziel
gerichteten Aktivität auf. Beim Erwachsenen sind das vorwiegend W ut- und
Ungeduldsreaktionen. Beim Wiegenkind aber, das immer, auch in seinen Freude
äußerungen, zur adäquaten Reaktion unfähig ist, ist das Strampeln der
motorische Ausdruck seiner Bewegtheit und Selbstbewegung. Erst eme genauere
Untersuchung wird diesen Ausdrucksgehalt aufhellen können. Es kann dann
8*
116 Die Problematik von Haltung und Fortbewegung
stellt, die für alle Tiere und auch für dm Menschm gilt; Wenn wir die beiden Am te
oder Beine oder einen Arm und ein Bein zugleich rhythmisch bewegen, so
geschieht das zwangsläufig in derselben Frequenz oder in einem einfachen Ver
hältnis der Frequenzen. Bei einer Rhythmuslnderung der einen Bewegung
ändert deh auch die andere.
Bei den Flossenbewegungen konnte v o n H olst diesem induktiven Einfluß
genau nachgehen. Oft gibt es für einige Zeit nur eine relative K oordination,
die allmählich, aber auch wohl plötzlich in eine absolute übergeht. Es kommen
sowohl synchrone als alternierende Flossenbewegungen vor, aber auch besondere
Bewegungsweisen, z. B. mit abwechselnd großen und kleinen Amplituden, m it
Phasenverschiebungen oder Interferenzen. Viele dieser Erscheinungen kann man
wohl erklären aus den wechselseitigen Einflüssen, welche die Teile des Zentral
nervensystems aufeinander ausüben.
Die Untersuchung VON H olst» hat eine Anzahl Ergebnisse allgemeiner Art
geliefert, die für unsere Einsicht in die für das Gehen grundlegenden Extrem itäten
bewegungen bei Mensch und Tier von Bedeutung sind,
Erstens ist die Koordination der Rhythmen ein intracentraler, autonomer
Prozeß, kein Reflex, auch keine Reflexkombination.
Zweitens ist das Nervensystem bei der motorischen Aktivität als Ganzheit
wirksam, so daß die Vorstellung von selbständigen Zentren in den Hintergrund
gedrängt wird.
Drittens lehrte eine genaue Analyse des induzierenden Einflusses der Brust
flossen auf die obere und untere Hälfte der Schwanzflossen, die sich spiegel
bildlich zueinander bewegen, daß die Amplitude der Bewegung in den letzten
motorischen Ganglienzellen (die Impulse der höheren Teile des Nervensystems
empfangen) reguliert wird, aber der Rhythmus „anderswo“ . Amplitude und
Rhythmus sind größtenteils unabhängig.
Auch beim Gehen des Menschen wissen wir, daß die Größe und die Frequenz
der Schritte relativ unabhängig voneinander sind, obwohl genaue Daten über ihre
Beziehung fehlen.
Schheßlidi noch eine auch für die menschliche Motorik bedeutende B eob
achtung von H olst». W enn zwei Rhythmen, z. B. der Brustflossen, allmählich
etwas von einander abweichen, so daß sich ein Fhasenunterschied einstellt, so
tritt p lötzich ein kritischer „Schritt“ auf, ein Extra-FtossenscUag oder das
Ausbleiben eines Schlages, wodurch die Synchronizität der beiden Bewegungen
wiederhergesteUt wird, von H olst nennt dieses Phänomen, das eigentlich die
Verallgemeinerung eines spontanen Rhythmus bedeutet, den „M agnetreflex“ .
E r kommt, wie die Versuche zeigen, auch bei der gemeinsamen Bewegung der
Anne, doch nammUich bei der gleichzeitigen Beinbewegung vor. von H olst
vergleicht die kritisch«! Schritte mit dem, was sich ereignet, wenn zwei ver
schieden große Menschen miteinander gleichen Schritt halten wollen.
Die Fischflossen bewegen sich vielfach entgegengesetzt, wie die Beine von
Säugetier und Mensch, aber b e i einer bestimmten Frequenz können sie auf
einmal in gleichgerichtete Bewegungen Umschlägen.
Für die Theorie des menschlichen Gehens sind diese Versuche wichtig, weil
durch sie experimentell gezeigt werden konnte, daß sich mit der Geschwindigkeit
auch die Form (d. h, die Koordination) der Bewegung verändern kann. Das gilt auch
Das Gehen als Prozeß betrachtet 119
für den Gang des Menschen, wenn man diesen nicht schematisch als eine Hin-
und Herbewegung der Beine betrachtet, sondern als eine Bewegungsgestalt, an
der nach einer bestimmten Reihenfolge der ganze Leib teilnimmt. Mit der
Zunahme der Gehgeschwindigkeit treten Veränderungen in der Koordination auf,
und zwar nicht nur in den Beinen, sondern auch in der Rum pf- und Armbewegung.
Veränderungen der Bewegungsform bei zunehmender Geschwindigkeit sind
ein allgemein gültiges Phänomen, d a s v o n W e iz s ä c k e r und sein Schüler
D e r w o r t 1 näher erforscht haben. Das Ergebnis der Versuche wurde auch auf
das Laufen, z. B. eines Pferdes angewandt, wobei jede Bewegungsweise (Schritt,
Trab, Galopp) nicht nur ein eigenes Koordinationsbild zeigt, sondern auch eine
gewisse Schrittlänge und Frequenz. „Innerhalb einer Gangart wird nicht nur
die Schrittfrequenz, sondern m it Ihr stets die Schrittlänge verändert."
W ir fügen dem hinzu, daß auch die Bewegungsweise sämtlicher Körperteile
und ihre Haltung systematisch von der Weise der Lokom otion abbiängen2.
Das Rickeiim ark allein genügt, wie gesagt, um das abwechselnde Beugen und
Strecken der Hinterbeine ungefähr wie beim Gehen möglich zu machen. Auch
die gleichzeitige Beugung (oder Streckung) eines Hinterbeines und des gekreuzten
1 Pflüger* Arch. 340,, (1938).
* Mit Recht bemerkt dann auch von W eizsäcker in seinem Buch „Der Gestkltkreis*'
(S. W i ) : ,,Ei kommtüberall also nicht auf die Figur allein oder die Geschwindigkeit allein an.
Das Bewegungsgesetz ist vielmehr immer ein solches, als sei das Räumliche eine Funktion
der Zeit (und umgekehrt). Manltann dieses Sachverhältnis auch so ausdriieken: die Bewegung
fui int jeweils ein bestimmtes Verhältnis von Raum zu Zeit, nicht nur eine Raumfigur unab
hängig von der Zeit.
* Sherrington, C. S. : The intégrative action of the nervons system. Newhaven,
Yale XJaiv. Press 1948.
120 Die Problematik von Haltung und Fortbewegung
Einen zweiten Einwand gegen die Annahme eines Gehzentrums sehen wir
darin, daß man die spontanen Gehbewegungen nicht durch die Zerstörung eines
umschriebenen Teiles des Rückenmarkes beim spinalen Tier aulheben kann.
Bei einer allmählichen Kürzung des mit den Hinterbeinen verbundenen Teils des
Rückenmarks sind im allgemeinen die Bembewegungeft schwerer auszulösen,
sie werden unvollkommener und verschwänden rascher. Dieses Phänomen eines
allmählichen Funktionsverlustes bei zunehmender Lädierung des Zentralnerven
systems werden wir noch näher kennenlernen.
Eine sichere Lokalisation des Gehens kann also im Rückenmark nicht
nachgewiesen werden. Die Lokalisation des Atemzentrums kann man im ver
längerten Mark genau bestimmen. Innerhalb dieses umschriebenen Teiles des
Zentralnervensystems gibt es sicher noch einmal eine gewisse Organisation^'
so daß eine partielle Läsion verschiedene Atemtypen verursacht. B eth e geht m .E .
zu weit, wenn er an der Existenz eines spezifischen Atemzentrums glaubt
zweifeln zu müssen, weil bei Wirbeltieren (besonders den niedrigen) rhythmische
Impulse für die Atemmuskeln nicht nur von einem großen Teil des verlängerten
Markes, sondern auch von einem Teil des Rückenmarks ausgehen können1.
Den Haupteinwand gegen die Annahme eines Gehzentrums, das" durch seine
Struktur durch Verbindungen mit dem übrigen Nervensystem und durch eine kon
stante innere Verteilung seiner Reaktionsbereitschaft auf periphere Reize das Gehen
bestimmen würde, sehen wir in den vielen Versuchen, bei denen nach peripheren
und zentralen Läsionen Veränderungen in der Koordination der Extrem itäten
bewegungen aultreten.
Diese funktionellen Veränderungen bei Störungen der normalen anatomischen
Zusammenhänge zeigen uns eine funktionelle „Plastizität” des Nervensystems,
welche die Annahme von Koordinationszentren (also auch eines Gehzentrums)
ausschließt. Bei der Besprechung des Erlernen! neuer Bewegungen werden wir
diese Versuche ausführlich erörtern. Hier möge ein Zitat aus der zusammen
fassenden Abhandlung B ethe * genügen: „Man wird also versuchen müssen, auf
die Annahme von Koordinationszentren sowohl ira Sinne einer funktionellen,
wie im Sinne einer anatomischen Festlegung zu verzichten und die Koordination
aus dem Zusammenspiel der jeweils gegebenen peripheren und zentralen Verhält
nisse zu begreifen.”
Wenn man die spontan oder durch periphere Reize ausgelösten „Taktschlag
bewegungen” des spinalen Hundes aus einer in einem Gehzentrum festgelegten
Schaltung erklären wollte, so müßte das selbstverständlich auch für die K oordi
nation zwischen den vier Beinen des normalen Hundes — die in geringem MafU
sogar nach Entfernung der StammgangMen weiterbesteht — gelten. Es gäbe
dann nicht nur ein „Galoppierzentrum” , sondern auch ein Zentrum für den
dreibeinigen Gang nach Verletzung eines Beines.
W ie bestechend die Zentrenlehre \wegen ihrer vorstellbaren Analogie m it
technischen Schaltmechanismen auch sehr mag, sie. ist nicht nur unhaltbar, weil
die vielen Anpassungen der Koordination an Veränderungen des Körpers und
der Umwelt' ebensoviele Hilfshypothesen erfordern, sondern namentlich wegen
der von B eth e formulierten zwei Momente: „Rückwirkung der Peripherie” und
„K am pf um.das.zentrale F eld".
1 B ethe *Plastizität uqdZentrenleh». Handbuch dernorm. Physiol.Bd. 15,2.Hälfte,Sr 1184.
Das Gehen als Prozeß betrachtet 123
A uf das erste dieser Momente kann man einen Satz von M a g n u s beziehen: „D er
Körper stellt sich selbst sein Zentralorgan in der richtigen W eise her." Das von
uns hervorgehobene W ort „selbst“ meint die Ganzheit des Organismus in seiner
lebendigen Wechselwirkung m it der Umwelt, Dabei bedingt, wie wir schon wissen,
nicht die Struktur die Funktion, sondern umgekehrt, d. h. die Funktion bedingt
die Prozesse im Zentralnervensystem, so daß man auch eine so elementare
Funktion wie das Gehen unmöglich aus einem Prozeß erklären könnte. Nur bei
einem genügend isolierten „Präparat", bei dem mit der Wechselwirkung die Funk
tion ausgeschaltet wurde, kann das wahrnehmbare Geschehen, der Schritt
mechanismus etwa, als ein Prozeß aufgefaßt werden. Aber selbst das spinale Tier
ist noch nicht ein solches funktionsloses Präparat, da es noch schematische Reste
einer Wechselwirkung mit der Außenwelt zeigt und daher noch eine Rückwirkung
der Peripherie auf das Zentralnervensystem besitzt.
Mit dem zweiten Prinzip, dem Kam pf u m das zentrale Feld, verweist B e t h e
auf das Phänomen, daß zwei Funktionen nur dann gleichzeitig ausgeführt werden
können, wenn sie zusammen eine einzige Funktion darstellen.
Bereits S h e r r in g t o n lehrte die Überlegenheit der biologisch entscheidenden
Reaktion, die sämtliche anderen unterdrückt und bei den Untersuchungen
v o n H olst « sahen wir, wie sich die Bewegungen der verschiedenen Flossen zu
einer einzigen rhythmischen Funktion verbinden. In einfachen Faßen kann man
diese Erscheinungen natürlich aus einer Wechselwirkung zwischen Zentren
erklären, indem das eine das andere hemmt oder im gleichen Rhythmus mitführt,
aber die Allgemeingültigkeit des Prinzips führt B e t h e z u der Folgerung: „D ie
Exklusivität des nervösen Geschehens ist wieder nur verständlich unter der
Annahme, daß das gesamte Nervensystem ein einheitliches Ganzes bildet, in
welchem jeder Vorgang jeden anderen bald in höherem, bald in geringerem Mäße
derart beeinflußt; daß ein gemeinsames Handeln resultiert. Was sich in das
Ganze nicht einfügt, wird ausgelöscht. Nicht Einzelreflexe setzen sich zur Gesamt
handlung mosaikartig zusammen (sonst müßten viele Reflexe unabhängig von
einander und zur gleichen Zeit nebeneinander auftreten können), sondern
jedes Geschehen im Nervensystem stellt eine Gemeinsamkeit dar, die neben sich
— wenigstens in vielen Fällen — keinen anderen von ihm unabhängigen nervösen
Vorgang ztdäßt.“
Diese Äußerung können wir nur ganz unterschreiben. Man muß jedoch
die metaphorische Redeweise beachten, durch die der Eindruck entsteht,
als ob „Vorgänge" (Prozesse) einen solchen Einfluß aufeinander ausübten, daß
ein bestimmtes Resultat auftritt und das eine „G eschehen" (Prozéfl) das andere
nicht zuläßt. Was hier dem Zentralnervensystem zugeschrieben wird, sind Eigen
schaften des Tieres seifest, das vermittels des Nervensystems über seinen Leib
verfügt. Man darf diese metaphorische Ausdrucksweise deshalb nicht übersehen,
weil sonst der Anschein erweckt würde', als seien die Funktionen doch aus Prozessen
erklärbar. Das gelingt nie, auch nicht m it HÜfe von Theorien über Resonanzen
(W e is s ), Isochronaxie ( L a p ic q u e ), oder Bild-Analogien wie Klangfiguren usw.,
die wir bei der Gestalt-Theorie besprochen haben.
Aber wenn schon das Gehen als solches nicht aus einem Prozeß im Rücken
mark erklärbar ist, so vielleicht doch ein einzelnes Grundelement, wie die
abwechselnde. Beugung und Streckung ? Auch das trifft nicht zu. Man kann
124 Die Problematik von Haltung und Fortbewegung
sowie auf das klar geschriebene Buch von Stein dler 1, das auch über die Mechanik
der pathologischen Gehstörungen eine Übersicht gibt.
Vom funktionellen Gesichtspunkt aus interessiert uns an diesen Untersuchungen
folgendes:
1. das sehr verwickelte simultane und sukzessive Zusammenwirken .der
Muskeln, nicht nur der Beine, sondern des ganzen Körpers, zu einer einzigen,
harmonisch und fließend verlaufenden Bewegungsgestalt;
2. die Variationen nach der Individualität und hach den äußeren und inneren
Umständen. Die Gehbewegung wird dabei nicht durch mechanische Bedingungen
wie Körpergewicht, Lage des Schwerpunktes, Pendelzeit der Beine determiniert,
sondern diese Momente werden zur Gestaltung einer möglichst ökonomischen
Fortbewegung ausgenutzt.
Zur Erläuterung des erstgenannten Moments weisen wir auf die Seitwärts-
b'ewegung des Rumpfes beim Gehen hin, wobei der Schwerpunkt des Körpers
immer über das Standbein gebracht wird. Das erfordert das Eingreifen der
Oberschenkeladduktoren im richtigen Augenblick, was jedoch ebenso von selbst
geschieht wie die abwechselnde Beugung und Streckung des Beines.
Je genauer man das Gehen des Menschen analysiert, desto klarer sieht man
die Unmöglichkeit einer physiologischen Erklärung auf Grund eines Schaltungs
schemas ein. Außerdem verdanken wir den vorzüglichen Untersuchungen
des Orthopäden von B a e y e r 2 die Erkenntnis der sehr verschiedenen Wirkung,
die ein einziger Muskel je nach den Umständen haben kann. Keineswegs
wirkt ein bestimmter Muskel immer als Antagonist oder Synergist eines be
stimmten anderen. Der M. soleus kann je nach Stellung von Bein und Fuß das
Knie beugen oder strecken. Zieht man den ganzen Zusammenhang von Becken,
Bein und Fuß in Betracht, d a n n kann man sogar 22 verschiedene Wirkungen
dieses Muskels unterscheiden. Nur wenige Muskeln haben immer eine gleiche
Wirkung. Während man also für eine abstrahierte, einfache, schematische
Bewegung, wie das Heben und Beugen eines Beines, die Muskelwirkung mecha
nisch analysieren kann, ist das für die im wirklichen Leben ausgeführte Geh
bewegung unmöglich. ,,Bei diesem wechselvollen Spiel der Muskeln erscheint
es fast aussichtslos, in den Verlauf der Muskelwirkungen bei einer komplizierten
koordinierten Bewegung verstehend einzudringen", sagt VON B aeyeh mit Recht
und fügt dem hinzu, daß die Annahme von Koördinationszentren, die automatisch
eine feste Schaltung zwischen Synergisten und Antagonisten zustande brächten,
die natürliche Bewegung nicht erklären kann.
Diese Folgerung stimmt m it den physiologischen Experimenten völlig über
ein. Die Gehbewegung, wie kompliziert sie auch immer in Anbetracht der mit
wirkenden Elemente erscheinen mag, ist eine einheitliche Bewegungsgestalt,
die — beim Menschen nach langer Übung — durch einen Bewegungsim puls
ausgelöst wird. Die Koordination von Agonisten und Antagonisten ist dabei
von derselben Ordnung wie jede andere Koordination unserer willkürlichen
Bewegungen, deren Erklärung durch aneinandergekettete Zentren oder durch
Reflexschaltungen völlig unmöglich ist.
Beim pendelnden Arm und ebenso beim Bein sind diese Bedingungen
weitgehend erfüllt, da die tonisch gespannten Muskeln die Jsxtremität in beiden
Richtungen elastisch auffangen- Indem beim G eien, jedenfalls in ruhigem
Tempo, die mechanischen Faktoren so gut wie möglich ausgenutzt werden,
übersteigt die Nutzleistung sogar 25% , vor allem bei ausgiebigen Pendel
bewegungen der Arme und geringer Hebung des Körpers beim Schritt.
Die Ursache und die Bedeutung der Armbewegungen beim Gehen ist unsicher.
Man sieht sie wohl als einen „Atavism us“ , einen Überrest der Fortbewegung
unserer tierischen Ahnen an. Aber angesichts der eigenen Form sämtlicher
menschlichen Bewegungen auf Grund der aufrechten Haltung und den ent
sprechenden Gleichgewichtsverhältnissen, ist das wohl sehr unwahrscheinlich.
Meistens betrachtet man diese Pendelbewegungen denn auch als einen not
wendigen Ausgleich der durch die Reinbewegung verursachten Körperdrehung.
Sie gehören dann zur Schultergürtelbewegung, die, v or allem bei größerer Geh
geschwindigkeit, in gegensätzlicher Richtung zur Beckenbewegung stattfindet1.
wird teilweise durch die Rumpfbewegung bedingt, teilweise ist sie davon
unabhängig.
Alle diese Merkmale werden gewöhnlich nicht im einzelnen aufgefaßt, wie
man an einer Handschrift auch nicht alle Einzelziige bemerkt. Das Gehen in
seiner Ganzheit, als dynamische Gestalt, der totale Verlauf also und außerdem
einige dominierende, charakteristische Züge sind uns m der Anschauung unm ittel
bar gegeben. Deshalb unterscheiden wir nicht nur die oben als Beispiele
erwähnten Grundformen, sondern auch typologische Formen und eine ästhetische
Rangordnung. Es gibt ein kindliches, männliches und weibliches Gehen, wie man
auch einen typischen Gang der Bauern, Städter, Seeleute, Soldaten usw. fest
stellen kann. Es gibt auch schlampige, unbeherrschte, verkrampfte, unnatürliche,,
manierierte und ausgeglichene, anmutige, würdige, edle Weisen des Gehens.
Aus alledem ergibt ach die Berechtigung der Frage nach der „idealen“ Gangart
und ihrer praktischen, ökonomischen und ästhetischen Bedeutung.
In manchen Theorien der Leibeserziehung huldigt man der Ansicht, daß die
zweckmäßigste Gehweise, bei der die Steigerung des Stoffwechsels und die
Ermüdung am geringsten sind, uns auch als die schönste anmutet. M e
Zweckmäßigkeit einer Bewegung ist jedoch nur eine der W ertnormen für die
Weise ihrer Ausführung. Wie jede Handlung hat auch das Gehen einen Aus
drucksgehalt, zumal wenn es als Tätigkeit für sich, also ohne Bedingtheit durch
Auftrag oder Arbeit, ausgeführt wird. Dieser Ausdrucksgehalt ist aber je nach
der Art der Persönlichkeit und der Situation verschieden, woraus man also die
Unmöglichkeit einer einzigen idealen Gangart folgern könnte.
Wenn man jedoch von sämtlichen spezielleren Unterschieden zwischen den
Menschen absieht und im mittleren Alter nur männliche und weibliche als
unreduzierbare Grundformen des Mensch-Seins unterscheidet, so müßte es dem
idealistischen, auf die Vollendung des menschlichen Daseins gerichteten Norm
begriff gemäß nur je eine einzige ideale männliche und weibliche W eise des
Gehens geben. Diese Ansicht entspringt dem ästhetischen Erleben aller Zeiten
und bedingt das Stilgefühl und die Stilwertung jeder höheren Kultur,
auch bezüglich der alltäglichen Bewegungen. Es ist bemerkenswert, daß es trotz
allen Wechsels der Kulturen, Rassen und Volker eine gewisse Beständigkeit
in der Frage der idealen Gangart gibt. Männliche Würde und weibliche Anmut
prägen sich im Gang aus, und zwar in vorwiegend gleicherw eise bei den Griechen,
im Mittelalter, in der Renaissance und in unserer Zeit, aber auch bei den gebildeten
Völkern anderer Erdteile. Der ideale Gang wird dann ein Schreiten, dessen
Wesen uns durch die folgende Schilderung G u a r d ih i * vorzüglich erhellt wird.
„W ie viele können schreiten ? Es ist kein Eilen und Laufen, sondern ruhige
Bewegung. Kein Schleichen, sondern starkes Voran. Der Schreitende geht
federnden Fußes, er schleppt sich nicht. Frei aufgerichtet, nicht gebückt. Nicht
unsicher, sondern in festem Gleichmaß.
Eine edle Sache ist's ums rechte Schreiten. Frei und doch voll guter Zucht.
Leicht und stark. Aufrecht und tragfähig, geruhig und voll vorandrängender
Kraft. Und danach, ob's das Schreiten des Mannes oder Weibes, kommt in diese
Kraft ein wehrhafter oder ein anmutiger Zug; trägt’® äußere Last, oder aber
eine innere W elt klarer R u h e ... Ist das Schreiten nicht ein Ausdruck mensch
lichen Wesensadels ? Die aufrechte Gestalt, ihrer selbst Herrin, sich selber tragend,
Die „ideale" Gehweise 129
ruhig und sicher, die bleibt des Menschen alleiniges Vorrecht. Aufrecht schreiten
heißt Mensch sein1.” Wenn man aufmerksam dieser wundervollen Kennzeichnung
der idealen Weise des Gehens folgt, findet man folgende dominierenden Züge
hervorgehoben:
1. die Ruhe und Gleichmäßigkeit;
2. das Aufrechtgehen als Ausdruck von Kraft und Tragfähigkeit;
3. die starke Vorwärtsrichtung.
Betrachten wir diese drei Momente näher.
Alle menschlichen Bewegungen müssen gelernt werden und beginnen, wie wir
noch sehen werden, mit einer Verschwendung überflüssiger Muskelwirkungen.
Beim Gehen-Lernen zeigt sich das deutlich. Ein Kind, das stehen kann und
das vorwärts drängt, fällt nach vom , setzt ein Bein vor und hält sich so im Gehen.
Alles Gehen beginnt als ein wiederholtes Fallen und 'Stehenbleiben. Das zuchtlose
Gehen, besonders in der Pubertät, manchmal auch beabsichtigt als Ausdruck
von Gleichgültigkeit, sowie das Gehen bei schwerer Ermüdung zeigen ebenfalls
diese Form mit ihrer starken Diskontinuität, Unruhe und Ungleichmäßigkeit.
Es ist daher verständlich, daß auf höchster Stufe der Gangentfaltung des Menschen
diese Art so vollständig wie möglich überwunden sein sollte, so daß man nicht
mehr (oder doch nur unmerklich) von einem Bein aufs andere fällt.
Wahrscheinlich wird die Nutzleistung der Bewegung dabei etwas verringert,
wie eine vor Jahren geführte Diskussion über die zweckmäßigste Marschform
für Soldaten zeigte. Einige verteidigten damals den Fall-Schritt, den Land
streichergang, den Gleitschritt, den «pas de route», wobei der Schwerpunkt
stark nach vom gebracht wird. Dieser Marschschritt ist jedoch in keiner Armee
allgemein eingeführt worden, vermutlich weil der Ausdrucksgehalt des militä
rischen Ganges mit ihm nicht in Übereinstimmung zu bringen war, vielleicht
auch weil er schwer erlernbar ist.
Der Vergleich des edlen Schreitens m it der militärischen Marschbewegung
ist von Interesse für die Idealität der menschlichen Bewegung, und zwar gerade
im Zusammenhang mit dem erstgenannten dominanten Zug, der gleichmäßigen
Ruhe. Sie setzt voraus, daß abrupte Impulse weitgehend vermieden werden,
wodurch die Bewegung m öglichst wenig ruckartig und m it der geringstmöglichen
Versteifungsinnervation verlaufen kann. Beim Marsch des Soldaten wird dem
gegenüber die ruckartige Fortbewegung, die starke Betonung des Aufsetzens der
Füße als eine Bezeugung der Männlichkeit geschätzt. Die Versteifungsinner
vation ist dann (auch beim Stehen) der Ausdruck einer Unbeugsamkeit des
Willens, einer Einstellung auf die Abwehr bedrohlicher Kräfte. Beim ästhetisch
vollkommenen Gehen fehlen diese Nebenabsichten, so daß der Fuß regelmäßig
abrollt, das Bein gleichmäßig ohne Übertreibung gestreckt, der Fuß vorsichtig,
aber doch sicher, entschieden, ohne Betonung aufgesetzt wird.
Dabei bleiben Rum pf und K opf „frei aufgerichtet". Diese Freiheit, auch
bezüglich der Schwere, ist Ausdruck der im Vorwärtsgehen gewahrten mensch
lichen Würde. Dieser zweite dominierende Zug des idealen Gehens führt uns zu
einer kurzen Erörterung der sog. Bewegungsgesetze der modernen Leibeserzieher.
Sie meinen, die natürliche (und ästhetisch wertvolle) Bewegung müsse immer
vom „Zentrum” — manche sagen auch vom Schwerpunkt — ausgehen. W as man
1 G u a r d in i , R .: Von heiligen Zeichen, S. 21. Mainz 1928.
Bujrtendijk, Haltung und Bewegung 9
ISO Exemplarische Reaktionen und Leistungen
darunter zu verstehen hat, ist nicht immer klar, aber jedenfalls sollen die „g u t"
ausgeführten Bewegungen der Extremitäten proximal anfangen, eine „A bfolge
von innen nach außen" zeigen. Beim Gehen und namentlich beim Schreiten
müßte die Kontraktion der Hüftgelenksmuskulatur also etwas früher stattfinden
als die der mehr dis talwärts gelegenen Muskeln, Das ist wahrscheinlich nicht
der Fall, aber woM fängt die Bewegung von Ober- und Unterschenkel mindestens
gleichzeitig an, so daß der Unterschenkel nicht nach vom geschleudert wird, sondern
nur wenig früher als der Oberschenkel die Endstellung des Schrittes erreicht.
Nennt man dies eine Abwicklung der Beinbewegung von der „Zentralen"
(B, M e n s e n d ie c k ) aus, so wird diese am besten erreicht bei einer Fixierung des
Beckens in, rückwärts gekippter Stellung und beim Gehen mit paralleler F u i-
stellung. Hierbei erhält man zugleich eine Streckung der Wirbelsäule (Ver
ringerung der Lendenlordose), wodurch der Ausdruck des „sich selber tragt id,
ruhig und sicher" betont wird. Auch wird der dritte von G u ard in i genannte
dominierende Zug, die „vorandrängende K raft", durch die parallele Fußstellung
verstärkt, wie es die klassischen Plastiken schreitender Figuren zeigen.
anhaltend ist. Außer durch Reizung des Augapfels und starkem Lichteinfall
kann man auch durch andere Reize einen typischen Lidschlagreflex auslösen,
z. B. durch einen mechanischen oder thermischen Reiz im Gehörgang oder
durch Beklopfen von Stirn, Jochbein oder Nase. Diese Reflexe sind jedoch
weniger beständig und individuell variierend, dazu biologisch weniger sinnvoll
als der Comeal- und Lichtreflex.
3. Auch auf eine Drohbewegung (mit der Hand oder einem Gegenstand)
sieht man heim Menschen und bei den höheren Tieren einen AugenlidscMag a u t
treten. Dieser sog. Drohreflex ist eine erworbene Reaktion und fehlt daher beim
Neugeborenen (und bei jungen Tieren). W iederholt man die Drohbewegung
schnei hintereinander, so verschwindet die Reaktion. Auch hier Anden sich
große individuele Verschiedenheiten in Stärke und Beständigkeit.
Den Comealreflex nennt man unbedingt, weil er immer und unter allen
Umständen, ohne Einfluß von Gewohnheitsbildung und Erfahrung, als ein
angeborenes, konstantes Phänomen auftritt. Comeal- und Lichtreflex sind
„echte“ Reflexe, vergleichbar der Pupillenreaktion oder den Eigenreflexen der
Muskeln. Der Drohreflex ist ein bedingter Reflex, weil er nur unter besonderen
Bedingungen auslösbar ist. E r ist nicht angeboren, sondern im individuellen
Leben erworben und ist, wie wir noch sehen werden, an eine intakte Funktion
des Großhirns gebunden. So spricht man Mer denn auch wohl von „höheren“
Reflexen — eine Unterscheidung, die für die Theorie der menschlichen Bewegung,
insbesondere für die Deutung der willkürlichen und imwillkürlichen Handlungen
von großer Bedeutung geworden ist. W ir müssen an dieser Stelle die von P aw lo w
entwickelte Lehre von den bedingten Reflexen ausführlicher besprechen und
werden anschließend zu den Ergebnissen der experimentellen Analyse des Droh
reflexes zurückketuren.
2. Comeal- und Blendungsreflex
Richten wir unser Augenmerk zunächst auf den unbedingten Lidschlag.
Comeal- und Blendungsreflex entsprechen der Definition echter Reflexe, indem
sie durch periphere Reize über einen genau umschriebenen Teil des Zentral
nervensystems zustande kommen, und zwar so, daß derselbe Reiz zwangsläufig
immer dieselbe Wirkung auslöst. Bei beiden Reflexen sind die sensiblen und
motorischen Fasern bekannt, aber in bezug auf das „Reflexzentrum “ gibt es
noch eine gewisse Unsicherheit. Beide bleiben nach Wegnahme der Hirnrinde
erhalten. W ie bei den anderen Augenreflexen (Pupillen- und Konvergenzreflèx)
findet der Übergang von afferenten zu efferenten Fasern vorwiegend im Mittel-
him statt. D och beim Menschen verursachen auch Läsionen in der Hirnrinde
(im unteren Abschnitt der regio rolandi) eine Aufhebung des Comealreflexes, und
zwar ohne irgendwelche dafür verantwortliche Sensibilitätsstörung der Hornhaut1.
Dieser Befund weist vielleicht doch auf eine größere Beteiligung des Zentral
nervensystems hin, als man bei diesem so einfachen R eflex gewöhnlich annimmt.
Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß er als ein aus der Struktur des
Nervensystems erklärbares Phänomen imponiert. Zugleich stellt er aberein typisches
Beispiel einer funktionell isolierten, angeborenen Insult-Reaktion von sehr zweck
mäßigem Charakter dar. Da jedoch diese Schutzreaktion für den Augapfel, ebenso
R a d r m a k e r , G. G. J., u. Gakcin : Le réflexe de clignement et de'menace. L ’encéphale
39,2(1934).
9*
132 Exemplarische Reaktionen and Leistungen
wie die Schutzreaktion für die Netzhaut, ausschließlich auf einen Insult, also auf
einen Reiz von gewisser Stärke, erfolgt, haben wir es nicht mit einer geformten
(qualitativen), sondern m it einer ungefonnten (quantitativen) Beziehung zur
Außenwelt zu tun. Daher erscheint es möglich, diese isolierte Funktion als einen
P rozeß m begreifen, W eitere Untersuchungen über die Genese derartiger Reflexe
werden zeigen müssen, ob dies gelingt; dabei würden eventuelle funktionelle
(neurotische) Störungen beim Menschen für die theoretische Erklärung natürlich
von größtem Interesse sein. Auch interessiert es uns. ob dieses anscheinend so
beständige Phänomen hinsichtlich Reizschwelle, Stabilität der W irkungsgröße,
Latenz und Refraktärzeit nicht vielleicht doch von verschiedenen Bedingungen
abhängig ist. W ir dürfen nicht übersehen, daß über den Zusammenhang m it den
sympathisch innervierten glatten Muskelfasern des Oberlides sowie über den
durch mechanische Reizung des Gehörgangs und des Gesichts ausgelösten L id
schlag noch zu wenig bekannt ist, um sichere Schlüsse ziehen zu können. So
scheint es uns also bislang nicht entschieden, ob dieser typische einfache R eflex
tatsächlich nichts anderes ist als ein Prozeß, der im Individuum geschieht und
keine Funktion, die durch das Individuum geleistet wird. Ebensowenig ist geklärt,
ob er nur als E ffekt auf eine physikalische Einwirkung oder als Reaktion auf einen
Insult begriffen werden muß.
Die Erforschung der bedingten Reflexe könnte uns also eine exakte Erkenntnis
der in der Hirnrinde verlaufenden Assoziationsprozesse vermitteln. W eü aber nach
P a w l o w alle höheren Funktionen von Mensch und Tier durch Assoziations
prozesse zustande kommen, müßte die Untersuchung des bedingten Speichel
reflexes exemplarische Bedeutung für die Ermittlung der allgemeinen Gesetze des
Assoziationsprozesses haben und Grundsätzliches zur Erklärung des Verhaltens
von Tier und Mensch aussagen können. Im Nervensystem sollen sich nur die
Bildung neuer und der Abbau bestehender Reflexbahnen abspielen. Erregung und
Aufhebung der Erregung (die sog. Hemmung) würden die grundlegenden Prozesse
im Nervensystem, nämlich Synthese und Analyse (Assoziationsbildung und
-abbau), verursachen. „D er E rregunp- und der H em m unpprozeß m it diesen
ihren Eigenschaften bedingen nun auch die ganze Tätigkeit der Großhirnhemi
sphären. Die F iin d a m en ta J ersch eimiTig — die Bildung der temporären Verbin
dungen — beruht auf der Fähigkeit des Erregungsprozesses, sich zu konzen
trieren. Der Mechanismus der Bildung des bedingten Reflexes, der Mechanismus
der Assoziation, bietet sich uns folgender A rt: wenn eine starke Erregung, z.B .
durch die Nahrung, besteht, so wird jetzt jeder andere Reiz, der gleichzeitig
auf einen anderen Teil der Großhirnhemisphären einfällt, von diesem starken Reiz
(Nahrungsreiz) nach seinem Punkte h in hinübergezogen, von ihm konzentriert.
Ebenso wird auch der Hemmungsprozeß konzentriert, wodurch die Bildung von
bedingten Hemmungsreflexen erreicht w ird." „Dadurch, daß diese beiden Pro
zesse in wachem Zustand sich gegenseitig begrenzen, entsteht mm in den Großhirn
hemisphären ein grandioses Mosaik, wo einerseits erregte und andererseits ge
hemmte, chronisch eingeschläferte Punkte nebeneinander bestehen. Und das
Vorhandensein dieser bunt m ite in a n d e r vermischten, bald erregten, bald ein-
geschläferten Punkte bestimmt das ganze Verhalten des Tieres. A uf die einen
Reize wird das Tier m it einer bestimmten Tätigkeit reagieren, auf die anderen mit
Hemmung1."
Es werden also für eine mechanistische Erklärung der Assoziationen dem
Erregungs- und H em m unpprozeß verschiedene Eigenschaften, wie „K onzen
tration" und „Begrenzung" zugeschrieben, die auch wieder als physiologische Pro
zesse vorgestellt werden.
Die Begriffe Erregung und Hemmung allein genügen P a w l o w jedoch nicht zu
einer Erklärung der Vielheit funktioneller Erscheinungen, Er führt daher noch
einige andere notwendige Begriffe ein. So unterscheidet er „äußere" und „innere"
Hemmungen. Jene gehen von der Außenwelt, diese von verschiedenen Zentren
im Nervensystem aus. Das Verlorengehen einer ausgebildeten Assoziation (eines
bedingten Reflexes), wenn z. B. der bedingte Reiz wiederholt ohne den unbeding
ten angeboten wird, wird durch eine „innere Hem m ung" verursacht. D och kann
auch die Hemmung durch einen E xtra-R eiz wieder gehemmt und aufgehoben
werden.
Ein dritter unentbehrlicher Begriff ist die „Irradiation“ , wom it die Ausdeh
nung des E rregunp- und H em m unpprozesses über einen größeren oder kleineren
Teil des Gehirns gemeint ist. H at man bei einem Hunde eine bestimmte Reizart
(etwa 100 Metronomschläge in der Mmnte) zu einem bedingten Fütterungsreiz*
gemacht, so können nun auch Schläge von höherer und niedrigerer Frequenz
* P aw low , I. P .: a . •. 0 . S. 311.
134 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
Speichelsekretion bewirken. Man stellt sich vor, daß jeder akustische Reiz von einer
bestimmten Frequenz „in bestimmten Hirnzellen sitzt" und von da aus nach
anderen Zellen der Umgebung ausstrahlt, wodurch also andere Frequenzen mit
dem unbedingten Reflex (Futter) assoziiert werden.
A ls Beispiel für die Irradiation einer Hemmung betrachtet P a w l o w den Schlaf
und den hypnotischen Zustand. Er glaubte, den schläfrigen Zustand der Hunde,
narhdpm sie längere Zeit für seine Versuche verwendet worden waren, dadurch
erklären zu können, daß sich der wiederholt angewandte gleiche Reiz in einen
„H em m reiz" verwandelt habe.
Auch beim Menschen kann ein „Fütterungsreflex" (Absonderung von Speichel
und Magensaft) zu einem bedingten werden. Riechen und Sehen von Speisen,
Reden über sie, das Decken des Tisches und das Erklingen des Congés, zahlreiche
„R eize" also, können mit dem Essen „assoziiert" werden. Für die Bewegungslehre
dnd weniger diese von Interesse, als vielmehr solche, bei denen die W irkung nicht
in einer Drüsensekretion, sondern in einer koordinierten Muskelkontraktion besteht.
Im täglichen Leben findet man eine Fülle derartiger bedingter motorischer Reflexe,
d*»nn man könnte ja jede Reaktion auf ein Signal dazu rechnen. Abgesehen von
allen bewußten Reaktionen, z. B. auf Verkehrszeichen, denken wir zunächst an
affektbedingteÄußerungen, Abwehr-, Angst- und Schreckreaktionen, die unbewußt
durch ein Signal verursacht werden können. Die russische Schule und ihre vielen
Nachfolger rechnen jedoch auch sämtliche Reaktionen in Sport und Spiel, in Beruf
und Haushalt zu den assoziativ zustande kommenden, bedingten Reflexen1.
Das Augenblinzeln bei Bedrohung betrachtet man als typisches Beispiel eines
bedingten Reflexes. Es müßte also auf analoge Weise wie die bedingte Speichel
sekretion beim Hunde erklärt werden. Wäre eine solche Erklärung befriedigend,
so könnte man grundsätzlich jede gewohnheitsmäßige Bewegung durch Assozia-
tionsbildung und aus Himprozessen erklären. In der Tat hat P a w l o w seiner Lehre
diese allgemeine Form gegeben, so daß wir ihre Grundlagen einer Kritik unter
werfen müssen.
belehrt. Sie können sowohl wirkliche Reflexe darstellen, als auch Reaktionen auf
Signale, die durch bestimmte Umstände für das Tier eine gewisse Bedeutung
erlangt haben. Die Frage nach der Rolle des Großhirns für die Stiftung einer
sinnvollen TW whnng des Tieres zu seiner Umwelt ist ganz anderer A rt als die
nach der „Lokalisation1' bedingter Reflexe. Man darf nicht übersehen, daß die
W orte Erregung, Hemmung, Verstärkung usw. sowohl auf mechanische Prozesse
als auch auf Verhaltensweisen angewandt werden können. Bei Anwendung dieser
W orte wird wan Leicht verführt, den prinzipiellen Unterschied zwischen „G e
schehen" und „Verhalten" zu vernachlässigen.
Mit diesen Ausdrücken verweisen wir auf eine andere Kritik an P a w l o w »
Theorie, die von E r w in S t r a u s kommt. Sie wurde zunächst in einer Veröffent
lichung „Geschehnis und Erlebnis" niedergelegt, später in seinem vorzüglichen
Buch „Vom Sinn der Sinne" wieder aufgenommen und erweitert1. Ebenso wie wir
wendet sich S t r a u s gegen Cartesianismus und Physikalismus, naive Lokalisations
lehre und Verkennung der Einheit des Organismus. Darüber hinaus stellt er dem
organischen Geschehen das Erleben von Empfindungen, Signalen, Situationen
usw. gegenüber. W ir meinen dagegen, daß dem organischen Geschehen nicht das
Erleben, sondern das Sich-Verhalten, Sich-Benehmen gegenübergestellt werden
sollte. Daraus folgt, daß die Wissenschaft vom tierischen und menschlichen Ver
halten sowohl die analytische Physiologie als auch die Psychologie fundieren muß I
In mancher Hinsicht scheint S t r a u s diese Ansicht zu teilen, so wenn er die Erfor
schung der Beziehungen zwischen Individuum und Umwelt betont. Das Signal
etwa bedeutet ihm Übergang aus einer unspezifischen (indifferenten) in eine
spezifische (differente) Lage, und er versucht diese Merkmale der Situation aus dem
Verhalten selbst zu begreifen. Das Unspezifische ist überhaupt keine feste objek
tive Eigenschaft der Umwelt. Indifferent bezeichnet nur die Art des Verhaltens
eines lebendigen Wesens in bezug auf seine Umgebung. „Indifferent wird eine
Situation, wenn die momentane Umwelt den Sinn aktueller Bedeutungslosigkeit
für ein Lebewesen gewinnt*."
Diese. Erschließung des Wesens eines Signals als „Ü bergang" von einer indiffe
renten zu einer differenten Situation, als das, was zwischen beiden liegt, wobei
diese Momente der Situation vom Verhalten selbst abhängen, ist auch für eine
sinngemäße Deutung der motorischen bedingten Reflexe, z.B . des Augen-Droh-
Reflexes von Interesse. Die Reaktion auf eine Bedrohung, wie auch das Zukneifen
der Augen hei einem plötzlich herannahenden Gegenstand, geschieht ja, weil ein
„R eiz" Signalcharakter erhält. Ähnlich wird auch in P a w l o w » Versuchen ein
Schall oder Licht zum Signal für nahende Nahrung. Der Begriff „Erregung" hat
in der mechanistischen Denkweise der Physiologie seine ursprüngliche Bedeutung
verloren. Erregung meint.hier nichts anderes als die physikalische Veränderung,
die in einer Zelle— etwa derNetzhaut oder der Hirnrinde—durch eine physikalische
Ursache ausgelöst wird. Nie kann jedoch aus einer solchen Veränderung ein V er
halten erklärt werden. Die von P a w l o w untersuchten bedingten Reaktionen, wie
etwa die bedingte Augenlid-Reaktion, sind Antworten auf Signale, Funktionen, die
nicht auf Prozesse zurückgeführt werden können.
7. Theoretische Betrachtungen
Die bisher bekannten Tatsachen über die doppelte Abhängigkeit der situations
bezogenen Verhaltensweisen von der Hirnrinde scheinen mir eine viel entscheiden
dere Bedeutung für die Bewegungslehre zu haben, als die mechanistische Er
klärung vermuten läßt.
Für das Zustandekommen der bedingten (erworbenen) Reaktionen muß das
Individuum das Herannahen der spezifischen Situation erkennen und darauf
reagieren. Das Signal weist in P a w l o w b Versuchen auf das Herannahen der
Nahrung hin, die Drohbewegung nach den Augen auf die mögliche Berührung;
das Bewegtwerden zum Tischrand auf die mögliche feste Stütze und Sicherheit.
Es gibt zwischen diesen drei Fällen aber auch einen Unterschied. Das Licht
signal oder der Schall, die der Fütterung vorhergehen, sind am Anfang der
Versuche noch sinnlos, erhalten jedoch allmählich eine antizipierende Wirkung.
W ir kennen dieses Phänomen aus unseren bewußt erlebten Erfahrungen.
Sowohl bei den negativen Affekten, wie Angst, Ekel, wie bei den positiven Lust
affekten (u. a. auch den sexuellen) stellt sich leicht eine Bindung an die ein
leitenden Merkmale der eigentlichen affektiven Situation ein. Diese Vorweg
nahme kommender Ereignisse ist nicht eine bewußtseinsbedingte Erscheinung,
aber das Bewußtsein kann ein werdendes vitales Verhältnis von Individuum und
Umwelt begleiten.
Beim Drohreflex und bei der Stellreaktion ist der sog. bedingte „R eiz“ , das
Herannahen der Hand bzw. des Tisehrandes oder dessen Berührung m it der
Beinhaut von Anfang an ein sinnvolles Moment der Situation, auf die man
unter dem Drang der Selbsterhaltung, des Schutzes der Augen, der Sicherheit
der Stütze reagieren muß. Dieser Drang — wie man ihn auch nennen mag — ist
gleich ursprünglich wie Hunger oder Durst; die Mensch und Tier zu bestimmten,
von den Umständen abhängigen Handlungen nötigen. Es ist denn auch sehr
wahrscheinlich, daß Drohreaktionen und Stellreaktionen in einer bestimmten
1 Nederl. Leerboek der Physiologie, V , S. 241.
140 Exemplarische Reaktionen and Leistungen
8. Das Lokalisationsproblem
W ie dargelegt, gründet sich die physiologische Erklärung des Drohreflexes
auf die Unterstellung einer Lokalisation von Funktionen in der Hirnrinde.
Es ist jedoch nicht nur unbekannt, welche Funktionen in der Hirnrinde lokalisiert
seien, sondern auch wie eine solche Lokalisation begriffen werden könnte. W ir
können feststellen, welche Wahrnehmungen und Handlungen nach einer Läsion
nicht mehr m öglich sind. Man vergißt jedoch, wie wenig wir noch über das
Zustandekommen dieser Funktionen beim normalen Tier unterrichtet sind und
daß man erst wissen sollte, was Drohen, Stütze-Suchen usw. als vitale Reaktionen
bedeuten, bevor man über eine Lokalisation sprechen könnte. W as seit M u n k
unter ,, Seelenblindheit" verstanden würde, entsprang der Unterscheidung von
Perzeption und Apperzeption in der damaligen Psychologie; Begriffe, die kritiklos
auch zur Erklärung des tierischen Wahmehmens verwendet wurden. Das Tier
ohne Occipitalhim sehe zwar, aber es erkenne nichts wieder, weil für das W ieder
erkennen ein „höherer** Prozeß 'dem sinnlichen hinzugefügt werden müsse.
Erst die vorzügliche Abhandlung G elbs 1 hat, auf Grund jahrelanger Unter
suchungen eines „seelenblinden** Patienten eine gewisse Einsicht in die eigentliche
A rt dieser funktionellen Störung gebracht und dabei erneut die Rolle der Motorik
für die optische Wahrnehmung ins Licht gesetzt.
Schließlich wissen wir nicht, was der funktionelle Sinn des senso-motorischen
Rindenfeldes ist. Nennt man den gyrus praecentralis das „Zentrum** der will
kürlichen Bewegung, so kann man das formell im Sinne eines dortigen Ursprungs
des Verbindungswegs (der Pyramidenbahn) zwischen Hirn und Rückenmark
begreifen. Eine Reizung dieser Rinde ergibt jedoch ebenso zwangsläufige
Bewegungen wie Reizungen an anderen Stellen. Totalexstirpation reduziert
beim Tier die Differenzierung der' Bewegungen im entsprechenden Körperteil,
wie das auch beim Menschen nach einer partiellen Wegnahme geschieht. Beim
Menschen hebt die totale Entfernung jedoch jede Willkürbewegung, d. h. das
freie BewegenJkönnen auf GrmM. von Motiven, auf.
Dieser Teil der Hirnrinde scheint also der Vermehrung funktioneller Möglich
keiten zu dienen. Aber wie Möglichkeiten lokalisiert sein könnten, ist völlig
unbegreiflich. Und dennoch sind sämtliche Hirnteile Bedingungen für M öglich
keiten. Ein normaler Mensch kann sich bewegen! Das Sich-Bewegenkönnen,
das Sich-Brinnem-, das Wahmehmen-Können, das Auffassen-Können optischer
und akustischer Gestalten und das Unterscheiden-Können der Haupt- von
den Nebensachen, sind die „verm ögenden" Bedingungen für das Handeln.
Sie können beim Fehlen von Hirnteilen gestört sein', aber ebensosehr durch
funktionelle Ursachen (Ermüdung, Vergiftungen, Neurosen). Bei letzteren, etwa
1 Gblb : Zur medizinischen Psychologie und philosophischen Anthropologie. Den Haag
1937. • •
142 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
bei einer hysterischen Lähmung oder Erblindung, kann man von einer Einbuße
des Können-Wollens oder des Wollen-Könnens der Bewegung oder Wahrnehmung
sprechen1,
9, Folgerung
Die Augendrohreaktion erweist sich bei näherer Betrachtung als etwas ganz
anderes als ein „cerebraler Reflex" mit einem bestimmten, anatomisch nachweis
baren „Reiz"-Verlauf. Sie ist die Antwort auf eine aus der Einstellung des ant
wortenden Individuum (Mensch oder Tier) entspringende Situation. Für eine
solche Antwort muß sowohl die Möglichkeit, das bedrohliche Herannahen wahrzu
nehmen, als auch sich reaktiv einstellen zu können, gegeben sein. An welche feinen
Unterschiede in der Situation das Wahmehmen einer wirklichen Drohung gebunden
ist, kann jeder unmittelbar in Erfahrung bringen. Eine Drohbewegung mit der
Hand gegen sich selbst ist ebenso unwirksam, als wenn man selbst den K opf zur
Hand eines anderen (oder auf einen Gegenstand) hinbewegt. Dabei ist jedoch der
optische Eindruck an sich, das Größerwerden des Netzhautbildes — der Reiz im
Sinne des Physiologen also — völlig der gleiche, als wenn eine andere Person die
Hand auf uns zu bewegte. Der Unterschied liegt nur in der Selbstbewegung (von
Hand oder Kopf). Erst durch ihr Fehlen wirkt das Herannahen als Bedrohung,
was auch für das Tier gilt.
Es wäre möglich, auch für diese Fälle „hemmende" oder „fördernde" Reize
auszudenken, die über bestimmte Bahnen auf bestimmte Zentren einwirken.
Aber was bedeutet das schon mehr, als daß man das Festgestellte noch einmal im
Sinne einer Himmythologie wiedergibt ?
Man kann sich selbst ebensowenig bedrohen, wie man sich selbst kitzeln kann.
Daraus geht wiederum hervor, daß die bedingten Reflexe keine Reflexe sind,
sondern gefortnte — wenn auch einfache, primitive — Leistungen, die als Aktio
nen und Reaktionen begriffen werden müssen, welche sich in der zeiträumlichen
Einheit werdender Situationen vollziehen. Dominant ist in dieser Situation immer
die eigene Position des Individuum mit seinen Möglichkeiten , seinem Können und
Erkennen. Das ist die Bedingung sogar für die einfachste solcher bedingter Reak
tionen, das Zukneifen der Augen beim plötzlichen, bedrohlichen Herannahen
eines Gegenstandes.I.
denn noch immer denkt man sich die „Seele“ — sofern ihre „E xistenz" bei Mensch
und Tier angenommen wird — als lokalisiert, wenn auch nicht mehr nach der
Vorstellung D e s c a r t e s ’ in der Glandula pineahs, so doch in einem größeren oder
kleineren Gehimabschnitt. Es folgt daraus, daß das decapitierte Tier zweifellos
entseelt ist, so daß das zurückbleibende Rückenmarkspräparat nur als eine ver
wickelte Maschine betrachtet werden kann. Diese Auffassung hängt mit ver
schiedenen, schon bei D e s c a r t e s anzutreffenden Vorstellungen zusammen, deren
wichtigste die Identifizierung von Seele und Bewußtsein darstellt. Dabei herrscht
dann die Überzeugung vor, die Seele sei von einer ganz anderen Seinsordnung als
jede res extensa, so daß bei Ausschaltung des Bewußtseins nur die Körpermaschine
übrigbleibe. Es leuchtet ein, daß diese cartesianische dualistische Deutung
der W irklichkeit den funktionellen Gesichtspunkt vernachlässigt. Das geschieht,
obwohl der Bezug des vitalen Geschehens auf bestimmte Zwecke so evident ist,
daß die Bedeutung der Reflexe in jeder Abhandlung über diesen Gegenstand zur
Sprache kommt.
Das Zuriickziehen eines Gliedes auf einen Reiz hin, der auch das „norm ale" Tier
geschmerzt hätte, kann man auch am Rückenmarkspräparat beobachten. Es
steht jedoch fest, daß das Rückenmarkstier nichts empfindet. Aber aus Erfahrung
wissen wir auch, daß bei fehlender Schmerzempfindung die Hand nicht zurück
gezogen wird, und es fragt sich also, ob wir auf den Schmerz oder auf den Reiz
reagieren. Die Untersuchung lehrt, daß die Reaktionszeit kürzer ist als die
Empfindungszeit für den Schmerz. W ir können die Hand, bevor wir Schmerz
empfinden, zurückziehen, woraus man gefolgert hat, daß beim Menschen, ebenso
wie heim Rückenmarkstier, der Reiz und nicht der Schmerz als Ursache der Be
wegung.aufgefaßt werden müsse. Die Reaktion, so sagt man, ist reflektorisch, der
Schmerz eine erst später sich einstellende Empfindung. Der Reiz ist also schon
über die motorischen Vorderhomzellen zu den Muskeln gewandert, ehe er die
Hirnzellen erreicht, wo die Schmerzempfmdung „bew ußt w ird",
Diese Schlußfolgerung beruht auf dem Vergleich der Reaktionszeiten und der
Latenz der Schmerzempfindungen. W ählt man bei diesem Vergleich die kurzen
Reaktionszeiten auf starke elektrische Hautreize (0,123 sec), so sind diese Zeiten
sicher kürzer als die Empfindungszeit für den sog. sekundären Schmerz (± 0 ,5 sec).
Dieser Unterschied beruht auf dem Unterschied der Leittmgsgeschwindigkeit in
jenen Nerven, welche die »sensation de piqûre« (Piéron) zur Empfindung bringen
(100 cm/sec), von der in den dünnen Nervenfasern, durch welche der sekundäre
(dumpfe, echte) Schmerz geleitet wird (40—60 cm /sec)1.
Es kann jedoch nicht bezweifelt werden, daß die Reaktion auf einen starken.
Hautreiz (z. B. eine elektrische Entladung) durch die primäre Schmerzempfindung
(sensation de piqûre) und nicht durch den Reiz als solchen verursacht wird. Der
Reiz allein ist unwirksam, wenn, wie in Narkose oder unter Suggestion, kein
Schmerz auftritt. Dieses letzte Beispiel zeigt auch, daß der Beugereflex, den wir
noch näher besprechen werden, etwas gänzlich anderes ist als das Zurückziehen
der Hand, wie zwangsläufig dieses meist auch geschehen mag. Auch sind die
vegetativen Begleiterscheinungen eines Schmerzreizes eindeutig von der Empfin
dung abhängig und kommen keineswegs automatisch (über das Rückenmark oder
gleichen. Diese bedeutet das Zurückziehen der Hand auf einen Schmerzreiz hin
oder, beim Tier, das Heben des Fußes bei Verletzung der Fußsohle.
W ir fanden, daß die Gehbewegungen des spinalen Tieres sich von der normalen
Fortbewegung durch das Fehlen der sinnvollen Anpassung an den Boden
sowie durch die Schematisierung und geringe Differenzierung der Ausführung
unterscheiden. Demgegenüber blieben einige Grundmerkmale wie der rhythmische
Charakter, die wechselseitige Innervation sowie die Auslösung durch
äußere Reizung und innere Bedingungen (Automatie) erhalten.
0,10 sec gegenüber ±0.01 sec für den Beugereflex) aufweist. W ieso dieser Unter
schied der Reaktionszeiten zweckmäßig sein könnte, ist schwer ausfindig zu
machen.
Mit pipPTn am Hinterbein ausgelösten starken Beugereflex ist manchmal auch
eine Streckung des gleichseitigen Vorderbeines und eine Beugung des gekreuzten
Vorderbeines verbunden. Auf diese Weise stellt sich also eine der Fortbewegung
des Tieres ähnliche Koordination ein. Eine derartige Reflexausdehnung sieht man
sehr gut im Versuch von T ürk . Bei einem Frosch mit hoch durchtrenntem
Rückenmark, der vertikal aufgehängt ist, reizt man die FuQhaut chemisch, etwa
mit Essigsäure. Bei schwacher Reizung sieht man nur das Auftreten einer leichten
Beugung des Beines, bei stärkerer Reizung eine kräftige Beugung, oft mit Streckung
des anderen Hinterbeines, bis bei weiterer Steigerung der Reizstärke die Bewe
gungen sich auf die Vorderbeine ausdehnen und die Hinterbeine in rhythm isch
alternierende Bewegung (Strampeln) geraten. Auch kann es zu gleichzeitigen
Streckbewegungen, z. B . bei Berührung einer Unterlage, kommen, so daß
das ganze Bild einer Desorganisation der Motorik mit Ausdehnung der
Bewegungen über den ganzen Körper ähnelt, wie man es auf heftige Schmerzreize
hin stets beim normalen Tier beobachtet. Eine Erklärung, die in diesen
desorganisierten Bewegungen Befreiungsversuche sehen will, ist sehr zweifel
haft.
Die reflektorische Deutung der Schutzreaktion der Hand (und des Fußes) und
ihre Identifizierung mit einem Beugereflex bei Schmerzempfindung erfordert eine
Untersuchung des Verlaufes der Beugebewegung bei einem Menschen m it Quer
schnittsläsion des Rückenmarks. Sobald die Schocksymptome nach 3 oder 4
W ochen behoben sind, tritt als erste Reflexaktivität beim „spinalen" Menschen
eine geringe Aufwärtsbewegung der Großzehe bei Reizung der Fußsohle durch
Kratzen m it einer Nadel auf. Diese Dorsal-Flexion der Großzehe, das Umgekehrte
der normalen Reaktion (Plantar-Flexion), kann mit Spreizung der Zehen einher-
gehen, wodurch sich das vollständige Bild des BABiMSKischen Reflexes ergibt.
W eil beim spinalen Menschen die erste Andeutung des Babinski-Effekts meist m it
einer geringen reflektorischen Anspannung der Oberschenkelmuskeln einhergeht,
betrachtet F ultqn den Fußsohlenreflex von B abinski als Teilmoment eines
allgemeinen Beugereflexes. Diese Auffassung macht es auch verständlich, daß
beim Kleinkind anstatt des normalen Fußsohlenreflexes das BaBiNSKische Zeichen
gefunden wird. Die Beugebewegung wird wegen ihrer biologisch wichtigen Schutz
funktion m it Recht als eine Primitivreaktion betrachtet. Das Nervensystem des
Kleinkindes unterscheidet sich durch eine noch nicht fertig entwickelte Pyramiden
bahn von dem der Erwachsenen. So sieht man auch nach einer Störung dieser Bahn
bei älteren Personen dasBABinsKi-Phänomen wieder überhandnehmen. Man m öchte
daraus vielleicht folgern, daß die höheren Teile des Nervensystems den B abin sk i -
Effekt vermittels derPyramidenbah« dauernd unterdrückten. Daß die „prim itiven
Mechanismen” , die durch untergeordnete Teile des Nervensystems zustande
kommen, durch die später erworbenen höheren Funktionen unterdrückt werden, ist
ja eine allgemeine Vorstellung. Auch sie stützt sich auf die Hypothese, wonach
das Nervensystem aus einer Anzahl Teile besteht, in denen die verschiedenen
Funktionen lokalisiert sind und aufeinander einen hemmenden oder fördernden
Einfluß ausüben.
Kritische Bemerkungen 147
3. Kritische Bemerkungen
Entgegen dieser Auffassung sind wir der Ansicht, daß das Nervensystem ein für
die Relation von Tier und Umwelt verfügbares Organ ist, das als geformte Totalität
funktioniert, in der, nach Art einer „G estalt", jedes Teilmoment durch das Ganze
bestimmt wird. Die Organisation, die sich — einer Klangfigur vergleichbar — auf
einen Außenweltreiz im Zentralnervensystem als eine Konfiguration von Erregungs
abläufen und -Verhältnissen bildet, ist nicht nur von anderen peripheren Ein
flüssen (z. B. Körperhaltung) abhängig, sondern auch von Vorgeschichte und
prospektiver Einstellung des Individuum. A uf Grund dieser Auffassung muß einer
Durchtrennung der großen Verbindungsbahnen zwischen Gehirn und Rückenmark
eine Reorganisation des abgeschnittenen Teils folgen, die sich jedoch nicht mehr
sinnvoll auf eine Situation bezieht.
In einigen Fällen, bei denen die Folgen einer Querschnittsläsion beim Menschen
monatelang beobachtet werden konnten, zeigte sich sehr deutlich die Umwandlung
der Reaktionen. So war der Beugereflex anfänglich nur durch Reizung der Fußsohle
auslösbar. Dann aber dehnte sich die rezeptorische Fläche über beide Beine bis
in die Leistengegend aus und der Effekt, die Beugung des Beines, wurde immer
stärker. Diese Beugung des Beines, z. B. bei einer scharfen Reizung der
Bauchhaut, einem Kneifen in die Leistenfalte oder beim festen Anfassen von Fuß
oder Oberschenkel ist eine völlig sinnlose Reflexbewegung. Sie kommt durch eine
funktionelle Desorganisation des Rückenmarks zustande. Man könnte geneigt
sein, die mit einer Streckung des anderen Beines einhergehende Beugung eines
Beines bei Reizung der Fußsohle als den Rest einer zweckmäßigen Handlung —
einer Wechselwirkung von Organismus und Umwelt — anzusehen. ^ Aber dann
bleibt es doch merkwürdig, daß diese Reflexbewegung sich erst nach einiger Zeit
(der sog. Schockperiode) entwickelt, obwohl das anatomische Substrat völlig
intakt ist. In Übereinstimmung mit der mechanistischen Lehre sucht man die
Ursache der Schockperiode gewöhnlich im Ausfall eines Einflusses der höheren
Zentren auf das Rückenmark1. Aber wozu diese Verbindungen, wenn die Flucht
bewegung des Fußes ein echter Rückenmarksreflex wäre, der aus anatomischen
Zusammenhängen erklärt werden könnte ? Zeigt der spinale Schock nicht vielmehr,
daß unteT normalen Umständen, sogar für die einfachsten Reaktionen, das ganze
Nervensystem erforderlich ist, so daß sich nach Rückenmarksdurchtrennung zu
nächst eine A rt funktioneller Reorganisation einsteUen muß, bevor periphere
Reize Bewegungen auslösen können ? In einem späteren Stadium bleiben insulta-
tivé Reize wirksam, aber außer Beugebewegungen bewirken sie auch vegetative
Reaktionen (am Gefäßsystem, Blase, Rectum , Schweißdrüsen). Diese zeigen den
Verlust einer ursprünglichen Begrenzung der Ausdehnung der Reize im Zentral
nervensystem, und zwar ohne daß irgendeine anatomische Änderung stattgefunden
hätte. Es bestehen im Zentralnervensystem denn auch keine Strukturfunktionen, aber
wohl funktionelle Strukturen ( von W eizsäcker ) . Das Durchlaufen eines bestimmten
Weges durch einen R eiz— sogar in dem einfachsten Fall eines Schmerzreizes— kann
nicht aus dem anatomischen Bau erklärt werden, sondern aus der Verteilung der
Reizbarkeit, die von der funktionellen Einstellung des Organismus abhängt.
1 Bei Katze und Hund wäre insbesondere der Tractus vestíbulo- und reticulo-spinalis für
den spinalen Schock verantwortlich; beim Menschen und den höheren Primaten spielen die
cortico-spinalen Bahnen eine wichtige Rolle.
10*
148 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
Man muß jedoch auch die Abwehrhandlungen eines Scheingefechts, etwa beim
Fechten oder Boxen und bei Kampfspielen wie Tennis oder Fußball, m it in
die Betrachtung einbeziehen.
Verschiedene Menschen führen diese Abwehrbewegungen in verschiedener
Weise aus. Es gibt zwar ein Schema von allgemeiner Gültigkeit, und die Reaktion
ist in einfachen Fällen in der Form , wenn auch nicht in Geschwindigkeit und In
tensität nahezu gleich. A ber schon bei Bedrohungen etwas komplizierterer Art, wie
sie bei verschiedenen Unfällen und bei den drohenden Gefahren des Straßenver
kehrs Vorkommen, ergibt sich ein Unterschied je nach Alter, Geschlecht, Stand
und Temperament des Betroffenen.
Als einfaches Beispiel einer Abwehrbewegung lernten wir schon den Blinzel
reflex kennen, der bei jedem in gleicher W eise verläuft. D och sind auch hier
individuelle Unterschiede in der Reaktionsstärke festzustellen, besonders wenn
man das mit dem Augenschluß verbundene Zurüdrweichen des K opfes beachtet,
das eine kinematographisehe Aufnahme fast immer herausstellt (H e s s ), das ge
wöhnlich aber der Aufmerksamkeit entgeht. Die zurückweichende Kopfbewegung
stellt eigentlich eine Flucht, ein Entweichen vor der Bedrohung dar. Das Schlie
ßen der Augen ist eine echte Abwehr.
Die nun zu betrachtenden Abwehrhewegungen bewirken ausgiebigere Ver
lagerungen des Körpers. Es sind dabei fast immer Ausweich-, d. h. also Flucht
bewegungen, verbunden m it Bewegungen der Arme und Hände, die eine bedrohte
empfindliche Stelle (K opf oder Rumpf) schützen und den Reiz abwehren sollen.
Kennzeichnend für diese Handlungen sind folgende Momente:
1. das automatische, zwangsläufige Auftreten bei Mensch und Tier, dessent
wegen wir sie den elementaren Reaktionen zurechnen;
2. die Einstellung auf kommende Ereignisse, die prospektive Einstellung oder
Antizipation, welche den zielgerichteten Handlungscharakter bedingt;
3. die wechselnde Ausführung;
4. ihr Entstehen aus Erfahrung in der Entwicklung zu einer genau auf die
Situation abgestimmten, geformten Bewegung;
5. die schon erwähnte Motivierung a posteriori, während die Reaktion dennoch
unbewußt und von selbst auftritt.
Die Abwehrbewegungen haben ihren Ursprung in der Schreckreaktion, die wir
zunächst näher betrachten wollen.
2. Die Schreckreaktion
Diese Reaktion bildet, wie das Beispiel Schneiders zeigt, die Grundlage für
die differenzierten Bewegungen zur Abwehr von Bedrohungen. Sie hat zwei
Phasen: Haltungsversteifung und Haltungsverlust. Man ist steil oder gelähmt
vor Schreck, man steht stocksteif oder sinkt zusammen. Zum wesentlichen
Verständnis dieser zwiegestaltigen Reaktion ist eine Einsicht in die Genese
der Schreckreaktionen erforderlich. W ie reagiert das Kind von der Geburt an
und wie verlaufen diese Reaktionen bei den Tieren ?
Nach einer Mitteilung P r e y e r s 1 zeigt ein kräftiges Kind schon am zweiten Tag
nach der Gehurt (manchmal etwas früher) die Andeutung einer Schreckreaktion.
Allmählich verstärkt sich diese Reaktion. Anfänglich werden auf ein starkes
1 P reyer , W .: Die Seele des K o d e s , 3. Auf!., S. 176. Leipzig 1890.
ISO Exemplarische Reaktionen und Leistungen
Geräusch nur die Augen geschlossen oder es tritt wiederholter Lidschlag auf .
Aber das etwas ältere Kind zuckt schon zusammen oder es streckt die Arme aus.
Im allgemeinen überwiegen in der ersten Lebensperiode des Säuglings alle nega
tiven Reaktionen (Bühler )1. Erst im zweiten Monat kann von einem „A ktivitäts
einsatz" die Rede sein. Es stellt sich die eiste Umkehr eines Erleidens in ein Tun
ein, wodurch die negative Schreckreaktion unter bestimmten Umständen durch
eine positive, mehr oder weniger adäquate Abwehrbewegung ersetzt werden kann.
Erst im vierten Monat bildet sich diese jedoch deutlich aus.
Ein konstantes und typisches Symptom des kindlichen Erschreckens ist, nach
P r e y e r , die Lautlosigkeit. Das Weinen des Kindes beginnt ja erst etwas nach dem
eigentlichen Erschrecken, nach einer Pause. P reyer meint, der Zustand des
Nicht-Weinen-Könnens beruhe wesentlich auf einem tetanischen Erregungs
zustand der motorischen Nerven, insbesondere der Zungenmuskeln, wodurch
jeder Impuls, einen Ton von sich zu geben, einen Krampf der Zunge auslöse. Vom
gesamten Mechanismus der Schreckreaktion macht sich P reyer folgende Vor
stellung: Das Kind fängt erst einige Zeit nach einem Sturz oder einer anderen
Schreckensursache zu weinen an, weil ursprünglich jede W illenstuflerung auf
gehoben ist. Sogar die Reflexreizbarkeit sei herabgesetzt, weil die starke Reizung
gewisser Zentren m it einer Hemmung der anderen zentralen Funktionen einher
gehe. Nach Aufhebung der Hemmung komme zwar ein motorischer Impuls zu
stande, der jedoch Zungenkrampf bewirke. Das Weinen beginne erst, wenn auch
dieser wieder behoben sei.
W ichtig an dieser Beschreibung ist die Unfähigkeit, einen Laut von sich zu
geben, die auch bei Erwachsenen als ein „Sprachlos-Sein vor Schrecken" allgemein
vorkommt. Aber es ist unrichtig, dies auf einen Kram pf der Zungenmuskeln
zuriickzuführen. Bei heftigem Schrecken sehen wir meistens zuerst einen starken
motorischen Effekt, etwa eine Versteifung der Beine in Streckstellung. A u d i
Arme und Finger werden dabei gestreckt, die Arme manchmal auch hochgehoben.
Zugleich läßt sich ein Laut hören, vorwiegend durch eine starke Einatmung durch
die verengerte Stimmritze. Diesem positiven Effekt folgt die Lähmung, das in
die Kniesinken und zugleich die Aphonie. Auch sieht man manchmal andere
Lähmungserscheinungen, wie unwillkürlichen Abgang von H am und Faeces.
Auch bei Tieren zeigt sich oft der Doppeleffekt, doch meistens überwiegt der
Tonusverlust der Extremitäten (z. B. bei Pferden und Hunden), manchmal auch
von Blase und Darm.
Die Schreckreaktion ist stets unspezifisch, also nicht situationsbezogen. Sie
besteht bei Mensch und Tier in Desorganisation der Motorik, Muskelkrampf und
MnskpHähmimg' erst wenn dieser Effekt nachläßt, ist die Möglichkeit einer
adäquaten Abwehrbewegung gegeben.
zu entfernen sucht. Die Untersuchung B ühlers und Spielmanns1 betraf die Art
und Weise, wie sich das Kind eines lästigen Gegenstandes auf Gesicht oder Brust
zu entledigen versucht. Anfänglich reagiert der Säugling nur m it unausgerichteten
Fluchtbewegungen; im Alter von 1% Monaten sind 25% der Reaktionen einiger
maßen ausgerichtet, aber doch noch inadäquat, so daß sie nicht oder nur zufällig
zum Ziel führen. Mit 41/ , Monaten überwiegen die adäquaten, gerichteten
Abwehrbewegungen. Die Abwehr setzt also etwas voraus, worüber der Neu
geborene noch nicht verfügt, was sich erst im ersten Lebensjahr entwickelt: die
Beherrschung des eigenen Leibes. Damit geht auch die Beherrschung der Außen
welt einher. Jede, etwa sportliche, Übung in der raschen und genauen Ausführung
von Abwehrbewegungen ist daher sowohl eine Übung im Beherrschen des eigenen
Leibes als auch in der Bewältigung der desorganisierenden Wirkung von starken
Reizen und gefahrvollen Situationen2.
Die Bewegungsentwicklung des Kindes, die stark durch das Milieu beeinflußt
wird, zeigt, daß d ie Abwehrbewegungen angelernt sind. Es sind jedoch von An
fang an automatische Bewegungen, die nach meiner Ansicht einen doppelten Ur
sprung haben.
Erstens entfalten sie sich an der situativen Erfahrung aus zwei primitiven
Handlungen, nämlich aus dem W egstoien eines listigen Gegenstandes, was der
Untersuchung B ühlerb und Spielmanns zufolge sehr früh auftritt und aus dem
Beschützen des Gesichts durch Bedecken m it den Händen.
In der Literatur findet man keine Angaben über das Auftreten und die Ent
wicklung dieser letzten Reaktion beim Kinde. Wahrscheinlich muß man jedoch
den Ausgangspunkt im Reiben der Augen suchen. Schon wenige Tage nach der
Geburt kann das Kind die Hand an den Mund bringen, um am Daumen zu lutschen.
Schpn nach einigen W ochen tritt nach dem Schlafen die typische Reaktion des
„Ausreibensder Augen" auf. Auch beipi Weinen reibt sich das Kind die Augen.
Nachdem sich die Drohreaktion eingestellt hat, ergibt sich schon bald eine Kom
bination von Zukneifen der Augen m it ihrem Bedecken durch die Hände.
Zweitens entsteht die elementare Grundform der Abwehrbewegungen, das
Beschützen des Kopfes durch den gebeugten Arm, im späteren Alter leicht aus
der starken Seitswärtsdrehung des Kopfes in die der Bedrohung entgegengesetzte
Richtung. Besonders dann, wenn diese W endung des Kopfes mit einer Wendung
und Beugung des Rumpfes einhergeht, wird der Arm der bedrohten Seite „von
selbst" gebeugt. Der Begriff „von selbst“ verlangt einige Erläuterungen. Man
konnte an «m en Reflex im Sinne der reflektorischen Bewegung der vorderen
Extrem ität«» bei Kopfdrehung (M a g n u s ; vgl, oben) denken. Hierbei wird ja der
Scheitelarm gebeugt. W ir haben uns gefragt, ob die Mitbewegung der Arme bei
Kopfdrehung tatsächlich als Reflex aufzufassen oder aber als Ausdruck eines
Frinzips, z. B, der „ausgezeichneten Lage" oder der Gleichgerichtetheit aller
partiellen Bewegungen aufzufassen sei.
i B öhler , Ch ., u . L'. Spielmann : Die Entwicklung der Körperbeherochung im ersten
Lebensjahr. Z. Psychol. 107, (1928),
* Es besteht zwischen Mut und Selbstbeherrschung (und Ruhe) eine schon der Antike
bekannte Korrelation. Aber dieser Mut bedeutet nur das Fehlen von Furcht- und Schreck
reaktionen, es ist ein Mut, den wir auch bei Tieren kennen und nicht der „sittliche M ut",
der auf einem ganz anderen Niveau der Persönlichkeit liegt und mit dem vitalen Mut, mit
Ruhe und Selbstbeherrschung keineswegs verbunden zu sein braucht.
152 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
umgrenzt sich immer mehr,wodurch auch die reaktive Handlung immer bestimmter
wird. - Dieses „Erkennen", „Beurteilen", „kategorisch bestimmen", vollzieht sich
natürlich nicht bewußt und denkend, sondern als ob es gedacht würde.
Die Fähigkeit des guten Spielers kann man denn auch nicht besser als durch
den Begriff der „senso-motorisclien Intelligenz" charakterisieren. Ganz wie im
verstandesmäßigen Urteil geschieht die senso-motorische „Beurteilung" der
Situation auf Grund früherer Erfahrung und in bezug auf die bereits teilweise
geformte Handlung. Apriorisch sind dabei die eigenen Bewegungsmöglichkeiten
gegeben, aber auch die Möglichkeiten, die Spiel und Kam pf enthalten.
Das Ergebnis der Analyse des Tennisspiels stimmte mit dem der Unter
suchung der Bewegung kämpfender Tiere völlig überein. Der Kampf zwischen
Mungo und Kobra ist für einen Vergleich mit dem Tennisspiel (oder dem Fechten)
gut geeignet, weil auch hier Angriff und Abwehr miteinander abwechseln. Das
kleine Raubtier bespringt die Schlange, um sie am K opf zu ergreifen. Die Kobra
schlägt mit hoch erhobenem K opf plötzlich nach dem Mungo, um ihn zu beißen.
Der Film zeigt uns jedoch, daß die Abwehr- (und Flucht-) Bewegung des einen
Tieres stets zugleich mit der Angriffsbewegung des anderen einsetzt, so daß beide
Bewegungen fortwährend miteinander verbunden sind. Auch hier ist jede Hand
lung von Anfang an auf die mögliche Entwicklung der Situation eingestellt. Die
Bewegungen beider Tiere werden also nicht durch latente Perioden und Reaktions
zeiten voneinander getrennt, sondern sie bilden eine organische Einheit, zu
sammengeschlossen wie die Bewegungen der Teile eines einzigen Leibes.
Die Abwehrbewegungen im engeren Sinne, die den Ausgangspunkt unserer
Betrachtungen bildeten, sind mehr oder weniger Reaktionen auf plötzlich ent
stehende Situationen, mit denen sie dann naturgemäß weniger eng verknüpft sind.
Was man jedoch plötzlich nennt, ist doch immer schon ein „A ugenblick", z. B.
0,1 sec und das reicht schon aus, um der Abwehrreaktion eine der Situation ent
sprechende Form zu geben, d. h. es genügt zur Einstellung auf eine künftige Ent
wicklung. Diese vollzieht sich auf Grund des erwähnten apriorischen Schemas im
Zusammenhang mit früherer Erfahrung und der Ganzheit des Situationsbildes.
Dem Problem der tierischen Intelligenz, das sich bei Überlegungen über die „ide
ale“ Abwehrbewegung geradezu auf drängt, wollen wir hier nicht weiter nachgehen1.
Aber wir können nicht umhin, als Abschluß des Themas die Geschichte, die
H e in r ic h v o n K l e is t in seiner bekannten Abhandlung „Ü ber das Marionetten
theater" erzählt, wiederzugeben. Es handelt sich um die meisterhafte Weise, in der
ein Bär die Stöße eines Fechtdegens pariert, „m it einer ganz kurzen Bewegung der
Tatze". „N icht bloß, daß der .Bär, wie der erste Fechter der W elt, alle meine
Stöße parierte ; auf Finten — was ihm kein Fechter der W elt nachmacht — ging er
gar nicht einmal ein: A ug' in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte,
stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft
gemeint waren, so rührte er sich nicht."
Der Erzählung, deren Glaubwürdigkeit irrelevant ist, muß als bemerkenswert
nicht nur die Sicherheit der „unbewußten" Abwehrbewegungen des ruhigenTieres,
sondern auch das 2Vtc&freagieren auf Scheinbewegungen entnommen werden. Der
Bär „versteh t" die Situation in einem „A ugenblick". V on K leist spricht in
1 B tjytendijk , Die Erwerbung neuer Gewohnheiten als Lebenserscheinung.
C. v. X I« “ ® Congrès internat, de Psychol., Paris 1938, S. 69.
154 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
virtuelle Bewegung zu ihm hin bewirkt. Die virtuelle Bewegung konstituiert das Bild
und damit den des Wahrgenommenen, der unsereAktionen und Reaktionen be
gründet. Palagyi meint, wir seien durch Empfindungen und Gefühle dem Gegenwär
tigen verhaftet. Durch die vitale Phantasie oder die virtuelle Bewegung könne jedoch
das Subjekt woanders sein, während es mechanisch an seinen Ort gebunden bleibe.
Empfindungen, Gefühle und virtuelle Bewegungen gehörten, ebenso wie die wirk-
lichenBewegungen, der vitalen Sphäre an und seien keine Bewußtseinserscheinun
gen, wenn sie auch zu Bewußtsein kommen und bewußt gelenkt werden könnten.
Bereits im unbewußten Leben des Säuglings wirke die vitale Phantasie. Nur hier
durch entwickle sich die Wahrnehmung der räumlichen Ordnung zugleich mit den auf
diese Ordnung eingestellten Bewegungen. „W er seiner Bewegung nicht Herr ist,
kann auch nie etwas finden und nichts wahmehmen. Erst wenn im Verlaufe von
drei oder vier Monaten die virtuellen und wirklichen Bewegungen von Augen und
Gliedern ausreichend gekräftigt sind, kann das Kind wahmehmen und handeln.“
„Daran istzu ersehen, daß die eingebildete Bewegung eine zeitlich vorausgehende
Bedingung der Wahmehmungstätigkeit, nicht aber diese selbst ist, also keinen
psychischen Charakter haben kann," Diese Währnehmungsakte seien Akte des
Bewußtseins; virtuelle Bewegungen seien j edoch keine psychischen Aktivitäten, weil
sie die zwangsläufigen Bedingungen der Bildung zielgerichteter Bewegungen seien.
Noch deutlicher trete der nicht-psychische Charakter virtueller Bewegungen
bei den automatischen Bewegungen des erwachsenen Menschen hervor. Auch das
unbewußte Gehen und die unbewußten Abwehrbewegungen weiden gelenkt. Eine
automatisierte Bewegung bleibe nur deshalb zweckmäßig, weil sie ihre Steuer,
nämlich die virtuelle Bewegung, nicht verloren habe. „U nter einer automati
sierten Bewegung verstehen wir daher eine solche Bewegung, deren virtuelles Steuer
aus der Verbindung mit dem Bewußtsein ausgeschaltet, d. h, automatisiert wurde."
Die Theorie Palagyi» hat zweifellos viel Verlockendes. Wenden wir sie auf
die Ausführung der Abwehrbewegung an, so können wir von dem Beispiel, das
Schneider entliehen wurde, ausgehen, wobei der „G rund" der zwangsläufigen,
schnellen, unbewußten Reaktion nachträglich scheinbar angegeben werden kann.
Unterstellt man, daß im Augenblick einer Bedrohung der bedrohliche Charakter der
Situation durch einen Phantasieprozeß bestimmt würde, so könnte man leicht eine
Anzahl von Beispielen finden, bei denen diese Einbildung Mar bewußt, vage bewußt
oder unbewußt wäre. Die Annahme einer vitalen Phantasie ist jedoch ebenso be-
denklich wie die einer vitalen Intelligenz, eines unbewußten Vorstellens und eines
unbewußten Denkens. Der gegen H elmholtz’ „W ahmehm ungsurteile" (einge
führt z. B. zur Erklärung optischer Täuschungen) erhobene EinWand lautete ja
gerade, man dürfe aus der Tatsache, daß wir im Anschluß an Wahrnehmungen
bewußt über gewisse Relationen urteilen können noch nicht auf einen raschen
unbewußten Urteilsprozeß schließen, da uns Relationen (etwa Größenverhältnisse)
unmittelbar in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben sind. •
So ist es sehr wohl möglich, daß ein Mensch, der mit Überlegung, also bewußt
einer Situation begegnet, diese „kraft der Einbildung“ als bedrohlich beurteilt,
während bei vitaler Positionalität, wie sie bei Mensch und Tier häufig vor
kommt, die Situation durch ihre unmittelbar wahrgenommene Struktur wirkt.
.Ein Beispiel kann das näher erhellen. Wenn ich vor einem Haus-stehe, sehe ich
eigentlich nur einen Giebel, aber in W irklichkeit, d. h. auf Grund meiner Aktivität,
156 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
ein Haus. Es ist mir also mehr gegeben als das sinnliche Bild als solches. Das
gilt auch für ein Tier, denn ein Hund läuft um ein Haus herum, wenn die Vordertür
geschlossen ist. Mag dies nun auf einem Phantasieprozeß oder auf einem Urteil
beruhen, jedenfalls sind es völlig unbewußte Zusätze zum Wahrgenommenen. D e r-.
artige Zusätze muß man in allen Fällen annehmen, in denen die Aktivität vonMensch
und Tier auf etwas „Unsichtbares" gerichtet ist, z. B. wenn man sich kratzt
oder wenn ein Hund auf einen Stuhl springt, dessen Sitz er nicht sehen kann.
Die Ergänzung einer wahrgenommenen Gestalt unter Mitwirkung ,der Er
fahrung ist denn auch nach K ö h l e r eine normalerweise zu jeder Wahrnehmung
gehörende Erscheinung, die nicht durch unbewußte Urteile oder vitale-Phantasie
erklärt zu werden braucht. Nur wenn man— wie eigentlich auch noch PALAGYl —
von der früher herrschenden Auffassung ausgeht, nach der das sinnlich Gegebene
primär ausschließlich in einem Konglomerat von Empfindungen besteht, muß
man wohl eine sich anschließende Funktion unterstellen, die aus diesem Material
die sinnliche Wahrnehmung aufbaut. Geht man jedoch davon aus, daß dem
Menschen und dem Tier sinnvolle Gestalten unmittelbar sinnlich gegeben sind,
daß sie also das Fern und Nah, das Herannahen und Sich-Enffem en der Dinge
ebenso unmittelbar wahmehmen wie Nahrung oder Artgenosse, groß oder klein, so
ist auch das Bedrohliche ein unmittelbarer, sei es auch erworbener Eindruck.
Aber die Frage, weshalb nun auf eine Bedrohung mit einer zweckmäßigen
Abwehrbewegung reagiert wird, können wir nicht beantworten. P a l a g y i « Theorie
(oder eine Theorie von unbewußten Urteilen) gibt nur scheinbar eine Erklärung.
Denn der Grund dafür, daß die virtuelle, der realen als Plan vorangehende Be
wegung gerade diese bestimmte Form hat, bleibt ebenso dunkel wie der W eg, auf
dem ein unbewußtes Urteil von der Form „nun muß ich das und jenes tun" zu
einer wirklichen Handlung führt. W ir müssen uns mit der Feststellung zweier
-Tatsachen begnügen. Erstens: in jeder Wahrnehmung ist mehr gegeben als das
sinnliche Material, mehr sowohl im räumlichen als auch im zeitlichen Sinne.
und Tier sehen ja, wo ein geworfener Gegenstand ankoromen wird, was zu
großen Teil manche Abwehrbewegung bestimmt.
Zweitens besitzen alle sinnlichen Eindrücke, sogar einfache Empfindungen,
eine bewegende Kraft, haben einen dynamischen Charakter. Für akustische Ein
drücke ist uns das wohlbekannt, für optische und taktile viel weniger. Das beruht
auf unserer vorwiegend „gnostischen" Einstellung zur anschaulichen und tast
baren W elt der Gegenstände, die dann für uns in ihrem statischen Zustand, ihrer
Ruhe, gegeben sind. Eine solche affektlose, „apathische" Einstellung wird meist
auch beim psychologischen Laboratorium-Experiment gefordert. Von daher ist
verständlich, daß die primäre bewegende Kraft der Sinneseindrücke lange Zeit
verkannt wurde. Erste Versuche unter psychopathologischen Umständen, ins
besondere bei der Mescalinvergiftung, zeigten, wie schon ein Lichtaindruck oder
eine Berührung ihnen dynamischen Charakter haben können. S t e i n hat
die virtuellen Bewegungen sensorische oder Eindrucks-Bewegungen nennen,
wollen. „W ir sehen in diesen Bewegungen keine reizfernen Vorginge, weniger eine
aktive als eine passive Leistung. Solche Bewegungen werden ebenso zwangs
läufig von afferenten Impulsen abhängig hervorgerufen wie Empfindungen1. ''
1 S tein , J .: Pathologie der Wahrnehmung. Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. I
S. 422 (1928).
D ie Erhaltung des Gleichgewichts. Ausgleichsreflexe 157
Die grundsätzliche Unrichtigkeit der Theorie von der vitalen Phantasie wird
m. E. durch die meisterhafte phänomenologische Analyse der wirklichen Ein
bildung in S a r t r e « Buch »LTmaginaire1« eindeutig geklärt. Wenn ich mir ein
früheres Ereignis wieder vor das innere Auge rufe, bilde ich mir dieses nicht ein,
sondern ich erinnere mich seiner. »C ’est-à-dire que Je ne le pose pas comme
donné-absent, mais comme donné-present au passé, «
Auch zwischen Antizipation und Einbildung gibt es einen Wesensunterschied,
» Il y a en effet deux sortes de futur.« Als Beispiel einer echten Antizipation
wählt Sa u t r e s , wie wir, eine Phase des Tennisspiels, in der man die Bahn des
Balles vorhersieht. »E n réalité l'avenir n’est ici que le développement réel d ’une
forme amorcée par le geste de mon adversaire et le geste réel de cet adversaire
communique sa réalité à toute la form e.« » . . . je continue à réaliser la forme en
la prévoyant, car ma prévision est un geste réel a l’intérieur de la form e.« W irklich
ist für uns nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit und Zukunft
als Randzonen der Gegenwart: »don c le passé et l’avenir en tant que structures
essentielles du réel sont également réels2.«
Die erlebte Zukunft ist ein Teilmoment des funktionellen, vitalen Bezugs von
Idividuum und Situation. Es gibt kein mögliches Verhalten ohne Antizipation,
aber diese ist kein Phantasieprozeß. Vorläufig können wir sie nicht auf eine
andere Funktion zurückführen und müssen sie daher wie die Erinnerung als ein
unreduzierbares Grundphänomen der animalischen Leistungen betrachten.
Damit ist nochmals zum Ausdruck gebracht, daß eine kausale Erklärung einer
einfachen Leistung wie der Abwehrbewegung unmöglich ist. Nur diese Genese und
die Gesetzmäßigkeit ihres Auftretens, der Verlauf unter variierenden Umständen,
sowie die Mittel zu ihren Ausführungen sind einer Untersuchung zugänglich.
Das gehört jedoch zur speziellen Bewegungsphysiologie und fällt daher aus dem
Rahmen unserer Betrachtungen.
Das muß man lernen, indem man es durch Übung erwirbt, was dem einen
besser gelingt als dem anderen. Während jedes normale Kind Gehen und Stehen
Bücken, Knien und Treppensteigen lernt, und der Erwachsene unter all
täglichen Umständen ohne Anstrengung und ganz unbewußt, „von selbst" das
Gleichgewicht behauptet, gibt es demgegenüber nach dem Ausdruck von T h o m a s 1
ein »équilibre de lu xe», das langwierige Übung, Aufmerksamkeit und Anstren
gung erfordert. Dabei sind die Genauigkeit, die Geschwindigkeit, die Vielseitigkeit
und die Differenzierung der kompensatorischen Bewegungen viel größer. Diese
sind dabei nicht nur auf die augenblicklich einwirkenden Kräfte abgestimmt,
sondern auch auf Möglichkeiten und auf die Wahrscheinlichkei t ihrer Verwirklichung
ausgerichtet. Ein solches Gleichgewicht stellt sich beim Fechten, Boxen, Reiten,
Skiläufen, Fußball- und Tennisspiel, Seiltanzen ein, aber auch bei manchen Berufen
wie bei Dachdeckern und Seeleuten.
Es gehört zu den verständlichen Fehldeutungen einer dualistischen Bewegungs
lehre, daß man die einfachen Ausgleichsbewegungen beim Gehen und Stehen als
Reflexe, die differenzierteren als Handlungen auffaßt. Jene betrachtet man
dann als das Ergebnis eines Reizverlaufs vom Rezeptor durch die untergeordneten
Teile des Nervensystems zum E ffector; diese als die Äußerungen psychischer
Prozesse, von Einsicht, Überlegung und Erfahrung. Unter allen Umständen ist die
Erhaltung des Gleichgewichts eine Leistung, die stets reaktiv ist, weil die Situation
sie veranlaßt oder erzwingt, die stets von selbst, ohne Bewußtsein geschieht, die aber
auch die ganze Person mit all ihrer Erfahrung aktiv handelnd beansprucht. Aber die
Reaktionen zur Gleichgewichtserhaltung vollziehen sich vielfach als reflektorische
Bewegungen. Das beruht auf einem allgemeinen Prinzip menschlichen und
tierischen Verhaltens: der Tendenz zum kategorischen Handeln, wobei ein domi
nierender Faktor in der Reizkonstellation führend ist. Es entsteht so die Grund-
Struktur der speziellen Formen reaktiver Bewegung, die sich den besonderen
Anforderungen der Situation anpassen.
Gleichgewicht heißt einerseits Gleichgewicht der Muskelspannungen, deren
Verteilung unsere Haltung bestimmt. W eil diese Muskelspannung in jedem
Augenblick und an jeder Stelle vom allgemeinen, zentral bestimmten Tonusniveau
und vön den sensorischen Eindrücken der Körperperipherie abhängt, handelt es
sich andererseits um ein Gleichgewicht zwischen den sensorischen und motorischen
Prozessen. Das Gleichgewicht der Spannungen ist dem Gleichgewicht elastischer
Kräfte, etwa bei einer Spiralfeder vergleichbar. Jeder störende Einfluß b e w ir t
eine örtliche Dehnung. Die Empfindung dieser Dehnung ist ein dominierender
Faktor und die kategorische Antwort ist eine Spannungszunahme im gedehnten
Muskel.
Experimentell zeigt sich diese grundsitzUche Relation, wie wijr sahen, als
Dehnungsreflex, aber auch in der sog. Regel v o m Ue x k Oul», wonach der Reiz
(die Innervation) zum gedehnten Muskel abfließt. Man kann viele Fälle einer
Wiederherstellung des Gleichgewichts aus der Geltung dieser Regel erklären.
Es- kann jedoch auch eine völlig andere Art von Ausgleichsbewegungen
erfolgen. Das gestörte Gleichgewicht der Muskelspannungen wird dann durch
Verlegung des Schwerpunktes wiederhergestellt. Das geschieht durch R ump f,
bewegungen, bei geringen Störungen am besten durch Bewegung unserer Balanee-
1 T homas, A : Equilibre et équilibration. Paria 1940.
Haltungsreaktionen 159
stocke, der Arme, die gestreckt oder gebeugt, abduziert oder adduziert werden
können. Eine dritte Kategorie der Antwort stellt das Versetzen der Beine,
die Änderung der Stützfläche dar. Auch Kombinationen dieser verschiedenen
Handlungstypen kommen vielfach vor. Das Überwiegen einer Reaktionsform ist
von der Situation abhängig. Eine Katze, die auf vier Beinen steht, wird auf eine
Bedrohung ihres. Gleichgewichts kategorisch mit der Gegenstemm-Reaktion
antworten, aber wenn sie auf den Hinterbeinen steht, balanciert sie mit den Vorder
beinen und versetzt zugleich wiederholt die stützenden Hinterbeine.
Im Fallen kann sich die Katze durch Schwerpunktsverlagerung der Körper
teile umdrehen. Das tut sie, nachdem zuerst der K opf in die richtige Lage ge
bracht wurde, was nur durch die Labyrinthempfindungen möglich ist. Die
Experimente zeigen das tatsächlich.
Beim Menschen wird der Reaktionstypus durch' die Umstände bestimmt. Bei
kleiner, labiler Stützfläche, etwa beim Seiltänzer, beim Kunsteislauf und bei vielen
anderen Sportarten überwiegt die Schwerpunktsverlagerung. Manchmal wird
ein ganz neues Hilfsmittel und somit eine neue Bewegungstome eingeschaltet —
man denke etwa an den Gebrauch der Stöcke beim Ski-Sport. In allen diesen
Fällen beruht die Erhaltung des Gleichgewichts auf einem einfachen Prinzip, das
nach bestimmten Regeln angewandt wird.
2. Haltungsreaktionen
Auch beim Tier bestehen solche Prinzipien und Regeln, von denen wir einige
durch die Untersuchungen von Magnus und seiner Schule kennengelemt haben.
W ir sprachen darüber bereits und versuchten die sog. Haltungsreflexe als die
Grundformen natürlicher Verhaltensweisen aufzuzeigen, wie sie in biologisch
häufigen, primären und einfachen Situationen auftreten.
Es ist nun interessant, daß die durch die Kopfstellung nach dem früher er
wähnten Regeln ausgelösten Bewegungskombinationen der Extremitäten auch
für <Me.Erhaltung des Gleichgewichts von Bedeutung sein können. Das hierzu von
M a g n u s und d e K l e y n selbst angeführte Beispiel ist jedoch wenig überzeugend.
„W enn ein stehendes Tier den K opf nach links dreht, wodurch der Schwerpunkt
der vorderen Körperhälfte nach dieser Seite verschoben wird, so wird das linke
Vorderbein durch Tonuszunahme zum Standbein (während das rechte Vorderbein
einen geringeren Tonus erhält und bei anschließenden Laufbewegungen den
ernten Schritt tut). Der Wendung des Halses schließt sich die Drehung des
Rumpfes an, der nach links konkav gebeugt wird. Da das linke Vorderbein als
Standbein die Achse des vorderen Körperteils bildet, wird der K örper nach rechts
gedrückt und dadurch das Gleichgewicht erhalten."
Nimmt man an, daß die Tonuserhöhung im Unken Vorderbein durch eine
stärkere Belastung verursacht wird (Stützreaktion), so genügt das für eine Er
klärung der Gleichgewichtserhaltung bei Seitwärtsdrehung. Außerdem zeigen
Katzen nach Durchtrennung der oberen Paare cervicaler Halswurzeln, also bei
Aufhebung sämtlicher Empfindungen aus dem Halsbereich, auffallend geringe
Störungen.
Setzt, man das Tier auf eine schiefe Ebene, oder ändert man die Stellung der
Unterlage in verschiedenen Richtungen, so erhält es sein Gleichgewicht, indem es
stets die Projektion des Schwerpunktes innerhalb der Stützfläche der vier Beine
160 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
hält. Das geschieht vermittels einer zweckmäßigen Beugung und Streckung der
Extremitäten. Steht ein Hund auf einem Brett, dessen Kopfseite man hochhebt,
so werden die Vorderbeine gebeugt und die Hinterbeine gestreckt. Das Umge
kehrte findet statt, wenn man die Kopfseite abwärts bewegt. Die veränderte
Beinstellung folgt nun zweifellos den Regeln, die wir als „Haltungsreflexe“
kennenlemten. Das Tier behauptet nämlich — wenigstens in dieser Gefahr
situation — die absolute Lage des Kopfes kn Raum und kann dies (bei Ausschluß
optischer Orientierung) nur durch die Empfindungen aus dem Gleichgewichts
organ (namentlich den Otolithen) tun. Beim Sinken des Vorderteils der Unterlage
wird der K opf also dorsalwärts begeugt, worauf als „H alsreflex“ die Streckung der
Vorder- und die Beugung der Hinterbeine folgt. Es stimmt also alles vorzüglich.
Aber auch ein labyrinthloser Hund, ebenfalls mit verbundenen Augen, kann,
nach Mitteilung von M a g n u s u . d e K l e y n , auf einem schiefen Brett das Gleich
gewicht in derselben Weise behaupten! Jetzt aber sind es die Empfindungen der
Extremitäten, d. h. die Eindrücke aus Fußsohlen und Muskeln, welche die Aus
gleichsbewegungen regulieren! Diese „R eflexe" haben nun dieselbe W irkung wie
die tonischen Labyrinth- und Halsreflexe. Beim Menschen finden wir dasselbe
Ergebnis. Ohne funktionierendes Gleichgewichtsorgan (wie bei vielen Taubstum
men) kann man ■— auch bei geschlossenen Augen — noch ausgezeichnet das
Gleichgewicht wahren, viel besser als bei Störung der Tiefensensibilität in den
Beinen. Nur unter vereinzelten besonderen Umständen, z. B. bei plötzliche?
Lageänderung (Neigung) der Stützfläche, ergibt sich ein bemerkbarer Unterschied
zu einer normalen Person, Inwiefern auch das durch Übung behoben werden kann,
ist meines Wissens nicht untersucht worden.
Man kann also kurz sagen: in allen Fällen, in denen Mensch oder Tier
sowohl die Bedrohung ihres Gleichgewichts als auch die verfügbaren Ausgleichs
mittel bemerken können, treten zweckmäßige Reaktionen auf. Dies wird
ermöglicht durch Eindrücke aus dem Labyrinth und aus der Peripherie und,
nachdem die Orientierung so gesichert ist, auch durch die optische Wahrnehmung.
In mancher Hinsicht ist die Gleichgewichts-Wiederherstellungsreaktion daher
einer Flucht- und Abwehrbewegung vergleichbar, bei der, wie wir sahen, das
totale SituationsWM die Reaktion veranlaßt und ihren Ablauf bestimmt. Auch
bei diesen primär vitalen Reaktionen gibt es jedoch, wie beim Ausgleich einer
Gleichgewichtsstörung, einige Grundformen des Verhaäens, die nach Abbau des
Nervensystems erhalten bleiben und als mehr oder weniger regelmäßige, zwangs
läufige Reflexe (pseudo-affektive Reflexe S h e r r in g t o n «) erscheinen.
Jedoch nicht nur in diesem Falle, sondern in nahezu allen unseren Handlungen
wirken wir auf die Außenwelt ein und lösen in ihr zum Teil selbst Widerstände aus.
Bei deren Überwindung entstehen Empfindungen, die erneut unsere Bewegungen
lenken. Die Koordination, die Ausgeglichenheit der Bewegung kann zwar als eine
Innervationsverteilung beschrieben werden, ist aber in W irklichkeit eine Leistung,
die durch den geformten gegenseitigen Bezug von Empfindung und Bewegung
zustande kommt.
Kehren wir nun zur Funktion des Gleichgewichtsorgans und damit zur Frage
der Haltungspersistenz zurück. W ird man auf einem Drehstuhl rotiert, so treten
verschiedene subjektive Empfindungen und objektive motorische Reaktionen
auf. Gleichartige Wirkungen erhält man bei stillstehender Person und Drehung
der Umgebung. Am einfachsten verwendet man dazu eine weite, um' eine vertikale
Achse drehbare Haube, die an der Innenseite abwechselnd weiße Und schwarze
Streifen aufweist und über den K opf der Versuchsperson gestülpt wird. Im
ersten Falle nennt man die Effekte Labyrinthreflexe, im zweiten optokinetische
Reflexe. Es ist richtig, daß beim Zustandekommen der Empfindungen (Scfaein-
bewegungen des Körpers und seiner Umgebung, Schwindel, Übelkeit, usw.)
sowie der motorischen Erscheinungen (Nystagmus, Haltungsabweichungen der
Glieder und des Rumpfes, Tonusänderungen) die vestibulären und optischen
„R eize" eine Rolle spielen. Auffallend ist jedoch die Identität der Effekte bei
grundverschiedenen peripheren Reizen. Rechtsdrehung des Körpers hat dieselbe
W irkung wie Linksdrehung der Umgebung. Zudem fehlt jeder Effekt, wenn
Körper und Umgebung gleich schnell und in gleicher Richtung bewegt werden,
obwohl hierbei doch eine starke Labyrinthreizung stattfindet.
Aus dem Ergebnis dieser Versuche folgerte v o n W e i z s ä c k e r m it Recht, daß
nicht bestimmte Reize eines Receptors für das Auftreten senso-motorischer
Wirkungen entscheidend sind, daß es vielmehr auf die Empfindung einer relativen
Verschiebung zwischen Körper und Umgebung ankommt. Diese Versuche zeigen
aber auch noch etwas anderes I Sowohl beim Drehstuhl- als beim optokinetischen
Versuch konnte die Versuchsperson die objektiv wirkliche Bewegung von Körper
und Umgebung bemerken; aber diese Wahrnehmung konnte sieh auch umwandeln
m die Empfindung einer scheinbaren Bewegung der Umgebung oder des eigenen
Körpers. Es stellen sich bei ein und derselben objektiven Situation verschiedene
Empfindungsweisen ein, die einander ersetzen können. Beim optokinetischen
Versuch kann man zudem noch feststellen, daß die Art der Empfindung von der
Aufmerksamkeit, d. h. von der Zuwendung zu einem sichtbaren Gegenstand
abhängt. Schaut die Versuchsperson auf die vorüberziehenden Streifen der
drehenden Haube, so scheinen sich diese in Bewegung, der Körper aber in Ruhe
zu befinden. Schaut man jedoch auf einen ruhig vorgehaltenen Finger, so kann
die objektiv drehende Umgebung in Ruhe gesehen werden, während sich der
eigene Körper und der vorgehaltene Finger scheinbar in entgegengesetzter
Richtung drehen. Die Labilität der Bewegungseindrücke und ihre Abhängigkeit
vom Fixieren naher und entfernter Punkte und von den Augenbewegungen kann
man, außer beim optokinetischen Versuch, auch sehr gut bei galvanischer Reizung
des Labyrinths oder während der Nachwirkung einer Körperdrehung feststellen.
Inkonstant und abhängig vom Fixieren oder Anschauen benachbarter Stellen
(von unserer Aktivität also) sind aber nicht nur die Bewegungsempfindungen,
11*
164 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
unsere Orientierung noch die Zusammenarbeit von Auge und Hand. Der störungs
freie Ablauf dieser Funktion wird nur dadurch ermöglicht, daß unsere Bewegun
gen ununterbrochen einer Regulierung durch unser Verhältnis zur Umgebung, zu
unseren Körperteilen und durch die Schwerkraft unterliegen. In den Bildern,
auf die unsere Aktivität und unsere Reaktionen ausgerichtet sind, überwiegen
gewiß die optischen Eindrücke, aber bei behinderter optischer Wahrnehmung
übernehmen die labyrinthären, propriozeptiven und Hautempfindungen eine
entscheidende Rolle.
Eine gute Illustration hierfür liefert der Versuch von B a u e r . Bewegt man einen
bedruckten Papierbogen in Augenhöhe und in einer Distanz von 30— 40 cm
wiederholt mit einer Frequenz von ungefähr 3 mal in der Sekunde hin und her,
so kann man den Text nicht lesen, obwohl die Augenbewegungen den Bewegungen
des Papiers sehr gut folgen können. Bewegt man sich durch Beugen und Strecken
im Knie mit, so geht es schon besser; bewegt man sich aber auch durch K opf
bewegungen mit, so kann man fließend lesen. Im ersten Fall erfolgt nur die
ungenügende optische Kompensation. Im zweiten Fall hilft auch der labyrinthäre
Ausgleich mit, d. h. ich kontrolliere durch die labyrinthären Eindrücke das Aus
maß und die Geschwindigkeit, mit der ich mich in den Knien senke. Im dritten
Fall kommen auch die Eindrücke aus der Halsgegend hinzu und es stellt sich
eine vollständige kompensatorische Augenbewegung ein. Man ersieht aus diesem
Versuch die große Bedeutung der Labyrintheindrücke für die zu einer stabilen
optischen Einstellung erforderlichen Koordinationen. Es wäre interessant, diesen
Versuch mit einer quantitativ beherrschbaren Methode auch nach Funktions
verlust der Labyrinthe (Taubstumme) auszuführen. Es ist nicht unwahrscheinlich,
daß der Unterschied zum Normalen gering wäre oder fehlte.
Dieser Versuch läßt sich mannigfach variieren, wobei sich herausstellt, daB
das so auffallende und konstante Ergebnis nicht auf einer einfachen Nachwirkung
der Muskelkontraktion beruht. Eine bestimmte Haltung bewirkt aber wohl
Tonusänderungen, die sowohl bei nachfolgenden Haltungen als auch bei weiteren
Bewegungen zum Ausdruck kommen, oder „der Tonus eines Gliedes ist von den
vorangehenden Lagen eben dieses Gliedes abhängig” .
Diese Regel gilt sicher auch bei der Erhaltung des Körpergleichgewichts, aber
bisher ist ihre diesbezügliche Auswirkung noch nicht analysiert' worden. Die bei
plötzlicher Gleichgewichtsstörung auftretenden und somit sinnvoll auf die Struktur
der Situation bezogenen Reaktionen sind nicht nur von der Ausgangslage,
sondern auch von den in ihr bestehenden Spannungen abhängig. Durch diese
S p a n n u n g en verfügen wir über die Möglichkeit, den Verlauf der spontanen
automatischen Reaktionen zu ändern, wobei uns unsere Erfahrung den rechten
W eg zeigt.
Das » a d der Gleichgewichtserhaltung, das sich uns nun ergeben hat, weicht
erheblich von dem der Reflexlehre ab. Selbst abgesehen von der darin unter
stellten „Punkt zu Punkt4'-Verbindung, der vollständigen Bestimmung des
motorischen durch das sensorische Geschehen, der Deutung einer geformten
Reaktion als Resultante einer Anzahl „elementarer" Prozesse, muß die Reflex
lehre Mer versagen. Denn trotz aller Hilfshypothesen über „Schaltungen” wird
sie nie die für das Individuum bestehende funktionelle Raum-Zeitlichkeit in ihrer
konkreten Gegebenheit zu erfassen vermögen. Ohne Raum und Zeit im biologi
schen Sinne, ohne Körperschema, räumliches Situationsbild, Zeitgestalt der sich
eniwickdndm Reaktion, ohne kategorische Einstellung auf Grund von Erfahrung
in analogen Fällen und ohne eine prospektive Einstellung auch auf Möglichkeiten
ist eine sinnvolle Abwehr von Bedrohungen des Gleichgewichts nicht möglich.
Nur beim FeMen des funktionellen Bezugs von Individuum und Situation,
also unter abnormen Verhältnissen oder bei Desorganisation des Nervensystems,
kann man das Auftreten von Reflexen erwarten, die als Prozesse begriffen werden
können. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, die normalen „Antw orten”
auf die ,,SituationsWMer'‘ Reflexe zu nennen, wenn man sie nur als echte
Funktionen betrachtet. Dann wird man auch die Einsicht H o f f » und S c h il d e r »
teilen: „D er Reflex ist eine primitive Handlung und schließt ebenso wie diese
das Problem der menschlichen Freiheit ein.”
Handlung läßt ein Problem erkennen, dessen grundsätzliche Bedeutung für die
ganze Bewegungslehre schon im vorigen Jahrhundert von L o t z e aufgezeigt w u rd e .
Es ist das Problem der lokalisierten Bewegung.
Das Ausgerichtetsein einer Bewegung auf eine bestimmte Stelle des eigenen
Körpers kommt nicht nur bei niederen Tieren, sondern auch bei Wirbeltieren
selbst dann noch vor, wenn das Rückenmark von den höheren Zentren abgetrennt
wurde. Die klassischen Beispiele hierfür sind der Wischreflex des spinalen
Frosches und der Kratzreflex des spinalen Hundes.
Legt man einem Frosch mit hoch durchtrenntein Rückenmark einen in
Essigsäure getränkten Löschblattfetzen auf die Rückenhaut, so wird er durch
eine rasche und gut ausgeführte Bewegung eines Beines entfernt. Besonders bei
starker Reizung wiederholt sich diese Bewegung einige Male, wodurch die Säure
von der Haut abgewischt wird. Dieser W ischreflex wurde schon vor mehr als
einem Jahrhundert von M a b s h a l - H a l l beschrieben und durch V o l k m a n n
näher untersucht1. Nahezu alle Eigenschaften dieser Reaktion wurden schon
von ihm festgestellt. Die genauen Beschreibungen von S a n d e r s , B a g l i o n i ,
W a c h h o l d e r u . a. lehrten uns jedoch, Grundtypen dieser Reaktion zu unter
scheiden. Sie zeigten den Wirkungsunterschied zwischen schwachen und starken
Reizen, den hemmenden Einfluß von höheren Teilen des Zentralnervensystems,
die Irradiation der Bewegung auf andere Extremitäten, die bei sehr starkem
Reiz zu einer desorganisierten Bewegung (Zappeln) führen, die Bedeutung der
Muskeln, m it denen die Bewegungen ausgeführt werden und der Reaktionszeit
im Zusammenhang m it der Reizstärke und m it Läsionen des Nervensystems.
Von Anfang an haben jedoch alle Forscher über die Zweckmäßigkeit der Zwischen-
reaktiön gestaunt. Sie bemerkten auch, daß die gut lokalisierten Bewegungen
den Umständen entsprechend auf verschiedene Weise ansgeführt werden können.
W ird z. B. die Bewegung des Beines an der Seite des Reizes behindert oder wird
dieses Bein amputiert, so wischt das Tier mit dem anderen Bein die Haut ab.
Der Kratzreflex, zuerst von G o l t z und seinen Schülern ( F r e u s b e r g ®)
beim Hund m it durchtrenntem Rückenmark und seitdem von S h e r r i n g t o n ,
G r a h a m B r o w n und vielen anderen erforscht, ist eine bei nahezu allen Säuge
tieren vorkommende Reaktion. Sie besteht aus rhythmischen Bewegungen eines
Beines, wodurch eine gereizte Hautstelle m it den Zehen (Nägeln) gerieben wird.
Uns interessieren an diesem Reflex folgende Momente:
1. die Lokalisation der Bewegungen;
2. die Variabilität der Ausführungsweise;
3. die Abhängigkeit von verschiedenen Bedingungen;
4. die. Hemmung durch andere Reize.
ad 7. Die mit dem Bein ausgeführten Kratzbewegungen sind b e im normalen
Tier zweckmäßig. Sie dienen der Entfernung von Ungeziefer, dem Reinigen der
Haut an Bauch, Flanken, Rücken, Nacken und K opf. Beim spinalen Hund kann
der Reflex von einem sattelförmigen Feld aus ausgelöst werden. Auch ohne
Rückenmarksdurchtrennung kann man bei vielen Hunden im tiefen Schlaf und
manchmal auch im wachen Zustand den R eflex beobachten, wenn man eine
1 V olkmann, A. W .: Über Reflexbewegungen. Arch. Päysioi. 1838, 15; zit. bei B aglioni:
Die Hautreflexe der / mphibien. Erg. Physiol. 13, 454 (1913).
1 F reusberg : Pflügers Arch. 9, 358 (1874).
170 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
Stelle an den Flanken mechanisch reibt. Es fällt dann auf, daß die Bewegung
zwar ungefähr auf die gereizte Hautstelle hin ausgerichtet ist, aber viel weniger
genau als bei einem normalen wachen Tier. In diesem Falle wird die Kratz
bewegung zudem noch durch die angenommene Haltung, die Rumpfbeugung,
die Wendung des Kopfes gesichert. Ein sich kratzender Hund begnügt sich ja
keineswegs nur mit einer rhythmischen Bewegung der Hinterbeine. Schon daraus
ergibt sich, daß der Reflex des spinalen Tieres höchstens als Fragment, als ein
reduzierter, inkompletter, weniger differenzierter und koordinierter Überrest der
normalen Kratzhandlung betrachtet werden kann.
ad 2. Hinsichtlich der Variabilität der Ausführungsweise wäre zunächst zu
bemerken, daß die Frequenz und die Kraft der Beinbewegungen in gewissem
Maße von der Stärke des Reizes abhängig sind. Bei Änderung der Reizstelle
tritt auch eine Änderung in der Koordination der Beinmuskeln auf, durch welche
die Wirkung der Gesamtbewegung einigermaßen der Reizstelle angepaßt wird.
Ist der Reiz zur Auslösung einer Reaktion zu schwach, so sieht man diese dennoch
auftreten, wenn der schwache Reiz einige Zeit anhält. Auch unterschwellige
Reize, die gleichzeitig an bis auf 20 cm voneinander entfernten Stellen einwirken,
können ihre Wirkung gegenseitig unterstützen. Es besteht also eine starke
simultane und sukzessive Summation, die funktionell verständlich ist, wenn wir
die normalen Umstände berücksichtigen, unter denen eine Kratzbewegung aus
gelöst w ird: denken wir an einen Parasiten, der sich zwischen den Haaren bewegt,
der also einen sich verschiebenden, einige Zeit anhaltenden, schwachen Reiz
ausübt.
Erwartungsgemäß tritt die rhythmische Bewegung des Hinterbeines an der
gereizten Seite auf. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Bei der Cavia sah
G r a h a m B r o w n 1 nicht nur die Reaktion nach Aussetzen des Reizens noch
geraume Zeit anhalten ("afterdischarge’ '), sondern es konnte dabei das Kratzen
des einen Beines auf das andere übergehen und sogar gleichzeitig bei beiden
stattfinden. Auch aus dieser Beobachtung geht hervor, daß der Kratzreflex des
spinalen Tieres erheblich vom normalen Sich-Kratzen abweicht.
ad 3, Schon den älteren Forschem war aufgefallen, daß der Rratzreflex
von verschiedenen Bedingungen abhängt. Diese Abhängigkeit wurde durch
S h e r r in g t o n u . M agnus in ihrer Gesetzmäßigkeit genau studiert. In sym
metrischer Rückenlage findet beim spinalen Hund der Reflex stets gleichzeitig
statt. Streckt und abduziert man jedoch das Bein auf der Seite des Reizes,
SO kratzt das gekreuzte Bein. M agnus konnte aufzeigen, daß diese Umschaltung
durch die Dehnung der Beuge- und Adduktionsmuskeln (Proprioceptoren) und
nicht durch die in Haut und Gelenken ausgelösten Empfindungen bewirkt wird.
Eine Umschaltung auf das dem Reize kontralaterale Bein findet auch dann
statt, wenn sich das Tier in Seitenlage befindet und eine Stelle der jetzt unteren
Körperhälfte gereizt wird. In Seitenlage kratzt stets das obenliegende Bein, wie
schon Gergens2 feststellen konnte, Magnus aber zeigte, daß die Ausschaltung
des unteren Beines nicht durch die mechanische Behinderung seiner Bewegung,
sondern durch die Berührung des Tieres mit der Unterlage verursacht wird.
1 B rown , T. G raham : Die Reflexfunktionen des Zentralnervensystems usw. Erg. Physiol
13, 312 (1913).
1 G ergens : Pflügers Arch. 14, 340 (1877).
Analyse des Kratzreflexes 171
Hebt man einen spinalen Hund aus der Seitenlage von einem Tisch in die Höhe,
so daß die Flanke die Unterlage nicht mehr berührt, so geschieht der Reflex
(wie in Rückenlage) gleichseitig. Dagegen genügt ein Druck mit der flachen
Hand auf die obere Flanke eines seitwärts schwebend gehaltenen Hundes, um
das obere Rein auszuschalten, so daß auf sämtliche (auch schwache) wo auch
immer angesetzte Reize stets das untere Bein mit rhythmischen Bewegungen
reagiert. Dieser Versuch zeigt eindeutig, daß wirklich nur der Druck gegen
die Flanke beim Tier in Seitenlage die Kratzbewegungen des unteren Beines
aufhebt.
Diese durch die Haltung der Extremitäten und des ganzen Körpers verursachten
Umschaltungen eines Effectors auf einen anderen ist beim spinalen Tier relativ
einfachen Regeln unterworfen. Funktionell sind diese Regeln wenig sinnvoll.
Eine gekreuzte Kratzbewegung im Hinterbein eines Hundes kann ja nie die
gereizte Stelle erreichen, ist also sinnlos. Was auf diese Weise beim spinalen
Tier im Sinne von „Schaltungen" erscheint, ist nur das schematisch entleerte
Fragment eines unter normalen Umständen funktionell entscheidenden Zu
sammenhanges. Die Reizbarkeitsverteilung im Zentralnervensystem hängt dann
von der Gesamtsituation ab, die also zusammen m it dem dominierenden Reiz
(oder der Reizgestalt) die Wirkung bestimmt. Über die Erfahrungen am Kratz
reflex sagt Magnus denn auch: „D as Zentralnervensystem spiegelt auf diese
Weise in jedem Augenblick die Zustände des Körpers, seine Lage, die Stellung
seiner Glieder, die Berührung mit der Außenwelt wider, und es Wird verständlich,
wieso das Nervensystem unter verschiedenen Bedingungen verschiedenartig und
doch gesetzmäßig reagieren kann." Zum zweiten Teil dieses Zitats möchten wir
bemerken, daß die „Gesetzmäßigkeit“ der Reaktion nur in sehr besonderen
Fällen, nämlich bei stark reduziertem Nervensystem (am spinalen Tier) oder bei
insultativem Reiz (Schmerz-Fluchtreaktion, Lidreflex); feststellbar ist. In allen
anderen Fällen, z, B. hinsichtlich der Kratzreaktion eines normalen Hundes und
erst recht eines Menschen (oder Affen), bei der die Hände gebraucht werden,
ist die Variabilität so groß, daß keineswegs von einer Gesetzlichkeit, nicht einmal
von Regeln die Rede sein kann. Dennoch kann die Vielheit der Erscheinungen
unter einem einzigen Gesichtspunkt betrachtet werden, nämlich dem der funk
tionellen Anpassung an die Situation, der Zweckmäßigkeit im Gebrauch
der Mittel, meistens auch der Ökonomie der Ausführung. Das gilt auch vom
spinalen Frosch und seinem Wischreflex, der sich von den Reaktionen eines
normalen Tieres viel weniger unterscheidet als der Kratzfeflex des spinalen
Hundes.
Selbstverständlich ist unsere allgemeine methodische Einstellung darauf
gerichtet, die am Präparat beobachteten Erscheinungen aus dem normalen Ver
halten zu begreifen und nicht umgekehrt (im mechanistischen Sinne) dieses aus
jenem. Das entspricht der Regel, das Pathologische aus dem Normalen zu ver
stehen und nicht umgekehrt 1
Bei Anwendung dieses methodischen Prinzips erhebt sich jedoch die Frage,
weshalb bei den spinalen Säugetieren die Reizung einer .Hautstelle so leicht eine
rhythmische Bewegung des kontralateralen Beines veranlaßt. Die Annahme einer
zentralen „Umschaltung“ ist natürlich keine Erklärung, sondern eine a posteriori
gegebene Umschreibung dessen, was offenbar im Nervensystem geschehen ist.
172 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
Mir scheint eine Erklärung nur dann möglich, wenn wir den affektiven
Charakter der Juckreize einsehen und die Kratzbewegungen nicht nur als
zweckbestimmte Handlungen, sondern auch als Ausdrmksbewegungen auffassen.
Bevor wir darauf näher eingehen, wollen wir unser Augenmerk jedoch noch
auf den vierten genannten Punkt richten: die Hemmung des Kratzreflexes durch
andere Reize.
ad 4. Bei den verschiedenen an einem Reflexpräparat auslösbaren Reflexen
verlaufen die Reize verschiedener Receptoren zum Teil zum gleichen Effector,
z. B. zum Hinterbein. Es leuchtet ein, daß dieser jeweils nur eine Bewegung
ausführen kann und sich also unter bestimmten Umständen zwischen ver
schiedenen reflektorischen Einflüssen auf einen gleichen Effector ein Konflikt,
eine Art W ettkampf („com petition“ ) um die Benutzung der gemeinsamen Bahn
("com m on path” ) einstellen muß. Dabei siegen nach S h e r r in g t q m bei mäßig
starker Reizung stets diejenigen Reaktionen, die für den normalen Organismus
die größte biologische Bedeutung gehabt hätten. Besonders die Schmerzreaktionen,
die sog. nocizeptiven Reflexe, die das Tier vor ernstem Schaden schützen, siegen
über andere, vital weniger wichtige Reflexe, die sie verdrängen oder hemmen.
Ein gutes Beispiel bietet die Hemmung des Kratzreflexes durch einen Schmerz
reiz am rhythmisch sich bewegenden Bein, das darauf mit einem Beugereflex
reagiert. Auch wenn am anderen Bein ein Streckreflex ausgelöst wird, wird der
Kratzreflex sofort gehemmt, weil im kratzenden Bein induktiv der antagonistische
tonische Beugereflex verursacht wird.
W ird aber der Kratzreflex durch Anwendung maximaler Reize sehr stark,
so kann er umgekehrt die schon ausgelösten kontralateralen Streckreflexe und
sogar die nocizeptiven Beugereflexe hemmen. Die Schmerzreaktion siegt also
nicht unter allen Umständen. Diese Tatsachen führen zur Frage nach dem
Verlauf des Konfliktes zwischen den verschiedenen Reaktionen im normalen
Leben und ob die hierbei geltenden Regeln auch auf das spinale Tier angewandt
werden können.
von dem Unterschied von Hemmung und Verdrängung aus. Anstatt von Hemmung
spricht man in der Psychoanalyse vorzugsweise von Verdrängung einer reaktiven
Triebäußerung. Das beruht u. a. darauf, daß im Triebleben der hemmende
Faktor nicht nur trotz wirksamen Reizes eine Reaktion ganz oder größtenteils
verhindert, sondern daß die Energie der unterdrückten Reaktion sich auf anderen
Wegen äußert und nach Aufhebung der Hemmung oft eine verstärkte Reaktion
bewirkt. Die Reaktion scheint also nicht nur gehemmt, aufgehalten, sondern
auch verdrängt zu werden. Dadurch häuft sich, wie bei einem gestauten Fluß,
potentielle Energie auf, die entweder über andere Bahnen abfließen kann, oder
nach Aufhebung der Hemmung einen reißenderen Strom im ursprünglichen Bett
bildet. In dieser mechanistischen und energetischen Deutung wird — auch ohne
phylogenetische Spekulationen — eine Triebenergie auf Grund einer voraus
gesetzten Unterscheidung primärer und sekundärer Antriebe (lind entsprechender
Reaktionen) angenommen, wobei die primären, primordialen, wegen ihrer Not
wendigkeit für die Erhaltung des Individuums und der Art, als das Leben
begründende Triebe wichtiger wären. Immer, in jedem Alter, hätten fliese
primordialen Reaktionen den Vorzug, wäre ihre Triebenergie und daher auch
ihre Wirkung größer, die, dem meist stillschweigend angenommenen psycho
physischen Parallelismus gemäß, das Epiphänomen eines materiellen Prozesses
im Nervensystem wäre.
Obwohl die Kritik an der Psychoanalyse die anfänglich in der „Schule“
vorherrschende mechanistische Betrachtungsweise „verdrängt“ hat, muß man
dennoch zugeben, daß in den Erscheinungen des Trieblebens der mechanistische
Aspekt stark hervortritt und sich namentlich das Überwiegen bestimmter
Reaktionen (sexuelle Reaktionen, Hunger und Durst), ihre größere Energie und
eine mögliche Energiestauung immer wieder zeigen. Dabei verpflichtet diese
Redeweise keineswegs zu einer konkreten Vorstellung von der W irklichkeit des
Lebens. Vielmehr sollen mit den Begriffen Strom, Verdrängung, Stauung, Ablenkung
sowie Rangordnung, Konflikt, Affektenergie usw. nur Bilder aufgerufen
werden, die uns eine bestimmte Seite des Seelenlebens lebendig vor Augen
stellen. Es droht dann nur die Gefahr einer Blindheit für andere als die mecha
nischen Aspekte, was in den ersten Jahrzehnten der Entwicklung der Psycho
analyse auch deutlich zu bemerken war.
Während sogar die am stärksten mechanistisch ausgerichteten psychoanaly
tischen Betrachtungen spezifisch innere Faktoren des Lebens anerkannten,
womit die äußeren Reize dann mehr als Anlässe denn als Ursachen (zureichende
Gründe) für die Lebensäußerungen gelten mußten, verhält sich das in der phy
siologischen Reflexlehre anders. Es fehlt ihr auf Grund ihres cartesianischen
Ausgangspunktes die Freiheit der bildlichen Sprache, da sie ja meint, die res
extensa zum Gegenstand zu haben, über die sie adäquat in klaren Begriffen und
Vorstellungen aussagcn könne und müsse. Der einzige innere Faktor, der in der
Physiologie des Nervensystems angenommen werden kann, ist denn auch die
morphologische bzw. wechselnd physiko-chemische Struktur der Nerven
zellen und ihrer Ausläufer sowie ihrer Grenzflächen. Auch die Ganzheits
oder Gestaltlehre ändert daran grundsätzlich nichts, wie wertvoll ihre
Ausdehnung der mechanistischen Betrachtungsweise für die Anschaulichkeit
verschiedener integraler Prozesse auch sein möge. So konnte man sich in der
174 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
* B run , R .: a. a. O. S. 18.
Gibt es Verhaltensweisen des Rückenmarkstieres ? 175
Ist eine solche Analogie der Reflex-Interferenz beim spinalen Hund zur
Kollision instinktiver, affektiver Reaktionen bei Mensch und Tier hinreichend
begründet oder beruht sie nur auf der zufälligen Ähnlichkeit einiger Erscheinungen ?
Beim normalen Tier und beim Menschen wird die Reaktion (das Sich-Kratzen)
auf einen Juckreiz mäßigen Grades durch einen Schmerzreiz mit nachfolgender
Flucht- oder Entziehungsreaktion ebenso unterbrochen werden wie beim Rücken
markstier. Sobald die Schmerzreaktion vorüber ist, wird auch hier das Kratzen
wieder kehren. Aus der unmittelbaren Beobachtung läßt sich nur schwer die
Frage beantworten, ob diese Reaktion nun eine größere Intensität aufweist,
weil die bestimmenden Umstände sehr variabel sind und ein Maßstab für die
Intensität von Reiz und W irkung sich kaum aufstellen läßt. W ohl aber wissen
wir, daß eine willkürliche Unterdrückung der natürlichen Juckreaktion bei
anhaltendem Reiz den Drang zum Kratzen immer stärker werden läßt. Es
scheint durch Summation der zeitlich einander drängenden gleichen Reize
schließlich ein ebenso unüberwindlicher Reaktionsdrang zu entstehen wie beim
Atemanhalten durch die zunehmenden Änderungen der Blutzusammensetzung.
Diese Summation objektiv gleicher Außenwelteinflüsse (Eindrücke) beobachtet
man bei allen affektiven Erregungen — man denke an ununterbrochenen Schmerz,
sich steigernde W ut, sexuelle Erregung usw. Interkurrente anderweitige Reak
tionen wie z. B. eine Fluchtreaktion scheinen meist eher eine Ableitung des Juck-
und Schmerzreizes zu bewirken, als daß sich daneben die Summation fortsetzte.
Bei der Unterbrechung des Kratzreflexes durch einen Beugereflex kehrt jener in
S h errin g to n « Versuchen nur mitunter in verstärktem Maße wieder. D ie , .Energie
stauung" (B r u n ) ist beim spinalen Tier also nicht immer aufweisbar. Eine Über
sicht der Erscheinungen führt jedoch wohl zum Ergebnis, daß eine gewisse
Analogie zwischen der „K ollision" von Rückenmarksreflexen und den affektiven
Reaktionen gegeben ist.
Man wird in dieser Ansicht noch bestärkt, wenn man das Augenmerk auf
einen Vergleich des spinalen Tieres und der niederen Tiere in ihren Reaktionen
richtet. B r u n hat dann auch m it seiner Verweisung auf das Verhalten niederer
Tiere im obigen Zitat völlig Recht. Damit erhebt sich jedoch ein viel allgemeineres
Problem, nämlich inwiefern man die reflektorischen Erscheinungen des Rücken
markstieres im allgemeinen als V erhaltmsweisen auffassen darf.
markshund Jucken spürt, ist eine unbeantwortbare Frage. Dagegen ist ein
Vergleich zwischen den Verhalim sw eism eines normalen Frosches und eines
Tieres m it teilweise weggenoimnenem Nervensystem sehr gut m öglich und ebenso
der Vergleich zwischen dem Kratzreflex eines spinalen Hundes und dem Sich-
Kratzen eines Menschen. Dabei treffen wir auf eine weniger scharfe — aber
nicht ganz fehlende — Lokalisation der Bewegungen nach der Reizstelle beim
Rückenmarkspräparat, die beim spinalen Frosch jedoch erheblich genauer ist
als beim Rückenmarkshund.
Die Froschversuehe, bei denen größere oder kleinere Teile der höheren Zentren
entfernt wurden oder das Rückenmark auf verschiedenem Niveau durchtrennt
wurde, haben uns nur einen Verlust an Präzision der Abwischbewegungen
gezeigt. Nach der psychologischen Formulierung P flüger * wird das Tier in
winphmpnripm Maße schläfrig, ,,torpide“ und . „um so weniger kompliziert
erscheinen die im* Benehmen sich äußernden psychischen Akte, die aber immer
relativ vernünftig bleiben“ . G oldstein und andere moderne Forscher drücken
den gleichen Gedanken etwas formaler aus, wenn sie als Folge des Abbaus im
Zentralnervensystem eine ,,Entdifferenzierung'', eine weniger ausgeprägte
Konturierung der „Erregungsfiguren“ auf ihren Hintergründen annehmen. Die
m it diesen Begriffen verbundenen Vorstellungen werden sehr stark von der
Gestalt-Theorie beherrscht1. Der Vorteil einer Betonung der Ganzheitsfunktion
ist dabei unverkennbar. Aber dennoch gewinnt p a n auch auf diese JWeise keine
Erklärung des Transfoimationsprozesses und der Lokalisation der Bewegung.
Im Finw lfall kann man natürlich versuchen, eine auf die Reizstelle gerichtete
Bewegung als Äußerung eines Gestalt-Prinzips zu deuten. Ein Beispiel dafür ist
K offka * Erklärung* der durch, einen akustischen Reiz ausgelösten Bewegung,
bei welcher der K opf soweit zu der Schallquelle gewendet wird, daß diese .in der
MedianfÜche liegt. Solange der Schall von der Seite her komme, so argumentiert
K offka, gäbe es einen Zeitunterschied zwischen der Reizung des rechten und
linken Ohres. B ei symmetrischer KopfsteUung zur Schallquelle, also nach der
reaktiven Zuwendung, besteht ein einfacher Reizzustand, weil der Schall in
beiden Ohren gleichzeitig ankomme. Die Bewegung stelle sich also Kraft einer
Tendenz zur Einfachheit oder Ausgeprägtheit des zentralen Reizzustandes ein.
Auch die Augenbewegungen träten automatisch so auf, daß „ein besseres Gleich
gewicht hergestellt wird, als vorher bestand“ . Besser heißt hier von „größt
möglicher Einfachheit". Eine solche Erklärung ist jedoch in den meisten Fällen
nicht möglich. Die gerichteten Bewegungen beim Kratzen oder Abwischen gehen
sicher nicht mit einer einfachen zentralen „Erregungsgestalt*' einher.
Sehr instruktiv sind die Experimente an Insekten, die sehr gut koordinierte
R PTOigirngshandlungen ausführen. Diese bleiben im allgemeinen noch «arh
Entfernung der Kopfganglien (dem Gehirn) erhalten. Schneidet man «hier Ameise
pirtpn Fühler ab, so führt sie, nach Reinigung des verbleibenden Fühlers m it dem
gleichseitigen Vorderbein, m it dem anderen Bein eine Bewegung aus, als ob der
abgeschnittene Fühler noch da wäre und gereinigt würde, Mir scheint, man
diese Beobachtung mit der Erfahrung zusammenbringen, die man über die
„Phantom "-Em pfindungen bei amputierten Menschen gesammelt hat. Diese
fühlen nicht nur oft das abgeschnittene Glied als noch vorhanden, sondern es
können auch — wie ein von S c h il d e r beobachteter Fall zeigt — Bewegungs
empfindungen eines amputierten Beines auftreten, oft symmetrisch m it
erhaltenen Glied. W ir können hier nicht ausführlicher auf die Phantomempfin-
düngen der Amputierten eingehen1. Die Tatsache jedoch, daß man ein abgeschnit
tenes Glied noch fühlt und die Stellung kn Raume angeben kann, bisweilen auch
die Empfindung einer Bewegung oder Formveränderung (besonders Verklemerting)
hat, zeigt das Bestehen eines Körperschemas, das nicht oder wenigstens nicht
ausschließlich durch periphere Eindrücke bestimmt wird. W k verfügen über ein
schematisches Bild unseres Körpers, das uns nicht bewußt ist, aber sämtlichen
Bewegungen einen funktionellen Gehalt verleiht. Störungen in diesem Schema
führen zu unrichtiger Lokalisation der Bewegungen. Die Patienten sind dann
nicht mehr fähig, eine bestimmte Hautstelle zu berühren, einige verwechseln
rechte und linke Körperhälfte, andere die Körperteile. Auch bei vielen Formen
von Apraxie gibt es eine Störung des Körperschemas und der .Empfindung der
räumlichen Körperstellung.
Das Durchdenken aller dieser pathologischen Zustände führte L ie p m a n n und
S c h il d e r zur Annahme folgender, zur Ausführung einer lokalisierten Handlung
— etwa zum Zeigen auf eine berührte Hautstelle — erforderlichen Faktoren:
1. Verwendung des Raumes, wobei zwischen Körperraum und Außenwelt
unterschieden werden m uß;
2. Verwendung des Körperschemas;
3. Verwendung der Kenntnis über die Gegenstände und der für sie geltenden
Bewegungsfonnel;
4. die richtige Innervationsverteilung, die Verwendung der M otilität2.
Das alles vollzieht sich also bei einer vollwertigen Leistung von dem Augen
blick an, da der Auftrag und die sinnlichen Eindrücke gegeben sind und der Ent
schluß zur Ausführung gefaßt ist.
Bei zwangsläufigen Reaktionen, wie beim Sich-Kratzen, wird die Veranlassung
zur Handlung anders strukturiert sein als bei einem auf Grund von Motiven inten
dierten Verhalten. Aber in beiden Fällen ist für eine richtige Ausführung der
Bewegung ein optisch-taktü-ldnästhetisches Körperschema sowie das (unter
4 genannte) Beherrschen der M otorik erforderlich. Das geht aus der Entwicklung
der Kratzbewegimgen beim Kleinkinde hervor, die S c y m a n s k i * kn Alter von
einigen Tagen bis einigen Jahren untersucht hat. E r fand bei den jüngsten
Kindern nur unkoordinierte, unspezifische Bewegungen, zuweilen auch eine
schwach angedeutete Bewegung nach der gereizten Hautstelle hin. Je älter das
Kind, desto genauer die Kratzreaktion, bis in einem Alter von 18 Monaten sich
alle für diese Handlung beim Erwachsenen bezeichnenden Besonderheiten ein
gestellt haben. Tiefstehende Idioten sind nicht fähig, eine normale Kratzbewegung
auszuführen, etwas höherstehende nur in rudimentärer oder verkehrter Weise,
und erst die etwas lernfähigen Imbezillen können auch lernen, sich zu
kratzen.
Auch für diese unbewußt und zwangsläufig ausgeführten Reaktionen ist also
eine gewisse Übung nötig. Man könnte daraus ableiten, daß sich auch das Körper-
■schema durch Erfahrung bilde. Beim Menschen ist das sicher der Fall. Im
Gegensatz zu den Tieren, besonders zu den niederen, besitzt der Mensch fast keine
angeborenen oder instinktiven Handlungen«
Hier möge die Bemerkung genügen, daß bei höherer Entwicklung die Integra
tion aller Funktionen zunimmt. Sogar die geringste Aktivität, wie Stehen und
Gehen, aber auch Reaktionen wie das Zurt ckzlehen auf einen Schmerzreiz Mn und
das Sieb-Kratzen erhalten dann einen persönlichen Stempel. Das deutet daraufhin,
daß alle Aktivität und Reaktivität eine Leistung darstellt, so daß es beim Men
schen — m it Ausnahme vielleicht der Eigenreflexe, eines einzigen Hautreflexes, der
Pupillen- und*Kom ealreflexe — keine Reflexe gibt. Insofern hat Goldstein1
recht: „D ie Fremdreflexe sind nicht in Leistungen eingebaut, sondern sind selbst
Leistungen” . E r vermutet denn auch: „M an wird für diese .R eflexe', wie etwa
den Kratzreflex, den Ausdruck Reflex einmal ganz aufgeben". Diese Leistungen
können noch von großhimlosen Tieren ausgeführt werden und sind bei den niede
ren Tieren — nach Beobachtungen an AmpMbien und Insekten — fast ohne Er
fahrung vorhanden. Für die Beantwortung der Frage, inwiefern es dennoch eine
gewisse individuelle Entwicklung bei diesen sog. instinktiven Reaktionen der
niederen Tiere gibt, verweise ich auf meine Abhandlung über den InstÜikt*.
Jedenfalls ist es bemerkenswert, daß das Kratzen, Abreiben und die Reinigung
der Haut im allgemeinen bei allen Tieren und beim Menschen, in Abhängigkeit von
den Umständen und den verfügbaren Gliedern, in der Ausführung sehr stark vari
ieren. Beim Menschen ist gut bekannt, wie variabel die Weise des Sich-Kratzens
ist. Ist man (aus sehr verschiedenartigen Gründen) in der Ausführung der üblichen
Bewegung behindert, so wählt man automatisch, unbewußt eine andere, die
zweckmäßig und m it der geringsten Anstrengung zum Ziel führt.
Bei niederen Tieren, sogar beim Rückenmarksfrosch, bei denen man geneigt
wäre, die Kratzbewegung als einen Reflex, also nicht als eine Leistung, als eine
Selbst-Bewegung, ein S*cÄ-Kratzen aufzufassen, sieht man grundsätzlich dasselbe.
Schon Pflüger stellte ja fest, daß der spinale Frosch nach Amputation des an der
Seite des Reizes gelegenen Beines das andere zweckmäßig einsetzt. Während
der Umklammerung des Weibchens reagiert die K röte, nach der Beschreibung
B a g l io n i**, auf eine Reizung dar Nase nicht wie übMch m it einer Abwischbewegung
durch das gleichseitige Vorderbein, sondern zweckmäßig mit dem Hinterbein,
so daß die Umklammerung mit den Vorderbeinen nicht unterbrochen wird.
Die schon von GERGENS* festgestellteTatsache, daß beimFesthalten des kratzen
den Beines eines spinalen Hundes das andere die Kfatzbewegungen Übernimmt,
könnte als rin Versuch zur zweckmäßigen Ausführung in einer anderen als der
üblichen Weise aufgefaßt werden*; es ist jedoch die Frage, ob man beim Hunde noch
von Leistungen des Rückenmarktieres sprechen kann. Viel sicherer ist das experi
mentelle Ergebnis bei Insekten. Nach Amputation eines Vorderbeines
die Reinigung der Fühler in anderer Weise als üblich sehr zweckmäßig statt1.
J Goldstbin, K .: Der Aufbau des Organismus, S. 114. Den Haag 1934.
* T r u fé de Psychologie animale. Pari# 1952.
» B agliohi; Sui riflesi cutanei degli aniibi sui iattori che 11 condizionano. Z. aUg, Fhyaiol.
14. 160.
* G ergens: Über gekreuzte Reflexe. Pflügen Arcb. 14, 340 (1877).
• G o ld s t b in ; a. a. O. S. 187.
• Scymansxi, 1. S.: Psychologie vom Standpunkt der Abhängigkeit des Erkennern von
den Lebensbedürfnissen, S. 277. Leipzig 1930.
Das Sich-Kratren als spontane Produktion einer Bewegungsform 131
W ir sind danach der Ansicht, daß bei niederen Tieren das Abwischen und
Sich-Reinigen, entsprechend dem Kratzen bei höheren Tieren und beim Menschen,
echte Leistungen, also Selbst-Bewegungen sind. Schwerer zu beantworten ist die
Frage bei den Rückenmarkspitparaten der W irbeltiere. Während beim Frosch
die Tatsachen noch darauf hin deuten, daß das spinale Tier noch zu Leistungen
fähig ist1, erscheint dies bei Hund und Katze unsicher. Beim Menschen schließlich
glaube ich annehmen zu müssen, daß das von den höheren Zentren abgetrennte
Rückenmark mit dem von ihm versorgten Körperteil keine Leistungen mehr
vollbringen kann. Es funktioniert nicht mehr, hat kein Vermögen mehr zu Selbst-
Bewegungen .keine eigene Leiblichkeit, kann also auch kein Körperschemabilden. Mit
der geformten Beziehung zur Außenwelt fehlt auch jede echte animalische Funktion.
Mit einer solchen Reduktion der animalischen Existenz ist denn auch ein Präparat
entstanden, an dem man echte, als Prozesse begreifbare Reflexe beobachten kann.
Der Reiz mit seinem „Lokalzeiehen" ist dabei veranlassender und struktu
rierender Faktor, aber er ist nicht das allem beherrschende Moment der Ausfüh-
rungsweise. Diese entwickelt sich in Beziehung zur Situation, zur Erfahrung (den
unbewußten Residuen früherer Handlungen) und zu den verfügbaren Mitteln.
Die Frage nach dem wie der Transformation des Reizes in die motorische
Wirkung nimmt also schon implizite eine Theorie vorweg. Betrachtet man das
Sich-Kratzen, auch beim spinalen Tier, nicht als éinen Reflex, so kann von einer
Transformation des Reizes in die Bewegung keine Rede sein. Die Bewegung ist
eine Antwort; wie sie anläßlich des Reizes entsteht ist nur in Analogie zu Hand
lungen, bei denen dieses Entstehen einigermaßen analysierbar ist, zu begreifen.
Besonders in den Arbeiten über Apraxie wurden solche Analysen durchgeführt,
in denen vor allem die Frage nach den Bewegungsvorstellungen, ihrem Entstehen,
ihrem Inhalt und ihrer Funktion im Vordergrund steht.
beiden Hände bei der Arbeit oder der beiden Beine bei der Fortbewegung. Ebenso
wie bei einem Rückenmarkstier noch Reste der Fortbewegung, so sind auch Kratz
bewegungen vorhanden. In beiden Fällen ist die Kinaesthesie, das Muskelgefühl
der verbindende Faktor jeder Zusammenarbeit zwischen Einzelbewegungen.
Diese Verbindung ist jedoch nur in einem bereits gegebenen Medium möglich.
Nennt man diese Voraussetzung Körperschema, so geht man jedenfalls nicht vom
Zentralnervensystem aus, sondern vom „vitalen Zentrum“ , das als das individuelle
Selbsi (das Subjekt) Ausgangspunkt jeder Funktion ist, die eine Wechselwirkung
von Mensch oder Tier mit ihrer Umwelt bedingt.
S c h il d e r * Theorie vom Körperschema gründet vorwiegend auf der Analyse
von Störungen, die man in der neurologischen Klinik Apraxien nennt. Seit
W e r n ic k e versucht man diese Störungen mit einer schematischen Theorie über
das Zustandekommen einer normalen Handlung zu erklären. Der Lehre von den
psychischen Grundelementen gemäß wird dabei der Ausgangspunkt in den Emp
findungen gesucht, die sich den Reizen der Außenwelt anschließen. Aus diesen
Empfindungen entstehe die Vorstellung eines Gegenstandes und daraus die Ziel
vorstellung, d. h. die Vorstellung vom Ergebnis der Handlung. Mit dieser Ziel
vorstellung sei die Vorstellung der zielgerichteten Bewegung, d. h. des Verlaufs der
Handlungsausführung verknüpft, welche die unmittelbare Ursache für die
koordinierte Innervation bei der Ausführung sei. Die pathologischen Störungen
im Vollzüge der Handlungen könnten verschiedene Teile dieses ganzen funktio
neilen Verlaufs betreffen. Man unterscheidet daher hauptsächlich eine agnostische
oder ideatorisehe und eine motorische Apraxie.
Im Gegensatz zu der Lehre, wonach wir auf Grund von Vorstellungen handeln,
kam nün G rünbaum 1 auf Grund von Beobachtungen bei Kranken zu dem Ergebnis,
daß wir die Vorstellungen auf Grund unseres Handelns bilden und zwar „nur in den
jenigen Fällen, bei denen der Verlauf der Handlungen kein freier Verlauf ist” .
Die funktionelle Relation, die zu einem Gegenstand hergestellt wird, bestimmt,
was dieser Gegenstand ist. Papier kann einmal etwas zum Einwickeln, ein anderes
mal etwas zum Schreiben sein. Dort hat man das Wahmehmungsbild als Hinter
grund der antizipierten Handlung des Einwickelns, hier der des Schreibens. Bezeich
net man diese Antizipation als Vorstellung der Zweckbewegung, so muß man das
übliche Schema der ganzen Handlung umkehren. Die Zweckvorstellung— z. B. „be
schriebenes Papier" — wäre nicht auf der Gegenstandsvorstellung „P apier" auf
gebaut, sondern umgekehrt: die zeitweilige und unbeständige Gegenstands
vorstellung würde von der augenblicklichen Zweckvorstellung und diese wiederum
von der antizipierten Handlung abhängen.
Ohne uns ein Urteil darüber anzumaßen, ob Grünbaum* Revision der Apraxie
lehre ganz richtig ist, muß anerkannt werden, daß in der Sphäre primitiver Funk
tionen, zu denen auch das Sich-Kratzen gehört, die Gegenstandsvorstellungen
(z. B. das optische Bild des juckenden Handrückens) der Zweckvorstellung und der
antizipierten Handlung tatsächlich nicht vorhergeht. Aber gerade das Sich-
Kratzen, jedenfalls das einleitende Greifen nach der gereizten Stelle, ist im jugend
lichen Alter, wenn das koordinierte Greifen noch unvollständig geschieht, stark
gehemmt, keine frei verlaufende Handlung. Sehr wahrscheinlich ist daher gerade
1 G rünbaum , A . Ä .: Bijdrage tot xevisie van het apraxievraagstuk. 1929. Vgl. Z, Neur.
120. (1929); Zbl. Neur. 55. 12/13 (1930).
186 Exemplarische Reaktionen and Leistangen
dieses Greifen auch der Grund für die Bildung des Körpersehemas, das eine opti
sche und taktil-kinaesthetische Vorstellung des Grundrisses und der räumlichen
Ausdehnung der Körperteile darstellt.
Wenn also die Handlung des Sieh-Kratzens auf Juckreiz nicht auf das Schema :
Reiz (Empfindung)-Effekt zurückgeftlirt werden kann, so ist erst recM ein Ver
gleich mit den echten Reflexen ausgeschlossen. W ir sahen ja, daß der Reflex
begriff eine völlige Trennung und Entgegensetzung der sensorischen und m otori
schen Prozesse einschließt, während dagegen jede Handlung auf einer aktiv
entstehenden Wahrnehmung beruht. Diese Aktivität ist bei primitiven
Verhaltensformen zu einem großen Teil Muskel-Aktivität.
In der Juckempfindung selbst ist die Aktivität (das Sich-Kratzen) schon ent
halten; wir haben hier ein ausgeprägtes Beispiel einer motorischen Bedingtheit der
Empfindungen. Durch eine intensive Vorstellung des Sieh-Kratzen-Müssens kann
m an ja das Jucken auslösen, und indem man ni'cAl kratzt und auch jede Neigung
dazu (Antizipation) unterdrückt, verschwindet oder verringert sich das Jucken
oder ändert sich der Charakter dieser Empfindung. W ir treffen hier auf einen
analogen Zusammenhang von Motorik und Empfindung wie beim Schmerz, was
um so interessanter ist, als auch nach den neuesten Untersuchungen das Jucken
und der Schmerz die gleiche physiologische Ursache haben1.
1 Vgl. mein Buch: Über den Schmerz. Bern 1948. Kapitel II, 2 und 3. — Rothman,
Stephen : Physiology o f itehing. Phys. Rev. 221, 357 (1941).
Das reflektorische Greifen 187
G leich gew ich tsorga n gereizt wird, also etwa beim Sich-Aufrichten oder bei Fort
bewegung des Körpers durch den Raum, tritt der Handschluß leicht ein. Das ist sogar
der Fall nach Durchtrennung der betreffenden Hinterwurzeln, wodurch der Arm
vollständig desensibilisiert wird, so daß von einem Reflex im üblichen Sinne nicht
mehr die Rede sein kann. Das Greifen geschieht bei diesen Tieren während der
Bewegung, also zwangsläufig und wird durch die allgemeine Empfindung passiver
oder aktiver Körperbewegung ausgelöst.
Wie F u l t o n u . a. aufgezeigt haben, wird das Schließen der Hand bei Berüh
rung der Handfläche nicht durch den taktilen Hautreiz sondern durch eine sehr
geringe Dehnung der Sehnen und somit der Muskeln (propriozeptiver Reiz) aus-
gelöst. Nach Desensibilisierung der Hand fällt das natürlich weg, aber dann genügt
eine Körperbewegung oder eine Dehnung der Schultermuskeln, um die Hand zum
Schließen zu bringen. In allen diesen Versuchen zeigt sich der sog. Greifreflex als
eine primitive, zweckmäßige Handlung, die nach der Himläsion selbständig und
zwangsläufig auftritt, ohne damit ihre sinnvolle Beziehung zu den Umständen zu
verlieren. "The graspreflex may be regarded as a fundamental pattem of response
in the neurologieal make-up of the primates1.”
Die Untersuchungen bei Affen lehren, daß das Greifen von der Geburt an
wirksam und also eine primitive Funktion ist, die für das natürliche Leben dieser
Baumtiere eine große Bedeutung hat. Beim jungen Tier sichert das Greifen durch
das automatisch auftretende Schließen der Hand das Sich-Anklammern an die
Mutter. Beim erwachsenen Tier steht das Greifen im Dienst des Klettem s und des
Nahrangserwerbs; es kann daher nicht automatisch und regelmäßig auf treten,
sondern muß eine differenzierte, situationsbezogene Handlung sein. Beim Fehlen
der Hirnrinde oder der motorischen Felder fällt die Greifbewegung In ein undiffe
renziertes Stadium zurück und behält nur noch einen Bezug zur Körperhaltung,
dem Sich-Aufrichten und der passiven und aktiven Ganzheitsbewegung des Tieres.
Die Wahrnehmung der das Greifen auslösenden Körperbewegung wird nicht nur
durch Labyrinthempfindungen sondern auch durch die Dehnung der Schulter
muskeln, wie sie beim Hängen an den Armen auftritt, bestimmt.
Das reflektorische oder zwangsläufige Greifen, das man bei Affen nach H kn-
läsionen beobachtet, tritt auch beim Menschen bei subcorticalen Erkrankungen
des Frontalhims und bei einigen Prozessen in den Stammganglien, verbunden mit
geringen Störungen der Pyramidenbahn auf. Das „Zwangsgreifen" ist denn auch
ein seit langem in der neurologischen Klinik bekanntes Symptom. Daneben ist
auch das „Nachgreifen" beschrieben worden*. Hierbei wird nach Berührung einer
beliebigen Stelle der Hand, die Fläche zwangsläufig dem Reiz zugewendet, worauf
eine Greifbewegung folgt. Nach B öhme8 zeigt sich dieses Phänomen nur bei
erhaltener Mitarbeit der Hirnrinde, während das zwangsläufige Greifen auftritt,
wenn die Zentren im Mittel- und Zwischenhim keine hemmenden Einflüsse vom
Großhirn mehr erfahren. Es ist stets sehr schwer, den Zusammenhang der klini
schen und der nach Läsion des Nervensystems bei Tieren auftretenden Erschei-
nungen mit den normalen Funktionen zu begreifen. In unserem Falle kann man
nur feststellen, daß die genannten Symptome mehr oder weniger der Reaktions
weise der Hand bei Kleinkindern entsprechen. Es ist interessant, daß sowohl bei
Säuglingen als auch bei operierten Affen der Greifreflex in Seitenlage am
stärksten im oberen Arm auftritt. Er wird auch beim Kind durch schnelle räum
liche Bewegungen verstärkt.
ziemlich groß. Etwa um dieselbe Zeit, zuweilen auch etwas später (7. oder 8.
Monat), holt das Kind etwas m it einem langen Gegenstand zu sich her (Löffel oder
Stock), und es kann auch einen Gegenstand mit einem anderen berühren. Hält es
einen Gegenstand in der Hand, so langt es damit oft nach etwas anderem, während
die andere Hand in Ruhe bleibt. E ist im 9. Monat konnte das von Myers beob
achtete Kind den zweiten Gegenstand mit der anderen Hand greifen. Das ist also
eine schwierige Handlung. Auch das Loslassen eines Gegenstandes und das sog.
Herreichen treten erst um diese Zeit auf.
Die Entwicklung der Hand- und Aimbewegungen zeigt sehr deutlich, daß
immer wieder neue Funktionen auftreten, die mittels der schon erworbenen auto
matischen Bewegungöl ausgeführt werden. Die Koordinationen, die einer elemen
taren Funktion dienen, treten dann in den Dienst einer höheren Leistung. Der
Reihe nach gibt es beim Säugling ein Sich-Anklammem, dann ein Ergreifen von
Gegenständen, darauf ein Hinlangen nach Gegenständen, dann das Aufgeben des
einen Gegenstandes zugunsten eines anderen. Jede dieser Leistungen hängt mit
einem bestimmten Verhältnis zur Umgebung zusammen. So entwickelt sich im Tim
und Wahmehmen der Umgang m it Gegenständen und zugleich die Anpassung der
Bewegungen an die Situation. Das vollwertige Ergreifen eines Gegenstandes setzt
sich aus einem durch optische Lokalisation beherrschten Hinlangen nach diesem,
dem Sich-Festgreifen, Aufnehmen und Zu-sich-Herholen zusammen. W enn sich
diese Funktion in ihrer Ganzheit eingestellt hat, kann das Kind also die Hand zu
einem gesehenen Gegenstand hin bewegen, kann aber noch nicht darauf zeigen.
Dies ist eine Leistung für sich, und zwar eine Tätigkeit höherer Ordnung. Das
Zeigen ist nach Rév&sz eine der ersten Äußerungen der Sprachfunktion. Indem
es auf etwas zeigt, will das Kind etwas andeuten, mitteilen und also m it einer
Gebärde etwas „sagen".
Das Ausstrecken des Armes, meistens m it gespreizten Fingern, das man beim
Kind schon früh beobachten kann, darf denn auch nicht als ein Zeigen gedeutet
werden. R. V uyck 1 hat den Beginn des Zeigens zu ermitteln versucht und fand in
einer Anzahl von Fällen, daß es m it dem ernten Beginn von Sprechen und Ver
stehen zusammenfällt.
4. Greifen und Zeigen
Der Unterschied von Greifen und Zeigen tritt besonders klar hervor, wenn
durch eine Läsion des Zentralnervensystems die Funktionen auf ein primitiveres
Niveau zurtckfallen. So fand Goldstein 1 bei einigen Kranken m it Kleinhirn-
öder Frontalhirnerkrankungen eme Störung des Zeigens ohne Greifstörung. Ein
solcher Kranker kann den Auftrag, bei geschlossenen Augen auf die Nasenspitze
zu zeigen, nicht ausführen. W ohl gelingt es ihm, an seine Nase zu greifen oder auf
diese zu „zeigen", wenn er unter der „Einstellung zum Greifen" handelt. Diese
Einstellung ist nahezu mit Sicherheit auszuschließen, wenn man den Auftrag er
teilt, auf eine 2 cm vor der Nase liegenden Stelle zu zeigen. Dann wird ein Fehler
gemacht.
Auch in einigen Fällen von sog. „Seelenblindheit" besteht eine Lokalisations-
störung und ein Unvermögen, „au f eine optisch wahrgenommene Raumstelle oder
1 V uyck , R . : W ijren en spreken m de ontwikkeling van het kleine kind. Alg. Nederl.
Tijdsehr. Wijsbegeerte en Psychol. 33, 137 (1939/40).
* G oldstsih . K .: Über Zeigen und Greifen. Nervenarzt. 4, 453 (1931).
292 Exemplarische Reaktionen nnd Leistungen
eine berührte Hautstelle bei geschlossenen Augen zu weisen. Das Greifen (also
auch das Sieh-Kratzen) kann dabei ungestört sein. Gerade durch die Analyse der
„Seelenblinden" verschaffte sich G o l d s t e in Einsicht in den Unterschied von
Zeigen und Greifen als Leistungen. Die Grundstörung sei bei diesen Kranken das
Unvermögen, „eine Gegebenheit simultan als gegliedertes Ganzes zu haben". Es
fehlt ein dem Subjekt gegentiberstehender statischer Raum, in dem sich Dinge in
bestimmter Distanz neben- und hintereinander befinden. Nur in einem solchen
Raum jedoch gibt es Orte, auf die man zeigen kann! Zum Greifen ist ein solcher
Raum offenbar nicht erforderlich. Das zeigt sich auch darin, daß der Kranke,
nachdem er richtig nach etwas gegriffen hat, nicht weiß, wo sich der ergriffene
Gegenstand befindet. Greifen und Zeigen sind also grundverschiedene Hand
lungen. Ein Tier kann zwar greifen, aber nicht etwas zeigen, denn es hat zwar
einen vitalen, aber keinen „gnostischen" Raum und keine „gegenständliche
Außenwelt".
Der normale Mensch kann rieh in seinem vitalen Raum bewegen und er tut das
z. B. wenn er nach einem Gegenstand greift. Um auf etwas zu zeigen, muß er jedoch
eine ganz andere Position der Außenwelt gegenüber einnehmen und sich der objek
tiven Raumverhältnisse, Richtungen und Abstände vergewissern. Die erwähnten
Kranken können das jedoch nicht mehr, ebensowenig wie der Säugling es kann.
Die Ursache für die Unmöglichkeit des Zeigens muß in d er, .Unfähigkeit, sich gegen
ständlich kaUgorial zu verhalten", gesucht werden. Für das Greifen ist die Einstel
lung auf »i»» Stelle im objektiven Raum nicht erforderlich. Man könnte geneigt sein,
im Greifen nach etwas eine dem Wischreflex des Frosches oder dem Kratzreflex
des Hundes gleichartige Funktion zu erblicken. Diese R eaktion® sind jedoch
anderer Ordnung. Beim Tier fehlt ja stets die Aufgabe, Es muß handeln, wie auch
ein Mensch in tiefem Schlaf auf einen Hautreiz reagiert. Der normale Mensch,
auch der ..Seelenblinde", kann jedoch nach etwas greifen, und wenn das einem
Auftrag entspricht, so geschieht es nicht zwangsläufig.
W ir greifen nach Gegenständen, die eine vitale Bedeutung für uns haben, die
wir begehren oder die uns bedrohen. Daher geschieht es in stets anderer Weise,
abhängig von Haltung und Situation sowie von den verfügbaren Ausführungs
organen. In dieser Hinsicht sind Greifen und Kratzen gleichwertig. W ie wir das
Sich-Kratzen jedoch unmöglich als einen Reflex deuten konnten, so kann auch
das Greifen nicht als Reflex betrachtet werden. Goldstein teilt diese Ansicht und
schreibt: „K ein irgendwie gedachter Reflexmechanismus könnte ein solches Ver
halten garantieren. Nur die Annahme jeweilig wechselnder, der Situation an
gepaßter Gesamtreaktionen kann es verständlich m achen".
Beim echten, m Begleitung einiger Himerkrankungen auf tretenden Zwangs-
Greifen und beim Schließen der Hand des Säuglings um einen Gegenstand kommt
es zu einem Umklammern, das als Bewegung einen primitiven, wenig geformten
Verlauf hatunddas abhängigist von der Stärke, nicht aber von der Gestalt (Qualität)
des Reizes. Diese Bewegung vollzieht sich so, als ob ein einziger Impuls nach sämt
lichen Fingerbeugern gesandt würde. Dabei schließen sich die F ingir immer gut
um einen in die Handfläche gegebenen Gegenstand. Man könnte meinen, das wäre
nur durch eine koordinierte maßvolle Bewegung möglich, aber B ethe versuchte es
auf Grund des Prinzips der glmtmdm Koppelung zu erklären. Dieses Prinzip wollen
wir wegen seiner Bedeutung für die Bewegungslehre näher betrachten.
Die gleitende Koppelung 193
vorausgesetzt, »fas durch ein „höheres“ Zentrum beherrscht und adaptiv der
Situation angepaßt werden soll.
Es ist viel besser, das Prinzip der gleitenden Koppelung ebenso wie das der
peripheren Regulation oder des reziproken Reflexschemas als Bilder (eventuell
als experimentelle Arbeitshypothesen) für den Verlauf der Erscheinungen in primi
tiven Entwicklungsphasen oder bei Reduktion der organischen Integration oder
schließlich bei experimentell vereinfachten Situationen zu verwenden. Das be
deutet aber, daß in diesen Fällen sich keine sinnerfüllte Selbst-Bewegung ent
falten frawi; es verwirklicht sich keine funktionell differenzierte und im Zusammen
hang m it früheren Erfahrungen antizipierende Einstellung auf die Struktur der
Situation. Auf einer frühen Entwicklungsphase ist das nicht möglich wegen der
noch undifferenzierten Beziehung von Subjekt und Objekt; nach Läsionen des
Zentralnervensystems, weil der verstümmelte Organismus nur noch zu einer un
differenzierten Relation fähig ist,
6. Funktion und Mittel
Sowohl in der Entwicklung als auch beim organischen Abbau treffen wir bis
weilen auf eine Phase, in der ein Mißverständnis zwischen der funktionellen
Intentionalität und den verfügbaren Ausführungsmitteln besteht oder in der die nor
malen Mittel fehlen. Dann wird die Funktion in neuer Weise erfüllt oder zu erfüllen
v e r su c h t. Das ist auch beim Greifen der Fall, In der Entwicklung trifft man auf eine
solche Phase, wenn das Kind vom einhändigen zum Greifen mit beiden Händen
übergeht oder vor dem Greifen die Bewegung des Rumpfes oder der Beine ein
schaltet. Bei Läsionen der Hand wird das Greifen diesem Zustand angepaßt und
anders als normal ausgeführt. Beim Fehlen der Hände kann man lernen, etwas
m it den Füßen zu ergreifen und zu halten. Sogar feinere Koordinationen, wie die
zum Schreiben und Zeichnen erforderlichen, können dann nach einiger Zeit wieder
ausgeführt werden.
Beispiele funktioneller Anpassung an veränderte somatische Zusammenhänge
teilt G ol OstEin mit1, so folgenden Versuch T rendelenuurg *. Nach einer geringen
Läsion der linken corticalen Armzone bei einem Affen gebrauchte das Tier nur
noch den linken Arm. Darauf wurde der linke Arm amputiert, wonach der rechte
Arm erneut verwendet wurde. Eine darauf vorgenommene stärkere Lädierung
des linken corticalen Zentrums hatte zur Folge, daß mit der rechten Hand keine
Nahrung mehr aufgegriffen wurde. Aber die Greifbewegung kehrte wieder, als
sie notwendig war, als nämlich das Futter außerhalb des Käfigs gestellt wurde.
Die Greifbewegungen wurden zwar nicht mehr so gut ausgeführt, aber sie fanden
doch statt, wenn die Situation das verlangte. Nach G oldstein wird auch beim
Menschen die Umschaltung durch die Unmöglichkeit, eine normale Funktion zu
erfüllen, gefördert. Kranke mit einer Armlähmung kratzen sich mit dem anderen
Arm auch an Stellen, die früher der gelähmte Arm erreichte. Diese funktionelle
Umgestaltung geschieht jedoch nur dann gut, wenn die zuständige Hand völlig
unbrauchbar ist. Ist sie nur pareiisch, so stellen sich doch noch Versuche zu ihrer
Verwendung ein, die den Ersatzgebrauch der normalen Hand stören. So sollen
Amputierte schneüer als Hemiplcgiker links schreiben lernen, wofür aber m’cAf die
meist vorhandenen allgemeinen Störungen der Hemiplegiker verantwortlich
1 G oldstmn , K .: a. a. O. S. 149.
Sprung und Wurf. (Das Ganze und die Teile.) Das Sich-Richten auf das Entfernte 197
Meist geht einem Sprung ein Anlauf, einem W urf eine einleitende Bewegung
von sehr verschiedener Form und Dauer voraus. Darauf folgt der eigentliche
Bewegungsimpuls, und beim Sprung schließen sich Lageänderungen der Körper
teile beim Schweben durch die Luft sowie die Bewegungen der besonderen „Lan
dungstechnik" an. Bei der sportlichen Leistung, bei der nach langwieriger Übung
ein maximaler Effekt erreicht wird, kann man dem Verhältnis der Bewegungs
abschnitte zum Bewegungsganzen nachgehen. Das geschah in einer Reihe unter der
Leitung K l e m m « in Leipzig durchgeführter Untersuchungen. Es sollte dem Zu
sammenhang zwischen Bewegungsgestalt, Impulsverteüung, Bewegungserlebnis
und subj ektiverBeurt eilung hinsichtlich obj ektiverAusführung nachgespürt werden.
Für die Theorie der menschlichen Bewegung sind diese Untersuchungen wertvoll.
Winkel (a) im Augenblick des Abspringens bestimmt wird. Aus den Kinoaufnah
men kann man diese Schwerpunktsbahn bestimmen und mit einem Chronoskop
die Zeit zum Durchmessen des ganzen Weges feststellen.
Die berechneten Geschwindigkeiten sind verhältnismäßig gering. Sie betragen
beim Erwachsenen für einen Sprung mit Anlauf etwa 5 m/sec, bei Kindern etwa
3 m/sec. .Diese Werte sind geringer als dem Gefühl des „Darüber-hinweg-Fliegens"
entsprechen würde. Der Winkel, unter dem man springt, wechselt, aber er nähert
sich — besonders' bei ohne bestimmte Technik springenden Knaben — einem
Wert von 45°, d. h. dem W ert einer möglichst ökonomischen Leistung.
Aus der Variation von c und a kann man die Variation in der Sprungweite
berechnen. Für Erwachsene findet man so eine Variation von durchschnittlich
1/55, für Kinder von 1/40 von der ganzen W eite. In W irklichkeit betragen diese
Werte jedoch 1/85 und 1/60. „Das lebendige Ganze geschieht also wesentlich
besser und genauer, als die bloßen Schwankungen der Teilstücke es nach sich
ziehen m üßten." Die Teñe fügen sich dem Ganzen und wirken nicht, wie bei
einer mechanischen Bewegung, abhängig voneinander. Wenn sich die lebendige
Bewegung, in diesem Fall der Sprung, durch Übung -genau, fließend und
konstant vollzieht, so bedeutet das nicht, daß Anfangsgeschwindigkeit und
Anfangswinkel zu konstanten Werten erstarren. In der Bewegungsganzheit
werden die wechselnde Geschwindigkeit und der variierende Winkel zu einer
Einheit vereinigt, wodurch das Ziel erreicht wird.
Schließlich hat V oigt aus dem Unterschied zwischen Sprüngen bei normaler
Beleuchtung und Sprüngen im Dunkeln die Bedeutung der erwähnten Haltungs
korrekturen in der zweiten Hälfte der Bahn (Dauer etwa 0,25 sec) erforscht. Die
Präzision der geübten Springer wird bei optischer Kontrolle, welche die korrekti
ven Bewegungen ermöglicht, mehr als verdreifacht. Die ungeübten Versuchsper
sonen sprangen jedoch im Dunkeln besser, subjektiv leichter, lockerer, während
sie das Gefühl hatten, im Hellen mit mehr Überlegung und „Berechnung“ und
dadurch weniger sicher zu. springen.
3. Untersuchungen über das Werfen
A u di bei der Würfbewegung tritt das Problem des Verhältnisses der Gesamt
gestalt zu den Einzelstücken der Bewegung wieder hervor. Es liegen darüber drei
Studien vor: eine Arbeit Stimpelb über das gewöhnliche Werfen mit einem
Ball nach einem Ziel, sowie Arbeiten O esers und Siegers über Speer- und
Diskuswurf, also über echte sportliche Leistungen.
Bei der erstgenannten Untersuchung1 war der Auftrag sehr einfach. Die Ver
suchspersonen sollten mit einem kleinen elfenbeinernen Ball einen auf einem Tisch
vorgezeichneten Zielpunkt aus einer Entfernung von 5 m treffen. Die unterlaufe
nen Fehler und die W urfzeit wurden durch einen Apparat registriert. Jede
Prüfungsreihe bestand aus ungefähr 20 Würfen und täglich wurden von jedem der
Teilnehmer 1— 2 Reihen aufgenommen. Im Verlaufe einiger W ochen wurde hier
durch das Ergebnis bedeutend verbessert.
Die Bahn der Kugel ist natürlich ganz durch die Anfangsgeschwindigkeit und
den Wurfwinkel bestimmt, so daß sich als erstes die Frage ergibt, wie diese Größen
bei zunehmender Übüng variieren und sich zueinander verhalten.
1 Stimfel , E .: Der W urf. Neue psychol; Studien, Bd. IX , H. 2, S. 105— 139. München
1933.
20 0 Exemplarische Reaktionen und Leistungen
Der am weitesten tragende Wurfwinkel beträgt wie beim Sprung 45°. Bei
gleicher Wurfgeschwindigkeit nimmt die Wurfweite bei größerem oder kleinerem
Wurfwinkel ab. Das gewünschte Resultat kann dann aber durch eine geringe Ver-
größerlmg der Geschwindigkeit, also des Impulses, doch erreicht werden. Das tut
man „unbewußt'1. Im Verlauf der Versuche, bei zunehmender Sicherheit der
Bewegung, stellte sich eine Vergrößerung des Wurfwinkels um einige Grade
heraus. Einer der Teilnehmer wählte von Anfang an einen Winkel von 44° 30' und
behauptete bis zum Ende der Versuche diesen sehr günstigen Wurfwinkel. Der
beste Werfer begann mit einem Winkel von 40° 20' und vergrößerte diesen in der
zweiten Hälfte der Versuche auf 43° 30'. Die Ergebnisse zeigen im allgemeinen,
daß die Verbesserung des Ergebnisses zum Teil auf einen günstigeren Wurfwinkel
zurückgeht.
Bei dem von allen Versuchspersonen unbewußt gewählten Winkel von etwa
45° ergibt sich der geringstmögliche Kraftaufwand. Das Empfinden der Änderung
eines Sinneseindrucks folgt dem WEiERschen Gesetz, wonach stets ein
bestimmter Prozentsatz des Totaleindrucks im Sinne einer Änderung bemerkt
werden kann. So empfinden wir einen Gewichtsunterschied, wenn er ungefähr
1/40 des Gesamtgewichtes beträgt. Um im Wurfversuch einen möglichst geringen
Fehler zu machen, muß man daher eine möglichst geringe Variation der Muskel
kraft bemerken können, wozu diese Kraft so klein wie möglich gewählt werden
muß. Daß man das tatsächlich tut, zeigt die Wahl des Wurfwinkels und das Über
wiegen der zu kleinen Wurfweiten über die zu großen.
Berechnet man die mittleren Fehler aus den Variationen von Wurfwinkel und
Wurfgeschwindigkeit, so erhält man einen W ert, der bei allen Versuchspersonen
größer ist als der wirkliche Durchschnittsfehler. Ebenso wie beim Springen stellt
sich also auch beim Werfen eine gegenseitige Beziehung zwischen den Komponenten
ein, die die ganze Leistung bestimmt. „Wurfwinkel und Wurfstärke stellen sich
unter der Herrschaft einer ganzheitlichen Zieleinstellung her." Der geübte W erfer
unterscheidet sich vom ungeübten nicht nur durch eine größere Sicherheit in der
Beherrschung von Wurfwinkelund Wurfgeschwindigkeit. Vielmehr variieren bei Ihm
diese bestimmten Faktoren nicht unabhängig voneinander, sondern im Zusammen
hang und unter Einfluß der Gesamtbewegung. Die durch beide Faktoren be
dingten Fehler werden dadurch ausgeglichen1. Der werfende Mensch ist nicht
mechanisch auf das Ziel eingestellt. Indem er sich übt, das Ziel immer genauer zu
treffen, versucht er nicht, bei einem gleichbleibenden Impuls allmählich den
günstigsten Wurfwinkel und ebensowenig bei konstant gehaltenem W inkel die
entsprechende Wurfkraft zu finden, sondern er übt eine solche Kombination von
Wurfwinkel und Wurfgeschwindigkeit, daß das Ziel getroffen wird. So sagt
K l e m m 2 in einem seiner Leitsätze zu einer Psychologie der Leibesübungen: „D ie
1 Für den Hainmersclilag ergab sich Entsprechendes bei A. D erwort : Zur Psychophysik
der handwerklichen Bewegungen bei Gesunden und Himgeschädigten. Beiträge aus der
Allgemeinen Medizin. Stuttgart 1948, 4. Heft.
Die Beschleunigungskurve eines gelungenen Schlages stellt eine kubische Parabel dar, die
ans 2 Komponenten entsteht: Aus einer gleichbleibenden und einer mit der Zeit wachsenden
Kraft. Beide Komponenten werden zusammen mit der Hubhöhe in gegenseitiger Abhängig
keit wieder unter Einordnung in die Gesamtbewegung variiert.
1 K l e m m , O .: Zwölf Leitsätze zu einer Psychologie den, Leibesübungen. Neue psychol.
Studien, Bd. IX , H. 4, S. 391. München 1938.
Untersuchungen über das Werfen 201
anderm Grande ist das Antlitz mehr als irgendein anderer Körperteil zum Aus
druck geeignet. Das Antlitz ist plastisch durch die Anordnung der Muskeln, ihren
Verlauf und die Insertion. Dadurch kann es nach allen Richtungen bewegt
werden1.
Die besondere Eignung des Antlitzes zum Ausdrucks„feld" des Gemüts,
werden wir erst dann einsehen können, wenn wir erörtert haben, was im
Leibe zum Ausdruck kommt. Vorläufig mag die Bemerkung genügen, daß nicht
nur Verbreiterungen und Verschmälerungen, symmetrische und asymmetrische
Verschiebungen möglich sind, sondern daß auch die Gesichtsmuskeln, insbesondere
die des Mundes und der Augen als „Öffnungen" zur Wiedergabe dynamischer
innerer Zustände eine Mannigfaltigkeit von Formänderungen bewirken können.
Auch kann das Antlitz im ganzen oder in seinen Teilen gespannt oder entspannt
aussehen.
Lediglich Verschiebungen nach vom und rückwärts kann das Antlitz nur in
geringem Maße ausdrücken. Zwar können die Augen auch vorquellen oder ein
sinken, die Lippen vorgestreckt oder eingezogeri werden ; aber um die innerlich
heftig erlebten und virtuell ausgeführten Bewegungen in vor-rüekwärtiger Rich
tung zum Ausdruck zu bringen, muß die Bewegung des Antlitzes mit einer des
Kopfes (eventuell des Rumpfes oder der Arme) kombiniert werden.
Es leuchtet daher ein, daß erst der menschliche Leib mit seiner aufrechten
Haltung und freien Beweglichkeit von K opf und Armen die volle Möglichkeit zum
Ausdruck aller Gemütsbewegungen bietet.
1 Daß das Antlitz tatsächlich plastisches Material sein muß, um alle Ausdrucksnuancen
wiedergeben zu können, kann man auf eine hübsche Weise demonitrieren an den vor Jahren
erhältlichen Gesichtern aus Gummi, die zur Belustigung von Kindern und Erwachsenen auf
leichten Druck in irgendeiner Richtung die überraschendsten Ausdrücke zeigen.
1 B ühler, K .: Ausdruckstheorie. Jena 1933.
Das Verhältnis von Ausfuhren und Ausdrücken 207
Handlung, sondern sie ist insbesondere eine Eigenschaft der Haltung, von der die
Handlung ausgeht. Wie K a f k a 1 bemerkt hat,ist für eine bestimmte Aktivität nicht
das Sich-Einstellen auf eine gewisse Richtung das Entscheidende, sondern das, was
das Tier oder der Mensch mit dem Gegenstand „ machen will“ . Deshalb bestehen
Unterschiede in der Weise, wie sich ein Hund einem anderen, befreundeten
oder feindlichen Hund, seinem Herrn, einem Hasen, seinem Freßtrog oder dem
Ofen nähert. Diese Unterschiede sind schon zu Beginn der Handlung und in vielen
Fällen bereits an der Ausgangshaltung festzustellen. Indem so über eine reine Be
reitschaft zur Bewegung in eine bestimmte Richtung hinaus in der Ausgangshal
tung sich zeigt, was das Subjekt mit dem Objekt machen will, kann diese denn auch
nur in zeitlicher Hinsicht als Beginn der Handlung angesehen werden, funktionell
aber ist sie „Vorwegnahme“ künftiger Aktivität.
Die Ausgangshaltung einer Handlung ist nicht einfach vorhanden, sondern sie
muß sich erst aus einem Ruhezustand entwickeln. Wenn z. B. während ich sitze und
lese, jemand eintritt, so erhebe ich mich und es ergibt sich nun eine stehende
Haltung als Ausgangsposition meiner Begrüßung. In diesem Stehen ist die W eise,'
auf die ich dem Besucher entgegentreten werde, schon vorweggenommen. Die
Haltung hat dann immer einen Doppelaspekt, indem sie sowohl die Initialphase
der Handlung als auch die Endphase des Ausdrucks einer intentionalen (und
affektiven) Emsteilung darstellt, wie sie sich aus der Situation gebildet hat.
Welcher dieser beiden Aspekte jeweils gültig ist, hängt von dem Grad der Selb
ständigkeit der Haltung gegenüber dem anschließenden Handlungsverlauf ab.
Es ist unrichtig, mit P i d e k it 2 eine Ausdrucksbewegung mit der Initialphase
einer Handlung zu identifizieren. Nur wenn der Anfang der Handlung, die Ent
wicklung der Ausgangshaltung für sich steht und sich sehr ausgeprägt vom weite
ren Handlungsverlauf absetzt, kann man .von einer ausdrückenden Haltung
sprechen. Diese Haltung vertritt dann die innere Einstellung. Das Entstehen der
Körperhaltung ist dann eine Ausdrucksbewegung, die sich entsprechend der
Gemütsbewegung („W allung“ , K l a g e s ) entwickelt.
Bei niederen Tieren vollziehen sich Handlungen wie Annäherung, Flucht,
Angriff oder Abwehr aus einer indifferenten (Ruhe)Haltung als ungeteilte Einheit.
Selbständige Initialphasen fehlen. Nur bei Säugetieren und Vögeln, bisweilen auch
bei hoch entwickelten Arten niederer Tiere (z. B. dem Octopus unter den W eich
tieren oder den Ameisen unter den Insekten) sieht man das Auftreten einer Anzahl
ausgeprägter Haltungen, also mehr statischer motorischer Äußerungen, die von
Handlungen deutlich unterscheidbar, als Ausdruckserscheinungen aufgefaßt
werden können.
Zweitens, so sagten wir oben, kann sich der Zusammenhang von Ausführen und
Ausdrucken offenbaren, indem im Handeln etwas zum Ausdruck kommt. W ir
haben das zielgerichtete Handeln in seinen Merkmalen von den ziellosen Ausdrucks
bewegungen unterschieden. Dieser Unterschied ist so fundamental, daß gerade er
zur Unterscheidung zweier Kategorien animalischer Funktionen führte. Diese
Funktionen sind jedoch keineswegs stets geschieden.
In jeder Handlung von deutlich intentionalem Charakter— nicht also in auto-
matischen oder reflexartigen Bewegungen — drückt sich die prospektive Tendenz
1 K afka , G .: Grundsätzliches zur Ausdruckspsychologie. Acta psychol. 111, 237 (1937).
* P iderit , T h . : Mimik und Physiognomik. Detmold 18S6.
208 Die Problematik der Ausdrucksbewcgungen
(das Streben) als eine Gespanntheit auf ein Ziel hin aus. Dieser Ausdrucksgehalt
prägt sich der ganzen Ausführangsweise der Handlung auf und zeigt sich an all
gemeinen dynamischen Merkmalen, am Bewegungsumfang, an der Geschwindig
keit und den tonischen Komponenten. Im vorbereitenden Stadium ist das Streben
nach dem Ziel am stärksten, und es wird als innere Bewegtheit und Spannung, als
Affekt erlebt. Im Fortschreiten der Ausführung lassen Spannung und Bewegtheit
nach, um beim Erreichen des Zieles in Entspannung und Ruhe umzuschlagen.
„D ie Verwirklichung einer Intention ist daher ihre Selbstaufhebung. Daraus
folgt jedoch, daß sich eine Intention nicht in der Durchführung der intendierten
Handlung ausdrücken kann, sondern nur in demVorbereitungsstadium der Hand
lung, in dem sich die Intention gewissermaßen staut und erst als Streben wirk
sam wird1" , sagt K a f k a m itRecht und gibt hiermit zugleich den Wesensunterschied
von Handlung und Ausdrucksbewegung deutlich an. In der Ausführung wird ja das
Ausmaß der Einzelbewegungen, ebenso wie Geschwindigkeit und tonische Span
nung, nicht nur durch das Streben, sondern auch durch das verfolgte Ziel geregelt.
W ir haben das als die prospektive Einstellung der Koordination kennengelemt.
Gleichzeitig kann die Ausführung retrospektiv eingestellt sein und ihrer intentio
nalen Anfangsspannung formale Merkmale entleihen. Die Handlung erhält dann
den Ausdruck der Intentionalität oder des Affektes, obwohl sie als Handlung voll
zogen wird. Bewegungsumfang, Geschwindigkeit und Tonus sind dann nicht
mehr ausschließlich zweckmäßig, sondern auch expressiv bestimmt. Tatsächlich
besitzen alle Handlungen von ausgesprochen intentionalem Charakter einen deut
lichen Ausdrucksgehalt. Die Weise, in der ein Hund seinem Herrn entgegenläuft,
ist eine Handlung, die ihren Sinn aus dem verfolgten Ziel erhält. Dieses Ziel be
stimmt den W eg des Tieres und dieser wiederum die Koordination seiner Einzel
bewegungen. Zugleich hat der Lauf des Tieres einen Ausdrucksgehalt, der sich
in der Geschwindigkeit, den Spannungen und besonders in den Mitbewegungen
zeigt. Nun ist aber das Zueilen auf den Herrn nur eine einleitende Handlung
für die eigentliche Begrüßung, die eher eine emotionale Entladung als eine ziel
gerichtete Tätigkeit ist. Wird ein Hund jedoch zum Füttern gerufen, so geht
das Laufen in eine zweite Handlung über, bei deren Tun der Ausdrucksgehalt
abnimmt. Über sein Futter „herfallend" drückt das Tier seinen Hunger aus,
aber indem dieser befriedigt wird, tritt der reine Handlungscharakter erneut in
den Vordergrund.
Der Beginn einer Handlung erhält eine größere Selbständigkeit, wenn die
Ausführung äußerlich behindert oder innerlich gehemmt wird. In diesem Falle
staut sich die Intention wie Wasser vor einem Damm. Sie schwillt an und sucht
einen Ausweg, den sie in den Ausdrucksmöglichkeiten des Leibes findet, der als
plastisches Material der inneren Bewegung folgen und sie repräsentieren kann8,
1 K afka , G .: a. a. O. S. 288.
1 Das an einer Kette angebundene Tier möchte etwas auf ein unerreichbares Futter hin
tun. Die gehemmte Bewegung entlädt sich in repräsentativen Bewegungen. Schon G ratio -
i .et (De la physionomie et des mouvements d ’expression, Paris 1863) unterschied die
repräsentierenden, symbolischen Bewegungen von den Handlungen. D arwin dagegen
versucht auch die repräsentativen Bewegungen aus Gewohnheitsbildung zu erklären, Br
schreibt: „W enn eine Billardkugel etwa» von der verlangten Richtung abweicht, so kann man
wiederholt beobachten, wie man sie mit dem Blick, dem K opf oder sogar de* Schultern in die
gute Richtung drängen möchte, als ob diese rein symbolischen Bewegungen die Ver-
Das Verhältnis von Ausführen und Ausdrücken 209
Beim Menschen und den höheren Tieren kann sich eine besondere Art B e
hinderung, und zwar im Dienste einer plötzlichen Ausführung einer Handlung
einstellen. Meistens erfordert das eine Vorbereitung, indem eine vorhergehende
Äwfehaltung in eine aktive Ausgangshaltung übergeht. Man kann nicht aus
ruhigem Sitzen oder Liegen, nicht einmal aus entspannter aufrechter Haltung,
plötzlich entfliehen, zugreifen oder abwehren. Bei den niederen Tieren, z. B.
bei einem Insekt, fehlt eine echte Ruhehaltung1 und besteht eine tonische Spannung,
wodurch stets unmittelbar auf Eindrücke reagiert werden kann. Die selbständige
Vorphase der Handlungen fehlt und daher auch der Ausdruck. W ird die Ausfüh
rung jedoch durch äußere Umstände gebremst, wie bei einer gegen eine Glasscheibe
summenden F lege oder bei einer von der Zuckerdose verjagten Wespe, so sehen
wir selbst bei Insekten eine Verhaltensweise erscheinen, die einigermaßen als
Ausdrucksbewegung aufgefaßt werden kann, jed och bleibt unter solchen Um
ständen der Ausdruck von W ut oder Angst nur sehr unbestimmt und unsicher.
W ird jedoch bei einem höheren Tier die Ausführung von Angriff oder Flucht
behindert, so erhält die Initialphase eine differenzierte, spezifische Form. Das ist
jedoch allein dann der FaU, wenn die Hemmung nur mäßig stark ist und nicht zu
lange anhält. Es vollzieht sich dann zunächst eine Verstärkung der Ausgangshaltung,
worauf sich ein typisches, das innere Erleben spiegelndes Büd entwickelt. Ist die
Hemmung jedoch stark oder hält sie an, so zerfließt die typische Haltung in eine
indifferente Aktivität, die nur noch das Gehemmt-Sein sàs solches zum Ausdruck
bringt.
Dieser Fall stellt sich normalerweise bei körperlicher Unfähigkeit zur Ausfüh
rung einer intendierten Handlung ein, so beim Kind oder beim jungen Tier, das
noch nicht entfliehen, etwas nicht erreichen, seine W ut nicht im Angriff äußern
kann. Dann wird die desorganisierte Motorik, z. B. das Strampeln mit den
Beinen, je nach den Umständen als Äußerung von Angst, W ut, Ungeduld, Ärger
oder Begierde gedeutet.
W ir kommen also zum Ergebnis, daß im Handeln zwar etwas zum Ausdruck
kommen kann, doch nur insofern, als die Handlung als solche gehemmt wird. Das
geschieht besonders zu Beginn, so daß es fließende Übergänge von einer Aus
gangshaltung der Aktivität zum Ausdruck des gestauten Affekts, der in der Hal
tung vertreten ist, gibt.
Daneben besteht jedoch, wie gesagt, die Möglichkeit, daß während der Gesamt-
ausführung einer Handlung eine retrograde Bindung an das innere Empfinden
andauert. Dann stellt sich im zeitlichen Handlungsvollzug eine beständige innere
Haltung ein. Diese kann reaktiv durch die Situation bedingt sein, so daß man
bessern könnten." „Derartige Bewegungen können einfach der Gewohnheit zugeschrieben
werden. Sooft man einen Gegenstand in eine Richtung zu bringen wünschte, hat man ihn
in diese Richtung geschoben. Sieht man daher seine Kugel in eine falsche Richtung rollen, und
wünscht man inbrünstig, sie möge in eine andere Richtung rollen, so kann man nicht umhin,
aus langer Angewohnheit Bewegungen auszuführen, die sich in anderen Fällen nützlich
zeigten." Dieses Beispiel zeigt wohl deutlich das Konstruktive von D arwins Erklärungen der
Ausdrucksbewegungen1 . Es sind gerade die jugendlichen und ungeübten Spieler, die die be
schriebenen repräsentativen Bewegungen zeigen. Nicht die Gewohnheit, sondern die Kraft des
Wunsches, d. h. die emotional erlebte Intention, verursacht die Ersatzhandlungen. Sie fallen
weg, wenn das kindliche Aufgehen im Spiel verschwindet.
1,B u y t r n d ijk , F. J. J. : Traité'de Psychologie animale. Paris 1952. Cap. III (Repos et
sommeil).
Buytendijk, Haltung und Bewegung 14
210 Die Problematik der Ausurucksbewegungen
während der Ausführung seines Tuns andauernd verlegen, wütend oder ängstlich
ist. Auch beim Tier kann ähnliches Vorkommen. Beim Tier fehlt jedoch der Be
zug von Handlung und Ausdruck auf eine Intention, das Einnehmen einer Haltung
im Verrichten einer Handlung. Es muß jedoch immer die Frage gestellt werden,
ob wir es dann noch mit echten Ausdrucksbewegungen zu tun haben, bder aber mit
Gebärden, repräsentativen Handlungen oder demonstrativem Auftreten. Eine
Handlung kann Ausdruckszüge tragen, aber kann auch eine Ausdrucksbewegung
Mprbmalp des Handelns zeigen ? Da sämtliche Merkmale der Handlung auf ihre
Zielgerichtetheit zurückgehen, muß diese Frage verneint werden. Es kann den
Anschein haben, als laufe eine Ausdrucksbewegung wie eine Handlung ab. Er
hebt man z. B. die Faust und schlägt dann auf den Tisch, so ist das gewöhnlich
eine Ausdrucksbewegung. Es könnte jedoch auch eine Handlung sein; nur die
Kenntnis der Umstände läßt hier unterscheiden. Dann eist ist auszumachen, ob die
Merkmale einer Handlung gegeben sind, z. B. die Ökonomie der Ausführung, die
relative Freiheit in der Wahl der Mittel, der Verlauf in aneinandergereihten,
zweckmäßig verbundenen Teilen,
Die Beziehung von Ausführung und Ausdruck ermöglicht die Aufnahme des
Letzteren in jene, aber das Ausdrücken schließt das Handeln als solches aus.
Schließlich wollen wir den genetischen Zusammenhang von Ausführung und
Ausdruck betrachten. Die ersten Bewegungen eines Embryo {oder einer Larve)
sind keine Reaktionen auf die Außenwelt und sind überhaupt nicht auf sie bezogen.
Das besagt, daß sie eigentlich noch keine Funktionen und also weder Handlungen
noch Ausdrucksbewegungen sind. Die ungeordneten Gesamtbewegungen dieser
frühen Phase der motorischen Entwicklung kann man zwar Äußerungen, aber
nicht Ausdruck des inneren Bewegungsdranges nennen. Ein Ausdruck hat eine
Form, die der Form des inneren Zustandes oder der inneren Bewegung entspricht.
Von einer geformten inneren oder äußeren Bewegung kann beim Em bryo
nicht die Rede sein.
Aus den Gesamtbewegungen entstehen die Einzelbewegungen aus vielerlei
Gründen. Einer davon ist die Hemmung der Gesamtbewegung. W ir sehen das
z. B. bei der Entwicklung der Beinbewegungen einer Salamanderlarve. Anfäng
lich werden die Beine beim Schwimmen mitbewegt. Das geschieht durch Torsion
in Schulter- und Beckengürtel, die bei den seMangenartigen Bewegungen der
Wirbelsäule in. entgegengesetztem Sinne drehen, Hierdurch stellt sich „v on
selbst", d.h. auf Grunde"er Organisation des Körperbaues und der Gesamtbewegung
(des Schwimmens) das kreuzweise Versetzen der Beine ein. Wird.nun die Gesamt
bewegung gehemmt (was durch die Körperschwere bei Bodenberührung statt
findet), so sieht man den durch die Hemmung verstärkten Bewegungsdrang zu den
leicht beweglichen Beinen abfließen, die nun den mit einer geringen Schlängelung
des Rumpfes einhergehenden kreuzweisen Gang ausführen1. Man kann dann sagen,
daß die Beinbewegungen die Intention zur Fortbewegung (durch Schwimmen)
repräsentieren. In gleichartiger Weise ist manche Einzelbewegung eines jungen
Tieres oder eines Kindes die Repräsentation der Gesamtbewegung, deren Ausfüh
rung unmöglich ist. W ir wiesen oben bereits auf das Strampeln als Äußerung von
Intentionen und Affekten hin.
1 Etwas Derartiges kann man auch beim Gehen junger Säugetiere beobachten.
Das Verhältnis von Ausfuhren und Ausdrücken 211
sondern deren mehrere. Diese haben jedoch einen dynamischen Zug gemeinsam, der
aus K lages' These einleuchtet : „ Jede ausdrückende Körperbewegung verwirklicht
das Antriebserlebnis des in ihr ausgedrückten Gefühls.“ So ist Schrecken, w ie
auch ausgedrückt, immer gekennzeichnet durch ein »arrêt de m ouvem ent« (R ibot )
und durch ein Zusammenschrumpfen, Freude durch Expansion, ein Sich-Öffnen und
-Weiten und eine Spannungszunahme, Kummer durch ein Zusammensinken usw .
Einige unserer Ausdrucksbewegungen repräsentieren die Richtung einer inten
dierten Bewegung. Auch diese Repräsentation geschieht durchaus nicht immer in
der gleichen Weise. Ebenso wie plötzliche Entladungen heftiger Gemütsbewegun
gen, werden die repräsentativen Ausdrucksbilder durch die Umstände beherrscht.
Aber dennoch kann man folgendes Prinzip feststellen : die Ausstrahlung geschieht
in die am wenigsten gebrauchten Muskeln. Dieses Prinzip regelt die Mitbewegungen,
die man bei einem mühsam schreibenden Kind und bei jeder starken Anstrengung
Erwachsener beobachten kann. Man sieht dann Bewegungen der mimischen
Muskeln, der Zunge und der Skeletmuskeln, die nicht für die Handlung gebraucht
werden. Das führt zu allerlei bizarren, gezwungenen Haltungen und zu Ver
steifungs-Innervationen. Diese Mitbewegungen haben expressive Funktionen,
wenn sie auch keine spezifischen Ausdrucksbewegungen sind.
Das Prinzip der Erregungsausbreitung in nicht benutzte Muskeln kann bei
emotionalen Expressionen zu einer Bewegungsumkehr führen. Man sieht einen
Wütenden die gebeugten Arme strecken oder die gestreckten Arme beugen.
Freilich ist es leicht, beide Bewegungen als Anfang oder Gleichnis einer Handlung
(eines Angriffs) zu deuten, aber man kann z. B. auch vor Schrecken die geschlossene
Hand öffnen oder die geöffnete Hand schließen. Die nachträglichen „Erklärun
gen" dieser Affektäußerungen sind denn auch äußerst unsicher. Das läßt uns ver
muten, daß viele Ausdrucksbewegungen bei Emotionen überhaupt keinen spezifi
schen Charakter haben und nichts anderes als Erregungsausbreitungen in die nicht
benutzten Muskeln sind.
Die Muskeln, die n ah ezu stets unbenutzt sind und die daher auch das B ett für
den jede innere Bewegung begleitenden verstärkten Erregungsstrom bieten, sind
die Gesichtsmuskeln. Diese werden ja bei keiner einzigen Handlung außer bei der
Nahrungsaufnahme und beim Sprechen betätigt. So spiegelt sich bekanntlich
selbst die leiseste Gemütsregung in der Spannungsverteilung der Gesichtsmuskeln.
Die verschiedenartigen Weisen, in denen das geschehen kann, zeigen jedoch schon,
daß hier von einer unspezifischen Erregungsausbreitung nicht die Rede sein kann.
Die mimischen Äußerungen sind nicht aus dem anatomischen Bau des Antlitzes
oder aus Prozessen im Nervensystem erklärbar, sondern sie sind Funktionen, echte
Ausdrucksbewegungen, in denen die Form des Erlebten schematisch sicht
bar wird.
Zur Frage, wieweit das auch für die ersten mimischen Ausdrucksbewegungen
des Säuglings gilt, mag hier eine kurze Betrachtung über das Lächeln folgen. Die
physiologischen Erklärungen des Weinens werden wir später besprechen. Das
Lächeln wird als erster Ausdruck des Kindes, als Zeichen eines menschlichen Ver
stehens aufgefaßt. Doch nach D umas soll es rein physiologisch erklärbar sein.
Reizt man den motorischen Gesichtsnerv (N. facialis) mit einem schwachen
elektrischen Strom, so entsteht, wie schon D uchenne1 zeigte, eine leichte K on-
* D uchenne: Mécanisme de la Physiognomie humaine. Paris 1876.
Expression dw ell Exzitation und Irradiation 217
traktion der Gesichtsmuskeln, die einem Lächeln völlig gleicht. Es zeigt nicht nur
der Mund den Ausdruck der Freude oder des Wohlbehagens, sondern auch die
Augen fangen an zu lächeln. Die Reizung bringt eine Anzahl von Muskeln zur
Kontraktion, deren Spannungen Zusammenarbeiten oder sich aufheben. Das
Ergebnis ist das Lächeln. »Le sourire spontané est la réaction la plus facile des
muscles du visage pour une excitation modérée; il se manifeste particulièrement
dans ces muscles à cause de leur extrême mobilité, mais, en réalité, la réaction
qu'il exprime est générale et, pour une joie intense, se marque plus ou moins dans
le système musculaire tout entier.«
Das lächelnde Antlitz resultiert also lediglich aus der spezifischen Anordnung
der mimischen Muskulatur und deren Innervationsschema, Jede leichte Reizung
des N, facialis, jede Tonussteigerung der Gesichtsmuskeln, auf welche Ursache
auch immer sie zurückgehen mögen, bewirken, was wir ein Lächeln nennen.
So glaubt D umas wiederholt das Auftreten eines Lächelns in mäßiger Kälte
gesehen zu haben. Der gleiche Effekt entstehe durch jegliche Reizung der
Gesichtshaut, z. B. durch Ausdünstungen eines Senf-Fußbades. Auch durch
anregende Getränke oder bei einer guten Mahlzeit entstehe leicht ein lächelndes
Aussehen. Sie wirken ebenso ionisierend wie eine Anekdote oder eine angenehme
Vorstellung, die auch nur eine geringe Anregung mit sich bringen.
Beobachtet man das erste Lächeln beim Kinde, so scheint in diesem Gesichts^
ausdruck tatsächlich nicht eine innere Bewegungsform, sondern nur der Erfolg
einer leichten Reizung, die sich in alle Muskeln des Gesichtes ausbreitet, sichtbar zu
werden.
Was ist jedoch unter einer geringen Reizung zu verstehen ?. Sie darf sicher
nicht rein physiologisch aufgefaßt werden, denn jeder uns bekannte physiologische
Reiz greift an einer bestimmten S tele des Nervensystems an und verbreitet sich
von dort aus — nach den Regeln der Reizbarkeitsvorstelung — zu bestimmten
Effectoren. Die geringen Reizungen, die beim Säugling das Lächeln auslösen, sind
ein „K ribbeln". W ir verstehen darunter schwache, wiederholte Hautreize mit
unscharfer Lokalisation und von wechselnder Intensität, die eine spezifische
Empfindung mit ausgesprochen motorischer Qualität auslösen. Sie ist schwer zu
beschreiben, aber das W ort „K ribbeln"' verweist schon auf die Kitzelbewegung
der Insektenpfötchen. Diese Form von Irritation in einem bestimmten Hautfeld
ist einem schwachen Juckreiz verwandt, aber sie unterscheidet sich von ihm durch
ihre nicht rein örtliche, sondern mehr allgemeine Reaktion. Ein starkes Kribbeln
erleben wir jedoch mehr als „sensorische Verlegenheit“ , indem wir die Affektion
wegen ihres in sich ambivalenten Charakters nicht einordnen können. Sehr klar
ist das beim leichten Kribbeln der Nasenschleimhaut. Auch optische Eindrücke
und Laute „streichelnder "A rt versetzen uns in einen derartigen allgemeinen
affektiven Znstand,
Die »excitation modérée« (D umas), die das Lächeln hervorruft, ist also eine
Reizung spezifischer Art, und mir scheint die Erfahrung mit Kindern und Erwach
senen zu lehren, daß tatsächlich dieses „K ribbeln", das wir eine sensorische Ver
legenheit nannten, das Lächeln als entsprechenden Ausdruck hat. Wenn der Säug
ling in ein Alter kommt, in dem er ruhig wach liegen kann (nicht mehr entweder
schläft oder hungrig und unruhig ist) und rezeptiv eingestellt ist, wobei er sich
innerlich in einem labilen Gleichgewicht befindet, dann ist die Bedingung für das
218 Die Problematik der Ausdrucksbcwegungcn
rinde eine koordinierte Augen- und Kopfbewegung auszulösen, und durch die
daraus resultierende Reizung des Diencephalon eine Katze „schlafen“ zu lassen
(Hess). Solche Versuche beweisen zweifellos, daß die betreffenden Hirnteile bei
den normalen Funktionen eine Rolle spielen. V ieleicht zeigen sie auch, daß
häufige Handlungen oder ihre Teilmomente eine gewisse Prädisposition in Struk
turanordnungen und Reizbarkeitsverteilungen haben, die unter abnormen Ver
hältnissen selbständige, geformte Äußerungen verursachen können1.
In ähnlicher Weise muß man das Ergebnis' der Reizung des motorischen
Gesichtsnerven erklären. Aus dem Versuch D uchennes geht hervor, daß die das
Bild des Lächelns bildenden Muskeln leichter reagieren als die anderen mimischen
Muskeln. Ganz sicher ist das jedoch nicht, denn die Reize wurden von diesem
Forscher mit einer zu groben und wenig exakten Methode vorgenommen, um die
wirkliche Reizbarkeit feststellen zu können. Besser wäre es, die Methode von
L apicque (und Bourgingon) anzuwenden. Diese fanden einen Unterschied in der
Reizbarkeit der Skeletmuskeln, wodurch die funktionelle Prävalenz bestimmter
Bewegungen ihre Erklärung findet2. Etwas Derartiges könnte es auch bei den
Gesichtsmuskeln geben, aber es wurde noch nicht aufgezeigt.
Nehmen wir es aber einmal an, so beweist der Versuch von D umas, daß das
Lächeln tatsächlich in dem ruhig entspannten Antlitz physiologisch am leichtesten
auszulösen ist3. Insofern scheint D umas Recht zu haben, wenn er von einer
»réaction la plus facile« spricht.
Aber auch in einem anderen als im physiologischen Sinne ist das Lächeln ein
leichtes Geschehen. Es ist leicht in funktionellem Sinne und für das subjektive
Erleben.
W ir wollen an einem anderen Beispiel erläutern, was wir unter „leichter
Bewegung" zu verstehen haben. Die Beugung der Glieder ist physiologisch
(mechanisch) beim Menschen leichter auszulösen als die Streckung. Auch in
funktionellem Sinne tritt, wenigstens beim reaktiv eingestellten Menschen, leichter
eine Beugebewegung auf, die als Flucht und Abwendung von der Außenwelt
sinnvoll ist4. Die Beugung prävaliert ebenso als leicht für das subjektive Erleben,
weshalb sie als willkürliche Reaktionsbewegung bevorzugt wird. W ir sehen also,
daß sich die Rangordnung der Bewegungen im sinnvoll funktionellen Verhalten
nach zwei Seiten hin auswirkt : zum einen in die physiologische Organisation und
zum anderen in die erlebbare Rangordnung der Intentionalität.
Zurückkehrend zum Problem des Lächelns versuchen wir das erste spontane
Auftreten dieses Ausdrucks beim Kinde zu erklären. W ir stellen dann zunächst
fest, daß das echte Lächeln etwas ganz anderes ist als die ihm einigermaßen
ähnelnde Verziehung des Gesichts bei mäßig starken Reizungen verschiedener Art
1 Vergi. hierzu jetzt die Ergebnisse der Reizversuche im Zwischenhim der Katze bei
W . R. H ess. (Das Zwischenhirn. Benno Schwabe, Basel 1954.) Daran anschließend beginnt
der Begriff der „motorischen Schablone“ in der klinischen Neurologie Bedeutung zu ge
winnen. [E. K retschm er . Der Begriff der motorischen Schablonen und ihre Rolle in normalen
und pathologischen Lebensvorgängen. Arch. f, Psych. u. Neur. Bd. 190, 1 (1953).]
* Vgl. auch Goldstein.
* W ir heben die W orte „ruhig entspannt" hervor, eingedenk der Versuche L apicqu es , die
zeigten, daß die Reizbarkeit der Skeletmuskeln von der Haltung der Glieder abhängt.
* Man denke an das von Sherrington angenommene Prinzip vom Vorrang der bio
logisch wichtigsten Reaktionen,
220 Die Problematik der Ausdrucksbewegungen
(wie das von D umas angeführte Beispiel der Kiltereaktion). Eine derartige Ver
breiterung des Mundes, kombiniert mit einem Zukneifen der Augen, sieht
man auch bei einer Anstrengung, z. B. beim Tauziehen. Das ist kein Lächeln.
Es ist richtig, daß dieses Grinsen — ebenso wie das bei vielen anderen
Anlässen leicht auftretende — einem Lächeln einigermaßen ähnelt. Das kann
sichet aus der physiologischen Prédisposition erklärt werden. Das ist aber eine
andere Erklärung als die, weiche D umas meint. Er sieht nämlich in der physio
logischen Organisation etwas Zufälliges und nicht eine funktionelle Vorbereitung,
keine sinnvolle Beziehung zwischen dem Leib und seiner Verwendung, Daher kann
er schreiben : »c’est le hasard de notre organisation physique qui nous fait sourire
avec nos zygomatiques et nos orbiculaires des paupières : nous sourirons différem ent
si les muscles de notre visage étaient autrement associés ou autrement mobiles, et si,
d'aventure, les contractions qui s’exécutent dans la douleur eussent été les plus
faciles des contractions du visage, ce sont elles assurément qui seraient le sourire
humain.«
Nur wenn man den Leib als einen unbeseelten Mechanismus betrachtet, dessen
Bau bezüglich der psychischen und funktionellen Struktur nur „zufällig” wäre,
ist eine Unterstellung wie die DuMAs’sche möglich. Wegen der psycho-physischen
Einheit ist es jedoch unmöglich, daß z. B. der mimische Ausdruck des Schmerzes
der „leichteste” sein könnte.
Das Lächeln ist die Einleitung des Lachens, des Ausdrucks der Freude, die als
Aufgewecktheit notwendigerweise in einer expansiven, zentrifugalen, ausstrahlen
den Bewegung bestehen muß. Im Felde der Mimik gibt es nur eine einzige Be
wegung dieser A rt, und sie ist es, die sich beim Lachen einstellt und im
Lächeln zu erscheinen anfängt.
Beim Kleinkinde können wir die Leichtigkeit des Lächelns und die Anstren
gung beim Weinen so gut sehen. Das Lächeln erwächst gleichsam der Ruhe und
dem Wohbehagen im Sinne einer Bestätigung, die sich entfaltet und über die
Leiblichkeit ausbreitet. Diese Expansion ist zugleich Reaktion und intentionaler
Akt, da sie die Bereitschaft enthält, sich dem Eindruck zu öffnen und der von uns
Kribbeln genannten sensorischen Qualität zu folgen.
Ein mäßig starker Reiz liegt auch vor, wenn das Weinfen anfängt und die Mund
winkel zittrig hinuntergezogen werden. Nach der* Theorie voit D umas m üßte man
erwarten, daß zunächst ein Lächeln erschiene. Das geschieht aber nicht und eben
dies kann „mechanisch” nicht erklärt werden. Der Fehler von D umas und seiner
positivistischen Vorgänger und Nachfolger liegt darin, nicht zu beachten, daß
Reizung als quantitativ physiologischer Begriff etwas ganz anderes ist als Reizung
in funktionellem Sinne. Diese ist flieht nur stets qualitativ, sondern sie enthält
auch immer schon dynamische Elemente. Dadurch jedoch ist sie mit der Aktivität
der Person, mit ihrer Selbst-Bewegung und Intentionalität verknüpft.
Eine angenehmë Reizung ist dadurch gekennzeichnet, daß ihr letcfcf-gefolgt wird ;
eine unangenehme löst eine Reaktion aus.
Das Lächeln ist insofern paradox, als seine Muskelspannung als die Lösung
einer aktiven RuhekaUung erlebt wird. Das liegt daran, daß die Ruhe
haltung in Auseinandersetzung m it der Außenwelt als ein Vm cM ossm -Sein,
der sich im Lächeln offenbarende innere Zustand dagegen als ein Sich-Öffnen
erlebt wird. .
Expression durch H em m ung 221
Das Kind „lern t" lachen, aber es braucht nicht weinen zu lernen. Das Lachen
beginnt als fast unmerkbares Lächeln, das allmählich ausgeprägter und mannig
faltiger wird. Das Weinen nimmt eine umgekehrte Entwicklung, und erst in
einem etwas späteren Alter sehen wir beim Säugling die schwachen Äußerungen
des Kummers, das Herabziehen der Mundwinkel. Auch darin zeigt sich ein grund
sätzlicher Unterschied zwischen beiden Äußerungen, der der Auffassung
widerspricht, wonach sie sich nur durch die Reizintensität unterschieden.
Was das Kind „lern t" oder besser, was sich im Kinde entwickelt, ist die
expressive „Technik". Das erste Lächeln ist nur eine Reaktion, wenn das Kind
passiv eine gewisse Freude, wenigstens aber die Empfindung eines ambivalenten
Lustgefühls erfährt, die wir „K ribbeln’ ' nennen. Aus diesem reaktiven entwickelt
sich das aktive Lächeln, ein Suchen des expansiven Gefühls, ein Sich-Öffnen
und Folgen-W ollen. Das Lächeln ist dann Ausdruck einer Antizipation und zugleich
die Reaktion auf eine bestimmte sinnliche Empfindung, die „sensorische Verlegen
heit“ , die diese Antizipation ermöglicht. W as damit gemeint ist, lehrt uns die ei
gene Erfahrung unseres Verhaltens und Erlebens, wenn sich jemand anschickt,
uns zu kitzeln.
Während die Entwicklung des Lächelns zugleich denUbergang von einer passiven,
reaktiven Freude zu einer aktiven antizipierenden Freude darstellt, besteht die Ent
wicklung des Weinens im Übergang einer Reaktion in eine beherrschte Reaktion.
In beiden Fällen differenziert sich ein innerer Zustand unter Einfluß des Selbst-
bewußtseins und des Willens zur Selbständigkeit. In diesem Geschehen liegt die
Bedingung zur Entfaltung echten Ausdrucks.
W ir kommen also zum Ergebnis, daß das Lächeln nicht physiologisch zu er
klären ist. Sem erstes Erscheinen ist sicher nur eine Reaktion, deren Gestalt durch
den Leib bestimmt wird. Sie steht in einem festen Bezug zur Qualität der sinn
lichen Eindrücke und ihrer dynamischen Eigenschaften. Diese Reaktion wird
überhaupt erst möglich, wenn das Kind zu einer Haltung der Außenwelt gegenüber
fähig ist, die man aktive Ruhe nennen kann. Sie ist zugleich die Bedingung für
die Entwicklung einer ausdrucksfähigen Innerlichkeit und somit für das Erscheinen
des Lächelns als echter Ausdrucksbewegung1.
Schock in Analogie zum traumatischen und nervösen. Ein Schock, so lehrt die
Physiologie, hat eine starke Wirkung auf die vom sympathischen Nervensystem
abhängigen Funktionen sowie auf die Organisation der zentralnervösen Funktio
nen, Muskeltonus- und Koordinationsverlust kommen dabei häufig vor. E s ist
also wohl begründet, wenn man die Schreckreaktion als einen Schock auffaßt. Das
öffnen des Mundes, das Einsinken der Knie wären dann keine Ausdrucksbewe
gungen, sondern physiologische Effekte.
Bleibt das weite öffnen der Augen l D arw ik erklärt es als Rudiment einer Hand
lung, des Versuches, das Gesichtsfeld zu vergrößern, ähnlich wie er auch das Öff
nen des Mundes als zweckmäßige Handlung mit dem Ziel, geräuschlos oder tief zu
atmen, auffaßte: sie sollten der Vorbereitung der gewöhnlich dem Schreck folgen
den Aktivität dienen. Zu dieser Verkennung des Unterschieds von Handlung und
Ausdruck kommt aber D arwin u. a., weil er die Nachahmung emotionalen Aus
drucks als Beispiel wählte. Ahmt man, z. B. wie ein Schauspieler, Schreck nach,
so muß man tatsächlich eine Handlung vollziehen, aktiv die Augenbrauen Hoch
ziehen und den Mund aufspenen. Auch die Reaktion der Körpermuskeln
geschieht dann aktiv: man läßt die Arme herabfallen, d. h. man entspannt
willkürlich.
W ie falsch dieser Ausgangspunkt für eine Theorie der Ausdrucksbewegung auch
sein mag, die Tatsache einer möglichen Nachahmung zeigt, daß die verschiedenen
Züge eines Ausdrucks in einem durch den Willen gestalteten „Bewegungsplan"
auitreten können. Bei wirklichem Schrecken jedoch geschieht etwas, ein „B e -
troffen"-W erden, während man sich bei der Nachahmung des Schreckens
treffen lassen will. Dazu sind das Sich-öffnen für den Eindruck und das Aufgeben
jeder Selbstbewegung erforderlich. Die Nachahmung eines Ausdrucks und das
Überlegen dessen, was man eigentlich dabei tut, lehrt uns also die Form der inne
ren Bewegtheit kennen, die unter natürlichen Umständen ganz unwillkürlich
äußerlich richtbar wird.
Die Hemmung der Innervation ist kein Schock des Nervensystems sondern
echter Ausdruck dessen, was im Seelenleben geschieht. Das wußte schon D es-
c a r te s . Die Hemmung erklärt er aus dem Strömen der „Lebensgeister" zur
H hnstele, die den Eindruck aufnimmt. Hier sind dann die Lebensgeister der
maßen beschäftigt, daß sie nicht zu den Muskeln abfließen können. Im Bild
wird uns hier auf vorzügliche Weise gesagt, was das W esen des Affektes,
des Staunens usw. ist. W ir gewinnen daraus die Einsicht, daß die Hemmung der
Motorik und — meistens nicht bemerkt — eines großen Teils der sinnlichen W ahr
nehmung Folge des unwiderstehlichen Aufsaugens und Festhaltens unseres „einen
Raum erfüllenden Selbsts“ an einer Stelle der Außenwelt ist.
Diese Umschreibung bedarf weiterer Erläuterung. W ir gehen von der Tatsache
aus, daß wir uns selbst als Punkt erleben können, der sich in einem virtuellen
Raum bewegt, Eindrücken und Gedanken folgt, in Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft verweilen kann. Aber wir können uns auch erfahren, wie wir im Erfüllen
eines Raumes zugleich bei unserer Leiblichkeit und bei der W elt sind. Es ist dann,
als ob wir m it unserem „Selbst" diesen Raum durchzogen und in Besitz genommen
hätten,um von dieser Allgegenwart aus uns einer Sache zuwenden, irgendwo etwas tun
zu können. Ein Etwas und ein Irgendwo gibt es dann nur in bezug auf diesen von
uns selbst erfüllten Raum, Dieses Raum-erfüllende- Selbst ist das Selbst in seiner
Expression durch. Spannung 223
zuwartenden Haltung1, von der aus man etwas tun oder in der man von etwas be
troffen werden kann.
Das Gemeinsame sämtlicher Formen des Betroffenwerdens ist nun das H in
weggezogen-Werden, das Hinwegströmen unseres Selbst aus dem Raum, in dem es
zuwartet. Ich vergesse mein Selbst, verliere m ich selbst am Gegenstand, über
den ich mich verwundere, der für m ich grundlos, d. h. ein Wunder ist. Dabei
stellt sich noch eine gewisse A ktivität ein, die dieses passive Gefesseltwerden auf
greift und fortführt. Dies fehlt jedoch beim Schrecken gänzlich. Beim Entsetzen
werden wir so gewaltsam außer uns selbst, bzw. außer dem, wo das Selbst verweilt,
gebracht, daß uns ein Angst genanntes Gefühl der Verlorenheit und Ratlosigkeit
erfüllt2.
Das Hinwegströmen oder Hinweggezogenwerden unseres Selbst entseelt den.
Leib, über den wir die Macht verlieren, der gelähmt zusammensinkt.
Die Expression durch Hemmung ist also nicht ein aktives Aufhebender Spannun
gen, sondern ein Gelähmtwerden und insofern doch dem Schock vergleichbar.
Sie unterscheidet sich von ihm, weil sie echter Ausdruck eines inneren Zustandes
ist, den mim besser eine Existenzweise als eine Gemütsregung nennen kann3.
Unsere Untersuchung muß mm zwei Richtungen verfolgen: die eine wendet
sich der bemerkenswerten Tatsache zu, daß man vor Schrecken nicht immer
gelähmt, sondern auch erstarrt sein kann. Das Betroffenwerden äußert sich
also offenbar in zwei Formen.
Die andere folgt dem so auffallenden Erblassen vor Schreck, das nicht über
gangen werden darf. Zu seiner Erklärung wollen wir die vegetativen Wirkungen
der Emotionen im allgemeinen, die Reaktionen der Blutgefäße, des Herzens, der
Eingeweide usw. näher betrachten. Sie treten sowohl bei den verschiedenen
Formen des Schocks, als auch bei den besprochenen reaktiven Ausdruckserschei
nungen auf.
7. Expression durch Spannung
W ir hoben hervor, daß man vor Schreck nicht nur gelähmt, sondern auch er
starrt sein kann. Zur Erhellung dieses Sachverhaltes müssen wir zunächst unser
1 Wahrscheinlich hat man mit dem Begriff Bewußtseinsraum etwas Derartiges gemeint.
Aufmerksamkeit ist dann eine Verengung des.Bewußtseins und in der Affektreihe: Verwunde
rung bis Enteetzen tritt eine noch ausgeprägtere Verengung auf. Es wird klar sein, daß unser
Gedankengang einen anderen Ausgangspunkt hat, als die Bewußteeinspsychologie. W ir gehen
von der Existent und dem Erleben unseres Selbst-Seins aus und lassen die Frage des Bewußten
und 'Unbewußten beiseite.
* Das Selbst verhält sich auf zweierlei Weise zum virtuellen Raum des Inneren. Eine ,
davon lernten wir kennen : das Selbst befindet sich im Raum, erfüllt ihn oder bewegt sich in
ihm. Das, indem wir sind, kann jedoch auch in uns sein. Das gilt nicht für alles, was erlebt
wird. Ein Gedanke oder eine Vorstellung können etwas sein, bei dem ich mich aufhalte, auch
etwas, das in mir ist, das ich in mir. trage. Ein Affekt dagegen, z. B. die Angst, befindet sich
nie im Raum, den das „Selbst" erfüllt, sondern ist stete »w mir, erfüllt mich.
1 Es ist dies ein echter Ausdruck auch des aktiven Öffnens der Augen wegen I Das tut man
nicht, um besser zu sehen, sondern es ist der Ausdruck des Verhältnisses zum uns betreffenden
Gegenstände. Wir müssen die Angen öffnen, um uns zu verlieren. Bei Schreck fühlen wir uns
durch die offenen Augen hinweggezogen, und zugleich strömt das Entsetzliche in uns hinein.
Kann man das nicht aushalten, so werden die Augen geschlossen, wenn man seiner Selbst
wenigstens noch mächtig ist. Jedenfalls hat D umas Unrecht, wenn er die Verwunderung als
«ine »réaction d’inhibition« bezeichnet, »à l’exception de certains réflexes adaptés, comme la
fixation du regard«.
224 Die Problem atik der Ausdrucksbewegungen
manchmal auch eine anschwellende Spannung, die m it der Füllung zunimmt, wie
bei einem Gummiball. Bei Schrecken und verwandten Gefühlázustanden ist die
Spannung eigentlich eine Erstarrung. Körperlich kommen diese Formen des
Gespannt-Seins durch das Muskeltonus-Niveau und seine Variationen zustande,
durch Versteifungsinnervationen und durch die Kom bination von Bewegung und
Spannung. So entstehen Haltungs- und Bewegungsformen, die durch die Aus
lösung von Haltungs-, Bewegungs-, Muskel- und Krampfempfindungen die innere
Gefühlslage mitbestimmen. W ir erfahren ja selbst unsere Tätigkeit oder Ruhe,
unser Gespannt- Oder Gelöstsein, wie auch die Weise der Spannung unseres
Muskelsystems. Diese Erfahrungen stellen mehr dar als einen Strom von Reiz
empfindungen. Meines Erachtens sind es keine Gefühle, aber sie besitzen eine
dynamische Qualität, die bestimmte, dieser Qualität verwandte Gefühle zur Ent
faltung bringen kann. So kann man erklären, daß eine schlaffe Haltung und ein
träges Sich-Bewegen deprimierend wirken und eine kräftige Haltung m it lebendi
gem Gang eine Depression vertreibt. Es ist fast unmöglich, betrübt zu bleiben,
wenn die Motorik „sich erm untert".
In der bekannten JAMES-LANGEschen Gefühlslehre wird diese Rückwir
kung der Peripherie übertrieben. Es ist nicht richtig, daß das Erleben des
Körperzustandes notwendigerweise die Gefühle auslöst, wohl aber, daß es ihr E nt
stehen erleichtert. Auch die Pathologie liefert uns Beweise für die Wechselwirkung
von Gefühlen und Muskelspannungen. Beim Verschwinden der Beweglichkeit
und der Möglichkeit des Spannungswechsels der Muskulatur, wie bei der
PARKiNSöNschen Krankheit, sinkt das emotionale Leben bald auf ein niedriges
Niveau ab.
Nach dieser Erörterung des Zusammenhangs von Muskelspannung und
Gemützsustand kehren wir zur Frage zurück, weshalb man vor Schreck sowohl
gelähmt als auch erstarrt sein kann. Man meinte, beides wäre nützlich. Die Lähmung,
das Zusammensinken, Zusammenschrumpfen wäre eine abortive Flucht, das Er
starren der Beginn einer Aktivität, die zur Flucht oder Abwehr werden könne.
Hinweise für diese Erklärung entnimmt mam dann dem Tierleben, w o beides, das
Hinsinken durch Tonusabnahme und das Anhalten durch Muskelversteifung,
Mittel zu sein scheinen, um sich der Bedrohung des Feindes zu entziehen. Die
zusammengesunkene und die unbewegliche Gestalt werden nicht mehr bemerkt.
Diese Zweckmäßigkeit der tierischen Ausdruckshaltungen nenne ich eine sekun
däre und möchte damit ausdrücken, daß sie nicht in der Reaktion selbst als be
stimmendes Moment wirksam ist.
Lähmung und Erstarrung sind funktionell nur dann verständlich, wenn wir
einsehen, daß der Schreck objektiv und subjektiv eine Überwältigung durch
einen Eindruck und daher ein Machtloswerden ist. Es gibt aber eine paralytische
und eine kataleptische Ohnmacht. Bei jener fehlt die Innervation d ef Muskeln,
bei dieser kann sie nicht verändert werden, weil sich die Erregung diffus über den
Körper verbreitet. Beim Erschrecken sieht man zunächst eine Lähmung, darauf
eme Erstarrung. Jene entsteht durch das schon erwähnte Hinweggezogenwerden
oder Hinwegströmen des Selbsts, wodurch man außer sich gerät. W as jedoch ist
die Ursache der Erstarrung ? Schon bei schwächeren Affekten, bei Verwunderung
und Überraschung, stellt sich ein fixierter Blick, eine Erstarrung der Augen
stellung ein. Beim Schreck ist diese noch ausgeprägter; man kann dann die Augen
Buytendijk, Haltung und Bewegung |g
226 D ie Problematik der Ausdrucksbewegungen
nicht von der schreckerregendeil Situation abwenden. Indem diese anhält, ver
breitet sich die kataleptische Erstarrung des Blickes über den ganzen K örper und
hebt die anfängliche Lähmung auf. Die Erstarrung ist der Ausdruck des Gefesselt-
Seins, der sich in der Fixierung des Blickes zuerst geäußert hat.
S. Die vegetativen W irkungen der Gemütsbewegungen
Bei nahezu jedem Ausdruck innerlicher Bewegtheit stellen sich Änderungen
der Innervation der inneren Organe ein. Das Herz fängt an schneller oder langsamer
zu klopfen, die Hautgefäße werden enger oder weiter, die Darmfunktion wird
gehemmt oder angeregt, ebenso die Nierenfunktion, die Schweißsekretion, usw.
Obwohl wir uns hier hauptsächlich mit den motorischen Ausdruckserscheinun
gen beschäftigen, dürfen wir die vegetativen Nebeneffekte nicht übergehen. A uf
das Erblassen vor Schreck haben wir schon hingewiesen. Aber auch das Rotwerden
vor W ut gehört so sehr zum Ganzen des Ausdrucksbildes, daß die vegetativen
Wirkungen der Gemütsregungen unsere Aufmerksamkeit wohl in Anspruch
nehmen müssen. Das läßt sich um so weniger umgehen, als die Physiologie einen
engen Zusammenhang von animalischen und vegetativen Funktionen lehrt. D ie
ser Zusammenhang wurde durch die Untersuchungen Ca n n o n »1 bei den fundamen
talen Affekten W ut und Angst näher geklärt.
Als wichtigstes Ergebnis zeigte diese physiologische Analyse, daß alle affekti
ven Zustände des Tieres Vorbereitungen für eine künftige Aktivität sind. Die
vegetativen Änderungen, die während eines heftigen Affekts im tierischen Körper
auftreten, bestehen hauptsächlich aus einer Stillegung der Tätigkeit des Magen-
Darm-Kanals, aus einer Anregung desBlutumlaufs und aus einer Erhöhung des B lut
zuckergehalts. Das alles wird durch eine verstärkte Ausscheidung von Adrenalin
durch die Nebenniere verursacht. Diese erhöhte Sekretion hat auch auf die
Muskelfunktion eine günstige Wirkung, so daß man das Adrenalin als das all
gemeine Mittel zur Steigerung der animalischen funktionellen Tüchtigkeit An
sehen kann.
Dieses Ergebnis zeigt, daß die Emotionen beim Tier für die biologische Be
ziehung von Individuum und Umwelt eine zweckmäßige Rolle spielen. E s ist
aber zu beachten, daß diese Zweckmäßigkeit an die Reizung des vegetativen
Nervensystems und die dadurch bedingte Adrenalinsekretion gebunden ist, jedoch
nicht an irgendeine Qualität des Affekts selbst. Zur Erklärung der differenzierten
Gemütsbewegungen des Menschen und ihres Ausdrucks können diese Unter
suchungen denn auch nicht viel beitragen.
Nicht nur in allen inneren Organen, sondern auch in der Haut findet man ein
ausgedehntes Netzwerk sympathischer Nervenfasern8. Sie innervieren die B lut
gefäße, die Schweißdrüsen, die glatten Muskeln zur Aufrichtung der Haare, die
1 C sn n on : Neural Organisation ior emotional eXpression, in: Feelings and Emotions.
The Wittenberg Symposion. Clark Un. 1928; id.: Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear and
Rage. N. Y , and London, 2nd ed. 1029.
* Die physiologische Forschung lehrt, daß sich diese sympathische Innervation der Haut
durch die geringste Emotion, Aufmerksamkeitsvariation und sensorische Reizung ändert. Das
geht aus der Änderung der Hauttemperatur (z. B. von Hand oder Wangen), der Blutfüllung
und der von zwei Hautstellen ableitbaren Potentialunterschiede hervor. Die sog. psycho-
galvanischen Reaktionen sind wohl die empfindlichsten Effekte der Emotionen, aber sie sind
ebenso wie die Zirkulationsänderungen in der Haut unspezifisch. Als Ausdruckserscheinungen
können sie deiin auch nicht betrachtet werden.
D ie vegetativen W irkungen der Gemütsbewegungen 227
beim Menschen die sog. Gänsehaut bewirken. Bei niederen Tieren stehen auch die
Chromatophoren, die die Hautfarbe regeln, unter dem Einfluß des vegetativen
Nervensystems. Durch diese Innervation ändert sich das Äußere des Tieres bei
Emotionen in mancher Hinsicht. Blutreiche Organe wie der Hahnenkamm oder die
Anhänge eines Truthahns, schwellen an, Haare und Federn richten sich auf, Fische
und Amphibien wechseln die Farbe. Diese äußeren Änderungen bieten zusammen
mit Haltung und Bewegung, mit dem Aufrichten des Körpers oder des Kopfes, dem
Aufsperren von Augen und Mund, dem Entblößen der Zähne, dem Schütteln der
Mähne oder des Schopfes, dem Aufrichten der Flossenstrahlen (z. B. beim Stich
ling und beim Kampffisch) das Gesamtbild der affektiven Reaktion.
D arw in hat versucht, die Zweckmäßigkeit der wichtigsten Züge des tierischen
Ausdrucksbildes aufzuzeigen. Er hat dabei auch den vegetativen Reaktionen der
Haut eine Bedeutung zugeschrieben. Seiner Ansicht nach zeigt sich die Zweck
mäßigkeit hauptsächlich bei jenen starken Affekten, welche den vital entscheiden
den Situationen des Tierlebens entsprechen, nämlich bei W ut und Schreck. Im
ersten Falle ist das Anschwellender K opf anhänge, das Sich-Aufrichten von Haaren,
Schopf oder Flossen sowie das Schütteln der Mähne ein Mittel, um den Gegner
größer und stärker erscheinen zu lassen. Die vegetativen Hautreaktionen bei Schreck
haben dagegen zum Ziel, das Tier kleiner erscheinen zu lassen und es für den An
greifer weniger sichtbar zu machen. Überreste dieser zweckmäßigen Reaktionen
sollen beim Menschen noch weiterbestehen; daher das Rotwerden vor W ut, das
Erblassen vor Schreck.
W ie wir schon bemerkten, fehlt beim Menschen der Zusammenhang von
Emotionen und reaktiven Handlungen zum größten Teil. Die Gemütsbewegung
ist eine innere Situation, die zwar durch die äußere Lage ausgelöst wird, deren
Ausdruck jedoch den Charakter einer Initial-Handlung entbehrt. Der Mensch
existiert affektiv auf bestimmte Weise in und gegenüber der W elt. Das Rotwerden
vor W ut ist nicht zweckmäßig, aber es entspricht der Qualität der affektiven
Lage, dem inneren Anschwellen, dem Sich-Erhitzen. Das gleiche gilt für das Er
blassen vor Schreck.
Kein Ausdracksphänomen eignet sich besser, uns vom rein expressiven Sinn
der Hautgefäßerweitemng zu überzeugen, als die Scham, bei der das Erröten die
einzig beständige äußerlich auftretende Änderung darstellt. In diesem Fall kann
von einem Zusammenhang mit einem Handeln, von einer Zweckmäßigkeit also,
keine Rede sein. Hier haben wir ein Phänomen vor uns, das nicht m it einer bio
logischen,, sondern mit einer geistigen Beziehung zur Situation verknüpft ist und
dennoch ohne Reflexion, unwillkürlich, auftritt.
Das Erröten vor Scham kommt bei allen Völkern vor, wie schon D arw in
wußte1. Kinder erröten leichter als Erwachsene, Mädchen mehr als Jungen.
Man errötet vor Schani und vor Verlegenheit unter bestimmten Umständen,
etwa wenn man einen. Schnitzer gemacht hat, übertrieben gepriesen wird, gegen
die Umgangsformen sündigt, bei einem Fehler ertappt, falsch bezichtigt wird usw.
öffentliches Auftreten ist oft ein Anlaß zum Erröten, besonders wenn man sich
davor fürchtet.
Zur Erklärung des schamhaften Errötens geht D a r w in von der Annahme aus,
daß eine konzentrierte Aufmerksamkeit auf einen Hautabschnitt hier eine
1 D u m a s , G: a.a.O, S .221.
15*
228 D ie Problem atik der Ausdrucksbewegungen
Erweiterung der Blutgefäße verursache. Wenn wir uns als Gegenstand einer kri
tischen Betrachtung wähnten, konzentriere sich unsere Aufmerksamkeit auf die T e le
unseres Körpers, die den Blicken der anderen am meisten ausgesetzt sind, beson
ders also auf das Gesicht. Da dies gleichartig und immer wieder durch v id e
Generationen geschah, solle sich eine feste Assoziation zwischen Aufmerksam
keitszuwendung und Gefäßerweiterung gebildet haben, die nun auch leichter
auftreten könne.
Es scheint, daß diese gekünstelte Erklärung nicht schwer widerlegbar ist.
D umas weist darauf hin, daß von einer Gefäßerweiterung bei Aufmerksamkeit auf
einen Hautabschnitt nicht die Rede sein könne. Entblöße man Fuß oder Ober
schenkel und richte darauf die ganze Aufmerksamkeit, so ändere sich die Haut
farbe dieser Teile keineswegs. Dieses Argument ist jedoch nicht überzeugend, da
ja eine’ geringe Gefäßerweiterung sehr wohl unsichtbar bleiben kann und zudem
nur die Gesichtshaut, die aus vielen Gründen einen Wechsel der Gefäßweite auf
weist, für psychische Einflüsse empfindlich zu sein braucht. Dagegen ist ent
scheidend, daß Scham in der experimentellen Situation meistens fehlt. Mir
scheint denn auch, daß man aus allgemeineren Gründen die Theorie D a r w in *
als unhaltbar ansehen muß.
Erstens wird übersehen, daß das schamhafte Erröten mit der geistigen Ent
wicklung des Menschen verknüpft ist. Zweitens stellt sich ein assoziativer Zu
sammenhang nur dann ein, wenn ein sinnvoller Bezug besteht. Und schließlich
ist in keinem einzigen Fall die Erblichkeit einer erworbenen Assoziation bewiesen
oder auch nur wahrscheinlich gemacht.
Eine physiologische Erklärung des Errötens ist nicht möglich. Sogar D umas
teilt diese Ansicht. Er versucht es daher psychologisch verständlich zu machen und
stellt heraus, daß es dann auftrete, wenn normale reaktive Verhaltensweisen ge
hemmt, behindert oder gefälscht würden. In solchen Fällen zeigten sich »des
phénomènes de dérivation«, ablenkende Prozesse. Diese bestehen in sym pathi
schen Effekten, in Schweißausbruch und Gefäßerweiterung. Der Angstschweiß
des Examenskandidaten wäre solch eine ablenkende Reaktion und so auch das
Erröten vor Scham. Auch diese Erklärung ist wenig befriedigend. Sie läßt uns
jedoch die Tatsache beachten, daß das Erröten auftritt, wenn der Mensch sich
in einer „Sackgasse" befindet, wenn er keinen Ausweg finden kann, ohnmächtig
ist, etwas zu tun oder zu sagen.
Unter dem Einfluß des Bestrebens F reud * und seiner Schule, alle Verlegenheits
äußerungen aus erotischen und unbewußt sexuellen Gefühlssituationen zu er
klären, versuchte man auch das Erröten mit libidinösen Reaktionen in Zusammen
hang zu bringen. Das schien begründet, da die Scham — wie das W ort schon
.andeutet — zum Vorspiel erotischer Beziehungen zu gehören scheint. Das
stimmt jedoch nur insofern, als sich gerade im Verkehr der Geschlechter
Verlegenheitssituationen mannigfach auftun und die Entblößung des Leibes oder
ein schamloser Blick, eine auf Entkleidung zielende Gebärde hochgradige Ver
legenheit veranlassen. Nicht jede Scham ist eine sexuelle, aber diese ist
wohl am meisten ausgeprägt. Jedenfalls kann bei öffentlicher Entkleidung das
Erröten so heftig sein, daß es sich über die Brust und manchmal sogar über den
ganzen Körper ausbreitet.
D ie vegetativen W irkungen der Gem ütsbewegungen 229
Erwägt man die verschiedenen Umstände, unter denen ein Schamgefühl sich
einstellt, so stellt sich als der gemeinsame Zug eine Entdeckung, Entlarvung, Ent
blößung unserer Unwürdigkeit heraus.
Die Blicke, die man auf einen eintretenden Backfisch wirft, kann das Mäd
chen unmöglich beantworten. Sie fragen auch nicht um eine Antwort, sondern
sprechen ein Urteil aus, das unabhängig von eigenem Tun und eigenen W orten
gebildet wird. Es fehlt also der menschliche Kontakt, die Wechselwirkung zwischen
der Hereintretenden und den schon Anwesenden, Indem das Mädchen deren Blicke
fühlt oder zu fühlen meint, ist es nicht allein, sondern in Gesellschaft der anderen,
die jedoch nur als ihre kritischen Betrachter, und zwar ihrer Leiblichkeit und ihrer
Nähe vorhanden sind. Die Blicke, die auf ihre Hände, Füße, Gürtel, Frisur und
Rücken gerichtet sind, treffen wohl diese Teile ihrer äußeren Erscheinung, aber
sie treffen durch diese hindurch sie selbst, die in Händen, Frisur, Kleidung usw.
vor den anderen erscheint. A le Körperteile und Kleidungsstücke werden plötz
lich als die eigenen erlebt, aber zugleich als ein ungenügender Schutz des eigenen
Selbst. Ohnmächtig in der Abwehr werden die Blicke denn auch als durch
dringend, entdeckend, entlarvend erlitten. Die Haltungen, die Bewegungen, die
gesprochenen W orte und sogar die Kleidungsstücke sind unfähig, die Blicke
aufzufangen, abzulenken, zu fesseln. Man ist in einer „Sackgasse“ , weiß mit sich
selber keinen Rat, verliert das Selbstvertrauen und die Selbstachtung. Die Scham
ist das Gefühl einer existentiellen Unwürdigkeit und das Erröten dessen Ausdruck1.
Weshalb gerade das Erröten ? Obwohl leichte Schamgefühle, besonders wegen
einer ungeschickten Äußerung, eines Verstoßes gegen die gute Form, auch bei
Erwachsenen noch vielfach Vorkommen, wird es den meisten Menschen doch
schwer fallen, sich zu vergegenwärtigen, was man beim Erröten erlebt. Die
meisten von uns sind durch die Sicherheit ihres Auftretens so sehr gepanzert, daß
sie sämtlichen Blicken und Situationen gewachsen sind und sich nie virtuell ent
kleidet fühlen. Nur in unseren Träumen verhält sich das anders. Dann kann uns
das Gefühl von Ohnmacht und existentieller Un Würdigkeit so stark ergreifen, daß
wir tief beschämt sind. Nach dem Erwachen erinnern wir uns dessen sehr gut.
W ir wissen nicht, ob wir erröten, aber wohl, daß es uns bis zum Ersticken warm
und beklommen war. Dieses Gefühl ist die vitale Komponente, die das Bewußtsein
existentieller Unwürde begleitet, begleiten muß. In der Scham ist ja nicht nur ein
Erleiden, sondern auch ein Widerstand, ein Protest enthalten. Das liegt daran,
daß die Ohnmacht nicht die notwendige Folge eines Umstandes ist, nicht einem'
Überwältigtwerden, sondern einem Versagen entspringt, das man meistern sollte.
Nennen wir das die ethische Kom ponente der Scham, so ist der W iderstand deren
intentionales Korrelat. Jetzt verstehen wir, weshalb es uns bis zum Ersticken
warm und beklommen wird, wenn wir uns schämen (die bedrängte Lage!). Das
ist der Ausdruck eines „effort“ , einer vergeblichen, übermenschlichen Anstrengung
zur Überwindung einer ungehörigen, also unvernünftigen Machtlosigkeit. Noch
mals verweisen wir auf unsere Traumerfahrungen. Ebenso warm und beklommen
wie bei heftiger Scham fühlen wir uns bei der bekannten Ohnmacht imTraum, wenn
wir zu laufen versuchen und es nicht können. Im Traum-Bewußtsein sind alle
Bedingungen für das Gehen erfüllt, und ein Hinderungsgrund ist nicht gegeben.
1 Man wird durch den schamlosen BEck zu einem „Gegenstand" herabgesetzt (vgl.
Sartre, J. P .; L ’être et le néant. Paris 1943).
230 Die Problematik der Ausdrucksbewegungen
Und dennoch gelingt es nicht. Eine unsichtbare, zähe Masse scheint uns auf-
zuhalten. Es wird uns warm und beklommen, und wir erwachen vielleicht
schweißgebadet. Im Alpdrücken erfüllt nicht irgendeine Gemütsregung normales
inneres Dasein, sondern unser Dasein selbst hat sich gewandelt. Die Scham ist ein
wachend erlebter Alpdruck.
Das Erröten ist eine Aufwallung von Beklommenheit, die innerlich als Folge
einer nicht annehmbaren Unwürdigkeit entsteht und zum Antlitz hin einen Aus
weg findet, weil wir dort eigentlich selbst in der W elt sind1. Die Aufwallung aus
unserem Innern (dem Brustkorb) steigt, beginnend an Hals und Unterkiefer*, als
ein Erröten zu den Wangen auf.
Weshalb aber tritt im allgemeinen kein Schwitzen auf ? Die Wangen haben
weniger Schweißdrüsen als Oberlippe und Nasenhaut, wo der Angstschweiß
dpnn auch zuerst erscheint. Zudem ist das Erröten keine echte W irm ereaktion,
sondern eine Aufwallung protestierender Anstrengung.
Es gibt eine physiologische Prädisposition zum Erröten. W ir finden sie nur
bei Menschen mit stark reagierendem Gefäßsystem, die die Gesichtsfarbe auch aus
anderen Gründen wechseln. Daher erröten Frauen und Mädchen mehr als Knaben
und Männer. Aber dies ist wohl nicht der einzige Grund. Die eigentliche Ursache des
Errötens liegt in der Gefühlslage, die, unter gleichen äußeren Bedingungen, bei der
Frau anders ist als beim Mann, beim Backfisch anders als bei einem Knaben in der
Pubertät. Das buchstäblich oder bildlich Entdeckt-, Entkleidet-, Durchschaut
werden bedeutet für beide Geschlechter etwas anderes, weil Mann und Frau
ihre eigene Leiblichkeit verschieden erleben. W ie andernorts dargelegt,
bedingt nicht das geschlechtliche Leben die männliche und die weibliche A rt,
sondern ausdem Wesensunterschied zwischen den Geschlechtern folgt ihr
gegenseitiges existentielles Verhältnis und daher die Weise, wie das Sexuelle
erlebt wird.
Die fürsorgende Einstellung der Frau äußert sich beim jungen Mädchen schon
in einer Selbst-Fürsorge, durch die sie viel stärker als der Knabe ihren Leib als
den eigenen erlebt. Sie ist und fühlt sich durch ihren Leib mit anderen Menschen
in Berührung, aber nur über die (buchstäbliche) Vor-Sichtigkeit der Kleidung, auf
die in der Mädchenpubertät die ganze Sorgfalt verwandt wird. Dann entdeckt die
Frau die doppelte Funktion der Kleidung: die bedeckende und die enthüllende.
1 W ir sind mit uns selbst in unserem Antlitz, und zwar nicht nur durch seine
Funktion oder durch die Tatsache, daß es den entblößten Körperteil darstellt, den wir unseren
Mitmenschen zuwenden. Unabhängig von jeder Beziehung zu anderen, befindet unser „ I c h “
sich im Antlitz oder eigentlich genau hinter ihm, so daß es durch die Augen hinausschaut. Fordert
man jemanden auf, die Ebene anzugeben, die das vor und hinter ihm selbst gelegene trennt,
so gibt er eine Ebene längs der Ohren an; die Trennung von oben und unten liegt in einer
Ebene durch die Augen. Gefühle, die menschlichen (ethischen) Beziehungen entsprechen,
drücken sich ausschließlich im Antlitz aus. „N eid, Scham, Reue, Gier beschränken sich auf
sein Ausdrucksfeld und machen das Gesicht zur eigentlichen Spiegelfläche, zumResonanzboden
der seelischen Erregung, wie denn Erblassen und Erröten besonders im Gesicht zur Erschei
nung kommen.“ (H. F l e s sn e e : Lachen und Weinen, S. 57— 58, Arnhem 1941).
* Schoo , H. J. {Some investigations into the physiology of expression. Acta psychiatr.
Suppl. X IV . Copenhagen 1937) fand, daß das schamhafte Erröten mit Flecken am Halse
beginnt. Er will das als den Anfang der mit jeder Emotion einhergehenden Stoffwechsel
steigerung erklären. Er fand dazu stets Temperaturerhöhung von. Wangen und Schläfen,
doch ein Absinken der Temperatur an den Händen.
Expression durch die Atmung 231
pfnon Eindruck, selbst wenn die Luft keine anomale Temperatur hat und keine
Geruchstoffe mit sich führt. All diese Empfindungen wechseln bei Änderungen
des Atemtypus, der Tiefe und der Frequenz. Unter Atemtypus verstehen wir
nicht nur das Überwiegen der Brust- oder Bauchatmung, sondern auch das
Geschwindigkeitsverhältnis von ln - und Expiration, sowie das eventuelle A u f
treten einer in- oder exspiratorisehen Pause. Auch die Unterbrechung eines m ehr
oder weniger regelmäßigen Atemrhythmus durch einen Seufzer oder einen
Schluchzer, einen Stillstand in tiefer Ein- oder Ausatmungsstellung, eine forcierte
Atmung durch Verengerung der Stimmbänder oder Pressen verursacht eine
Mannigfaltigkeit der Empfindungen, die sich zu einer innerem Regung entwickeln
oder eine bereits bestehende stärken oder abschwächen können. Bedenken wir
schließlich noch den Zusammenhang von Atmung und Verlautbarung, und daß
sogar das innere Sprechen und Ausrufen die Atembewegungen ändert, dann wer
den wir uns über das Ausmaß der emotionalen Atemreaktion nicht wundem .
In der Gefühlslehre W u n d t « wird unterstellt, daß die Qualität der Gemüts
bewegungen größtenteils durch drei Paare polar entgegengesetzter Merkmale
bestimmt werde: Spannung und Entspannung, Erregung und Ruhe, Lust und
Unlust. Nach W u n d t sollen sich diese Eigenschaften in der Bewegung und a u c h
in der Atmung ausdrücken.
Trotz der an diesem Schema geübten Kritik bietet es doch den Vorteil, einige
dynamische Eigenschaften der Emotionen, die in der Atmung leicht zum Ausdruck
kommen können, zu betonen.
Als Beispiel verweisen wir auf die innere Spannung b d den verschiedenen,
unter sich verwandten Formen von Gemütsbewegungen, die wir als Angst be
zeichnen. Jeder dieser Formen kommt ein Spannungsmoment von verschiedenem
Ausmaße und von verschiedener Art zu. So sagt schon B ell 1, man könne bei
Furcht eine Paralyse der Muskeln beobachten, während der Schmerz durch
Muskelspannung gekennzeichnet sei. Deshalb soll bei Angst, in der Schmerz er
fahren oder antizipiert wird, die Spannung überwiegen. Dann wird das oben be
sprochene passive Mundöffnen zu einem krampfhaften Aufsperren als Teilmoment
einer krampfhaften Einatmung, des Schluchzens (engl. "gasp” ). W eitgeöffnete
Augen, hochgezogene Augenbrauen, Krampf des Diaphragmas und der Brust
muskeln behindern die Atmung. Nur eine giemende Einatmung tritt auf, m it
krampfhaft geöffnetem Mund, herabgezogenem Unterkiefer und Anspannung der
Hautmuskel des Halses (m. platysma). Die Zähne sind fast entblößt, der K op f
ist zwischen den Schultern eingezogen, die Haut ist leichenblaß und die Haare
stehen aufrecht.
Bei Angst, die mit starker Vorstellung (von B ell "terror” genannt) verbun
den ist, stellt sich ein Atemkrampf ein, der das Sprechen unmöglich macht*.
1 B ell , Sir Charles : The anatomy and philosophy of expression as connected with the
fine arte. 6th ed. London 1372 (Ist ed. 1806)
1 ......... "The imagination wanders; there is an indecision in the action, the steps are
furtive and unequal, there is a spasm, which hindern speech, and the colour o f the cheeks
vanishes. . . . . . When mingled with astonishment, terror is fixed and mute. The fugitive and
unnerved stepS of mere terror are then chaaged ior the. rooted and motionless figure of a
creature appaled and stupified.......... Horror differs from both fear and terror, although more
nearly allicd to the last than to the first. . . . . . Horror is full of energy; the body is in the
utmost tension, not unnervtd by fear.......... ”
Expression durch die Atmung 233
Der bei Munterkeit anzutreffende erhöhte Muskeltonus muß von einer krampf
haften (Versteifungs) Innervation wohl unterschieden werden. Nur hier ist die
Atmung erschwert , und zwar besonders die Exspiration bei verstärkter Inspiration,
da die Spannungslösung der Einatmungsmuskeln nicht zu einer (wie gewöhnlich)
passiven Ausatmung genügt, so daß sie aktiv ausgeführt werden muß. W er durch
Entsetzen ergriffen wird, hat das Gefühl, ersticken zu müssen und greift nach dem
Hals, lockert den Kragen, usw.
Bei einer mäßigen Erstarrung der Haltung, wie bei Verwunderung und Über
raschung, wird die Atmung oberflächlich, bei ruhigen Gemütsbewegungen, be
haglichen Gefühlen ist die Atmung tief wie im Schlaf. Da die Respiration stets
dem Bedürfnis des Körpers angepaßt ist, namentlich der Kohlensäureproduktion,
muß eine oberflächliche Atembewegung notwendig schnell sein, eine langsame
tief, weil sonst eine Verschiebung der Kohlensäurespannung im Blut und in den
Geweben auftreten würde.
Durch diese rein physiologische Regulation der Atembewegungen gibt es
zwischen Emotion und Atmung einen besonderen wechselseitigen Bezug. Ver
stärkte Ventilation der Lungen, die sich am leichtesten durch frequentes tiefes
Atmen einstellt, verursacht eine Senkung der Kohlensäurespannung in Blut und
Nervensystem und wirkt auf die Stimmung ein, wie schon lange am Beispiel des
Einflusses des Hochgebirges auf den Menschen bekannt ist. Hyperventilation
bewirkt erhöhte Reizbarkeit und Lebhaftigkeit; Hypoventilation hat einen de
primierenden Einfluß. Auf physiologischem Wege verstärkt der Atemeffekt der
Gemütsbewegung also rückläufig ihre Dauer und Intensität.
Man kann auch von einem Ausdruckscharakter der Atmung sprechen, doch
auf ganz andere Weise als bei den echten Ausdrucksbewegungen (z. B. den mi
mischen). Die Atmung steht in einem viel unmittelbareren Bezug zum Affekt,
es besteht ein mehr physiologischer und zwangsläufiger Zusammenhang. Deshalb
äußert sich die affektive Lage niederer Tiere, bei denen von einem selbständigen
Innenleben und dessen Ausdruck nicht gesprochen werden kann, nahezu ausschließ
lich in den Atembewegungen (und der Zirkulation).
Der physiologische Zusammenhang zwischen Atmung, emotionalen Situationen,
emotionalen Reaktionen und Expressionen, beruht primär auf zwei Ursachen :
der Regelung der W eite der Bronchioli durch das vegetative Nervensystem und
der Wirkung der (von der Lungenventilation abhängigen) Kohlensäurespannung
auf das Nervensystem. Noch zwei andere Mechanismen müssen in diesem Zu
sammenhang betrachtet werden.
Zum einen gibt es eine Wechselwirkung zwischen Atmung und Blutkreislauf.
Diese kommt nach den ausführlichen Untersuchungen der Physiologie auf mecha
nischem und nervösem Wege zustande. Insbesondere das Pressen und Seufzen
haben eine starke Kreislaüfwirkung, so daß es sich beim Menschen in der Gesichts
farbe äußern kaim. Schon B ell war dieser Zusammenhang bekannt.
Zum andern ist zu beachten, daß die Einatmungsluft durch die Nase streicht und
durch ihre Temperatur, besonders aber durch die Beimischung von Riechstoffen,
sowohl die Respirationsbewegungen als auch den emotionalen Zustand ändern
kann. Bei vielen Tierarten ist das sehr ausgeprägt und auch begreiflich, weil die
Riechstoffe die wichtigsten qualitativen Signale gegenwärtiger oder künftiger
emotionaler Begegnungen angenehmer oder unangenehmer Art sind. Beim Menschen
234 Die Problematik der Ausdrucksbewegungen
tritt diese physiologische Grundlage für den Zusammenhang von Atm ung
und Ausdruck gewiß in den Hintergrund, aber dennoch bleibt das Atm en ein
Einsangen, Einschnaufen, Aufnehmen, Wahmchmen, das Ausatmen ein A us
stößen, Abwehren, Verwerfen.
Mit dieser Bemerkung berühren wir einen subtileren Bezug von Atmung und
Ausdruck, einen pseudo-symbolischen Bezug nämlich, der àch bei jedem echten
Ausdruck einstellt. Dies beruht auf der Grundtatsache, daß die innere Bewegt
heit auf eine fingierte Außenwelt gerichtet ist. Echt symbolisch ist die ausdrückende
Gebärde, hei der man aus Verachtung kurz und kräftig durch die Nase ausatmet.
Einen weiteren Grund für den expressiven Charakter der Atembewegungeil
glaube ich in ganz anderer Richtung suchen zu müssen. Die Respirationsbewe
gungen vollziehen sich unwillkürlich in einem bestimmten Rhythmus. Bei dar
Besprechung der Fortbewegung haben wir jedoch, besonders aus den Untersuchun
gen von H olst» die deutliche Abhängigkeit der rhythmischen Extrem itäten
bewegung von anderen Rhythmen ersehen. Ebenso wie die Flossenbewegungen eines
Fisches wird sich auch der Atemrhythmus durch den allgemeinen Reizzustand.des
Nervensystems ändern und von anderen Körperbewegungen, ihrem plötzlichen
Auftreten oder Aufhören, ihrer Hemmung oder Verstärkung abhängen.
Obwohl die Atmung ein senso-motorischer Kreisprozeß ist und also durch die
beim Atmen entstehenden Eindrücke geregelt wird, bedarf sie, wie jede rhyth
mische Bewegung, eines fortwährenden Antriebes, eines Impulses. Dem Atem
zentrum fließen nicht nur die bei Ausdehnung der Lunge und bei der Bewegung des
Brustkorbes und des Diaphragmas entstehenden Empfindungen zu, sondern auch
die Eindrücke vom Spannungszustand der großen Arterien, die Hautempfindun
gen und die sensorischen Reize erreichen das Atemzentrum. Schon das grobe
Vivisektionsexperiment lehrt zudem einen Einfluß der höheren Teile des Nerven
systems auf die Atembewegungen. Atemrhythmusänderungen durch Em otionen
sind also voll und ganz verständlich.
Das für die funktionelle Zweckmäßigkeit des vegetativen Lebens sinnvolle
Moment der physiologischen Zusammenhänge bildet eine Grundlage für sinn
volle animalische Relationen und für die Möglichkeit eines Ausdrucks der Gemüts
bewegungen.
B ell hat diesen Gedanken hinsichtlich der Rolle der Atmung bei den Ausdrucks
bewegungen in eine interessante Theorie verarbeitet.
In der an B ell» Werk von Shaw hinzugefügten Abhandlung "Qn the nervous
system " finden wir diese Atemtheorie ausführlicher dargestellt.
Beim Menschen hat die Atmung eine doppelte Funktion. Sie dient dem K ör
per durch Regulation des Gasaustausches, und sie dient dem Geiste durch Stimme
und Ausdruck. B ell ist der Ansicht, daß auf Grund dieser Doppelfunktion ein
eigenes System von Nerven, die "respiratory nerves", die Atmung versorgen.
Die Nerven des Menschen will B ell in zwei Gruppen aufteilen. Die erste um
faßt die spinalen Nerven (und den Sten Himnerven), die sich jeweils aus einem
sensiblen und einem motorischen Anteil zusammensetzen. Ihre Zweige verbreiten
sich über den ganzen Körper, auch über K opf, Hals und Brust, wo auch die Ver
zweigungen der zweiten Nervengruppe enden, die aus dem verlängerten Mark
und den anschließenden Teilen des Nervensystems entspringen. Diese zweite
Gruppe steht im Dienste der Atmung.
Expression durch die mit der sinnlichen Wahrnehmung verbundenen Bewegungen 235
Die vergleichende Anatomie lehrt, nach B ell, daß die erste Nervengruppe bei
allen Tieren eine konstante Ausbreitung und Funktion hat. Er nennt diese Gruppe
"the original dass” . Die zweite Gruppe, "th e superadded or respiratory dass” ,
hat sich bei den Wirbeltieren allmählich im Zusammenhang mit den Funktionen
der Atmung entwickelt. Ein typisches Moment dieser Entwicklung ist das Ent
stehen des Diaphragmas bei den Säugetieren. Erst dann kann die Atmung in den
Dienst der Stimme und des Ausdrucks treten.
Die eigentümlich menschliche Entwicklung der-vorderen Gliedmaßen hat auf
den Bau der Mundteile Einfluß ausgeübt. Der Mund wurde dadurch vom Ergreifen
der Nahrung entlastet, und durch die nachfolgende Reduktion seines Aufbaus
konnte er der Stimme dienstbar gemacht werden. So erhielt der Mensch schmale
Kiefer und kleine Zähne und die Organe für die artikulierte Sprache. „D er A b
schnitt des Antlitzes, der den Kiefer und die Zähne umfaßt und bei den Tieren
ein überwiegendes Ausmaß hat, wodurch sie in der Lage sind, ihre Beute zu
ergreifen und zu zerreißen, wurde klein und zart. Der Oberteil des Antlitzes, der
auch die Gänge und Räume enthält, welche die Luft durchlassen und die dem
Sprachorgan hinzugefügt sind, wurde ausgedehnt und zu größerem Ausmaß er
hoben, um ihm ein charakteristisches Übergewicht zu geben."
B ell meinte, der anatomische Bau sei so sehr auf das spezifisch Menschliche
ausgerichtet, daß es beim Menschen Gesichtsmuskeln gebe, die beim Tiere fehlen;
z. B. den m. levator mentis, den „Hochm utsm uskel". Schon D arwin hat diese
Ansicht widerlegt.
Wenn auch die von B e l l gegebene Einteilung des Nervensystems unhaltbar
ist, so ist doch die Unterscheidung eines gesonderten emotionalen Reaktions-
Systems vom äußeren Reaktionssystem von Bedeutung für eine moderne Lehre
von den Ausdrucksbewegungen. In diesem emotionalen Reaktionssystem wäre
das Herz der Receptor, die Atmung der Effector.
Eine andere zu häufig vergessene Tatsache ist die Gleichheit des Ausdrucks bei
starker Atem not (das Antlitz eines Schnelläufers am Zielpunkt) und bei einem
"paroxysm of the passiöns” (Angst, Raserei).
10. Expression durch die mit der sinnlichen Wahrnehmung
verbundenen Bewegungen
Unsere sinnlicheil Wahrnehmungen kommen nicht durch ein passives Aufneh-
men von Eindrücken zustande. Besehen, Betasten, Lauschen, Schmecken, Be
schnuppern, all dies sind Formen von Aktivität, die mit charakteristischen, für das
Zustandekommen der Wahrnehmung erforderlichen Bewegungen verbunden sind.
Aber jede, eine Apperzeption begleitende Bewegung wird durch die besondere Art
der Situation, ihre affektive Tönung verwandelt. So können Mensch und Tier
mit weitgeöffneten Augen, mit zugekniffener Lidspalte, von der Seite oder „ver
stohlen", von unten her, auf etwas blicken. Dabei Kann nicht nur die Intensität der
Aufmerksamkeit sondern auch ihre Selektivität wechseln. So entstehen Züge
des Blickes, die man als Ausdruck der Gemütslage, aber auch als eine Beobachtungs
weise deuten kann. Das gilt sowohl für den von P iderit1 unterschiedenen sanften,
festen und unsicheren Blick, als auch für L erschs2Unterscheidung eines bestimmten
1 P id e r it : Grundzüge der Mimik und Physiognomik. Braunschweig 1858.
* L ersch , P h . : Gesicht und Seele, Grundlinien einer mimischen Diagnostik. München
1932,
236 Die Problematik der Ausdrucksbewegungen
vom unbestimmten oder diffusen Blick. Die Blickweise ist Ausdruck der Gemütslage,
die entweder eine mehr beständige Eigenschaft der Person oder durch die Situa«
tion bedingt ist. Im letzteren Fall können die kennzeichnenden Züge des Blickes
von optischen Eigentümlichkeiten des Wahrgenommenen oder von der inneren
Haltung zum eingebildeten oder wirklichen Objekt abhängen. Die Annahme Hegt
nahe, daß der Ausdrucksgehalt des Antlitzes sich zum Teil aus den die Sinnes
funktion unterstützenden Bewegungen entwickelte. Dieser Ansicht huldigen
schon P id erit und G i a t i q l e t 1,
Letzterer spricht von prosbolischm Bewegungen, die er von den eigentlichen
Ausdrucksbewegungen unterscheiden will. Als Beispiel nennt er das Runzeln der
Augenbrauen und die Verengerung der Lidspalten, wodurch das Gesichtsfeld
eingeengt wird, was die aufmerksame Betrachtung eines entfernten Gegenstandes
erleichtert. W ill man jedoch ein weites Feld überblicken, so werden die Augen
brauen hochgezogen und das Gesichtsfeld vergrößert. Diese zwei Formen von
Aufmerksamkeit gibt es nicht nur bei der optischen Wahrnehmung, sondern auch
beim Zuhören, eine »attention auditive ouverte« und eine »attention auditive
concentrée« (D umas S. 102). Auch hier werden die Augenbrauen hochgezogen
oder gerunzelt. Es wird also der Ausdruck visueller Aufmerksamkeit auf die
auditive übertragen,
D arw in glaubt das aus dem Überwiegen der optischen Wahrnehmung über
jede andere beim Menschen erklären zu müssen. Die meisten Verfasser, so auch
D umas , übernehmen diese Erklärung. Dieser weist darauf hin, daß offener und
geschlossener Ausdruck beim Riechen und Schmecken ebenso Vorkom m en.. . »ces
deux régimes faciaux d’expression ne sont que l'extension à tous les sens de deux
régimes visuels. . . « (S. 114).
Die Übertragung der mit der optischen Wahrnehmung verknüpften Bewegun
gen auf andere Sinneswahmehmungen beruht, wie mir scheint, nicht auf der
Häufigkeit optischer Eindrücke, sondern auf der Struktur unseres optischen
Raumes. Alles sich irgendwo, sei es um uns oder in uns Befindliche ist etwas,
dem wir unseren Blick zuwenden können. Zweifellos entwickeln sich die opti
schen Eigenschaften des Raumes durch die Erfahrung und sind nicht angeboren.
Diese Gestaltung und das Überwiegen des optischen über alle anderen, uns durch
die Sinnesorgane bekannten Räume, beruht nicht auf der Frequenz der visuellen
Wahrnehmung und also auf Assoziationen, sondern auf der gegenseitigen
Rangordnung der RäumHehkeiten.
Der optische Raum ist am vollkommensten : er hat nicht nur die größte Aus
dehnung und ermöglicht die feinste Lokalisation, es können auch die raschesten
und genauesten Richtungsänderungen der Aufmerksamkeit im wirkUchen und
vorgesteHten optischen Raum, entsprechend der Geschwindigkeit und Präzision
der Augenbewegungen, stattfinden. Der optische Raum kann denn auch den
taktilen und akustischen Raum umfassen, aber nicht umgekehrt. Das Fehlen der
Mimik von Augen und Stirn bei Blindgeborenen und .bald nach, der Geburt Er
blindeten, auf das D umas nach den Beobachtungen B irch -H irschfeud « hin-
weist, ist aus dem Fehlen der optischen Raumvorstellung erklärlich.
Der Übergang der die Sinneswahmehmung begleitenden Bewegungen zu Aus-
drucksbewegungen scheint sich beim RunzelnundHochziehen der Augenbrauenganz
1 Gratiolät : De la physionomie et des mouvements d ’expression. Paris 1866.
Expression durch die mit der sinnlichen Wahrnehmung verbundenen Bewegungen 237
einlach zu erklären. L ersch weist jedoch darauf hin, daß das Runzeln nicht nur
beim Fixieren eines Punktes im innerlich erlebten Raum, sondern auch in vielen
anderen Fällen vorkommt. Man sieht es bei Unlust und Anstrengung, gewohnheits
mäßig bei aggressiven und egozentrischen, auch wohl bei ängstlichen und unselb
ständigen Naturen. Runzeln ist Ausdruck dafür, daß man Schwierigkeiten nicht aus
dem Wege gehen will und kann. Tatsächlich gibt es unter all den oben genanntenUm-
ständen, auch den gewohnheitsmäßigen, eine Schwierigkeit, die überwunden werden
muß. Deshalb meint L ersch , das Runzeln drücke im allgemeinen eine „Einengung
der psychischen K raft" aus. Das Runzeln beim Fixieren ist davon nur ein besonderer
FaU. Zum Ausdruck kommt dann das Sich-Zusammenziehen auf einen Punkt und
dieser Ausdruck erscheint in dem Abschnitt des Antlitzes um die Augen herum,
weil dieses Zusammenziehen beim optischen Fixieren überwiegt. Daß gerade das
Runzeln sich einstellt, ist aus dem Aufbau der Muskulatur erklärlich.
Das Hochziehen der Augenbrauen, nach dem Urteil der meisten Forscher pri
mär ein Mittel zur optischen Apperzeption (D umas nennt den m. ffontalis einen
»muscle d’attention«), finden wir bei jeder passiven Aufmerksamkeit, dem
„Schauen", aber nicht beim aktiven „Beobachten" (L ersch). Jenes ist eine
Bereitschaft, die Eindrücke hereiriströmen zu lassen, eine rezeptive, diffuse Auf
merksamkeit. Deshalb sieht man den gleichen Ausdruck, wenn der Mensch über
ein weites Feld von Erscheinungen nachdenkt oder sich dieses vorstellt, und zwar
deshalb, weil er (wie schon P iderit bemerkte) sich zum Inneren so einstellt, als ob
es sinnlich vorhanden wäre1.
Das Hochziehen der Augenbrauen drückt also das Bewußtsein, freiwillig oder
unfreiwillig affiziert zu werden, ein Sich-Öffnen oder Geöffnet-Werden aus. Man
findet es denn auch habituell bei passiv abwartenden und aktiv interessierten
Charakteren, bei schüchtem-zweifeJnden und smnend-nachdenklicheii Naturen.
Als Ausgleich eines Mangels an geistigen Fähigkeiten trifft man die horizontalen
Stirnfalten auch bei Menschen mit geringer intellektueller Entwicklung, einem
starren VorsteHunpleben, mangelhaftem Anpassungsvermögen oder emotionaler
Labilität.
Im Zusammenhangmit den schon erwähnten Beobachtungen über die Reaktionen
der Blinden ist die Mitteilung D arwin « interessant, daß die im Alter von zwei Jahren
erblindete Laura Bridgeman bei Verlegenheit hilflos die Schultern und auch die
Augenbrauen hochzog. Auch hier also der Ausdruck eines Sich-Öffnens zur
Aufnahme von Vorstellungen, welche die Verlegenheit meistern könnten. Fehlt
das Hochziehen der Augenbrauen bei Blindgeborenen wohl ganz oder fehlt es nur
bei apperzeptiver Einstellung ?
Die Expression durch m it Sinneswahmehmungen verknüpfte Bewegungen
hat P iderit zuerst anhand des Schmeckens von Bitter und Süß richtig beobachtet:
W ündt ist ihm darin gefolgt, und beide beschreiben die Mundstellungen beim
Schmecken dieser Grundqualitäten (W undt auch von Sauer). K. B uhler nennt
diese Stellungen die „Verkostungsattitüden". Beim Schmecken von Süß nimmt
das Gesicht den Ausdruck des Wohlbehagens an und werden die Lippen vor-
gestreckt. Die Zungenspitze wird mit den Lippen in Berührung gebracht, und es
kommt zu schwachen Saugbewegungen. Kommt Saures in den Mund, dann verbrei
tert dieser sich, so daß Lippen und Wangen von den lateralen Zungenrändem ent
feint werden. Beim bitteren Geschmack wird der Gaumen aufgezogen und die Zunge
herabgedrückt. Diese Schmeckbewegungen and bei allen Menschen die gleichen
und treten schon beim Kleinkinde spontan auf (auch bei jungen Affen), Bei V or
stellungen, die mit den drei Geschmacksqualitäten verwandt sind, bei einer
bitteren Antwort, bei einer süßen Erinnerung, einem herben Gedanken sollen die
entsprechenden Ausdrucksbewegungen auftreten.
Zahirpirhe Gefühle haben Züge, die man nur durch Geschmacksqualitäten
andeuten kann, was sich auch in den Ausdrucksbewegungen bemerkbar macht.
Dann entsteht ein bitteres Lächeln, ein süßes Genießen, etwa von Musik,
In der Theorie P i d e r it * und W u n d t » liegt ein Kern von Wahrheit, aber es ist
unmöglich, alle mimischen Ausdruckserscheinungen auf eine Übertragung (trans-
fer) sinnlicher Qualitäten zurückzuführen. Das beruht darauf, daß die zum Aus
druck kommende Gemütslage neben sensorischen auch dynamische Wesenszüge
hat.
11, Expression durch Haltung
In seiner vorzüglichen Studie1 über die Analyse der Ausdrucksbewegungen
teilte S t r e h l e die allgemeinen Züge der einzelnen Bewegungen und Haltungen
in zwei Gruppen, nach dynamischen und nach figuralcn Merkmalen ein. Zu jener
gehören Variationen in Geschwindigkeit und Spannung. Die figuralen Merkmale
sind Umfang, Richtung und Form der Bewegung. Von allen diesen Zügen kann
man nur die Richtung als eine Beziehung zur Außenwelt bestimmen, die daher
auch in «»wer Haltung zur EndsteUung einer expressiven Bewegung oder Anfangs
phase einer Handlung werden kann,
In der Haltung kann sich die nach innen oder außen gerichtete Bewegungs
tendenz ausdrücken. Bei Freude gerät man „außer sich“ , es erweitert sich der
Brustkorb, die Arme Werden ausgestreckt, ausgebreitet oder gehoben. Es dehnt
und streckt sich auch die Gestalt. Das Umgekehrte geschieht bei Kummer. Dann
„duckt man sich", der Brustkorb fällt ein, der K opf wird zwischen die Schultern
gezogen, kurz, die Berührung mit der Außenwelt wird durch die Haltung so gering
wie möglich gemacht. Der Mensch schrumpft zusammen vor Kummer, aber er
schwillt an vor Freude. Das gilt auch für die Gesichtszüge.
Außer einem nach allen Richtungen sich äußernden Volum Verhältnis zur
Umgebung kann man die Ausrichtung auf eine Ebene, auf das oben, unten, vom ,
hinten oder seitwärts Gelegene, in der Haltung ausdrücken. W ir wiesen schon
auf die „Bezugswendungen" und auf die asymmetrischen Haltungen beim
Stehen und Sitzen hin.
Die Haltungen des ganzen Körpers als Äußerungen der intentionalen Einstellung
auf einen bestimmten Raumabschnitt bedürfen keiner anderen Erklärung als der
für die Ausrichtung der Handlungen gegebenen.
. Das Spezifische der Ausdruckshaltungen jedoch, die partielle Körperbewegung,
durch die der Kopf, die Augen, die Hand eine bestimmte Stellung einnehmen,
verdient eine nähere Betrachtung.
1 Strehle, H .: Analyse des Gebarens (Erforschung des Ausdrucks der Körperbewegun
gen). Berlin 193S.
Expression durch Haltung 239
1 Storch, E .: Muskelfunktion und Bewußtsein (Eine Studie zum Mechanismus der Wahr
nehmungen). Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. X . Wiesbaden 1901.
1 Nur der Ausdruck von Freude oder Kummer (Lachen und Weinen) ist unabhängig von
der Situation zu verstehen. Von den meisten anderen Haltungen werden die verschieden
artigsten Erklärungen gegeben. Einstimmig ist das Urteil über die Darstellung der Äußerun
gen heftiger, einfacher Emotionen (Entsetzen, W ut). Vgl. auch L andis (Studies in expressio-
nal relations. J. o f Comp. Psychol. 4 (1924)], der Versuchspersonen Ausdrucksphotographien
zur Beurteilung gab (z. B. die Gesichtszüge beim Hören von Jazzmusik. Lesen in der Bibel,
Multiplizieren, Töten einer Ratte, Riechen, usw.) und zum Ergebnis kom m t: "There is no
expression typically associated with any verbal report” .
240 Die Problematik der Ausdruckabewegungen
die Endhaltung mit erhobener Hand, die Fliehe aufwärts gerichtet, sondern
der dynamische Bewegungsvollzug drückt das Flehende in seinen qualitativen
Variationen aus.
zeigen. Das gilt für das Darreichen der rechten Hand als Zeichen der Begrüßung,
das Sich-Verbeugen, das andächtige Niederknien und ohne Zweifel sogar für das
Küssen, das vielen Naturvölkern völlig unbekannt ist.
Die antike Gebetshaltung mit erhobenen Armen nad geöffneten Händen ist
ein echter Ausdruck — sagt K l a g e s — , aber das betende Falten der Hände ist die
Darstellung eines Gefangenen, der seine Hände dem Sieger darbietet. Es ist ein
Zeichen der Demut, nicht ihr Ausdruck. So ist das Küssen nicht stets Ausdruck
der Liebe, das Knien nicht immer Ausdruck der Andacht. Dagegen hat es un
mittelbare Ausdrucksbedeutung, wenn beim Küssen die meisten Menschen die Augen
schließen, beim Niederknien sie entweder senken oder aber unwillkürlich nach oben
richten.
Der ausgesprochene Gegensatz, den K l a g e s zwischen angeborenen und erwor
benen Bewegungen sieht, darf uns nicht aus dein Auge verlieren lassen, daß einer
seits angeborene Reaktionen eine gewisse Entwicklung durchmachen, eine Um
gestaltung durch die Erfahrung, während andererseits die erworbenen Bewegungs
weisen zu einer zweiten Natur werden können und dann ebensosehr mit dem „L e
ben" und der „Beseelung" Zusammenhängen wie die erblichen, arttypischen
Instinkte und Ausdruckserscheinungen. Die meisten Abwehrbewegungen (z. B.
das von K l a g e s erwähnte Ausstrecken der Hände beim Fallen) sind sicher er
worben und traditionell verschieden nach Zeiten und Völkern, aber sie entwickeln
sich aus einem allgemeinen Schreckensausdruck und einem allgemeinen instinktiven
Selbstschutz. Da sie zudem an die bedrohliche Gefahrensituation gebunden blei
ben, behalten sie einen überwiegenden Ausdruckscharakter, so daß sie in funktio
nellem Sinne mit echten Ausdrucksbewegungen identisch sind.
Das Ausschnauben der Luft oder das Ausstrecken der Zunge bei Verachtung
sind darstellende Bewegungen, die sinnbildlich vorstellen, daß wir den betreffen
den als einen unangenehmen D uft hinwegblasen, ihn widerlich finden und aus
spucken möchten. Diese Gebärden können jetzt als Ausdruck aufgefaßt werden.
Denn obwohl sie willkürlich vollzogen werden, und man mit der Bewegung etwas
„m eint“ , spiegeln sie doch deutlich die Form der Gemütsbewegung.
In der Erfahrung über unsere Mitmenschen und die sozialethischen Zusammen
hänge bilden sich viele feine Unterscheidungen über Charaktere und ihre W erte,
Taten und Absichten. Die diesbezüglichen Urteile sind weniger im Denken als im
Fühlen begründet. Dasselbe gilt für die darstellenden Gebärden, die sich zugleich
mit diesen Werturteilen entwickeln.
Begrifflich kan n m au Ausdruck und Darstellung streng unterscheiden, da es
einen Wesensuntersehied zwischen Leben und Geist, zwischen anima sensitiva und
anima rationalis gibt. Darin hat K l a g e s rech t. Aber das Nichtbeachten der Einheit
von Geist und Leben im Menschen ist irreführend. Ausdrücken ist zugleich
Darstellen, und umgekehrt ist jede Gebärde auch eine Ausdrueksbewegung.
Der Geist ist lebendig, dpnn der W ille ist — so sahen wir — bildend, und wir fügen
hinzu: der Verstand erfüllt das Gemüt m it neuen, differenzierten Gefühlen, Weisen
des Bewegt-Werdens, die sich nicht in den wenigen angeborenen expressiven
Haltungen und Bewegungen erschöpfend äußern können, sondern die dazu der
differenzierten Gebärden bedürfen.
Gewiß, der Mensch ist auch ein Wesen, das lügen und also in seinen Äußerun
gen unecht sein kann. Seine Gebärden können sich zu bloßen Formen entleeren,
Buytendijk, Haltung und Bewegung 16
242 Die Problematik der Ausdrucksbewcgungcn
voller Absichten und bar der inneren Bewegtheit. Dann werden sie zu konventio
nellen Mitteilungen ohne W orte. Dann fehlt das „Gleichnis“ , die qualitative
Identität (G eiger ) mit dem Bezeichneten, und die Gebärden werden zu signifika
tiven Zeichen (Lersch ) und indikativen Zeichen (K afka ).
Die Verbindung von Ausdruck und Darstellung kennen wir auch in der
menschlichen Sprache. W ir können hier die ausgedehnte Problematik von Sprache
und Sprechen nicht behandeln, nicht einmal andeutend skizzieren. W ir wollen nur
darauf hinweisen, daß das Sprechen die lebendige Mitte zwischen den beiden
Grundkategorien motorischer Äußerungen, Handlung und Ausdruck, bildet.
Das wurde von P lessner und mir näher dargelegt. Auf diese Abhandlung und
auf eine Publikation über das Entstehen vokaler Äußerungen bei Tier und Mensch
dürfen wir verweisen1. Wie schon von H umboldt zeigte, hat die Sprache eine
W urzel im Gemütsleben, doch ist sie ihrem Wesen nach kein Ausdruck der
Gemütsbewegungen, sondern ihre Mitteilung, eventuell ihre Darstellung.
Zum Vergleich der Sprache mit Handlung und Ausdruck ist die Bemerkung
G r ü n b a u m s interessant, wonach jede Handlung schon etwas vom Sprechen in sich
trägt*. Das Gerichtet-Sein auf etwas zeigt schon, daß selbst eine prim itive
vitale Bewegung nicht als eine Erscheinung für sich steht sondern etwas anderes
vertritt. Man greift nicht nach einem Apfel um zu greifen, sondern um den A pfel
zu besitzen. Der Organismus ist nicht auf die Motorik ausgerichtet, sondern
mittels dieser auf das Ergebnis einer Handlung. Nun kann man auch sagen, die
Begierde drücke sich in der Weise des Greifens aus, wie die Gemütsbewegung in der
Weise des Sprechens. Wenn sich auch das Sprechen sowohl von Handlung als
auch von Gebärde und Ausdrucksbewegung unterscheidet, so offenbart es dennoch
von jedem dieser motorischen Phänomene einige funktionelle Züge.
Stets jedoch ist es nur das Höhere, das das Niedere in sich aufnehmen kann,
und so schließen Gebärde und Sprechen den Ausdruck in sich ein. Das Darstellen,
ist und bleibt eine menschliche Funktion, die nie aus der Ausdrucksbewegung
entstanden sein kann. Ein Hund, der eine Gebärde machen, z. B. auf etwas
zeigen oder einem zublinzeln könnte, wäre ein verzauberter Mensch.
So wie die affektive Erregung zunimmt, verstärkt sich auch die Des
organisation der Motorik, bis ein Stadium von Vnbeherrschtheit erreicht wird und
man „ganz und gar verrückt ist", nicht mehr weiß, was man tut, „den K opf
verloren hat", rasend und ratlos ist. Nicht die Qualität, sondern die Intensität der
Emotion drückt sich in der motorischen Desorganisation aus. Bei Jedem primären
Affekt, bei Angst, W ut, Kummer und Freude kann ein derartiger Zustand eintreten,
aber am leichtesten führen die beiden erstgenannten Emotionen zur Störung der
Motorik. Das ist in einem Maße der Fall, daß es eine besondere Ursache dafür
zu geben scheint, die in der Art der Gemütsbewegung bei Angst und W ut liegen muß.
Bevor wir dem nachgehen, müssen wir zunächst die anscheinend so einfache
Erklärung besprechen, die sich uns vom physiologischen Standpunkt aus auf-
drängt. Die Desorganisation der Bewegungen könnte auf dem Zustand des
Zentralnervensystems beruhen, das durch die emotionalen Reize überströmt wird.
Hierdurch könnte die Verteilung der Reizbarkeit, die die Grundlage geordneter
Bewegung darstellt, gestört werden.
Eine solche Erklärung finden wir in den meisten theoretischen Betrachtungen
über jene sinnlose motorische Wirkung der Emotionen, die wir als Zittern kennen.
Schon D escartes1nannte zwei Ursachen für diese allgemeinste Formmotorischer
Desorganisation bei Gemütsbewegung, die wir in der jetzt üblichen bildhaften
Sprache bezüglich des zentralen „Mechanismus" eine verstärkte und eine ver
ringerte Reizaussendung zu den motorischen Vorderhomzellen nennen müßten. Es
ist interessant, daß diese Doppelursache für das emotionale Zittern auch heute, drei
Jahrhunderte nach D escartes, aus grundsätzlich gleichen Gründen immer noch an
genommen wird. Die Emotionen m üßten— wie man sich jetzt ausdrückt—in tonische
(Wut und Freude) und atonische (Angst und Kummer) eingeteilt werden, und bei
beiden Gruppen käme das Zittern vor. So schrieb A ch arb 2 : »On a beaucoup discuté,
pour savoir si le tremblement était un phénomène paralytique ou spasmodique.
En réalité, il semble pouvoir être lié tantôt à un état de dépression, tantôt à un état
d’excitation des centres nerveux.« Mit Recht bemerkt D umas, dem wir dieses
Zitat entnehmen, dazu, daß wir seit D escartes in unserer Erklärung kaum Fort
schritte gemacht haben. Das verwundert uns nicht. Denn die moderne Wissen
schaft möchte ja die Weise erklären, auf die eine gesteigerte oder verringerte Reiz
aussendung zu den Muskeln durch Emotion zustande komme. Das muß uns jedoch
als Prozeß ebenso dunkel bleiben wie es das für D escartes war, da das Rätsel der
psychologischen Wechselwirkung jeden Erklärungsversuch fruchtlos macht. Es
verhütt uns nicht zur Einsicht in den Mechanismus des emotionalen Zitterns
wenn L apicque »pense que le thalamus réglant, à l'ordinaire, les chronaxies des
1 D escartbs : Les Passions de l ’Ame. 1650. art. 118. »Les tremblements ont deux
diverses causes: l'une qu'il vient quelquefois trop peu d'esprits du cerveau dans les nerfs, et
l'autre, qu’ il en vient quelquefois trop . . . . la première paraît en la tristesse et en la peur,
comme aussi bien lorsqu'on tremble de froid, car ces passions peuvent, aussi que la froideur de
l'eau, tellement épaisser le sang qu'il ne fournisse pas assez d ’esprits au cerveau pour en
envoyer dans les nerfs. L ’autre cause paraît souvent en ceux qui désirent ardemment quelque
chose et en ceux qui sont fort émus de colère, comme aussi en ceux qui sont ivres, car ses
deux passions, aussi bien que le vin, font aller quelquefois tant d ’esprits dans le cerveau
qu'ils ne peuvent pas etre régulièrement conduits de là dans les muscles.«
* A chard : (Art. : Tremblement). Nouveau Traité de Médicine et de thérapeutique de
A. Gilbert et L. T hoinot : Semilogie nerveuse, t. X X X .I {zit. von D umas)
16*
244 Die Problematik der Ausdmcksbewegungcn
centres neuromoteurs de telle façon que les mouvements soient assurés, la pertur
bation thalamique qui correspond aux émotions produit dans les centres neuro-
moteurs un dérèglement des chronaxies, de telle sorte que les centres psychom oteurs
n’exerceraient plus leurs actions que sur des centres neuromoteurs dont les
chronaxies sont déréglées«.
Das Zittern an sich könnte als Prozeß vielleicht zu begreifen sein, aber nach
Hpm Zusammenhang mit den Gemütsbewegungen kann sinnvoll nur vom funktio
neilen Standpunkt aus gefragt werden. Auch wenn man die Desorganisation der
Motorik bei Emotionen (u. a. das Zittern) eine Reaktion auf die erlebten Gefühle
nennt, bleibt die Frage offeu, was dabei reagiert : das Nervensystem oder die Person.
Insofern die Affekte jedoch als Erregung zu kennzeichnen sind, ist das Zittern m ehr
als nur eine Reaktion und hat es einen expressiven Sinn. Das Zittern entsteht
ja unwillkürlich und zugleich mit der Aufwallung des Gefühls, mit dem es auf
dieselbe Weise verknüpft zu sein scheint wie das Erröten mit der Scham.
D och besteht zwischen beiden insofern ein Unterschied, als das Zittern un
spezifisch, das Erröten aber für das Schamgefühl charakteristisch ist. E m eut
stehen wir vor der Schwierigkeit einer funktionalen Unterscheidung von em otio
nalem Ausdruck und emotionaler Reaktion. Obwohl diese Phänomene begrifflich
wohl zu unterscheiden sind, ist es doch nur in manchen Fällen möglich, eine
konkrete Erscheinung als das eine oder das andere wiederzuerkennen. In dem
Maße wie sich eine Situation entwickelt und eine Regung wächst, sehen w ir
reaktive Funktionen mit echtem Ausdruck von Aufwallung und Stimmung sich
einstellen.
Ein junger Hund, der von seinem Freßtrog weggedrängt wird, beginnt sich zu
widersetzen, die Beine steif zu halten (eine reaktive Funktion) ; wenn die Störung
zunimmt und anhält, verstärkt rieh die Versteifungsinnervation. Auch die Atm ung
verkrampft rieh, und durch die Spannung der Stimmritze entsteht ein Knurren
(eine affektive Äußerung). Zugleich stellt sich nun oft das Zittern ein, zuweilen
auch ein Zähnefletschen (eine Ausdrucksbewegung). Setzt man den Angriff fort,
so folgt meistens ein aggressiver Ausfall, ein Biß nach der Hand (eine Handlung).
Bei diesem Ausfall geht die versteifte Haltung in eine schnelle Bewegung über, und
das Zittern verschwindet.
Zu welchen motorischen Äußerungen soll man dieses Zittern rechnen ? Das
erste motorische Phänomen, das Steifhalten der Beine, ist eine zweckmäßige
Reaktion. Man wird vielleicht fragen, ob es eine Reaktion auf die objektive Stö
rung oder auf das Gefühl, gestört zu werden, ist. Diese Alternative entspricht
nicht der Sachlage, da erst von einer Störung oder Behinderung gesprochen werden
kann, insofern als wir es mit einem reagierenden Tierzu tun haben, das die Situation
auch erlebt. Das Zittern ist eine Folge der Reaktion, so daß wir es besser eine
abgeleitete Ausdrucksbewegung nennen können. Es ist eine Folge der Ohnmacht
durch Versteifung oder Erschlaffung.
In jeder Desorganisation der Motorik zeigt sich das machtlose Überwältigtsein
durch ein Gefühl, das die Grenzen der repräsentativen Ausdrucksmöglichkeiten
überschreitet. Bei „rasender" W ut und beim „Tollwerden" vor Freude sind die
ungeordneten Bewegungen nicht§ anderes als eine maßlose Expansion, ein „A us
bruch", bei W ut verbunden mit einer blinden Aggressions-Tendenz. Im Falle einer
„ratlosen" Angst und eines „vernichtenden" Schmerzes sind die sinnlosen
Expression durch Kapitulation 245
Bewegungen als diffuser Fluchtversuch zu deuten. Die Erfahrung lehrt, daß es sich
nicht uro eine Reizausstrahlung oder Koordinationsstörung handelt. W enn man
v or W ut aufbraust und um sich schlägt, vor Freude jubelt und hüpft, vor Schreck
gellend schreit und aufspringt, sich vor Kummer die Haare rauft, so sind das kerne
schlecht koordinierten Bewegungen, aber sie sind sinnlos hinsichtlich der Lage. Am
besten sind sie der allgemein bekannten und besser beschriebenen Desorganisation
der Motorik bei Schmerz vergleichbar.
Bei Schmerz stellt sich eine doppelte Reaktion ein: eine diffuse Fluchtreak-
tion und ohnmächtiger Widerstand, die um so stärker sind, je mehr man „außer
sich" vor Schmerz ist. Damit meint man den Verlust der Selbstbeherrschung,
indem der Schmerz in uns zu einer autonomen Macht geworden ist, der wir uns
widersetzen oder preisgeben. Auch Gemütsbewegungen können zu solchen auto
nomen Mächten in uns werden. Dann besitzen nicht wir das Gefühl, sondern es
besitzt uns. Bei überwältigender Freude lassen wir uns im Strom des Glücksgefühls
mitführen und geben unseren vernünftigen Willen auf. Im Griffe der Angst erleben
wir diese als eine dämonische Macht, der wir wie einem uns überall verfolgenden
Schatten nicht entfliehen können.
Andernorts bemerkte ich über den Schmerz, er führe bei großer Heftigkeit
zu einer „W ildheit" und Aufregung", die zeige, daß sich etwas „einen Ausweg
sucht", etwas, das das Subjekt nicht „loswerden" kann. Das gilt allgemein
auch für die Fälle, in denen ein Affekt zu einer motorischen Desorganisation
führt, In gewissem Sinne ist die Gemütsbewegung dann „schm erzlich" ge
worden, wenigstens störend durch ihre Heftigkeit, selbst dann, wenn sie an sich
lustvoll ist.
Einmal zur Einsicht in d « i Z iisa mmenhang zwischen heftiger Em otion und
Schmerzempfindung gekommen, begreifen wir die motorische Desorganisation
besser. W ir verstehen dann, daß die Unordnung der Bewegungen eigentlich ein
zerrüttetes Verhaken ist, jedenfalls keine Koordinationsstörung, die man aus
einer Reizausstrahlung oder aus einer anderen Störung des normalen Prozesses
im Nervensystem erklären könnte.
Die desorganisierte Motorik entwickelt sich aus einer allgemeinen Verhaltens
weise, die von der Person selbst abhingt, wie unfrei sie auch durch den über
wältigenden Affekt sei. Ihr Charakter bestimmt noch, was sie tut, wenn
sie außer sich ist: entfliehen, sich wehren oder sich gehen lassen. Aber das
Gellen und Schreien, das Rennen und H erum fuchtdn m it den Armen usw. sind
zugleich Äußerungen eines machtlosen Widerstandes, einer diffusen Flucht, einer
maßlosen Erregung. So ist das ungeordnete Verhalten Ausdruck eines übermäch
tig gewordenen Gefühls, einer quälenden Verfolgung durch eine angsterregende
Bedrohung, einer verzehrenden Flamme in der W ut, eines nagenden Kummers oder
des Wirbelrausches der Freude1.
von Handlungen oder deren „Gleichnisse", die, wie übertrieben und zusammen
hangslos sie bei heftigen Regungen auch sein mögen, dennoch einen Vergleich m it
anderen Verhaltensweisen von Mensch und Tier erlauben. Die desorganisierte B e
wegung ist ja eine Selbstbewegung; es geschieht nicht nur etwas, sondern es w ird
auch etwas getan.
Es sind keine „Autom atism en", wenn man vor Freude hüpft, vor W ut auf den
Tisch schlägt, sich vor Angst in den Finger beißt oder sich vor Kummer an den
K opf faßt. Der Mensch tut etwas in seiner und durch seine Freude, W ut, Angst oder
Kummer, aber er könnte auch etwas anderes tun. Was er aber auch tun m ag, stets
bleibt der expressive Zug seines Tuns erhalten, solange das sich tbare leibliche Gesche -
hen in dynamischer Hinsicht der Aufregung, Aufwallung, Rührung entspricht.
Die oben schon erwähnten vegetativen Wirkungen der Emotionen sind dagegen
keine Formen personhafter Aktivität und können also nicht als Reaktion auf das
Gefühl oder als Ausdruck des Gefühls begriffen werden. Wenn bei Angst die
Pupillen sich erweitern und der Herzschlag beschleunigt wird, dann tut der ängst
liche Mensch selbst nichts, sondern in ihm geschieht etwas. Dieses Geschehen ist,
so sahen wir, mit der Art des Affektes verknüpft. Es kann sogar ein zweckm äßiges
Geschehen sein, Teilmoment der allgemeinen Vorbereitung einer späteren A k tivi
tät. Aber es vollzieht sich ohne Mitwirkung der eigentlichen Person, es liegt
außerhalb der Grenzen des Intentionalen und Erlebbaren, also auch außerhalb der
Grenzen des menschlichen Verhaltens.
Sämtliche Handlungen, Ausdrucksbewegungen, Gebärden, Gesten und sogar
die motorische Desorganisation bei heftigen Affekten liegen jedoch innerhalb der
Grenzen menschlichen Verhaltens, weil sie persönliche Antworten auf Situationen
darstellen, Antworten, die selbst wenn sie an sich zwecklos sind, durch ihre
Relation zum menschlichen Dasein noch verstanden werden können.
Lachen und Weinen, zwei spezifisch menschliche, bei keinem Tier vorkommende1
motorische Äußerungen hat man wegen ihrer unverkennbaren Verknüpfung m it den
Gefühlen, ihrer Unersetzlichkeit fihres unmittelbaren und unwillkürlichenAuftra te n «
bedenkenlos zu den Ausdrucksbewegungen gerechnet. Sie gehörten also zum Bereich
der Verhaltensweisen. Man hat jedoch— wie P l i s s n e b in seiner bahnbrechenden S t u
die* gezeigt hat— nicht genügend beachtet, daß bei Lachen und Weinen eine sym boli
sche Repräsentation fehlt, die doch bei jedem echten Gefühlsauscbruck aufweisbar ist.
1 Ein junger Schimpanse reagiert auf Kitzeln mit Kichern (oder Grinsen). Das ist — wie
auch die entsprechende Äußerung bei einem Säugling — nicht dem Lachen des Menschen
vergleichbar. Beim Tier ist das Kichern bei Kitzeln eine zwangsläufige Reaktion, die in ihrem
sakkadierten Verlauf eine Reproduktion der dynamischen Empfindungsqualität selbst ist.
Beim Kichern entwickelt sich beim Kind eine Art Lacher, die von dem aus dem Lächeln sieh
entwickelnden Lachen unterschieden werden muß. Beim anthropoiden Affen gibt es weder
ein Lächeln noch eine Weiterentwicklung des Kichems. W ohl erwähnt K ellog (The Ape and
the Child), daß der kleine Schimpanse auch auf eine Kitzeldrohung kichert und dies sogar hin
und wieder in einer Spielsituation mit der doppelsinnigen ‘ Struktur einer ungefährlichen
Bedrohung, einem Äquivalent des Kitzelns. Wenn der Schimpanse älter wird, verschwindet
das Kichern ganz! Es bleibt also richtig, daß das Tier nicht lacht (und nicht weint), aber bei
den höchsten Tieren besteht in der Jugend eine Existenzweise und ein Verhältnis zur eigenen
Körperlichkeit, die eine Reaktion wie das Kichern ermöglicht. Diese ist jedoch keine E x
pression durch Kapitulation.
* P lessner, H .: Lachen und Weinen (eine Untersuchung nach den Grenzen mensch
lichen Verhaltens). Bern 1950.
Expression durch Kapitulation 247
1 „Diese Position, Mitte und an der Peripherie zugleich zu sein, verdient den Namen der
Exzentrizität." (S. 172.)
Expression durch Kapitulation 249
Das Tier lebt in der Einheit seiner Leiblichkeit in und mit der Umwelt. Es
könnte sich aus dieser Bindung nie befreien und nichts, weder die Dinge, noch sein
eigener Körper werden ihm zum Gegenstände, zu etwas, dem es als Subjekt gegen
über, also außerhalb steht. Deshalb gibt es für das Tier nur zwei Arten von Situa
tionen: solche, die zu beantworten und solche, die nicht zu beantworten sind. Jene
machen den Bereich des Verhaltens aus, diese sind Katastrophen, Bedrohungen,
auf die keine Antwort möglich ist.
Für den Menschen gibt es eine dritte Art von Situationen, die zwischen den
beiden anderen hegen. Sie sind nicht zu beantworten, weil sie zu doppelsinnig
oder weil sie so aufdringlich, ergreifend sind, daß der „Raum'* für eine Reaktion
fehlt. Dann wird der Mensch desorganisiert, nicht als Person, sondern in seinem
Verhältnis zum Leibe. Er bleibt, was er war, und er weiß das. Das normale Gleich
gewicht zwischen ,,Ein-Körper-Sein' ‘ und „Einen-Körper-H aben" ist jedoch
gestört, und damit verliert der Mensch seine Beherrschung, emanzipiert sich der
Körper als ein selbständiges Instrument1.
Weshalb tritt nun aber 1-achen oder W einen auf ? Man könnte meinen, das wäre
funktionell sinnlos und Sache der physiologischen Prozesse,
Im Gegensatz von Lachen und W einen spiegelt sich nach der Ansicht P l e s s -
ners nicht etwa der Gegensatz von Freude und Kummer, Lust und Unlust,
sondern der jener zwei Verhaltensweisen, in denen der Mensch an die Grenze seiner
Möglichkeit zu sinnvollen Reaktionen geraten.kann. Für das Lachen sind die
Offenheit des Antlitzes und die Unmittelbarkeit des Beginns bezeichnend.
Das Weinen dagegen ist charakterisiert durch Geschlossenheit und all
mählichen Beginn.
Zur Erklärung dieser Ausdruckstypen weist Plessner darauf hin, daß das
Lachen sich erst vollständig entwickelt, wenn man mit anderen zusammen lachen.
kann2. In der Einsamkeit kann der Mensch wohl einen Augenblick lächeln oder
Auflachen, aber es erkaltet und verstummt, wenn die Wechselwirkung m it anderen
fehlt. Das Weinen dagegen ist eine Reaktion, welche die Einsamkeit sucht. Der
Kummer eines anderen kann für uns wohl Anlaß zum Weinen sein, aber die A b
geschlossenheit zeigt den subjektiven Charakter des Kummers, während das
Lächerliche von. uns als objektiv lachenerregend erfahren wird, so daß wir von
seiner W irkung auch auf andere Menschen überzeugt sind,
Lachen und Weinen sind keineswegs sinnlos, aber sie spiegeln keinen „Trieb
antrieb“ * (d. h. einen Bewegungsanlaß, in dem sich ein Antrieb meldet), sondern
eine spezifisch menschliche, geistige Beziehung der Person zu sich selbst und zur
Welt,
1 „Irgendein Automatismus beginnt zu spielen für den Menschen, der als seiner ganzen
Existenz mächtige, beherrschte Person ausgespielt hat.“ (S. 173.)
1 Vorzüglich hat B ergson bemerkt, daß der Ausdruck des Lachens mit der sozialen
Funktion zusammenhängt. B as gilt auch für den charakteristischen Laut des offenen Lachens.
»II semble que le rire ait bien besoin d’ un écho. Ecoutez-le bien ; ce n'est pas un son articulé,
net, terminé, c ’est quelque chose qui voudrait se prolonger en se répercutant de proche en
proche, quelque chose qui commence par un éclat pour se continuer par des roulements, ainsi
que le-tonnerre dans la montagne.« (Le Rire. Paris. 1900. S. 16).
* Deshalb, kann man Lachen und Weinen auf keine Weise mit einer Handlung in Zu
sammenhang bringen. Sie können weder aus ihr entstehen, wie D ahwin meinte, noch eine
„Initial-Handlung“ sein, noch auch als Symbol oder Gleichnis einer Handlung gedeutet werden.
250 Die Problematik der Ausdrucksbewegu ngeti
Was -wir in der Peripherie beim Ausdruck eines Affekts erfassen, ist die ge
richtete Spannung der Bewegungen1. Ihre Wahrnehmung besteht jedoch nicht in
einem passiven Aufnehmen von Eindrücken, sondern hat den Charakter einer E in
ladung oder Aufforderung zur Aktivität. Eine wahrgenommene Bewegung w ird
unter funktionellen Verhältnissen primär nicht als eine „Gegebenheit", sondern als
eine „Aufforderung“ erlebt (Kafka ). Deshalb sind Affekt und Ausdrucksbewe
gung nicht kausal, sondern ko-existential verbunden. In Übereinstimmung m it
K lages führt K afka denn auch aus, daß beim Mitvollzug einer Bewegung der
gleiche Affekt erlebt wird, den sie bei spontanem Bewegungsvollzug ausdrückt.
Den AusdrucksgehaJt der mimischen Bewegungen, Gebärden und expressiven
Haltungen können wir nur entdecken, wenn die Möglichkeit eines sympathischen
Mit-Erlebens des Ausgedrückten gegeben ist. W ir (auch das Kind und das Tim:)
erfahren in der Wahrnehmung einer Bewegung ihren „Aufforderungscharakter".
Sie lockt eine Mit- oder Gegenbewegung hervor. Die Nachahmung beruht auf dem
durch die Bewegungswahrnehmung hervorgemfenen Drang, verursacht durch die
innere (virtuelle) Bewegung des Wahmehmens. Durch die Nachahmung entsteht
ein ideosympathisches Miterleben, bei dem der Beobachter nur die Intention zur
Bewegung zu erleben braucht, um in sich selbst das in der wahrgenommenen Be
wegung ausgedrückte Gefühl zu erfahren. Von einem Verstehen des Ausdrucks
ist dann noch nicht die Rede. Das setzt ein heterosympathisches Miterleben vor
aus, in dem die bemerkte Gemütsbewegung bewußt dem bewegenden Menschen
oder Tier zugeschrieben wird. Dies ist erst möglich, wenn wir Mensch und Tier
als beseelte Wesen erkennen, so daß ein Subjekt als Träger des Ausdrucksbildes
wahrgenommen wird. Nicht durch ein Verstandesurteil, sondern durch unm ittel
bares Erfahren des Anderen als fühlend-ausdrückendes Wesen kann das K ind
heterosympathisch imterleben. Das kann es noch, bevor es sich reflexi v den eigenen
und den Gemütsregungen der anderen gegenübergestellt hat, jedoch erat nachdem
es die emotionale Einwirkung von Ausdrucksbewegungen erfahren hat.
Letzteres geschieht auf zwei W eisen: ideosympathisch beim Sehen des Aus
drucks beim Anderen und autosympathisch durch die Rückwirkung des eigenen
Ausdrucks auf das Gefühl*. Das Kind weint, weil es Kummer hat, aber es erlebt
1 Unerläßlich für das Auftreten von Ausdrucksbewegungen sind diese Eindrücke aus der
Peripherie nicht. Schon Sherrington betonte dies unter Hinweis auf das Fortbestehen emotio
naler Äußerungen bei einem Hunde nach Durchtrennung des Rückenmarks (und des Vagus)
(Integrative action of the nervous System. (1911) S. 259).
Beim Zwangslachen und -weinen bewirken die mimischen Bewegungen keine Freude und
keinen Kummer, sondern sie werden nur als störend empfunden. X X (Mac Cu r d y : The
psychology o f emotion, morbid and normal, S. 47ff. London 1925.)
* Wenn K lages sagt: „D er körperliche Ausdruck ist so beschaffen, daß sein Bild ihn
wieder hervorrufen kann" (S. 15), so gilt das auch für das Bild, das den eigenen Ausdruck
erfahren läßt. Dieses Bild ist keine optische Vorstellung, sondern hat als seine Merkmal« den
dynamischen Spannungsverlauf, den Grad des Expansionsdranges, das Grundschema der
intentionalen Beziehung zur Außenwelt (vorwärts, rückwärts, aufwärts, abwärts). W ird
dieses Bild denn nurkinaesthetisch aufgebaut ? Bei Bejahung dieser Frage braucht man noch
nicht die 'Ansicht der Assoziations-Psychologie zu teilen, wonach die peripheren Eindrücke
sich aus einer Anzahl von Empfindungen zusammensetzen, die erst in uns und in assoziativem
Zusammenhang mit anderen Empfindungen zu einer Einheit verbunden werden. Man kann
auch der Gestalt-Theorie entsprechend meinen, die peripheren Eindrücke seien uns unmittel
bar als geformte Einheiten gegeben, wie das bei der optischen Wahrnehmung der FaU ist. F-me
ganz andere Möglichkeit wäre das Bestehen einer Art Innervationsgefühl, einer Bewußt
Die Genese der menschlichen Bewegungen. Untersuchungsmethoden 253
theoretisch gerade die größte Bedeutung haben. In den späteren Stadien hat die
Motorik bereits einen derartigen Umfang erreicht, daß die spontanen und reaktiven
Bewegungen schon ebenso unübersichtlich sind wie beim neugeborenen Tier,
dessen Motorik noch nicht in sinnvoller Umweltbeziehung steht. Bei den späteren
Phasen der embryonalen Entwicklung hat man deshalb versucht, durch Entfer
nung der höheren Teile des Zentralnervensystems so weit eine Reduktion der
motorischen Äußerungen zu erreichen, daß sich eine gewisse Regelmäßigkeit
einstellte.
Eihäute, in denen sich der Fet befindet, etwas warme physiologische Flüssigkeit,
so genügt schon der Flüssigkeitsstrom entlang der Seite des Gesichtes zur Aus
lösung einer Reaktion.
Dieser Versuch ist aus zwei Gründen von theoretischer Bedeutung. Zum einen
zeigt er, daß der Em bryo in einer uns unbekannten und uneinfühlbaren Weise mit
seinem Milieu zusammenlebt und vermutlich in Wechselwirkung mit diesem Milieu
seine primitiven funktionellen Relationen aufnimmt. Zum anderen lehrt die
Wirksamkeit solch schwacher diffuser Reize, wie schwer die Versuche über die
Bewegungsentwicklung zu beurteilen sind, da ja bei Säugetierembryonen stets
ein — wenn auch geringer — Eingriff erforderlich ist, um die Bewegung überhaupt
sichtbar zu machen. W o aber dieser Eingriff so groß ist wie bei den Beobachtungen
M in k o w s k is , muß jedes Ergebnis wohl sehr vorsichtig beurteilt werden.
Da das Erscheinen von Gesamt- oder Massen-Bewegungen und ebenso von ört
lichen oder Reflex-Bewegungen von so vielen subtilen Bedingungen abhängig ist,
ist die Entscheidung, welche von beiden Bewegungsarten im embryonalen
Leben zuerst auftritt, zweifellos sehr schwierig zu treffen. K uo folgert daher ver
ständlicherweise, die Kategorien Gesamtbewegung und lokaler Reflex seien für die
wissenschaftliche Deutung der Beobachtungen embryonalen Verhaltens unange
messen. Die embryonale Motilität wechselt von Augenblick zu Augenblick und von
Phase zu Phase auf komplizierte Weise und kann nicht so einfach eingeteilt werden.
Die Behauptung, die Bewegungen hätten zunächst Ganzheitscharakter und
dann entstünden sekundär die Einzelbewegungen, ist sicher für die Genese der
Motorik von Amblyostoma richtig, aber sie kann nicht verallgemeinert werden.
Sie ist ebenso schematisch wie die von B a r c r o f t u . a. verteidigte Theorie, wonach
sich aus primär örtlichen Reaktionen durch Assoziation und Integration sekundär
die umfassenderen und zusammengesetzten Bewegungen bilden.
Auf dem Gebiete der motorischen Entwicklung des Hühnerembryos besitzen
wir die meiste Erfahrung. Auf sie stützt sich K u o, wenn er das Vorkommen wirk
lich isolierter Reflexe bestreitet, da stets eine Mitbewegung benachbarter Teile ein
trete. Andererseits bleiben auch bei der umfassendsten Gesamtbewegungstets einige
Teile in Ruhe.
Bei einer Amblyostomalarve, bei der die schon früh auftretende spontane Be
wegung in einer vom K opf zum Schwanz fortschreitenden Kontraktion der Myotome
{Muskelsegmente) besteht, kann man wohl von echten Gesamtbewegungen spre
chen ; bei Säugetieren und Vögeln dagegen treten die ersten motorischen Erscheinun
gen erst auf, nachdem sich der Körper weiter differenziert hat und schon K opf,
Hals, Rum pf und Extrem itäten zu unterscheiden sind.
Unter K lio« Ergebnissen1 springen zwei Tatsachen besonders ins Auge. Es ist
bemerkenswert, daß die ersten Bewegungen Beugungen des Halses sind, denen
sich Rumpfbeugungen anschließen. Das läßt sich schon 90— lOO Std. nach
Beginn des Brütens am Hühnerembryo beobachten. W eiter fällt der bleibende Zu
sammenhang zwischen den Bewegungen des Kopfes und des übrigen Körpers auf.
B ein -u n d Schwanzbewegungen, die 96— llO S td . nach dem Beginn der Ent
wicklung beobachtet werden, sind, außer unter experimentellen Bedingungen,
stets mit K opf- und Rumpfbewegungen verbunden.
1 Kuo, Z. Y .: Ontogeny of embryonic behavior in aves. X II stages in the development of
physiol. activ. in the chickembryo. Amer. J. Fsychol. 50,361 (1938).
Buytendijk, Haltung und Bewegung 17
Die Genese der menschlichen Bewegungen
258
Eine Lokalisation der ersten Impulse auf die Halsmuskeln und eine allmähliche
Ausbreitung der Kontraktion in kaudaler Richtung haben B ar croft und B ar r o n
auch beim Schaffetus beobachtet und die Ergebnisse von Untersuchungen bei
anderen Säugetieren stimmen damit überein.
Die Erklärung dieser Tatsachen ist scheinbar einfach. Man kann das Primat
der Kopfbewegungen auf eine größere Reizbarkeit des verlängerten Marks zurück
führen und diese wieder auf eine schnellere histologische Differenzierung. Man
wird auch an die große periphere Reizbarkeit der Gesichtshaut denken, die aus
dem erwähnten Versuch von B arcroft und B arron hervorgeht. Bei einer solchen
Erklärung aus der Struktur (den Reizbarkeitszusammenhängen) würde man aber
der mechanistischen Denkweise folgen, da man dann ja die ersten Bewegungen
der Embryonen nicht als Funktionen, sondern als Prozesse deuten würde.
Diese Deutung läßt sich rechtfertigen, wenn sich die Bewegungen als
sinnlos erweisen. Es ist jedoch sehr wohl möglich, daß durch diese an sich sinnlosen
Bewegungen eine funktionelle Organisation des Zentralnervensystems aufgebaut
wird, die später die sinnvolle Beziehung von Tier und Umwelt ermöglicht. Eine
Grundlage dafür wäre die richtunggebende Funktion der Kopfbewegungen, die
wir kennenlemten. Die prospektive Einstellung der ontogenetischen Phasen wird
in der Entwicklungsphysiologie allgemein anerkannt. Auch wenn man den Satz
von D riesch 1 nicht unterschreibt: „D ie prospektive Potenz ist in der Tat die wahre
immanente Ursache jeder Spezifikation einzelner formbüdender Prozesse", so muß
doch bei Bejahung prospektiver Relationen die mechanistische, kausale Be
ziehung von Struktur und Funktion aufgegeben' werden. In der Entwicklungs
physiologie drückt sich das in einer Anzahl krypto-psychologischer Deutungen aus.
So spricht S p e m a n n nicht nur von Determinanten und Organisatoren, sondern
auch von „Befehlen und Antworten".
Bei Amblyostoma treten die ersten Bewegungen in einem Stadium auf, in dem
zentral noch keine Verbindung zwischen sensiblen und motorischen Fasern zu
stande gekommen ist. Es kann also unmöglich von einem Reflex die Rede sein,
woraus C o g h il l denn auch richtig folgerte, daß sich die ersten Bewegungen
spontan einstellen.
E r formulierte dieses Ergebnis in dem suggestiven Satz : "T he organism acts
first on the environment before it reacts.” Man zitiert diese W orte gerne zur
Bestätigung des Primats des Spontanen gegenüber dem reaktiven Moment in den
motorischen Äußerungen von Tier und Mensch, aber dieses Primat ergibt sich
deutlicher aus der Erforschung ihres Verhaltens als aus genetischen Untersuchun
gen. Zudem hat man ein Stadium spontaner neuro-muskulärer Kontraktionen bei
Säugetierembryonen nicht mit Sicherheit aufzeigen können.
Die ersten spontanen Bewegungen des Amblyostom a entwickeln sich bald zu
primitiven Schwimmbewegungen, die sich als eine Gesamtbewegungsgestalt voll
ziehen. Die Bildung einer Kette von Nervenzellen, die jeweils mit einem Muskel
segment verbunden sind, ermöglicht die kranio-caudale Ausbreitung der Kontrak
tionen.
Hinsichtlich der neurologischen Einzelheiten bestehen zwischen der Entwick
lung höherer und niederer Tiere Unterschiede, die zum Teil m it dem bei höheren
Tieren überwiegenden Einfluß von Kopfhaltung und Kopfbewegung auf die ganze
Körperm otorik Zusammenhängen,
Bei den Schafembryonen sah man schon am 36— 39ten Tag, also nur wenige
Tage nach den ersten motorischen Äußerungen, eine Drehung des Kopfes mit
einer Abduktion des Vorderbeines auf der Seite, auf der sich das Ohr der Schulter
näherte, einheigehen. Am 40ten Tag, wenn der Schafembryo 2,8 cm groß ist, stellen
sich bei Rückbeugung des Kopfes Streckung der Vorderbeine und Beugung der
Hinterbeine ein, das Umgekehrte bei Vorbeugung des Kopfes. Dieser automati
sche Bewegungszusammenhang, der im spateren Leben — wie wir andernorts be
sprechen — bei allerlei Funktionen eine Rolle spielt, ist also schon in einem frühen
Stadium angelegt.
C o g h il l stützt seine theoretischen Auffassungen über die Entwicklung des
Verhaltens auf die anatomische Differenzierung des Nervensystems, aber W i n d l e
glaubt, daß bei der Ratte gerade das Primat der Reflexe durch die Entwicklung des
Nervensystems bewiesen werde1.
Mao muß jedoch fragen, ob dieser von B a r c r ö f t , C o g h il l und W i n d l e einfach
unterstellte Rückschluß von der Anatomie auf das Bestehen bestimmter Bewe
gungsformen überhaupt zulässig ist. Ist hier nicht vielmehr die Verknüpfung von
Struktur und Funktion die gleiche wie beim erwachsenen Individuum ? In beiden
Fällen kann uns die Struktur an sich nur den Bereich des Möglichen aufzeigen,
nicht jedoch lehren, was in W irklichkeit geschehen wird. Auch K u o ist dieser
Ansicht und unterstreicht, daß die Zunahme der sensiblen koUateralen Fasern
nicht beweise, daß Reflexe auftreten, sondern nur daß ihre M öglichkeit gegeben
Die reflexogeneZone des oralen Reflexes ist nicht auf Mund-und Zungenschleim-
haut beschränkt. Auch von Kinn, Wangen, Augenhdem und Stirn aus können
beim Embryo Mundbewegungen ausgelöst werden. W ir finden also beim mensch
lichen Fet, ebenso wie nach den Versuchen von B a r cr o ft und B ar r o n beim
Säugetier, eine frühzeitige und große Empfindlichkeit des ganzen Trigeminus
gebietes. M in k o w s k i stellte ebenso eine starke Ausdehnung der motorischen Reiz
wirkung fest. So reagierte ein Fet von 3,5 cm Länge mit Abduktion der Beine, ein
anderer von 6,5 cm zeigte eine kräftige Beinbeugung. Diese Einzelheiten verm it
teln einen Eindruck von der Art der Reaktionen in solch einer frühen Entwicklungs
phase und zeigen erneut die prospektive Einstellung der pränatalen Motorik. W ie
B ar cro ft und B ar r o n m it Recht bemerkten, muß jedes Tier, um sich behaupten
zu können, dem Sprichwort: ‘ ‘Look before you leap” entsprechen. Deshalb müssen
sich die ankündigenden Sinnesorgane, die "look out organs” am K opf befinden,
"so that the creature can appreciate what is in front of it as it goes forwards, for
which reason it is not surprising that the most important of the early reflex m ove
ment, if not the first, should result from Stimulation of the snout".
Diese biologisch funktionale Betrachtungsweise entspricht der von uns durch
gehend vertretenen Ansicht, daß ein Reflex nur dann auftritt, wenn er einen
funktionellen Sinn hat. D a sie jedoch auch von primärer Bedeutung sind und auf
einem wenig differenzierten Bezug von Individuum und Umgebung beruhen, sahen
wir ein Erhaltenbleiben vieler Reflexe nach weitgehendem Abbau des Nerven
systems. Zudem haben die Nahrungs-, Flucht-, Abwehr- und Haltungsreaktionen
eine verhältnismäßig hohe Selbständigkeit gegenüber der übrigen Motorik. Dem
entsprechend ist ihr Vollzug an einen beschränkten Abschnitt des Nervensystems
gebunden. Beim Fet finden wir, wie beim decerebrierten Tier, diese partiellen
reaktiven Handlungen, wenn auch mehr oder weniger desorganisiert, als funktio
nelle Überreste der normalen umfassenden Handlungen vor.
Die Genese der Reaktionen lehrt uns jedoch außerdem, daß sich ein gewisser
regionärer Zusammenhang von sensorischen und motorischen Feldern schon her
gestellt hat, bevor er sich zu einer echt funktionellen Beziehung differenzieren
konnte. D ie Überempfindlichkeit der Gesichts- oder der Mundschleimhaut und
die leichte Reizausstrahlung der entsprechenden zentralen Kerne zu den m otori
schen Ganglien sind für die spätere Bewegungsentwicklung von gleicher Bedeutung
wie die Lokalisation der Fem-Sinnesorgane und des Gleichgewichtsorgans im
Kopff.
Im dritten Stadium der menschlichen pränatalen M otorik fand M in k o w s k i
eine Weiterentwicklung der „V orphase" der Haltungs- und Orientierungsreaktio
nen und stärker ausgeprägte Mundschleimhautreflexe (Nahrungsreaktionen).
Während die Entwicklung des Körpers, insbesondere des Nervensystems, fort
schreitet/ bleiben die Nahrungsreaktionen streng isoliert und ebenso die Flucht-
(Beuge-) Reflexe. Die Haltungsreaktionen, d. h. der motorische Zusammenhang
von K opf, Rum pf und Extrem itäten werden so kompliziert, daß charakteristische
Emzelverbindungen nur dann und wann beobachtet werden können. Das ist
verständlich, weil wir uns nun in der Vorphase der Entwicklung der Gehbewegun
gen befinden und dabei der Körper als ein Ganzes wirksam ist.
So kommen wir zu folgendem Ergebnis: eie Untersuchungen über die Genese
der Motorik bei Mensch und Tier lehren, daß spontane und reaktive Bewegungen
262 Die Genese .der menschlichen Bewegungen
4. Die Reifung
W ie bereits hervorgehoben, hat jede Tierart ein eigenes Tempo und eine eigene
Weise motorischer Entwicklung, die im Zusammenhang mit dem späteren Leben
erklärlich ist. Das gilt auch für den Menschen, der weniger weit entwickelt als
viele Säugetiere auf die W elt kommt.
Zum mindesten verfügt das neugeborene Kind jedoch über die Möglichkeit
zu einigen Abwehr- und Fluchtreaktionen, und es ist zum Saugen und Schlucken
fähig. Vor allem das Saugen des Neugeborenen zog von alters her als Beispiel einer
menschlichen Instinkthandlung die Aufmerksamkeit auf sich. Das Schlucken
betrachtet man mehr als einen Reflex oder besser als eine Reihe zwangsläufig auf
einanderfolgende Bewegungen, die durch einen Reiz oder „w illkürlich" einge
leitet werden können. W eit weniger als beim Saugen liegt hier das Schwergewicht
auf der.Bindung der Handlung an eine bestimmte Situation und an ein „Bedürfnis"
(appetitus), die man bei jeder echten Instinkthandlung voraussetzt.
Obwohl uns von den subjektiven Empfindungen des Säuglings nichts bekannt
ist, darf man auf Grund von Erfahrungen über sein Verhalten in Analogie zum un
seligen annehmen, daß das Saugen etwas mit dem Hungergefühl zu tun hat.
Man kann diese Verknüpfung einer automatisch ausgeführten Handlung wie
etwa des Saugens mit einem Bedürfnis nicht genetisch verfolgen, sodaß'w ir uns
auch nicht in die Spekulationen über kindliche Libido vertiefen wollen.
Von den vielen, in einer früheren Publikation besprochenen Aspekten des
Instinktproblems2 soll hier einer im Zusammenhang mit der pränatalen Bewegungs
entwicklung besprochen werden.
Es entsteht die Frage (die man das Problem des „K önnens" nennen kann),
wodurch in einem bestimmten Alter, bei einer bestimmten „R eife", der Organismus
zum Verrichten einer Handlung fähig wird. Es besteht um so mehr Anlaß zur
1 Coghti. l, G .H .: The structural basis of the intégration of behavior. Proc. Nat. Acad. Sei.
16, 637 (1930).
* B u yten dijk , F. J. J. : Traité de psychologie animale. Paris 1932. Ghap. V —V II.
Die Reifung 263
Behandlung dieser Frage im Zusammenhang mit der Genese der Motorik, als dabei
die Abhängigkeit der Entwicklung vom Nervensystem nochmals zur Sprache
kommen muß, und gerade das Saug-,.Vermögen" in starkem Maße von der Reifung
abhängt, Frühgeborene können ja nicht oder nur schlecht saugen.
1 B reed , F . : The development of certain instinets and habits in chick§, Behavior Mono-
graphs. No. 1. Cambridge (Mass.) 1911.
1 Carmichael, L .: The development of behavior in vertebrafes etc. Psyehol. Rev. 33,
51 (1926); 34, 34 (1927).
264 Die Genese der menschlichen Bewegungen
konnte uns dazu führen, für beide Vorgänge ein gleiches verborgenes Geschehen
vorauszusetzen. Inwiefern ist das erlaubt ?
Entwicklung heißt im allgemeinen das Durchlaufen eines Weges, der mit einem
amorphen Zustand anfängt und durch eine Anzahl von Phasen hindurch zu einer
endgültigen Gestalt führt. Wendet man diesen Enlwicklungsbegriff auf das
spontane Entstehen von Bewegungen an, so darf man nicht aus dem Auge verlie
ren, daß Bewegungsgestalten nach ihrem Vollzug jeweils wieder verschwunden
sind, während dagegen bei der körperlichen Entwicklung, z. B. eines Embryos
die verschiedenen Phasen unmittelbar aufeinander folgen. Die Bewegung entsteht
immer wieder aus einem „etw as” , das man — ohne sich über seine Art zu äußern —
einen „zentralen Prozeß" nennen kann. Aber gerade dieser muß in Entwicklung
begriffen sein, um immer wieder differenziertere Bewegungen entspringen lassen
zu können.
Auch beim Erlernen neuer Handlungen entsteht ein solcher zentraler Prozeß.
Wenn das Kind gehen, essen, usw. lernt, so spricht man (ebenso wie beim tierischen
Lernen) Von einer Gewohnheitsbildung, d. h. von einer spontanen Entwicklung
adaptativer Funktionen.
Im Gegensatz zur ersten Bewegungsentwicklung ist bei den späteren Gewohn
heitsbildungen meistens der Abbau schon bestehender Koordinationen erforder
lich, so daß das Lernen also zugleich ein Verlernen ist. Aber auch schon beim
ersten spontanen Entstehen der Motorik wird wohl ein Umlernen stattfinden,
müssen also bereits gefestigte Bindungen gelöst werden.
Es ist also zweifelhaft, ob eine grundsätzliche Unterscheidung der Bewegungs
entwicklung (Bildung der ersten Gewohnheiten) vom Lernen im animalischen
Sinne (als Bildung neuer Gewohnheiten verstanden) möglich ist. Man kann ja
ebensogut von einer primären und sekundären Entwicklung wie von einem pri
mären und sekundären Lernen sprechen.
Zweifellos haben wir hierbei jedoch das Lernen zu formal und zu aus
schließlich nach äußeren Merkmalen betrachtet. W o man so — wie in der natur
wissenschaftlich orientierten Verhaltenslehre (behaviorisme) —• aus Grundsatz
verfährt, fällt dann auch das Problem des Lernens, mit dem der Gewohnheits
bildung zusammen.
Der Begriff Lernen ist aber dem menschlichen Leben entnommen und darf
davon nicht getrennt werden, wenn er seinen eigentlichen Sinn nicht verlieren
soll. Lernen ist das individuelle Erwerben der Möglichkeit, einer neuen Aufgabe
Genüge zu leisten, deren Sinn eingesehen wird oder auch nicht.
Diese vorläufige Definition stellt sich bei näherer Betrachtung als sehr vage
heraus. Es bleibt nicht nur in der Schwebe, wie weit das Subjekt mit Willen und
Bewußtsein an diesem Erwerb teilnimmt, sondern ebenso die Frage, wie weit die
Einsicht auf Reflexion, diskursivem Begreifen und bewußtem Vorstellen beruht. In
meinen Studien.über das tierische Lernen bin ich darauf weiter eingegangen1.
Diese einleitenden Überlegungen über den Zusammenhang zwischen Lernen
und Gewohnheitsbildung und zwischen der Entwicklung der Motorik und dem
persönlichen Leben führt uns den Umfang des Problèmes vor Augen, dem ein
großer Teil der Untersuchungen und theoretischen Abhandlungen der Psychologie
i Wege zum Verständnis der Tiere. Zürich 1938; und: Traité de Psychologie animale.
Paris 1952.
2 66 Die Genese der menschlichen Bewegungen
gewidmet ist. W ir müssen uns daher hier beschränken und wollen, unserem Pro
gramm einer allgemeinen Bewegungslehre folgend, in diesem Kapitel unter Lernen
in erster T m ie die Rekoordination der Bewegungen verstehen. W ir greifen dabei
nur einiges aus dem umfassenden Gebiet heraus, indem wir unser Augenmerk den
Untersuchungen zuwenden, die auf die Rolle des Nervensystems ein gewisses Licht
werfen, um sie dann in anschließenden Diskussionen zu verfolgen. Dazu ist zu
nächst eine Besprechung der vier wichtigsten Theorien über das Lernen er
forderlich.
2. Theorien des Lernens
Lernen besteht nicht nur in der Ausbildung neuer Zusammenhänge körper
licher oder psychischer Elemente und geformter Bewegungsgestalten, sondern in
der Erhaltung, im Fixieren des Erworbenen. Deshalb wird in jede Theorie des
Lernens, besonders des verstandesmäßigen, die Theorie der Erinnerung und des
Vergessens miteinbezogen. In den als Projektionen dieser Theorien fungierenden
physiologischen Modellvorstellungen verwendet man zur Erklärung des Entste
hens neuer Koordinationen gerne das Bild der Bahnung. Aus Reizspuren gestalten
sich im Zentralnervensystem Bahnen, die sowohl die Ausgestaltung der Bewe
gungen als ihre Erhaltung erklären sollen. Diese werden durch den unauslösch
lichen Charakter der eingeprägten Spuren ermöglicht. Das Gedächtnis wäre dann
nichts anderes als in buchstäblichem Sinne das Haftenbleiben eines Eindrucks in
der plastischen Materie des Nervensystems, so wie die in eine Grammophonplatte
eingravierten Schwingungen die Reproduktion der aufgenommenen Melodie er
möglichen. W ill man das grob Mechanische dieser Vorstellung von der Bahnung
vermeiden, so verwendet man gerne das vor Jahren von Semqn glücklich gewählte
W ort „Engramm“ , das nur ausdrücken will, daß im Organismus etwas verändert
ist, das nachwirkt.
W ir können in der Hauptsache vier Theorien vom Lernen unterscheiden :
a) Eine physiologische Erklärung auf Grund der „Bildung und Verstärkung von
Nerven Verbindungen zwischen Reizen und Reaktionen“ 1. Es gibt von dieser
Theorie eine Anzahl von Varianten; die bekannteste ist die Lehre der bedingten
Reflexe Pawlows, zugleich die ausgeprägteste mechanistische Vorstellung.
b) Die Gestalt-Theorie des Lernens ist zum Teil in Opposition zur summativen
Auffassung früherer Betrachtungen entstanden. Sie lehrt die Bildung einer Reiz
barkeitskonfiguration im Nervensystem, eines "pa ttem ", das sich differenziert
und isoliert und den zentralen Faktor darstellt , der die immer raschere und bessere
Ausführung einer Leistung gewährleistet.
c) T hq km diki * bekannte Theorie vom Lernen, die er au! Grund vom Tierver
suchen aufstellte, bezeichnet man meist mit dem englischen Namen “ trial and
error” -Theorie. Sie bezweckte ursprünglich mehr das Feststellen einer Regel als
eines vorstellbaren Mechanismus. Sie läßt dahingestellt, ob Versuchen und Irren
ein psychologisches oder somatisches Geschehen sei, ob es bewußt oder unbewußt,
willkürlich oder unwillkürlich verlaufe. Die Besinnung auf den Zusammenhang
von Versuch und Irrtum und auf den Sinn beider Begrif fe führte zu einem Suchen
nach einem Zusammenhang mit dem psychischen Leben und nicht so sehr zu neuro-
physiologischen Vorstellungen.
i Cason , II.: Paychol. Rev. 44, 54 (1037).
Theorien des Lernens 267
der Auftrag erteilt wurde, eine Reihe von Knöpfen auf einem Tisch in einer be
stimmten Reihenfolge zu berühren. Man lernte, die anfänglich unorganisierten,
nur äußerlich verbundenen Teile zu einer Gestalt zu vereinigen. Entscheidend
wurde, wie beim Erlernen vieler Turnübungen oder Handgriffe in der Industrie,
das Finden eines strukturellen Zusammenhanges. Erneut drängt sich uns die Ana
logie zu den Denkprozessen auf.
3. Re-Koordination bei Tieren.
Das Erlernen von Bewegungen besteht immer in einer Bildung neuer Muskel
koordinationen, eines neuen Innervationsschemas. Als ein biologisches Phänomen
erweist sich dies, wenn die bestehenden Innervationsweisen durch eine periphere
oder zentrale Störung beeinträchtigt sind und sich neue bilden müssen, um Fort-
bèwegung und andere primäre Verrichtungen zu ermöglichen.
i Wege zum Verständnis der Tiere. S. 187.
1 V eldt , J. van d e r : L ’apprentissage du mouvement et l'automatisme. Louvain 1928.
Vgl. auch: H. McNe l l i : Motor adaptation and accuracy. Louvain 1934; G. de M ont
pellier : Les altérations morphologiques des mouvements rapides. Louvain 1935.
Re-Koordination bei Tieren 269
Wirkung motorischer Kerne aus. Beobachtet man z. B., daß die Reizung eines
höheren Teiles des Nervensystems die Streckung einer Extremität zur Folge hat,
so nimmt man an, daß die Erregung von einem ,,Strcckerzentrum'' aus über eine
bestimmte Bahn jene motorischen Vorderhornzellen erreicht, die unter normalen
Umständen die Streckmuskeln innervieren. Auch die früher besprochene Lehre
von der reziproken Innervation der Antagonisten beruht auf der vorausgesetzten
Unveränderlichkeit der motorischen Kerne und ihrer Verbindungen.
b) Es wurde aber durch die erwähnten Versuche nicht nur das Bestehen von
anatomisch festgelegten motorischen Kemgebieten unveränderlicher Funktion
sondern auch das von beherrschenden höher gelegenen Koordinations-Zentren sehr
unwahrscheinlich. W ie könnte man bei der Annahme solcher fester Zentren er
klären, daß sich die Augen noch normal zusammen bewegen, nachdem die anta
gonistischen Muskeln an einem Auge miteinander vertauscht wurden ? W ie ist
die völlige Wiederherstellung der Handfunktion zu erklären, nachdem ein Teil der
Beugemuskeln durch Streckmuskeln ersetzt wurde ?
Man könnte an eine allmähliche funktionelle Anpassung, ein Wiedererlemen
der früheren Bewegungen mit neuen Ausführungsmitteln denken. Diese nahe
liegende Erklärung wird jedoch widerlegt, da in vielen Fällen die Re-Koordination
schon unmittelbar nach dem Eingriff vorhanden ist.
Sehr überzeugend ist das nach Amputation eines oder mehrerer Glieder, wie
das B e t h e bei verschiedenen höheren und niederen Tieren zeigte. Ampu
tiert man einem Hund ein oder zwei Beine, so bewegt sich das Tier unmittelbar
nach Wiederherstellung vom Eingriff in neuer Weise. Es erlernt nicht eine neue
Koordination, sondern nur die Anpassung der veränderten Fortbewegung an ver
schiedene Umstände. So konnte ein Hund nach Amputation des gleichseitigen
Vorder- und Hinterbeines nach einiger Zeit nicht nur gehen, sondern auch sprin
gen. Bei Tieren, bei denen sieh kein operativer Schock einstellt, z. B, Insekten,
Spinnen und Krabben, kann man sehr leicht das Auftreten einer neuen K oordi
nation nach Amputation eines oder mehrerer Beine aufzeigen.
W ollte man für solche Fälle die Zentrenlehre aufrechterhalten, so wäre die
Hilfshypothese erforderlich, daß eine Anzahl präformierter Koordinations-Zentren
im Nervensystem in „R eserve'' gehalten werden. Bei einem achtbeinigen Tier,
z.B . einem Weberknecht, gibt es jedoch 254 Fortbewegungsweisen, die sich nach
Amputation einer oder mehrerer Beine sofort und in vollkommener Form einstellen
können, bei einer zehnbeinigen Krabbe sind es sogar 1022. Die Unterstellung, daß
eine derartige Anzahl von Zentren für mögliche Koordinationen nach Amputatio
nen im Nervensystem latent vorhanden wären, führt die präfarmierte anatomische
Schaltungstheorie ad absurdum. Wenn diese Reservezentren aber nicht bestehen,
so gibt es auch keinen Grund zur Annahme eines einzigen Zentrums für das nor
male Gehen.
Der Vollzug der Fortbewegung nach einer festen Regel kann freilich wie jede
nicht zu komplizierte Regelmäßigkeit in einem mechanischen Modell vorgestellt
werden. Für die Beinbewegung der Insekten und Spinnen nach Amputation
gelten einige Regeln. So fand B e t h e , daß nebeneinanderliegende Beine abwech
selnd bewegt werden j auch wenn sie sich normalerweise (bei Intaktheit der da
zwischenliegenden Beine) zugleich bewegen. Einander gegenüberliegende Beine
arbeiten gleichzeitig und gleichgerichtet , auch wenn sie normalerweise abwechselnd
Re-Koordioation bei Tieres 271
bewegt wurden. Nach einigen Amputationen bewegen sich beide Beine des gleichen
Paares gleichzeitig, was normalerweise nie der Fall ist.
Es bestehen diso nach den Amputationsversuchen keine festen, auf Strukturen
beruhenden Verbindungen, sondern Bewegungsregeln. Von diesen Regeln gibt
es jedoch dann Ausnahmen, wenn ihre Anwendung unzweckmäßig wäre. W ir
haben es demnach zweifellos mit echten funktionellen Regeln zu tun, mit Be
wegungsweisen, die man sich nicht lokalisiert denken kann.
c) Die Abhängigkeit der Funktion von der Struktur wird in der Zentrenlehre
außer durch die Annahme primärer und sekundärer Zentren auch noch durch' die
Unterstellung fester Bahnen plausibel gemacht. Tatsächlich sind anatomisch
zentrale Faserbündel, die bestimmte Gruppen von Nervenzellen {Ganglien und
Felder) verbinden, deutlich nachweisbar. Ist j edoch die Annahme von Koordinations
zentren abzulehnen, so werden auch die Faserbündel, welche die als Zentren
betrachteten Ganglien verbinden, keine feste Funktion haben können. Diese
Bahnen leiten zwar stets Reize von einer zur anderen Stelle des Nervensystems,
aber das funktionelle Ergebnis dieser Leitung wechselt. Das kann sogar für die sog.
langen Bahnen gelten. Gewiß sind sie unter normalen Verhältnissen die kürzeste
und leichteste Verbindung der großen Unterabschnitte des Nervensystems, die
jeweils eine konstante Funktion in der normalen Organisation erfüllen. Aber bei
Tieren erweisen sich einige lange Bahnen als funktionell ersetzbar. Werden sie
durchgetrennt, so wird die Einheit des Nervensystems durch Leitung über andere
Fasern wiederhergestellt. Ein gutes Beispiel bietet die Durchtrennung der Pyra-
midenbahn bei Affen und Hunden. R o t h m a n n fand danach nur geringe Störungen.
Ebenso waren die Störungen nach isolierter Durchtrennung des tractus rubro-
spinalis unerheblich, aber die Durchtrennung beider Stränge verursachte schwere,
obwohl nicht ganz irreversible funktionelle Läsionen.
Die Einwände, die sich daraus gegen eine Erklärung neuer Bewegungsweisen
nach Amputationen usw. aus der Struktur des Nervensystems ergeben, treffen
ebenso eine Theorie vom Erlernen der Bewegungen, die ihren Ausgangspunkt von
der Physiologie des Nervensystems nehmen möchte.
Man hat die Lehre von den Koordinationszentren durch eine Hilfshypothese
aufrechtzuerhalten versucht. Man unterstellte dort eine automatische Umschal
tung der Verbindungen durch die Eindrücke, die während der Ausführung einer
Bewegung von der Peripherie zum Zentrum aufsteigen. Diese „Schaltungstheorie''
gründet auf einem umfangreichen experimentellen Material, dessen Ergebnis mit
den W orten von M a g n u s zusammengefaßt werden kann: „D er Körper stellt sich
selbst sein Zentralorgan in der richtigen Weise her.“ Unter dem Einfluß der ganzen
Kom plex-Qualität der peripheren Eindrücke organisiere der handelnde Organis
mus selbst sein Zentralnervensystem und zwar in der richtigen Weise, d.h. so, daß
das intendierte Ziel so gut wie möglich erreicht werde. Es wundert uns nicht, daß
für diese Umschaltung einzelne Regeln, die sich für gewöhnlich bestätigen und die
den Eindruck von Naturgesetzen machen, gefunden werden können, da die funktio
nelle Umgestaltung nach vielen Läsionen zum Teil erst durch die Befolgung
solcher Regeln sinnvoll wird. Dazu gehören: das Abfließen, des Reizes zum gedehn
ten Muskel, die Reflexumkehr durch Verstärkung der Reizung und B e t h e b Regel
der gleitenden Kuppelung. W ir haben das schon erörtert und wollen nicht noch
mals darauf zurückkommen. W ir möchten nur noch darauf hinweisen, daß keine
272 Die Genese der menschlichen Bewegungen
Rück W irkung der Peripherie auf die Koordination funktionell sinnvoll sein kann,
wenn sie nicht antizipierend eingestellt ist.
Eine vorurteilslose Zusammenfassung des empirischen Materials führt zu der
zwingenden Folgerung, daß der Mensch (und das Tier) beim Erlernen neuer
Bewegungen sowohl über die Situation als auch über die ihm zu Diensten stehen
den Ausführungsmittel, die Muskeln, Sinnesorgane und das Nervensystem verfügt.
Er macht sich dabei die Eigenschaften und Gesetze des nervösen Apparates
zunutze.
Nicht das Nervensystem ist plastisch, sondern die Bewegung; nicht das Nerven
system hat Anpassungsvermögen, sondern das Individuum. Die Person lernt et
was und nicht das Nervensystem. Sie bedient sich dazu auch dieses Organs, das für
jede Koordination und Rekoordination eines der verfügbaren Mittel und eine der
einschränkenden Bedingungen ist.
Beim Erlernen schon der einfachsten Bewegungen ist ein sich den Umständen
anpassendes handelndes Subjekt tätig. Aus der Situation un'd den körperlichen
Möglichkeiten kann man in vielen Fällen sehr wohl schematisch Vorhersagen, wie
es sich verhalten wird. Wenn jedoch die Emanzipation von der momentanen
inneren und äußeren Situation stärker ausgeprägt, die prospektive Einstellung,
also der intentionale Aktcharakter des Lernens deutlicher ist, ist dieses Lernen
nicht ganz an Regeln gebunden, sondern — wie von W eizsäcker es ausdriiekt —
eine „ Leistung“ und daher stets eine Improvisation.
Bewegungen, für jeden leicht auszuführen, und das Lernen besteht lediglich im
Einüben einer rascheren und sichereren Handlung. Dieses Automatisieren ist
eine andere Funktion als die Bildung einer neuen Bewegungsgestalt, auf die sich
die obenerwähnten Bedingungen beziehen.
Die ersten drei Bedingungen bezüglich des WoEens und Könnens gehören zu
sammen. Ihrem gegenseitigen Zusammenhang kann man nur in besonderen Fällen
nachgehen. In affektiven Situationen beispielsweise tritt der zur möglichen Ausfüh
rung einer Tat erforderliche gegenseitige Zusammenhang von WoEen und Können
stark in den Vordergrund. So könnte m an, .theoretisch" ebenso gut über einen nassen
wie über einen trockenen Graben springen, ebenso sicher über einen hoch als über
einen niedrig gelegenen Balken gehen. Doch in der konkreten Situation will man zwar
in beiden F ällen, doch man kann nur, wenn der Bewegungsimpuls nicht gehemmt
wird und keine die Koordination störende Versteifungsinnervation auftritt. Man
sagt, die Angst verursache die Hemmung und Versteifung, und diese vergrößerten
ihrerseits wieder die Angst durch die bewirkte Instabilität. Man erfährt diesen
Zusammenhang deutiich beim Lernen des Schlittschuhlaufens oder auch schon
beim Gehen über Glatteis oder beim Besteigen eines steilen Berghanges. Der
Zirkel zwischen Instabilität, Hemmung des Willensimpulses und Angstaffekt
kann dann auf zweierlei Weise durchbrochen werden : entweder durch Abnahme der
Angst, z, B, durch die Erfahrung, daß das Fallen gar nicht so schlimm und die Gefahr
weniger groß sei als man befürchtete, oder durch Verminderung der motorischen
Hemmung und Spannung, wodurch dann die Angst abnimmt. Sowohl das eine
wie das andere kann man, wenn man nur wiül Das behauptet wenigstens der
Außenstehende, der Zuschauer* aber wer selbst in dem Erlebnis der affektiven
Situation befangen ist, erfährt ein „Nicht-Tun-Konnen“ .
Dem ängstlichen Bergsteiger und dem ungeübten Schlittschuhläufer bleibt je
doch der wiridiche Konflikt eines „Nicht-Können-W oHens" und „Nicht-W oEen-
Könnens" verborgen. Diesen Konflikt, der sich in der Überzeugung des Schülers,
er könne nicht, und in der ebenso festen Überzeugung des Lehrers, er wolle nicht,
ausdrückt, müssen wir zur 'tieferen Einsicht in das Erlernen der Bewegungen
näher betrachten.5
Fall also etwas anders als bei einer hysterischen Lähmung, So können viele Men
schen die Schließmuskeln des Kiefers nicht einseitig zur Kontraktion bringen
und ein Auge nicht schließen, ohne daß das andere mitmacht. Es gibt jedoch
auch Beispiele aus dem normalen Leben, wo man behauptet, etwas nicht
zu können, und tatsächlich unterbleibt der Impuls zu den betreffenden Muskeln.
Man meint, etwa seine Ohren nicht bewegen zu können, und doch sind die dazu
benötigten Muskeln genügend entwickelt, wie durch den Erfolg einer elektrischen
Reizung demonstriert wird. Das Bewegen der Ohren kann denn auch auf bestimmte
Weise angelernt werden, wie B l a ir in einer hübschen Untersuchung gezeigt hat1.
Die Heilung einer hysterischen Lähmung, bei der der Zusammenhang zwischen
W ollen und Können pathologisch gestört ist, gibt uns für das normale Lernen wich
tige Hinweise, Insbesondere kann uns dazu der von von W eizsäcker gut ana
lysierte Fall dienlich seini2.
Bei einem jungen Beamten, der nach geheilter partieller Läsion des n. radialis
eine funktionelle (hysterische) Lähmung der Streckmuskeln des Unterarmes mit
Unfähigkeit, die Hand zu strecken, zeigte, wurde in wenigen Minuten geheilt.
Während dieser kurzen Behandlung konnten drei Stadien unterschieden werden.
Im ersten Stadium konnte der Patient die pronierte Hand unmöglich heben.
H ob man sie passiv und ließ sie dann los, so fiel sie nahezu unmittelbar wieder
herunter. Bei Wiederholung ging das noch rascher vor sich. Wenn der Patient
eine ihm gereichte Hand zu drücken versuchte, trat, ebenso wie bei echter Radialis-
lähmung, eine Zunahme der Beugestellung auf. Der Fingerdruck war gering.
Im zweiten Stadium wurde der Auftrag erteilt: drücke meine Hand kräftig,
besonders mit den Fingerspitzen. Diesmal gingen das Schließen der Hand und die
kräftigere Kontraktion der Fingerbeuger mit einer Streckung im Pulsgelenk ein
her, wie das normalerweise der Fall ist. Dasselbe geschah, wenn man dem Patien
ten nur einen Finger reichte, damit er ihn mit seinen Fingern kräftig drücke. Als
man ihn auf die Stellung seiner Hand aufmerksam machte, und er gewahrte, daß
er unwillkürlich die Hand etwas gehoben hatte, wurde er verlegen. Nach dem
Zurückziehen der festgeklammerten Finger fiel die Hand wieder herunter, so, als
bestünde eine völlige Lähmung der Streckmuskeln,
Nun folgte das dritte Stadium der Behandlung. Man bat den Patienten,
einen Bleistift zwischen den Fingern zu drücken. Erneut folgte eine synergische
Extension, wie beim Normalen. Ließ man nun den Bleistift los, so hielt die Streck
steilung der Hand an, obwohl jetzt jede äußere Unterstützung fehlte. Darauf
folgte die letzte Übung. Der Patient erhielt den Auftrag, einen Stein kräftig zu
halten, während die Hand in Beugestellung ging. Dann mußte er den Stein fallen
lassen, wobei die Hand gestreckt werden mußte. Jetzt blieb die geöffnete Hand in
Strecksteilung stehen. Nach einigen Wiederholungen konnte die Hand auf Ver
langen ohne irgendwelche Hilfe frei ausgestreckt werden und die Heilung war
vollendet. V on W eizsäcker gibt zum hier mitgeteilten Heilungsvorgang folgende
Erläuterung.
i B l a ir : Psychol, Rev. 8, 474 {1901). Eine der hysterischen Lähmung verwandte Ohn
macht zur Ausführung gewollter Bewegungen stellt sich, außer bei Emotionen, manchmal im
Halbschlaf oder beim Erwachen aus einem Traum ein. Man kann dann die Augen nicht öffnen,
nicht rufen, sich nicht aufrichten.
s v o n W e iz s ä c k e r , V .: Studien zur Pathogenes®. S. 6 5 ff. Leipzig 1935.
Die hysterische Lähmung 275
Anfänglich liegt nicht ein Unvermögen zur Innervation der Streckmuskeln vor,
sondern der Kranke vollzieht statt der verlangten Handlung, nämlich die Hand des
Arztes zu drücken, wobei die Extension von selbst, aufgetreten wäre, eine andere
Handlung. Er beugt die Finger, ohne die Hand zu bewegen und kann dabei natürlich
nur einen geringen Druck entwickeln. Es fehlt also die normale Gesamtbewegung.
In den nächsten Behandlungsphasen läßt man den Patienten Handlungen ver
richten — das Kneifen mit den Fingerspitzen, das Halten eines schweren Steines— ,
bei denen die Extension als synergische Bewegung noch auftritt. Diese fehlte nur
bei der Ausführung des Auftrags, eine Hand zu geben.
Die Übung machte einen Umweg über einen die Ohnmacht überbrückenden
Akt, dessen Wirkung zudem vom Patienten beobachtet werden konnte.
In der ersten Phase besteht wohl der Vorsatz zur Hebung der Hand, aber er
hat eine entgegengesetzte W irkung: die Hand wird gebeugt. Erst nach der Be
handlung wird der Vorsatz in der richtigen Weise ausgeführt. .Im Zwischenstadium
führt der erteilte Auftrag zu einem anderen Vorsatz, aber der Effekt entspricht
teilweise dem beabsichtigten Endergebnis : es vollzieht sich eine Streckung der
Hand. „W ir schließen hieraus" — sagt von W eizsäcker — , „daß die Folge eines
Vorsatzes oder Auftrages nicht von der psycho-physischen Einwirkung des
Willens auf die »Bahn« für die sog. willkürliche Innervation abhängt, sondern von
dem besonderen Verhältnis der Person zu ihrer Um gebung." Die Bedeutung die
ses Verhältnisses zur Situation zeigt sich zunächst indem entgegengesetztenVerhal
ten vor und nach der Behandlung beim Auftrag zur Hebung der Hand. Zweitens
stellte sich heraus, daß die Bewegung (Streckung) viel schwerer auszuführen war
als das Beharren in einer einmal eingenommenen Haltung (Streckstellung), In
beiden Fällen geschieht nichts anderes als eine Innervation der Strecker, aber
diese Innervation geschieht in jedem dieser Fälle in einem anderen Zusammenhang.
Darin liegt also der Grund für das Vermögen oder Unvermögen.
Das Lernen im Sinne des Austühren-Könnens eines Auftrages oder Vorsatzes
ist demnach nichts anderes als das Finden eines Zusammenhanges — d. h. der
Bewegungskombination oder des Bewegungsverlaufs — , in den die gewollte, aber
an sich unausführbare Leistung aufgenommen ist. Ist dieser gefunden, so muß
die zu lernende Bewegung aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst werden.
Das ist nur möglich, indem sie in einen anderen Zusammenhang aufgenömmen
wird. Soll nun die Bewegung für sich ausgeführt werden können, so muß dieser
Zusammenhang in einer Verknüpfung mit dem Bewegungsbild bestehen. Lernen
heißt also, dem Leitbild folgen zu lernen und damit Unterdrücken aller irreführenden
Bilder und funktionellen Organisationen, in die die intendierte Bewegung auf
genommen war oder werden könnte.
V on W eizsäcker verfolgt einen etwas anderen, doch verwandten Gedanken
gang. Er meint, im Akt des Gehorchens werde der Konflikt zwischen W ollen und
Können gelöst. Der Patient erhält m it dem Vermögen zum Gehorchen auch die
Möglichkeit zu einer neuen Leistung. Das ist richtig, aber das Problem ist nicht,
weshalb die Person gehorcht oder nicht, sondern weshalb der Körper während der
Krankheit nickt und nach der Heilung sehr wohl dem Willen gehorcht.
Das große Rätsel für jeden, der einen Augenblick auf seine willkürlichen Be
wegungen achtet, liegt darin, wie es möglich ist, daß, was ich mir zu tun vornehme,
was ich mir vorstelle und wozu ich mich entscheide, nun auch wirklich geschieht.
18*
276 Die Genese der menschlichen Bewegungen
Man hat es sich leicht gemacht, indem man sagte, daß die Vorstellungen die
Bewegungen lenken und eine lebendige Vorstellung zur Realisierung des Gewollten
genüge. Aber, wie schon ausgeführt, der Leib muß diesem Bilde folgen. Darin
besteht gerade die Wirklichkeit der Ausführung, und darin liegt auch das Rätsel
hafte. Zudem zeigt uns die Erfahrung, daß wir zahlreiche Bewegungen ausführen,
ohne uns etwas vorzustellen, und daß wir vieles, was wir uns lebendig vorstellen
können, doch nicht zu vollbringen vermögen. Der Fall der hysterischen Lähmung
demonstriert die Labilität der Verknüpfung von Vorstellung und Ausführung. Es
ist wenig erhellend, wenn v o n W e i z s ä c k e r hierzu bemerkt, die Vorstellung habe
nur den W ert eines Zeichens und einer Repräsentation.
Mir scheint, man wird die rätselhafte Struktur der willkürlichen Bewegung nie
durchschauen, solange man den Zusammenhang von Wollen und Können durch
eine vorzeitige metäphysisehe Deutung in einen Zusammenhang von Seele und
Leib Verwandelt. Das Problem wird dann „einfach" zu der Frage, wie der W ille
auf den Leib einwirke, wobei unter Leib dann ein verwickeltes seelenloses Instru
ment verstanden wird und unter W ille ein aus dem Niehls kommender Einfall.
Diese cartesianische Problemstellung wird in den modernen Abhandlungen zwar
möglichst metaphorisch ausgedrückt, aber sie beherrscht trotzdem das ganze
Gebiet der Psychomotorik.
Eine „Bewegung meines Leibes" sowie ein Wille, der den Leib „w ie ein Instru
m ent" bespielt, sind Abstraktionen. Deutet man diese Momente als wirkliche Phä
nomene, so kann man wohl zu einer schematischen Vorstellung einer normalen W ill
kürbewegung kommen, sofern diese sich als eine Bewegung des Leibes mittels der
Seele darstellt. Aber eine Besinnung auf die Unfähigkeit zu einem Tun, das eigent
lich sehr wohl vollzogen werden könnte und subjektiv auch tatsächlich gewollt
wird, verliert sich dann in einem Räsonnement, das für die konkrete Erkenntnis
der phänomenalen W elt ebenso unfruchtbar ist, wie es eine Physik wäre, die von der
philosophischen Frage nach dem Verhältnis von Ding und Eigenschaften ausginge.
Für uns kann nur das Gegenstand der^Wissenschaft werden, was in der un
mittelbaren Erfahrung gefunden werden kann. Da finden wir aber sich hier und
jetzt bewegende Personen. Zweifellos lassen sich innerhalb dieser Einheit wahr
nehmbare und erlebbare Momente unterscheiden. Doch unser Leib, unser W ollen
und unser Können sind in unserer realen Existenz enthalten. Nur in ihrem Rahmen
gibt es ein Können-Wollen und ein Wollen-Können sowie die verschiedenen oben
erwähnten Vorbedingungen des Lernens.
Den Beitrag, den die überraschende Heilung des Patienten von W eizsäckers
für eine Einsicht in das Erlernen von Bewegungen geliefert hat, wollen wir kurz
zusanunenfassen.
1. Man soll etwas lernen, wenn man (objektiv) nicht kann, was man (subjek
tiv) will. Auf die gestellte Anforderung oder auf den eigenen Vorsatz erfolgt an
fänglich keine oder eine nicht beabsichtigte Bewegung.
2. Die Ursache des Konfliktes zwischen Wollen und Können liegt offenbar in der
Weise, in der man in eine Situation verwickelt ist, wodurch eine Desorganisation der
lenkenden Faktoren der Bewegung und daher ihrer selbst eintritt.
3. Nur auf einem Umweg kommt das Lernen zustande und entsteht die organi
sierte, beherrschte Bewegung. Dann kann man tun und tut man wirklich, was man
sich voraimmt, also was ihan will.
Die hysterische Lähmung 277
W ie kn sittlichen Leben der Wille nicht nur im Haben von Vorsätzen, sondern
kn wirklichen Tun dessen, was getan werden.farnw, besteht,so ist auch bei jeder
menschlichen Bewegung wirkliches W ollen identisch mit wirklichem Tun, die
Möglichkeit der Ausführung vorausgesetzt. Der „W ille" erscheint uns erst als ^
etwas Selbständiges, wenn er von der Verwirklichung losgelöst ist, also einem
„unwilligen" Leib gegenübersteht.
Das Lernen ist dann ein Reorganisieren, das beim Menschen unter Einfluß des
Willens geschieht. In diesem Sinne gibt es kein tierisches Lernen.
Die organisierende Kraft des Willens hängt von der die Willensentscheidung
begründenden Zielvorstellung ab. Das ist nur der Fall, wenn diese keine ab
strakte Vorstellung ist, sondern sich „vitalisiert", indem sie die zielgerichtete
Bewegung in Form eines erlebten Anfangs der Ausführung in sich aufnimmt. Erst
dann stimmt das W ort K l a g e s : „Tun wollen ist N ichtgeschehenlassenwollen1' ‘.
Der W ille hat nach K l a g e s nur Richtung ohne Bewegungsdrang. Er ist wie
ein Ruder, das dem durch W ind fortbewegten Schiff eine bestimmte Richtung
vorschreibt und es also nicht den „blinden" Naturkräften ausgeliefert sein läßt.
Nach einem anderen Bilde kanalisiert der W ille den Bewegungsstrom so, daß das
Wasser nicht mehr seinem „natürlichen" Bette folgt. Diese Bilder werden vom
Autor verwendet, tun den Gegensatz (die sog. Feindschaft) zwischen W ille (Geist)
und Natur (Antrieb) zu demonstrieren. Diesen Gedanken wollen wir hier nicht
weiter verfolgen. .
Für eine Einsicht in das Lernen des Tuns, das man möchte, haben die erwähn
ten Vergleiche einen gewissen W ert. Sie verweisen darauf, daß der W ille auch unter
dem Aspekt eines Impulses erscheint, der dem vitalen Geschehen Richtung gibt.
Das hat man von alters her bemerkt. Es wurde zum Angriffspunkt aller Speku
lationen über die Wechselwirkung von Leib und Seele2.
Die entscheidende W irkung des Willens — die man auch gerade am Bild eines
Schiffes sehr gut demonstrieren kann — wird aber von K lages nicht erwähnt.
Es ist die Organisation der Naturkräfte in der Gestalt des Sich-Bewegenden durch eine
richtungbestimmende Kraft.
Die Stellung des Ruders bestimmt ja nicht nur den Kurs, sondern auch die
Weise der Bewegung des Schiffes, die Lage auf dem Wasser und daher die W ider
stände, die Stellung der Segel und daher die Wirkung des Windes oder die W ider
stände der Ruder und daher die Anstrengung der Ruderer usw.
Der W ille ist also nicht eine das Leben störende, sondern eine organisierende Kraft.
Der W ille ist ein „Organisator", einigermaßen vergleichbar den gleichnamigen
Faktoren, die uns seit Seemann ® Untersuchungen als die Impulse der auf eine
endgültige Gestalt hin ausgerichteten Formentwicklung bekannt sind.
Die Einsicht in die organisatorische Kraft des Willens und damit in den Prozeß
des menschlichen Lernens erfordert eine vergleichende Befrachtung m it den An
trieben des Tieres. Diese sind ja auch bewegende und organisierende Faktoren,
1 K lages , L .: P er Geist als Widersacher der Seele. Bd. II (2. Aufl.) . Leipzig 1939.
* Eine derartige Darstellung findet sich auch im dualistischen Vitalismus von D riesch .
Die Entelechie soll dem stofflichen Geschehen Richtung geben, ohne Energie hinzuzufügen.
Wenn sich eine Masse (ein Molekül) mit einer gewissen Geschwindigkeit bewegt, ändert seine
kinetische Energie sich nicht, wenn plötzlich die Richtung geändert würde (vgl: hierzu:
Mac D ougall ; B ody and Mind).
278 Die Genese der menschlichen Bewegungen
die in der tierischen Existenz enthalten sind und nur im Zusammenhang mit der
Situation als selbständige Kräfte erscheinen.
Nach K l a g e s stehen die Antriebe in einem Gegensatz zum Willen, Ein An
trieb sei nicht nur ein Vis motrix, sondern ein qualitativer Bewegungsdrang, ge
tragen von Bildern und diese wiederum tragend, weil er dem Erschauen von Bil
dern in ihrem vitalen Sinne entspringt. Das ist richtig. Doch wir müssen dem
hinzufügen, daß der Antrieb ebenso wie der Wille die Motorik organisiert. Als ein
auf etwas ausgerichteter schematischer Drang erzeugt er im Verfügen über die
Ausführungsmittel an ihnen eine mehr oder weniger adäquate Bewegungsgestalt.
Zweifellos — und soweit hat K l a g e s recht — ist der Wille eher „lebensfremd".
Das ist jedoch in dem Sinne zu verstehen, daß er, durch seine Ausrichtung auf ein
eicht durch das Leben aufgedrängtes Ziel, eine der Geistsphäre entnommene
Vorstellung als schematisches Leit&M der Lebenslage hinzufügt. Hierdurch
„kanalisiert" der Wille in vielen Fällen den primären Strom der Motorik, was beim
Lernen neuer Bewegungen klar hervortritt.
Es ist ein Wunder aßen Lebens, daß es stets bildbedingt ist. Das Besondere des
menschlichen Lebens liegt darin, daß es nicht nur wie im tierischen Dasein Bilder
zu empfangen und reproduzierend zu entwickeln vermag, sondern es kann neue
Bilder erzeugen, die eventuell die Bilder der Antriebe verdrängen oder verwandeln.
im Zusammenhang mit der Gesamtlage dennoch erreichbar sei. Dabei werden die
räumlichen Verhältnisse geschätzt, wird die Festigkeit von Hindernissen, Angriffs
punkten und Stützflächen in bezug auf Länge der eigenen Extremitäten, Größe
möglicher Sprünge, Schwere unseres Körpers und dessen Teile, Zug- und Stoß
kraft, die wir entwickeln können „beurteilt“ . Diese Überlegung geschieht gewiß
auf Grund unmittelbarer vitaler Erfahrung, doch zum Teil auch aus einer objekti
vierenden Stellungnahme durch verstandesmäßige, bewußte Reflexion. Es kann
auch ein Lehrer dabei sein, der uns sagt, was wir zu tun haben: mit dem linken
Arm sich hier festhalten, mit dem rechten Fuß jenes beiseiteschieben und sich
dann darauf stützen, mit dem linken Bein sich so abstoßen usw.
Wir denken und sprechen über eine künftige Bewegung im Sinne einer
möglichen Verfügung über Ausführungsmittel. Beim wirklichen Vollzug der
Bewegung dagegen wird das Objektivieren aufgehoben. W ir existieren un
seren Leib, wie wir es oben beschrieben. Dann hohen wir nicht einen Körper,
sondern sind unser Leib. Dabei muß jedoch im Sinne G a b r i e l M a r c e ls
festgehalten werden, daß wir uns nie gänzlich mit unserer Leiblichkeit
identifizieren können.
Das Verfügen über unseren Leib und seine Möglichkeiten tritt nicht weniger
markant hervor, wenn man den Auftrag erhält, einen Buchstaben zu schreiben.
Man kann das auch mit der linken Hand machen, wenn man es mit der rechten
gelernt hat. Weiter gelingt es ohne viel Mühe, den Buchstaben mit dem Fuß in
den Sand oder mit einem zwischen den Zähnen gehaltenen Bleistift zu schreiben.
Man kann im Gehen oder Schwimmen den. Buchstaben auch sehr groß schreiben.
Diese einfache Erfahrungstatsache erlaubt es, mit Straus zu sagen, daß wir keine
Bewegungen, sondern Bewegungszmsm erlernen.
Wie wir an einer konkreten Gestalt Form und Materie unterscheiden, so an einer.
Bewegung neben der Form die Mittel (Materie), durch die sie als geformte Bewe
gung erst verwirklicht wird. Die Form „verfügt“ über den Stoff. Also nicht in
einem carfesianischen Dualismus von Seele und Körper, sondern im aristotelischen
Dualismus von Form und Materie scheint ein Verfügen zu bestehen.
Zu sagen, die Form verfüge über die Materie, ist freilich eine uneigentliche
Ausdrucksweise. Die Form eines Buchstabens kann als Formvorstellung zwar für
sich im Geiste bestehen und ebenso die Kreide als Stoff; aber diese Vorstellungen
haben nichts miteinander zu tun, und von einem Verfügen kann nicht die Rede
sein. Wirklich ist nur der geformte Stoff mit seinen beiden Aspekten. Er
allein ist auch wirklich die psycho-physische Einheit des Menschen. Im Menschen
jedoch ist das Verhältnis von Form (Seele) und Stoff (Leib) anders als in allen
anderen Dingen und in allen anderen Lebewesen. Der Mensch kann seinen eigenen
Leib objektivieren, ihn als ein „Etwas" betrachten, als ob er außerhalb seiner
selbst sei. Dann hört jedoch dieser Körper auf, der eigene Leib zu sein, und
man kann auch nicht über ihn verfügen. So verhielt es sich bei dem Patienten
mit der hysterischen Lähmung!
Freilich bleibt auch meine objektiv betrachtete Hand für mich die eigene Hand
im Sinne eines uribezweifelbaren Wissens, daß sie die meinige ist, aber sie ist in
diesem Augenblick nicht die von mir bewegte Hand und in diesem Sinne nicht
mehr die eigene. Bewege ich sie dennoch, so scheint es mir, als ob sie sich an mir
bewege und nicht ich selbst sie bewege.
280 Die Genese der menschlichen Bewegungen
Das Verfügen, das wir unter den Bedingungen des Lernens erörterten, ist —
so folgern wir — nichts anderes als das Aufheben der objektivierenden Einstellung
zum eigenen Leib. .
eines Geschehens. Die Vorstellung selbst ist dynamischer Art. Die in unserer
Einbildung aufsteigende Bewegung wird zu einer uns ergreifenden Vorstellung,
die eine als virtuelle Bewegung innerlich vollzogene Mitbewegung auslöst.
Das Erlernen einer Bewegung geht also mit einer zweifachen Entwicklung
einher. Durch die wiederholte Erzeugung der Vorstellung gestaltet sich diese zu einer
virtuellen dynamischen Form, durch die wiederholte Ausführung der Handlung bildet
sich Me gediegene Bewegungsgestalt als eine stets selbständigere Funktion.
Zum tieferen Verständnis des Zusammenhangs einer zusammengesetzten Be
wegung mit der ihr parallelverlaufenden Entwicklung der antizipierenden Vor
stellung wollen wir die schon erwähnte Untersuchung van der V eldts einer
näheren Betrachtung unterziehen.
Auf einer schiefgestellten Tischfläche werden in regelmäßigen Abständen eine
Anzahl von Lämpchen angebracht. Die Versuchsperson soll jede aufleuchtende
Lampe berühren, was in verschiedener Anzahl und Reihenfolge stattfinden kann.
Jede Kombination wird durch ein an einer Tafel vor der Versuchsperson erschei
nendes Wort angedeutet, dessen Silben jeweils mit einer bestimmten Lampe korre
spondieren. Nach Wiederholung eines Versuchs stellt sich eine motorische Anti
zipation ein, indem die Bewegung nicht mehr durch die nacheinander aufleuchten
den Lämpchen gelenkt wird sondern ihre gestaltete Führung vom erscheinenden
W ort erhält. Damit ist also ein Fall gegeben, in dem die Lenkung der Bewegungen
nicht in der Einbildung aufsteigt, sondern sich durch die dynamischen Eigenschaf
ten einer optischen Wahrnehmung einstellt.
In der Untersuchung wurde nun versucht, das eigentliche motorische Lernen
und die Organisation des durch das Wort erzeugten Bewegungsplanes voneinander
zu trennen.
Zu diesem Zweck wurden zweiVersuchsreihen ausgeführt. In der „motorischen'*
Reihe berührt die Versuchsperson die Lampen, wenn sie Buchstaben sieht. In der
„sensorischen“ Reihe sitzt sie mit gekreuzten Armen, blickt auf die Lampen und
„denkt“ an die auszuführende Bewegung, ohne sie wirklich zu vollziehen. In
dieser Versuchsreihe findet also nur eine »préparation mentale« statt; von der nur
virtuell ausgeführten Bewegung bildet sich eine Art Vorstellung, die man mit
P a l a g y i ein Phantasiebild der Bewegung nennen kann.
In der motorischen Reihe kann man die motorische Entwicklung unmittelbar
verfolgen, in der sensorischen Reihe muß man hin und wieder einige Versuche, in
denen die Bewegung wirklich ausgelührt wird, einschalten, um den Fortschritt in
Geschwindigkeit und Sicherheit beurteilen zu können.
Das Ergebnis dieser Versuche zeigt die Bedeutung einer Vorbereitung, die
allem durch ein bewußtes Wahrnehmen und einen auf ein Ziel (das Lernen) ge
richteten Willen zustande kömmt. Obwohl diese „mentale“ Vorbereitung zum
Erlernen der Bewegung nicht ausreicht, führt sie doch nahe ans Ziel. Nur eine
kleine Anzahl von Wiederholungen wirklich vollzogener Bewegungen ist erforder
lich, um in der sensorischen Reihe das gleiche Ergebnis wie in der motorischen zu
erlangen.
Die Buchstaben, die mit dem Aufleuchten der Lämpchen verknüpft sind und
die also jeweils ein Signal einer bestimmten Bewegung darstellen, wirken wie die
Befehle eines Instruktors. Anfänglich ist zwischen den Befehl und die Ausführung
eine Bewegungsvorstellung eingeschaltet, die durch ihre dynamischen Züge als
282 Die Genese der menschlichen Bewegungen
sprechen die Untersuchungen bei Personen, bei denen durch eine vollständige
Desensibilisierung einer Extremität eine periphere Regulation der Bewegung aus
geschlossen ist.
Namentlich F öerster hat bei Patienten mit (wegen heftiger Schmerzen)
durchtrennten Hinterwurzeln Erfahrungen über die Koordination gesammelt1.
Wird ein Arm gefühllos gemacht, so ist schon bald nach der Operation die
Ausführung aller Arm- und der meisten Handbewegungen wieder möglich. Die
Bewegungen im Schulter- und Ellenbogengelenk können auch bei geschlossenen
Augen ausgeführt werden, aber die Impulsverteilung ist ungenau. Die Finger- und
Handbewegungen sind am meisten gestört. Die Impulse werden quantitativ und
qualitativ dem Aufträge oder dem Vorsatz nicht gemäß erteilt. Es kommt z. B.
zu einer Beugung anstatt zur vorgenommenen Streckung. Auch stellt sich bei
allen Bewegungen eine inadäquate Mitinnervation ein. Nur unter optischer
Kontrolle ist eine isolierte Fingerbewegung möglich.
Durch Übung kann sich die Lenkung der Bewegungen unter optischer K on
trolle wieder erheblich vervollkommnen. Die Dysmetrie verschwindet allmählich.
Aber auch die bei geschlossenen Augen, also ohne irgendeine Sinnesführung aus
geführten Bewegungen, können sich durch Übung so sehr verbessern, daß keine
Abweichung von der Norm mehr festzustellen ist.
In dieser Phase der Wiederherstellung kann z. B. eine durch den gesunden
Arm ausgeführte Bewegung mit dem desensibilisierten Arm bei geschlossenen
Augen reproduziert werden. Ein solches adäquates Bemessen des Impulses ist
jedoch nur bei raschen Bewegungen möglich. Langsame Bewegungen zeigen stets
Koordinationsstörungen, selbst nach langwieriger Übung. Auch kombinierte und
zusammengesetzte Handlungen, wie das Berühren der Nase mit dem Finger,
können schwerlich korrekt ausgeführt werden. Die Gesamtbewegung wird in Einzel
phasen aufgelöst; z. B. das Greifen in ein öffnen der Hand, Strecken des Annes,
Schließen der Hand und Beugen des Armes. Jeder Abschnitt einer solchen Hand
lung empfängt einen eigenen Impuls, der fließende Verlauf fehlt. Auch Haltungs
störungen verschwinden nicht ganz durch Übung. Der ausgestreckte Arm ist nach
Durchtrennung der afferenten Nerven immer in geringer Bewegung, besonders bei
leichter Beugestellung.
Soweit die Tatsachen, die mit Sicherheit zeigen, daß man fähig ist, eine Bewe
gung von bestimmtem Verlauf und bestimmter Einstellung ohne optische, taktile
und kinästhetische Kontrolle auszuführen. Da es sich um die Reproduktion pinor
wahrgenommenen Bewegung (z. B. des anderen Armes) oder die Ausführung eines
bestimmten Vorsatzes handelt, ist ihre Koordination gewiß „zentral“ bedingt.
Sie ist funktionell ausschließlich von einem wahrgenommenen oder vorgestellten
Bild, von einem durch den Willen organisierten und durch seine dynamischen
Eigenschaften vitalisierten Bewegungsplan abhängig. W ie das geschieht, ent
zieht sich jedoch jeder Vorstellung und muß sich entziehen, da wir es hier nicht
mit mechanischen Prozessen zu tun haben. Es ist nicht zu übersehen, daß wir
keineswegs wissen, wie eine einfache sinnvolle Assoziation zustande kommt oder
wie eine Struktur in der Ontogenese des Organismus durch einen „Organisator"
hervorgerufen wird.i
machen, indem man sagt, wir bewegten nicht unsere Muskeln, sondern die Glieder,
Das stimmt, aber es ist dennoch unverkennbar, daß es die Muskeln sind, die inner-
viert werden, und daß wir nicht wissen, wie das zweckmäßigerweise geschieht. Das
darf kein Grund sein, sich mit einer vorstellbaren Reflex-Schaltung zufriedenzu
geben. Mit gutem Recht kann man jedoch annehmen, daß einige Innervations
schemen leicht ansprechen, wie es z. B. bei der symmetrischen Innervation der
Fall ist. In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung F o e r s t e r * bemerkens
wert, daß seine Patienten verhältnismäßig leicht die Bewegungen des gefühllosen
Armes denen des anderen angleichen konnten,
Eine fein koordinierte Impulsaussendung regelt die Einheit der Bewegung
beider Augen. Aber gerade dieses Beispiel läßt die Frage aufkommen, wieweit
die Zusammenarbeit der Muskeln im zentralen Innervationsschema gegeben ist,
und wieweit sie reflektorisch zustande kommt. Bei Sensibilitätsstörung eines
Auges (und der gleichseitigen Augenmuskeln), z. B. nach Durchtrennung des
n. trigeminus, treten bei Bewegungen der Augen keine Doppelbilder auf. Das
zeigt, wie genau die Zusammenarbeit noch ist, auch wenn die Möglichkeit eines
reflektorischen Zusammenhangs zu einem großen Teil aufgehoben ist. 6 b jedoch
die Augenbewegung unmittelbar nach einseitigem Empfindungsverlust und unter
schwierigen Umständen (etwa beim Verfolgen eines Lichtpunktes im Dunkeln oder
nach einseitiger Ermüdung der Augenmuskeln) gleich vollkommen ist wie in
normalem Zustand, ist mir nicht bekannt1.
1 Auch für die Unterscheidung von Objektbewegung und Augenbewegung genügt offenbar
die Sensibilität eines Auges, wenn dies abgedeckt mit dem anästhetischen Auge mitbewegt wird.
Für das Problem der Mit-Innervation sind auch die Tierversuche über DanamstMlkiep ia g «iw*r
Extremität aufschlußreich. So fand T rendelenburg eine ungestörte Flugleistung einer Taube
nach Desensibilisierung eines Flügels. Die Impulsaussendung rechts und links gewährleistet
die normale Zusammenarbeit.
D ie Lenkung der Bewegungen während ihrer Ausführung 287
hat das gelernt, und zwar zunächst mit den Augen, dann m it kombinierter Augen-
und Kopfbewegung und darauf mit der Bewegung des Körpers oder nur mit Arm
und Hand,
Beim Verfolgen einer Bewegung oder des Umrisses einer Figur mit den Augen
werden die Impulse zu den Augenmuskeln so geregelt, daß der fixierte Punkt
immer auf der Stelle des schärfsten Sehens auf der Netzhaut abgebildet wird. Das
Verfolgen beruht also gleichsam auf einer unmittelbaren Berührung, wie man den
Finger auf einem sich bewegenden Knopf halten kann, nur mit dem Unterschied,
daß die Berührung mit dem Auge nicht fest, nicht mechanisch zwangsläufig ist,
sondern fortwährend aktiv unterhalten werden muß. Beim Ausführen der Augen
bewegungen entstehen in den Augenmuskeln (auch in den Augenhüllen, Augen
lidern usw.) sensible Eindrücke, die m it dem Bewegungsvollzug und seinen
optischen Eindrücken verschmelzen und Koordination, Gleichmaß und Stabilität
der Folgebewegung sichern. Die Sicherheit der Augenbewegungen scheint uns so
groß, daß wir meinen, im Dunkeln leicht den Umriß einer Figur m it den Augen
verfolgen zu können und davon überzeugt sind, wir täten das ganz genau, z. B,
wenn ein Lichtpunkt sich auf einer Bahn bewegt. Die Untersuchung lehrt jed och ,
daß dieses Verfolgen eines Umrisses nur in schematischer Weise geschieht1.
W ir. haben gelernt, den Umriß einer Figur nicht nur durch Augenbewegungen,
sondern auch durch K opf-, Hand-, und Fußbewegungen zu verfolgen, gleichsam
nachzuzeichnen. Die Genauigkeit wird von der Lebendigkeit der Vorstellung, der
Kompliziertheit der Figur und der Geschwindigkeit der Bewegung abhängen.
Das Erlernen einer Bewegung ist zum Teil denn auch nichts anderes als ein
Nachahmen, ein Verfolgen-Können einer vorgestellten Kurve, was aber nur unter
Kontrolle durch die peripheren Eindrücke, zumal des sog. Muskelgefühls möglich
ist. Die m it einem einzigen Ausführungsorgan, etwa durch eine Kopfbewegung
geringen Ausmaßes, erfolgte Bewegung kann nun mit anderen Ausführungs
organen, z. B. der Hand nachgeahmt werden.
Mitbewegung und Selbst-Nachahmung sind also wichtige Mittel zum Erlernen
von Bewegungen, bei denen die Lenkung der Ausführung notwendig ist. Aus der
„Genese“ dieses „Folgens" in der Entwicklung kindlicher M otorik verstehen wir,
daß besonders optische Wahrnehmungen und Vorstellungen das Lernen einleiten.
Während der Ausführung einer Handlung steht sich auch eine optische K on
trolle ein, wobei die Bewegung nicht der Wahrnehmung, sondern diese dar Bewe
gung folgt. Jeder, der Zeichnen lernt, weiß, wie wichtig diese Lenkung durch die
Augen ist. Sie besteht in einer Billigung und Ablehnung, einem Gehenlassen und
einem Hemmen. Die Hand folgt einer optischen Vorstellung, und die optische
Wahrnehmung lenkt die Hand.
Zeichnet man ein Viereck aufs Papier, so kostet es keine Mühe, unter optischer
Kontrolle die Diagonale einzuzeichnen. Bei geschlossenen Augen geschieht das
noch leidlich gut. Sieht man jedoch Papier und Hand nur im Spiegel, so ist jetzt
das Einzeichnen der Diagonale unter optischer Kontrolle faßt unmöglich. Da
haben wir ein gutes Beispiel des Erlemens einer Bewegung, die man zunächst nicht
tun kann unddoch will und wozu alle Hilfsm ittel verfügbar sind. Die Selbstbeobach
tung zeigt, was Mer gelernt werden soll. Man soll durch „Versuch und Irrtum“ lernen, >
den Bleistift vom einen zum anderen wahrgenommenen W inkelpunkt zu bewegen.
1 Metzger, W .: Gesetze des Sehens. 1954.
288 P ie Genese der menschlichen Bewegungen
Die Schwierigkeit entsteht, weil man Mer der Bewegung der Augen nicht folgen
kann, da die Augenbewegung (wie bei einer Manipulation unterm Mikroskop) der
Handbewegung entgegengesetzt ist. Die optische Kontrolle besteht auch jetzt in
Billigung und Ablehnung der ausgeführten Bewegungen. Auffallend ist die Ver
steifungsinnervation, die durch starke Hemmungen, besonders bei den ernten
Versuchen entsteht und die Bewegungen noch mehr erschwert. Das gleiche sehen
wir bei den ersten Übungen der Kinder, Hand und Auge Zusammenarbeiten zu
lassen (u. a. bei den ersten Schreibübungen).
Erst wenn sich beim Zeichnen vor dem Spiegel die Spannungen lösen, führen
die nun freieren Suchbewegungen bald zu einem guten Ergebnis und es gelingt,
der Hand mit dem Auge zu folgen. Man hat erneut zu folgern, rieh gehenzulassen
gelernt, und zwar durch das Aufgeben jeglichen Widerstandes.
Folgen ist identisch mit Bewegt-Werden. Lernen hat als Bedingung eine Aus
führungslenkung der Bewegung, aber diese ist nur möglich, wenn gegen sie keine
Widerstände entwickelt werden. Wer Tanzen lernen will, muß der Musik folgen,
von der Musik b e le g t werden.
Beim Lernen, einer Bewegung mit den Augen zu folgen, ist die Bindung an
einen objektiv sich bewegenden Punkt so unmittelbar und stark, wie wenn sie
merhanisch wäre. Von dieser Funktion kann man daher leicht ein mechanisches
Modell entwerfen, so daß L qbb sogar eine phototaktische Maschine bauen konnte,
die einem Licht folgen konnte wie der Hund seinem Herrn1.
Viele komplizierte Handlungen erlernen wir durch Nachahmung. Auch dann
ist die Wahrnehmung die Lenkerin der Bewegung. Während der Ausführung ist
jedoch ein Büd des Wahrgenommenen das leitende Moment. Das kann nur ge
schehen, wenn wir das Ganze eines Bewegungsverlaufs innerlich, also virtuell, als
eine dynamische Gestalt erleben. W ir tun das durch Schematisierung, Miteriphen,
betonenden Mitvollzug der dominierenden Momente, eventuell durch Sonder
übung der Teilmomente, In einem solchen F alk erklingt in m s gleichsam eine
Bewegungsmelodie, die uns wie einen Tänzer bewegt. Dann erst haben war die Be
wegung „begriffen", wenn wir eine »structuration de la perception« erreicht haben,
»Pour acquérir la maîtrise d'un mouvement complexe, il faut s’attacher à bien
sentir ou percevoir ce mouvement, à en discerner les articulations et la structure,
en un m ot à le comprendre. Comprendre un mouvement, c'est en organiser la
perception. Les exercices ont surtout pour but de fane comprendre ce qu'on
appelle d ’un terme heureux la Mélodie kinétique8.«
Um der „kinetischen M elodie" folgen zu können, müssen wir „M acht" über
unseren Leib haben, da sonst unsere Glieder doch anders tun als wir wollen.
Die Beherrschung des Bewegungsvollzugs kann aus verschiedenen Gründen
verlorengehen. Beim Zeichnen im Spiegel haben wir einen davon kennengelemt,
nämlich die Inkongruenz zwischen optischer und Unästhetischer Wahrnehmung.
Es gibt aber noch eine Reihe anderer Gründe.
a) Zur Unfähigkeit kann eine Ausbreitung der Innervation führen, wodurch
überflüssige Bewegungen und Versteifungen entstehen. Hierin, d. h. in den Mit
bewegungen und .Versteifungen liegt der „Fehler” bei Anfängern im Sport und
in der Athletik. Bei einigen Übungen kann der Bewegungsverlauf die erwünschte
1 L obe, J .: Forced movements etc. Lippinincott 1918.
1 Gujïxaumb, P .: a .a .O . S. 126.
Bewegungsempfin düngen 289
Form noch erlangen, wenn die Ausführung langsam vollzogen wird. Bei anderen
Leistungen wie Schlittschuhlaufen und Reiten ist die Lösung der Spannungen
unerläßlich. Beim letzteren muß man nicht nur begriffen haben, daß das Still
halten der Hände, der Wechsel der Zügelspanmmg und des Beindrucks unabhängig
voneinander ausgeführt werden müssen, sondern man muß dies auch vollbringen
können.
b) H at man eine Bewegung begriffen, die Gestalt-Merkmale erfaßt, und kann
man den Verlauf der kinetischen Melodie virtuell reproduzieren, so kennt man
noch nicht die Widerstände, die durch die Selbstbewegung in ihren verschiedenen
Phasen ausgelöst und erfahren werden. Ebensowenig kennt man die tatsächlichen
räumlichen Verhältnisse. Deshalb kann man nie „trocken " Schwimmen oder
Rudern lernen. Auch bei jeder Materialbearbeitung ist die Kenntnis der W ider
stände wesentlich. Fehlt diese, so fehlt auch die Macht über die Bewegung. Im
Tun lernt man die Antizipation der möglichen kommenden Widerstände und räum
lichen Verhältnisse (Springen mit Anlauf).
c) Für die Ausführung neuer Handlungen ist es oft erforderlich, früher an
gelernte und automatisierte Kombinationen aufzulösen. Auch das muß im Tun erlernt
werden und ist eine der Bedingungen, um Macht über die Bewegung zu erlangen.
Es können nicht nur spezielle, erworbene Automatismen störend sein, sondern
auch einige allgemeine, aus den Grundfunktionen (Fortbewegung und Haltung)
entspringende Innervationstypen können das Erlernen neuer Bewegungen stören.
W ir nennen deren drei.
1. Eine Versteifungsinnervation hat die Tendenz, sich über eine ganze Extrem i
tät auszubreiten. Beim Reitenlemen bereitet daher die Ausübung einer gleich
mäßigen Spannung in den Oberschenkeladduktoren, das Festanlegen der Knie bei
vollkommener Erschlaffung der Unterbeine viel Mühe.
2. Es besteht allgemein eine starke Tendenz zur symmetrischen Mitbmegung.
Deshalb können wir ohne viel Mühe links schreiben, wenn nur die rechte Hand die
Führung übernimmt. Die symmetrische Mitinnervation muß jedoch bei vielen
zu erlernenden Bewegungen aufgelöst werden.
3. Für die Neigung, eine einfache Bewegung an einer bestimmten Stelle enden
zu lassen, hat W acholder gezeigt, daß von Anfang an eine sehr bestimmte Inner
vation von Agonisten und Antagonisten stattfindet, welche sich von der einer
rhythmischen Bewegung unterscheidet. D a nun bei vielen zu erlernenden Hand
lungen ein rhythmisch fließender Verlauf verlangt wird, stört die erwähnte
Tendenz die Lenkung des Bewegungsvollzuges.
9. Bewegungsempfindungen
Unsere Erörterung der Bewegungslenkung zeigte, daß ohne Erfahrung der
Ausführung das Lernen nie zustande kommen kann. Diese Erfahrung besteht
in einer Anzahl komplizierter Eindrücke, die sich aus propriozeptiven und
Tastempfindungen zusammensetzen. Ohne diese peripheren Eindrücke kann sich
die Anpassung an Situation, W iderstand und räumliche Verhältnisse nicht voll
ziehen. Erst durch sie entwickelt sich der Bewegungsplan im Verlaufe des Lebens
zu einem differenzierten Ganzen, das ein simultanes und sukzessives Zusammen
spiel der Muskeln und som it die gesamte Koordination enthält.
Buytendijk, Haltung und Bewegung 19
290 Die Genese der menschlichen Bewegungen
Seit den Untersuchungen W eber * über Kraft- und Muskelsinn, der Einführung
des Begriffes der Senso-Motorik E xner * und den klassischen Experimenten
Sherrington » betrachtet man in der Physiologie die periphere Regulation als den
Hauptfaktor der Koordination.
Es stellte sich dabei heraus, daß neben den bei aktiver und passiver Anspan
nung in den Muskeln ausgelösten propriozeptiven Reizen (in den sog. Muskel
spindeln und den sensiblen Nervenendigungen in Sehnen und Fascien), msbe-
sondere die Haut über den Gelenken Eindrücke zur Unterrichtung über Haltung
und Bewegung vermittelt.
Unsere Einsicht in Art und Zusammenhang der bei der Bewegung entstehenden
sensiblen Reize und Empfindungen ist noch sehr unvollständig, doch der funktio
nelle W ert dieser Eindrücke ist zweifellos gesichert. Es ist nachgewiesen, daß die
Lenkung des Bewegungsvollzugs zu einem großen Teil auf kinästhetisehen und
Tastempfindungen beruht.
Beim Erlernen der Bewegungen müssen wir also die peripheren Eindrücke
erfahren und aufbewahren. Manchmal folgen wir bei der Reproduktion einer
Bewegung hauptsächlich den Bewegungsempfindungen in ihrer simultanen und
sukzessiven Anordnung. Damit meinen wir den Gestalt-Charakter des Gesamt
stromes peripherer Eindrücke.
W ir wollen davon ein markantes, sei es auch ausgefallenes Beispiel besprechen.
E s betrifft das Gebrauchenlemen einer Handprothese nach S a u e r b r u c h 1.
Nach Amputation des Oberarmes werden die noch brauchbaren Muskeln (z. B.
mm. bíceps und tríceps) durchbohrt. Nachdem die Kanäle mit Haut überdeckt
sind, werden elfenbeinerne Stäbchen eingelegt, die durch Metallfäden die Kon
traktionen der genannten Muskeln auf die beweglichen Teile der Kunsthand über
tragen sollen. Die Kunsthand ist nach dem früher erörterten Prinzip der gleiten
den Kuppelung angefertigt.
Der Amputierte muß zuerst lernen, die früher erworbenen Kontraktions-
kombinationen der antagonistischen Muskeln zu verlernen. Der stabile Zu
sammenhang von m. biceps und tríceps muß so vollständig aufgehoben werden,
daß der Patient dazu fähig wird, jeden dieser Muskeln einzeln, gleichzeitig oder
nacheinander zu kontrahieren. Diese Befreiung der Kontraktionen von ihrer
automatischen, fast mechanischen 'Verknüpfung, ist nur durch langwierige Übun
gen zu erreichen. Das geschieht an einem Apparat, durch den die Versuchsperson
die Kontraktion der Muskeln an der Bewegung von Hebeln selbst kontrollieren
kann. Anfänglich lernt der Amputierte also die Reproduktion einer bestimmten
Bewegung der Hebel, und zwar gegen wechselnde Widerstände. Er lernt dabei
aber auch die Bewegungsempfindungen selbst kennen und kann nach einiger Zeit
diese Eindrücke reproduzieren und so die Muskeln ohne optische Kontrolle un
abhängig voneinander bewegen. Je vollständiger die Dissoziation der bestehenden
Koordination gelingt, um so besser können die Muskelinnervationen in einen neuen
Zusammenhang m it der Bewegung der Kunsthand gebracht werden. Die Ober
armmuskeln, die mittels Metalldrahtverbindungen auf die Kunsthand wirken,
können diese nicht nur schließen und öffnen, sondern auch rotieren und Bewe
gungskombinationen zustandebringen. Dazu sind lange vorbereitende Übungen
1 Sauerbruch, F.: Die willkürlich bewegbare künstliche Hand. Berlin 1. 1916 II.
1923. Wir folgen dem Referat B ethe* Ina Handbuch der Physiologie a. a. O. 3,11 lOff.
Be wegun gsem p find un gen 291
erforderlich, bis sich eine völlige Dissoziation der Streck- und Beugemuskeln des -
Oberarmes eingestellt hat. Ein Mann brachte es so zur Ausführung feiner differen
zierter Handlungen. Es ist sogar Schreiben mit der Kunsthand möglich, ebenso
wie Sticken. Selbstverständlich müssen diese Tätigkeiten ganz neu erlernt werden,
da die Koordination ja durch ganz andere Innervationsimpulse gesichert wird.
Nach den Vorübungen zur Lösung der Innervationsverbindungen zwischen den
Muskeln muß durch eine langwierige Übung mit der Kunsthand ein fester Zu
sammenhang zwischen Bewegung und Bewegungsempfindungen gestiftet werden.
Erst nach Herstellung dieser Verbindung kann über die Kunsthand als über einen
eigenen Körperteil verfügt werden.
Für die Theorie der Willkürbewegung und des Lernens ist — wie B e t h e er
wähnt — von Bedeutung, daß die Weise der Zusammenarbeit der Muskeln von der
vorgestellten Situation abhängfti Stellen sich die Amputierten nach Ablegung der
Prothese vor, noch einen normalen .Arm zu haben, so stellt~sich die reziproke
Innervation der Antagonisten in vollem Umfang erneut ein. Denken sie jedoch an
die Oberarmmuskeln selbst oder an die Bewegungen der Kunsthand, so kann die
reziproke Innervation unterdrückt werden.
Aber nicht nur die Antagonisten des Oberarmes, sondern auch seine Synergisten,
so z. B. die normalerweise zusammenarbeitenden mm. biceps und brachiälis internus,
können mit der Methode Sauerbruchs funktionell vollständig voneinander ge
schieden werden. 'Deswegen könnten die Verwendungsmöglichkeiten der Kunst
hand noch größer sein, wenn nicht die Zerbrechlichkeit dieser Prothesen in der
Praxis eine ernste Schwierigkeit böte.
Es ist nicht möglich, jeden Patienten den Gebrauch einer Kunsthand zu lehren.
Nur bei wenigen Operierten werden die Prothesebewegungen. schließlich ganz
automatisch und reflektorisch ausgeführt. Die Handlungen werden dann ohne
Nachdenken mit der gleichen Sicherheit verrichtet, m it der ein Autofahrer seinen
Wagen durch den größten Verkehr lenkt.
Auch hinsichtlich der sensorischen Eindrücke können wir diesen Vergleich
ziehen. Seit den Untersuchungen K atz’ 1 über den Vibrationssinn wissen wir, daß
die unsere Bewegungen lenkenden taktilen Empfindungen beim Gebrauch eines
Werkzeuges dort gefühlt werden, wo der fremde Gegenstand die Unterlage be
rührt. R eibt man mit der Spitze eines Stockes auf einer Oberfläche, so empfindet
man deren Qualität weitgehend so, wie wenn man mit der Fingerspitze reiben würde.
Der Autofahrer fühlt den W eg und dessen Eigenschaften nicht in seinen Händen,
sondern unmittelbar unter den Reifen, als ob sich sein Körper bis dahin ausdehnte.
In gleicher Weise werden die propriozeptiven und die Tastempfindungen des
Amputationsstumpfes, derartig mit den Bewegungen und feinsten Schwingungen
der Prothese verknüpft, daß man durch die Kunsthand hindurch die Gegenstände
nach Form, Gewicht, Konsistenz und A rt der Oberfläche empfinden kann. Dann
erst ist die Prothese in sensorischer und m otorischer Hinsicht vollständig in den
Leib eingegliedert.
Die Untersuchungen S a u e r b r u c h s lehren u n s also zunächst die große Bedeu
tung der peripheren Eindrücke für Koordination und Re-Kpordination. Bewegung
und Empfindung werden beim Erlernen neuer Bewegungen zu neuen funktionellen
Kreisprozessen verknüpft.
1 K atz , D.: Der Aufbau der Tastwelt. Z. f. Psych. Erg. Bd, II, 1925.
* 19*
292 Die Genese der menschlichen Bewegungen
Zweitens zeigt sich, auf überzeugende Weise, wie Situation und (bewußte) Ein
stellung zu ihr den Grundplan der Handlung und damit die Kategorie der funktio
nellen Schemata bestimmen.
Drittens sehen wir hier die Bildung von Bewegungen durch Dissoziation be
stehender senso-motorischer Komplexe und durch einen bewußten Aufbau neuer
Verbindungen. Es ist dies eine vqn der natürlichen Bewegungsentwicklung völlig
abweichende Weise des Lernens, die nur beim Menschen möglich ist: ein konstruk
tives, bewußt durch W ille und Nachdenken gelenktes Lernen von Bewegungen. Dem
m uß Jedoch eine zweite Phase folgen, in der sich die losen Teilmomente zu einer
Einheit gestalten und die Gesamtbewegung den wechselnden Situationen angepaßt
und automatisiert wird.
Ebenso wie beim Gebrauch der Kunsthand ist es möglich, als Einleitung zu
Leibesübungen oder zum Beherrschen technischer Fertigkeiten Teilstücke des
Gesamtbewegungsverlaufs einzeln zu erlernen, bestehende Koordinationen auf
zulösen und andere zu bilden. Späterhin jedoch wird die Handlung in ihrer unge
teilten Einheit vollzogen werden müssen. Sie muß sich allmählich zu einer geschlos
senen und ausgeprägten Gestalt entwickeln. Man kann im voraus nicht sagen, ob
eine analytisch-synthetische Vorübung erforderlich oder erwünscht ist und ob sie
das Erlernen einer Leistung beschleunigen oder verzögern wird. Das wird sich aus
der Erfahrung zeigen müssen. Für jeden Fall technischer oder sportlicher Leistun
gen, sei es für das Erlernen des Spielern von Musildaistrumenten, sei es für das
Zeichnen und Schreiben, für militärische Übungen, für Skilaufen oder Reiten usw.
wird es einzeln zu untersuchen sein.
Immer jedoch müssen bestehende feste Koordinationen erst aufgelöst werden,
wenn sich eine neue Koordination bilden soll. Das kann am besten unter der
Kontrolle optischer Wahrnehmung und der der Bewegungs- und Haltungsempfin
dungen (des sog. Muskelgefühls) vor sich gehen. Besonders bei der Reedukation
pathologischer Funktions-Abweichungen ist diese Methode sehr fruchtbar, wenn d e
auch viel Zeit und Geduld erfordert.1
Bevor wir unsere Erörterung der Bewegungslenkung durch Bewegungsempfin
dungen abschließen, wollen wir noch einmal betonen, daß die beim Lernen mit den Be
wegungen zu einem funktionellen Kreisprozeß sich verbindenden Eindrücke keines
wegs aus einer Summe von Reizen oder Empfindungen bestehen9. W ie wichtig die
physiologische Analyse von Tastsinn, Tiefensinn, Kraft- und Muskelsmn auch sein
mag, alle Bestimmungen von Schwellenwerten, Unterschiedüchwellen der Anzahl
der Tastpunkte auf der Haut und der Muskelspindeln in den Muskeln liefern höch
stens Hinweise für unsere Einsicht in den senso-motorischen Zusammenhang,
V on W eizsäcker und Stein 9 haben gezeigt, daß einige Formen von Ataxie
durch rein funktionelle Sensibilitätsstörungen entstehen können. Gewöhnlich
1 Daher der Erfolg der Mensendieckmethode bei der Reedukation der Bewegungs- und
Haltungsabweichungen und bei der Nachbehandlung -von Kinderlähmung usw.
* So ist beim Vergleichen von Gewichten nicht die Spannung in den wirksamen
entscheidend, sondern ein Komplex von Eindrücken zusammen mit der Wahrnehmung der
Situation, Erinnerungen usw. Vgl. meine Abhandlung: „Die Abstufung der willkürlichen
Muskelspannung. Commentationes Pontifieia Acad. Scient. IV n. 13. (1940).
* Stein , J., u. V. v. W eizsäcker: Zur Pathologie der Sensibilität. Erg. Physiol. 1928;
Mayer -G ross, W., u . J. Stein : Pathologie der Wahrnehmung. Handbuch der Geisteskrank
heiten, Bd. I. Allg. Teil 1. (1928).
Das Autom atisieren der Bewegungen 293
erklärt man die Ataxie, wie beim klassischen Beispiel der Tabes, durch den Ausfall
der durch die Hinterstränge des Rückenmarks geleiteten peripheren Reize. Bei
bestimmten Krankheitsfällen sind diese Hinterstränge völlig intakt, und man findet
trotzdem eine Koordinationsstörung. Den genannten Forschem zeigte sich nun in
diesen Fällen eine größere Labilität der sensiblen Empfindungen. So ergibt die
Reizung eines Tastpunktes keine konstante Empfindung, und außer einem wech
selnden Schwellenwert fand sich auch eine gestörte zeitliche Einordnung der Empfin
dungen. Bei Berührung einer Hautstelle zweimal hintereinander scheint es dem
Patienten, als bliebe der Reiz an dieser Stelle haften. Rhythmische Reize
werden als ein Stärker- und Schwächerwerden empfunden. Man spricht hier von
einem „Funktionswandel“ der Sensibilität als Ursache der Ataxie.
Mir scheint dieses Ergebnis auch für die Theorie des Lernens von Bedeutung
zu sein. Denn wenn eine starke Koordinationsstörung auf Labilität und ver
wandeltem funktionellem Zusammenhang der peripheren Eindrücke beruhen
kann, liegt die Annahme nahe, daß man durch Übung beim Normalen unter ande
rem eine größere Stabilität der Empfindungen erzielen kann. Erst dadurch kann
ein die Bewegung lenkender geform ter Eindruck entstehen.
1 Man spricht auch wohl von ,,bildbedingter Biologie” . Vgl. A n d r é : Urbild und Ursache
in der Biologie. München 1931.
* Die Kinderpsychologen, u. a. Ch , B ühler, Gesell neigen zu immer weiteren Unter
scheidungen,
296 Typologie der meoeehiieheB Dynamik
während sie mancher Handlung eines Kindes ganz fehlen kann. Im all
gemeinen ist jedoch die Tätigkeit eines Kindes jugendlich, wie man auch diesen
Zug bei jungen Tieren meistens antrifft.
Das Jugendliche ist also eine Grundform des menschlichen Bewegens, die im
Kindesalter dominiert. Die Typologie der jugendlichen Dynam ik bietet uns denn
auch zugleich eine Einsicht in die Art der das Kinderdasein bestimmenden
Positionalität.
Obwohl, wie gesagt, jugendliche Bewegung in jedem Alter Vorkommen kann,
lernen wir diese Dynamik doch am besten bei der Betrachtung der Bewegungs
weise von Kindern und jungen Tieren kennen.
haben wir schon darauf .hingewiesen, daß jede tierische und menschliche
Funktion, auch eine scheinbar zwangsläufige Reaktion, einen spontanen Faktor
einschließt, wodurch jede Bewegung eine Selbstbewegung ist. Bei einer unaus-
gerichteten Bewegung überwiegt dieser Faktor stärker. E r äußert sich in
Unbestimmtheit und Bewegungsübemiaß der Ausführung, Jede maßvolle Be
wegung ist durch Bestimmtheit gekennzeichnet, die im Begriff Maß schon m it
enthalten ist. Über-Maß von Aktivität ist jedoch ein Durchbrechen der bestim
menden, begrenzenden Faktoren und offenbart eine innere Spannkraft, eine
spontane Vitalität, ein Aufwallen der Aktivität wie aus einer Quelle. Deshalb
wirkt auch jedes Verhalten Erwachsener, mag es noch so zielgerichtet sein, trotz
dem jugendlich, wenn es in gewissem Umfang eine Bewegungsüppigkeit, ein
Übermaß zeigt.
Die Einschränkung der Bewegungen älterer Menschen und Tiere durch zahl
reiche äußere und innere Umstände drückt ein Verhältnis zur Außenwelt aus, das
man Behutsamkeit oder Vorsicht nennen kann. Funktionell bedeutet das eine
Anpassung der Bewegungen an die Situation und an die eigenen Möglichkeiten.
Diese Züge fehlen dem jugendlichen Handeln. Alles unbedachtsame, unvorsichtige,
übermütige Tun, soweit es nicht durch einen Mangel, also negativ bedingt ist,
erhält denn auch leicht die Züge jugendlicher Dynamik.
Aus der Spontaneität, der überfließenden Lebenskraft und der unausgerichteten
Einstellung folgt auch die Tendenz zur Wiederholung als weiterer Zug jugendlicher
Bewegung. Als Linie dargestellt entspricht dem jugendlichen Bewegungsverlauf nur
eine geschlossene Figur, ohne deutlichen Anfang und ohne bestimmtes Ende. Tat
sächlich sieht man bei Kindern und jungen Tieren alle Formen rhythmischer Bewe
gung vielfach auftreten. Auf diese Weise entlädt sich der starke Bewegungsdrang.
Die Bewegungen der Kinder und die als jugendlich gekennzeichneten Bewegun
gen Erwachsener schreiten nicht gleichmäßig voran, wie es j ede Arbeitshandlung tut,
die aus aneinandergereihten Teilstücken besteht und intentional auf ihr Ende, als
auf ihre Erfüllung und ihren Ruhepunkf eingestellt ist. Eine derartige Aktivitäts
form, die sich uns noch £ils die typisch männliche zeigen wird, ist dem Kinde fremd.
Auch fehlen dem jugendlichen Tun die Züge des sorgenden Tätigseins, welche der
weiblichen Dynamik eigen sind. Das Bezogensein der Aktivität auf ein Zentrum,
das es umkreist, ohne aus eigener Intentionalität einen eigentlichen Endpunkt zu
finden— eine formale Eigenschaft des Sorgens— bedingt eine gewisse Verwandt
schaft zwischen dem sinnvollen weiblichen Handeln und dem spielerischen
Bewegungsluxus des Kindes. Das meint man, wenn man sagt, die Frau habe mehr
als der Mann das Jugendliche in ihrem Verhalten bewahrt.
Unausgerichtetheit, Unsicherheit, Bewegungsluxus und Spontaneität, un
gehemmte und rhythmische Aktivität hängen miteinander zusammen. Je nach
den Umständen und daher auch im Zusammenhang mit dem Alter sehen wir diesen
oder jenen Zug mehr hervortreten.
Die Spontaneität, d. h. das unbegründete, unbestimmte Bewegen von innen
heraus ist jedoch als selbständiges Merkmal für die jugendliche Bewegung so
typisch, daß sie als eine Grundeigenschaft für sich aufgefaßt werden muß. Mit
Recht spricht man denn auch von spontanem Bewegungsdrang: Sowohl beim
strampelnden Wiegenkind wie beim Schulkind, das nicht stillsitzen kann, im po
niert der Bewegungsdrang als innere Spannung.
298 Typologie der menschlichen Dynamik
Der Bewegungsdrang ist jedoch keine Unruhe, Die Grenze zwischen diesen
beiden Zuständen ist allerdings schwer zu ziehen und noch schwerer begrifflich aus
zudrücken. In der vergleichenden Anschauung bemerken wir jedoch bei gesunder
Jugendlichkeit ein von Alter und Umständen abhängendes bestimmtes Ausmaß
des Bewegungsdranges. Beim kränklichen Kind (Chorus)1, dem »enfant instable«
(A bramson) fällt die Ruhelosigkeit in allen Bewegungsbereichen und zudem die
geringe Spezifizierung der Bewegung auf. Man findet das in einem Alter, in dem
eine gewisse Einschränkung des Bewegungsdranges und eine Differenzierung
der Bewegungen schon vorhanden sein sollten. Chorus weist denn auch auf das
Infantile im Bewegungsbild dieser Kinder hin (S. 12).
Infantilismus ist keine Jugendlichkeit 1 Abramson* kennzeichnet das Bild
eines ungesunden Bewegungsdrangs treffend, indem er von einer »disproportion
entre l’accumulation du tonus et sa libération« spricht. Dies führt zu »gestes
maladroits, massifs, contractés et indifférentiés qui caractérisent si bien les mouve
ments excessifs et discontinues des instables«. Von diesem abnormen Bewegungs-
drang, dieser Unstetigkeit und Unruhe muß die jugendliche normale Spontaneität
wohl unterschieden werden. Das ist für pädagogische und psychologisch-dia
gnostische Urteile unbedingt erforderlich.
Der „gesunde“ Bewegungsdrang macht eine bestimmte Entwicklung durch
und bildet die dynamische Grundlage für den Ausbau aller senso-motorischen
Funktionen. Er kommt erst zur Ruhe, wenn die Aktivität die Form und das Maß
gefunden hat, die in Arbeit und Sorge durch Motive und Situationen bestimmt
werden. Solange jedoch ein älterer Mensch noch etwas Jugendlichkeit hat,, äußert
sie sich immer wieder in einem Bewegungsdrang, der dann nicht in zappeligem
Getue und nervöser Betriebsamkeit, sondern in einer gewissen „Flinkheit“ be
steht. Hierunter verstehen wir einen allen Bewegungen, dem gesamten dynami
schen Bild zukommenden Zug. Alle motorischen Äußerungen zeigen dam« ein
lebendiges Tempo und einen gewissen Tonus. Das Bewahren dieser „Flinkheit“
ist daher auch ein Mittel zur Erhaltung der jugendlichen Einstellung.
Der Bewegungsdrang begründet die jugendliche Bewegungsfonn und muß
daher als eine ihrer typischsten Eigenschaften angesehen werden. Zudem ermög
licht er die Entwicklung des Spielern, der wichtigsten Äußerung der Kindheit.
Obwohl die Bewegung des Kindes, spontan ist, wird sie dennoch durch die Ein
drücke der Außenwelt ausgelöst und in ihrem Verlauf wenigstens zum Teil durch
sie bestimmt. Das ist nicht anders möglich, denn alles Leben ist ein Zusammenleben
mit der Umwelt, mit dem Milieu im weitesten Sinne. Sogar die spontanste Bewe
gung ist nicht ausschließlich innerlich determiniert, sondern stellt auch eine Reak
tion auf ein Bewegt-Werden dar. Das gilt für jede vollwertige Handlung: wn*
Aktion ist zugleich eine Reaktion und umgekehrt,
3, Das Fathische
Zur Besonderheit der Relationsform zwischen selbstbewegender Person und
W elt, die eine jugendliche Dynamik ermöglicht, gehört auch, daß sich die jugend
liche Aktivität über einen sehr beschränkten Raum erstreckt. Sie ist nicht auf die
Fem e, sondern auf die Nähe bezogen, auf das, was bei und mit uns ist, uns
1 Chorus, A. J. M. : Het tempo der ongedurige Hinderen. (Diss. Nijmegen) Amsterdam 1940.
* A bramson : L'Enfant et l'Adolescent instables. Paris 1940.
Mitbewegungen 299
berührt und angeht und also affiziert. Das Nahe steht in einem festen Bezug zum
Subjekt, das m it ihm zusammenlebt. Das jugendliche Tim ist also nicht etwa nur
auf ein naheliegendes Ding eingestellt, so wie sich die Aktivität des Erwachsenen
auf einen fernen Gegenstand richten kann, sondern das Jugendliche ist primär
unzweckmäßig und entfaltet sich in der Bezugsphäre des unmittelbar Ergreifenden.
In diesem Sinn ist die jugendliche Bewegung zugleich ein spontanes Bewegen und
Bewegt-Werden und beides in gleich ausgeprägter Weise. •
Die Abhängigkeit von der bewegenden Macht’ der Situation beruht auf einer
Einstellung der Person, die wir m it E. Straus „pathisch" nennen wollen1. Be
grifflich steht diese pathische Einstellung im Gegensatz zur spontanen, aber im
konkret-lebenden, jungen Individuum wird dieser Gegensatz zu einer lebendigen
inneren Einheit verbunden.
Alle typisch jugendliche Aktivität entfaltet sich aus einer spontanen Selbst
bewegung und zugleich aus einem pathischen Bewegt-Werden durch das nahe,
sinnlich Gegebene. Das leuchtet ein, wenn man den Gegensatz von jugendlich und
„ältlich“ betrachtet. Letzteres ist zweck- und planmäßig, ein sachliches, „gnosti-
sches“ Handeln, und es ist daher auch stabil. Dem jugendlichen Tun fehlt diese
Stabilität. Es zeigt eine fortwährende Bereitschaft zur Verwandlung, einmal durch
die aus dem ungestalteten Bewegungsdrang entspringenden Impulse und zum
anderen durch die Verlockung-der „ergreifenden“ Erscheinungen. Vergegenwär
tigt man sich irgendeine konkrete Tätigkeit eines Kindes oder jungen Tieres, seinen
spielenden Umgang m it Gegenständen, seinen Gang durch Feld und Flur, sein
Verhalten in einem Zimmer oder das Herumblicken vom Sitz aus, so wird man
leicht die gegensätzliche Einheit spontaner Selbstbewegung durch Bewegungs
drang und pathischen Bewegt-Werdens erkennen.
Wenn der jugendliche Charakter der D y namik im Verlaufe der individuellen
Entwicklung in den Hintergrund tritt und sich die Leistungen in Arbeit und Sorge
einfügen, sich zu zielgerichteter Aktion und angemessener Reaktion entfalten, dann
bleibt doch zweifellos ein gewisser Grad von Spontaneität und Bewegtheit er
halten. Sie kommen jedoch nun weit schwächer zum Aufdruck und erscheinen
nur hin und wieder, in einzelnen Augenblicken oder unter bestimmten Umständen.
Die Bezugssphäre von Individuum und Umwelt, in der sich diese Funktionen ent
falten, festigt sich mit dem Verlust der Jugendlichkeit in ihrer Struktur, sie entbehrt
der Flüssigkeit und des Überflusses an Unbestimmtheiten und Möglichkeiten.
D ie jugendliche Dynamik ist wie improvisierte Musik: spontan und pathisch,
schöpferisch bewegend und gefühlvoll bewegt; aber sie ist auch ein unharmoni
sches Spiel, ohne festes Leitm otiv, ohne festes Maß, ohne verbindliche, Vergangen
heit und Zukunft verknüpfende Gestalt.
4. Mitbewegungen
W ie wir andernorts aufzeigten, beruhen Stabilität und Begrenzung einer
Funktion, also auch Bestimmtheit und Maß einer Bewegung, nicht auf einer ge
formten anatomischen Struktur des Nervensystems, sondern auf einer funktionellen
Begrenzung der in ihm stattfindenden Ausbreitung der Erregung. Ist diese
weniger begrenzt, wie bei Ermüdungen, Vergiftungen und Läsionen des Zentral
nervensystems, so treten funktionell sinnlose Mitbewegungen auf. Bei der
1 S traus . E .: Die Formen des Räumlichen. Nervenarzt 1930, 41.
300 Typologie der menschlichen Dynamik
Erörterung der Versuche van H olst» haben wir jedoch Mitbewegungen kennen-
gelem t, die nicht durch eine sinnlose Irradiation von Reizen entstehen, sondern auf
der Übernahme einer Rhythmik durch verschiedene Teile des Nervensystems
beruhen, wodurch etwa die Fortbewegung bei Fischen zustande kommt.
Welcher Art sind nun die in der jugendlichen Dynamik hervortretenden Mit
bewegungen ? Zunächst ist festzustellen, daß beim Kind viele sinnvolle Mitbewe
gungen fehlen. F oerster1 weist darauf hin, daß beim Gehen die wichtigste Be
wegung die Beugung im Hüftgelenk ist. Die so nützliche Beugung in K nie- und
Fußgelenk fehlt beim Kleinkind. Dadurch kann es sich nur durch Drehen der
Hüfte fortbewegen. Bei ihm fehlt auch die nützliche Streckung der Hand im
Handgelenk beim Greifen, wodurch die Ansatzstellen der Fingerbeuger voneinan
der entfernt werden und die Muskelkraft zunimmt.
Eine Gruppe von Mitbewegungen entsteht, wenn das junge Individuum
von einem Richtungsimpuls beherrscht wird, der sich im ganzen Körper auswirkt.
Geht ein Erwachsener, ergreift er etwas, oder schlägt er auf etwas, so
ist es, als ob ein Teil seines Körpers für sich beschäftigt wäre. Beim Kind jedoch
werden idle beweglichen Teile in Richtung des Zieles bewegt. Vom Standpunkt
der funktionellem Ökonomie aus sind diese Mitbewegungen unzweckmäßig, und
m an erklärt sie aus einer ungenügenden Beherrschung, also aus einem Mangel in
der motorischen Entwicklung. Daneben kann man jedoch in der ungehemmtem
Bewegungsweise auch den Ausdruck einer stärkeren Spontaneität und pathischen
Rmdnng des Jugendlichen sehen, Das Kind setzt sich ganz ein, geht ganz im
der Bewegung auf. Für das Bewegungsbild des Erwachsenen erhalten diese
Mitbewegungen von daher einen Ausdmckswert. W ir nennen diesen Aus
drucksgehalt meistens die „Lebendigkeit", das Gegenteil eines automatischen und
mechanischen Bewegungscharakters. Sie zeigt sich vor allem in den gewöhnlichen
elementaren Bewegungen wie Gehen, Aufstehen, Grüßen usw.
Eine weitere Gruppe von Mitbewegungen ist nicht sosehr Ausdruck der Jugend
als der Kindlichkeit. Es sind die im jungen Alter vorkoimmenden symmetrischen
Bewegungen der Arme und beim Säugling auch der Beine (Curschmann*). Diese
kontralateralen Mitbewegungen, die sich bei Säuglingen sogar in einem kontra-
lateralen Babinski-Phänomen äußern können, beruhen vermutlich auf einer Grund
eigenschaft der Reizausbreitung im Nervensystem. Die Ausbreitung von Impulsen
findet immer am leichtesten zu jenen Muskeln statt, die nicht für Haltung oder
Handlung gebraucht werden und also funktionell nicht fixiert sind. Dazu gehören
die Gesichtsmuskeln. Beim Kinde bleibt bis zur Pubertät der Gesichtsausdruck
auffallend wenig differenziert. Aber wir sehen bei jeder stärkeren Anstrengung
Mitbewegungen in diesen funktionell inaktiven und subjektiv noch indifferenten
Gesichtsmuskeln auftreten. Auch die allgemeine mimische Lebendigkeit ist daher
ein jugendlicher Zug in jedem Alter.
Während also beim Kind die Ausdrucksbewegungen noch wenig differenziert
sind, bringt es ohne Unterlaß seine Jugend in seinem ganzen Tun zum Ausdruck,
Es zeigt sie in Haltung und Bewegung durch die unsichere Ausrichtung seiner
dynamischen Formen, durch seine instabile, spontane und pathische Aktivität und
ebenso durch die jugendliche Typologie seiner Mitbewegungen,
Die jugendliche Dynamik verschwindet beim Aufgeben der flüchtigen,
fließenden, pathischen Bindungen und der inneren Freiheit, m it dem A uf
treten einer' ausgerichteten Stellungnahme, im Eingehen stabiler Beziehungen,
die nach Struktur und Sinn differenziert sind,
Andernorts habe ich den Zusammenhang von jugendlicher Dynamik und Spiel
erörtert1 und aufgezeigt, wie das Spiel n o tw e n d ig e s den typologischen Wesens
zügen der Jugend hervorgeht. Der innere Bewegungsdrang des Kindes sowie seine
Unerfahrenheit und der Mangel an fester Form, aber auch die Struktur seiner
eigenen bildhaften W elt bedingen sein Spiel mit Bildern, die auch mit ihm selbst
spielen.
D ie Einsicht, daß das Kind auch mit seinen eigenen Bewegungen spielt, ver
tieft unser Verständnis der menschlichen Bewegung und ihres Werdens. Das Kind
erfährt sein Bewegen sehr früh in optischen und kinästhetischen Bildern, die zu
neuen Bewegungen verlocken. Erneut drängt sich uns ein Vergleich mit der Musik
auf. Die hervorgebrachten Klänge kehren durch das Gehör zum Spieler zurück
und regen durch ihre pathischen Züge weitere Klangschöpfung an, so auch die
Bewegungen, wenigstens die freien, imverfestigten, deren pathische Wirkung
nicht durch die Einstellung auf ein Ziel oder durch den objektivierten stabilen
Ding-Charakter der Situation überstimmt wird. Diese „spielerischen" Bewegun
gen werden um ihrer selbst willen erlebt und zeigen den zu einem spielerischen
Umgang verlockenden Bildcharakter. So verstehen wir die Tendenz zu einem un
ermüdlichen Fortgang jugendlichen Bewegens, anfänglich in einfachen Wieder
holungen, später in Variationen wie Hüpfen, Springen, Tanzen, usw.
5. Entwicklungsphasen
ln einer Typologie der menschlichen Bewegung muß nicht nur den gemeinsamen
Zügen einer Gruppe, sondern auch den Varianten innerhalb dieser Gruppe nach
gespürt werden. Eine Typisierung der jugendlichen Dynamik ist nicht vollständig,
wenn die in der Entwicklung von der Geburt bis zur Pubertät eintretende Ver
wandlung nicht berücksichtigt wird.
In jeder Entwicklungsphase überwiegt ein anderer Zug an den motorischen
Äußerungen. Das ist zum Teil durch die körperliche Entwicklung, zum andern
durch ein verwandeltes Verhältnis zur Außenwelt bedingt. Es ist bemerkenswert,
daß sich die Entwicklung des Kindes sowohl in körperlicher wie in geistiger Hin
sicht ungleichmäßig, stoßweise vollzieht. Das fällt besonders in funktioneller
Beziehung auf. Einer Periode ohne sichtbare Veränderung folgt eine schnelle Ent
faltung der Funktionen, H o m b u r g e r 2 unterscheidet deshalb latente und mani
feste Perioden in der motorischen Entwicklung. Dabei kann sich die Änderung an
einer bestimmten Funktion, etwa im Sprechen, schon manifestieren, in anderen
dagegen noch latent bleiben. Das weist darauf hin, daß dem Hervortreten neuer
Verrichtungen eine Zeit nach außen verborgener Vorbereitung vorhergeht, in welcher
der Organismus funktionelle Äusführungsmittel und Mechanismen ausbildet, die
1 Wesen und Sinn des Spiels. Berlin: K . W olf 1933.
* H omburoer, A .: Zur Gestaltung der normalen menschlichen Motörik und ihrer
Beurteilung. Z, N ew . 85 (1923).
302 Typologie der menschlichen Dynamik
ausgeprägter Gliederung. Diese kindliche Grazie ist naiv und unbefangen, natürlich
wie die eines jungen Raubtieres und vom Erwachsenen nicht nachvollziehbar.
Namentlich die Züge dieses Stadiums der kindlichen motorischen Entwicklung
geben den Bewegungen den Stempel der Jugendlichkeit.
H qmburger hat sehr richtig bemerkt, daß der Eintritt aer graziösen Phase
nicht von der Entwicklung der Gewandtheit und der Ausdrucksbewegungen abhängt.
Es handelt sich Mer um ein formales Merkmal der Motorik, während Handlungen,
Mimik und Gebärden um die gleiche Zeit noch wenig differenziert sind.
Diese Kinder zeigen bei neuen Aufträgen und bei ungenügend beherrschten
Tätigkeiten, wie beim Manipulieren, Zeichnen und Basteln und bei vielen häuslichen
Beschäftigungen noch auffällig massige Mitbewegungen, während der federnde
Gang, das leichte Hüpfen undTanzen, auch das Aufstehen, Sich-Setzen, Sich-Fallen-
lassen usw. eine unverkennbare Grazie, eine „optim ale M otorik" besitzen.
Neben der Grazie erhält sich stets noch ein gewisses Ausmaß massiger Mit
bewegung. Eine gewisse „Ungeschicklichkeit“ ist ein Grundzug kindlicher Motorik
und ein Grundzug der Jugendlichkeit im allgemeinen. Während die Ungeschicklich
keit für sich genommen das motorische Äquivalent geringer Intelligenz und unbe
herrschte Bewegungen die Äußerung erhöhter Reizbarkeit sein können, muß die
jugendliche Unvollkommenheit in der Ausführung einfacher Leistungen gänzlich
anders verstanden werden. Sie hat ihren Grand in der jugendlichen Positionalität.
Das Kind hat die Neigung, sich unbefangen ganz und gar einzusetfen, zugleich
.aber steht es seinen Aufgaben' hilflos gegenüber. Das liegt nicht an ungenügender
Einsicht und an ungenügenden funktionellen Möglichkeiten, sondern neben einem
gewissen Mangel an Übung vor allem an der Schüchternheit, die ein Grundzug
jugendlichen Verhaltens zur W elt ist.
Die Schüchternheit ist eine ambivalente Haltung, eine gleichzeitige Zu- und
Abwendung gegenüber allem Neuen, Unbekannten, das durch die Möglichkeiten, die
es dem Kind als erscheinendes Bild bietet, dieses zugleich verlockt und abfetößt.
Schüchternheit ist nicht Furcht oder Mißtrauen, sondern ist in der Form der Stellung
nahme der Ehrfurcht verwandt. Die Äußerungen dieser beiden Grundhaltungen in
Benehmen, Gebärde und W ort zeigen den Reiz der Naivität und Pietät, die zur
gleichen Sphäre wie Natürlichkeit und Grazie gehören. Es ist dies die Sphäre eines
spontan bewegten Handelns ohne reflektierte Absicht, einer Empfänglichkeit für
das Nahe und also für Nuancen. Das ist das Klim a der Jugendlichkeit.
Die Berechtigung, den Zusammenhang von kindlicher Ungeschicklichkeit —
man könnte meinen, dem Gegenteil von Grazie — und Jugendlichkeit auf diese
Weise zu begreifen, zeigt sich am besten bei der Beurteilung Erwachsener. Es sind
nicht nur die Grazie und die natürliche Leichtigkeit der Bewegungen, die uns das
Urteil der Jugendlichkeit entlocken, vielmehr beruht ein solches Urteil auf einem
Kom plex von Verhaltensmerkmalen, zu dem auch eine bestimmte Form von Un
sicherheit gehört. Sie stellt das Gegenteil zielbewußter Schlagfertigkeit, Ent
schiedenheit im Auftreten aller Äutomatismen und jeder Arbeitsökonomie dar.
Diese Art der Ungeschicklichkeit verleiht einer erwachsenen Frau die Grazie
der Jugendlichkeit, auch wenn sie ansonsten das beherrschte Benehmen fort
geschrittenen Alters zeigt.
Von den Aspekten, welche die jugendliche Dynamik im vierten H o m b u r g e r -
schen Stadium kennzeichnen, treten in "den ersten Schuljahren des Kindes vor
304 Typologie der menschlichen Dynamik
allem das Überschüssige der Impulse, die leichte Hypermetrie und die Elastizität
der Bewegungen hervor. Diese Züge fallen uns durch ihre Gegensätzlichkeit zu der
durch die Erziehung bewirkten Beherrschung auf. Es werden ja dem Kinde nicht
nur zu Hause und in der Schule viele konkrete Forderungen gestellt, sondern es geht
auch ein unausgesprochener Einfluß vom Erwachsenen und von den Mitschülern,
von Sport, Spiel und Zukunftsidealen aus. Durch all diese Einflüsse fängt das Kind an,
anders zu stehen und zu gehen. Es grüßt und spricht auf andere Weise und zeigt
neben einer Differenzierung in bezug auf Geschlecht und Standesmilieu auch bereits
eine immer ausgeprägtere individuelle Typologie.
So kommt das letzte Prä-Pubertätsstadium zu voller Entfaltung, in dem, nach
H ombukger, „die dem einzelnen Kinde eigentümliche Ausgeglichenheit und Gleich
förmigkeit in Rhythmus, Tempo, Dynamik und räumlichem Ausmaß entsteht,
die durch gemeinsame Erziehung, Leibesübungen, Spiele im Laufe der Zeit noch
eine leichte Uniformierung erfährt".
Die Einstellung zur W elt ist weniger affektiv, es hat sich ein Bedürfnis zur
Beurteilung und W ertschätzung ausgebildet.
Freilich gibt es Übergangsformen zwischen beiden Typen, bei denen die Kör
perproportionen bisweilen denen des Kleinkindes ähneln, Gesichtsausdruck und
Beziehung zur Außenwelt aber schon an das Schulkind denken lassen.
Nach dem statistischen Vergleich des Entwicklungsgrades mit dem Alter machen
die Mädchen diesen Gestaltwandel früher durch als die Knaben. Diese schnellere
Entwicklung derMädchen entspricht ihrem verhältnismäßig schnelleren Wachstum
von Geburt an1. Die absolute Länge der Mädchen ist jedoch trotz ihrer rascheren
Entwicklung geringer als die der Knaben.
Es liegt nahe, bei der von Z eller beschriebenen Veränderung des Körperbaus
an das oft bekämpfte, aber immer wieder benutzte Wachstumsschema von Stratz
zu denken, der eine Periode der ersten Streckung im Alter von fünf bis sieben Jahren
beschreibt. Z eller ist jedoch der Ansicht, daß nicht so sehr das plötzliche Längen
wachstum als vielmehr die Änderung der Gesamtgestalt wesentlich ist und dem
verwandelten Verhältnis zur W elt entspricht.
Die veränderte Körperform des Schulkindes und seine neue Einstellung,
die man vielleicht als einen ersten Übergang von der pathischen zur gnostischen
Haltung deuten könnte, bewirken auch eine auffallende Änderung der Motori^.
Z eller beschreibt diese folgendermaßen: „Seine Bewegungsform ist, choreo
graphisch gesehen, die lineare, während die des Kleinkindes die weiche Kurve ist.
Das Trudeln des Kleinkindes, die Spiralform seiner Bewegungsrichtung, die bogen
förmigen Kurven seines Laufes stehen im Gegensatz zu dem geradlinigenLauf, dem
Hakenschlagen des schlanken, langbeinigen Schulkindes."
H etzer 8, die die psydüschenÄnderungen bei der W andlung des Kleinkindes zum
Schulkinde untersuchte, sieht einen Zusammenhang zwischen der besseren Be
herrschung der Glieder beim Schulkinde und seinem erwachenden Leibbewußt
sein. Die bewußte Wahrnehmung des eigenen Leibes ist für das Kleinkind noch
ungewöhnlich.
DieÄnderung der M otorik um das sechste Lebensj ahr ist von Bedeutung, weil sich
beim ersten Gestaltwandel schon die Vorbereitung zur zweiten und wichtigsten
Wandlung, der Pubertät, vollzieht. W as beim Schulkind an Benehmen und Hal
tung bemerkenswert ist, tritt dann ausgeprägter hervor, um nun durch eine kriti
sche Phase hindurch die Reifeformen zu erreichen. Dann erst ist die jugendliche
Dynamik in den Hintergrund getreten, wie sehr sie auch als anziehender Zug im
erwachsenen männlichen und weiblichen Sich-Bewegen bewahrt bleiben kann.
findet, das Kind werde nun unter dem Einfluß von Schulwelt und Erziehung, zum
Teil auch durch das stärkere Wachstum, ein echter Knabe oder ein echtes
Mädchen.
Subjektiv richtet das Schulkind weiterhin sein volles Interesse auf alles, was in
der Schule und außerhalb um es hemm geschieht. Die von Z eller festgestellte
Verminderung der affektiven Reaktionen sowie die Ausbildung einer mehr
gnostisch-kritischen Einstellung sind in hohem Maße vom Milieu abhängig. Mehr
als die Anlage bestimmen in diesem Alter die Umstände, ob das Kind mehr kritisch
oder zutraulich, mehr zärtlich als ablehnend ist, sich mehr als kleines Kind oder
schon als ein „tüchtiger'* Junge oder munteres Mädchen gibt.
Mit Ablauf der Volksschuljahre werden die kindlichen Reaktionsformen
seltener, aber sie bleiben latent vorhanden, so daß sie sich bei geringen Anlässen
wieder manifestieren können.
Der erste Gestaltwandel und was sich damit in der Person des Kindes ändert
ist durch Anlage und Erziehung so vielgestaltig, daß er lange unbeachtet
blieb und eigentlich erst bei der Untersuchung einer großen Anzahl von Kindern
auffiel.
Auch die Wandlung der Motorik vollzieht sich in dieser Phase a llm ä h lich und
ist von Spiel und Sport sowie von Beispiel und Umgang abhängig. Daher sind die
Leitsätze der Leibeserziehung auch schon für die ersten Schuljahre von Bedeutung.
Die sich d ann entwickelnden Bewegungsweisen bestimmen ja nicht nur die Grund
struktur der Beziehung zur W elt in diesem Alter, sondern auch die Art, in der das
Kind in die Pubertätsphase eintritt.
Noch immer ist die Ansicht sehr verbreitet, diese Phase beginne ziemlich
plötzlich, so daß man sogar von einer Pubertätskrise spricht, wenn es in ihrem
Anfang zu einer stürmischen Desorganisation von Innenleben und Verhalten
kommt. Das kommt gelegentlich beim Großstadtkind aus intellektuellem Milieu
vor. Man findet solche Fälle in der Romanliteratur dargestellt. Sie haben zu
sammen m it der allgemeinen Überschätzung sexueller Schwierigkeiten und dem
romantisierenden Rückblick älterer Menschen auf bestimmte Jugenderfahrungen
zu der Auffassung geführt, daß die „Pubertätskrisis" eine normale Erscheinung
sei. Schon T horndike1 widerlegt diese Ansicht gründlich. Sehr treffend sagt
D ebesse2über die Deutung der Pubertät als Katastrophe : »cette conception. . . nous
semble . . . une illusion de l'âge mûr«.
Es würde zu weit führen, das physiologisch und psychologisch wie auch soziolo
gisch und pädagogisch so umfangreiche Problem der Pubertät auch nur schematisch
zu behandeln. In einer Anzahl ausgezeichneter Werke sind alle verfügbaren Daten
gesammelt und in ihrer gegenseitigen Beziehung dargestellt. Es wird dort auch ein
Gesamtbild der Pubertätsphase entworfen8. Unser Augenmerk richtet sich auf die
Änderungen des Verhaltens, insbesondere der Dynamik. Um sie zu begreifen, ist
jedoch eine Einsicht in die markantesten Züge der Pubertät, die sich auch im Ver
halten äußern, erforderlich.
* T h orn dike : Magnitude und rate o f alleged changes at adolescence. Educat. Rev.
1915.
* D ebesse : La crise d'originalité juvénile, S. 31. Paris 1936.
* Zum Beispiel L. Cq l e : Psychology of adolescence. New York 1936. ln M. J. L ange -
veld : Inleiding tot de Studie der pädagogische psychologie (Groningen 1943, 2e Aufl.) findet
man viele Literafurangaben und eine ausgezeichnete Übersicht der Tatsachen und Ansichten.
Hormonale Wirkungen 307
Zunächst ist hervorzuheben, daß sich der physiologische Prozeß der Ge
schlechtsreifung in einem früheren Stadium vollzieht als die psychische Entwicklung
und die m it ihr zusammenhängenden Änderungen des Verhaltens, die man die
eigentliche Pubertät nennt. Auch das Erscheinen der sekundären Geschlechts
merkmale geht dem W andel des Verhaltens voran. Das schließt jedoch nicht aus,
daß diese Prozesse in unmittelbarem Zusammenhang mit dem W echsel der Ein
stellung zu Menschen und Dingen stehen, die sich bei Knaben und Mädchen
vor dem Eintritt ins volle Leben vollzieht. W ie dieser Zusammenhang zu erklären
ist, ist keineswegs klar. W ohl wissen wir, daß die verschiedenen Geschlechts
hormone beim Tier Änderungen des Verhaltens verursachen. Aber in keinem
dieser Fälle durchschauen wir den kausalen Zusammenhang. W ir wissen nicht
einmal, wie die Hormone primär wirken; denn wenn auch von einigen dieser Stoffe
die chemische Zusammensetzung gut bekannt ist, so kennen wir jedoch keineswegs
den Chemismus der Reaktionen. Noch weniger begreiflich ist der Zusammenhang
mit fipm Nervensystem. Vielleicht könnte man an folgende Möglichkeit denken :
Die Geschlechtshormone bewirken nach den Tierversuchen und der klinischen
Erfahrung ein spezifisches Wachstum in verschiedenen Organen wie Reifung der
Geschlechtszellen, Vergrößerung verschiedener Drüsen, Haarwuchs, Knochen
wachstum usw. Durch dieses Wachstum können vielerlei Empfindungen aus
gelöst werden. So kann man sich vorstelen, daß durch die Spannung in den die
verschiedenen Organe umschließenden Bindegewebskapseln, die hei raschem
Wachstum und besonders bei starker BiutfüUung ausgedehnt werden, diffuse
Sensationen entstehen. In einigen Organen (Geschlechtsteil, Brustdrüsen und
Brustwarzen) gibt es spezielle Nervenendigungen, deren direkte oder indirekte
Reizung Empfindungen von stark pathischem Charakter auslösen. Eine Lust
qualität besitzen diese Empfindungen durchaus nicht immer, aber sie sind
„irritierend". Es wird hierdurch ein primär unbestimmter Bewegungsdrang aus
gelöst, der sich in verschiedenartiger W eise entladen kann. Die adäquate Ent
ladung müßte in einer A ktivität bestehen, welche die Irritation aufhebt, etwa
durch Verminderung des Blutandrangs zum Organ oder Entfernung des Sekre
tionsproduktes der Drüsen (u. a. durch Muskelkontraktion).
Erklärlich ist also lediglich, daß die Produktion oder Injektion von
Geschlechtshonnonen bei Tieren spezifische Handlungen veranlaßt, wenn auch
kaum einzusehen ist, wie z. B. der Nestbau zur Aufhebung der Erregung führt.
Unerklärlich bleiben auch die Differenzierung und Zweckmäßigkeit der instink
tiven Tierhandlungen.
Beim Menschen fehlen solche differenzierten Instinkthandlungen, Die Vor
stellung einer primären hormonalen Erregung ist hier gut begründet. Das kann
vielleicht durch eine Betrachtung der sich keim Hunger einstellenden Irritation
verständlich werden. Diese Empfindung hat zwar keinen hormonalen Ursprung —
sie wird hauptsächlich durch eine Senkung des Blutzuckergehalts und durch
Magenkontraktionen verursacht— ,h at aber einen stark affektiven, irritierenden
Charakter, Die primäre W irkung des Hungers ist denn auch nur Unruhe Man
kann das bei einem Tier oder Säugling und auch an sich selbst beobachten. W ird
jedoch etwas Eßbares gerochen oder geschmeckt (auf höherer Entwicklungsstufe
auch gesehen oder getastet), so stellt sich zum Hungergefühl eine deutliche
spezifische Reaktion, nämlich das Essen ein. W ie bei allen Instinkthandlungen
20*
308 Typologie der menschlichen Dynamik
Phänomens, das man instinktives Streben nennt, das große Geheimnis des tieri
schen Lebens. Ein solches Streben erwacht auch im Pubertierenden und drängt
ihn, etwas zu suchen, das er nicht kennt.
verläuft und der Mensch vom Pubertinismus gerettet wird. W ir denken dabei an
den düsteren Satz H uizin g ab 1, den L a n g e v e l d als Motto seines Kapitels über Prä
pubertät und Pubertät w ählt: „E s ist bezeichnend für unsere Epoche, daß ein
großer Teä der Menschen über die Herrschaft von Pubertätsvorstellungen nicht
mehr hinauskommt."
Beim Pubescenten stellt sich also nicht ein erwachender Geschlechtstrieb ein
wie beim Tier, bei dem jeder Trieb ein durch die vitale Erfahrung zu stillender
Hunger werden kann. W ie unrichtig — pädagogisch verhängnisvoll — es ist, in
der Pubertät ein Erwachen der geschlechtlichen „Instinkte" zu sehen, zeigt am
besten die Tatsache, daß der Pubertierende den Geschlechtspartner durchaus
nicht als das in seinem Unbefriedigtsein „G esuchte" bejaht.
Aus der Schwellen-Positionalität können wir die Merkmale der Pubertäts
motorik in ihrem Zusammenhang mit innerem Erleben und äußerem Verhalten
verstehen. Dazu ist aber noch eine nähere Erörterung dieses Auf-der-Schwelle-
Stehens erforderlich.
3. Die Schwellenposition
Jede Schwelleilposiiion, so scheint mir, bedeutet wesentlich nichts anderes als
die Erfahrung einer Leere. Jede Leere ist eine Leere des Herzens, und deshalb ist
das erste Merkmal der Schwellenposition eine Erkaltung und Erstarrung des
Gemütsieberis, wie es aus der Wechselwirkung m it der Außenwelt aufsteigt. Dar
aus entspringen eine Anzahl allgemein bekannter Pubertätsmerkmale, wie die
Verschlossenheit, die feindliche, kritische Einstellung, das egozentrische Denken,
das Verloren- und Verlassenheitsgefühl. L angeveld weist auf die Introversion des
Pubescenten hin, im Gegensatz zur Extraversión des Fuer. Auch dieser Grundzug
der Pubertätshaltung ist aus dem Betreten eines neuen Lebensraumes verständlich.
W ir können die Schwellenposition phänomenologisch noch besser erfassen,
wenn wir uns auf zwei Situationen besinnen, in denen sich ebenfalls sowohl die
Schwellenposition als auch das Erleben einer Leere einsteüén. Es sind die Situationen
der Verlegenheit und der unbestimmten Angst.
In unbestimmter Angst steht man vor einer unbekannten Bedrohung, die noch
nicht konkrete Gestalt gewonnen hat. In zeitlicher und räumlicher Distanz, wie
hinter einem nebligen Vorhang, befindet sich das Bedrohliche. W as uns von ihm
trennt, ist belanglos und uneinfühlbar geworden. Die Leere und Verlassenheit, vor
der wir stehen, drängt sich uns auf. W ir erleben sié wie eine innere Leere. W ir sind
mit "uns selbst allein, auf uns selbst zurückgeworfen, erkaltet, erstarrt und zugleich
unruhig und labil. Das drückt sich in der Motorik aus, die wie beim Pubertieren-
den überschüssig, nervös, der Situation unangemessen und zugleich gehemmt ist.
Die Hemmung kann so überwiegen, daß sie das motorische Bild so wie im Zustand
der Angst auch in der Pubertät bestimmt. Die Bewegungen sind dann träge,
schwer, mühsam. Gewöhnlich herrecht jedoch ein Bewegungsdrang vor, der sich
in schlecht koordinierten Bewegungen äußert. -
Etwa das gleiche sehen wir in der Verlegenheitssituatiön. Es fällt dabei auf,
daß bei Angst und Verlegenheit gleichartige Mittel unbewußt zur Aufhebung der
„Peinlichkeit" der Situation angewandt werden. Affektive Reaktionen vermögen
1 H xjizinga, J.: „In de Schadirweri van morgen*'; ?.it. nach M. J. L angeveld, Verken*
ning en Verdieplng. Purmerend 1950, 182. -
312 Typologie der menschlichen Dynamik
dem Bedürfnis, sich zur Geltung zu bringen, möglichst günstig auszusehen und sich
hervorzutun. v.
Die Pubertätsmotorik läßt sich, wie mir scheint, am besten als Ausdruck einer
allgemeinen Form der Beziehung zu allem Erfahrbaren begreifen, die wir als
Schwellen-Positionalität von der Geborgenheit in irgendeinem Lebensraum unter
schieden haben. Sehen wir so den Grund für das auffällige Verhalten in dieser
Altersphase in einer Weise des „In-der-Welt-Seins” als in einer Existenzweise, so
erfassen wir also die Pubertät mehr als menschliche Daseinsweise denn als subjek
tives Erleben, mehr ontologisch als psychologisch. Die Pubertät stellt sich so
als ein Problem für die philosophische Anthropologie.
Das wird bei der Besinnung auf das erwachende Selbstbewußtsein deutlich.
Dieses hängt zwar mit dem Geltungsbedürfnis und auch mit dem subjektiven Er
leben einer ungenügenden Anpassung an Menschen und Dinge sowie mit dem ver
änderten Körperschema zusammen, aber es kann doch nur aus der besonderen
existentiellen Position des Pubertierenden und aus dem allgemeinen Wesen des
Menschen verstanden werden.
Weil der Mensch nicht nur mit den Dingen lebt und von einem Inneren aus
handelt — was schon dem Tier eigen ist — , sondern auch den Dingen gegenüber-
steht und sein eigenes Innere noch einmal innerlich betrachten kann, ist der Puber
tätswandel als die wichtigste Phase der individuellen Menschwerdung aufzufassen.
Für eine tiefere Einsicht genügt es denn auch nicht, das erwachende Selbst
bewußtsein psychologisch zu erklären und es ebenso wie Geltungsbedürfnis und
Wille zur Macht aus dem Verhalten abzulesen. Wir müssen vielmehr von der we
sentlichen Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen ausgehen, die insbesonders in
der Begegnung mit dem Mitmenschen die Struktur des Bewußtseins und
des Verhaltens bedingt. Mit der Pubertät tritt das Kind der Welt des Erwachse
nen entgegen. Es begegnet ihr nicht länger in der vertraulichen Sphäre der
Familie und der Spielkameraden, sondern in einer Sphäre von Kritik, als einer
Wirklichkeit, zu der der Knabe und das Mädchen zu gehören wünschen. Diese
Welt der Erwachsenen verstehen sie nicht, und sie selbst werden von ihr nicht
verstanden. Den Menschen gegenüber, die ihnen fremd sind oder fremd geworden
sind, müssen sie „Haltung” annehmen, weil der Mensch nur in einem bestimmten
Verhältnis zu anderen Menschen stehen kann. Jedes asoziale Verhalten, jede Gleich
gültigkeit, Misanthropie und jeder Egoismus zeigen ebensosehr wie die edelsten
Äußerungen der Nächstenliebe die Ursprünglichkeit der sozialen Veranlagung
des Menschen. Auch das erwachende Selbstbewußtsein und die asozialen Züge
des Pubertierenden beweisen dies, wobei hier unter Selbstbewußtsein das Bewußt
sein der sich erstmals vollziehenden Begegnung mit dem Menschen als Menschen,
mit dem anderen und durch ihn auch mit sich selbst verstanden werden soll. Der
Pubertierende entdeckt, daß sein Dasein mit dem Sein aller anderen im Bereich
und in der Spannung der sozialen Verhältnisse steht, die er vorläufig noch nur nach
ahmen kann. Seine Herzensleere, die ihn sich selbst entfremdet, seine Verlegenheit
und unbestimmte Angst, die ihn bestürmenden Fragen usw, haben ihren Grand
in der Wirklichkeit der menschlichen Natur, vor die Knabe und Mädchen sich
gesteht sehen".
Vergleicht man diese PositionaUtät mit unserm Verhalten beim Betreten eines
Raumes voller fremder Gegenstände und Menschen, so kommt es vor allem auf die
314 Typologie der menschlichen Dynamik
letzteren an. Denn für den Pubertierenden scheint nichts mehr unpersönlich zu
sein; jedes Ding erscheint als ein Wert, in dem der menschliche Geist sich ausdrückt
und also angenommen oder abgelehnt werden muß. Es wird hierdurch nicht nur
alles zu einem Gegenstand seiner Kritik, sondern auch alles „schaut ihn an“ .
Tausend Augen sind stets auf ihn gerichtet. Die Häuser und Möbel, die Kleidungs
stücke und die Bücher, die gewöhnlichsten Dinge des Alltags fordern ihn heraus
und verlangen „Haltung“ .
Verschiedenes wird so verständlich; einerseits die ihm als Ausgleich erscheinende
romantische Flucht zur Natur, andererseits das Sich-Stürzen in fingierte Aufgaben.
Wir erklären so auch wenigstens zum Teil das Bedürfnis nach Sport mit der hier
herrschenden schematisierten Gesellschaftsordnung, in der leicht ein Platz zu er
obern ist. Hier kann der Pubertierende zur Geltung gelangen und einen Teil seiner
Einsamkeitsgefühle überwinden.
E ben gesicherten Ausgangspunkt und Zugang zur Gesellschaft versucht der
Pubertierende auch durch die Suche nach einer Einstellung auf das spätere Leben
und durch Tagebücher zu finden. Durch die Niederschrift erhalten ja die Vor
stellungen eine feste Form, wird den Erfahrungen ihre emotionale Spannung
genommen und werden sie zu formulierten, d. h. geformten Inhalten, welche die
Anpassung an die neue Welt fördern helfen. Das verlorene Kinderparadies, die
primäre Naivität mit ihrer Natürlichkeit, Grazie und Geborgenheit sind nie
wiederzugewinnen. Durch die Pubertät hindurch treten der Knabe und das Mäd
chen in den menschlichen Kulturkreis ein.
In gewissem Sinne sind daher auch die Pubertätserscheinungen, wie die Ände
rungen in Verhalten und Motorik, ÄWbr-Erscheinungen, weil sie die sich bilden
den sozial-ethischen Beziehungen und die geistigen Sinnbezüge zum Ausdruck
bringen1. Deshalb verläuft die Pubertät bei Naturvölkern und auf dem Lande ohne
die „Krisis“ , die in differenzierteren Kulturkreisen vielfach auftritt, wo die Kinder
nicht so allmählich und unmerklich in Arbeit und Sorge einbezogen werden.
Es ist auch verständlich, daß die „Krisis“ bei Knaben soviel stärker sein muß
als bei Mädchen. Der Übergang von der spielenden zur echten, arbeitenden,
wesentlichen Form männlichen Handelns erfordert eine vollständigere Umbildung
der geistigen Einstellung als der Übergang der spielenden in die echte Sorge, die
wir als die eigentliche weibliche Weise des Handelns kennenlemen werden. Die
Mädchen zeigen denn auch viel weniger ausgeprägte Umwandlungen ihrer Motorik,
obwohl ihr Längenwachstum nicht weniger rasch als bei den Jungen vor sich geht.
Das Mädchen bewahrt viel mehr die kindliche Grazie, die unüberlegte Bewegung
von einem Mittelpunkt aus.
Der hervorstechendste Zug der Mädchenpubertät zeigt sich darin, daß das
Mädchen anfängt, sich selbst als wichtigstes Versorgungsobjekt zu wählen. Das
bestätigt nochmals das oben über die sozialen Beziehungen des Menschen Gesagte.
In der Vor-Pubertäts-, der puerilen Phase ist das Mädchen oft schlampig, und die
Pubertät beginnt nicht mit der Geschlechtsreife, den menstruellen Perioden, sondern
erst viel später. Erst wenn das Mädchen anfängt, „sich zu kleiden", tritt es in die
Welt der menschlichen Beziehungen und in einen neuen Sorgenkreis ein, zu dem
auch die Sorge für das eigene Äußere gehört.
1 cf. B ernfeld : Trieb und Tradition im Jugendalter. 2. angew. Psychol., Beiheft 54,
1931. — Schelsky : Soziologie der Sexualität. Hamburg 1955.
».
Das motorische Bild und seine Erklärung 315
Nach diesem, wenn auch unvollständigen Entwurf eines Bildes der Pubertät,
wollen wir unser Augenmerk erneut auf die Motorik richten und versuchen, einige
ihrer Züge zu begreifen.
Entsprechend dem „Bruch“, im Lebenslauf, der Schwellenpositionalität, finden
wir im ganzen Verhalten Instabilität, plötzliche Übergänge und eine Reihe typispher
Gegensätze. Durch den Mangel an Anpassung fehlt in allem das richtige Verhält
nis, das Maß, was sowohl für die Tonus Verteilung in Ruhe als für Kraft, Richtung
und Umfang der Bewegungen gilt.
Die Dysmetrie der Dynamik des Pubertierenden ist allgemein bekannt und
geht auch aus der oben gegebenen Skizzierung H omburgerb hervor. Das fehlende
Maß äußert sich in vielfacher Weise. Die Gegenstände werden zu kräftig oder zu
schwach angefaßt, meist zu kräftig, wie auch der Händedruck übertrieben ist und
das Explosive in Stimme, Gebärde und allem Tun vorherrscht.
Nicht weniger deutlich zeigt sich die Hypermetrie im Bewegungsausmaß. Die
Schritte sind zu groß, das Treppensteigen geschieht über viele Stufen zugleich, die
Füße stoßen an die Möbel, die Hände werfen alles um, zerren an allem. Der
Pübertierende ist ungeschickt und plump. Durch den mit der Erregung zusammen
hängenden Bewegungsdrang erhält das hypermetrisch motorische Bild verschie
dene typische Formen, wie etwa das ruhelose Auf-und-Ab-Gehen mit großen
Schritten oder das Beugen und Strecken des Oberkörpers im Sitzen; alles wird
angefaßt, es zeigen sich chorea-artige Arm- und Handbewegungen und Zuckungen
in Schultern, Hals und Gesicht.
Auch im Sprechen tritt der Mangel an Maß in Erscheinung. Der in die erste
Pubertätsphase fallende Stimmwechsel der Knaben, das Schwerwerden und Sich-
Überschlagen der Stimme kann meines Erachtens nicht ganz aus den veränderten
anatomischen Verhältnissen erklärt werden. Zweifellos liefern diese eine Dis
position, aber die Hauptsache ist die Änderung der Innervation der Stimmbänder
und der anderen bei der Lautbildung wirksamen Muskeln. Dieser Innervations
wandel ist eine Ausdruckserscheinung des erwachenden Selbstbewußtseins im
Sinne männlicher Position. Die tiefe Stimme bedeutet, daß von innen heraus
gesprochen und das Gesprochene schwerwiegend gemacht wird. Zugleich nimmt
auch die Lautstärke zu. Der aufwachsende Junge schreit lauter als nötig
und verwendet übertriebene Worte und Superlative. Das Mädchen tut ihm
das nach.
Unter den motorischen Änderungen fällt wohl mit am meisten die sich schnell
entwickelnde Mimik auf. H qmburger spricht von einer „Hypermimie", Das
Kindergesicht zeigt nur eine kleine Anzahl wenig differenzierter Ausdrucksbewe
gungen, die der geringen emotionalen Differenzierung und den wenigen sozialen
Beziehungen des Kindes entsprechen. Freude und Kummer, Zu- und Abwendung,
Angst und Wut sind die wichtigsten Affekte, die beim Kind zumAusdruck kommen.
Diese Ausdrucksbewegungen sind sämtlich symmetrisch: ein Sich-Öffnen oder
Sich-Schließen, eine Hin- oder Her-Bewegung. In der Pubertät treten mit den
neuen sozialen Verhältnissen und dem Selbstgefühl andere Ausdrucksgestalten in
Erscheinung. Außer einer Vergröberung und einer Entgleisung der Mimik
sehen wir die asymmetrischen Ausdrucksbewegungen erscheinen, den Ausdruck
von Kritik, Zweifel, Mißtrauen, Verachtung und vorsichtiger Distanzierung.
Alles vollzieht sich jedoch in hypermetrischer Form.
316 Typologie der menschlichen Dynamik
H ombürger führt folgendes an: a) Runzeln der Stirn, Zukneifen da* Augen,
Aufziehen da* Nase, Zusammenpressen der Lippen, Zusammenbeißen der Kiefer,
Zähneknirschen, Grinsen und Kombinationen dieser Bewegungen ; b) die Ja- und
Nein-Bewegung, Schiefhalten, Zurückwerfen u n i Vorstrecken des K op fe* c) d ar
gerade fixierenden oder schief vorbeigebenden BUck, das Starren in die Ferne*,
d) Kombinationen der genannten drei Gruppen.
Durch das Maßlose der Mimik muten die Ausdrucksbewegungen oft unecht, ge
macht an. Sie wirken lächerlich und stehen im Mißverhältnis zur Situation und zum
übrigen Verhalten. Die unbeherrschte Mimik entartet leicht in ein „Grinuw iacn".
Die Unstetigkeit, die plötzlichen Übergänge, das Verfallen in Extreme kenn
zeichnen eine Desorganisation. Ihr Ausmaß hängt von Anlage und Milieu ab. Als
Extreme nennen wir einfache, ruhige Naturen und schizoide Pubertätstempera
mente. H ombürger * Bild, wie richtig es auch in vielen Zügen sein m ag, gilt be
sonders für die Stadtjugend und wahrscheinlich mehr in Deutschland als in
Frankreich, England oder den Niederlanden.
Subjektiv gehen die plötzlichen Übergänge mit Stimmungswechsel einher,
namAn+HrR f e Sinne einer Steigerung oder Senkung des Glücksgefühls, Häufig
werden Freude und Kummer zugleich erlebt, hier tiefer, mehr verborgen, dort
oberflächlich und laut. Je nach Überwiegen von Niedergeschlagenheit oder Ausge
lassenheit kommt es im motorischen Bild zur Bewegungshemmung oder zum Be
wegungsüberschuß. Der Übergang vom einen zum anderen kann so plötzlich vor sich
gehen, daß die Umgebung wie bei einer krankhaften Störung fragt, „was fehlt
dir“ oder; „was hast du so auf einmal“ .
Je «««*> Stimmungswechsel und Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf das
Innere oder äußere Geschehen ändert sich die allgemeine Muskelspannung im
Sinne eines Wechsels von Verkrampfung m it völliger Erschlaffung. Die
gespannten Bewegungen sind eckig, die atonischen schießen am Ziel vorbei, so daß
beide zu Formen der Ungeschicklichkeit werden, zu Ursachen neuer Verlegenheit.
Neben de*» Gegensatz von Gespanntheit und Schlaffheit tritt in der Motorik
des Pubertierenden noch eine andere Eigenschaft hervor. Die Aktivität kann
energisch anfangen, um bald darauf zusammenzubrechen. Das zeigt sich nicht
nur bei äußeren Anforderungen, sondern auch bei psychischer Aktivität, beim
Lernen, Erzählen oder Plänemachern Der Grund liegt wohl darin, daß man sich
am Anfang der Tätigkeit auf Grund des Selbstvertrauens den Anforderungen der
Situation gewachsen fühlt, später aber diese Aktivität nicht durchhalten
trau« Auch ist der Pubertierende mit nichts, auch nicht mit dem eigenen
Tun, zufrieden, da die innere Leere konstitutiv ist und sich gerade dann offenbart,
wenn man versucht, sie mit etwas zu erfüllen. Deshalb ßberwiegen in dieser
Lebensphase so oft Bewegungiunhist, Faulheit und Trägheit. W elche Mühe kostet es
den Pubertierenden nicht,inBewegungzukommen I Sogarbei einer leichtenTätigkeit
reckt er rieh; gähnt wie jemand, der ermüdet aufsteht uüd seufzend wieder vraiter
geht. Beachten wir auch, daß Gähnen und Sich-Strecken Verlegenheitsäußerungen
ainA die sogar bei Hunden in analogen Situationen beobachten kann.
Das Bild, das wir von der Pubertätsmotorik entwarfen, ist schematisch. W ir ab
strahieren von den großen individuellen Unterschieden und müssen betonen, daß die
Pubertät in vielen Fällen ohne stürmischere Erscheinungen verläuft und auch von
demskizzierten motorischen Bild viele Züge nicht in Erscheinungzu traten brauchen.
D er Mäßigungsprozeß 317
5. Der Mäßigungsprozeß
In dem Maße, wie die jugendliche Person anfängt, sich im Bereich des wirk
lichen Lebens heimisch zu fühlen, sich — was schon bald geschehen kann — der
W elt der Erwachsenen anpaßt, lernt sie ihre Bewegungen beherrschen. Die hor
monale Erregung wird dann, durch ein bindendes und organisierendes Interesse m
einem Feld von Beschäftigung und Entspannung ausgeglichen, was durch eine
gut geleitete Erziehung ermöglicht wird. Dann verschwinden die Erscheinungen
der Schwellen-Positionalität, namentlich die Leere des H eßens. Der Geist findet
neue Nahrung, entdeckt die Abstufung der W erte menschlicher und kultureller
Erscheinungen. Die Persönlichkeit entwickelt die festen Regeln und leitenden
Prinzipien ihres Verhaltens, sie wird charaktervoll. Immer mehr befreit sie Sich
von den unbeständigen pathischen Bindungen und richtet sich ohne Furcht auf
das Fem e, die Zukunft. Es ist der eigentliche Inhalt dieses Geschehens, daß die
Lösung der pathischen Bindungen der Kinderjahre nun selbst ihren pathischen
Charakter verliert.
Auf diese Weise festigt sich in den späteren Jahren der Pubertät die Beziehung
des jungen Menschen zur W elt und zu sich selbst, auch zu seiner eigenen Leiblich
keit. Dies drückt sich nun in der Motorik als ein Mäßigungsprozeß aus.
Das Maßvollwerden der Bewegungen bedeutet eine Reorganisation der funktio
neilen Beziehung zur Umgebung. E s vollzieht sich auf verschiedenen Wegen und
durch verschiedene Mittel. W ir denken dabei zunächst an den Einfluß des gewähl- .
ten Berufes. Die schon in der Lehrzeit ausgeübte Tätigkeit erfordert eine Auto
matisierung und Rationalisierung zahlreicher Handlungen. Das ist sicher nicht
in allen Berufen gleich stark ausgeprägt. Es macht vielmehr einen großen Unter
schied für Schnelligkeit und Weise der Reorganisation der gestörten Motorik, ob
der Junge Gärtner oder Uhrmacher öder aber Laufbursche oder Student wird.
In den beiden letzten Fällen geht vom Beruf wenig Einfluß auf die motorische
Bildung aus, und man sieht hier oft eine Verzögerung des Mäßigungsprozesses.
Einen zweiten Faktor bei der Wiederherstellung des Gleichmaßes der Bewe
gungstellt der Einfluß des sozialen Milieus dar. Das Bedürfnis, in ihm Geltung zu
erlangen, führt zur Anpassung und zur Übernahme von Um gangsformen in
Familie und Freundeskreis oder im Berufsmilieu, wenn dieses einen ausgeprägten
Stiltypus hat (Militär).
Das Nachahmen älterer Personen, der Wunsch, selbst Träger einer Tradition,
einer Mode oder eines Stils zu werden, normiert die Motorik. Der junge Mann und
das aufwachsende Mädchen verlieren durch diese Anpassung nicht nur das Ungeord
nete der Pubertätsmotorik, sondern auch die dem zugrunde liegende Entfremdung
und Verlegenheit. Die überschüssigen Bewegungen verschwinden und die Ökono
mie in der Ausführung, die Schlichtheit der Gebärde, die feinere Nuancierung im
Gerichtsausdruck treten mehr in der Vordergrund.
Oft vollzieht sich diese Mäßigung in den ersten Jahren nach der Pubertät auch
in übertriebener Form. W ir begegnen dann jungen Leuten, die rieh in ihrem Beneh
men etwas steif und maniriert gelben, etwas zu elegant .in ihren Gesten, zu zurück
haltend in ihren Ausdrucksbewegungen sind. Allmählich verschwindet auch diese
Überkompensation und es entwickeln sich die Bewegungsformen des Erwachsenen,
die durch Beruf, Stand, Volksart und Rasse geprägt sind.
318 Typologie der Menschliche«» Dynamik
Die Besinnung auf die sexuelle Differenzierung in der Natur und auf den tief
greifenden Gegensatz zwischen Mann und W eib führt weit außerhalb des Bereiches
der Erfahrung zum unbegrenzten Feld, wo sich die letzten Fragen nach Ursprung,
Wesen und Sinn des Lebens und des menschlichen Daseins auftun.
In der alt-chinesischen Symbolik der Kreiseinheit aus der gleichmäßigen Zu
sammensetzung von Licht (Yang) und Dunkel (Yin), in den Religionen von
Babylon und Ägypten und den Mysterien von Ischtar, Isis und Osiris, im berühm
ten platonischen Mythos aus dem Symposion sowie in der Naturphilosophie des
Aristoteles, der das notovv als aktives, bewegendes, formschaffendes, männliches
Prinzip und das nia%ov als passives, empfangendes, weibliches Prinzip unterschied,
zeigt sich der überwältigende Eindruck, den der polare Gegensatz der Geschlechter
auf das menschliche Bewußtsein ausübt, solange es von den ungeteilten Bildern
der Wirklichkeit erfüllt ist.
Erst beim Aufkommen einer analytischen Betrachtungsweise Und in derenFolge
auch in der biologischen und medizinisehenWissenschaft entschwand das Mysterium
der Entstehung der Geschlechter und jede Frage nach deren Wesen und Sinn
aus unserem Bück. Die erneute Zuwendung zu den unbewußten Tiefen des Seelen
lebens, besonders in der Psychoanalyse J u n g », in seinen Begriffen der Archetypen,
von Anima und Animus, führte jedoch zu einer Erneuerung des Zusammenhangs
der empirischen Wissenschaften mit der philosophischen Anthropologie und mit
der Ontologie, der seit der Romantik völlig verlorengegangen war. „V on welcher
Seite man das Problemgebiet des mann-weiblichen Unterschiedes auch betreten
mag — es wird sich Immer als Einfallstor zum Metaphysischen, ja zum Religiösen
erweisen1."
W ie bedeutend dies alles auch sein mag, für eine Einsicht in die männliche und
weibliche Bewegung ist es von geringem W ert. Es vermag uns nur von dem grund
sätzlichen Unterschied der Geschlechter, der sich wahrscheinlich auch in der Moto
rik ausdrücken wird, zu überzeugen.
Für eine Erkenntnis der männlichen und weiblichen Bewegung selbst können
wir die in der Psychologie herausgestellten charakteristischen Unterschiede in etwa
als Richtschnur nehmen. Ihr W ert ist jedoch beschränkt, weil viele Unterschiede
den zufälligen Umstanden und Eindrücken des täglichen Lebens entnommen sind.
Es ergibt sich dabei immer die Schwierigkeit, die Vielzahl der Gegensätze mit
einander in Einklang zu bringen und möglichst als Sonderfälle eines grundlegenden
qualitativen Unterschiedes zu begreifen.
Wenn z. B. der Mann als stark und aktiv, die Frau als schwach und passiv
charakterisiert' werden, so ist noch die Frage, ob dieser Gegensatz primär oder die
Folge einer bestimmten Positionalität, einer bestimmten Bezugsweise zur Umge
bung ist. Man hat auch versucht,durch eine statistischeUntersuchung mit Ausfüllen
umfangreicher Fragebogen die psychologischen Merkmale von Mann und W eib
festzustellen. D ie so gewonnenen Ergebnisse erhalten erst W ert, wenn der Zu
sammenhang m it einer alle sexuellen Gegensätze begründeten Existenzweise auf
gezeigt werden kann. Wenn etwa H e y m a n s 2 aus seinen statistischen Daten
schließt, die Frau zeige weniger Patriotismus, Ironie, politische Gesinnung, Leicht«
1 Seifert, F , : „Geschlechterpolarität als psychologisches Problem“ in : Neue psycholog.
Studien 12, S. 69, 1934.
1 H eymans : „Psychologie der Frau.“ Heidelberg 1924.
320 Typologie der menschlichen Dynamik
sinnund Spott und zugleich, sie sei fleißiger, pilichtgetreuer, habe mehr Ehrfurcht v o r
dem Konkreten und weniger Begabung für Mathematik und Technik, so m öchte
man diese Eigenschaften nicht unabhängig voneinander, sondern als Folge eines
Grundzuges verstehen. Dahin zielen einige „intuitive" Sätze, wie die Behauptung,
die Frau werde mehr durch Eindrücke, der Mann mehr durch Begriffe beherrscht1.
Aus solchen kennzeichnenden Unterschieden können sicher viele Besonderheiten
begriffen werden, aber mit Recht verlangt man doch einen tieferen Grund, « » « t
der dem Leben selbst, d. h, der Weise, wie der Mensch in der W elt ist, entspringt.
2. Biologische Erklärungen
Die Biologie vermag uns einen solchen Grund nicht aufzuweisen. Sie steht A m
Problem der geschlechtlichen Differenzierung nahezu hilflos gegenüber. In der
Nachfolge D a r w i n * hat man viele sekundäre und tertiäre Geschlechtsmerkmale
aus der natürlichen Zuchtwahl erklären wollen, aber den Ursprung der
Differenzierung selbst kann man auf diese Welse nicht begreifen. Mit Hilfe zweier
Theorien hat man es versucht.
Die erste unterstellt, daß die Amphimixis (d. h. die Vermischung der durch
Reduktionsteilung gebildeten Geschlechtszellen, wodurch bei Kreuzung Varia
tionen und eventuell neue Arten entstehen können) die notwendige Bedingung für
die Verbreitung des Lebens auf der Erde sei. Gehört es aber zum Wesen des Lebens,
sich durch eine Vielheit von Formen zu verbreiten und zu behaupten, so wäre die
sexuelle Differenzierung als Mittel hierfür anzusehen.
Die zweite Theorie wird meist die Verjüngungshypothese genannt. Sie gründet
auf Versuchen bei Emzelleni und lehrt, daß bei der Fortpflanzung durch Teilung
degenerative Veränderungen auftrete», während bei Zellvennehrung nach einem
Befruchtungsprozeß die Vitalität stark zunimmt. Die .Scheidung m zwei Ge
schlechter ermögliche also eine ständige Erneuerung der „Lebenskraft", wodurch
das Weiterbestehen der Art gesichert werde. Vermutlich liegt wohl in beiden
Theorien ein Kern von Wahrheit, aber sie erklären keineswegs die zunehmende
sexuelle Differenzierung bei höheren Tierarten und den obenerwähnten tief
greifenden Gegensatz von Mann und Weib. Unerklärt bleiben auch viele Spezial
eigenschaften männlicher Tiere, wie das Hirschgeweih, die Üppigkeit der Farben,
die Mähne und andere Anhängsel. Der expansive Prunk des Pfauenmännchens und
vieler anderer Vögel kann zwar vielleicht eine verlockende Wirkung auf das W eib
chen ausüben und also durch sexuelle Zuchtwahl (D arw in ) entstanden sein, jedoch
ist das schon schwerer anzunehmen für die Farbenpracht männlicher Fische,
Salamander usw. oder für das Geweih eines Hirschhomkäfers. So führen die Wo-
1 In den. meisten psychologischen Betrachtungen über den Gcschlcchtsunterschied findet
man diese Eigenschaften erwähnt; so bei H epmann (Psychologie der Frau. 1920), der jedoch
mehr an Entwicklungsbetrachtungen anknüpfend auf die größere Verletzlichkeit und Kind
lichkeit der Frau hinweist. Wichtig sind hier die Ansichten von K lacks (Geist als Widersacher
der Seele; Handschrift und Charakter). Die Frau soll nach ihm mehr Seele und Leib, der Mann
mehr Geist sein, die Frau sich mehr hingeben und durch Eindrücke geleitet werden, der Man«.
sich mehr behaupten und mehr durch Begriffe geleitet werden. Die typisch männliche Form
der Teilnahme am Leben sei Begeisterung und schöpferischer Enthusiasmus; die typisch weib
liche Form sei persönliche Liebe und Mütterlichkeit, Schließlich erwähnen wir eine Bemerkung
B inswangeri (Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Zürich 1942; S.94): „A us
den Arten der Korrelation von Warhelt und Selbstheit ließe sich am ehesten das ontologische
Verständnis des Menschseins als Männlichkeit und als Weiblichkeit erschließen."
Merkmale der Bewegungsweise 321
logischen Tatsachen zu der Frage, ob es nicht eine tiefere Ursache für die vielen
körperlichen Merkmale und Verhaltensweisen gebe, durch die sich die Geschlech
ter unterscheiden. Gehört es etwa zum Wesen des Männlich-Seins, expansiv und
demonstrativ aufzutreten ?
Züge, wie etwa die Unterschiede der Geschwindigkeit, ausschließen. Man kann ja
sowohl auf männliche als auch auf weibliche Weise langsam oder rasch gehen.
Es leuchtet ein, daß der Wesensunterschied einmal darin gesucht werden muß,
wie sich die Handlung durch ihre natürlichen Komponenten — in unserm Fall also
durch die Schritte — gliedert; zum anderen aber in der Weise, wie jeder Handlungs
abschnitt, jeder Schritt, für sich verläuft. Der bekannteste Unterschied zwischen
männlichem und weiblichem Gehen betrifft die Grüße der Schritte. Fast jeder
würde zunächst darauf hinweisen. Mir scheint dieser Unterschied jedoch nicht
primär zu sein, sondern eine Folge der jedem Schritt zugrunde liegenden Inten
tionalität. Beim männlichen Gang scheint der Schritt eine Beschleunigung zum
Ende hin zu erfahren. Dabei ist es sehr wohl möglich, daß tatsächlich eine Beschleuni
gung gar nicht statthat, es uns vielmehr nur so vorkommt, weil dem männlichen
Gehen eine ausgesprochene Betonung der Endpunkte der Einzelschritte eigentüm
lich ist. Dies scheint mir der eigentliche Grundzug für die Bezeichnung der Männ
lichkeit einer motorischen Äußerung zu sein, den ich die Betonung der Pausen
nennen möchte.
Der männliche Gang zeigt dadurch eine scharfe Einteilung in einzelne, deutlich
geschiedene Abschnitte, jeweils abgeschlossen durch einen Endpunkt, der phäno
menologisch die ganze Bewegung beherrscht. Im Bewegungsbild treten alle anderen
Merkmale in den Hintergrund, während die Endpunkte sich uns als vorherrschend
aufdrängen. Daher ist es auch möglich, das männliche Gehen durch ein sich
wiederholendes Klopfen anzudeuten, während eine entsprechende Klangnach
ahmung des weiblichen nicht möglich ist. Nur wenn wir jemanden gehen hören,
können wir durch die Phantasie an feineren Nuancen des Klanges bisweilen wohl
auch eine weibliche Bewegung erkennen.
Die weibliche Bewegung kann man etwa als das Negativ einer männlichen,
beschreiben: also als Gehen mit kleineren Schritten, ohne Betonung der Pausen
und ohne Beschleunigung gegen den Endpunkt des Schrittes. Stellt man sie in
positivem Sinne dar, so ist sie als gleichmäßig fließend zu charakterisieren. Es ist
als bestünde bei der weiblichen Bewegung in jedem Augenblick eine innige Ver
bindung mit dem Vergangenen und mit dem Zukünftigen.
Während im männlichen Gehen die Bewegung zahllose Male endet, dauert
die weibliche Bewegung kontinuierlich an. Die anschauliche Bewegungsform einer
männlich ausgeführten Verrichtung zeigt eine Gliederung in Abschnitte, die jeweils
durch einen betonten Endpunkt abgeschlossen werden und auch die Gesamthand
lung hat ein deutliches Ende. Der Endpunkt oder das Ziel sind das bestimmende
Moment, das der Bewegung ihren Sinn gibt und in jedem Abschnitt erkenn
bar s t . Jede abrupte und eckige, geradlinige, ausgesprochen zielgerichtete
Handlung besitzt daher auch einen männlichen Charakter. Das gilt ebenso für die
Bewegungen der Tiere. Jedes Anspringen und Zugreifen, alle raubtierartigen Hand
lungen zeigen, auch wenn von weiblichen Tieren ausgeführt, männliche Züge.
Das wird noch deutlicher, wenn wir nicht nur die Bewegungskurve betrachten,
sondern an ihr die wirksamen Kräfte, den Impulsverlauf beobachten.
Eine Bewegung erhält einen männlichen Ausdrucksgehalt, wenn der sie er
zeugende Impuls auf die Überwindung eines Widerstandes gerichtet ist. Die Hand
lung erwächst dann aus dem Erleben des Widerstandes, der im Tun überwunden
werden muß.
Merkmale der Bewegungsweise 323
spiegelt sich in der Dynamik, die in fortwährender Verbindung mit den Eindrücken
der Außenwelt steht .
Im Verhältnis zu den Mitmenschen ist' die Grundhaltung, die Claus 1 den
mediterranen Rassen zuschreibt und die er den ,,Darbietungstypus‘‘ nennt, über
wiegend weiblich, während der „Leistungstypus" der nördlichen Rassen männ
lichen. Charakter hat.
Damit ist die Typologie der sexuellen Differenzierung zweifellos hoch lange
nicht ausgeschöpft. Beteichtet man die zahlreichen Tätigkeiten, die im Alltag als
typisch weiblich oder männlich angesehen werden, wie etwa Stricken oder Fuß
ballspielen, so fällt es nicht schwer, die jeweilige Einordnung in unser System aus den
für diese Tätigkeiten uneriäßHehen Bewegungen zu verstehen. Sie ergibt sich aus
ihrer starken oder schwachen Bindung an die Eindrücke, aus ihrem mehr reflektori
schen, expansiven, endzielgerichteten oder aber mehr rezeptiven, allmählichen und
als senso-motorischer Kreisprozeß zu charakterisierenden Verlauf.
Das Gesamt der Tätigkeiten des Menschen in ihrer Konkretheit teilt sich aber
in zwei Gruppen: das Arbeiten und das Sorgen.
Alle Arbeit, Nahrungserwerb, Verteidigung, Angriff und Flucht, ist männlich;
alles Bewahren, Besorgen und aUer Umgang m it den Dingen entspringen dem
weiblichen Prinzip des Lebens. Ohne diese beiden Prinzipien wäre eine vollwertige
Realisierung der tierischen Existenz nicht möglich. W as bei den niederen Formen
noch in jedem Individuum verborgen ist, wird bei den höheren stärker geschieden.
Erst beim Menschen vervollkommnet sich diese Scheidung in Mann und Frau, dnrh
wird sie zugleich in der Zwei-Einheit der Vermählung wieder aufgehoben. In ihr
sind Arbeit und Sorge vereint und sind das Erwerben neuer Ziele und ihre Er
haltung gewährleistet®.
3. Kombinations-Motorik.
Ein wichtiges Merkmal der Altersdynaimk nennt H omburg er das Fehlen der
„Kombinations-Bewegungen” , was er mit folgender Schilderung üustrifirt.
Ein jüngerer Mann zieht im Gehen auf der Straße die Handschuhe am, nimm»
• inzwischen zum Gruß den Hut ab. klemmt dabei ein Buch oder ein*
zwischen Oberarm und Rumpf und verwickelt sich möglichst noch in em Gespräch,
Er vollzieht eine ganze Reihe von Handlungen zugleich: Gehen, Grüßen, Sprechen,
Anziehen der Handschuhe und Tragen des Buches, Das nennen wir Kombinations-
Bewegungsarmut' 329
Motorik. Unterbricht der junge Mann das Anziehen der Handschuhe durch einen
Graß, so gehen die anderen Mechanismen nicht nur ungestört weiter, sondern es
fügen sich auch neue Handlungen und Ausdrucksbewegungen hinzu, wie die
Hinwendung im Gruß, der passende Gesichtszug. Die Möglichkeit zu solch
einem Zusammenspiel von Bewegungen hat der alte Mensch nicht mehr. Wenn
er die Handschuhe anziehen will, wofür zwar eine komplizierte, aber doch
zahllose Male wiederholte Bewegungskoordination erforderlich ist, so bleibt er
stehen, hört zu Sprechen auf und kontrolliert mit den Augen den Verlauf der
Tätigkeit, die ihn ganz beschäftigt.
Wenn zwei alte Menschen auf einem ruhigen Spaziergang zusammen sprechen,
sieht man oft jetzt den einen, dann den anderen stehen bleiben. Das geschieht,
wenn der Sprechende zugleich gestiku’ieren, mit besonderer Betonung etwas sagen,
oder wenn der andere das Gehörte überlegen will, bevor er antwortet. Ein alter
Mann, der auf der Straße einen Bekannten erblickt, wendet sich nicht einfach um
und geht auf ihn zu, sondern er steht erst still, grüßt und beginnt dann auf ihn zu
zugehen. In allen diesen Fällen zeigt sich das Unvermögen, zwei Dinge zugleich
zu tim und eine Anzahl von Tätigkeiten oder Abschnitte einer Handlung fließend
miteinander zu einem Ganzen zu verbinden. Etwas derartiges sehen wir auch bei
zahlreichen einfachen Verrichtungen, z. B. beim Essen. Jüngere Menschen können
sehr gut zugleich ein Gespräch führen und weiteressen. Die Alten können das
nicht. Reden sie bei Tisch, so kommen sie zu kurz mit dem Essen, nicht durch ein
schlechtes Gebiß oder ein träges Kautempo, sondern weil sie nicht dazu fähig,
sind, die beiden mechanisch ausgeführten Handlungen, das Essen und das Spre
chen, miteinander zu verknüpfen.
Die Erschwerung des Kombinierens, Verknüpfens Und Umschaltens, die sich
in sämtlichen motorischen Verrichtungen äußert, betrifft auch die geistige
Aktivität. Alte Menschen haben Schwierigkeiten, ihre Gedanken zu verbinden,
schnell die Denknchtung.zu ändern, eine Vorstellung aufzugeben und sofort
wieder eine neue zu bilden.
So beherrschen die Tempoverzögerungen, die langsame und schwerfällige
Initiative, Versteifung und Eckigkeit, der Mangel an Kombinationsvermögen, aber
auch der Ausgleich dieser Störungen durch mühsame Selbstkontrolle, durch noch
stärkere Verzögerung und durch Wiederholung das Bild aller äußeren und inneren
Funktionen des alten Menschen.
Für die Motorik der Alten ist zudem bezeichnend — und dies hängt mit dem
schon Erörterten zusammen — der Wegfall aller überflüssigen Bewegungen, aller
Bewegungsluxus, der dem Handeln jüngerer Menschen Natürlichkeit und Aus
drucksgehalt verleiht.
4 . Bewegungsarmut
Dies alles ist nun weniger die Folge des verwandelten Verhältnisses zur Weh»
als vielmehr der in jedem Alter im Nervensystem stattfindenden somatischen Ver
änderungen. Hauptsächlich die extra-pyramidale Innervation verläuft weniger
rasch. Diese ist ja das wichtigste Hilfsmittel zum Zustandekommen der automati
sierten Bewegungen, für das gedankenlose Ausführen. von Koordinationen,
umfangreichen Kombinationen und für die AusdrucksbeWegüngen. Die Störung
in der extra-pyramidalen Innervation wird vermutlich durch eine Störung in der
330 Typologie der menschlichen Dynamik
erscheinungen sogar innerhalb sehr kurzer Zeit eine primär psychisch bedingte
Beziehung zur W elt entwickeln, deren motorisches Ausdrucksbild der skizzierten
extrapyramidalen Störung verwandt ist. Bann gilt in gewissem Sinne' die
Wahrheit der Redensart, man sei nicht älter als man sein wolle und eine sich
aktiv erhaltende Bindung an das Geschehen und an die Menschen sowie ein Bei
behalten jugendlichen Verhaltens lasse uns jung bleiben. W ir finden eine analoge
Wechselwirkung wie die zwischen gedrückter Haltung und Niedergeschlagenheit,
zwischen munterer Haltung und Fröhlichkeit auch zwischen Altersmotorik und
geistiger Distanzierung. Wie eine gedrückte oder lebhafte Motorik durch somati
sche Ursachen (durch die hormonale Konstitution) auch in den Fällen ausgelöst
werden kann, wo für Niedergeschlagenheit oder Fröhlichkeit kein Grund vorliegt,
sondern diese Stimmungen erst nachträglich auftreten, so können auch Verstei
fung der Bewegungen, eine Verzögerung des Tempos, geringe Initiative und Be
wegungsarmut durch Änderungen in den Stammganglien entstehen und sich die
geistige Distanzierung erst sekundär einstellen.
für jede Verwandlung, für jede Nuance und vor allem für die Trennv ng von
Wesentlichem und Nebensächlichem.
W ie das Kennzeichnende eines Antlitzes in einer karikierten Verzeichnung
oder in einem Lachspiegelbild nicht verschwindet, die wesentlichen Verhältnisse
vielmehr erhalten bleiben, so treten die persönlichen Züge einer Handschrift auch
dann noch hervor wenn man rascher oder größer, steiler oder schräger als üblich
schreibt. Es ist vielleicht noch schwieriger, eine Handschrift als die Gesichtszüge
unkenntlich zu machen. Das zeigt deutlich, wie charakteristisch eine Bewegungs
weise sein kann.
Doch werden nicht nur Bewegungen, die in fein detaillierter Form der Aus
führung eine große Anzahl von Charakterzügen zum Ausdruck bringen, sondern
auch einfache Bewegungsweisen auf individuell typische Weise ausgeführt. Frei
lich sind dann die Variationsmöglichkeiten geringer. Aber innerhalb einer nicht
zu großen Menschengnippe hat jeder seine eigene Weise zu gehen, aufzustehen, zu
grüßen, aufzublicken, in einer Tasse zu rühren oder den Mantel armiziphen
Man erkennt sogar eine motorische Verwandtschaft zwischen verschiedenen
Mitgliedern einer Familie. Durch unbewußte Nachahmung können sich bei Ehe
leuten in einem langen Eheleben die „Gewohnheiten" einander angleichen. Die
individuellen Unterschiede des Gehens sind so groß, daß wir schon von Ferne
jemanden daran erkennen. Am Klang der Fußtritte hören wir, wer durch den
Hausflur geht. Freilich irren wir uns dann und wann. Das liegt an der Verwandt
schaft des Ganges verschiedener Menschen. Ein Hund hat offenbar ein feineres
Unterscheidungsvermögen: Er erkennt den Schritt seines Herrn unter vielen
anderen.
Eine Erwägung der Faktoren, welche das Charakteristische der Handschrift
und anderer motorischer Äußerungen persönlicher Art bedingen , führt zu einer
Einteilung in eine morphologische und in eine funktionelle Gruppe. Beim Gehen
werden anatomische Faktoren von erheblicher Bedeutung, da ja Beinlänge,
Körpergewicht und Entwicklung des Muskelsystems für die vertikale Bewegung
des Schwerpunktes und für die Kraft, mit der die Füße aufgestellt werden, ins
Gewicht fallen. Neben dem Körperbau bestimmt auch der Innervationsverlauf
die Art des Gehens.
Bei den meisten Bewegungen, wie etwa heim Sprechen und Schreiben, mimifirKm
Bewegungen und Gebärden, sind die gemeinsam den Innervationsverlauf bestim
menden funktionellen Faktoren viel entscheidender als der anatomische Bau der
bewegenden Teile. Daher werden gerade diese differenzierten Bewegungen
individuell typisch ausgeführt. Die anatomischen Verhältnisse besitzen bei weitem
nicht eine derartige qualitative Variabilität wie die Innervationsweise. Dennoch
ist für das Typische der Motorik der Körperbau keineswegs belanglos, denn er
selbst ist ja von einer im Begriff Konstitution zusammengefaßten Gruppe von
Faktoren bestimmt.
Aber eben diese Konstitution beherrscht auch in hohem Maße die Grundform
der motorischen Äußerungen. Fragen wir uns, worin sich die Innervation hin
sichtlich in der allgemeinen Physiologie aufweisbarer Faktoren fypolqgisch unter
scheiden kann, so treffen wir zunächst auf den Tonus in Ruhe und Bewegung.
Bekanntlich ist der Muskeltonui eine geringgradige tetanische Kontraktion^ bei
der wahrscheinlich die motorischen Einheiten (die mit je einer motorischen.
Temperamentenlehre 333
2. Temperamentenlehre
Seit dem Altertum wurde die Frage gestellt, ob es ausgeprägte konstitutionelle
Gruppen gäbe, wie sie abzugrenzen und welche motorischen Merkmale ihnen eigen
seien. Die klassische Antwort auf diese Frage wurde durch die Unterscheidung der
vier Temperamente (phlegmatisch, cholerisch, sanguinisch, melancholisch) gegeben.
Diese Einteilung fußte ursprünglich auf der Lehre, nach der alles Bestehende aus
den vier Elementen Wasser, Feuer, Luft und Erde aufgebaut sei und im Menschen
durch das Überwiegen eines derselben die harmonische Mischung gestört werden
könne. Später löste sich die Temperamentenlehre von der antiken Physik. Die
Rückführung der Charaktertypen auf die Mischung der Körperflüssigkeiten
wurde jedoch beibehalten, was schon in den Namen cholerisch (gelbe Galle),
phlegmatisch (Schleim), sanguinisch (Blut) und melancholisch (schwarze Galle)
334 Typologie der menschlichen Dynamik
zum Ausdruck kommt. Obwohl immer noch ausgesprochene Typen mit diesen
Namen angedeutet werden, wird dann der geheime Zusammenhang mit den
K örperflü ssigk eiten abgelehnt. Ein Phlegmatiker ist ein ruhiger, ein Melancholi
ker ein gedrückter Mensch.
Es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob die klassische Einteilung der Tempera
mente eine konstruktive war oder ob sie sich aus den empirischen Grundtypen
der menschlichen Persönlichkeit hcrleitete. In der modernen Lebenswissenschaft
ist jedenfalls die Neigung zu konstruktiver Betrachtungsweise stark hervorgetreten.
Das gilt auch für die Psychologie einer früheren Generation und geht ebenso aus
der damals aufgestellten Temperaments- und Konstitutionslehre hervor. Die sog.
Charakterologie von H e y m a n s ist dafür ein gutes Beispiel. Sie beruht auf der
Voraussetzung, das Temperament, welches sowohl Charakter wie Motorik be
stimme, sei die Resultante dreier polar entgegengesetzter Grundeigenschaften:
Aktivität und Inaktivität, Emotionalität und deren Mangel, sowie der sog, primä
ren und sekundären Funktion. Durch Kombination erhält man dann acht Typen
und zwar:
1. emotional-aktiv-primäre Funktion {die Choleriker)
2. emotional-aktiv-sekundäre Funktion (die Passionierten)
3. emotional-inaktiv-sekundäre Funktion (die Sentimentalen = die Melan
choliker).
4. emotional-inaktiv-primäre Funktion (die Nervösen)
5. nicht-emotional-inaktiv-primäre Funktion (die Amorphen)
6. nicht-emotional-inaktiv-sekundäre Funktion (die Apathiker)
7. nicht-emotional-aktiv-sekundäre Funktion (die Phlegmatiker)
8. nicht-emotional-aktiv-primäre Funktion (die Sanguiniker).
Auf diese Weise kam H e y m a n s zu einer Verdoppelung der klassischen Ein
teilung, wobei die alten vier Temperamente ungefähr erhalten blieben. H e y m a n s
meinte so den Vorteil einer besseren Einsicht in die Struktur der Temperamente
gewonnen zu haben: sie sollten aus der Kombination elementarer Merkmale ver
ständlich werden. Durch seine Wahl der Grundeigenschaften entstanden aller
dings weniger ausgeprägte Typencharaktere als es die klassischen Temperamente
gewesen waren. Ein cholerischer, phlegmatischer, sanguinischer oder melancholi
scher Mensch ist nicht nur durch eine gewisse Aktivität und Gefühlserregbarkeit ge
kennzeichnet, zeigt nicht nur eine formal-typische Weise des Ausdrucks, sondern
jeder Typus hat auch einen je eigenen Weltbezug, eine Grundstimmung und eine qua
litative Reaktionsform. So ist der Choleriker gekennzeichnet durch seine erhöhte
Reizbarkeit, seine Aktivität und sein primäres, direktes Funktionieren, aber auch
durch eine eigene Weise zu reagieren: grimmig, ablehnend, heftig. Er ist das
Gegenteil von ruhig und auch von sanftmütig. Im HEYMANSschen System finden
wir den Choleriker jedoch nur durch die form alen Eigenschaften gekennzeichnet.
Die Apathiker, die eine herabgesetzte Erregbarkeit (des Gefühls), wenig
Aktivität und außerdem eine sekundäre Funktion besitzen, sollten das „Gegen
teil“ der Choleriker sein. Inwiefern aber die Apathiker sanftmütig wären, wird
nicht gesagt. Aus den von H e y m a n s und W ie r s m a im Zusammenhang mit der
Temperamentenlchre durchgeführten statistischen Untersuchungen geht nur eine
gewisse Korrelation zwischen formalen Eigenschaften und echten Charakterzügen
hervor.
Temperamentenlehre 335
In der Charakterologie richtet sich die Analyse hauptsächlich auf die psychi
schen Eigenschaften. Es ist das große Verdienst von K lages , dabei die formalem
Merkmale des Charakters („das Gefüge", die Struktur) und die Materie des
Charakters (die Gaben, Talente) unterschieden zu haben. Während sich die Struk
tur in der Weise des Verlaufs der Aktivitäten offenbart, geben Triebe und
Neigungen dem ein eigenes Gepräge. In den Begriffen, mit denen man gewöhnlich
das Typische einer Person anzudeuten versucht, kommt diese Unterscheidung
nicht zum Ausdruck. So weist K lages auf den Unterschied zwischen sensibel,
empfänglich und feinfühlig hin, während man in einem formalen Schema geneigt
wäre, alle diese Eigenschaften „Em otionalität" zu nennen.
W ill man dennoch die Emotionalität als eine Grandeigenschaft des Charakters
auffassen, so muß man mit K lages einsehen, daß sie die Resultante zweier anderer
Merkmale darstellt, die er Gefühlslebhaftigkeit und Gefühlstiefe nennt. A uf diese
Weise erhält der Begriff der Emotionalität einen ganz anderen Sinn als bei
H eym ans . Das gilt auch für die Aktivität, das strebende Reagieren. Als struktu
rierende Prinzipien der menschlichen Typen kennt K lages noch die Willens
erregbarkeit, die er mit Recht von der Gcfiihlserregbarkcit unterscheidet und
schließlich das Ausdrucksvermögen. In dieser Charakterologie tritt jedoch der
Zusammenhang mit Konstitution und Motorik weniger in den Vordergrund.
Mehr Möglichkeiten zur Erschließung dieses Zusammenhanges bieten die Sy
steme, bei denen man von einem oder wenigen Merkmalen ausgeht. W ir erwähnen
das Werk von J aensch, welches das Integrations-Merkmal herausstellt und Hag
von J ung , das die wertvolle Einteilung in Introversion und Extraversión liefert.
Eine Möglichkeit für eine motorische Typologie bietet sicher auch das System von
P fahler , der einen „Typus der festen Gehalte“ und einen „Typus der fließenden
Gehalte" unterscheidet, jener u. a. gekennzeichnet durch eine eng-foderende Auf
merksamkeit und eine starke Perseveration, dieser mit breit fluktuierender A uf
merksamkeit und geringer Perseverationstendenz.
In diesen Typologien wird auch der Motorik die nötige Aufmerksamkeit
gewidmet. Insbesondere Jaensch hat seine Integrations-Psychologie durch f&m*
Schüler in dieser Richtung weiter ausarbeiten lassen. Noch wenig untersucht ist
dagegen der Zusammenhang zwischen psychologischen Typen einerseits und
Körperbau und funktionellen Körpereigenschaften anderseits. Die diesbezüglichen
Arbeiten der Schule von Jaensch bedürfen einer ernsten Kritik und einer Nach
prüfung, da gewisse tendenziöse Einstellungen dabei stark hervorgetreten sind.
als dysplastische Typen zusammengefaßt werden und mehr oder weniger den
Konstitutionsabweichungen durch Störungen der inneren Sekretion entsprechen.
Besonders bei den drei Haupttypen wurde die Motorik genau untersucht.
Bevor wir das Ergebnis dieser Untersuchungen erörtern, wollen wir kurz die
Hauptmerkmale der Grundtypen erwähnen1.
a) Leptosome. Den Habitus beschreibt K r e t s c h m e r folgendermaßen: ein
geringes Breitenwachstum bei unvermindertem Längenwuchs. Die geringe
Breitenentwicklung betrifft sämtliche Körperteile: Gesicht, Hals, Rumpf und
Extremitäten und auch sämtliche Gewebe, wie Haut, Fettgewebe, Muskeln,
Knochen und Gefäßsystem. Oft besteht eine flache Brust und hängende Schultern,
manchmal findet man infantile und feminine Züge. Übergänge zum athletischen
Typus kommen nicht so selten vor, z. B. eine sehnig-schlanke anstatt einer schlaffen
Gestalt. Der zutreffende Name für die ganze Gruppe lautet denn auch leptosom
(leptos — schmal), während die extrem schwachen Typen besser Astheniker
genannt werden können.
b) Athletiker. Mittelgroße bis große Männer mit breit abstehenden Schultern,
gewölbter Brust und stark gespannten Bauchmuskeln. Den groben Bau des
Skelets bemerkt man besonders an den Schlüsselbeinen, an Hand- und' Fuß
gelenken und den Händen, die groß und plump sind. Über dem ganzen Körper
sieht man das Relief der kräftig entwickelten Muskeln. Die Extremitäten sind
eher lang als kurz. Die Haut, besonders im Gesicht, ist dick, manchmal pastös. Die
Entwicklung des subcutanen Fettgewebes ist gering. Auch vom athletischen
Typus bestehen mehrere Varianten, u. a. durch einen Unterschied in der Plump
heit.
c) Pykniker. Dieser Typus befindet sich im mittleren Alter auf der Höhe
seiner Entwicklung. Die Merkmale sind dann: großer Umfang von K opf, Brust
und Bauch mit Neigung zu starker Fettablagerang am Rum pf, während Schult&r-
gürtel und Extremitäten schlanker sind. Das typische Bild zeigt eine gedrungene
Gestalt, ein weiches, breites Gesicht, einen kurzen, massiven Hals, einen fetten
Bauch und einen gewölbten, nach unten sich verbreiternden Brustkorb. Die
Glieder sind weich, rund, m it wenig Muskel- und Knochenrelief und eher kurz als
lang. Auch die Hände sind ohne viel Relief zart, dick, kurz und breit. Eine der
auffallendsten Eigenschaften ist wohl die Neigung zu Fettsucht, obwohl für die
Diagnose des pyknischen Typus eine starke Fettentwicklung nicht ein unbedingt
notwendiges Merkmal ist. Im jugendlichen (und fortgeschrittenen Alter) fehlt sie
oft und ebenso bei Menschen, die Schwerarbeit verrichten. Doch findet man auch
dann die breite und weiche Gesichtsform mit dem kurzen Hals.
Im jugendlichen Alter ist dieser Typus oft schwer vom athletischen zu unter
scheiden. Für die Differentialdiagnose ist dann das Verhältnis von Schulterbreite
und Brustumfang von Bedeutung. Die Pykniker haben eine geringere Schulter-
breite im Verhältnis zum Brustumfang.
Die KRETSCHMERschen Typen entsprechen ungefähr den auffallenden, esltrem
gebauten Gestalten, die schon bei oberflächlicher alltäglicher Bteobachtung zu
unterscheiden sind: den dicken — untersetzten, den dünnen — schlankenuridden
stark muskulösen Figuren. Die Untersuchungen K r e t s c h m e r » waren anfänglich
1 Die Typen werden am deutlichsten bei Männern gefunden, auf die die folgende Kenn
zeichnung sich denn auch bezieht.
Buytendijk, Haltung und Bewegung 22
338 Typologie der menschlichen Dynamik
fällt das den Leptosomen und Athletikern schwerer als den Pyknikern. Die
Leptosomen neigen dabei zu Perseveration.
Läßt man während des regelmäßigen Hebens eines leichten Gewichtes im K opf
rechnen, also die Aufmerksamkeit auf zwei Aufgaben verteilen, so gelingt dies den
Pyknikern schwerer als den anderen Gruppen. Die besten Ergebnisse finden sich
bei den Leptosomen.
Die Untersuchung des persönlichen Tempos hat aber für ein allgemeines Bild
der Motorik insofern Bedeutung, als sich zeigte, daß ein unter natürlichen Be
dingungen gewähltes Arbeitstempo dem experimentell gefundenen in gewissem
Maße entspricht. Die Versuche zeigen also ein Merkmal der Motorik überhaupt,
und sie belehren uns über Unterschiede in der Bewegungsweise der Konstitutions
typen. Es ergaben sich dabei auch Unterschiede in der Weise des Eintritts der
Ermüdung: sie stellte sich bei den Pyknikern allmählich, bei den anderen über
wiegend plötzlich ein.
Zur Ausführung feiner Hand- und Fingerbewegungen sind die Leptosomen am
besten veranlagt. Im Alltag bemerkt man die Ungeschicklichkeit der athletisch
gebauten Menschen. Sie beruht zum Teil auf unzweckmäßigen Mitbewegungen,
die bei Athletikern von einigen russischen Forschem experimentell aufgezeigt
wurden1. Sie zeigten das durch Registrierung der Kontraktionen von m. biceps und
m. triceps, während der andere Arm auf Befehl gebeugt oder gestreckt werden
mußte oder die Hand ein Dynamometer drückte.
Einen Gesamtein druck des Koordinationsvermögens erhält man am besten,
wenn man eine etwas verwickeltem Handlung ausführen lä ß t. E n k e wählte hierfür
das Wegtragen eines bis zum Rande mit Wasser gefüllten Glases, das in einen Meß
zylinder umgegossen werden soll. Die Pykniker führten diesen Auftrag am besten
aus. Man erklärte dies mit den in anderer Weise festgestellten Merkmalen ihrer
Motorik: dem Fließenden, Abgerundeten, Ungehemmten, Ungezwungenen ihrer Be
wegungen. Die am wenigsten motorisch begabten Leptosomen können die genannte
Handlung dennoch recht gut ausführen, weil sie durch eine gespannte Aufmerk
samkeit ihre geringe Veranlagung ausgleichen. Ihre Bewegungen bleiben jedoch
steif, eckig, ungeschickt und werden oft von plötzlichen „Bewegungsentgleisungen“
unterbrochen.
Den Ergebnissen dieser Versuche und dem globalen Eindruck, den ein guter
Beobachter von der Motorik in ihrer Beziehung zur Konstitution erhält, entspricht
das Resultat einer Untersuchung der Handschrift, die J is l in bei 150 gesunden
Männern zwischen 20 und 40 Jahren durchfiihrte2. Vergleicht man die Schrift der
Pykniker mit der der Leptosomen, so sieht man die gleichen Merkmale wieder
kehren, die in allen Bewegungen Ausdruck wesentlicher Charakterzüge sind. Die
Pykniker schreiben fließend, zeigen eine ungezwungene, leichte Schrift mit ab
gerundeten Buchstaben von normaler oder mehr als normaler Größe, also keine
Mikrographie, die dagegen bei den Leptosomen häufig vorkommt. Der Hand
schrift dieser Konstitutionsgnippe fehlt der fließende Verlauf, die Verbindung
zwischen Buchstaben und Silben, Die Schrift ist auch unregelmäßig in bezug auf
Größe und Steilheit der Buchstaben, Die Buchstaben sind spitz im Gegensatz zur
1 B adjtjl, M irqpqlskaja u . A n d r e je w : Studie über die Synkinesien bei Gesunden im
Zusammenhang mit der motorischen Begabung der Körperbautypen. Z. Neur. 117, 595 (1928).
* J islin , S. G.: Körperbau, Motorik und Handschrift. Z. Neur. 98, 518 (1925).
22 *
340 Typologie der menschlichen Dynamik
abgerundeten Schrift der Pykniker. Durch Anstrengung können sich jedoch auch
die Leptosomen zu einer regelmäßigen und abgerundeten Schrift zwingen, die dann
jedoch einen gemachten, unechten Charakter erhält. Meistens ist sie kindlich und
unsicher. Die Handschriften verschiedener Pykniker ähneln sich, während sie bei
den Leptosomen stark voneinander abweichen und verschiedene Typen unter
schieden werden können.
J islin fand keine absolute Korrelation zwischen Handschrift und Konstitution.
Fehlte der Zusammenhang, so fehlte er auch zwischen Körperbau und Charakter
(Temperament).
Die Handschrift wird, wie die Graphologie immer klarer zeigt, durch eine große
Anzahl von Eigenschaften des Schreibers bedingt, und zwar nicht nur durch
konstitutionelle Temperamentsmerkmalc, sondern auch durch den Charakter,
wie er sich im Laufe des Lebens in Wechselwirkung mit der Umwelt entwickelt hat.
Die Erfahrung lehrt auch, daß verschiedene Eigenschaften der Schrift von
Stimmung, Willensanstrengung, Zielstellung usw. abhängen.
Eine der individuell konstantesten Schrift-Eigenschaften ist der Verlauf
des beim Schreiben ausgeübten Druckes. Um ihn zu untersuchen, hat bereits
K r ä p i l i n einen einfachen Apparat, eine ..Scbriftwaage", konstruiert. Diese hat
E n k e für die Erforschung der Konstitutionstypen benutzt. Dabei trat die Rela
tion zwischen psychomotorischen und affekt-willensmäßigen Eigenschaften deutlich
hervor. Auch hier wieder zeigt sich die flüssigere, ungehemmtere Psychom otorik
der Pykniker, ihre innerhalb weiter Grenzen stärker variierende psychische Energie.
So sind die Druckschwankungen während des Schreibens bei ihnen am größten .*Bei
der Hälfte der Schwankungen sinkt der Druck bis auf Null ab. Bei den Leptosomen
und Athletikern hält sich dagegen der Druck auf hohem N iveau, und wenn auch einige
Schwankungen Vorkommen, so sinkt er doch selten bis Null ab, Beide Gruppen
unterhalten beim Schreiben eine ununterbrochene intrapsychische Spannung.
Den Schriftkurven kann man entnehmen, daß die Athletiker im allgemeinen die
geringste Begabung zum Schreiben zeigen, was ihrer Ungeschicklichkeit bei feinen
Manipulationen entspricht. Ihr Willens- und Affektlcben zeigt, ebenso wie das der
Leptosomen, eine nach Qualität und Quantität nur geringe Variationsbreite. Ihre
affektiven Äußerungen schwanken, nach K r e t s c h m e r und E n k e , zwischen
interesseloser Gelassenheit, eigensinnig-pedantischer Steifheit und explosiver Erre
gung mit raschem Abklingen.
In allen motorischen Äußerungen stehen die Athletiker fast immer zwischen
Leptosomen und Pyknikern, aber zugleich ist eine große Verwandtschaft
zwischen den beiden erstgenannten Gruppen festzustellen, Das wird noch deut
licher, wenn man die Verhaltensweisen in experimentellen Situationen vergleicht»
in denen die persönliche Haltung der Außenwelt gegenüber den Verlauf der
Reaktionen und ihre Ausführungsweise bestimmt. Dann stellt sich nämlich heraus»
daß diese beiden Konstitutionsgruppen mehr zu einem vorsichtigen, zaudernden,
mißtrauischen, nach Sicherheit suchenden Verhalten neigen als die Pykniker» die
weniger reflektieren, naiver in ihrem Auftreten sind und ein größeres Anpassungs
vermögen zeigen. Wie gesagt', kommt bei den Leptosomen und Athletikern das
Krankheitsbild der Schizophrenie häufiger vor als bei den Pyknikern. Wegen der
zur Schizophrenie disponierenden Charakterzüge, die sich in der M otorik äußern,
spricht man von einer schlzothymcn (oder schizoiden) Konstitution.
Kritische Betrachtungen v <*41
5. Kritische Betrachtungen
Nach dieser Übersicht über die Untersuchungen K retschmer « und seiner Schule
über die konstitutionelle Motorik wollen wir uns nun die Frage stellen, wie der
Zusammenhang zwischen Körperbau, Temperament und Bewegungsweise be
griffen werden kann.
Zunächst muß abermals betont werden, daß dieser Zusammenhang nur
statistisch begründet worden ist. Das gilt insbesondere hinsichtlich des Zusammen
hanges zwischen dem Körperbau und dem von K retschmer als Charakter
bezeichneten Kom plex von Eigenschaften, das er ziemlich vage als „die Gesamt
heit aller affektiv-willensmäßigen Reaktionsmöglichkeiten eines Menschen, wie
sie im Laufe seiner Lebensentwicklung entstanden sind“ definiert. In dieser
1 K uras : Z . Neur. 1940, 168; zit. nach K retschmer .
' s?
Definition wird der Charakter nur unscharf von dem Komplex ererbter psychischer
Qualitäten, der psychischen Konstitution unterschieden, und auch gegen das Tem
perament nurungenau abgegrenzt. Gerade dieses ist jedoch mit der Motorik engstens
verknüpft. Für K r e t sc h m e r ist das Temperament kein klarer Begriff, nur ein
praktisch brauchbares Wort. Er sieht darin eine Anzahl von Eigenschaften, die
in Wechselwirkung mit der inneren Sekretion stehen. Sie beeinflussen die sog,
Psychacsthesie (die Empfindlichkeit für psychische Reize), die Stimmung, ins
besondere die heitere oder traurige Färbung der Bewußtseinsinhalte, das psy
chische Tempo und die allgemeinen Merkmale der Bewegung (ihre Lebendigkeit
Steifheit, Hast usw.).
An einem Beispiel kann erläutert werden, wie unklar die Begriffe auf diwapm
Gebiet der Wissenschaft noch sind und wieviel Verwirrung dadurch bei den Erklä
rungen entsteht. K r e t sc h m e r und E n k e haben versucht, die Bewegungsweise —.
auch die Art des Denkens und den Verlauf des Gemütslebens — der Athletiker
aus einer in sämtlichen Funktionen wiederkehrenden Grundeigenschaft zu ver
stehen. Diese Eigenschaft nannten sie das viscöse Temperament, Dieser Begriff
erklärt zwar nichts, jedoch bringt er vorzüglich zum Ausdruck, was in jeder Aktivi
tät des athletisch gebauten Menschen sichtbar wird, in ihren ruhig abgemessenen
Bewegungen, ihrer wortkargen Sprache, der beschränkten Phantasie, dem kaum
sichtbar bewegten Gemütsleben, dem gehemmten Denken, der Zurückhaltung
anderen gegenüber. So erhebt sich die Frage, ob das Viscöse, Zähe und Zähflüssige,
das alle innere und äußere Bewegung zeigt, nicht so sehr die Folge von physio
logischen Faktoren als vielmehr einer bestimmten geistigen perönlichen Haltung und
eines Verhältnisses zur Welt, einer Existenzweise als Weise des In-der-Welt-Seins ist.
Ist nicht das Wesentliche des Athletikers die introverse, u.ah innen integrierte
Haltung und erklärt die Introversion nicht die geringen emotionalen Äußerungen,
die Stabilität und Intensität des Inneren, das stark integriert nur langsam in Be
wegung und schwer zur Ruhe kommt ? Ist das Erfahren der Außenwelt als ein®
Widerstandes und einer Störung die Ursache des Temperamentes oder verhüt es
sich umgekehrt? Diese Fragen sind nur von einer klaren Vorstellung vom
Wesen des Menschen, also von einer philosophisch begründeten Anthropologie
und Psychologie aus zu beantworten. Diese fehlt dem Werke K retschmer»,
Zweifellos bedeutet der Gedanke der Einheit der psychophysischen Persönlich
keit, von dem er ausgeht, einen Fortschritt gegenüber den dualistischen Auf
fassungen und eröffnet die Möglichkeit einer Erneuerung des alten Konstitutioos-
gedankens und seiner fruchtbaren Anwendung auf die Gebiete der Medizin,
Pädagogik, usw. Solange jedoch die anthropologische Fundierung fehlt, bleibt der
theoretische, also wissenschaftliche Wert beschränkt und man bleibt die Antwort
auf primäre Fragen, wie auf die nach dem Zusammenhang von Charakter, Persönlich
keit, Wille, von Körperbau und Temperament, schuldig. Deshalb liefert um das
Werk K retschmer» zwar eine Anzahl ausgezeichneter Beschreibungen von
„Typen", aber es erklärt nicht einmal die einfache empirische Tatsache, daß
dann und wann jemanden mit einem ganz typischen pyknischen Körperbau u n i
einem ausgesprochen schizoiden Auftreten antrifft1.
1 Eine gründliche Kritik K rstschmkm Typologie lieferte W. H. SllSLDON*. Tha
varicties of human phytique. New York and London 1940. und: The vnrietiea of temperament.
1942.
Kritische Betrachtungen 343
Mir scheint, man verwendet den Begriff Temperament mit zu wenig Kritik und
rechnet Eigenschaften dazu, die in ganz verschiedenem Bezug zum Zentrum der
Persönhckeit, zum „Ich " stehen. Daraus erklärt sich vielleicht die Tatsache, daß
die drei Grundtypen in ihrem charakteristischen Auftreten und Reagieren sowie
in ihren motorischen Eigentümlichkeiten nur bei Erwachsenen anzutreffen sind.
Es stellt sich auch immer mehr heraus, daß durch Erziehung und Umwelt sich
Eigenschaften verwandeln, die man gewöhnlich zum Temperament rechnet. Am
deutlichsten ist das nachzuweisen an sozialen Gruppen, bei denen sich ein ausge
sprochener Lebensstil findet, der mit einem bestimmten ethisch fundierten Verhält
nis zu Menschen und Werten, zur Natur und Kultur, verbunden ist. Man denke an
ein englisches Internat, eine Klostergemeinschaft, das Arbeiterviertel in einer Groß
stadt, ein Fischerdorf, Berufsgruppen wie Seeleute, Offiziere, Pfarrer usw. In solchen
Gemeinschaften und Gruppen ist der „Charakter", insbesondere das „dynamische
Bild" äußerst homogen. Jeder tut jedes auf die gleiche Weise, nach den gleichen Prin
zipien, im gleichen Stil. Dennoch bleiben bemerkenswerte individuelle Unterschiede,
deren Studium im Zusammenhang mit dem Konstitutionsproblem von Interesse wäre.
Erst dann wird sich feststellen lassen, welche Eigenschaften sich gegen
starke Milieu-Einflüsse behaupten und inwiefern diese Merkmale die Motorik be
stimmen. Es gibt Gründe für die Vermutung, daß die offene und verschlossene
Haltung, die Zuwendung nach außen (Extraversión) und nach innen (Introversion)
solche unveränderlichen, genotypischen Merkmale sind. Sind sie jedoch mit einem
bestimmten Körperbau verknüpft? Inwiefern bestimmen sie die Ausführungs
weise der Handlungen und den Typus der Ausdrucksbewegungen P1
Die KRETscHMERschen Typen unterscheiden sich eigentlich kaum von den
hageren, den dicken und den muskulösen Menschen, die uns bereits im A llta g auf
fallen. Daneben sticht unmittelbaxnoch derUntersehied zwischen großen und kleinen
Personen hervor. Auch dieser ist gewiß zu einem großen Teil genotypisch bedingt. In
der Konstitutionslehre K retsch m ers wird das nicht berücksichtigt. Betrachtet man
die Tabellen für die mittlere Körperlänge der Grundtypen, so findet man für die
Länge der Leptosomen (Männer) 168,4, der Athletiker 170,0, der Pykniker
167,8 cm, also last keinen Unterschied.
Der „Temperaments"-Unterschied zwischen großen und kleinen Menschen ist
aber doch auffallend. Das ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, daß das Längen
wachstum mit durch endogene (innersekretorische) Faktoren bestimmt wird und
daß diese zum Teil auch die Motorik regeln.
Längere Menschen haben ein langsameres Tempo, wie auch größere Tier eine
ruhigere Bewegungsweise zeigen.
Physiologisch unterscheiden sich kleinere Menschen auch durch den relativ höhe
ren Stoffwechsel. Auch das kann eine Ursache für Unterschiede des Reagierens,
des Tempos und der Erregbarkeit und so für das allgemeine Auftreten abgeben.
Der wichtigste Grund aber für den auffallenden Unterschied im Verhalten
zwischen langen und kleinen Menschen liegt in der Länge selbst Und in dem mit
1 Wir nahem uns hier einem Gedankengang, der der Charakterologie J ungs, aber nament
lich der J aenschb zugrunde liegt. E. J aensch hat die Ansicht verteidigt, die Integration (Ver
bindung zur Einheit), gerichtet auf das innerlich oder äußerlich Erlebte, sei ein angeborenes
Merkmal, das sich dem Grade nach genotypisch unterscheidet. In den an Hand dieser Vor
aussetzungen durchgeführten. Untersuchungen sind auch die motorischen Besonderheiten der
„Typen" studiert worden. Die Zuverlässigkeit dieser Untersuchungen scheint mir zweifelhaft.
Typologie der menschlichen Dynamik
344
1 Dann wird man vielleicht einsehen können, weshalb Leptosome nahezu immer ©ine „g e
spaltene" Innerlichkeit haben und eine Korrelation mit „aristokratischen*' Naturen besteht.
Auch kann dann vielleicht die Frage beantwortet werden, weshalb Bucklige so oft „geistreich"
sind oder welche Wahrheit im Ausspruch l e g t : *'long-lcgged men are bad lovers” .
Normative Typologie 345
Verhaltens andeuten, sind sehr zahlreich, zum großen Teil metaphorisch und fast
immer schwebend und vage. Man denke nur an jene, die für Beifalls-oder Mißfallens
bezeigungen bei einer sportlichen Leistung gebraucht werden und an jene, die sich
auf den ästhetischen Wert einer Gestalt, Abbildung, Gebärde oder eines Tannes
beziehen. In all diesen Urteilen wird der Bewegung ein Maßstab angelegt, welcher
der Natur, der Technik oder der Kunst entnommen ist.
Wir wollen die wichtigsten dieser Maßstäbe normativer Beurteilung näher
betrachten. Dazu untersuchen wir zunächst, was unter einer normalen, sodann, was
unter einer natürlichen, des weiteren, was unter einer technisch vollkommenen und
schließlich unter einer graziösen Bewegung zu verstehen ist,
noch behaupten, als man mit der antiken Naturbetrachtung längst gebrochen
hatte und man eine „eiserne" Gesetzmäßigkeit in der Natur annahm.
Noch immer nennt man eine gestörte Entwicklung— ein Kalb mit zwei Köpfen,
einen krummgewachsenen Baum, ein schwachsinniges Kind — anomal, als ob die
Entwicklungsgesetze nur Regeln seien, denen der Organismus zwar gewohnheits
mäßig folge, denen gegenüber die „Natur", die Art oder Veranlagung aber eine ge
wisse Selbständigkeit habe. In diesem Sinne werden auch bestimmte Verhaltens
weisen, etwa die eines Tieres, das sein Junges frißt, •abnormal genannt. Der natür
liche Bezug wird dann stillschweigend als eine Art zweckgerichteter, auf das Gute
gerichteter, also ethischer Zusammenhang aufgefaßt. Auch wenn man heute voll
und ganz eines unlöslichen ursächlichen Zusammenhanges gewiß ist, so daß jede
Abweichung im Organischen eine Ursache haben muß, so erhält sich dennoch ein
unaustilgbares Bewußtsein von einer natürlichen „Anständigkeit", die zwar nicht
wissenschaftlich aufweisbar, aber doch philosophisch zu verantworten wäre.
Mehr als auf die vitalen Erscheinungen ist der natürliche Normbegriff auf die
menschlichen Verhaltensweisen anwendbar. Der ganze funktionelle Zusammen
hang von Mensch und Außenwelt, das Vollzugsfeld sämtlicher Verhaltensweisen,
kann nicht als ein System ursächlicher Erscheinungen, also als Äußerung von
Gesetzen, betrachtet und begriffen werden. Beschränkt man sich auf die einzelnen
Funktionen, wie die motorischen Äußerungen, so sind diese nie mit Notwendigkeit
aus einer körperlichen Gesetzmäßigkeit zu erklären, sondern erfordern die Unter
stellung eines Faktors, der mehr oder weniger an die psychische Aktivität der
Person gebunden ist;
Wir haben wiederholt und ausführlich zu zeigen versucht, wie sogar die ein
fachsten Handlungen und Ausdrucksbewegungen zwar an Regeln und Prinzipien,
nicht jedoch an Gesetze gebunden sind.
Deshalb sprechen Arzt und Erzieher von anomalen Haltungen und Bewe
gungen und meinen damit u. a. die, welche der Natur, dem Sinn der funktionellen
Relationen zuwiderlaufen.
Der Sprachgebrauch — auch der wissenschaftliche, u. a. der neurologische —
unterscheidet jedoch sehr bestimmt eine abnorme Bewegung von einer unnatür
lichen, wobei jene von den für alle artgleichen Bewegungen (z. B. Gehen) geltenden
Regeln abweichen, diese dagegen dem Komplex von Eigenschaften, den man die
„menschliehe Natur" nennt, widerstreiten sollen.
Unnatürliches-Lachen ist etwas ganz anderes als anomales Lachen. Jenes
ist dem Typischen der menschlichen Natürlichkeit, die wir noch näher besprechen
werden, gegenübergestellt, dieses einer Ordnung oder Regel, die für das Lachen in
einer bestimmten Situation gilt. Einer, der gehemmt, eckig oder krampfhaft
steht, ist nicht abnormal, sondern unnatürlich, und das gilt auch für den Puber-
tierenden, für den die konstitutionelle Unnatürlichkeit normal ist.
b) Der klassische, philosophisch fundierte natürliche Normbegriff ist im
modernen Denken von der statistischen Auffassung der Normalität verdrängt
worden. Dies ist eine Folge der Entwicklung des naturwissenschaftlich-positi
vistischen Denkens auf jedem Gebiet.
Die statistische Behandlung der Naturerscheinungen ist zudem frei von jeder
Voraussetzung hinsichtlich des Wesens der Natur. Sie fragt selbst nicht nach Ur
sache und Wirkungund erst recht nicht nach Zwecken. Sie strebt nach einer formalen
348 Typologie der menschlichen Dynamik
Betrachtungsweise und sucht nach Regeln, die mit einer gewissen Wahrscheinlich
keit gelten sollen.
Die Anwendung der statistischen Methode liegt in der Biologie sehr nahe, denn
die empirisch so auffallende Variabilität drängt von selbst zu einer statistischen
Behandlung, insbesondere der quantitativen Erscheinungen. So hat der statistische
Normbegriff seinen Weg in Medizin und Hygiene, physischer Anthropologie und
Psychologie gefunden.
Nimmt man den statistischen Durchschnitt als Norm und wendet ihn auf eine
Gruppe von Menschen, ein Volk, eine Rasse, die Sportler eines bestimmten Zweiges
an, so weicht natürlich jedes Individuum in einer oder mehreren Hinsichten ab. Weil
aber mit dem Begriff der Norm stets der eines höheren Wertes verknüpft bleibt,
neigt man in vielen Fällen dazu, jede Abweichung in dem Sinne als ungünstig an
zusehen, als sie möglichst korrigiert werden sollte. Diese unrichtige Schlußfolge
rung wird an vielen Stellen in Medizin und Pädagogik gezogen.
Für die Bewegungslehre ist der statistische Normbegriff bei der mechanischen
Analyse der Bewegungen von Wert. Diese Analyse führt man ja vorzugsweise an
einer sog. „normalen" Gestalt durch, für welche die anatomischen Daten aus der
Messung einer Anzahl von Personen gewonnen wurden. So werden in der Be
wegungsmechanik die Berechnungen immer noch auf der Masse der Körperteile
aufgebaut, die von Fischer vor vielen Jahren auf Grund von Gewichtsbestimmun
gen an fünf Leichen festgestellt wurden. Wenn also in der Bewegungsmechanik
eine normale Bewegung in ihrem Verlauf beschrieben wird und man genau angibt,
welche Muskeln benutzt werden und in welchem Ausmaß sie in jeder Phase wirksam
sind, so hat diese Kenntnis für eine Einsicht in die Bewegung, wie sie bei einer
bestimmten Person abläuft, nur eine quantitative Bedeutung. Daher ist denn auch
die Anwendung mechanischer Analysen für die Theorie der Leibesübungen nur
von geringem Wert1.
In der funktionellen Bewegungslehre ist der statistische Normbegriff wertlos.
Normales Gehen oder Stehen, wie es Medizin und Neurologie definierten,
kommen nur insofern am häufigsten vor, als sie sich nach einem Grundschema
vollziehen, das erst bei ernsten Störungen durchbrochen wird. Es müssen eine große
Anzahl von Abweichungen von den am häufigsten vorkommenden Weisen zu
stehen und zu gehen als vollwertig und auch als normal angesehen werden, wenn
wir den jetzt näher zu betrachtenden biologischen Normbegriff anwenden.
c) Biologisch normal sind Formen und Funktionen, die den Organismus in
optimaler Verfassung halten oder ihn dahin zurückführen. Nach dieser Auffassung
der Normalität werden also die Individuen, Organe und Funktionen, im Vergleich
mit anderen der gleichen Art, im Zusammenhang mit der Situation, dem momen
tanen Zustand und dem individuellen Lebenslauf beurteilt. Sie ist in der Medizin
verbreitet, seitdem man unter dem Einfluß der Lehre von den konstitutionellen
Dispositionen dazu überging, die Zustände von Gesundheit und Krankheit weniger
statistisch und mehr individuell zu beurteilen1. Normal ist die Eignung, den
durch die Umstände gestellten Anforderungen zu entsprechen.
Bethcs Handbuch der Physiologie XV, S. 1.
1 St e in h a u s e n :
* G nom , L. R .: Über den Normbcgnif im ärztlichen Denken. Z, Konstit.-lehre S, 38J
(1922).
Der Begriff des Normalen 349
e) Stellt man mit H ildebrandt die Forderung, ein Mensch dürfe erst dann
normal genannt werden, wenn er seiner persönlichen Aufgabe und Bestimmung
entspräche, so spricht man besser von einem persönlichen Norrnbegriff. Der indi
viduelle Mensch soll dann nicht nur einem allgemein geltenden Idealtypus und
den für seinen Gemeinschaftskreis geltenden Normen gerecht werden, sondern je
der habe kraft seiner unvergleichbaren Einmaligkeit von Anlage, Charakter,
Milieu, Aufgabe und Bestimmung eine persönliche Weise des In-der-Welt-Seins.
Die Normalität in Haltung und Bewegung schließt dann dieses streng Persön
liche ein, aber dieses enthält immer auch die zur biologischen Norm gehörenden
funktionellen Anforderungen. Die normale Haltung, die normale Weise zu gehen,
die normale männliche und weibliche Dynamik, die wir kennenlemten, müssen
immer eine persönliche Erscheinungsform besitzen, wenn sie für einen bestimmten
Menschen normal sein sollen. Entfaltet sich diese nicht, so entsprechen Bewegung
oder Haltung nicht der individuellen Artung und also auch nicht vollkommen der
diesem bestimmten Menschen kraft seiner Natur zukommenden Idee.
Nach dieser Erörterung der verschiedenen Bedeutungen des Normbegriffes
vermögen wir einzusehen, weshalb bei der wertenden Beurteilung der menschlichen
Bewegungen immer die Forderung der Normalität gestellt wird.
Meistens meint man mit dieser Forderung, die Bewegungen sollten so wie die
Verhaltensweise der meisten Menschen von gleichem Alter. Geschlecht, Stand
usw, sein. In der Gesellschaft ist die Forderung dieser Normalität sehr wirksam
und führt zur. Stabilisierung von Umgangsformen und Lebensstil. Daneben spielt
jedoch auch der biologische Normbegriff eine wichtige soziale Rolle, indem ge
fordert wird, eine Handlung solle sich zweckmäßig den Umständen anpassen, eine
Ausdrucksbewegung solle der Situation angemessen sein.
Je besser wir einen Menschen kennen, desto persönlicher beurteilen wir ihn.
Anomal nennen wir dann sein Tun, wenn es nicht zu seinem Charakter und der
Art seiner individuellen Aufgaben paßt.
Damit nähern wir uns der Frage nach einem höheren typologischen Werturteil,
der Frage, was unter menschlicher Natürlichkeit verstanden werden müsse.
3. Natürlichkeit
Eine der höchsten formalen Anforderungen, die man an Haltung und Bewegung
des Menschen stellt, ist die der Natürlichkeit. Ihr Gegenteil : Unnatürlichkeit,
Gemachtheit, Unechtheit, Gekünsteltheit, wird immer als minderwertig ^ tra ch
tet. Man kann nicht sagen, daß der Ruf nach Natürlichkeit an eine bestimmte
Lebensanschauung gebunden sei, nur daß er in bestimmten Phasen der Kultur
geschichte, wie in der Zeit der Romantik und in der unsrigen, lauter erklingt.
Es ist nicht leicht, klarzustellen, was unter menschlicher Natürlichkeit zu ver
stehen sei. Doch kann ohne weitere Untersuchung sofort behauptet werden: die
Schätzung dieses Merkmals verweise auf eine fundamcntalcErfahrungdcsMenschen
von sich selbst als von einem Wesen, das im Gegensatz zu sämtlichen
anderen Geschöpfen unwahr sein kann, lügen kann, sich anders geben kann, als es
ist. Der Mensch weiß auch, daß d ie » Unechtheit im Verhalten Charakterlosigkeit
bedeutet, unwahrhaftig und ethisch unzulässig ist.
Der Begriff der Natürlichkeit und ihre Schätzung entspringt der Besinnung
auf den Gegensatz von Geist und beseelter Körperlichkeit Dennoch erfährt man
Natürlichkeit 351
beide in ihrer Einheit, zugleich aber mit der Möglichkeit, alle spontane Aktivität
und Reaktivität durch den kontrollierenden Verstand und den Willen zu beherr
schen. Sie vermögen sich dem ungehemmten Bewegungsdrang entgegenzustellen.
Damit befinden wir uns schon mitten in der Problematik der Natürlichkeit. Wir
fragen: ist die Beherrschung des Vitalen durch Verstand und Wille an sich schon
unnatürlich, oder gehört sie — in maßvollem Grade — zum Wesen der spezifisch
menschlichen Natürlichkeit ? Ist ein Konflikt zwischen Verstand und Wille einer
seits und dem unreflektierten Leben andererseits unvermeidlich und die Regel, oder
aber tritt er nur ausnahmsweise und unter besonderen Umständen ein ? Ist alle kultu
relle Bildung zugleich eine Verbildung einer ursprünglichen, wertvollen Natürlich
keit, oder ist die Kultur die notwendige Bedingung für ihre Ausgestaltung ? Diese
Fragen entspringen der Besinnung und bilden ein zentrales Thema der philo
sophischen Anthropologie. Wir müssen hier einen anderen Ausgangspunkt für
unsere Untersuchung der Natürlichkeit der menschlichen Bewegung wählen: die
unmittelbare Anschauung und die Vergleichung des Verhaltens von Mensch und
Tier. Dazu besteht um so mehr Anlaß, als gerade der Mensch in der Begegnung
mit dem unreflektierten, problemlosen, ungeteilten, strömenden Leben des Tieres
seine Unnatürlichkeit immer wieder entdeckt.
Jedes Tier zeigt in seinem ganzen Auftreten bis in jede Einzelheit seines Ver
haltens eine vollkommene. Anpassung an seine Umwelt, besser gesagt eine Ein
passung, wie die eines Schlüssels in ein Schloß. Das Tier ist eingehüllt, geborgen
und sicher, ohne etwas davon zu wissen. Es hat ja nichts sich gegenüber als Gegen
stand von Betrachtung oder Handlung. Sogar der Tod ergibt sich aus dem eigenen
Entwicklungsgang, sofern dieser nicht zufällig abgebrochen wird. Leben und
Tod sind für das Tier im Dasein eingeschlossen. Wie beneidenswert erscheint das
dem Menschen, der sieh allem — sich selbst, seinem Leben und seinem Tode als
Aufgabe gegenüber gestellt sieht.
Wegen dieser konfliktlosen Einheit von Existenz und Lebenslauf, aber auch
wegen der Struktur seiner Innerlichkeit erfahren wir das Tier im Gegensatz zu uns
selbst als natürlich. Diese Innerlichkeit erscheint uns in jedem Augenblick be
stimmt von etwas anderem als von ihrer eigenen Natur. So wie sich uns eine Pflanze,
wie abhängig sie auch immer von Klima und Boden sei, in einem freien, von innen
heraus beherrschten Wachstum offenbart, so ersch ein t uns das Tier frei von jedem
äußeren Zwang, der gegen die Struktur-Einheit seines Daseins gerichtet wäre. Das
Tier ist natürlich wegen seiner Selbstbewegung und der unbegründeten, spontanen
Antriebe, die alles Tun regeln.
Selbst dann, wenn ein Tier zwangsläufig einer Beute folgt, ist diese objektiv
vollkommene Unfreiheit ein Bestimmtwerden durch das eigene Wesen und nicht
durch etwas, das ihm gegewttöersteht, Das Müssen gibt sich als ein inneres Müssen,
nicht als eine Aufhebung der Autonomie, sondern als ihre Bestätigung. Das ver
borgene geheime Gesetz (G o e t h e ), das die tierische Natur in ihrer intimsten Art
bestimmt, ist zwar ein zwingendes Gesetz, aber zugleich die Garantie einer Un
antastbarkeit, Emanzipation von allem Art-Fremden. Keinem anderen als dem
eig en en Gesetz ist das Tier unterworfen und daher erscheint es uns als die voll
kommene Demonstration der Freiheit.
Durch die Anschauung der tierischen Existenz kann zwar die Frage, ob das
Tier wirklich frei sei — d. h., ob es sich dem arteigenen geheimen Gesetz wider-
352 Typologie der menschlichen Dynamik
setzen könne» wie es der Mensch kann — nicht beantwortet werden, aber es
olfenbart sich so die Erscheinungsweise der Freiheit, und eben diese nennen wir
Natürlichkeit.
„Freiheit in der Erscheinung" ist gegeben durch eine immanente, geschlossene,
harmonische Ordnung, die im Tier zu selbst-bewegendem Leben geworden ist,
die aber schon in jeder Gestalt zur Geltung kommt.
Um dieses zu erläutern, betrachten wir irgendeine statische Gestalt, z, B. die
Form des Lindenblattes.. Auch sie wird von einem geheimen Gesetz bestimmt.
Bei einer einfachen Figur, einem Kreis oder einer Ellipse, ist das Gesetz formulier-
bar, aber bei organischen Gestalten ist das Formgesetz nicht begrifflich auszu
drücken, sondern es offenbart sich nur in der Anschauung. Daher nennen wir dieses
Gesetz ein „geheimes". Eine solche organische Gestalt hat eine gewisse Selb
ständigkeit der Außenwelt gegenüber. Diese kann sie zwar umformen, doch ohne
ihre Gestaltmerkmale aufzuheben. Ist die Störung zu eingreifend, so geht die
Form verloren, wird ihr Dasein aufgehoben, indem sie nicht mehr sie selbst ist.
Eine organische Gestalt hat also phänomenal eine gewisse Autonomie und imma
nente Ordnung, die wir Freiheit in der Erscheinung nennen. Eine Gestalt und
in noch stärkerem Maße ein Organismus tragen den Grund ihres „So-Seins", ihrer
Eigenart in sich selbst, so daß sie gewissermaßen als frei, als selbständig erschei
nen1.
In seinen vorzüglichen ästhetischen Betrachtungen der Natur hat S chiller
das schon bemerkt, als er in seinem KaIlias schrieb, „daß ein Objekt sich in der
Anschauung als frei darstellt, wenn die Form desselben den reflektierenden Ver
stand nicht zur Aufsuchung eines Grundes nötigt".
Der unverkennbare Unterschied in der Erscheinungsweise des Gewachsenen
und des Konstruierten, des Lebendigen und der Maschine, beruht auf der A b
hängigkeit alles Gemachten vom begrifflichen Denken, das von außen her das
Erscheinende bestimmt.
Natur hat jedoch nichts gegenüber, ist mit nichts konfrontiert, auf nichts be
zogen. Die Maschine zwingt den reflektierenden Verstand, das Erscheinende aus
einem abstrakten Begriff zu verstehen, „je d e r Begriff ist etwas Äußeres gegen das
Objekt,'' In der Anschauung der Natur jedoch erscheint uns das sich selbst
genügende, autonome Sein. Die Freiheit der Natur ist eine Freiheit von äußerlich
bestimmenden Begriffen und deshalb von äußerem Zwang.
Natur ist jedoch nicht natürlich, da sie ja Natur ist und nicht nur der Natur
ähnelt. Deshalb spricht man von Naturstein nur im Gegensatz zu hergestellten
Steinen, von Natur- oder freien Pflanzen im Gegensatz zu gezüchteten. Der
Begriff der Natürlichkeit wird erst dann sinnvoll, wenn er einer Erscheinung zu
geschrieben wird, die auch unnatürlich sein kann. Wenn etwas nicht nur in der
Erscheinung, sondern in Wirklichkeit selbständig, frei, ist, kann es auch unselb
ständig, unfrei werden.
Es scheint uns so, als folge das Wachstum der Pflanze einer eigenen Ursprüng
lichkeit und als könne es, diese aufgebend, einem äußeren Zwang folgen. Deshalb
nennt man Spalierbäume und Striucher wohl mit Überzeugung unnatürlich, ob
wohl man weiß, daß dieser Ausdruck hier metaphorisch gemeint ist.
J M erlea u -P on ty (La atructure du comportemcnt, Pari* 1942) sagt mit Recht, daß eine
Form keine Ursache hat» sondern daü es nur BedinpiiJien gibt ttlr ihr Erscheinen.
Natürlichkeit 353
Mehr Sinn hat es, beim Tier Natürlichkeit und Unnatürlichkeit zu unterschei
den. Jedoch nur das Verhalten nennt man natürlich, und zwar sofern es unter dem
Aspekt einer möglichen Unnatürlichkeit, erscheint. Das ist etwa der Fall, wenn ein
Tier (ein Haustier) seinen sinnvollen Antrieben folgt und nicht dem Zwang von
Dressur oder Gewohnheit. Das Tier ist dann es selbst, ist echt.
Natürlichkeit und Echtheit sind synonym, wenigstens hinsichtlich des Tieres.
Beide Begriffe verweisen auf einen möglichen Gegensatz von innerlich und äußer
lich, von Wirklichkeit und Erscheinung, von Autonomie und Abhängigkeit.
Der Begriff natürlich erhält erst im menschlichen Leben seinen vollen Gehalt,
denn nur im Menschen ist der Gegensatz von innerlich und äußerlich nicht nur
scheinbar, sondern wirklich. Noch deutlicher als bei der vitalen Freiheit oder der
Freiheit in der Erscheinung ist beim Menschen die Natürüchkeit an die Autono
mie, die ausschließlich innere Bestimmtheit seines Verhaltens gebunden.
Die Natürlichkeit des Menschen wird nur von einer einzigen Seite her bedroht,
von der Innerlichkeit selbst. Um das einzusehen, müssen wir nochmals darauf
hinweisen, daß die Natürlichkeit eines Tieres nicht aufgehoben wird, wenn es auf
einen Eindruck aus der Außenwelt zwangsläufig reagiert.. Die äußeren, zwang
ausübenden Momente werden ja innerlich repräsentiert, und zwar so, daß sie in
dieser Repräsentation in die innere strukturelle Einheit aufgenommen, gleichsam
bejaht werden. Der lockende Eindruck oder der fluchterregende Reiz werden im
harmonischen Zusammenhang des Lebendigen sinnvoll assimiliert, das sein Wesen,
seine Natürlichkeit auch in seinen natürlichen zwangsläufigen Reaktionen offen
bart. Wie sehr auch immer diese vom Verstände als unfrei beurteilt werden
müssen, in ihrer Anschauung finden wir keine Veranlassung, für ihr Erscheinen
einen anderen Grund vorauszusetzen als die Natur des reagierenden Tieres selbst.
Das scheinbare Paradox, daß ein fliehendes Tier kein unfreies Tier ist, findet seine
Erklärung in der doppelten Bedeutung des Begriffes Freiheit. Verstehen wir diese
als Willensfreiheit, so ist das Tier niemals frei, verstehen wir sie als „erscheinende
Autonomie", so ist jedes Wesen frei, solange sein Verhalten von einer harmonischen
Innerlichkeit bestimmt ist. So verwundert es uns nicht, daß der Gegensatz
natürlich-unnatürlich, wenn auf den Menschen angewandt, gerade am meisten auf
das reaktive Verhalten Bezug hat und somit auf das so sehr von der Innerlichkeit
abhängige Ausdrucksleben. Deshalb spricht man von einem unnatürlichen oder
gezwungenen Lachen. Die spontanen Handlungen sind immer natürlich, und
wenn sie das nicht in ihrer Ausführung sind, so ist diese durch reaktive Momente
gehemmt oder verzerrt.
Unterscheiden wir die Reaktionen in Handlungen und Ausdrucksbewegungen,
so legen wir jenen die biologischen Nonnen an und beurteilen sie als natürlich,
wenn sie in ihrem Verlauf dem Selbsterhaltungstrieb oder dem Suchen optimaler
Bedingungen entsprechen. So ist es unnatürlich, wenn man auf einen Schmerzreiz
die Hand nicht zurückzieht, wenn man sich nicht ausreichend ernährt oder wenn man
in Eiswasser schwimmen geht. Die Absichten, die dazu führen, können vernünftig
sein, aber sie entspringen nicht der menschlichen Natur, wie diese primär, als Anlage,
gegeben ist. Sie kann diese Absichten nicht assimilieren, sie bleiben ihr innerlich
fremd, gehören nicht zu ihrer Art, die sie als eine fremde Macht bezwingen.
Man wäre also geneigt zu sagen, der Mensch könne «»natürlich sein, indem er
frei ist, d. h. willkürlich über seine Natur verfügt. Träfe das in jeder Hinsicht zu,
Buytendijk, Haltung und Bewegung 23
354 Typologie der menschlichen Dynamik
so wäre alle Kultur der Natürlichkeit feind, „der Geist der Widersacher des
Lebens". Aus dieser romantischen Natur- und Kulturbetrachtung ( K l a g e s ), d e m
Gedanken einer „Überwucherung des Lebens durch Verstand und W ille", ist ein
Verlangen nach Natürlichkeit entsprungen, das sich auf der Ebene sozialer Ver
hältnisse in einer Abneigung gegen Technik, Stadtleben, Büro und Fabrik äußert.
Es ist der Ausdruck einer Entfremdung von Licht und Luft, eines Bedürfnisses
nach äußerer Freiheit als Vorbedingung einer stärkeren „VitaMsienmg" des
Daseins.
Diese romantische Ansicht droht jedoch, zu einer Theorie erhoben, die dem
Menschen wesentliche und in diesem Sinne also völlig natürliche, ungeteilte,
harmonische, lebendige Einheit von Geist uhd Vitalität in der Sphäre spontaner
und reaktiver Verhaltensweisen zu verkennen. Sie übersieht die unverkennbare Tat
sache, daß das ganze Dasein des Menschen in der Wirksamkeit des Geistes wurzelt,
der in seinem Wesen nicht eine fremde Macht, sondern die notwendige Bedingung
auch seiner vitalen Äußerungen ist.
In der Tierwelt ist, Natürlichkeit, auch in den für die Romantik beneidens
wertesten Erscheinungsformen — wie im ungebundenen Flug des Vogels
oder in der elastischen Sicherheit des Raubtiersprunges — , nichts anderes als
innere Harmonie und Freiheit in der Erscheinung. Dagegen kann sich nur im
Menschen eine Natürlichkeit offenbaren, in der sich diese Freiheit und Harmonie
von der Relativität zeit-räumlicher Konstellationen emanzipieren und eben
durch den Geist eine Vollkommenheit erreichen kann, durch welche die menschliche
Natürlichkeit sowohl zum Niveau kultureller Beherrschung aufsteigen, als auch
in eine unreflektierte und ungewollte „vitale" Unmittelbarkeit entlassen werden
kann.
So erhält die menschliche Natürlichkeit einen doppelten Aspekt. Sie erscheint
als kindliche primäre und als erworbene sekundäre Natürlichkeit. In beidien
Fällen besitzt sie einen normativ typologischen Wert. Beides sind ja Ideal
zustände, denen man sich annähem kann.
Die kindliche Natürlichkeit liegt zweifellos diesseits jeder Kultur, sofern dar
unter alle Einflüsse begriffen werden, die auch die Form der Verhaltensweisen be
stimmen. Aber auch die Natürlichkeit des Kindes liegt nicht außerhalb der Ein
heit von Geist und Leben, die sich von der Zeit an, da sein Sich-Bewegen auf die
Welt gerichtet ist, in ihm konstituiert. Es fehlt dann nur noch die Selbstbesinnung
und damit der innere Konflikt, der die Unechtheit erst ermöglicht. Lange wird
diese primäre Echtheit nicht dauern. Aber so lange sie anhält, besitzt das Ver
halten die Natürlichkeit, welche sich als innere Bestimmtheit, die wir Freiheit in
der Erscheinung nennen, ausdrückt. Man findet sie im fließenden Verlauf der Bewe
gung, in ihrer Spannkraft und Geschmeidigkeit, in ihrem kemhaf ten Ursprung und in
der Üppigkeit der Mitbewegungen, die wir in der Beschreibung jugendlicher Dyna
mik kennenlemten. Der kindliche Wille bestimmt— entsprechend dem von K lage ®
gebrauchten Bilde vom Ruder eines Schilfes — zwar die Richtung der Aktivität,
nicht jedoch die Ausführangsweise. Diese Ausführung wird, wie beim Tier, dem
Zusammenspiel der momentan wirksamen Faktoren überlassen. Wir haben hierbei
äußere und innere Faktoren kennengelemt, die im allgemeinen Bewegungsschema
assimiliert werden, aber ihm gegenüber doch eine gewisse Selbständigkeit wahren.
Natürlichkeit 355
Deshalb werden in der sekundären Natürlichkeit die Einheit und der Gegen
satz von Hegel und Ursprünglichkeit nicht fehlen. Beherrschung und Zucht, das
Gleichmaß in der Wiederholung werden also immer ein gewisses Maß erreichen
müssen, wenn die zu einer zweiten Natur gewordene erworbene und geübte Be
wegung noch Natürlichkeit besitzen soll. Man könnte mit K l a g e s sagen, daß die
Natürlichkeit ans Rhythmische gebunden ist, welches das mechanische Tun ent
behrt.
Wie dem auch sei, die aus der Neuromantik in die Systeme der Leibeserziehung
eingedrungene Tendenz, nach einem bestimmten Typus von Natürlichkeit zu
streben, ist unrichtig. Sie verkennt nicht nur die Vielgestaltigkeit des menschlichen
P a rin s, sondern ebensosehr, daß es für den Menschen keine nur-leibliehe Natür
lichkeit gibt, da alle Natur im Menschen erst menschlich ist durch den Geist.
4. Technische Vollkommenheit
Wenn auch die Forderung nach Natürlichkeit in den alltäglichen Umgangsfor
men und in aller Leibeserziehung gestellt wird und man also jede gemachte, ge
künstelte, aber auch jede automatisierte Bewegung als minderwertig verurteilt, so
ist sich unsere Zeit doch noch eines anderen Ideals normativer Typologie der
Motorik bewußt, die wir die technische Vollkommenheit nennen können.
Wir haben dieses Ideal bei der Besprechung von W urf und Sprung schon,
kennengelemt und dabei gesehen, daß bei jeder dieser sportlichen Leistungen
gewisse Anforderungen an die Bewegungsausfihnmg gestellt werden müssen,
wenn ein optimales Ergebnis gesichert sein soll.
Die technische Vollkommenheit wird ganz nach dem Ergebnis beurteilt. Die
maximale Geschwindigkeit des Schnelläufers entspricht der Vollkommenheit
seines Ganges. Durch die Geschwindigkeit der sportlichen Bewegung entgeht uns
gewöhnlich die Ausführungsweise. Wir messen sie nur nach der Wirkung. Die
Analyse mittels des Zeitlupenfilms lehrt jedoch, als gemeinsames Merkmal der
technisch vollkommenen Bewegungen die konsequente Anwendung des Prinzips
der Ökonomie anzusehen.
Bei einfachen Bewegungen, wie bei den industriellen Handgriffen, werden die
ökonomisch ausgeführten Handlungen zu automatischen, die eine solche Selb
ständigkeit erhalten, daß sie nicht mehr als Selbstbewegung der Person erscheinen,
sondern als Bewegungen, die an der Person geschehen, als seien ihre Glieder
Abschnitte einer Maschine.
Wir haben jedoch die technische Vollkommenheit gerade der Selbstbewegung
im Auge. Sie tritt erst bei komplizierten Handlungen auf, die als Einheit aus
geführt werden und an denen der ganze Körper teilnimmt. Obwohl diese Art von
Bewegungen auch im alltäglichen Leben vorkommt — man denke etwa an das Um
hacken eines Baumes, das Schlagen mit einem Vorhammer — so werden sie doch
vor allem in Athletik und Sport ausgeübt. Hier wird dann auch die ideale tech
nische Ausführung so hoch eingeschltzt, daß sie als ästhetische Norm gilt und das
nicht nur bei den Griechen und in der westlichen Kultur, sondern ebensosehr bei
den östlichen Völkern.
Da aber die Zweckmäßigkeit zu den Grundmerkmalen der organischen Nätur
gehört, ist die technische Vollkommenheit mit Natürlichkeit zu vereinbaren, wenn
sie der Ausdruck einer harmonischen Ordnung und einer autonomen inneren
Die Anmut 357
Einheit ist, die sich in der Beherrschung des Leibes, also in der erscheinenden
Freiheit ausdrückt.
Nur scheinbar besteht zwischen Natürlichkeit und technischer Vollkommen
heit ein Gegensatz, welcher oft in den Diskussionen über das Stehen und das Gehen
in der Leibeserziehung behauptet wird. Dort wird häufig die Alternative gestellt:
natürlich oder streng zweckmäßig. Man fürchtet eigentlich, daß durch ein Streben
nach technischer Richtigkeit in der Ausführung1'eine'gemachte, eckige und mani-
rierte Haltung und Gangart entstehen könnten.
Dies braucht aber keineswegs der Fall zu sein. Das folgt schon aus unseren
Überlegungen zur sekundären Natürlichkeit. Ein Stehen mit sog. rückwärts
gekipptem Becken und einem geraden Rücken, ein Gehen mit parallel gestellten •
Füßen sind in mancher Hinsicht zweckmäßig, weichen aber sicher von primären
Gewohnheiten ab. Sie müssen also bewußt erlernt werden. Aber schließlich kann
die neue Gewohnheit derart von selbst und unreflektiert ausgeführt werden, daß
der Eindruck der Natürlichkeit erhalten bleibt. Dann werden die Haltung und das
Gehen ästhetisch hoch eingeschätzt, weil das Schöne sich ja in Harmonie und
beherrschtem Gleichgewicht äußert und also Stehen und Gehen mindestens den
Anforderungen der Zweckmäßigkeit genügen müssen, um schön sein zu können.
Schließlich kann die Schönheit einer zweckmäßigen Bewegung noch durch den
Eindruck der Vornehmheit betont werden, die durch jede leichte Beherrschung des
Körpers durch den Geist entsteht.
Der technischen Vollkommenheit ist eines jedoch nicht mitgegebeh und bleibt
von ihr unterschieden: die Grazie, die höchste Blüte der Natürlichkeit.
Sie erblüht nur auf der gediegenen Grundlage einer architektonischen Schönheit
und einer technisch vollkommenen Beherrschung, wie wir näher darlegen werden.
5, Die Anmut
Eben diesen Gedanken hat. S chiller seinem Essay über „Anmut und W ürde"
zugrunde gelegt. Die Schönheit, die er architektonisch nennt, wird nicht nur von
Naturkräften ausgeführt, was für jedes organische Geschehen gilt, sondern auch
durch diese Kräfte bestimmt. Diese Schönheit, z. B. ein vollkommenes Verhältnis
der Teile, „entsteigt dem Medium der Natur, wie Venus dem Schaum des Meeres".
Beim Menschen ist jedoch noch eine andere Schönheit möglich. Er ist -ja durch
seine Freiheit fähig, der Natur seiner Leiblichkeit, wenigstens sofern er diese in der
Bewegung beherrscht, selbst Form zu geben und auch diese Form kann schön sein.
Dann regiert also die Freiheit die Schönheit.
„D ie Natur gab die Schönheit des Baues, die Seele die Schönheit des Spiels.
Und nun wissen wir auch, was wir unter Anmut und Grazie zu verstehen haben.
Anmut ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freiheit ; die Schön
heit derjenigen Erscheinungen, die die Person bestimmt."
S chiller hat uns dieses jedenfalls gelehrt: die Anmut ist eine durch die Per
sönlichkeit bedingte Eigenschaft. Daraus folgt, daß nur Bewegungen, und zwar
die, welche'von der Person abhängen, anmutig sein können. Statische Verhält
nisse, wie die Gesichtszüge, sind das nur, insofern als sie als Bewegungsresultate
aufzufassen sind. -
Wir müssen demnach hach der Art der Bewegungen fragen, die solchermaßen
zum Persönlich-Sein in Bezug stehen, um das Merkmal der Anmut erhalten zu
35a Typologie der menschlichen Dynamik
können. Sehen wir, was Schilues darüber zu sagen hat. Nur Bewegungen, „die
zugleich einer Empfindung entsprechen“ , die aus einer Verbindung willkürlicher
und unwillkürlicher („sympathetischer“ ) Momente entstanden sind, können
Grazie besitzen.
Es muß aber klargestellt werden, was Schiller unter „sympathetisch“ ver
steht, da dieses Wort in der modernen Wissenschaft eine mehr physiologische
Bedeutung erhalten hat.
Eine sympathetische Bewegung dient „der moralischen Empfindung oder der
moralischen Gesinnung zur Begleitung“ . Dies wird nur verständlich, wenn wir das
Wort „moralisch“ angemessen interpretieren. Es wird am besten in seinem all
gemeinsten Sinn, d. h. als normative Intentionalität begriffen, die eine bestimmte
Situation mittels des momentanen Gefühls in Verbindung mit der mehr stetigen
Gesinnung in uns erweckt. Diese Gesinnung ist ebensowenig wie das Gefühl dem
Willen unterworfen. Die Bewegungen, die beide zum Ausdruck bringen und die
willkürlichen begleiten, sind die unwillkürliche Bedingung für das Erscheinen der
Anmut.
Soll eine Bewegung anmutig sein, so müssen also Geist, Wille und Neigung die
Natur beherrschen ohne sie zu vergewaltigen. Die Natur m u l mit Leichtigkeit dem
Willen bei der willkürlichen, dem Affekt bei der unwillkürlichen Bewegung folgen,
um in Schönheit zu gehorchen. Schon das allgemeine Empfinden der Menschen
sieht die Ungezwungenheit als das Hauptmerkmal der Anmut an. Es darf nicht nur
der Geist dem Leibe keine Gewalt antun, sondern auch umgekehrt darf der Leib
den Geist nicht dazu zwingen, einen schönen „moralischen“ Ausdruck entstehen
zu lassen, „denn wo ausschließlich die Natur herrscht, loh das Menschliche
schweigen“ .
Die Anmut muß immer etwas Unwillkürliches sein, aber sie tritt nur auf,
wenn die Bewegung einen persönlichen Charakter hat. Deshalb gibt es kein
anmutiges Atmen, handelt es sich hier doch um eine rein körperliche Erscheinung.
Wohl spricht man von einem gewinnenden Lächeln und von einem reizenden
Erröten, obwohl auch diese Bewegungen nicht willkürlich ausgeführt werden.
Es sind ja „sympathetische“ Bewegungen, über die nicht der Wille, sondern das
Gefühl entscheidet. Es fehlt jedoch in diesen Fällen der persönliche Einfluß auf
die Erscheinungen nicht ganz, und gerade beim Erröten bietet erst die Verbindung
mit dem Kern der Persönlichkeit die Möglichkeit, von Anmut zu sprechen.
Aus diesen Beispielen geht hervor, daß Schiller die Anmut nicht als ein rein
ästhetisches Phinomen, sondern als eine persönliche Ausdrucksform ansehen will.
Die Anmut ist der Ausdruck der.,.schönen Serie“ , in der Sinnlichkeit und Verstand,
Pflicht und Neigung zusammenstimmen.
In dem Maße, wie man die leiblich-geistige Einheit der menschlichen Person
aus dem Auge verlor, fing man an, die anmutige Bewegung für sich als eine
besondere Art von Bewegungsgestalt zu betrachten, die wir ästhetisch schätzen
und die ebensosehr beim Menschen wie in der Natur — bei einem Springbrunnen,
einer fliegenden Schwalbe, einer forteilenden Gazelle — Vorkommen könne.
Man soll jedoch nie vergessen, daß das Wort anmutig synonym mit graziös,
reizend, liebenswürdig, einnehmend, auch mit höflichem Anstand ist, und daß das
Wort Grazie Gunst, Wohlwollen, Verzeihin und Gnade bedeutet." Erst wenn wir
diese in der Sprache überlieferte Verbindung des Schönen und des Edlen, der
Die Anm ut 859
höchsten Kategorie persönlichen Handelns hüten, begreifen wir den großen Wert
von Schiller » Gedanken und finden wir dessen Wahrheitsgehalt in allem, was
nach ihm über Anmut und Grazie gesagt wurde, wieder.
Wenn man, wie de B ruyne in seinem Buch über das ästhetische Erleben, die
primäre Fundierung des Anmutigen nicht in der Struktur des Inhalts (sei er
physisch oder psychisch), sondern im Aufbau der Form als Form, also im rein
Ästhetischen sucht, bleibt es ein Problem, worauf die Analogie zwischen der Anmut
in der leblosen N atur und in der Kunst, zwischen der Anmut eines Schwanes oder einer
Hindin und der einer heiligen Agnes oder Lucia in der sittlichen Ordnung beruht1.
D e B r u y n e versucht diese Analogie aus der formalen dynamischen Struktur
der anmutigen Bewegung verständlich zu machen. Im Anschluß an B a y e r »
Definition der Anmut als »un état dans l’objet qu’il faudrait décrire, état fait de
structures de privilège, où les exigences sans cesse dépassées, sont enveloppées sans
cesse par les possibles«, nennt er Anmut eine „Einfachheit, die sich spielend in
Üppigkeit offenbart". Sparsamkeit der Mittel und Großzügigkeit der Wirkungen,
Beherrschung aller Regeln und Geschmeidigkeit, die alle Normen überschreitet,
bewirken, daß die Anmut den Eindruck einer erstaunlichen Virtuosität erweckt,
die sich in einer unerhörten Leichtigkeit verbirgt und entfaltet.
Diese Merkmale findet man nun in einer allmählich anschwellenden Bewegung
verwirklicht, die spontan, wie aus einem Keim, in jedem Augenblick neue Aspekte
entwickelt. „Anmutig nennen wir alles, was zugleich die besonderen Abschattun
gen allmählicher Bewegung besitzt, freie Phantasie, verschwenderische Üppigkeit,
alles, was die Geschmeidigkeit des Gleitens und Schwebens mit dem Unerwarteten
des Sich-Windens und des Tanzens vereint und die Verschiedenheit der leichten
Schattierungen mit der geschmeidigen Festigkeit des Skelets und der Lebenskraft
versöhnt"1.
Das Leichte, das auch nach Schiller » Urteil der Grundzug der Anmut ist,
drückt sich in der menschlichen Bewegung in zweifacher Weise aus : als Natürlich
keit im freien Fortfließen, ohne Bedenken oder Absicht, aus ungebrochener Inner
lichkeit und als Fülle von Möglichkeiten, worin ein üppiges Überschreiten der öko
nomischen Grenzen, die Leichtigkeit der Ausführung und die geringe subjektive
Anstrengung gründen.
Das hat auch Souriau in seinem früher von uns erwähnten Buche bemerkt.
»L ’expression de l’aisance physique et morale dans le mouvement est ce que l’on
appelle la grâce«. Nicht die am wenigsten ermüdende Bewegung, sondern eine
an sich ermüdende, aber leicht ausgeführte Bewegung kann uns den Eindruck
von Anmut vermitteln. Unser Urteil ist dabei relativ und teilweise durch unsere
Erfahrungen und Gewohnheiten über eigene Bewegungen bestimmt. So scheint
mir manches große Tier mühsam zü gehen !
In vielen Fällen wird die Anmut erst durch besonders große Anstrengung
erreicht. Eine Tänzerin wird nur dann die Grazie ihrer Bewegungen zeigen können,
wenn der Eindruck der Leichtigkeit durch ein Übermaß an Kraft erhalten bleibt.
So es ist denn auch unrichtig, daß die Anmut — wie S p e n c e r meinte — gemessen
werde nach der wirklichen Sparsamkeit der Kraftanstrengung.
Vorzüglich illustriert uns Souriau den Zusammenhang von Grazie und
Leichtigkeit an den akrobatischen Kunststücken der Clowns.
1 D e B r u y n e : Het aesttietisch beleven. Philos. Biblioth. S. 368. Antwerpen. 1942.
360 Typologie der menschlichen Dynamik
Auf ihrem weißgepuderten, von großen roten oder schwarzen Linien durch
furchten Gesicht sind keine Zeichen von Anstrengung sichtbar. Während sie die un
wahrscheinlichsten Übungen verrichten, bleibt ihre lächerliche Maske unbewegt,
als wenn ihr das Tun des übrigen Körpers gleichgültig wäre. „Ich erinnere m ich",
so sagt S ouriau , „in einem Zirkus bei Tageslicht einmal einer Probe beigewohnt
zu haben, bei der die Clowns sich natürlich nicht geschminkt hatten. Es wurde
eine Enttäuschung. Ich hatte nicht mehr diese fantastisch elastischen, sich feder
leicht bewegenden Menschen vor mir, sondern junge Männer, die sich sichtlich
anstrengten, um Kunststücke mühsam auszuführen,"
Im allgemeinen sind langsame Bewegungen anmutiger als rasche. Durch die
ruhige Ausführung der Bewegung verstärkt sich der Eindruck der Leichtigkeit.
Jeder Anfänger im Sport, Schwimmen, Bergsteigen usw. bewegt sich rasch und
vergeudet dadurch mehr Kräfte als erforderlich wären. Die in solchen Fällen aus
geführten überflüssigen Bewegungen unterscheiden sich der Art nach von den be
gleitenden Bewegungen bei einer graziösen Ausführung, jen e entspringen dem
Unvermögen, diese der Fülle der Virtuosität,
Die raschen Bewegungen sind auch deshalb weniger graziös, weil sie gerad
liniger, brüsker verlaufen, Hübsch illustriert dies S o u r ia u an den Bewegungen
einer sich frisierenden Frau. Der Arm führt hier »un grand geste at rondi« aus,
während die zur Entfernung einer drückenden Haarnadel ausgeführte Bewegung
rasch und geradlinig geschieht. Jene Bewegung ist anmutig, diese nicht.
Schließlich werden Bewegungen, die eine gewisse Geschwindigkeit überschrei
ten, regelmäßig und eckig. Das ist aus dem Zusammenhang von Impuls und Masse
zu begreifen. Der Eindruck der Eckigkeit wird durch die kurze Dauer der
Wendepunkte verstärkt. Deshalb erhöht die Zeitlupenwiedergabe z. B. von sport
lichen Leistungen, den Eindruck der Grazie. Die Schönheit einer wellenförmigen,
rhythmischen Bewegung im Vergleich zu einer mit plötzlichen Wendepunkten
ist allgemein bekannt. S c h il l e r erklärte dies aus dem Gezwungenen der
plötzlichen Richtungsänderung, die einen Impuls erfordert, während das fließende
Bin-jUnd Her-Gehen durch die Natur, die Massen Verteilung und die Schwerkraft
erreicht wird1. Auch v o n K l e is t ist dieser Meinung. Für die Anmut der Mario
nettenbewegung sei entscheidend, daß nicht jedes der Glieder einen Impuls emp
fange, sondern daß die Puppe nach eigener Art und Ordnung einem zentralen
Impuls folge.
Die Trägheit einer Bewegung darf jedoch nicht übertrieben sein, wenn diese
anmutig bleiben soll. Zu träge Bewegungen erscheinen uns mühsam, manchmal
plump, manchmal teigig, die Massen schwer und die Kräfte groß. Eine zu lang
same Bewegung wird nicht mehr als vollständige Bewegungsgestalt wahr
genommen. Deshalb sind das Kriechen einer Schnecke und das Gehen einer Schild
kröte nicht anmutig, dagegen die Fortbewegung einer Schlange oder Eidechse,
1 Im „Kallias, S. 128, lesen wir: „W as ist eine plötzlich veränderte Richtung anderes
als eine gewaltsam veränderte ? Die Natur liebt keinen Sprung. Sehen wir sie das tun, so
zeigt es, daß ihr Gewalt geschehen ist. Freiwillig hingegen erscheint nur diejenige Bewegung»
an der man keinen bestimmten Punkt angeben kann, bei dem sie die Richtung abtodert, Und
dies ist der Fall mit der Schlangenlin:?i1welche sich . , , bloß durch ihre Freiheit unterscheidet."
Dieser Gedankengang zeigt erneut m. m Zusammenhang zwischen Natürlichkeit, Grazie und
Freiheit in der Erscheinung.
Die Anm ut 361
Die untere Grenze der Geschwindigkeit', bei der die Grazie erhalten bleibt, ist
die, bei der das Ganze der Bewegung als eine Selbst-Bewegung erfahrbar ist, ohne
daß sich die Aufmerksamkeit auf Abschnitte richtet.
Ebenso muß das Regelmaß innerhalb gewisser Grenzen gehalten werden.
S ouriau hat recht, daß Unregelmäßigkeit und Unordnung häßlich sind, aber um
anmutig zu sein, darf der Rhythmus auch nicht monoton werden. Eine zu große
Regelmäßigkeit nähert sich dem Mechanischen und ist unvereinbar mit der Offen
barung der Üppigkeit, einer Vorbedingung der Grazie. Fehlen von Regeln be
deutet auch Fehlen jeder Harmonie, jeder organischen Ordnung, die zur Verwirk
lichung eines höheren normativ-typologischen Wertes gegeben sein muß.
Der Begriff der Anmut ist aus der Idee des Organischen und also aus der ihr
entnommenen Natürlichkeit zu entwickeln, wenn wir sie unter dem Aspekt einer
ausgeprägten Einheit der an sich gegensätzlichen Eigenschaften: Regel und Ur
sprünglichkeit, ansehen1.
Das Organische zeigt in seinen Gestalten immer diese Verbindung von Regel
und Ursprünglichkeit, eine regelmäßige Unregelmäßigkeit. Meistens wird die
Regel überwiegen und es ist eine aufmerksame Betrachtung erforderlich, um —
wie bei den Blättern eines Baumes — die Unregelmäßigkeit zu entdecken. Wenn
jedoch, wie in der Form einer aufgeblühten Rose, das Ursprüngliche jedes Teiles
zugleich mit der in aller Variation sich behauptenden Regel erscheint, so entsteht der
Eindruck von Anmut, von Einfachheit, die sich spielerisch in Üppigkeit entfaltet.
In jedem Augenblick neu, frei in der Erscheinung, d. h. ohne erkennbaren Grund,
bietet sie sich als das Gegebene, das ohne Ziel oder Anlaß da ist, um da zu sein.
Die Natur, als unteilbares Ganzes von Regel und Ursprünglichkeit, von Frei
heit und Gebundenheit betrachtet, zeigt in ihrer demonstrativen Seinsoffenbarung
nicht nur den Ausdruck eines Logos, sondern eines „spielenden Logos", voller
unvorhergesehener Möglichkeiten, die nicht bereit liegen, sondern die als ebensoviele
Überraschungen entstehen, die sich — nicht ohne Regel — als Variationen und
Modifikationen eines einzigen Themas erweisen. Dies ist die Grazie der Natur, ver
wandt der dynamischen Grazie der Musik, wenn sie — wie bei Mozart — die zur
Ruhe kommende Spannung zwischen Regel und Ursprünglichkeit besitzt, die in
einem aufspringenden und in federleichten Kurven auseinanderfallenden Spring
brunnen oder in einer in Farbenüppigkeit sich auflösenden Rakete bildlich dar
gestellt werden kann.
Anmut ist sichtbar gewordene Evolution créatrice. Verbunden mit dem tiefsten
Wesen des »élan vital«, ist die Grazie gleich fern der Zweckmäßigkeit und Ver
nunft wie dem ungebundenen Chaos. Sie steht jedoch nicht zwischen beiden,
sondern verbindet den Logos als Regel und das Chaos als Ursprünglichkeit in
einer dialektischen Spannung und unlösbaren Einheit zu reiner Dynamik.
Dort, wo sie erscheint, kündet sie von einer Macht, die jede Ordnung übersteigt,
ohne diese aufzuheben und die das Unerwartete, Unberechenbare zur Wirklich
keit werden läßt. So verweist die Anmut stets, selbst in den bescheidensten For
men, die sie in den menschlichen Bewegungen annehmen kann, auf die in diesem
Begriff verborgene reinste und tiefste Bedeutung, die sich nur dort völlig offenbart,
wo die Allmacht des Lebens selbst im Menschen alle Möglichkeiten der Natur
überschreitet,
1 Gu ard in i , R .: Der Gegensatz. Mainz 1925.
362 Typologie der menschlichen Dynamik
In der Tat: Grazie ist immer in gewissem Sinne eine Gnade, eine Gunst, sei es der
„Natur" oder des „Genies", von Mächten, die in Leben und Kunst einem Stoffe
schöpferische Form geben, der aus sich nichts vermag, sondern auf Beseelung wartet.
Die Grazie ist wie eine im Menschen auflodemde Flamme: »chose vive et
divine«, lä ß t V a l é r y 1 seinen Sokrates sagen, wenn er den Tanz in seiner Voll
kommenheit beobachtet. Aber eine Flamme ist nichts anderes — so fährt er fort —
als der Akt des Augenblickes zwischen Himmel und Erde : »tout ce qui passe de
l'état lourd à l’état subtil, passe le moment de feu et de lumière«.
Was hier durch den Dichter ausgesprochen wird, ist das bildlich begriffene
Wesen der Beseelung, Vorbedingung der Grazie der Bewegung. Diese Beseelung
ist eine Befreiung von der Schwere und Gebundenheit, denen der Körper unter
worfen ist. Aber sie ist mehr. Der Körper ohne Beseelung ist ein Geschehen, in
dem jeder Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft steht, ohne selbst an
einem von beiden teilnehmen zu können. Die Seele jedoch, sagt V a l é r y , hat das, was
nicht mehr und was noch nicht ist, zum Gegenstände, auch was möglich und unmöglich
ist, jedoch nie das, was ist. Gerade indem sie in Vergangenheit und Zukunft ist,
kann die Seele in der Gegenwart bestehen. Das zugehörige Bild ist die Flamme, die
im Brennen die gleiche bleibt — das Bild allen Lebens und aller Beseelung.
In der idealen Bewegung des Tanzes tibertrifft die Natur sich selbst, indem der
Leib tut, wozu eigentlich nur der Geist fähig wäre» Er erhält Macht über sich selbst
und entfaltet diese in einem Überfluß von Möglichkeiten und anscheinend ohne
Mühe, als wäre er noch reine Natur. Um diese Macht auszudrücken, läßt V a l é r y
seinen Sokrates die Bewunderung für den vollkommenen Tanz folgendermaßen
formulieren: »Je m’inquiète comment la nature a su enfermer dans cette fille si
frêle et si fine, un tel monstre de force et de promptitude ? Hercule changé et
hirondelle, ce mythe existe-t-il ?« (S. 39), •
In der Anmut des Tanzes erscheint die Beseeltheit des Leibes nicht nur als eine
Beherrschung und ferne Emanzipation vom Stofflichen in einer unbekannten
Macht, sondern auch als ihr Gegenteil, als eine Übergabe, ein Folgen jeder bewe
genden Kraft, wodurch die Freiheit paradoxal gewährleistet wird.
Was mit dieser Überwindung durch ein passives Folgen gemeint ist, kann viel
leicht am besten durch eine buddhistische Legende erläutert werden. Eine Gott
heit sieht ihren Sohn in einem Weiher mit der Schlange des Schicksals ringen, die
ihn zu erwürgen droht. Nun ruft der Vater dem Sohne zu, keinen Widerstand zu
bieten, sondern jedem Druck der Schlange vollkommen nachzugeben. Auf diese
Weise könne er beweisen, eine Gottheit zu sein. Der Sohn befolgt diesen Rat,
wodurch die Schlange ihre Macht über ihn verliert und er sieh völlig von jeder
Umklammerung befreit.
Wie alles Spiel ein Spielen mit etwas ist, das auch mit uns spielt, ein Beherr
schen und ein Folgen, so kehrt auch in der spielerischen Üppigkeit des Tanzes
dieser döppelte Akt wieder. Was Schiller in der Grazie entdeckte, eine gewalt
lose Beherrschung der Natur, das findet B ayer in der ästhetischen Anschauung
des Tanzes wieder und spricht von »la gracieuse d'abandon«, verbunden mit
»la gracieuse de sumormalité«.
Das Verhältnis des Geistes zum Leibe bei der anmutigen Bewegung und Hal
tung ist verwandt mit der Weise wie ein Künstler seine „Materie" beherrschend
1 V aléry , P.: L'arne et la danse, S. BOff. Pari» 1924,
Die Anmut 363
formt, ohne ihre Art, der er gehorsam folgt, aufzuheben, ln der Bildhauerei findet
man dafür den edelsten Ausdruck.
Wir wollen jedoch die Ästhetik der Grazie, die B ayer 1 in seinem umfangreichen
Werk untersucht hat, nicht verfolgen, sondern uns auf seine Darlegungen über die
menschliche Haltung und Bewegung beschränken.
Vorzüglich entwickelt er die Merkmale, welche die Haltung haben muß, damit
der Eindruck der Anmut entstehe. Nehmen wir das Beispiel des Sitzens. Hier hebt
eine zu große Anstrengung, etwa beim aufrechten1Sitzen auf einem Stuhl ebenso
die Anmut auf, wie eine zu geringe Anstrengung, etwa beim Zurücklehnen in einen
Sessel. Der Leib muß merklich beherrscht und doch auch sich selbst überlassen
sein, er muß sich anlehnen ohne Geh zu stützen. »Le travail de la grâce, après avoir
multiplié les points d’appui, c'est de mettre l’accent sur leur inutilité« (1. c. S. 96).
Diese Regel gilt auch für stehende Haltungen. Mart denke an die unvergleich
liche Anmut der griechischen Plastiken. In diesem Zusammenhang wollen wir
noch einige Gedanken Curtius ’ erwähnen2, der an der Pracht der griechischen
Plastiken gezeigt hat, wie hier die männliche Aktivität, das Abwarten, Schreiten,
Tragen, Werfen ausgedrückt sind. Stets wird der statische Rhythmus vom
dynamischen durchdrungen. Die „Lockerheit der Figur, die Freiheit, die Schwere
zu überwinden und zu bejahen, kehrt in wenigen Varianten wieder; Entlastung
der einen Körperhälfte, Überkreuzung der Bewegung (Doryphoros), wobei z. B.
der rechte locker herabhängende Arm und das linke schreitende Bein dem linkem
tragenden Arm und dem rechten tragenden Bein kontrastiert sind".
Manchmal besteht ein Kontrast zwischen der oberen Körperhälfte, z.B. beim
Diadoumenos, mit den erhobenen Armen und dem gleichmäßigen Ruhestand der
Beine. In den anmutsvollen Haltungen, die im Tanz, auf der Bühne, aber auch im
täglichen Leben verkommen, kehren diese Prinzipien wieder. Sie führen zu den
bequemen Haltungen, die wir früher von einem anderen Gesichtspunkt aus be
trachtet haben, an denen bereits die »déviation des lignes constructives« angedeu
tet sind, die nach B a ye r zu einem »jeu des axes« werden müssen, um Anmut
erzeugen zu können3.
Bei den meisten sportlichen Leistungen (als Beispiele nennen wir das Reiten,
das Schlittschuhlaufen, das Werfen) ist es die Virtuosität ohne sichtbare Anstren
gung, die strenge Zweckmäßigkeit, aber zugleich »la mécanique éclairée par une
magie«, die den Bewegungen das Merkmal der Grazie verleiht.
Das Fechten wählen wir als Beispiel einer Sportart, an der sich die Spirituali-
sierung der Bewegung und »la surprise devenue technique« (1. c. S. 104) in der
polaren Spannung von Beherrschen und Folgen ausdrückt. Schon von K leist hat
dies in seinem Essay „Das Marionettentheater“ in der geistvollen Geschichte des
Parierens aller Degenstöße durch einen Bären treffend gezeigt.
Die Situation, auf welche der Fechter reagiert, ist ihm nicht ohne weiteres
gegeben, wird aber im Zusammenhang mit der möglichen Entwicklung des Gefechts
1 B ayer , R .: L'esthétique de la grâce, Tome I et II. Paris 1933.
* Curtius , L. : Die Antike Kunst. Bd. II, erster Teil des Handbuches der Kunstwissen
schaft. Potsdam 1938.
3 Über »le jeu des axes« schreibt B ayer S. 580: »Sous les quatres modes du hanchement,
de l’inflexion, du fractionné et du détour, nous voyons la résoudre un triple problème esthé
tique: de modelé, de contour, d ’équilibre . . . Jeu avec les diamètres, c ’est le hanchement et
ce sont les détours. Avec l’axe maître: ce sont la station en appui, le dévers, l’inflexion«.
364 Typologie der menschlichen Dynamik
vom Fechter selbst erzeu gt. Diese Virtuosität äußert sich nicht nur in Kraft und
raschen großen Bewegungen, sondern auch im Nachgeben, in einem Folgen, einer
Verringerung der Kraft und Amplitude. Diese seltsame Grazie des Fechtens
nennt B ayer denn auch eine Apotheose einer »faiblesse triomphante« (S. 107).
Ohne Anstrengung sich dem hingehend, was die Natur bietet, weiß die Anmut
durch eine geheime Macht dieser Natur eine Üppigkeit an Möglichkeiten als
Variationen eines gleichen Themas zu entlocken. Sie bleibt dabei stets innerhalb
dieser thematischen Grenzen, und ihre Schöpfungen bleiben daher Spiel. Erst in
der Sphäre des rein Geistigen, das ja das thematische weit übersteigt, nicht nur
Aufgaben löst, sondern diese auch stellt, werden kategorisch neue, unbekannte
Themen in Schöpfungen erzeugt, die nicht aus irgendwelcher Disposition verständ
lich and.
Der Mensch ist nicht vollkommen wenn er spielt, wie Schiller meinte, son
dern wenn er in tiefem Emst und hartem Kampf neue Formen verwirklicht und
diese durch seinen Geist frei beherrscht.
Im Medium der Leiblichkeit ist jedoch die größte Freiheit die spielerische, und
Mer kann der Mensch nicht mehr hervorbringen als innerhalb der Möglichkeiten
der Natur liegt. W o sie der Disposition der Motorik entwächst, wird die Dynamik
symphonisch und offenbart innerhalb der Grenzen ihrer eigenen Gestaltgesetze
eine Üppigkeit von Variationen, die sich, ohne bedacht oder gemacht zu sein, in
Einfachheit als prägnantester Ausdruck der eigenen Natürlichkeit des Organischen
entfalten.
Jetzt verstehen wir, weshalb in der normativen Typologie der menschlichen
Bewegung die Anmut die äußerste Betonung der Natürlichkeit, die höchst erreich
bare Vergeistigung des Lebens, ein edles Gut ist, das erst preisgegeben wird, wenn
der Leib nicht mehr zum Ausdrucksorgan, sondern zum Instrument des Geistes
wird.
Dann beginnt ein neues Kapitel der menschlichen Erscheinungsweise, das über
Schönheit und Harmonie schweigt. Dann spricht der Leib eine Sprache von
Arbeit und Sorgen, von sittlicher Zucht und geistiger Not. Dann werden vielleicht
die Züge des Antlitzes, die Formen des Leibes häßlich, verzerrt, unnatürlich.
Dann sind Bewegungen und Haltungen vielleicht eckig, unsicher, ohne Spann
kraft und ohne Reichtum und Variation. Aber in alledem erkennt sich der Mensch
selbst in seiner Würde, in seiner »grandeur et misère«. Dann denken wir nicht mehr
an die griechischen Plastiken in ihrer exemplarischen Schönheit, sondern an ein
Porträt Rembrandts in seiner streng persönlichen Geschlossenheit und Wahr
haftigkeit,
Hier hat jede normative Typologie ihren Sinn verloren. Es erhebt sich über
jeden Zusammenhang von allgemeinem Gesetz und Norm der einzelne Mensch
mit seiner eigenen, un wiederholbaren Geschichte, von der Antlitz und Glieder,
Haltung und Bewegung die Spuren tragen.
Vor diesem Bilde des Menschen verstummt jede Wissenschaft, denn hier gelten
nicht länger Gesetz oder Regel, Norm oder Prinzip. Hier herrscht nur die Ver
schiedenheit der persönlichen Bestimmung.
Namenverzeïdtnis
Abramson 298 Brown, T. Graham 120, 121, Ebbinghaus 253
Achard 243 169, 170 Eddington 12
André 295 Brücke, von 50 Ehrenfels, Chr. von 32, 36,
Ândrejew s. Badjul 339 Brun, R. 172, 174, 175 54, 55, 57
Aristoteles 319 Bruyne, de 359 Einstein 17
Auersperg Prinz 57, 157 Büchner 6 Engel 206, 240
Buhler, Ch. 39, 40, 150, 295 Enke, W . 340, 342
Babinski 146, 148 Bühler, Ch., u. L. Spielmann. Enke, W . s. E. Kretschmer
Badjul, Miropolskaia u. 151 338, 339
Andrejew 339 Bühler, K. 206, 240 Erofeeff 144
Baer, K. E. von 55 Buytendijk, F. J. J., 51, 63, Exner 290
Baglioni 169, 180 83, 143, 152, 153, 205,
Barany 164 209, 221, 242, 262, 318 Fermat 17
Barcroft 257, 258, 259. 261 Buytendijk, F. J. J., u. Feuerbach 318
Bareroft, J. u. B, H. Barron H. Plessner 39, 80, 134, Fick 20
256 242 Fischer 85, 348
Bard, P s. C. N. Woolsey Fischer, E. s. A. Bethe 269
Cannon 226
138 Fischer s. Braune 86
Carmichael, L. 256, 263
Barris 138 Fischer, E., u. W . Stein
Cason, H. 266
Barron, B . H. 256, 258. 261, hausen 124
Châtelier le u. van’T H off 36
264 Flach, A. 75, 224, 239, 250,
Chorus A. J. M. 298
Barron, D. H. s. J. Barcroft 251
256 Christian, P. 57, 154, 202
Cicero 240 Focillon 76
Bauer 166 Foerster, O. 103, 181, 284,
Claus, L. F. 325, 345
Baeyer, H. von 125, 126 285, 286, 300
Baxter, R, E. s. W . F. Clay, J. 3, 17, 18
Coghill, G. E. 255, 256, 258, F ox 308
Windle 259 Freud 77, 172, 228, 308
259, 262
Bayer, R. 359, 362, 363, 364 Freusberg 120, 169
Becher, E. 38 Cole, L. 306
Conrad-Martius 27, 72 Frey, von 256 .
Becker 46 Friedländer 338
Curie 36
Bell, Sir Charles 232, 233, Fulton, J. F. 104, 145, 146
Curschmann 300
234, 235 Curtius, L. 363 188
Bergson 249
Bernfeld 314 Darwin 82, 206, 208, 209, 211, Gail 135
Bethe, A. 34, 122, 123, 192, 212, 213, 222, 227, 228, Garcin 165
193, 194, 195, 290, 291 235, 236, 249, 320 Garcin s. Rademaker 132,137
Bethe, A,, u. E. Fischer 269, Debesse 306 Garten 164
270, 271 Denny-Brown, D. 91 Garten s. Dittler 164, 165
Binet 72 Derwort, A. 56, 119, 200 Gaulhofer, K. 87, 88
Binswanger, L. 52, 320 Descartes 6, 32, 35, 120, 142, Geiger 242
Birch-Hirschfeld 236 143, 222, 243 Gelb, A. 141
Bishop, C. L. s. W. F, Windle Dittler u. Garten 164, 165 Gelb, A. s. K . Goldstein 183,
256 Dodge, 164 184
Blair 274 Bonders 19, 20 Gergens, E. 170, ISO, 182
Böhme 188 Driesch, H. 6, 11, 37, 38, 69, Gertz 164, 165
Bongertman 283 73, 258, 277 Gesell 295
Borelli 86 Du Bois-Reymond 124 Giessler 237
Bourgingon 219 Duchenne 126, 216, 218, 219 Gilbert, A., u. L. Thoinot 243
Braune 85, 124 Duhem 17 Goethe 31, 41, 231, 351, 355
Braune u. Fischer 86 Dumas, G. 215, 216, 217, 218, Goldstein, K. 21,99, 100,101,
Breed, F. 263 219, 220, 223, 227, 228, 148, 178. 180, 191, 192,
Bridgeman, Laura 237 236, 237, 243 194, 195, 196, 219
Brock 14 Duncker, K.,u. J.Krechevsky Goldstein, K ., u. A. Gelb 183,
Brodmann 138 267 184
366 Namenverzeichnis