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JG.

42/10-11, OKTOBER-NOVEMBER 1987

! Österreichische
Musik
Zeitschrift
Gegründet vori Dr. Peter Lafite

GLUCK IN WIEN Gerhard CrolI

Ein internationaler Giuck-Kongreß - es ist der erste Gluck gewidmete Kongreß überhaupt -
findet in d e r z e i t vom 11. bis 16. November 1987 in Wien statt, veranstaltet von der Gesellschaft
der Musikfreunde (als Hausherr und Gastgeber), der Österreichischen Gesellschaft für Musik-
wissenschaft und der (1986 in Wien gegründeten) Internationalen Gluck-Gesellschaft. Das
Generalthema des Kongresses lautet „Gluck in Wien" (genaues Programm siehe S. 504).

Gluck ist am 15. November 1787 nachmittags, nach einer von seinem Haus in der
Wiedner Hauptstraße aus unternommenen Spazierfahrt und einem dabei erlittenen
Schlaganfall, im 74. Lebensjahr gestorben. Er war - für damalige Zeiten in hohem
Maße - das, was Leopold Mozart schon fünf Jahre zuvor mit einer rhetorischen Frage
seinem Sohn Wolfgang Amadeus gegenüber so ausgedrückt hatte: und ist nicht
Gluck auch ein alter Mann!?"
Mehr als ein halbes Jahrhundert liegt zwischen Glucks erster Ankunft und seinem Tod in
Wien. Wollte man diesen Zeitraum mit politisch-historischen Fakten und Daten bezeich-
nen und einklammern, die für Gluck relevant waren, so könnte man den Vorfrieden zu
Wien, die Vermählung der Erzherzogin Maria Theresia mit Herzog Franz Stephan von
Lothringen und den Tod des Prinzen Eugen für die Mitte der 1730er Jahre, und für die
zweite Hälfte der 1780er Jahre den Tod Friedrichs II. und Österreichs letzten Türken-
krieg, der zwei Jahre vor der französischen Revolution begann, namhaft machen.

Es war (noch) das Wien Kaiser Karls VI., das der eben erst zwanzigjährige Gluck -
sozusagen als „fahrender Musikant aus Böhmen" kommend und Autodidakt in Sachen
Musik (in diese Richtung zielt der vielzitierte Ausspruch Händeis) - betrat. Auf ihn, auf
das, was er in seinem Gepäck mitbrachte und was ihn in der Kaiserstadt empfing,
umfangen hat, wird sich unser Interesse richten müssen. Schon hier, am Anfang unseres
Generalthemas, stehen wir (noch) vor mehr Fragen als Antworten. Haus und Familie
Lobkowitz - langjährige Dienstgeber von Glucks Vater - waren gewiß Bezugspunkte.
Dem versierten Instrumentalmusiker (und Sänger?) Gluck dürften sich hier neben
Verdienst- auch Kontaktmöglichkeiten geboten haben. Eine davon nahm der Zweiund-
zwanzigjährige wahr: Anfang des Jahres 1737 verließ Gluck die Kaiserstadt, die ihm
(noch) keine Chance, d. h. keine feste Anstellung, die seinem Ehrgeiz genügt hätte, bot -
Gluck ging nach Italien.
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Glucks zweiter Wien-Aufenthalt (1748) stand - musikalisch - ganz im Zeichen von
„Semiramide riconosciuta", einem Auftragswerk, dessen Titel politisch-aktuell doppel-
deutig und dessen Erfolg in Wien (für Gluck) eindeutig und angefeindet zugleich war.
Glucks ungestüm-unorthodoxe Musik kollidierte - in mehr als zwei Dutzend Aufführun-
gen! - mit italienischen Konventionen der Opera seria in Wien.
Noch einmal war Wien nur Zwischenstation. Als er (endlich) hier fest Fuß faßte (am
15. September 1750 wurde Gluck in St. Ulrich mit Maria Anna „Bergin" getraut, einer
achtzehnjährigen wohlhabenden Kaufmannstochter), bescheinigte man Gluck zwar
„einen guten Ruf" und „gute Aufführung", auch sei er ein „gutter oeconomus", „ein
famoser music-compositor" und „virtuos" - über ein „Amt" verlautet jedoch auch hier
(für den inzwischen Sechsunddreißigjährigen) nichts. Als er Ende des Jahres 1773 nach
Paris reiste - mit der fertigen „Iphigénie en Aulide" im Kopf und Gepäck - und man ihn
dort festzuhalten suchte, sicherte die Kaiserin-Witwe Maria Theresia ihm als „Hofcompo-
siteur" ein Jahresgehalt von 2000 Gulden zu, nur, um ihn, den sechzigjährigen großen
Mann, fest an Wien zu binden.

Dies ist auch gelungen. Allerdings war Gluck in den sechs Jahren zwischen Herbst 1773
und Herbst 1779 mehr in Paris als in Wien, und sein Schaffen konzentrierte sich in diesen
Jahren ganz auf die Pariser Oper. Als er Ende Oktober 1779 von seinem fünften (und
letzten) Paris-Aufenthalt nach Wien zurückkehrte - nach dem alles und alle überwälti-
genden beispiellosen Erfolg seiner „Iphigénie en Tauride" (18. Mai 1779) und einem bei
den Proben zu seinem letzten Pariser Werk, „Echo et Narzisse", erlittenen Schlagan-
fall - , hatte sich in Wien die Kunst- und Musikszene gewandelt, mehr und mehr war der
Geschmack (und mit ihm auch die Personalpolitik) unter den Einfluß Josephs II. geraten,
vollends geschah dies nach dem Tod der Kaiserin-Witwe (29. November 1780).

Der späte, der letzte Gluck in Wien: ihn beschäftigen Klopstocks Oden, „die Iphigenie in
Tauris" macht ihm noch einmal „das Geblüte rege"; wohlhabend-unabhängig lebend,
lädt er Mozart zu sich ein und wird vom russischen Thronfolger besucht; zeitweise
gelähmt, ist ihm „das faulentzen einziges Vergnügen". Im Herbst und Winter 1781/82
erlebte Wien so etwas wie ein (erstes) „Gluck-Festival", als drei seiner großen Reform-
Dramen - „Alceste" und „Orfeo ed Euridice" italienisch, „Iphigenie auf Tauris" in einer
von Gluck gemeinsam mit dem jungen Johann Baptist von Alxinger geschaffenen
deutschen Fassung - und die deutsche Fassung seiner letzten Wiener Opéra comique
„La rencontre imprévue" als „Die Pilgrime von Mekka" aufgeführt wurden, sowohl in
höfisch-exklusiven als auch in allgemein zugänglichen „Repertoire"-Aufführungen des
von Joseph II. eingerichteten bzw. deklarierten „Nationalhoftheaters".

Das Wiener Kaiserhaus und Glucks Wiener Werke - allein deren Aufführungsdaten
signalisieren uns Stichworte, Schlagworte wie „Auftragswerke", „Hauskomponist", „Ge-
legenheitskompositionen". Aber auch ein so reformverdächtiges Werk wie „L'Innocenza
giustificata" gehört in diesen Zusammenhang, ebenso wie bzw. sogar „Orfeo ed Euri-
dice" und das „extremistische" „Semiramis"-Ballett. Werk und Auftrag, Aufführung und
Wiederaufführung, Zusammenhänge, die uns auf Glucks Musik hinführen und vor
Fragen stellen: nach ihrer Realisierung auf der Bühne, damals und heute, aber auch bei
der Editionsarbeit für Wissenschaft und Praxis.

Angesichts des Regietheaters unserer Tage mag uns Glucks Forderung, die Gegenwart
des Komponisten sei bei der Aufführung „einer solchen Musik" - er meint hier seine
italienischen Wiener Reformdramen - „so unerläßlich, wie die Sonne zu den Schöpfun-
gen der Natur gehört", als Mahnung und Drohung zugleich in den Ohren klingen.
Bedeuten die Jahre um 1770 für Gluck einen Wendepunkt, eine Neuorientierung? Eine
schwere Geldeinbuße zwingt ihn zu einem Bittbrief an Kaunitz, der Mißerfolg von
„Paride ed Elena" trifft ihn zutiefst. Gleichzeitig haben die Wiederbegegnung und erste
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Zusammenarbeit mit Noverre, mit Millico und Salieri, Klopstock und dessen „Hermanns
Schlacht", die erneute Beschäftigung mit Racines „Iphigénie" offensichtlich unmittelba-
re und weitreichende Wirkungen auf „ G l u c k z w i s c h e n Wien und Paris" gehabt. Die
Integrierung von Tanz und Pantomime in das musikalische Drama - in der italienischen
„Alceste" wird z w i s c h e n „Balli ballati" und „Balli Pantomimi" unterschieden - , die
Gesangs- und Vortragskunst des (Kastraten!) Sänger-Darstellers Giuseppe Millico, Wort
und T o n im G e g e n ü b e r von Rezitation und C h o r g e s a n g beschäftigen ihn in diesen
Jahren. Nach Burneys Z e u g n i s ist er im Stande, eine neue Oper („Iphigénie en Aulide"),
von der er „noch keine Note zu Papier gebracht hatte", in seinem Kopfe völlig auszuar-
beiten und am Klavier s i n g e n d vorzutragen.
Die Premiere von „Iphigénie en Aulide" am 15. November 1987 in der Wiener Staatsoper
zieht alle Aufmerksamkeit - gewiß nicht nur bei den Kongreßteilnehmern - auf sich. Es
ist G l u c k s 200. Todestag - morgens gedenkt man dessen am Ehrengrab auf dem Wiener
Zentralfriedhof, eine Matinee in der Staatsoper soll den festlichen Theaterabend vorbe-
reiten - , und es ist die erste und zugleich prominenteste Aufführung dieses Werkes nach
der soeben fertiggestellten - von Marius Flothuis herausgegebenen - A u s g a b e in der
Gluck-Gesamtausgabe (vgl. dessen Beitrag und die Ausführungen des Regisseurs,
Staatsoperndirektor C l a u s Helmut Drese, in diesem Heft).
Ein zweiter, in der Dimension freilich viel bescheidenerer Theaterabend mit G l u c k -
während und für den Wiener Gluck-Kongreß stattfindend - darf ebenfalls besonderes
Interesse beanspruchen. Denn es ist eine nach 222 Jahren an dem für die erste (nicht
zustandegekommene) Aufführung von Maria Theresia vorgesehenen Ort nachgeholte
Premiere (vgl. die Beiträge zur Aufführung von „ L a C o r o n a " im Ceremoniensaal von
S c h l o ß S c h ö n b r u n n am 13. November 1987 in diesem Heft).
A u s der großen Zahl der Referate und Beiträge zu Gesprächen am runden Tisch - jeweils
offen für Fragen und Diskussion mit allen Teilnehmern und Zuhörern - seien (neben den
bereits a n g e s p r o c h e n e n Themen) weitere Themenbereiche wenigstens erwähnt: Opéra
comique, Ballett und Pantomime, G l u c k s Existenz in Wien, Ämter und Stellung in der
Gesellschaft und seine Wiener Wohnungen, zeitgenössische Kritik und Gluck-Auffüh-
rungen in Wien zur Zeit Beethovens und Schuberts, Hector Berlioz und G l u c k s Wiener
Opern.
„ G l u c k in Wien" - ein weites Feld, das es in Wissenschaft und Praxis neu zu bestellen
gilt, im Gluck-Jahr 1987 und darüber hinaus.

Gluck-Aufsätze in der Österreichischen Musikzeitschrift


(eine Auswahl)

1948/7-8 Bernhard Paumgartner: Gedanken zur Dramaturgie des Gluckschen


„Orfeo"
1959/8 S e n a Jurinac: Auf Eurydikes S p u r e n in der Felsenreitschule
1962/8 Paul Friedrich und Günther Rennert: G l u c k s „Iphigenie in Aulis" in
Salzburg
1964/9 Harald Kaufmann: Orpheus z w i s c h e n Form und A u s d r u c k
1964/12 Roland Tenschert: Die wichtigste Literatur über G l u c k
1966/10 Otto Erich Deutsch: G l u c k im Redoutensaal
1973/7-8 Gerhard Croll: G l u c k und Mozart
1974/1 Gernot Gruber: G l u c k s Tanzdramen und ihre musikalische Dramatik
1976/4-5 Gerhard Croll: G l u c k s Debüt am Burgtheater

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