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Helmuth Plessner

Gesammelte Schriften
Helmuth Plessner
Ausdruck und menschliche Natur
Herausgegeben von
Günter Dux, Odo Marquard Gesammelte Schriften VII
und Elisabeth Ströker
unter Mitwirkung
von Richard W. Schmidt,
Angelika Wetterer
und Michael-Joachim Zemlin

Neben der berühmten Studie zu Lachen und Weinen umfaßt dieser Band
eine Reihe wichtiger Arbeiten zur ästhetischen Anthropologie und an-
thropologischen Ästhetik, die Aspekten des menschlichen Ausdrucks, der
Mimik des Menschen, aber auch dem Lächeln, der Nachahmung und dem
nichtsprachlichen Ausdruck gewidmet sind.
Suhrkamp
Inhaltsübersicht

r. Zur Geschichtsphilosophie der bilde~den Kunst


seit Renaissance und Reformation (r9 r8 ) . . 7
2. Über die Möglichkeit einer Ästhetik (19 2 5) . 51
3. Zur Phänomenologie der Musik (r925) . . . 59
4. Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur
Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (r925). . . 67
. 5. Se~sibilite et raison. Contribution a la philosophie
de la musique (1936) . . . . . . . . . • . . . . . . .
Mit deutscher Zusammenfassung:
Zur Anthropologie der Musik (1951) • . . . . . . . . .
6. Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen
Bibliografische Information Der De.utschen ~ib~oth.ek
menschlichen Verhaltens (1941) . . . . . . . 201
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese PublikatiOn m der
Deutschen Nationalbibliografie 7. Zur Anthropologie der Nachahmung (r948)
http://dnb.ddb.de
8. Zur Anthropologie des Schauspielers (r948)
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1630
Erste Auflage 2003
9. Das Lächeln (r950)' . . . . . . . . . . . . .
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main..1982
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das}er Ubersetzung,
10. Ausdruck und menschliche Existenz (r957). 435
des öffentlichen Vortrags sowie der Ubertragung
II~ Der imitatorische Akt (r96r) . . . . . . . . 44 6
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form 12. Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks (r967) .
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) 459
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
r3. Die Musikalisierung der Sinne. Zur Geschichte eines
oder unter Verwendung elektrbnischer Systeme verarbeitet,
vervielfältigt oder verbreitet werden. modernen Phänomens (r972) 479·
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Umschlag nach Entwürfen von Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
Printed in Germany
ISBN 3-518-29230-7

I 2 3 4 5 6 - 08 07 06 05 04 03
Der imitatorische Akt~:­
(19 61 )

* Zur Druckgeschichte der Arbeit vgl. unten S. 494.


Nachahmung ist ein Monopol des Menschen. Zwar zitiert man
Papagei und Affe, wenn es sich um mehr oder weniger sklavisches
Wiederholen von Wortverbindungen und Gesten handelt, und das
Nachäffen ist eine beliebte Kategorie, um das Imitatorische
schlechthin abzuwerten. Doch herrscht darüber Einverständnis,
daß beispielsweise die vielfach beobachtete Echolalie bei Vögeln
nur als Miterregung und sympathetischer Nebeneffekt auftritt. Ei-
ne imitatorische Leistung, die wiederum sehr begrenzter Art ist -
es werden keineswegs alle Vogelstimmen nachgemacht und auch
nicht beliebig viele andere Laute, zumal die Modulationsbreite der
eigenen Lautgebung gering ist -, müßte einen erkennbaren Platz
im biologischen Funktionsplan des Tieres einnehmen. Sie müßte
als Mittel etwa der Lockung oder der Einschüchterung, als Impo-
niergehabe gegenüber dem Vorbild nachweisbar sein. Selbst das ist
bis heute nicht gelungen. Wenn solcher Nachweis aber doch ein-
mal gelänge, bliebe immer noch zu bedenken, ob der imitatorische
Effekt bei einem Tiere, das nicht über Sprache und Werkzeugher-
stellung verfügt, auf einen imitatorischen Akt zurückzuführen ist,
der echte Vergegenständlichung von Eindrücken in sich schließt.
Für die vielfach in Horden lebenden Affen wiederum gilt neben
der starken Miterregbarkeit des Herdentieres die leichte An-
sprechbarkeit für menschliche Bewegungen auf Grund des glei-
chen Körperschemas. Was Antwortreaktion ist, sieht dabei oft wie
Nachahmung aus. Ein amerikanisches Ehepaar ist. der Sache mit
einem heroischen Experiment nachgegangen, hat ein Schimpan-
senbaby zu sich ins Haus genommen, das so alt war wie ihr eigenes
Kind, und beider Entwicklung beobachtet. Der Affe nahm eine
ganze Menge menschlicher Gewohnheiten an, schlief im Bettchen,
lutschte am Daumen, lernte am Tisch sitzen und sich im Spiegel
beobachten. Frau Hayes erzählt, der Schimpanse habe sich sogar
vor dem Spiegel mit einer Zange einen locker sitzenden Zahn ge-
zogen. Aber die rascher als bei ihrem Baby verlaufende Entwick-
45 0 Der imitatorische Akt Der imitatorische Akt

lung kam über ein bestimmtes Niveau nicht hinaus. Sein an sich Um dem Wesen der Nachahmung auf die Spur zu kommen, muß
begrenztes Material von Phonemen erfuhr keine merkbare Beein- man den umgekehrten Weg gehen .und nuancieren. Daß Nachfol-
flussung durch die menschliche Lautgebung. Das Tier bildete kei- ge, imitatio.im Sinrie geistigen Nachlebens, dem Menschen vorbe-
ne Worte, es lernte nicht sprechen,. Der elementarste Lernvorgang halten ist, verSteht sich von selbst. Sie kann mit Nachahmu.ng des
durch Nachahmung auf Grund des Verständnisses von Worten Vorbildes verbunden sein. Aber sie muß es nicht. Der Epigone
blieb ihm versagt. bleibt in der Linie seines Meisters, er setzt sein Werk fort und kann
Gut, wird man sagen, aber das ist schon reichlich hoch gegriffen. dabei ein beträchtliches Maß von Originalität beweisen. Daß er
Muß Nachahmung notwendig mit Verständnis des Vorbildes ver- sich durch das Vorbild prägen läßt, bewirkt zwar eine Angleichung
knüpft sein? Gibt es nicht bei Tieren eine Fülle von imitatorischen im Stil, in der Diktion, bisweilen auch in Haltung und Gebärde-
Vorgängen, für welche Verständnis, jedenfalls im· menschlichen wir kannten noch die Pianisten aus der Liszt-Schule oder die Ge-
Sinne, nicht nötig ist? Macht die Vogelmutter den Jungen nicht zu orgianer-, aber Nachmachen, so wie einer den Tonfall eines ande-
gegebener Zeit das Fliegen vor? Haben nicht viele Tiere Nestbau, ren nachmacht, ist das an sich noch nicht. Nachahmung in Nach-
Beschleichen und Bespringen einer Beute ihren Eltern abgeguckt? folge eines Vorbildes beruht, im Unterschied zu dieser über einen
Selbst wenn solche Lernprozeduren nicht über ein spezifisches Akt der Distanzierung von ihm verlaufenden und bezeichnender-
Sinnverstehen laufen sollten - und dafür spricht manches -, darf weise stets g,elegentlichen Imitation, auf einem Akt der Identifika-
man nicht doch die Nachahmung an unmittelbare sympathetische tion. Der Teenager nimmt die Haartracht und den Habitus seines
Erregungen angeschlossen denken, die man Tieren gewiß nicht Filmidols an. Wilhelms Schnurrbart fand sich als noch gesunkene~
absprechen wird? Gibt es nicht auch beim Menschen Nachahmung res Kulturgut auf den Gesichtern von Reserveoffizieren und biede-
ohne Verständnis, zwanghaftes Annehmen von Tonfall und Ge~ ren Zwölfendern wieder, Hiders Chaplinfliege wurde zum Treue-
bärden? Warum lernen Kinder so rasch eine fremde Sprache? zeichen von Kreisleitern, Blockwarten und sonstigen Hoheitsträ-
Imitation, ein weiter, zu weiter Begriff, der vom Nachahmen bis gern. Löst sich die personale Bindung aber wie etwa beim offen zu
zur Nachfolge reicht, hat eine lange Geschichte und spielte von tragenden untersten Westenknopf, den Eduard VII. - wohl aus
jeher in den ·Wissenschaften vom Menschen eine große Rolle. Vor Gründen seiner Korpulenz - einführte,. dann schlägt die imitatio in
allem: Biologie und Psychologie konnten ihn'"gebrauchen. Ge"' den Konformismus der Mode um ..
wohnheitsbildung, Lernvorgänge, Entstehung von Tradition, aber Nachahmung als Reproduktion im technischen Sinne, auf Objekte
auch von Mode, der für alle Vergesellschaftungsprozesse wesentli- bezogen, ist wieder eine Sache für sich. Sie hält sich streng an die
che Vorgang der Einpassung des einzelnen in vorgegebene Verhal- Vorlage; Original und Kopie sollen zum Verwechseln ähnlich wer-
tensmuster kommen ohne die Mechanismen der Imitation nicht den, und da es .sich dabei immer um intelligente Handfertigkeit
aus, und G. Tarde, ein französisoher' Soziologe des ausgehenden handelt, um Geräte, Kunstwerke, Schmuck, steht auch hier das
19. Jahrhunderts, hat ihr denn auch entscheidende·Bedeutung.für menschliche Monopol nicht in Frage.
die Gestaltung menschlichen und tierischen Verhaltens zugespro- Weniger einfach liegen die Dinge im Bereich der Mimik und Ge-
chen. Sogar ein Historiker wie Taine sah in der Imitation ein Se- stik. Zweifellos gibt es hier auch beim Menschen ein Erfaßt- und
sam~öffne-dich, ein Schlüsselwort für alle Erscheinungen von Geprägtwerden durch den Habitus seiner Mitwelt, eine Übertra-
»Wiederholung«, unter die sich dann allerdings geistige, seelische, gung, wie wir sie bei Tieren kennen. Man spricht das Idiom seiner
organische und anorganische Vorgänge zwanglos subsumieren las- Heimat, ohne es nachzuahmen, obwohl man den Grundstock der
sen, die miteinander nicht mehr das mindeste gemein haben. Muttersprache einmal offensichtlich mit imitatorischen Spiel- und
Der imitatorische Akt Der imitatorische Akt 453

Probierbewegungen erworben hat. Ist dieses Stadium lautlichen Einsicht auf der Spur, so geringfügig die' Erscheinungenauah aus-
Durchprobierens und Reprocluzierens· für die menschliche Posi~ sehen mögen, an denen wir sie demonstrieren. Denn mit Geist
tion schon höchst charakteristisch, so. zeigt die weitere Entwick- haben Grimassenschneiden und Nachmachen, auf;den ersten Blick
lupgdes Kindes sehr bald den Sinn für und das ,verlangen nach jedenfalls,' nichts zu turi. Nur eines ist sicher: Tiere können sich
mimisch-gestischer Reproduktion des anderen. Wie dieser zu spre- nicht »verstellen«. Mimikry und Totstellreflex sind teils· Anpas-
chen und sich zu bewegen, braucht noch keineswegs boshaft ge- sungserscheinungen, teils spontane .Reaktionen auf Gefahr. Der
meint zu sein. Der Spaß an der Verdoppelung, an der Übertragbar- i .. Spinner an der Kiefernrinde macht sich nicht seinem Untergtunde
keit des losgelösten Tonfalls, der Art zugehen, ist sich seIhst ge- gleich, und die Krabbe tUt nicht so, als ob sie nicht da wäre. Man .
nug. Meistens erst in der Schulsituation begreift man, daß man sich sollte jeaochan dieser offensichtlichen Grenze zwischen tierischen
damit zugleich »über« den anderen amüsiert. Denn der Imitator und menschlichen Möglichkeiten nicht - wa$ naheliegt _. gleich
übt an der Figur seines Vorbildes ein merkwürdiges Subtraktions- den vielsagenden Begriff der Vernunft berufen. Vernunft wird als
und Übersetzungsverfahren, das dem der, Karikatur gleicht; auch ein Können' spezifisch rationaler Art verstanden. Dazu gehören
wenn ihm karikierende Absicht fernliegt. An dieser Unweigerlich- Nachahmen und »Tun als. ob« von sich aus nicht, auch wenn sie-
keit des imitatorischen Effekts hängt es übrigens, daß mau dem beim Menschen, der freilich allein über sie verfügt- oft. in den
Imitator offene oder geheime, bewußte oder unbewußte·Feindse- Dienst rationaler Erwägungen gestellt werden. Deshalb sind die
ligkeit gegen sein Original zutraUt. Der Lehrer ist ein dankbares außerrationalen Verhaltensweisen der Imitaci;on tiefer, das heißt in
Objekt"weil er auf der Klasse lastet. Kriegt einerihn imitatorisch der Daseihsstruktur beim MeRschen anzusetzen, die seiner gesa'lll~
in den Griff, haben alle das Gefühl, irgendwie seiner Herr gewor- ten Vitalität ihr' Gepräge gibt. Wirsincl rucht nach dem Modell des
deilzu sein. Stereotypien und Automatismen an'seinem Benehmen Zentauren konstruiert - tierisches Triebwasen plus Intellekt und
sind dabei die dankbarsten Anhaltspunkte. tilotalischePerson -, sondern; wiewohl gebrochen, aufgebrochen,
Mir ist aber durchaus nicht sicher, daß das Vergnugen an derAg- aus einem Guß.
gression den Hauptirnpuls des Imitietens bildet. Das Schauspiell'!rn Nachahmen und Sicherstellen :müssen Von der körperlichen Si~
als solches macht Spaß,. einfach weil es dabei um Verkörperung tuation des Menschen her gesehen Wierden, seinem VerhältI1is zum
geht. Sich benehmen wie .... , tun als ob ... , macht dem Menschen eigenen Leib, ··zu sich und den anderen. Insofern diese Situation
sein Verhältnis zum eigenen Leib erst gegens,tändlich. Normaler- durch· innere ,blstanz und prinzipielle Rückzugsmöglichkeit .ge~
weise hat das Verhältnis instrumentalen Charakter, im praktischen kennzeichnet ist, macht sie Jeden. zu eittem Doppelgänger seiner
Umgang; im <expressiv vermittelten Kontakt zu anderen. Die selbst. Nicht unbedingt im: Sinne einer ,"on vornherein immer und
Imitation dagegen wirft uns auf unseren Leib als solchen, auf unser überall garantierten Abgegrenzthei'tOseiner Intim~ und Privatsphä-
Gesicht, unsere Haltung, unsere Art zu sprechen zurück. Sie ent~ re gegen seine öffentliche Figur, oder wie C; ,G. Jung sagen würde,
deckt die Maske an unserer Art zu sein. Deshalb schneiden Kinder seiner Anima gegen seine· Persona, denn diese' Grenze verläuft
°

so gern Gesichter und sind für jede Clownerie das dankbarste offenbar ·in verschiedenen Kultursystemen je nach Umfang und
Publikum., Wir stecken eben »in« uns und sind »hinter« unserer Art ihrer Individualisierungs- und Verirmerlichungsmöglichkeiten
eigenen Oberfläche. Die Freude am Sichverstecken,an der Verstel- ganz verschieden. Nur die Doppelgängetstruktur als solche hält
lung und an der Verkleidung haben also' die gleiche WUfzel wie der sich überall durch. Das zeigt sich am Namen; Durch ihn wird der
Drang Zur Imitation. einzelne einer Rolle überantwortet~ Er ist wer, weil er so heißt. Im
Man ist damit, wie mir' scheint, einer echten anthropologischen Namen hat der soziale Verband von ihm Besit2J-l~rgriffeb: und ihn
454 D!!r imitatorisch!! Akt Der imitatorische Akt 45$

zum Ang!!hörigen einer Sippe gemacht, ihn unter den Schutz der zu sein. Deshalb entspricht die Verkleidung dem,was wir Verkör-
Vorfahren, des Gottes, des Heilig!!n oder Helden gestellt. So ist er perung nannten, die uns im imitatorischen Akt bewußt wird. Daß
vielleicht der Wiedergekehrte, der Neuerstandene, »ein Abraham, das eine mit dem anderen sich oft verbindet, um die Lebendigkeit
ein Eliezer«. Allenfalls in späten Kulturen wie der unsrigen, für der Imitation zu erhöhen, versteht sich von selbst. Aber als Ver-
welche die Nominierung fast nur noch dem äußerlichen Zweck kleidung ist sie von solcher Verbindung unabhängig. Das L)ienst~
verwaltungsmäßiger Identifizierung dient, kann der einzelne sich kleid, der Tahir, die Uniform als Rollenzeichen dienen dann dem
einbilden, mit sich allein zu sein. Dafür hat ihn die Öffentlichkeit sozialen Dimensionsgewinn.
mit anderen Rollenfiguren um so stärker im Griff. Wo aber liegen die Grenzen der Verkleidung, wann geht sie in
Es handelt sich, wenn man den bisher behandelten Komplex über- Verwandlung über? Die Frage wird schon durch die Imitation
sieht, um ein Gefüge, dessen verschiedene Seiten aufeinander hin- nahegelegt, die einen Verwandlungsprozeß suggeriert, wenn nicht
weisen. Vom Nachahmen gingen wir aus, welches im gleichen sogar einleitet. In der Verwandlung selbst aber haben wir ein we-
Sinne wie das Sichverstellen dem spezifisch menschlichen Verhält- sentliches Element der schauspielerischen Aktion vor uns, die sich
nis zum eigenen Leib, der Verkörperung, entspringt. Sie entzieht imitatorischer Mittel bedienen wird, wenn es die Rolle verlangt, im
und verbindet von vornherein den Menschen mit sich als Leib ...; übrigen jedoch nicht an sie gebunden ist.
und nun müssen wir sagen: auch als denjenigen, welcher diesen Von »Verkleidung« als Mittel des Dimensionsgewinns kann aller-
Leib besitzt. Als Träger dieses Leibes wird er angesprochen, wenn dings korrekt nur da gesprochen werden, wo der Rollenträger
er einen Namen bekommt und damit zum Träger einer Rolle,. das seine Beziehung zur Rollenfigur immer noch erkennen läßt und
heißt in einen sozialen Zusammenhang hineingestellt wird. Inso- mit zur Darstellung bringt; wo die Zuschauer eine derart durch-
weit greift Verkörperung notwendigerweise über die somatische scheinende Verkörperung durch ihn erwarten. Selbst Gesichtsmas-
Sphäre hinaus. Weil wir »in« uns stecken und »hinter« unseren ke oder Vermummung der ganzen Gestalt in vorgeschriebenen
Oberflächen sind, gehören wir einem Miteinander an. Dies Mit- Figuren von Tieren· und Dämonen etwa schließt solche Erwartung
und Füreinander nimmt nun wieder eine radikale Relativierung an bekanntlich nicht aus, weder bei den klassischen Theatern archa-
unserer Position vor, weil es sie einer durchgehenden Rückbezüg- ischer Prägung noch bei den kultischen Spielen der Primitiven.
lichkeit aller Perspektiven~unterwirft: Ich stehe einem Du gegen- Aber der Verfremdungseffekt des Versteckspiels mit der Verklei-
ü\;>er wie dieses mir. So gehören beide einer übergreifenden Sphäre dung muß sich natürlich steigern, wenn die Maske fällt und,das
de~ Wir an, die zwar nicht die Individuen, wohl aber ihre Positio- Gesicht, den Körper freigibt. Nun erst ist die Möglichkeit zur
nen insoweit annulliert, als sie ihre gegenseitige Austauschbarkeit Variation im Typus und in der Charakterisierung gegeben, nun erst
zum Ausdruck bringt. Vor solchem Hintergrund erhält die einzel- bildet sich die Spannung zwischen natürlicher und imaginierter
ne Rolle erst ihren scharfen, sozial relevanten Umriß. Person. Als Verlcleidung im Modus der Entkleidung bedarf sie der
Die gleichen Zusammenhänge zeigen sich an den.Phänomenen des Stilisierung nach einer bestimmten Vorstellung von Idealität,Le-
Kleides und der Insignien, welche die soziale Rolle markieren. Sie benswahrheit, Natürlichkeit oder appellierender Eindringlichkeit
hat der Religionswissenschaftler van der Leeuw vor Augen, wenn und Distanz. Die europäischen Bühnen haben, je nach dem Ge-
er sagt: Im Kleid steckt die ganze Anthropologie. Denn die Korre- wicht ihrer nationalen Tradition, entsprechende Stilepochen ge-
late des Kleides sind die Nacktheit - für die anderen wie für mich - kannt. Auch ihre letzte große Dramaturgie, diejenige Brechts,wel-
und die Rolle. Nacktheit aber bezeichnet den Tatbestand der ehe den zeigenden Schauspieler fordert, negiert keines,wegs die
menschlichen Position, »hinter« den Oberflächen meines Leibes Linie der entkleidenden Verkleidung, wenn sie auf sie reflektiert
Der imitatorische Akt Der imitatorische Akt 4S?

und ihre didaktische Mittlerfunktion zum Leitbild macht. Im Ge- etwa im Unterschied zu einem chamäleontischen Schauspielertyp
genteil: Brechts Absage an alle traditionellen Verfügungsmethoden wie Werner Krauss - immer nur sich selber spielt.
illusionärer Art, seine Abwehr insbesondere des psychologischep. Mit den höheren literarischen Möglichkeiten der Bühne, hat diese
Realismus spätbürgerlicher Genießer-Haltung verbindet. sich bei Differenz nichts zu tun, sondern sie ist durch den ihr wesensgemä-
ihm mit der Forderung nach einem neuen Stil der Verfremdung, ßen Zwang zur Imagination bedingt. Sie macht es dem Zuschauer
der wahrscheinlich der oratorischen Spielweise des Barock und der möglich, den Verwandlungsprozeß als solchen zu genießen. In ihm
deklamatorischen der Goethezeit näher steht, als die revolutionäre bleibt ständig jenes koboldische Element spürbar - einerlei ob zu
Selbstinterpretation seiner Forderung ahnen läßt. tragischem oder komischem Zweck -, aus dem die komödiantische
Verfremdung im Sinne Brechts ist ein bestimmter Stilbegriff. »Ver- Aktion ihre Kraft, ihren heimlich-unheimlichen Spaß gewinnt, ein
wandlung« meint dagegen etwas Elementares, das die schauspiele- Element, das uns in den Wildformen vorliterarischer Schauspiele-
rische Aktion als solche zu verwirklichen hat, welchem Stil sie sich rei gelegentlich sogar das Gruseln lehren kann.
au~h verschreibt. Die Figur, die der Schauspieler auf die Beine
stellt, muß leben und glaubhaft wirken, aber sie muß - und darin
scheint mir eine der Bühne vorbehaltene Möglichkeit zu liegen -
darüber hinaus dem Zuschauer das Bewußtsein vermitteln, daß
emer dieses Leben spielt und die überzeugende Selbstläufigkeit
dieses Lebens da oben auf der Szene dem ständigen Verwandlungs-
prozeß eines Schauspielers entspringt. Das kann der Film nicht,
weil die Photo graphie das Resultat eines Vorgangs fixiert, der sich:
bei der Aufnahme abgespielt hat, nicht aber diesen selbst in statu
nascendi erwischt. Wir haben Realität vor Augen - .denn durch
seine Rahmenlosigkeit und den Mangel szenischer Begrenzung soll
sich das bewegte Bild als Bild für den Zuschauer vergessen machen
und ihm die unvermittelte Illusion des Dabeiseins, des Beobach~
t.ens und Mitgehens in der Realität gewähren. Die Bühne dagegen,
besonders nachdrücklich die Guckkastenbühne, setzt uns vor das
Bild und gibt uns vermittelt Wirklichkeit. Der als Gasmann oder
Bruchpilot photographierte Rühmann enthebt uns dieser Doppe-
lung und läßt uns nur an Wirklichkeit teilnehmen, die mit der
unseres Parkettstuhls zwar gleich, ihr aber gleichgültig ist, weil wir
als Zuschauer nicht mehr gefragt sind. Der Film hat nur Auge und
Ohr als Wahrnehmungsorgane sich gegenüber, darauf hat schon
Dagobert Frey in seinem Aufsatz über das Realitätsproblem des
Schauspiels (»Zuschauer und Bühne« in »Kunstwissenschaftliche
Grundfragen«, Wien '1946) hingewiesen. Rühmann auf der Bühne
hat eine Dimension mehr als im Film, einerlei ob er dort wie hier:-
494 Editorische Notiz Editorische Notiz 49.5

sophical Essays (offeredto Congress Members by the United Zum Text


Philosophical Societies in the Netherlands - Amsterdam, August
!I-I8, I948), Amsterdam I948, S. 99-I06. (Nebentitel: Library of Zur Drucklegung der Aufsätze wurde jeweils die jüngste dero. g.
the xth International Congress of Philosophy, Vol. II) (Nebentitel: Vorlagen benutzt. Orthographie und Interpunktion wurden - wo
Congres international de philosophie IO,2). nötig - revidiert und heutigen Maßstäben angepaßt. Einzelne Zi-
Zur Anthropologie des Schauspielers. Zuerst in: Festschrift für tationsversehen sind stillschweigend berichtigt worden; die Zitat-
H. J. Pos, Amsterdam I948, S. 208-223. Aufgenommen in: nachweise und Literaturangaben des Autors wurden ggf. erwei-
H. Plessner, Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte tert. Die Herausgeberanmerkungen sind mit " gekennzeichnet.
Abhandlungen und Vorträge, Bern I9>3, S. I80-I92, Neuauflage Die kursiv und gesperrt gesetzten Wörter und Passagen bezeich-
'Ffm I979 (Suhrkamp-Tb 544) S. 205-2I9. nen ebenso wie die Klammerungen im Text (runde und eckige
Das Lächeln. Zuerst in: Pro regno et sanctuario. Festschrift für Klammern) des Autors eigene Hervorhebungen.
G. van der Leeuw, Nijkerk 1950, S. 365-376. Aufgenommen in:
H. Plessner, Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Ein Gesamtinhaltsverzeichnis ist für Band IO der Gesammelten
Abhandlungen und Vorträge, Bern 1953, S. I93-203. Neuauflage Schriften vorgesehen.
Ffm 1979 (Suhrkamp-Tb 544) S. 220-232 (Druckvorlage). Außer-
dem in ders., Philosophische Anthropologie, hg. und mit einem
Nachwort von G. Dux, Ffm (S. Fischer) 1970, S. 173-I86.
Ausdruck und menschliche Ex:istenz. Erschienen in: Wissenschaft
und Weltbild. Vierteljahresschrift für die Grundlage der For-
schung, Wien/München Band 10 (1957), H. 3, S. 178-84.
Der imitatorische Akt. Zuerst in: TheateriWahrheitlWirklichkeit-
Festschrift für Kurt Hirschfeld zum 60. Geburtstag, Zürich I96r.
Aufgenommen in: H. Plessner, Diesseits der Utopie. Ausgewählte
Beiträge zur KultursoziolQgie. Düsseldorf/Köln I966, S. 173~I80,
Neuauflage Ffm 1974 (Suhrkamp-Tb 148), S. 173-180.
Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks. Erschienen in:
H.-G. Gadamer (Hg.), Das Problem der Sprache (Akten des
8. Deutschen Kongresses für Philosophie in Heidelberg 1966),
München 1967, S. 555-566.
Die Musikalisierung der Sinne. Zur Geschichte eines modernen
Phänomens. Erschienen in: Merkur, 26. Jahrgang (I972), S. 837
bis 845.

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