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Seite 1 Julia Tieke, 03.02.

2004

„Diese Wortschnipsel kann man so schön zusammenschneiden.”


Helmut Fest in Pitcher

Doppelte Verwirklichung

– Zur Verwendung von Originalton im Hörspiel Pitcher

Originalton ist im Radio ein journalistisches Standardelement. Dokumentarisches O-Ton-


Material wird aber auch in der künstlerischen Radioform Hörspiel benutzt. Mit einer Analyse des
zeitgenössischen Hörspiels Pitcher von Walter Filz1 untersuche ich ein Beispiel dafür, wie O-
Ton für das Hörspiel produktiv gemacht wird. Es geht mir darum aufzuzeigen, welche Funktion
O-Ton als radiospezifisches dokumentarisches Element innerhalb einer fiktiven Erzählung
übernehmen kann.

Ich untersuche Pitcher anhand von fünf Hörbeispielen als exemplarische Ausschnitte und
ergänze die Analyse um Einschübe, in denen ich charakteristische Merkmale des O-Tons
aufzeige, sowie Einblicke in verschiedene Funktionszusammenhänge und Wirkungen von O-Ton
im Hörspiel gebe.

Play. ►O-Ton. Definitionen.

Eine klare, allgemein akzeptierte Definition des Originaltons existiert bisher nicht. Einen
plausiblen Ausgangspunkt liefert der weit gefasste Ansatz bei Judith Lorentz:

„Der Terminus Original-Ton bezeichnet die Aufnahme eines akustischen Ereignisses, das einer
nicht-fiktiven Situation entstammt.”2

Lorentz´ Definition fokussiert auf die Entstehungssituation des O-Tons, und nicht etwa den Ort
der Aufnahme, wie es beispielsweise Felix Kribus macht, der O-Ton definiert als „jede Art von
Modulation außerhalb eines Tonstudios”3.

Jürg Häusermann definiert O-Ton als „die reproduzierte akustische Sequenz [...], die in einen

1 Walter Filz: Pitcher. WDR 2000. Walter Filz hat 2001 für Pitcher den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhalten.
2 Judith Lorentz: Das Original-Ton-Hörspiel. Formbestimmung eines Rundfunkgenres. Berlin 2000, S. 11.
3 Felix Kribus: Das deutsche Hörfunk-Feature: Geschichte, Inhalt und Sprache einer radiogenen Ausdrucksform.
Stuttgart 1995, S. 101.
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Radiobeitrag eingebettet ist und dokumentarisch verwendet wird.”4

Die Einbettung des Materials als Voraussetzung für den O-Ton möchte ich für meinen Begriff
des O-Tons übernehmen. O-Ton benötigt Kontext. Der Werkkontext kann dabei sowohl ein
journalistischer Radiobeitrag, als auch ein künstlerisches Hörspiel sein. Durch die Einbettung
unterscheidet sich der O-Ton vom reinen Dokument (das einen selbständigen Radiobeitrag
darstellt), sowie von der sogenannten Atmo (atmosphärische Einspielungen, die im Gegensatz zu
O-Ton unspezifisch bleiben)5.

Die von Häusermann hervorgehobene dokumentarische Verwendung ist hingegen für O-Ton im
Hörspiel nicht zwingend, bzw. kann stark in den Hintergrund treten. Der dokumentarische Cha-
rakter des O-Tons ist diesem zwar formal inhärent. Das Interesse am Inhalt des Dokumentierten
kann im Hörspiel jedoch zugunsten von beispielsweise sprachanalytischem oder an einer Fiktio-
nalisierung interessiertem Vorgehen einer Autorin vernachlässigt werden.

Insofern verstehe ich O-Ton als Aufnahme eines akustischen Ereignisses, das einer nicht-fiktiven
Situation entstammt und in einen Werkkontext eingebettet ist.6

Rewind. ◄◄ Neue Beliebtheit des O-Tons im Hörspiel.

In den 1990er Jahren erlebte der O-Ton im deutschsprachigen Hörspiel mit neuen und
wiederbelebten Formen ein Comeback: Der O-Ton findet hier als akustisches Bruchstück eines
wirklichen Ereignisses, als medienkritischer Fake, als inszenierte Authentizität oder fingierter
Stoff Einzug ins Hörspiel.7

Der Trend zur Inszenierung von „Wirklichkeit” im Hörspiel fand ein Echo etwa in der 17.
Woche des Hörspiels, die einen ganzen Workshop-Tag unter dem Titel „ECHT!! Authentizität
und Fake im Hörspiel” veranstaltete und das Thema „Authentizität” interdisziplinär in Vorträgen

4 In diesem Band, S. 3.
5 Vgl. ebd., S. 5.
6 Mit nicht-fiktiv anstatt dokumentarisch schließt diese Definition die Sonderform des fingierten O-Tons ein.
Fingierten O-Ton enthält beispielsweise das Stück March Movie von Michael Köhlmeier und Peter Klein (ORF
1983) oder Prozedur 7.7.0 von Hermann Bohlen (SFB 1996, Hörspielpreis Lautsprecher 1997). Zum fingierten
Hörspiel siehe Lorentz 2000, S. 86 ff.
7 Einen Einblick in diese Entwicklung gibt Martin Conrads in seinem Artikel „Die Stimmen von Portici.
Wirklichkeit und Inszenierung im aktuellen deutschsprachigen Hörspiel”. In: springerin. Hefte für
Gegenwartskunst. Band IX, Heft 3. Wien 2003, S. 30 – 33.
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beleuchten ließ.8

Ursula Mothes stellt für die zweite Hälfte der 1990er Jahre einen „spielerische[n] Umgang mit
Fakt und Fiktion”9 besonders in Literatur und Film fest, nennt für die Mischung von Fakt und
Fiktion aber auch das Hörspiel, namentlich den Hörspielmacher Walter Filz.

In seinem Hörspiel Pitcher stellt Walter Filz10 mit O-Ton-Material auf mehreren Erzählebenen
Bedeutung her. Dies geschieht durch die Montage von O-Ton und fiktiven, im Studio
produzierten Passagen. Stop ■

1. Pitcher. Kurze Skizze der Handlung


Protagonist und Ich-Erzähler in Pitcher ist ein Synchron- und Werbespot-Sprecher namens
Kerzel. Seine Stimme ist seit einiger Zeit nicht mehr nachgefragt. Daher erhält er von Vox - dem
Boss des „Stimmenkartells” - einen „stillen Job”. Er soll Pitcher finden, einen Sounddesigner,
der durch synthetisch erzeugte Stimmen Synchronsprecher überflüssig macht.

Kerzel reist nach Schneeberg im Erzgebirge und trifft dort schließlich den Pitcher. Dieser hat
eine operative Methode entwickelt, mit der er menschliche Nasen zu differenzierten
Resonanzkörpern umformen und dadurch beliebig Stimmen erzeugen kann. Auch der Erzähler
wird operiert, er bekommt eine Babystimme: Pitcher und Vox stecken unter einer Decke, Vox
wollte seinem Synchronsprecher auf diese Weise eine junge, dynamische, somit besser
verkäufliche Stimme verleihen.

2. Pitcher. O-Töne
Nur die Rolle des Ich-Erzählers wird von einem Schauspieler übernommen, von Joachim Kerzel,
der als Synchronsprecher z. B. Harvey Keitel und Jack Nicholson ihre deutschen Stimmen
verliehen hat. Alle anderen Figuren entstehen aus O-Tönen, die der Autor aus verschiedenen

8 Vgl. http: 03.02.2004


9 Ulla Mothes: Dramaturgie für Spielfilm, Hörspiel und Feature. Konstanz 2001, S. 133.
10 An dieser Stelle möchte ich Walter Filz für die Beantwortung meiner Fragen danken, sowie für die Erlaubnis,
Ausschnitte aus Pitcher auf der CD zu diesem Band zu veröffentlichen.
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Interviews und Reportagen dekontextualisiert hat.11

Gleich zu Beginn des Hörspiels werden die Quellen der eingesetzten O-Töne, bzw. die Personen
hinter der jeweiligen Stimme, eingeführt (Hörbeispiel 1):

O-Ton Helmut Fest: „Einklang und Harmonie – ich bin ein sehr harmoniebedürftiger Mensch.”
Sprecher: „Helmut Fest ist Chef eines der größten Plattenunternehmen Deutschlands. Niemals würde er sich
unseriöser oder gar krimineller Praktiken bedienen.”
O-Ton Friedrich Blutner: „Beim Menschen spielt der Klang eine wesentliche Rolle. Das ist eigentlich sein
Instrument der Kommunikation.”
Sprecher: „Friedrich Blutner ist Chef eines Unternehmens für die Klanggestaltung von Industrieprodukten.
Niemals würde er sich unseriöser oder gar krimineller Praktiken bedienen”.
O-Ton Frau: „Das ist Wahnsinn, ne!? Gucken Sie sich mal die Nasenlöcher an. Das ist ja wie bei den
Schweinen so.”
Sprecher: “Die Menschen im Erzgebirge sind freundlich und gutaussehend. Niemals würden sie zulassen,
dass man ihre Nasen entstellt durch unseriöse oder gar kriminelle Praktiken.”
O-Ton Frau: „Das ist doch keene Nase. Das sind doch zwei richtige große Kleckse in der Mitte im
Gesicht.”
Sprecher: “Helmut Fest, Friedrich Blutner und die Menschen im Erzgebirge sind wirklich. Dies hier ist eine
Fiktion, in der nichts wirklich ist, außer den Stimmen. Aber wie wirklich sind Stimmen?”12

Die Einführung der verschiedenen O-Töne findet eingangs also auf stimmlicher Ebene statt. Die
realen Personen Helmut Fest und Friedrich Blutner werden mit Namen genannt, während die
Frau im O-Ton exemplarisch für zahlreiche ins Hörspiel montierte Stimmen von „Menschen aus
dem Erzgebirge” steht und anonym bleibt. Die Stimmen der „Menschen aus dem Erzgebirge”
bleiben nicht zuletzt deshalb anonym, weil diese O-Töne aus zahlreichen archivierten
Reportagen und Berichten stammen, in denen sie ebenfalls nicht namentlich gekennzeichnet
waren.

11 Der Ich-Erzähler spricht von sich selbst als „Kerzel”. Während also die Stimmträger der O-Töne innerhalb der
Geschichte zu fiktiven Charakteren werden, spielt der Schauspieler und Synchronsprecher Joachim Kerzel auf
eine gewisse Art sich selbst. Dass der Ich-Erzähler im Hörspiel Kerzel heißt, ist dabei weniger wichtig, als die
Tatsache, dass Hörerinnen die Stimme der Figur aus etlichen Werbespots und Filmen bekannt ist. Durch den
Kunstgriff des fiktionalisierten Kerzel als Figur und des „echten” Kerzel als stimmliche Verkörperung der Figur,
entsteht eine Übereinstimmung von Stimme und Erzählung. Die mit Realitäten spielende Konstruktion gewinnt
dadurch als Geschichte an Witz.
12 Ausschnitt von 0' 0'' bis 1' 03''. Das Hörspiel ist insgesamt 57' 35" lang. Alle Ausschnitte und Zitate aus Pitcher
beruhen auf einer eigenen Transkription des Stücks, ein Manuskript liegt mir nicht vor.
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Die Einführung der aus den O-Tönen fiktionalisierten Charaktere erfolgt durch die Geschichte
selbst. Aus O-Tönen von Helmut Fest und Friedrich Blutner werden in Pitcher eigenständige
Charaktere geschaffen – Vox und Pitcher. Die O-Töne der „Menschen aus dem Erzgebirge”
werden im Stück zu verschiedenen, zumeist namenlosen Rollen.

Der medienreflexiven Frage am Ende dieses Ausschnitts folgt ein zitathaftes Zapping durch
Werbespots und Filmsequenzen, in denen die Stimme von Joachim Kerzel erklingt.
Anschließend tritt dieser als Figur auf, die erzählt, dass sie gefeuert ist, weil ihre Stimme
„verbraucht, zerredet, kaputt gesprochen” ist.

Nach diesen knapp zwei Minuten sind alle Elemente des Hörspiels etabliert, inklusive der Musik-
und Geräuschebene. Die eigentliche Geschichte beginnt.

Am Ende des Stücks wird auch im „Abspann” noch einmal explizit auf die Fiktionalisierung der
verwendeten O-Töne hingewiesen. Dort heißt es: „Alle verwendeten Orignaltöne stammen aus
Interviews und Reportagen, die in keinem Zusammenhang mit der Handlung des Hörspiels
stehen.” Als letzter O-Ton erklingt kommentierend Helmut Fest: „Diese Wortschnipsel kann man
so schön zusammenschneiden.”

Nach Auskunft von Walter Filz werden die „Spielregeln” für Pitcher aus zwei Gründen genannt:
erstens sollen sie den Hörern ermöglichen, dem Folgenden entspannt zu lauschen, ohne die
Herkunft der O-Töne oder die Machart des Stücks enträtseln zu müssen. Zweitens reflektierten
Einführung und Absage inhaltlich das Thema des Stücks, die Manipulierbarkeit von
dokumentarischem Material.

Tatsächlich sind alle O-Töne akustisch als solche identifizierbar. Daher lassen sich die
verschiedenen Erzählebenen und die Machart des Stücks auch ohne die anfängliche Einführung
erschließen.

Play. ► Charakteristika von O-Ton.

Erkennbarkeit.

Es ist eine schlichte Alltagserfahrung, dass wir als Hörer einen O-Ton im Radio als solchen
identifizieren können. O-Ton ist als akustisches Material erkennbar, als Verweisträger auf eine
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vergangene dokumentarische oder nicht-fiktive Situation, der er entstammt.

Die Identifizierung eines O-Tons durch die Rezipientin muss dabei nicht mithilfe einer Ein-
führung durch Autorentext geschehen. Vielmehr ist O-Ton in der Regel aufgrund seiner akusti-
schen Ästhetik erkennbar: hörbare Raumakustik, Nebengeräusche oder frei formulierte Sprache.
Diese Erkennbarkeit des O-Tons führt dazu, dass Autorinnen mit dem O-Ton Material frei
umgehen, es neu montieren und in Kontext setzen können und der Verweischarakter des
dokumentarischen Materials dennoch bestehen bleibt.

Materialcharakter.

Feature-Macher Helmut Kopetzky drückt es so aus: „Doch bei allem Respekt vor dem Dokumen-
tarischen: O-Ton, sobald er auf dem Band fixiert wurde, ist Material, Werkstoff für das akusti-
sche Bauwerk der Sendung.”13

Als Material braucht der O-Ton Auswahl, Bearbeitung und Einbettung, kurz: Manipulation und
Interpretation, um im Werk als O-Ton produktiv gemacht zu werden. In diesem Sinne ist jeder
O-Ton produziert.

Vereinbarungen.

O-Ton beruht dabei auf einer unausgesprochenen Vereinbarung zwischen dem Produzenten und
der Rezipientin. Diese Konventionen betreffen einerseits seine Ästhetik, andererseits die Bedeu-
tung des O-Tons als Wirklichkeitsreferent.

Ästhetik

O-Töne sind nicht nur bearbeitet und damit produziert. Durch die Imitation bestimmter akus-
tischer Merkmale ist ein O-Ton als solcher insgesamt herstellbar. Wenn ich einen O-Ton als
solchen mühelos erkenne, garantiert das daher nicht unbedingt seine „Echtheit”. Vielmehr erfüllt
das Material zunächst ästhetische Konventionen des O-Tons.

Die ästhetischen Merkmale oder Konventionen des O-Tons sind wandelbar. Hörspielmacher
Hermann Bohlen weist in seinem Vortrag Fingierter Bananenheinz. Entstehung und Ideologie

13 Helmut Kopetzky: Stimme als Werkstoff. Über den Umgang mit Original-Ton. In: medium. Zeitschrift für
Hörfunk, Fernsehen, Film, Presse. Juni 1981, S. 17.
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des fingierten O-Ton-Hörspiels auf die historisch veränderten Konventionen von O-Ton hin. Ein
O-Ton aus den 1950er Jahren beispielsweise klinge für zeitgenössische Ohren sprachlich „recht
künstlich”.14

Wirklichkeitsreferenz

O-Ton enthält als dokumentarisches Element stets einen Verweis auf eine außerästhetische
Wirklichkeit und somit auf seine Entstehungssituation. In dem Spannungsverhältnis von
Konstruktion/Manipulation – im Sinne eines mehr oder minder bewussten Eingriffs - und der
Zuschreibung von Wirklichkeitsreferenz steht jeder O-Ton. Jürg Häusermann spricht folglich
von der „Herstellung von Authentizität”15.

Dass dem O-Ton Wirklichkeitsreferenz zugeschrieben wird, ist insofern eine Vereinbarung
zwischen Produzent und Rezipientin.

Diese Übereinkunft wird durch den Einsatz von fingierten oder inszenierten O-Tönen
gebrochen.16 Häufig jedoch gibt es in den entsprechenden Stücken Hinweise auf die Fingiertheit,
bzw. erscheint das Phänomen, das mithilfe von O-Tönen authentifiziert werden soll, zu
phantastisch um überhaupt möglich zu sein. Dann beruht das Spiel mit den Konventionen des O-
Tons auf Mitwisserschaft durch Hörer, die nicht „auf den Leim geführt” werden sollen, sondern
sich des Spiels bewusst sind. Entsprechend redet Hermann Bohlen für das fingierte O-Ton-
Hörspiel, die Kombination von O-Ton und einer inhaltlich unglaubwürdigen Fiktion von der
„Wahrscheinlichkeit des Phantastischen”17.

Die beschriebenen, teilweise „konventionellen” Eigenschaften des O-Tons, seine spezifische


Ästhetik als Erkennungsmerkmale für die Rezipientin, sein Materialcharakter, sowie die
Referenz zu einer außerästhetischen Wirklichkeit, ermöglichen im Medium Radio und seinen

14 Bohlen, Hermann: Fingierter Bananenheinz. Entstehung und Ideologie des fingierten O-Ton-Hörspiels. Vortrag
auf der 17. Woche des Hörspiels, Berlin 2003. Unveröffentlichtes Manuskript, S. 2 .
15 Im vorliegenden Band, S. 1.
16 Historisch bekannt geworden ist Orson Welles' Inszenierung von The War of the Worlds, dessen Fiktion von
Hörern für real gehalten wurde. Dies war unter anderem möglich aufgrund der Inszenierung realistisch
klingender Live-O-Töne (vgl. Seite 12).
17 Bohlen 2003, S. 5. March Movie von Michael Köhlmeier und Peter Klein (ORF 1983) erzählt etwa die Ge-
schichte einer spurlos verschwundenen Blaskapelle, die zur Miniatur geschrumpft unter einem Stein
wiedergefunden wird. Erzählt wird in Form einer Magazinsendung mit eingespielten fingierten Beiträgen und
Interviews.
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künstlerischen Formen Hörspiel und Feature18 unterschiedlich motivierten Einsatz. Stop ■

3. Pitcher. Funktionen der O-Töne


Pitcher wird erzählt, indem aus O-Tönen und dem fiktiven Ich-Erzähler Dialoge und Szenen
montiert werden. Der spezifische O-Ton-Einsatz steht im Mittelpunkt meiner Betrachtung des
Stücks. Der Einsatz weiterer ästhetischer Mittel wie Musik und Geräusche, sowie dramaturgische
Entwicklungen werden hier nur insofern berücksichtigt, als sie wesentlich für die Fragestellung
nach der Funktion des O-Tons sind.

Das Potential der Montage

Zu Beginn des Hörspiels trifft der Ich-Erzähler Kerzel seinen Boss Vox (Ausschnitt aus der
Szene in Hörbeispiel 219). Vox hat seinen frustrierten Sprecher zu sich bestellt, um ihm einen
„stillen Job” zu geben. Noch redet er jedoch um den heißen Brei herum.

O-Töne Helmut Fests sind hier also mit Sprach-Aufnahmen von Joachim Kerzel zu einem Dialog
zwischen den Figuren Vox und Kerzel montiert.

Die O-Töne stammen aus dem Mitschnitt von zwei Studiointerviews mit dem Plattenun-
ternehmer. Dieses Ausgangsmaterial liegt also in Studioaufnahme vor. Insofern signalisieren
keinerlei Nebengeräusche oder Raumakustiken die für O-Ton typische (wenngleich nicht
zwingende) Aufnahmesituation außerhalb des Studios. Auch ist das Material nicht eigens dazu
entstanden, um zum O-Ton verarbeitet zu werden, sondern entstammt im Gegenteil einem
Archiv. Erst durch die Auswahl aus dem Ausgangsmaterial und die Einbettung in einen
Werkkontext, werden die Ausschnitte zu O-Tönen.

Die Schnitte innerhalb des Gesprächs sind sehr dynamisch gesetzt: Durch die Montage unter-
bricht Kerzel Vox, indem der O-Ton teilweise auf Halbsätze reduziert ist. Kerzel nimmt auch
Sätze von Vox in genervtem Tonfall vorweg, die sein Boss dann wortgleich wiederholt. Durch
die Anwendung solcher Gesprächsmuster zweier Menschen, die sich bereits lange kennen,
gewinnt der Dialog an erzählerischer Glaubwürdigkeit. Allein über diese Montage erhalten die

18 Eine klare Grenze zwischen Feature und Hörspiel ist insbesondere bei reinen O-Ton-Collagen nicht zu ziehen.
19 Hörbeispiel 2 entspricht dem Ausschnitt von 4' 39'' bis 6' 59'' in Pitcher.
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Figuren spezifische Charakterzüge: So stellt sich Kerzel als ungeduldiger, lakonischer Antiheld
dar, während Vox als leicht exzentrischer Boss nicht auf den Punkt kommt.

Da Helmut Fest offenbar ein geübter Interviewpartner ist, erscheinen seine Aussagen nicht sofort
und immer als frei formuliert, sondern könnten ebenso gut eine schriftliche Grundlage haben.
Die Unterlegung des Dialogs mit Musik als verbindendem Element trägt zusätzlich zu einem
relativ flüssigen Höreindruck bei.

Trotz der Studioaufnahme und einer sehr geschickten Montage bleiben die O-Töne jedoch als
Fremdtexte innerhalb der Erzählung identifizierbar. Abgesehen davon, dass die Stimme im
Hörspiel eingangs als O-Ton markiert wurde, trägt sie Merkmale von mündlicher freier Sprache,
wie „äh” und Füllwörter wie „wahrscheinlich”, „so”. Zudem sind etliche Gesprächsbezüge
inhaltlich leicht schräg konstruiert, zum Beispiel:

Kerzel: „Warum hast Du mich herbestellt?”


Vox: „Das lässt sich nicht bestimmen. Das ist einfach so`n, so`n Bauchgefühl, was man hat und man hat einfach
gute Instinkte.”

Vox Antwort kennzeichnet ihn als ausweichend, ist aber zugleich in der Ausdrucksweise als
Antwort skurril. Die Heterogenität des in Zusammenhang gesetzten Materials bleibt darin
bestehen.

Dieser sehr dialogisch geschnittene Ausschnitt von Pitcher verdeutlicht so exemplarisch das
Potential von Filz Montagetechnik, O-Töne für die Herstellung eines Dialogs zu aktivieren.

Die doppelte erzählerische Funktion des O-Tons

Der kurze Dialog zwischen Kerzel und einer Bewohnerin des Erzgebirges (Hörbeispiel 320) ist
ein Beispiel dafür, wie die O-Töne der Menschen aus dem Erzgebirge innerhalb der fiktiven
Erzählung zu Stimmen von Personen werden, die auf die teilweise investigativen Fragen des Ich-
Erzählers antworten.

Hinter Kerzels Frage: „Können Sie mir sagen, wie ich nach Schneeberg komme?” sind leicht

20 Entspricht dem Ausschnitt 10' 11'' bis 10' 43'' in Pitcher.


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ausweichende Antworten montiert; die Frau spricht über die schlechte Straßenanbindung. Hier
enthält der O-Ton eine doppelte Erzählung: Er funktioniert als fiktionalisierter O-Ton innerhalb
des Hörspieldialogs, enthält aber als dokumentarischer O-Ton unabhängig von der erzählten
Geschichte noch immer einen Verweis auf die ursprüngliche Situation, der er entstammt. Der
Verweis ist hier nicht nur formaler Art, sondern realisiert sich auch inhaltlich: Die
dokumentarische Information, dass das Erzgebirge verkehrstechnisch schlecht erschlossen ist, ist
auf der Ebene des O-Tons und somit im Hörspiel insgesamt enthalten.

Der Einsatz von lautem Vogelgezwitscher stellt in diesem Ausschnitt eine akustische
Verbindung von O-Ton und Studioaufnahme her. Unter der Geräuschebene ist zudem ein
Grundrauschen hörbar, das entweder aus dem O-Ton selbst oder dem Vogelgezwitscher stammt
oder aber zusätzlich hinzugefügt wurde. Diese Ebene verdeckt die Montage nicht, der Schnitt
von O-Ton auf Studioaufnahme mit ihren unterschiedlichen Qualitäten ist zu prägnant, um
nivelliert zu werden.

In einer weiteren Szene (Hörbeispiel 421), die O-Töne aus dem Erzgebirge enthält, kommt der
Dialekt noch deutlicher hervor und kennzeichnet zusammen mit der hörbar frei formulierten
Sprache den O-Ton. Auch sind Nebengeräusche identifizierbar, die eine Aufnahmesituation
außerhalb des Studios markieren.

Hier spricht Kerzel über eine Frau namens „Engel”, während die O-Töne nicht nur die Fragen
beantworten, sondern auch über traditionelle Engelsfiguren aus dem Erzgebirge erzählen.

Play. ► Abgrenzung zum journalistischen O-Ton.

Im „alltäglichen” Gebrauch gilt der O-Ton zunächst als Ergänzung einer journalistischen Aus-
sage. Er ist dabei in Text eines Journalisten eingebettet und es „gehört zur Information über den
O-Ton die Angabe, wann und wo er aufgenommen wurde”22. Diese Angabe sei im O-Ton selbst
enthalten oder werde explizit durch Text ergänzt, so Häusermann weiter. Auf diese
Identifizierung des O-Tons kann im Hörspiel und Feature komplett verzichtet werden, ebenso
kann erläuternder Text entfallen. In diesem Fall ist ein O-Ton in den Kontext anderer O-Töne
eingebettet. Der Zugriff des Autoren, die Interpretation der O-Töne, die Zuweisung von

21 Entspricht dem Ausschnitt 21' 03'' bis 23' 26'' in Pitcher.


22 Jürg Häusermann: Radio. Tübingen 1998, S. 72.
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Funktion innerhalb des Werkkontextes, geschieht dann allein durch die formalen Mittel von
Schnitt und Montage.23

Antje Vowinckel kennzeichnet die Verwendung vorgefertigten Materials in der Kunstform der
Collage als einen Prozess, durch den die Einzelelemente (z.B. ein O-Ton) „in ein
Spannungsverhältnis von alter und neuer Funktion”24 treten. Die „sekundäre Verwendung”25 des
Materials bleibe für den Rezipienten im Werk erkennbar. Das Material verwirklicht also neue
Bezüge bei gleichzeitig erhaltenem dokumentarischen Charakter. Entscheidend für das Kunstver-
fahren der Collage ist auch, dass Anschlussstellen nicht verdeckt werden. In dieser Betrachtung
von Collageverfahren liegt eine Möglichkeit, die Motivation des O-Ton-Einsatzes in
künstlerischen Formen von der in journalistischen Formen zu unterscheiden. Stop ■

Der Übergang ins Dokumentarische

Der Erzähler Kerzel sucht das „Institut für Geräusch- und Klangoptimierung” auf und trifft dort
den Pitcher (Hörbeispiel 526). Dieser erläutert einige Prinzipien und Arbeitsweisen seines
Sounddesigns. Die Erläuterungen sind von illustrierenden Geräuschen begleitet. Der Pitcher
spricht in verhältnismäßig langen Parts, er wird von Kerzel nur selten unterbrochen.

In diesem Gespräch tritt die anhand des zweiten Hörbeispiels gezeigte doppelte narrative Funk-
tion der O-Töne dabei noch deutlicher hervor. Während das erste Beispiel mit O-Tönen von
Helmut Fest dem O-Ton relativ wenig eigene Erzählebene lässt, sondern durch geschickte
Montage ausgewählte Aussagen von Fest hauptsächlich für die erzählte Geschichte nutzbar
macht, kommt es in diesem Dialog beinahe zum umgekehrten Fall: die Ausführungen des
Sounddesigners Friedrich Blutner erhalten als O-Töne große erzählerische Eigenständigkeit.
Nach Walter Filz' Auskunft hatte er zunächst ein Interview mit Friedrich Blutner geführt, in der
Absicht, einen journalistischen Beitrag aus dem Material zu produzieren. Nach dem

23 So in vielen O-Ton-Stücken, die ihre Blütezeit von den späten 1960er bis Anfang der 1980er Jahre hatten. Zum
Original-Ton-Hörspiel gibt es verschiedene Veröffentlichungen, weshalb ich hier nicht näher auf das Genre
eingehe. Vgl. insb. Klaus Schöning: Neues Hörspiel O-Ton: der Konsument als Produzent; Versuche,
Arbeitsberichte. Frankfurt am Main 1974. Ders. (Hg.): Spuren des Neuen Hörspiels. Frankfurt am Main 1982.
Sowie ders. (Hg.): Hörspielmacher. Königstein/Ts. 1983.
24 Antje Vowinckel: Collagen im Hörspiel. Die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Würzburg 1995, S. 14.
25 Ebd., S. 14.
26 Entspricht dem Ausschnitt 24' 21'' bis 27' 26'' in Pitcher.
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ausführlichen Interview sei ihm das „fast unglaubliche”27 Material zu schade für nur einen
Beitrag vorgekommen. Somit war die Idee zu Pitcher entstanden, mit dem Interview als
Ausgangsmaterial, das in dem Stück sehr präsent ist.

Das inhaltliche Thema dieser Interviewausschnitte, Geräusche und ihr Design, ist natürlich ein
sehr radio- und insbesondere hörspielspezifisches. Durch den Einsatz deutlicher, stilisierter und
teilweise hyperrealistischer Geräusche in Pitcher, sowie die Experten-Ausführungen von
Friedrich Blutner entsteht gleichzeitig ein medienreflexives Moment.

Selbstreflexiv ist auch der ironische Bezug auf die eigene Kunstform, als Kerzel am Anfang des
Hörspiels erläutert, dass die Karriere eines Sprechers ihren Tiefpunkt erreicht habe, wenn er bei
Hörspielen mitwirken müsse: „Wenn sie Dir Kassettenjobs geben, weißt Du, dass es bergab geht,
wenn sie Dir Hörspieljobs geben, weißt Du, bald kommt gar nichts mehr”28.

Fiktion und Information

Die vielen O-Ton-Bruchstücke einzelner Szenen ergeben für sich allein gehört als dokumentari-
sches Material kaum Sinn. Am Ende der Sendung entsteht jedoch zu verschiedenen Themen ein
Gesamt-Eindruck: Die Hörer erfahren etwas über das Erzgebirge, über die Attitüden des Chefs
eines Plattenunternehmens, sowie die Möglichkeiten des Sounddesigns.

Die O-Töne in Pitcher funktionieren also nicht nur als Rede innerhalb der Hörspiel-Dialoge, sie
erzählen an vielen Stellen etwas eigenes, realisieren eine zweite Erzählebene. Auf dieser Ebene
entsteht über die Fiktion hinaus Information: Diese wird in Versatzstücken und ohne
ursprünglichen Textzusammenhang präsentiert, so dass Hörer sie mit eigenem Wissen oder
Phantasie vervollständigen können. Wenn etwa in Hörbeispiel 3 von „Engeln” die Rede ist,
entsteht über die Informationen in den O-Tönen kein klares Bild von traditionellen Engelsfiguren
aus dem Erzgebirge. Vielmehr werden über die vielen Bruchstücke bei der Hörerin eigene Bilder
oder Assoziationen zum Thema aktiviert.

Die Präsenz der Montage

Neben der fiktiven Erzählung und den dokumentarischen Verweisen existiert eine dritte Erzähl-

27 Walter Filz gegenüber der Autorin im Telefongespräch, Dezember 2003.


28 In Pitcher, 2' 15''.
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ebene in Pitcher. Diese metakommunikative Ebene gibt Aufschluss über die Entstehung des
Stücks. Sie handelt vom Medium selbst und seinen Möglichkeiten zur Manipulation.

Erzählt wird hier in Form einer hörbaren Montage, also der Präsenz der Schnitte, an denen O-
Ton und Erzählung aufeinanderstoßen, sowie der unterscheidbaren Ästhetik der einzelnen
Elemente. Dies erzeugt beim Hören eine Vorstellung darüber, wie der Autor das Stück produziert
hat.

„Mit der Axt zusammengeschnitten” nennt Walter Filz seine Art der Montage29. Sie sei einerseits
notwendig gewesen, weil das O-Ton-Material, das ihm aus Interviews und Reportagen zur
Verfügung stand, in seiner akustischen Qualität sehr unterschiedlich war und somit unmöglich
homogen hätte gemacht werden können. Das Verfahren hörbar zu machen sei jenseits dieser
Notwendigkeit jedoch auch Intention gewesen, so Filz. Er wollte die Möglichkeiten von
Manipulation im Radio demonstrieren.

In Pitcher wird beim Hören des Stücks diese Manipulation, die Bearbeitung und
Neukontextualisierung des O-Tons bewusst. O-Ton und Studioaufnahme sind unterscheidbar,
ihre Montage präsent.

Wenn Walter Filz herausstellt, dass er im wesentlichen nichts anderes mache als Journalisten,
indem er durch Verkürzungen das Material manipuliere30, so besteht ein Unterschied doch darin,
dass genau dieser Bearbeitungsprozess in Pitcher präsent ist. Anders als in alltäglicher Berichter-
stattung wird die Arbeit mit O-Ton-Material dem Hörer bewusst gemacht. Auf diese Weise kann
es das Gehör und den Verstand schulen für die Medienwirklichkeit des Radios.

Rewind. ◄◄ Das Hör-Spiel mit dem O-Ton.

Prominentestes Beispiel für den gezielten Einsatz von inszeniertem O-Ton zum Zweck der
Authentifizierung einer fiktiven Geschichte ist das von Howard Koch aus dem von H. G.
Wells geschriebenen Roman umgearbeitete und von Orson Welles inszenierte Hörspiel The War
of the Worlds. Spätestens mit diesem Hörspiel von 1938 ist die unkritische Zuschreibung von
abbildender Wirklichkeit im Radio-O-Ton auch praktisch überholt: The War of the Worlds löste
ein Massenpanik aus, weil Hörer die Geschichte einer Invasion vom Mars für wahr hielten. Die
29 Ebd.
30 Ebd.
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simulierten Live-Interviews und -Reportagen mit irritierten Menschen und einem vor offenem
Mikrophon hustenden, dann fallenden, seinen Tod suggerierenden Reporter, wirkten offenbar
glaubwürdig.31

In diesem Hörspiel wurde die Möglichkeit der Imitation, die Produzierbarkeit von O-Ton
evident. Es ist ein Spiel mit den Mitteln des Hörspiels und der Konvention von O-Ton und Live-
Reportage als dokumentierenden Elementen.

Wurde die Vereinbarung über den dokumentarischen Charakter von O-Ton in The War of the
Worlds gebrochen? Innerhalb des Stücks sind zahlreiche Hinweise auf seinen fiktiven Charakter
vorhanden. Dazu erscheint eine Invasion von Marsmenschen schlicht außerhalb jeder Wirklich-
keitsreferenz. Der dokumentarische Charakter, der dem live erzeugten O-Ton zugeschrieben
wird, wirkte hier bei etlichen Hörern jedoch offenbar stärker als der grundsätzliche Zweifel an
der Möglichkeit eines solchen Ereignisses.32

Sowohl die Bedeutung des Mediums Radio, als auch Medienlandschaft und Medienkompetenz
haben sich seitdem verändert, so dass eine ähnlich heftige Reaktion heute nicht vorstellbar
scheint 33. Welles' Inszenierung besteht aber als historischer, paradigmatischer Bezug für danach
entstandene Simulations-Hörstücke und im Grunde für jeden Entwurf einer Hörfunktheorie34.

Pause. ▌▌ Live-Bericht versus Bearbeitung von Material.

In The War of the Worlds wurden Live-Einspielungen, bzw. ihre Imitation eingesetzt und von
mir als eine Form von O-Ton gekennzeichnet. Eine Nähe von Live-Einspielung und O-Ton
ergibt sich aus der Gemeinsamkeit ihres nicht-fiktiven und atmosphärischen Charakters.

31 Heute erscheint zusätzlich faszinierend, dass die Simulation des Geschehens selbst live passierte. The War of the
Worlds wurde - wie die meisten Hörspiele der Zeit - von Schauspielern direkt vor den Mikrophonen gespielt und
zeitgleich ausgestrahlt.
32 Weitere Gründe, die zu den heftigen Reaktionen geführt haben, diskutieren Faulstich 1981, Schöning in
Schöning (Hg.) 1983, Crook 1999 .
33 vgl. Crook 1999, S. 118 ff. Auf weitere Werke, die in der Geschichte des Radios starke Hörer-Reaktionen
hervorriefen, weisen u. a. Crook (1999, S. 115 ff) und Faulstich (1981, S. 87 ff) hin. Bei einer Wiederholung der
Sendung Krieg der Wellen von Roland Schimmelpfennig (HR 2000) im DeutschlandRadio Berlin gingen im
Herbst 2003 etliche Anrufe von aufgeschreckten und verunsicherten Hörern im Innenministerium und in
Rundfunkanstalten ein: Sie nahmen die als live inszenierte Besetzung des Hessischen Rundfunks durch eine
Einheit der Bundeswehr für wahr. Das Vertrauen in die Vereinbarung über den dokumentarischen Charakter von
O-Ton, live oder aufgezeichnet, ist offenbar groß.
34 Werner Faulstich entwickelt seine Radiotheorie (1981) aus einer detaillierten Analyse dieses Hörspiels.
Seite 15 Julia Tieke, 03.02.2004
Jürg Häusermann stellt die Tendenz einer gleichzeitigen Zunahme sowohl der Verwendung von
O-Ton, als auch von Live-Einspielungen fest. Er schätzt die Entwicklung zur Live-Berichter-
stattung insofern als problematisch ein, als es für einen Journalisten schwierig leistbar sei, ein
Ereignis live unmittelbar zu interpretieren. Er spricht vom „Interpretationsdefizit der raschen
Live-Information”35. In dieser Erkenntnis liegen Aspekte einer Erklärung dafür, weshalb
inszenierter Live-O-Ton glaubwürdig erscheinen kann: Anders als bereits bearbeiteter O-Ton
deutet er auf ein zeitgleich zur Sendung stattfindendes Ereignis hin. Aufgrund seiner
Unmittelbarkeit ist etwa Ratlosigkeit von Reportern glaubwürdig. Außerdem ist die Überprüfung
des Geschehens durch einen Abgleich mit Informationen aus einem anderen Medium aufgrund
der hohen Aktualität nicht unbedingt möglich. Häusermann stellt vor diesem Hintergrund die Be-
deutung und den Vorteil von O-Ton heraus, den Journalistinnen die Möglichkeit zu geben, Inter-
pretationsmodelle für das akustische Material zu entwickeln und Hörerinnen anzubieten.

Insofern sind Live-Einspielung und eingebauter O-Ton zwar als zwei unterschiedliche radiospe-
zifische Elemente zu betrachten. Ihre Nähe zueinander ist jedoch durch den gemeinsamen Beleg-
und Verweischarakter, sowie durch ähnliche akustische Merkmale gegeben. Stop ■

4. Resümee
In Pitcher sind die O-Töne aus ihren ursprünglichen Interview- und Reportagezusammenhängen
dekontextualisiert und in einem fiktiven Erzählzusammenhang in neue Kontexte gesetzt.

Die erzählte Geschichte erhält ihre Spannung und Vielschichtigkeit dabei aus der Montage von
O-Ton und Studioaufnahme.

Walter Filz hat sich die Freiheit der Interpretation seines Materials genommen und das
dokumentarische Material ins Fiktionale gewendet. Durch diesen freien Umgang mit dem
Material, durch seine Aneignung und Umdeutung, werden mit dem O-Ton innerhalb des Stücks
inhaltlich zwei Erzählebenen realisiert:

A) Die O-Töne sind Bestandteil der fiktiven Handlung, indem die O-Ton-Akteure mit der im
Studio produzierten Figur durch Montage in einen Dialog treten.

B) Als erkennbare dokumentarische Elemente realisiert sich der Inhalt der O-Töne unmittelbar
35 Jürg Häusermann in diesem Band, S. 17.
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selbst, unabhängig vom Kontext der erfundenen Geschichte.

Walter Filz betont in Pitcher also nicht nur den Material-Aspekt von O-Ton durch eine radikale
Aneignung und Neucodierung, sondern nutzt auch den spezifischen Wirklichkeitsbezug von O-
Ton: Der im O-Ton präsente Verweis auf eine außerästhetische Wirklichkeit erzeugt hier einen
erzählerischen Mehrwert.

In Pitcher wird erfüllt, was Antje Vowinckel als charakteristisch für die Form der Collage
beschreibt: es wird ein Spannungsverhältnis von neuer und alter Funktion des O-Tons erzeugt.36

Durch die Material-Montage entsteht darüber hinaus eine dritte Erzählebene: das Hörspiel gibt
Auskunft darüber, wie der Autor das Stück produziert hat. Die hörbare Montage von O-Ton und
fiktiver Erzählung, die erkennbare unterschiedliche Ästhetik der Bestandteile, distanziert den
Hörer vom Geschehen. Die Methode selbst wird transparent, und der Hörer kann über die Kon-
struktion des Stücks reflektieren. Diese Erzählebene wird durch die einleitende Einführung der
Herkunft der O-Töne, sowie den erneut erläuternden „Abspann” unterstützt, käme aber auch
ohne diese Interpretationshilfen zustande.

Filz leistet in Pitcher also durch seinen spezifischen Umgang mit O-Ton-Material eine kritische
Reflektion der Konstruktion von Wirklichkeit im Medium Radio und ermöglicht dem Hörer,
diese selbst nachzuvollziehen.

36 Antje Vowinckel, a.a.O., S. 14.

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