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Grundkurs Soziobiologie (4)

Das Doppelgesicht der Moral

Von Eckart Voland

Die Gruppenmoral auf der Bühne der


Evolution

04. Juli 2006


Es ist ein Mißverständnis anzunehmen, daß das biologische
Evolutionsgeschehen auf Grund seiner ihm eigenen Funktionslogik gar
nicht anders kann, als die naturgesetzliche Konkurrenz der Gene nur in
einer offenen, aggressiven Konkurrenz der Individuen auszutragen. Daß
der „struggle for life“ gelegentlich auch ziemlich blutig geführt wird, kann
nicht bestritten werden, aber entgegen allen, nicht zuletzt durch
historische Irrlehren gespeiste Intuitionen, ist Evolution ein viel
freundlicherer Vorgang.

Sie fördert, wovon schon mehrfach die Rede war, auch Kooperation,
Barmherzigkeit und alle anderen Verhaltensweisen, die nach unserem
Alltagsverständnis jene Moral ausmachen, die zu fördern und mehren als
vornehmstes Ziel aller Werteerziehung verstanden wird. Das Gute konnte
sich evolutionär behaupten, weil es sich, im Mittel und auf Dauer
jedenfalls, für die Genprogramme auszahlte. Die Moral kennt keine
Verlierer - oder doch?

Fomenta, de lo que ya se ha hablado varias veces, también la


cooperación, la misericordia y todos los demás comportamientos que,
según nuestro entendimiento del día a día, constituyen tal moral, los que
hay que fomentar y aumentar como el fin de toda educación en valores
que nos propongamos. Lo bueno puede imponerse como evolucionista,
porque vale la pena, sea como sea, de principio a fin, para la
programación de los genes. La moral no conoce a ningún perdedor... ¿o
sí?

Die Differenzierung der Tugendhaftigkeit

La diferenciación de la virtud
Unser zweites Gesicht

Man braucht nicht viel Fantasie, um sich evolutionäre Szenarien


auszumalen, aus denen eine Solidaritäts-Moral als Gewinnerstrategie
hervorgegangen sein könnte. Schließlich dürfte das Leben unserer
Vorfahren durch allerlei existenzbedrohende Widrigkeiten begleitet worden
sein, deren Meisterung nur durch Solidarität gelang. Man denke nur an
das sich alltäglich neu präsentierende Problem des Satt-werden-wollens,
und in der Tat belegt anthropologische Feldforschung, wie sich in
naturnahen Völkern Nahrungsteilung als „win-win“ Situation präsentiert
und damit wohl einen Kristallisationskern solidarischer Moral bildet.

No hace falta fantasear demasiado para imaginarse escenarios


evolucionistas de los que se desprenda una moral de solidaridad como la
estrategia ganadora. Al final, la vida de nuestros antepasados siempre ha
ido acompañada por toda un abanico de adversidades en contra de la
existencia cuya solución solo se alcanzó por medio de la solidaridad. Todos
los días se piensa solo en los nuevos problemas que se nos presentan de
querer estar satisfecho y los estudios antropológicos demuestra cómo la
división de los alimentos se presenta como una situación en la que todos
ganan en pueblos cercanos a la naturaleza y con ello, probablemente, se
construye un núcleo de cristalización de la moral de la solidaridad.

In der Geschichte des Menschen werden die Überlebensprobleme


allerdings durch ein weiteres vermehrt. Es ist die Bedrohung des
Menschen durch den Menschen. Unsere Menschenaffen ähnlichen
Vorfahren wurden im Laufe ihrer Geschichte die ökologisch dominanten
Kreaturen ihres Lebensraums, und in dem gleichen Maße, wie der
Wettbewerb mit anderen Arten um dieselben Nahrungsquellen abnahm,
wuchs der Wettbewerb zwischen verschiedenen sozialen Gruppen
innerhalb derselben Art. Nicht daß Hunger und Bedrohung durch
Raubfeinde und Parasiten keine bedeutende Rolle mehr spielten, aber ein
weiteres, mindestens genauso drückendes Problem trat hinzu.

En la historia del hombre, sin embargo, los problemas por la supervivencia


han ido creciendo progresivamente. Es la amenaza de los hombres hacia
los propios hombres. Nuestros tan parecidos antecesores primates se
convirtieron en el discurrir de su historia en las criaturas dominantes del
ecosistema de sus espacios vitales y de la misma forma, y como la
competencia con otras especies por las mismas fuentes de alimento
disminuyó, aumentó la competencia entre distintos grupos sociales de la
misma especie. No es que el hambre y el peligro a los ladrones no
tuvieran un papel importante, sino que tenían otro problema adicional,
como mínimo, tan depresor, que les acechaba.

Die
Schimpansenforscherin
Jane Goodhall

Es bestand in der ständigen Konkurrenz autonomer Gruppen um


ökologische Vorteile. Lebenschancen waren nicht nur knapp, weil Mutter
Natur mit ihnen geizte, sondern sie waren auf einmal auch knapp, weil sie
einem von der Nachbargruppe streitig gemacht wurden. Bevorteilt in
dieser Konkurrenz waren jene Gruppen, die über eine effiziente
Binnenmoral verfügten, weil dies ihre Stärkung nach außen ermöglichte.
Damit erfuhr Tugendhaftigkeit eine weitere Differenzierung: Gruppenmoral
trat auf die Bühne der Naturgeschichte.

Había una ventaja a nivel ecológico en la constante concurrencia de


grupos autónomos. Las posibilidades de vivir no solo eran escasas porque
la Madre Naturaleza se ensañaba con ellos, sino que fueron de golpe
escasas porque disputaban con alguno de los grupos vecinos. Los que se
veían favorecidos por esta concurrencia eran aquellos grupos ordenados
según una mentalidad fluvial, porque esto hacía posible su fortalecimiento
de cara al exterior. Con ello, la virtud les hacía experimentar otra
diferenciación: la moral del grupo actúa en el escenario de la historia de la
naturaleza.

Die Mentalität der „Deschimpansierung“

La mentalidad de la „deschimpancización“

Freilich ist Zwischengruppenkonkurrenz keine Erfindung des Homo


sapiens. Die Schimpansenforscherin Jane Goodall beschrieb für unsere
Vettern das, was in Anwendung auf den Menschen als Krieg bezeichnet
wird. Die Vokabel „Krieg“ ist durchaus für die Schimpansenverhältnisse
gerechtfertigt, weil sich auch dort eine Psychologie offenbart, wie sie
ansonsten für das menschliche Kriegsgeschehen typisch ist. Getragen von
einer inhärenten Affinität zu Gewalt verfolgen die Gegner (vorzugsweise
die Männer benachbarter Gruppen, kaum Frauen) ganz offensichtlich
Tötungsabsichten und setzen diese mit äußerster Brutalität um. Es geht
nicht, wie sonst im Tierreich, um die bloße Vertreibung der Konkurrenten,
sondern um deren unbarmherzige Vernichtung.

Pero la concurrencia entre grupos no es un invento de los Homo Sapiens.


La investigadora de chimpancés Jane Goodall describió para nuestros
parientes aquello que se calificaba como guerra en la práctica para con los
hombres. El término „guerra“ no está para nada justificado en el ambiente
de los chimpancés, ya que también se pone de manifiesto una psicología,
que es típica para las situaciones de guerra que se dan entre los hombres.
Los adversarios (preferentemente los hombres de los grupos vecinos, casi
nunca mujeres), llevados por una inherente afinidad con el poder,
persiguen aparentemente matar como un fin en sí mismo y lo materializan
con una brutalidad extrema. No se trata, como es habitual en el reino de
los animales, de la mera expulsión de los concurrentes, sino de su
aniquilación sin piedad.

Jane Goodall spricht von einer Mentalität der „Deschimpansierung“ und


zieht damit die Parallele zur „Dehumanisierung“ des menschlichen
Gegners. Die mentale Ausgrenzung des Gegners aus dem eigenen
moralischen Kosmos vermindert bekanntlich Tötungshemmungen, und
dies gelingt nur, weil aus den Grundüberzeugungen der eigenen Moral die
epistemische Gewißheit des eigenen Gutseins erwächst, dem das Nicht-
Gutsein der Anderen gegenüber steht. Es gibt offensichtlich einen
evolutionären Ursprung für das, was auch und untrennbar mit der
menschlichen Moral verbunden ist: Ihre Doppelgesichtigkeit. Schimpansen
sind deren vormenschliche Zeugen.

Doppelte Moral ist kein Unfall der Evolution, kein Erbschaden also,
sondern zwangsläufiges Ergebnis eines an sich einfachen
Zusammenhangs: Je kooperativer Gesellschaften sind, je enger ihre
Mitglieder durch eine sie verpflichtende Binnenmoral zusammengehalten
werden, desto kampfesstärker vermögen diese nach außen hin
aufzutreten. Moral wird erst dann als Moral verstanden, wenn sie einen
Feind, gleichsam einen lebenspraktischen Gegenentwurf zu sich selbst
konstruiert. Es ist deshalb auch kein Zufall, daß die lautesten Moralisten
nicht anders können, als immer wieder Feindbilder zu schüren und Kampf
gegen die Anderen für das vermeintlich Gute und Gerechte zu predigen.

Die Verlierer der Moral

Moral tritt deshalb zwangsläufig als Doppelmoral in Erscheinung, weil sie


gerade und vor allem in sozialen Auseinandersetzungen mit anders
Interessierten zur Gewinnstrategie wird. Je höher die Binnenmoral, desto
zusammenhängender die Gruppen, und desto größer das
Durchsetzungsvermögen nach außen. Es sei ein Naturgesetz, ein Gesetz,
demgegenüber wir alles andere als immun sind, räsonierte der Publizist
Matt Ridley, daß je kooperativer Gruppen sind, desto gewalttätiger die
Kämpfe zwischen ihnen ausfallen.

Und der amerikanische Zoologie George Williams formulierte einmal in der


für ihn typischen zynischen Art, daß die Präferenz für eine Gruppenmoral
nichts weiter heißt, als den Völkermord dem einfachen Mord vorzuziehen.
Soziobiologie ist jedenfalls in dieser Hinsicht perfekt anschlußfähig an das,
was der alte Freud immer schon wußte: Es ist leicht möglich, eine größere
Menge Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die
Äußerung der Aggression übrig bleiben.

Es gibt sie also doch, die Verlierer der Moral. Es sind zunächst die
geschlagenen Feinde, die Sündenböcke, die Anderen, und es sind die
Binnenopfer der Moral, die damit persönlich den Preis für die Stärkung der
Gruppe bezahlen. Die evolutionär in Zwischengruppenkonflikten geformte
Psyche, die immer wieder Heldenhaftigkeit und die diese tragende
doppelte Moral produziert und belohnt, stellt eine ziemlich hohe Hürde auf
dem Weg zu einem friedvollen Miteinander der Völker dar. Sollte man
angesichts dessen nicht vielleicht neben Programmen zur Sucht- und ,
Gewaltprävention auch Programme zur Moralprävention auf den Weg
bringen? Denn Kooperation und Fortschritt der menschlichen Gesellschaft
sind eben gerade nicht das Ergebnis von Tugend, sondern resultieren aus
der Verfolgung von aufgeklärten Einzelinteressen.

Bildmaterial: F.A.Z., picture-alliance / dpa, picture-alliance/ dpa

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