In Athen gab es keinen Staatsanwalt, der anklagte, und es gab auch nicht den
Beruf des Verteidigers. Jeder Privatmann konnte vor den
Geschworenengerichten Klage gegen jemand erheben, der Beklagte hatte sich
selbst zu verteidigen. So lag es im Interesse jedes Athener Bürgers, sich selbst
rhetorisch zu bilden, um entweder als Ankläger oder als eigener Verteidiger
wirkungsvoll auftreten zu können. Die Gerichtsrede war so die zweite Wurzel
der griechischen Rhetorik. Als dritte Redegattung gab es schliesslich noch die
Feierrede, die den Lobpreis verdienter Leute, insbesondere im Rahmen einer
Bestattungsfeier, zum Inhalt hatte.
Von Anfang an also ist der Begriff des Redners in Athen mehr oder weniger
gleichbedeutend mit unserem Begriff "Politiker" bzw. "Rechtsanwalt" gewesen.
Die bedeutendsten Redner Athens um 5. und 4. Jh. v. Chr. waren Lysias,
Isokrates, Demosthenes und Aischines.
Als im Jahre 338 v. Chr. Makedonien unter König Philipp II. durch den Sieg über
die Athener und ihre Verbündeten in der Schlacht bei Chaironeia die
Oberherrschaft über Griechenland gewonnen hatte, verlor die politische
Rhetorik die politische Voraussetzung zur praktischen Betätigung.
Rhetorikschulen verfeinerten nur noch formale Seite. So gewann die Rhetorik
grosse Bedeutung für Prosa und Dichtkunst. Auch sie setzten mehr auf formale
Effekte als auf Inhalte.
Wie Athen war auch Rom zunächst ein kleiner Stadtstaat, in dem die öffentliche
Rede ebenfalls eine grosse Rolle spielte. Doch auch als aus Rom das
Römische Reich geworden war, befanden "Senatus populusque Romanus"
(SPQR) über die Geschicke des Reiches. Anders nun als in Athen, wo die
Volksversammlung die entscheidende Verfassungsinstitution war, gab es in
Rom zwei Kräfte mit unterschiedlichen Interessen, den Senat und das Volk, so
dass die Redekunst hier eine besondere Bedeutung in der Auseinandersetzung
dieser beiden Kräfte gewann.
Die Redner, die entweder im Senat oder vor der Volksversammlung sprachen,
gehörten zu den bedeutendsten Männern im Staat und wirkten
meinungsbildend und als Informanten über politische Vorgänge und das Leben
in Rom und in der Welt. Der Weg zu höheren und höchsten Ämtern im Staat
führte also (neben Herkunft aus einflussreicher Familie) zwangsläufig über eine
ausreichende Begabung und Ausbildung in der Kunst der öffentlichen Rede; die
Karriere begann dabei in der Regel mit einer erfolgreichen Tätigkeit als Anwalt.
Der erste, der in Rom für die Veröffentlichung und damit Erhaltung seiner
Reden sorgte, war M. Porcius Cato (234-149). Cato definierte den Staatsmann
als "vir bonus decendi peritus" - als "ehrenwerten Mann, der die Redekunst
beherrscht". Er beschliesst seine konservativen bodenständigen Reden mit:
"Ceterum censeo Karthaginem esse delendam - im übrigen meine ich, dass
Karthago zerstört werden muss" (was dann 146 v. Chr. auch geschah). Cato
war in seinen Auffassungen kompromisslos und oft beleidigend gegenüber
seinen Gegnern, was ihm insgesamt 44 Anklagen einbrachte. Jedesmal
verteidigte er sich selbst, und nie wurde er verurteilt.
Cicero hat sich auch theoretisch mit der Redekunst befasst. Aus diesen
theoretischen Schriften wissen wir z.B. auch um die Kontroversen, die im 2. und
1. Jh. darüber ausgetragen wurden, wieweit bzw. wie sich die Römer die
griechische Theorie und Praxis der Rhetorik aneignen sollten.
Doch die Römer von Stand schickten ihre Söhne weiterhin zu den Rhetoren
oder schickten sie zum Studium nach Athen, Ephesos oder Rhodos. Mit der
Ausbildung in Rhetorik war auch ein wissenschaftliches Studium verbunden,
denn wer als Redner auftrat, musste zeigen, dass er in allen wichtigen Dingen
beschlagen war.
Nach Cicero musste der orator perfectus auch ein Philosoph und sittliches
Vorbild, und der wahre Staatsmann auch orator perfectus sein.
Nachdem die römische Rhetorik im 2. und 1. Jh. v. Chr. eine Blütezeit hatte,
setzte nach Cicero bald ein Niedergang ein: Die Republik war am Ende, der
Prinzipat, d. h. die Kaiserherrschaft, wurde mit Augustus eingeleitet. Politik
wurde nunmehr am Kaiserhof gemacht und der Princeps beeinflusste auch
wichtige Prozesse. Die Rhetorikschulen ergingen sich in phantastischen,
unwirklichen Redeübungen, in controversiae und suasoriae; es kam allein auf
die gekünstelte Anwendung rhetorischer Formen und Spitzfindigkeiten an. Zwar
beklagten bedeutende Vertreter des geistigen Lebens wie z.B. der Historiker
Tacitus (1. Jh. n. Chr.) und der Rhetorikprofessor Quintilian (1. Jh. n. Chr.)
diesen Verfall; im 2. Jh. n. Chr. kam es auch noch einmal zu einer Blüte der
Rhetorik, doch war dies keine im früheren Sinn öffentliche Rhetorik mehr.
Gleichwohl blieb die Rhetorik die Antike und das Mittelalter hindurch bis ins 18.
Jh. eine der wichtigsten Disziplinen allgemeiner Bildung, seither ist sie allenfalls
noch für Juristen, Pfarrer und Politiker notwendiges "Handwerkszeug". Im
politischen Bereich hat Rhetorik heute etwas Anrüchiges - man denkt an
Verführung und Manipulation durch Rede. Diese Seite gehörte freilich von
Anfang an zur Rhetorik: Der "demagogos" im antiken Athen war zunächst nur
derjenige, der das "Volk anführt", bald bedeutete das Wort jedoch wie heute
Demagoge, "Volksverführer". Und hier kann man wieder Cicero sprechen
lassen: Rhetorik und Moral sind unmittelbar miteinander verwoben.