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Dalai Lama

SEINE HEILIGKEIT DER DALAI LAMA

Semkye –
den Geist
ausweiten

Aus einer Unterweisung, die Seine Heiligkeit


im März 1996 in Dharamsala erteilte

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en echten Erleuchtungsgeist rem Ich eine beschränkte Sichtweise hung setzen oder mich um ihr Glück
zu erzeugen heißt, die Bud- ist. Folglich bedeutet, den Geist erwei- oder Leid kümmern?
dhaschaft zum Wohle aller tern, daß wir die Haltung, nach Glück Wenn wir es jedoch genau beleuch-
Wesen anzustreben. Dies verleiht unse- zu streben und Leid zu vermeiden, aus- ten, stellen wir fest, daß wir als Men-
rem gewöhnlichen Leben große Bedeu- dehnen auf die zahllosen Lebewesen. schen ein ausgeprägtes Gefühl der Zu-
tung. Das tibetische Wort für den Er- Da wir selbst Glück erfahren und sammengehörigkeit haben – ungeach-
leuchtungsgeist (Bodhicitta) ist „sem- Leid vermeiden wollen, unternehmen tet ob es sich um private Freundschaf-
kye“, das so viel heißt wie den Geist wir sehr viel, um unser Leben ange- ten, Beziehungen zwischen Familien
ausweiten, die Perspektive des Geistes nehm zu gestalten. Und genau wie wir oder Nationen handelt. Es gibt be-
ausdehnen. Normalerweise haben wir selbst haben auch alle anderen fühlen- stimmte Vögel, die nur zur Paarungs-
alle, selbst das kleinste Insekt, das Ge- den Wesen diesen natürlichen Drang, zeit zusammenkommen, um dann wie-
fühl von „Ich“, ein Anhaften an ein Leid von sich fernzuhalten und für ihr der an verschiedene Orte zu fliegen; sie
„Ich“, auch wenn wir nicht wissen, wer Wohlergehen zu sorgen. In diesem leben nicht zusammen. Als menschli-
dieses „Ich“ eigentlich ist. Darauf ba- Punkt sind alle Lebewesen gleich. Na- che Wesen aber leben wir zusammen
siert unsere angeborene Tendenz, türlich können Sie argumentieren: und sind aufeinander angewiesen.
Glück anzustreben und Leid zu ver- Mein Glück ist mein Glück, und das Denken Sie beispielsweise an die Klei-
meiden. Wenn wir genau hinsehen, so Glück der anderen ist ihr Glück; war- dung, die Sie tragen, an Ihre Unter-
erkennen wir, daß das Haften an unse- um sollte ich mich zu ihnen in Bezie- kunft, Ihre Nahrung – sie sind Produk-

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te der Mühen und harten Arbeit vieler


anderer freundlicher Wesen. Diese ste-
hen ihrerseits in Beziehung zu vielen
anderen fühlenden Wesen.

„Ich möchte in einer


Weise praktizieren,
daß ich zum Glück
all der fühlenden Wesen
beitrage.“
Auch auf globaler Ebene läßt sich die

Foto: Ven. Thubten Chodron


enge Verbindung der Menschen zuein-
ander nachweisen. Wenn sich wirt-
schaftlicher Wohlstand in dem Land
entwickelt, in dem Sie leben, werden
viele Individuen davon profitieren. Auf
der anderen Seite kann eine Wirt- Im März 1996 berichtete Geshe Thubten Ngawang S. H. dem Dalai
schaftskrise in einem Land das Leben Lama über das neue Meditationshaus des Tibetischen Zentrums, dem
in vielen Ländern beeinträchtigen. Da Seine Heiligkeit den Namen „Semkye“ gab – „die Perspektive des Gei-
Leid und Glück, das wir erfahren, so stes ausdehnen“, ein Synonym für den Erleuchtungsgeist.
eng mit dem Glück und Leid anderer
Menschen verbunden sind, handeln fühlende Wesen auf anderen Planeten, fortsetzen. Über viele Generationen
wir im Einklang mit der Wirklichkeit, Sternen, überall im Universum mit hinweg sind wir den authentischen
wenn wir uns um die anderen sorgen. einschließt. Zwar vermögen wir diese Unterweisungen gefolgt, die vom Bud-
Wenn wir daher die altruistische Mo- Wesen mit unserem bloßen Auge nicht dha selbst stammen.
tivation entwickeln und anderen nütz- zu sehen, aber daraus läßt sich nicht ab-
lich sein wollen, seien es andere Fami-
lien, Gesellschaften oder Nationen, so
wird dies die Quelle für Frieden und
Glück sein. Wenn wir hingegen Grä-
leiten, daß nur auf unserem Planeten
fühlende Wesen existieren. Es gibt im
Universum unvorstellbar viele Arten
von Lebewesen, ob sie nun sichtbar
V iele ernsthaft Praktizierende
haben auf der Grundlage ihrer
eigenen Studien und Erfahrun-
gen weitere Texte verfaßt und die Tra-
ben ziehen: „Das bin ich, das ist meine sind oder nicht. In den buddhistischen dition fortgesetzt, die wir für die Um-
Seite“, und all jene vergessen, die wir Texten wird sogar von unzähligen Uni- wandlung des Geistes immer noch als
als die andere Seite bezeichnen, wird versen gesprochen, und die Zahl der sehr nützlich und wirksam ansehen.
dies die Quelle für Probleme sein. Wir fühlenden Wesen ist so unendlich wie Auch wenn sie vielleicht nicht in der
sollten in der Tiefe unseres Geistes ein der Weltraum. So üben wir uns in dem Mehrheit sind, gibt es auch heute noch
wohlwollendes Gefühl verspüren und Gedanken: „Ich möchte in einer Wei- recht gute Praktizierende. Dies bildet
aufgrund dieses Gefühls immer bereit se praktizieren, daß ich zum Glück all ein klares Anzeichen dafür, daß wir mit
sein, den anderen zu helfen. Diese Ein- der fühlenden Wesen beitrage.“ Hilfe der buddhistischen Anweisungen
stellung sollte nicht nur unsere religiö- den Geist wirklich verändern können,
se Praxis begleiten, sondern das tägli- wobei wir uns bewußt sind, daß die
Die destruktive Seite
che Leben. Tradition der Umwandlung des Gei-
der menschlichen stes von Buddha selbst kommt. Unter

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an wendet die altruistische Intelligenz der Bedingung, daß wir ernsthaft prak-
Haltung zunächst Men- zu sehr betont tizieren, bringen unsere Bemühungen
schen gegenüber an, die uns Frieden und Glück in die Welt und in
nahestehen, im nächsten Schritt gegen- Buddha Œåkyamuni, die Quelle unserer den Geist der fühlenden Wesen – da-
über denen, die etwas entfernter sind, Inspiration, ist keine mythologische für gibt es eine hundertprozentige Ga-
und schrittweise schließen wir alle Figur; er kam tatsächlich in diese Welt. rantie. Die Lebensgeschichte des Bud-
Menschen mit ein, ob wir sie kennen Seit der Zeit des Buddha gibt es eine dha ist dafür ein Beleg. Ganz zu An-
oder nicht. Der grundlegende Gedan- ununterbrochene Überlieferung durch fang war er ein gewöhnliches fühlendes
ke ist, daß alle Menschen gleich sind, heilige Lehrer. Tibetische Übersetzer Wesen wie wir. Indem er die negativen
denn alle wünschen sich Glück und reisten nach Indien, um von den gro- Geistesfaktoren erkannte und über-
kein Leid. Diese Geisteshaltung kann ßen Lehrern zu lernen, und so konnte wand und die positiven Geistesfakto-
so weit ausgedehnt werden, daß sie sich die lebendige Tradition in Tibet ren erkannte und entwickelte, vollen-

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dete er das Mitgefühl, aufgrund dessen zerstörerischen Lebensstil fortfahren, ein Anhänger des Buddha Œåkyamuni,
er zum Wohle aller Wesen wirken sollten wir beten: „Hoffentlich geht der die Verkörperung des Mitgefühls
konnte. dieses menschliche Leben bald zuen- ist. Im Moment ist mein Potential
de.“ Wenn wir unfähig sind, unser Po- nicht ausreichend, aber meine Praxis

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n den Lehrreden des Buddha fin- tential auf die richtige Art und Weise wird zumindest die Sorge darum bein-
den sich viele Aussagen über das zu nutzen, dann ist es besser, ein kur- halten, wie ich anderen fühlenden
kostbare Menschenleben. Die zes Leben ohne Erfolg zu haben. Wesen helfen kann und wie ich den
menschliche Existenz ist jedoch nur Schaden, den ich anderen zufüge, ver-
dann von Nutzen, wenn wir fähig sind, ringern kann.“ Dies ist die Praxis, un-
Wirksamer Altruismus
unsere Intelligenz und Weisheit für das seren Geist gegenüber allen fühlenden
Gute zu nutzen. Setzen wir dagegen entwickelt sich nicht Wesen zu erweitern und ihnen zu hel-
unser Potential für schlechte Ziele ein, ohne ein Verständnis fen. Das ist die Bedeutung von Semkye
werden die Menschen auf Dauer de- des gesamten Pfades oder der Erweiterung des Geistes durch
struktiver und negativer werden. Viele Altruismus. Es ist der Wunsch, zum
Probleme, mit denen wir uns heute Andererseits haben wir als Menschen Wohle aller Wesen die Buddhaschaft
weltweit konfrontiert sehen, rühren ein großes Potential. Vorausgesetzt, wir zu erlangen.
daher, daß wir die destruktive Seite un- gebrauchen unsere Weisheit in kon-

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serer menschlichen Intelligenz zu sehr struktiver Art und Weise, d.h. für all- er Geist, der anderen fühlen-
betont haben. Kein Tier kann so zer- gemein nützliche Ziele, können wir den Wesen von Nutzen sein
störerisch sein wie der Mensch. Hun- unserem Leben einen enormen Wert will, ist außerordentlich wich-
gersnöte, Kriege usw. sind Ergebnisse verleihen. Wenn wir in der Lage sind, tig. Was bedeutet es, anderen Lebewe-
einer menschlichen Intelligenz, die für unsere Intelligenz positiv zu nutzen, sen von Nutzen zu sein? Echte Hilfe
schlechte Ziele eingesetzt wird; sie sind dann ist es gut, wenn dem menschli- lassen wir den anderen zukommen, in-
das Resultat von Machtstreben und ne- chen Leben viel Erfolg und eine lange dem wir sie zu der Einsicht führen, daß
gativem Verhalten. Denken wir bei- Dauer beschieden ist. es notwendig ist, negative Geisteszu-
spielsweise an Nahrungsmittelknapp- Es wird schwierig sein, menschliches stände zu vermeiden und positive Gei-
heit, unter der ein Großteil der Verhalten durch äußere Mittel zu kon- steszustände zu entwickeln. Wenn wir
Menschheit zu leiden hat. Einige Men- trollieren, ohne den Geist zu schulen. also davon sprechen, anderen fühlen-
schen haben einen Lebensstil, der auf Einige werden immer einen Weg fin- den Wesen zu helfen, beinhaltet dies
Verschwendung, Gier und Unzufrie- den, negativ zu handeln. Wenn wir viel mehr, als unsere Nahrungsmittel
denheit beruht. Sie tragen dazu bei, unseren Geist jedoch diszipliniert ha- mit jenen zu teilen, die Hunger haben,
daß andere Menschen zu wenig Güter ben, werden unabhängig von Polizei- oder denjenigen Wasser zu geben, die
zur Verfügung haben. präsenz Ordnung und Frieden herr- durstig sind. Wir sprechen davon, an-
Es sind die Menschen, die globale schen. Geistiger Frieden wurzelt in ei- dere fühlende Wesen in die Lage zu
Verantwortung übernehmen müssen. nem Geist, der allen anderen fühlen- versetzen, dem Pfad zu folgen, der al-
Wenn wir als Menschen nicht in der den Wesen nützlich sein will, einem len Lebewesen das höchste Glück ver-
Lage sind, unser Potential in heilsamer Geist, der sich um das Wohlergehen leiht und ihre Leiden von der Wurzel
Weise zu nutzen, denke ich, wäre es für anderer fühlender Wesen sorgt. An die- her beseitigt. Aus der Sicht des einzel-
uns besser, gar nicht zu existieren. sem Punkt sollten wir denken: „Ich bin nen Wesens heißt dies, daß es befähigt
Dann könnten zumindest die anderen werden soll, sein Auge
Lebewesen harmonischer leben. Es ist der Weisheit zu öffnen,
ganz augenscheinlich, wieviel Zerstö- damit es seine positiven
rung die Menschen der Tierwelt ge- Eigenschaften zu ent-
bracht haben, weil sie ohne Mitgefühl wickeln und negative Ei-
handelten und die liebende Güte in ih- genschaften zu beseiti-
rem Geist fehlte. Wir essen ihr Fleisch, gen vermag.
töten sie, verarbeiten ihre Haut. Haben Es mag unser letzt-
wir irgendein Recht auf diese Tiere, ha- endliches Ziel sein, an-
ben wir ein Recht, sie derart zu behan- dere fühlende Wesen zur
deln? Wenn einige Tiere es auf unser höchsten Erleuchtung
Foto: dpa

Leben, unsere Haut abgesehen hätten, zu führen, aber ohne ein


wie würden wir reagieren? Wenn es für korrektes und vollstän-
uns Menschen darum geht, andere füh- Der Dalai Lama kritisiert die Selbstsucht der diges Wissen über den
lende Wesen zu benutzen, zögern wir Menschen: „Wenn einige Tiere es auf unser Pfad sowie Erfahrungen
nicht einen Augenblick. Manchmal Leben, auf unsere Haut abgesehen hätten, in der Verwirklichung
denke ich: Wenn wir mit einem solch wie würden wir dann reagieren?“ dieses Pfades werden wir

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scheitern. Deshalb sollten wir zuerst


ein gutes Verständnis des gesamten
Pfades besitzen. Es reicht jedoch nicht
aus, ein vollständiges Wissen zu haben,
Anfang gemacht werden – wie beim
Entwurf eines Hauses. Beim Hausbau
haben wir zuerst eine grobe Vorstel-
lung und zeichnen dann einen Bau-
D er Erleuchtungsgeist besitzt
wundervolle Eigenschaften,
die vom indischen Meister
Œåntideva im Bodhicaryåvatåra erklärt
sondern man benötigt einen allwissen- plan. Die Verwirklichung dieses Plans werden. Darin heißt es, daß die Bud-
den Geisteszustand, mit dessen Hilfe braucht eine gewisse Zeit und hängt dhas viele Zeitalter lang über die Eigen-
man die Bedürfnisse der fühlenden von den verschiedenen Voraussetzun- schaften nachdachten, die für alle füh-
Wesen erkennen kann. Will man den gen ab. Wenn wir den wünschenden lenden Wesen optimal wären. Sie ka-
Wesen wirklich nutzen, muß man ihre Erleuchtungsgeist hervorbringen, ma- men zu dem Schluß, daß es der Altru-
geistigen Veranlagungen erkennen. chen wir eine Art Entwurf für den Bau ismus ist – der Wunsch, die Buddha-
Andernfalls wird man ihnen nicht die der nicht-künstlichen Erfahrung des schaft zum Wohle aller Wesen zu errei-
entsprechenden Dharmaunterweisun- Erleuchtungsgeistes. Dabei sollten wir chen. Der Zustand der Buddhaschaft
gen geben können. Aus diesem Grund zumindest eine künstliche Erfahrung ist für das Wohl aller fühlenden Wesen
ist es so wichtig, die Hindernisse für die des Erleuchtungsgeistes erzeugen und am hilfreichsten. Je stärker dieser Gei-
Allwissenheit, auch als Hindernisse für dann das Wunschgebet sprechen: steszustand entwickelt wird, um so eher
die Buddhaschaft bezeichnet, zu besei- „Möge ich die nicht-künstliche Erfah- wird man in der Lage sein, eine wirk-
tigen. Erst mit dem Erlangen der Bud- rung des Erleuchtungsgeistes erzeugen, same tantrische Praxis durchzuführen.
dhaschaft hat man die Hindernisse für wie sie im Geist der Bodhisattvas und
die Erleuchtung beseitigt. Sogar die Buddhas existiert.“ Dies ist der Er-
Die Entwicklung des
Bodhisattvas auf den Hohen Bodhi- leuchtungsgeist des Wünschens.
sattva-Ebenen sind keine erleuchteten Erleuchtungsgeistes
Buddhas. Sie müssen noch immer dar-
an arbeiten, die Hindernisse für die
Erleuchtung zu beseitigen. W ir nehmen uns vor, den
Dharma mit großen An-
strengungen zu üben und
alle Schwierigkeiten, die bei der spiri-
verleiht dem menschlichen
Leben einen Sinn
Der Erleuchtungsgeist ist die Quelle

B
ei der Schulung gehen wir so tuellen Praxis entstehen, auf uns zu allen Glücks in diesem und in vielen
vor: Zuerst müssen wir das Be nehmen, weil am Ende das Erreichen zukünftigen Leben, er ist die Quelle
streben haben, die Wünsche der der Buddhaschaft steht. Zweck der des eigenen Glücks und des Glücks al-
fühlenden Wesen zu erfüllen. Zweitens Entwicklung einer Geisteshaltung, mit ler anderen fühlenden Wesen. Er wird
sollten wir erkennen, daß wir zuerst die der man die Buddhaschaft zum Wohle von allen Buddhas einstimmig als vor-
Allwissenheit erreichen müssen, denn aller fühlenden Wesen anstrebt, ist es, trefflich und wundervoll gelobt. Des-
sonst ergeht es uns wie einer Mutter, die Wesen vom Leiden zu trennen: Wir halb sollte man sich freuen und den-
die ihre Hand verloren hat und nicht wollen sie befähigen, die leidverursa- ken: „Ich bin sehr privilegiert, auf die-
mehr in der Lage ist, ihrem geliebten chenden Geistesfaktoren zu beseitigen, se Lehre getroffen zu sein und die
Kind zu helfen. Ausgehend von dem sich vollständig vom Leiden zu befrei- Möglichkeit zu haben, den Erleuch-
Bestreben, anderen fühlenden Wesen en und das Nirvå¶a zu erreichen. tungsgeist hervorzubringen; dadurch
helfen zu wollen, entwickeln wir einen Die fühlenden Wesen, die alle schon verleihe ich meinem menschlichen Le-
Geist, der die Buddhaschaft zum Woh- unsere Mütter gewesen sind, befinden ben echte Bedeutung.“
le aller Wesen zu erlangen wünscht. sich in einer schlimmen Situation: Im Rahmen meiner Unterweisun-
Dies ist die Erzeugung des Erleuch- Obwohl sie sich nach Glück sehnen, gen lege ich immer großen Wert dar-
tungsgeistes, der aus zwei Aspekten sind sie nicht fähig, dem Pfad, der sie auf, den Erleuchtungsgeist zu übertra-
besteht: dem Anstreben des Wohls der zum Glück führt, zu folgen. Obwohl gen. Nach der Zeremonie zur Erzeu-
anderen und dem Anstreben der Bud- sie nicht leiden wollen, wissen sie nicht, gung des Erleuchtungsgeistes fühle ich
dhaschaft. wie sie das Leid beseitigen können. mich immer glücklich und zufrieden.
Obwohl sie die Anlagen dazu besitzen, Ich habe nicht das gleiche Gefühl der
dauerhaftes Glück zu erlangen, sind sie Zufriedenheit, nachdem ich tantrische
Es ist definitiv aufgrund ihrer Unwissenheit nicht in Initiationen oder Ermächtigungen ge-
möglich, das Leiden der Lage, es zu verwirklichen. Es ist je- geben habe. Ich verfüge nicht über vie-
zu überwinden doch definitiv möglich, das Leiden zu le tantrische Verwirklichungen, und
überwinden – und zwar mit dem Pfad, somit ist es wie ein Nachplappern.
der die Unwissenheit als Wurzel aller Wenn wir hingegen davon sprechen,
Natürlich dauert es lange, eine nicht- Leiden beseitigt. Die Wesen sind ohne einen positiven, heilsamen Geisteszu-
künstliche Erfahrung des Erleuch- Schutz und Zuflucht; wir müssen uns stand zu entwickeln, so versuche ich
tungsgeistes zu erzeugen. Es dauert vie- vornehmen, die Buddhaschaft zu errei- immer, diese Praxis persönlich durch-
le Jahre, viele Leben und manchmal chen, damit wir ihnen ein echtes Zu- zuführen. Mein Bestreben, diese Praxis
sogar viele Zeitalter. Aber es muß ein fluchtsobjekt sein können. zu üben, ist sehr groß. Ich schätze sie

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sehr und halte sie für besonders wert- Handelns vergegenwärtigen. Wenn
voll, für so wertvoll wie mein eigenes wir uns eine negative Geisteshaltung Die Praxis der Rezitation
Leben. Ich versuche immer, mich bei angewöhnen, verlieren wir das Mit- An den Erleuchtungsgeist sollte man
dieser Praxis besonders anzustrengen, gefühl und die liebende Güte, und sich dreimal am Tag und dreimal in der
und das erweist sich in meinem täg- wir werden eine Kette von Proble- Nacht erinnern. Wie ist das zu verste-
lichen Leben als sehr hilfreich. men erleben. Auf der Grundlage ne- hen? Sie können einen kurzen Vers re-
gativer Geisteshaltungen werden wir zitieren, der Ihnen vertraut ist, wie:

M
an muß den eigenen Geist nicht in der Lage sein, diese Schwie-
wirklich im Altruismus rigkeiten zu ertragen. Die gesamte „Ich nehme
üben und ihn daran ge- äußere Umgebung scheint sich ge- Zuflucht zum Buddha, zum
wöhnen. Dazu ist es gut, sich oft den gen uns zu stellen, wenn es uns nicht
Nutzen und die Vorteile des Er- gelingt, den eigenen Geist zu kon- Dharma und zum Sa‡gha,
leuchtungsgeistes in Erinnerung zu trollieren und zu disziplinieren.
rufen. Denken Sie über die Vortreff- Kurz gesagt: Man kann alle posi-
und ich erzeuge den
lichkeiten dieses Geisteszustandes tiven und negativen Erfahrungen im Erleuchtungsgeist zum
nach. Denken Sie daran, welch ein
kraftvoller Geisteszustand dies ist, Die Sorge Wohle aller Wesen.“
wie stark er ist. Der Erleuchtungs- um die anderen
geist ist in der Tat die Ursache aller Sie wiederholen diese Zeilen so oft
hervorragenden Eigenschaften wie ist die Quelle wie möglich; sie müssen sich nicht an
dem Erreichen der Buddhaschaft; allen Glücks die Zahl drei halten, sondern so oft re-
durch ihn wird man zum Bodhisatt- zitieren, bis wirklich ein Gefühl in Ih-
va. Aber schon auf der Ebene ge- Leben auf einen disziplinierten oder rem Geist entsteht.
Diese Praxis der Rezitation ist
wöhnlicher Wesen sind die Vorteile undisziplinierten Geisteszustand zu-
einzigartig, denn immer, wenn wir sie
des Altruismus unschätzbar. Wenn rückführen. Die Quelle allen Glücks
durchführen, denken wir an das Wohl-
wir mit Schwierigkeiten konfrontiert – vom Glück angenehmer Empfin-
ergehen aller mütterlichen Wesen.
sind, wird es uns auf der Grundlage dungen im täglichen Leben bis hin
Andere Mantras besitzen unzählige
einer mitfühlenden Geisteshaltung zur Glückseligkeit der Buddhaschaft
Vortrefflichkeiten, zum Beispiel das
möglich sein, innere Ruhe und gei- – ist ein disziplinierter Geisteszu- Mantra OÞ MAµI PADME HÝÞ. Es
stigen Frieden zu bewahren. Auch stand. Dharmapraxis besteht darin, hat eine sehr tiefe Bedeutung, aber die
werden wir Frieden im Geist der den Geist von einem undisziplinier- Menschen denken beim Rezitieren
Tiere und der anderen Lebewesen ten in einen disziplinierten Zustand normalerweise daran, daß sie selbst in
um uns herum schaffen. Die altrui- zu versetzen. Auf der Grundlage ei- diesem Leben Glück wünschen; ihr
stische Geisteshaltung in unserem nes gezähmten Geistes werden wir Augenmerk ist weniger auf andere
täglichen Leben bildet die Ursache fähig sein, alle Tugenden zu entwik- fühlende Wesen gerichtet. Anders
dafür, daß wir uns auch guter Ge- keln. Vorausgesetzt, daß unsere beim Rezitieren eines Gebets, das im
sundheit erfreuen. Handlungen vom Erleuchtungsgeist Zusammenhang mit der Entwicklung
Zudem erleichtert der Altruismus motiviert sind, werden alle positiven des Erleuchtungsgeistes steht. Hier
den guten Übergang in die nächste Eigenschaften in uns automatisch werden die Gedanken automatisch auf
Existenz. Wenn dieses Lebens sich zunehmen. Wir werden schrittweise das Wohlergehen der unendlichen
dem Ende zuneigt und man mit dem einen Zustand erreichen, in dem wir Zahl fühlender Wesen gerichtet, ohne
baldigen Tod konfrontiert ist, wird völlig frei von unangenehmen Emp- diese in unterschiedliche Kategorien
man aufgrund der Gewöhnung an findungen sind; wir werden die Be- einzuteilen. Denken Sie nicht: „Ich
positive Einstellungen negativen freiung aus dem Daseinskreislauf er- werde diesen Geist nur für meine en-
Kräften Einhalt gebieten. Damit reichen. Dies sind Resultate der Pra- gen Freunde und Verwandte entwik-
kann der Prozeß des Übergangs in xis des Altruismus, der Geisteshal- keln und meine Feinde davon ausneh-
das nächste Leben ruhig verlaufen. tung, anderen fühlenden Wesen men.“ Die Tibeter, die hier anwesend
Der Wunsch, allen fühlenden Wesen nützlich sein zu wollen. Welche po- sind, dürfen nicht denken: „Ich werde
von Nutzen sein zu wollen, ist die sitiven Handlungen wir auch immer diesen Geisteszustand zum Wohle al-
beste Vorbereitung auf den Tod. In ausführen, sie werden eine Ursache ler fühlenden Wesen entwickeln, die
den Schriften heißt es, daß man auf- für das Erreichen der Erleuchtung Chinesen ausgenommen.“ Es ist au-
grund dieser Geisteshaltung in der sein, wenn sie vom Altruismus mo- ßerordentlich wichtig, daß Sie in Ihrer
Lage sein wird, den Weg zu den nie- tiviert sind. täglichen Praxis an alle fühlenden We-
deren Daseinsbereichen abzuriegeln. sen denken. Entscheidend ist, daß man
Nach einer mündlichen Übersetzung aus im Geist niemals das Wohlergehen an-
Weiter sollten wir uns die Nach- dem Englischen von Antje Becker, überar-
derer fühlender Wesen vergißt.
teile eigennützigen Denkens und beitet von Birgit Stratmann.

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