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oder
The Overcoat of Dr. Freud
Roman
Schwere Stunde
ICH WEISS
JA, WAS ICH VON MEINEM
GEDÄCHTNIS ZU HALTEN HABE, UND
ICH KANN NUR HOFFEN, DASS ICH
NICHT IN DIE LAGE KOMME, ALL
DIESEN UNSCHULDIGEN MENSCHEN
MIT IHREN LÜCKENLOSEN REINEN
GEDÄCHTNISSEN ETWAS ÜBER
ERINNERN UND VERGESSEN
ERZÄHLEN ZU MÜSSEN.
An sich
Right, Madam.
Und dann forderte ich ihn auf, sich
umzudrehen und sich die Sonne anzusehen,
wie sie am äußersten Ende des Wilshire
Boulevard im Meer unterging, die letzte
Handbreit über dem Horizont machte sie wie
immer unglaublich schnell, als nehme sie sich
für dieses Stück extra einen Endspurt vor. Das
wäre es wieder mal gewesen, und nun würde
es schnell dunkel werden, und ich dachte, daß
ich auf Dauer nicht in einem Land leben
wollte, in dem es keine Dämmerung gab. Ich
hänge an der nördlichen Dämmerung, sagte
ich zu Peter Gutman, und dann schwiegen wir
den Rest des Weges und waren auch bald bei
Ruth angekommen, die uns eingeladen hatte.
Sie wollte über Lily mit uns reden, und sie
wollte uns einiges zeigen.
Jetzt, so viele Jahre danach, ist meine
Verwunderung noch gewachsen: Taten wir
drei wirklich so, als sei unser
Zusammentreffen an diesem Ort, aus diesem
Anlaß, die selbstverständlichste Sache von der
Welt? Kaum will ich das glauben. Haben wir
je, Peter Gutman und ich, unser aufgeregtes
Erstaunen ausgedrückt über die unglaubhafte
Fülle höchst exzentrischer Zufälle, die in Gang
gesetzt werden mußten, damit einige Rätsel,
die jeder von uns mit sich herumtrug, hier ihre
Auflösung fanden? Oder hatten wir uns so an
den seelischen Ausnahmezustand gewöhnt, in
dem wir zweifellos lebten, daß kein noch so
unvorstellbares Wunder uns aus der Bahn
werfen konnte? War es so? Wenn es nicht so
gewesen wäre, müßte ich es erfinden.
Daß Ruth eine Holzkiste mit dem Nachlaß von
Lily für uns bereitgestellt hatte. Daß sie uns
Tee und Cookies anbot, weil die
Gastfreundschaft es so erforderte. Daß wir den
Tee tranken, die Cookies aßen, obwohl wir
insgeheim nur nach der Holzkiste blickten, die
auf einem Nebentischchen stand. Es war eine
schlichte, mit einem Riegel verschließbare
Kiste, in der Ruth wahrscheinlich
irgendwelche Waren aus einem Versandhaus
empfangen hatte. Sie enthielt, als sie endlich
vor unseren Augen geöffnet wurde,
hauptsächlich Papiere.
Lily habe vor ihrem Tod gründlich
aufgeräumt. Da sie keine Kinder, keine
Angehörigen hatte, müsse sie selbst für ihren
Nachlaß sorgen, habe sie zu ihr, Ruth, gesagt.
Lily sei eine Frau ohne jedes Selbstmitleid
gewesen, von einem manchmal derben Humor
- ganz anders als ihr Philosoph, der über
vierzig Jahre ihr Geliebter war, sie habe es
kürzlich erst ausgerechnet, sagte Ruth. Sie
wolle nicht sagen, daß kein anderer Mann je
über Lilys Schwelle gekommen sei, sie sei
eine gefühlsstarke Frau gewesen, aber oft und
oft habe sie zu ihr gesagt, sie habe unter den
Milliarden Menschen auf unserem Planeten
den einen Mann gefunden, der für sie
bestimmt gewesen sei. Und sie habe sich nicht
genug wundern können über dieses Glück.
Der Philosoph? O der! Nein, der habe außer
seiner eigenen Frau, Dora, die ein Ausbund an
Tapferkeit sei, und Lily keine andere Frau
gehabt, und auch keine andere gebraucht. Und
ob wir es nun glaubten oder nicht: Es habe
zwischen den beiden Frauen nie einen Anflug
von Eifersucht gegeben.
So hat Lily sich ganz der Liebe zu diesem
Mann untergeordnet? fragte ich, ungewollt
leicht aggressiv. O nein! rief Ruth. Sie könne
sich keine Frau vorstellen, die weniger zur
Unterordnung geeignet gewesen sei als Lily.
Zwischen ihr und dem Philosophen seien
manchmal die Funken geflogen. Sie habe sich
oft gesagt, für einen Menschen wie Lily müsse
das schlimmste am Exil gewesen sein, daß sie
sich, um des schieren Überlebens willen, auf
eine Art Mimikry einlassen mußte. Oder ob
wir noch nicht bemerkt hätten, wie durch und
durch konformistisch die amerikanische
Gesellschaft sei. Auch darüber habe Lily ihr
die Augen geöffnet. Vorher habe sie wirklich
an den freien kritischen Geist geglaubt, den die
Zeitungen für Amerika reklamierten. Lily
benutzte es als Test, sagte Ruth, wie ein
Gesprächspartner reagierte, wenn sie,
scheinbar beiläufig, das Wort »Kommunist«
hinwarf.
Du bist die erste Amerikanerin, sagte ich, die
dieses Wort ausspricht, als sei es ein
gebräuchliches Alltagswort. - Nun blieben wir
beim »Du«.
Das haben die beiden mir beigebracht, Lily
und ihr Philosoph, sagte Ruth. Sie haben mir
bewiesen, mit welcher Feigheit alle - fast alle -
Amerikaner sich um dieses Wort
herumdrücken; und daß sie, daß wir, uns
selber abtrennen von einem riesigen,
folgenreichen Gebiet des europäischen
Denkens und Handelns und uns ein
verhängnisvolles Tabu verordnen, indem wir
alle Kommunisten zu Verbrechern erklären.
Seitdem frage ich nach bestimmten Schriften,
nach bestimmten Autoren, nach bestimmten
Namen. Das hilft mir übrigens sogar, was ich
nicht vermutet hätte, bei meinen Therapien mit
Patienten.
Inwiefern? wollte Peter Gutman wissen. Sie
werde ihren Patienten doch keine
kommunistischen Ideen einflößen wollen?
Lieber Himmel, nein, sagte Ruth. Dann würde
sie wohl bald keine Patienten mehr haben.
Aber es sei doch merkwürdig, wie hellsichtig
man werde gegenüber den Denk- und
Gefühlshemmungen eines anderen, wenn man
sie bei sich selber einmal durchschaut habe.
Nun ja: Bis zu einem gewissen Grade
durchschaut.
Ich war die einzige von uns dreien, überlegte
ich, die leibhaftige Kommunisten gekannt
hatte. Zuerst konnte ich sie noch einzeln an
den Fingern abzählen. Die ersten waren
Schemen, Gerüchte, erinnerte ich mich. Du
sahst das Gesicht eures Mädchens Anneliese
vor dir, die dir, dem Kind, erzählte, wie ihre
Familie geweint habe, als die Kommunisten in
eurer Heimatstadt nach dem Sieg der Nazis
ihre Fahnen öffentlich auf dem Moltke-Platz
verbrennen mußten. Ja, wart ihr denn
Kommunisten? hast du sie ungläubig gefragt.
Ja, sie seien Kommunisten gewesen. Der
nächste Kommunist war ein Mann aus der
Nachbarschaft, ein Bierwagenfahrer, wenn du
dich recht erinnertest, über den du nur
Gerüchte aufschnappen konntest, die die
Erwachsenen sich zuflüsterten, ja, er sei aus
dem KZ zurückgekommen, aber er habe
unterschreiben müssen, daß er nichts erzähle,
und er sei auch wirklich stumm wie ein Fisch.
Von da an prägte sich dir ein, daß es genauso
schlimm war, Kommunist zu sein, wie Jude zu
sein. Zum Glück traf keins von beidem auf
euch zu.
Dein erster leibhaftiger Kommunist - von ihm
habe ich öfter erzählt - war dann jener KZler,
der, sicher zu dem Zug von Häftlingen
gehörig, der vom KZ Sachsenhausen aus von
der SS auf den Todesmarsch gen Norden
getrieben worden war, sich zusammen mit
anderen Überlebenden, von der
Bewachungsmannschaft fluchtartig verlassen,
unter die Flüchtlinge auf jenem Gelände
gemischt hatte, das euch mit eurem Treck von
der ersten Besatzungsmacht, den Amerikanern,
zum Übernachten angewiesen war. Der Mann,
dem deine Mutter einen Teller Suppe anbot
und den sie fragte, warum er im KZ gewesen
sei. Der Mann sagte: Ich bin Kommunist. Aha,
sagte deine Mutter. Aber dafür kam man doch
nicht ins KZ. Die Miene des Mannes blieb
unbewegt. Er sagte: Wo habt ihr bloß alle
gelebt.
Dein zweiter leibhaftiger Kommunist war der
Schuster Seil in dem mecklenburgischen Dorf,
in dem ihr nach der Flucht im Frühjahr 1945
gestrandet wart. Die russische
Besatzungsmacht verlangte, daß die Bauern
des Dorfes Pferdefuhrwerke für alle möglichen
Transportleistungen zur Verfügung stellten,
und deine Aufgabe als Hilfskraft des
Bürgermeisters war es, diese Spanndienste
einzuteilen - je nach Größe des Besitzes der
Bauern. Da stürmte Schuster Seil, der nur ein
Pferd besaß, zu dir ins Büro und beschimpfte
dich: Du habest ihn und die Häusler überhaupt
zu stark belastet. Empört und im Vollbesitz
des Gefühls, Recht zu haben, wiesest du seine
Anschuldigungen zurück, er aber tobte weiter,
schlug mit der Faust auf den Tisch und warf
die Tür mit Krach hinter sich zu. Der
Bürgermeister, der sich bei jedem Konflikt in
seinem Schlafzimmer versteckte, tauchte auf
und belehrte dich, daß Seil Kommunist sei,
übrigens der einzige im Dorf, und die hätten ja
jetzt das Sagen.
Ich mußte meinen Erinnerungsstrom
unterbrechen, um nicht zu verpassen, was Ruth
aus der Kiste als Hinterlassenschaft von Lily
zutage förderte. Als erstes ein Foto: Lily, in
ihrem letzten Lebensjahrzehnt, an eine der
Palmen im Ocean Park gelehnt, im
Hintergrund das Meer. Wie immer ich sie mir
vorgestellt haben mochte, mir leuchtete sofort
ein: So mußte sie ausgesehen haben. Nicht
groß, feingliedrig, aber kraftvoll, mit einem
Gesicht, das sensibel und kühn zugleich war,
mit leicht angekraustem Haar, ungebändigt, als
wehe der Wind ihr ins Gesicht, und obwohl sie
stand, vermittelte sie den Eindruck einer
Gehenden. Einer Vorwärtsgehenden.
Ja, sagte Peter Gutman. Dann betrachtete er
lange das zweite Foto, das anscheinend am
gleichen Tag und am gleichen Ort
aufgenommen war, nur diesmal saß Lily neben
einem Mann auf einer Bank im Ocean Park.
Obwohl sie sich nicht ansahen, nicht einmal
berührten, gab es keinen Zweifel, daß sie ein
Paar waren. Für einen Mann war er zierlich,
die Hände, die auf den Knien lagen, konnten
fast Frauenhände sein, sein Kopf war zu groß
für diesen Körper. Die Augen verschwanden
hinter dicken Brillengläsern. Keiner von uns
sagte es, aber ich glaube, wir dachten es alle:
Dieser Mann hatte seine Lebenssubstanz
beinahe aufgebraucht.
Ruth sagte, sie habe diese Fotos gemacht. An
diesen Nachmittag erinnere sie sich genau,
wegen ihrer zwiespältigen Gefühle. Sie drei
fühlten sich an jenem Tag besonders wohl
miteinander, und zugleich überfiel sie eine
Trauer, die sie nicht in Worte faßte. Es war die
Trauer darüber, daß dies alles bald vorbei sein
würde.
Während Ruth sprach, holte sie weitere
Fundstücke aus der Kiste. Lilys Paß, ein
Bündel Papiere aus ihrer Berliner Zeit,
darunter ihr Diplom als Ärztin und, kaum hatte
ich das zu hoffen gewagt, ein Foto von ihr und
meiner Freundin Emma als sehr junge Frauen,
umgeben von anderen Frauen, in ein inniges
Gespräch vertieft, anscheinend während einer
Tagung. Dieses Foto, das vergilbt und an den
Rändern abgegriffen war, hatte Lily
jahrzehntelang durch mehrere Exilländer und
über den Ozean mitgenommen und gehütet.
Wie jung sie waren. Wie schön. Wie
energiegeladen. Wie hoffnungsvoll.
Worüber mochten sie so intensiv gesprochen
haben. Über ihre unterschiedlichen
Meinungen? Ruth sagte, Lily sei eine
überzeugte Anarchistin gewesen. Sie habe jede
Einzäunung von Ideen in ein Dogma
abgelehnt, ja, verabscheut. Eine Partei, hat sie
mir oft gepredigt, sagte Ruth, werde zu schnell
zum Selbstzweck und ungeeignet,
Veränderungen zu bewirken.
Der Philosoph nun wieder sei ja der Ansicht
gewesen, der Mensch müsse zu seinem Glück
gezwungen werden. In diesem Jahrhundert,
habe er gesagt, sei die Menschheit an einem
Kreuzweg gewesen, zum letzten Mal habe sie
wählen können zwischen zwei scheinbar
entgegengesetzten Richtungen, und dann habe
sich gezeigt, daß beide Wege in die Irre, in die
Tragödie führten. Und daran teilzunehmen,
habe der Philosoph gesagt, das war unser
Leben. Na und? habe Lily ihm
entgegengehalten, war es nicht aufregend?
War es nicht interessant?
Ruth holte einen grauen unscheinbaren
Aktenhefter aus der Kiste, sie hielt ihn hoch.
Das sei das Herzstück von Lilys Vermächtnis:
Eine Diskussion, ein Austausch von
Meinungen und Argumenten zwischen Lily
und dem Philosophen, die sie über einen
längeren Zeitraum fortgesetzt hätten, teils, um
den anderen zu überzeugen, teils zur
Selbstklärung.
Das ist ja unglaublich, sagte Peter Gutman.
Ruth übergab ihm den Aktenhefter: Er könne
ihn auswerten. Peter Gutman fing sofort an,
darin zu blättern. Unglaublich, sagte er immer
wieder. Ich hatte ihn noch nie derart aufgeregt
gesehen. So etwas passiere einem Forscher nur
einmal im Leben.
Sehen Sie, sagte Ruth freundlich. Und
ausgerechnet heute und hier. Und ausgerechnet
durch mich.
In mir hatte sich das Bild vom Kreuzweg
festgesetzt. Wann hatte ich erkannt, daß ich
lernen mußte, ohne Alternative zu leben? In
Schüben, erinnerte ich mich, so etwas lernt
man nicht von heute auf morgen. Du sitzt
unter Genossen, die dasselbe erleben wie du.
Ihre Zahl schrumpft. Die Älteren sind euch
Jungen überlegen: Sie haben Übung darin,
wider alle Vernunft an einer Hoffnung
festzuhalten. Sie finden, ihr hättet noch kein
Recht dazu, sie aufzugeben. Das Projekt, an
das sie ihr Leben gewendet hatten, sei auf die
Dauer von Generationen angelegt, nicht
kurzfristig auf unsere winzige Lebensspanne.
Wenn ich an sie denke, sagte ich zu Peter
Gutman und Ruth, an meine Freunde, die
inzwischen alle gestorben sind, sehe ich
einzelne Gesichter, hell aus einer dunklen Flut
auftauchend, die sie gleich verschlingen wird.
Der eine, den ich danach fragte, sagte: Etwas
bleibt immer. Guck doch mal, in welchem
Schrecken die Französische Revolution
geendet hat, und was fällt einem ein, wenn
man an sie denkt? Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit.
Ich habe ihn nicht gefragt, sagte ich, was den
Späteren einfallen wird, wenn sie an uns
denken.
Vielleicht, sagte Peter Gutman, wird man
sagen, sie haben zuletzt ohne Illusionen, aber
nicht ohne Erinnerung an ihre Träume gelebt.
An den Wind Utopias in den Segeln ihrer
Jugend.
Dein Wort in Gottes Gehörgang, sagte ich.
Ich stieg allein, da Peter Gutman noch in
Downtown zu tun hatte, in mein rotes Auto
und fuhr den Sunset Boulevard hinunter, sah
die Menschenmassen, weiße, schwarze,
braune, gelbe, die den Boulevard
hinuntertrieben, denen fragt auch keiner nach,
dachte ich, es ist das Schicksal der
allermeisten, also was ficht dich an.
Allmählich hatte ich die Scheu davor verloren,
ein Teil der Blechlawine zu werden, die auf
dem Straßennetz durch Los Angeles fuhr,
mein kleines rotes Auto trug viel dazu bei, die
Struktur des Stadtplans meinem Gehirn
einzuspeichern, aber auf einmal schien etwas
gar nicht zu stimmen, der Wagen kam ins
Schleudern, zum Glück tauchte eine Tankstelle
vor mir auf, zum Glück erreichte ich sie, der
Tankwart, ein äußerst fixer Latino, stellte
schnell fest, daß ich mir einen Nagel in den
linken Hinterreifen eingefahren hatte,
bewundernd sah ich zu, in welcher
Geschwindigkeit der Mann am stehenden Auto
den Schaden behob, Los Angeles ist eine
Autostadt, es war für jedermann
selbstverständlich, daß jedermann zu jeder Zeit
ein fahrbereites Auto brauchte, thank you so
much. You're welcome, Ma'am, good luck.
Weiter den Sunset Boulevard abwärts, auf den
Ozean zu, und wehre dich nicht gegen den
Strudel des Vergessenwerdens, der uns alle
diesen berühmten Boulevard hinunterspült in
diesen dunklen Ozean hinein.
Mühelos fand ich die Zufahrt zu unserer
Straße, zur Tiefgarage, in kühnem Bogen,
ohne rangieren zu müssen, stellte ich mein
Autochen auf seinen Platz zwischen dem
holzgetäfelten Oldtimer von Francesco und
dem eleganten schwarzen Coupe von Pintus
und Ria. Mrs. Ascott hatte ihren weißen
Riesenwagen wie immer am Eingang so
abgestellt, daß er die halbe Zufahrt versperrte,
als Managerin vom ms. victoria nahm sie sich
das Recht dazu, wir begegneten uns vor dem
Eingang und grüßten uns überaus freundlich.
Seit wann eigentlich hatte ich dieses Gefühl,
nach Hause zu kommen, wenn ich die Tür zu
meinem Apartment aufschloß.
Sicher habe ich mir an jenem Abend etwas zu
essen gemacht, wahrscheinlich vor dem
Fernseher gesessen, während ich aß, und erst
dann meinen indischen Beutel, den ich zu Ruth
mitgenommen hatte, geöffnet. Wahrscheinlich
war es spätabends. Den großen weißen
Umschlag, auf dem mein Name stand, sehe ich
vor mir. Niemand anderes als Ruth konnte ihn
mir in den Beutel gesteckt haben. Der
Umschlag enthielt ein Blatt mit Ruths
Handschrift und einen ungeöffneten
Luftpostbrief, adressiert an Lily. Dieser Brief,
schrieb Ruth mir, sei aus Deutschland
angekommen, als ihre Freundin Lily im
Sterben lag. Sie habe ihn ungeöffnet bei den
übrigen Papieren gefunden, die Lily ihr
hinterlassen habe. Sie habe ihn nicht öffnen
wollen. Nun wolle sie ihn mir übergeben, weil
sie glaube, damit im Sinn von Lily und auch
der Briefschreiberin zu handeln.
Die Absenderin des Briefes war meine
Freundin Emma.
Er war in einer westdeutschen Stadt
abgestempelt, hatte westdeutsche Briefmarken.
Ich hielt ihn lange in der Hand, drehte und
wendete ihn, bis ich ihn schließlich öffnete.
Fast mußte sich dieser Brief mit der Nachricht
von Lilys Tod gekreuzt haben. Er war in
Emmas ausladender Altfrauenschrift auf dem
marmorierten Briefpapier geschrieben, das ich
von ihr kannte.
EINTRITT IN EINE
PARADIESISCHE WUNDERWELT