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In eigener Sache

Der Fall Relotius


Abschlussbericht der Aufklärungskommission

Liebe Leserin, lieber Leser,


etwas mehr als fünf Monate ist es her, dass wir die Fälschun- hat den SPIEGEL auf eigenen Wunsch verlassen, zwei von
gen unseres ehemaligen Redakteurs Claas Relotius offen- Relotius’ ehemaligen Vorgesetzten sind abgetreten, der eine
gelegt haben. Wie versprochen hat der SPIEGEL die Zeit als Ressortleiter, der andere als Chefredakteur.
genutzt, um den Betrugsfall aufzuarbeiten. Eine dreiköpfige Im hinteren Teil des Berichts werden exemplarisch einige
Aufklärungskommission hat ergründet, wie es Relotius Beispiele genannt, in denen nicht betrogen, aber unsauber
gelingen konnte, sämtliche Sicherungen außer Kraft zu set- gearbeitet wurde: indem Geschichten durch eine sehr groß-
zen. Und sie hat untersucht, wie wir dem Betrugsverdacht zügige Auslegung von Abläufen oder Fakten eine künst-
nachgegangen sind, als dieser erstmals vom Kollegen Juan liche Dramaturgie eingepflanzt wurde. Dergleichen war bis
Moreno geäußert wurde. zuletzt auch in anderen Redaktionen durchaus üblich,
Die gute Nachricht: Es wurden keine Hinwei- macht die Masche aber nicht legitimer – und
se darauf gefunden, dass jemand im Haus von wird bei uns nicht länger toleriert.
den Fälschungen wusste, sie deckte oder gar an Wie geht es nun weiter? Wir haben dem Qua-
ihnen beteiligt war. litätsjournalismus in Deutschland mit dem Fall
Die schlechte Nachricht: Wir haben uns von Relotius einen gewaltigen Imageschaden zu-
Relotius einwickeln lassen und in einem Ausmaß gefügt, das ist uns bewusst. Deshalb werden wir
Fehler gemacht, das gemessen an den Maßstä- unsere Lehren daraus ziehen. Wir organisieren
ben dieses Hauses unwürdig ist. Und: Wir sind, unsere Sicherungsmechanismen fortan so, dass
als erste Zweifel aufkamen, viel zu langsam in sie auch nahtlos funktionieren, wir richten eine
die Gänge gekommen und haben Relotius’ unabhängige Ombudsstelle ein, die etwaigen
immer neuen Lügen zu lange geglaubt. In sei- Hinweisen auf Ungereimtheiten nachgehen soll,
ner Verdichtung zeichnet der Bericht da ein ver- SPIEGEL 52/2018 und wir überarbeiten unsere Recherche-, Doku-
heerendes Bild. mentations- und Erzählstandards. Die Kommis-
Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes haben wir den sion hat hierzu eine Reihe von Vorschlägen gemacht,
Bericht für die Veröffentlichung im SPIEGEL und auf zusätzlich arbeiten drei SPIEGEL-Teams an einem neuen
SPIEGEL ONLINE an einigen Stellen anonymisiert; überall journalistischen Regelwerk für unsere Marke.
dort, wo wir bereits in eigener Sache unter Nennung vollstän- Wenn all das den SPIEGEL besser macht, stellen sich die
diger Namen berichtet haben, tun wir dies auch hier. Auch Betrügereien von Claas Relotius rückblickend betrachtet
wenn Claas Relotius seine Fälschungen mit aller Akribie ver- vielleicht als heilsamer Schock heraus. Der Abschluss-
tuscht und abgesichert hat, so haben doch einige Kollegen die bericht war dafür ein wichtiger Schritt, aber die Aufarbeitung
Verantwortung dafür übernommen, dass sein Treiben so lan- geht weiter.
ge unentdeckt bleiben konnte: Der zuständige Dokumentar Thomas Hass, Geschäftsführer; Steffen Klusmann, Chefredakteur

I. Vorbemerkung II. Arbeitsauftrag schon damals klar, dass es sich womöglich


um einen der schwersten Fälle von publi-
Die Kommission hat keine Hinweise da- der Kommission zistischer Fälschung in der Nachkriegs-
rauf gefunden, dass jemand im Haus von geschichte handelt. Dieser hat den Ruf des
den Fälschungen des Claas Relotius ge- Der SPIEGEL hat am 19. Dezember 2018 SPIEGEL und den Ruf einer journalisti-
wusst hat, an ihnen beteiligt war oder die- öffentlich gemacht, dass einer seiner Re- schen Gattung in Deutschland beschädigt,
se verheimlicht hätte. dakteure, Claas Relotius, Texte gefälscht der Reportage. Der SPIEGEL ist es seinen
Die Kommission ist im Laufe ihrer Ar- hat – vor allem Reportagen. Die Entde- Lesern und sich selbst schuldig, die Vor-
beit auf lediglich einen weiteren Fall ckung dieser Fälschungen ist dem SPIE- gänge aufzuklären. Chefredaktion und Ge-
gestoßen, in dem eine bewusste Fäl- GEL-Reporter Juan Moreno zu verdanken, schäftsführung entschieden daraufhin, den
schung zweifelsfrei nachgewiesen werden der trotz großer Zweifel im eigenen Haus Fall offen und transparent zu behandeln.
konnte. Es handelt sich um einen Autor hartnäckig Betrugshinweisen gegen Claas Es wurde eine Kommission eingerichtet,
des Magazins der »Süddeutschen Zei- Relotius nachgegangen ist und unter gro- die die Fälschungen umfänglich und unab-
tung«, der auch mehr als 40 Texte im ßem persönlichem Einsatz die entschei- hängig aufarbeiten sollte. Die Kommission
SPIEGEL und bei SPIEGEL ONLINE ver- denden Indizien und Beweise zusammen- bestand aus drei Personen:
öffentlich hat. getragen hat. Obwohl im Dezember 2018 l Brigitte Fehrle, freie Journalistin und
Nach Prüfung wurden bei zwei Texten das komplette Ausmaß des Betrugs noch frühere Chefredakteurin der »Berliner Zei-
gravierende Fälschungen entdeckt. nicht abgesehen werden konnte, war doch tung«,

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l Clemens Höges, kommissarischer Blatt- nicht ausgeschlossen werden, dass nach sche Gattung Reportage. Relotius galt und
macher, und Veröffentlichung des Abschlussberichts gilt als exzellenter Schreiber. Er wurde von
l Stefan Weigel, Nachrichtenchef des neue Verdachtsfälle auftauchen; die E- Ullrich Fichtner für den SPIEGEL entdeckt,
SPIEGEL seit 1.1.2019. Mail-Adressen bleiben daher für weitere arbeitete ab 2014 zunächst freiberuflich
Die Aufgabe der Kommission war es: Nachrichten freigeschaltet. und wurde im April 2017 fest angestellt;
l den Fälschungsfall umfassend zu ermit- Wir bezeichnen im Bericht Männer und seine Ressortleiter waren Matthias Geyer,
teln, Fehlverhalten einzelner Personen auf- Frauen gleichermaßen in der männlichen Guido Mingels und Özlem Gezer. Im
zuklären, systemische Ursachen in den Ab- Form als »Kollegen«, weil wir die zugesi- SPIEGEL und auf SPIEGEL ONLINE sind
läufen von Redaktion, Dokumentation cherte Vertraulichkeit aufrechterhalten in den vergangenen Jahren rund 60 Texte
und anderen Abteilungen zu ermitteln, wollen. erschienen, die Claas Relotius geschrieben
l zu klären, ob es weitere Fälle gab, und hat oder an denen er beteiligt war. Von
l Verbesserungsvorschläge für eine effi- den Kollegen wird er als sympathisch,
zientere Fehlerkontrolle für die Redaktion
III. Der Fall Relotius freundlich zu jedermann und bescheiden
und die Dokumentation zu machen. Dieser Teil des Berichts stellt dar, wie es zu beschrieben; er sei ein stiller, eher zwei-
Die Kommission hat ihre Arbeit Anfang der Affäre um verfälschte oder zu großen felnder Typ gewesen, der sich oft Rat ge-
Januar 2019 aufgenommen. Sie war nicht Teilen erfundene Artikel des Redakteurs holt habe. Niemand im Haus, auch kein
weisungsgebunden, konnte sich im Haus Claas Relotius im SPIEGEL kommen konn- früherer Mitarbeiter konnte sich vor-
frei bewegen und Gespräche führen. Wei- te. Er fasst zusammen, was die Kommission stellen, dass er inkorrekt arbeitet oder gar
tergehende Ermittlungen, beispielsweise über jene Strukturen und Abläufe im Ge- fälscht. Die Kommission hat vielen lang-
die Einsicht in E-Mail-Accounts, bedurf- sellschaftsressort des Heftes weiß, die zur jährigen, erfahrenen Reportern auch au-
ten der Zustimmung von Betriebsrat, Ge- Affäre beigetragen haben. Er basiert auf ßerhalb des Gesellschaftsressorts die Frage
schäftsleitung und Chefredaktion und wur- vielen oft vertraulichen Gesprächen sowie gestellt: Hat es sie nicht gewundert, dass
den unter Berücksichtigung des Daten- auf ausgewerteten Dokumenten. Mit Claas ein so junger Kollege in Serie solch außer-
schutzes durchgeführt. Relotius selbst konnte die Kommission gewöhnliche Texte abliefert? Die Antwort
Die Kommission möchte sich bei allen nicht sprechen. Er hat über seinen Anwalt war sinngemäß meist: Ich dachte eben, der
Beteiligten für die Kooperationsbereit- Gesprächsanfragen abgelehnt. Es war der ist besser als ich. Oder: Der scheint einfach
schaft bedanken. Alle Gesprächspartner Kommission daher auch nicht möglich, sei- immer Glück zu haben.
waren an einer Lösung und Aufarbeitung ne Beweggründe zu recherchieren bzw. die Im Nachhinein geben allerdings Dirk
interessiert. Dies ermöglichte der Kommis- auf SPIEGEL ONLINE vom 19.12.2018 zi- Kurbjuweit und Klaus Brinkbäumer an,
sion eine konstruktive und zügige Arbeit. tierten Aussagen zu hinterfragen. (»Es ging bei einzelnen Texten leise Zweifel gehabt
Ohne die umfangreichen Vorarbeiten der nicht um das nächste große Ding. Es war zu haben. So wunderte sich Kurbjuweit
Kollegen in der Taskforce und die Recher- die Angst vor dem Scheitern.« Und: »Mein über die mangelnde Qualität eines Textes
chen der Kollegen aus dem Gesellschafts- Druck, nicht scheitern zu dürfen, wurde im- von Relotius, den er selbst bei ihm in Auf-
ressort wäre dieser Bericht in der Kürze mer größer, je erfolgreicher ich wurde.«) trag gegeben hatte. Kurbjuweit nannte Re-
der Zeit nicht möglich gewesen. Der Bericht enthält an dieser Stelle deshalb lotius für die Recherche auch Kontaktper-
Besonders hervorzuheben ist die ausschließlich die Sichtweise der Redaktion sonen und überwachte die Fertigstellung
Beteiligung der Dokumentation an der und der Dokumentation. des Textes. Kurbjuweit: »Da war ich ent-
Aufarbeitung. Sie hat zusammen mit Re- Grundsätzlich ist zu sagen, dass der täuscht, weil das Storyhafte fehlte, kein
dakteuren aus verschiedenen Ressorts alle Fälscher Relotius in erster Linie für sich echter Relotius.«
Texte von Claas Relotius einer erneuten und seine Texte Verantwortung trägt. Er Brinkbäumer konnte sich nach eigenen
Überprüfung unterzogen. Das Ergebnis ist Täter. Aber Relotius agierte, wie alle Aussagen an zwei Momente des Zweifelns
ist dokumentiert und kann online ein- anderen Reporter des SPIEGEL, eingebet- an Texten von Relotius erinnern. Beim In-
gesehen werden: www.spiegel.de/kultur/ tet in ein Ressort und die Dokumentation. terview mit Traute Lafrenz wunderte er
gesellschaft/der-fall-claas-relotius-welche- Wie also konnte es sein, dass weder die sich, dass eine fast Hundertjährige, die in
texte-gefaelscht-sind-und-welche-nicht-a- Redaktion, die seine Recherchen betreut den USA lebt, innenpolitische deutsche
1249747.html und seine Texte redigiert hat, noch die Vorgänge wie den Aufstieg der AfD kom-
Die Kommission hat im Laufe ihrer Ar- Dokumentation, die seine Texte überprüft mentiert. In der Rückschau, so Brinkbäu-
beit viele Gespräche mit Redakteuren, Res- hat, die Fälschungen entdeckte? mer, hätte er nach Autorisierung verlangen
sortleitern, ehemaligen Redakteuren, ehe- sollen. Doch der Text sei geschickt ge-
maligen Chefredakteuren, sonstigen Mit- Der Kollege schrieben gewesen und habe Zweifel und
arbeitern, Dokumentaren, Justiziaren und Gedächtnisschwächen selbst thematisiert.
Externen geführt und ist zahlreichen Hin- Claas Relotius arbeitete im Ressort Gesell- Der zweite Fall war der Einstieg in die
weisen aus der Redaktion und von außer- schaft des SPIEGEL. Das Ressort Gesell- Reportage »Löwenjungen«, der ihm allzu
halb auf mögliche Fälschungen nachge- schaft definiert sich als einziges nicht über perfekt vorkam. »Ich habe es als Reporter
gangen. Für solche Hinweise wurde eine ein Thema, sondern über die journalisti- selbst erlebt, wie Interviews in Gefäng-
E-Mail-Adresse eingerichtet (hinweise@ nissen in Ländern wie dem Irak laufen.«
spiegel.de). Unter einer weiteren E-Mail- Aber wiederum thematisierte der Text
Adresse (ombudsstelle@spiegel.de), die Er sei ein stiller, diese Zweifel selbst.
ausschließlich von der Kommission einge-
sehen werden kann, konnten und können eher zweifelnder Typ Die Methoden
vertrauliche Hinweise gegeben werden.
Die Kommission hat diesen Bericht gewesen, der sich Kollegen umgarnen
nach bestem Wissen und Gewissen erstellt. Relotius’ Methoden der Vertuschung wer-
Allerdings konnten noch nicht alle Hinwei- oft Rat geholt habe, den von Kollegen im Ressort und in der
se abschließend überprüft werden, vor al- Dokumentation ähnlich beschrieben. So
lem wenn zeitlich weit zurückliegende Er- sagen Kollegen. ließ er sie meist sehr frühzeitig an den
eignisse betroffen waren. Außerdem kann Recherchen und auch den Rückschlägen

DER SPIEGEL Nr. 22 / 25. 5. 2019 131


teilhaben. Beispielsweise schrieb er am Die Vorgesetzten
29. Mai 2017 an Guido Mingels: »Lieber
Guido, hier kommt der Text. Bin mit In- Das Verhältnis der Das Verhältnis der Ressortleitung zu
halt, Sprache und Erzählfluss wirklich an Relotius war geprägt von absolutem Zu-
vielen Stellen unzufrieden, aber das ist al- Ressortleitung zu trauen, zum Teil Bewunderung. Der da-
les, was die Quellen hergeben – die Nach- malige Chefredakteur Klaus Brinkbäumer
erzählung ist im Grund komplett kalt ge- Relotius war geprägt schrieb, die Ressortleitung der Gesellschaft
schrieben. Vielleicht müssen auch noch habe ihn »geradezu verehrt«; ein Mitglied
mehr Gedanken rein? Ich bin da vorsichtig von absolutem des Ressorts habe ihn ein »Jahrhundertta-
gewesen, weil ich nicht spekulieren wollte. lent« genannt: »Der ist jetzt schon besser,
Der Schluss fehlt auch noch, dafür hätte Zutrauen. als wir je waren.« Ein anderes Mitglied
ich aber Stoff.« des Ressorts habe ihn mit dem Satz be-
drängt, Relotius einzustellen, da auch die
Dokumentare ablenken meine anfänglichen Bedenken, es handele »Zeit« an ihm Interesse habe, einen wie
Die Dokumentare lenkte er gezielt auf ne- sich um eine erfundene Geschichte, zu zer- Relotius »findet man einmal in zehn Jah-
bensächliche Probleme: »Kannst du hier streuen. Ich bin blauäugig genug gewesen, ren«. Brinkbäumer schrieb der Kommis-
noch mal nachsehen – da bin ich mir unsi- Claas Relotius auf den Leim zu gehen. sion, er habe sich davon ablenken lassen.
cher; hier musst du nicht suchen – das Auch ohne Aufklärung aller Details habe Relotius’ Texte riefen bei den Verant-
habe ich von der Polizei vor Ort.« Vieles, ich ihm geglaubt. Weil er glaubwürdig wortlichen im Ressort Bewunderung
was nicht verifizierbar oder widersprüch- wirkte, weil er für den SPIEGEL schrieb – hervor. So schrieb Guido Mingels zum
lich war, belegte er mit eigenen Anschau- weil ich es nicht darauf angelegt hatte, ihm Text »Königskinder« (SPIEGEL 28/2016):
ungen oder angeblicher Einsicht in Akten Fehler und Fälschungen nachzuweisen, »Weiß gar nicht, wann mich ein Text zu-
vor Ort. Seine Beliebtheit und seine Art sondern selbst dazulernen und verstehen letzt so mitgenommen hat. Unerträglich
der Kommunikation führten offenbar in wollte.« starker Text.« Und zum Text »Die letzte
Dokumentation und Redaktion zu man- Zeugin« (SPIEGEL 10/2018): »Da ist dir
gelnder kritischer Distanz gegenüber sei- Abdruck von Leserbriefen erneut eine großartige Geschichte gelun-
nen Texten. Um die Aufdeckung von Fäl- verhindern gen! (…) Ich hab beim Lesen die ganze
schungen zu verhindern, hat Relotius er- Eine Veröffentlichung der wenigen kriti- Zeit irgendwie schon den Film dazu vor
heblichen Aufwand betrieben. schen Leserbriefe, die an ihm vorbei zum Augen gesehen, weil das alles so absolut
SPIEGEL gelangten, konnte er oft verhin- filmreif (»The Last Witness«) ist. Eine gro-
Leser einwickeln dern. Obwohl Relotius sonst durchweg ße Parabel.« Und über »In einer kleinen
Leser, die ihm direkt schrieben, wickelte als freundlich und nett beschrieben wird, Stadt« (Fergus Falls, SPIEGEL 13/2017)
er geschickt ein. Selbst Menschen mit Fach- konnte er dabei massiv auftreten. »Das schrieb Matthias Geyer an Relotius: »Nun
kenntnis ließen sich von ihm täuschen. So kann ich als Autor auf keinen Fall so ste- aber haben Guido, Özlem und ich Deinen
schreibt eine Leserin, es sei Relotius ge- hen lassen, ich bitte um Verständnis« Text gelesen und sind uns einig, dass Dir
lungen, ihre fundierte Kritik an seiner Ge- und »Ich bin klar dagegen«, schrieb er damit ein ganz starkes Stück gelungen ist.
schichte über die Todesstrafe in den USA der Leserbriefredaktion in zwei E-Mails Du hast einen wesentlichen Teil der ame-
zu zerstreuen. Nach seiner Geschichte zu deren Wunsch, einen Leserbrief zum rikanischen Gesellschaft unters Mikroskop
»Die letzte Zeugin« (SPIEGEL 10/2018) Fall Kaepernick (»Touchdown«, SPIEGEL gelegt und mit leisen Tönen einen Text ge-
schreibt die Leserin Relotius am 17.7.2018 44/2017) zu veröffentlichen. Vermutlich schrieben, der einem endlich klarmacht,
eine E-Mail, in der sie den Verdacht äußert, wollte er auf diese Weise die Entde- was da los ist.«
es könne sich um eine erfundene Geschich- ckungsgefahr verringern. Niemand, auch
te handeln. Sie fügt eine kommentierte nicht seine Ressortleitung, hat ihn daran Alarmsignale
Version seines Textes mit markierten zwei- gehindert.
felhaften Stellen an. Die Kommission ist bei ihrer Recherche
Relotius habe sofort geantwortet, Making-of-Videos ablehnen auf verschiedene Hinweise und Warnun-
schreibt sie später: »Eine Antwort von Der Kommission ist auch ein Fall bekannt, gen gestoßen, die Anlass zu Misstrauen
Claas Relotius lässt nicht lange auf sich bei dem Kollegen von SPIEGEL ONLINE gegenüber Claas Relotius hätten geben
warten – schon am nächsten Tag habe ich Relotius gebeten haben, für ein Making- können; einige eher vage und unspezifisch,
eine E-Mail von ihm in meinem Postfach. of zu seinem Text »Königskinder«, andere deutlich klarer.
Zunächst fällt mir positiv auf, dass er mei- SPIEGEL 28/2016, ein Interview zu geben.
ne zahlreichen kritischen Anmerkungen Relotius schaffte es trotz intensiven Be- Unklare Warnungen
offenbar nicht persönlich nimmt – auch mühens der SPIEGEL-ONLINE-Kollegen,
wenn diese immer sachlich waren, könnte eine Tonaufnahme zu verhindern. Der falsche Experte
man sie in der Fülle und Deutlichkeit den- Vom ersten Hinweis auf unsauberes Ar-
noch als Angriff deuten und zum Gegen- Keine Übersetzungen zulassen beiten von Claas Relotius berichtet Juan
angriff übergehen. Nein, nichts davon. Er In mehreren Fällen nahm er Einfluss auf Moreno in seiner Chronologie der Ereig-
scheint eher dankbar zu sein für meine in- die Online-Veröffentlichung seiner Texte nisse. Ihm sei bereits 2013 der bis dahin
tensive Auseinandersetzung mit der The- und die Übersetzung in den englischspra- unbekannte Autor aufgefallen, weil der in
matik und mich in meiner Kompetenz chigen Dienst. Dokumentiert sind diese einem Text für das Magazin »Cicero« ei-
ernst zu nehmen. Es sei sein erster Artikel Versuche für die Texte »Mathys großer nen Experten namens Oscar Espinosa zi-
zu dem Thema, das ihn nach wie vor inte- Schlaf« (SPIEGEL 30/2015), »Königs- tiert und als 46-jährigen Volkswirt und ehe-
ressiere, zu dem er persönlich allerdings kinder« (SPIEGEL 28/2016), »Löwenjun- mals inhaftierten Dissidenten beschreibt.
immer noch mehr Fragen als Antworten gen« (SPIEGEL 8/2017), »In einer kleinen Espinosa sei Moreno ein Begriff gewesen,
habe.« Stadt« (SPIEGEL 13/2017), »Touchdown« allerdings sei er nicht 46 Jahre alt gewesen,
Und weiter: »So muss ich im Grunde in (SPIEGEL 44/2017) und »Die letzte Zeu- sondern über 70 und kurz nach Veröffent-
der Summe feststellen: Es ist ihm gelungen, gin« (SPIEGEL 10/2018). lichung des Textes in Spanien gestorben.

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In eigener Sache

Der falsche Friseur Text »Königskinder« nicht von Fälschung Für die Rubrik »Eine Meldung und ihre
Hätte die Redaktion des SPIEGEL über Re- gesprochen, sondern nur darüber, dass der Geschichte« recherchierte Claas Relotius
lotius Informationen eingeholt, bevor er Autor sich in die Gedanken der Kinder ver- im Herbst 2015 die Geschichte von Ka-
zunächst als freier Mitarbeiter und später setzt habe und dass die Geschichte zu glatt thryn Rawlins aus Atherstone, Warwick-
fest angestellt beschäftigt wurde, hätte aufgeschrieben sei. Über den zweiten Text shire, die viele Jahre lang eine Vase in ihrer
man auf einen Vorgang bei »NZZ Folio« »Löwenjungen« sei gar nicht mehr intensiv Wohnung hatte, die tatsächlich eine Gra-
aus dem Jahr 2014 stoßen können, der im gesprochen worden, weil in dem Jahr die nate aus dem Ersten Weltkrieg gewesen
Netz recherchierbar ist. Dort hatte Relo- Schulz-Story so klar dominiert habe. sein soll. Der Kern des Textes ist korrekt,
tius für die Rubrik »Beim Coiffeur« ein es gab die als Vase genutzte Granate. Re-
Stück über einen Friseursalon in Finnland Deutliche Warnungen lotius hat auch tatsächlich mit Kathryn
geschrieben. Einer Leserin fielen Unge- Rawlins Kontakt per E-Mail gehabt und
reimtheiten auf. Die Zeitung musste eine Bislang konnte die Kommission feststellen, zudem ein kurzes Telefonat mit ihr ge-
Berichtigung drucken und beendete die dass es im Haus drei deutliche Warnungen führt, das bestätigte sie dem SPIEGEL. Of-
Zusammenarbeit. vor Fälschungen in Relotius-Geschichten fenkundig hat Relotius viele der Details
gab. Jede davon hätte Relotius stoppen seiner Geschichte dann aus britischen Zei-
Der Tweet aus Fergus Falls können – zumindest theoretisch. tungen abgeschrieben und die jeweils dra-
Nach der Geschichte »In einer kleinen Die erste Warnung eines Lesers muss matischsten ausgewählt. Auf Bitte des
Stadt« twitterte Michele Anderson aus Fer- Matthias Geyer, den Leiter des Gesell- SPIEGEL hat Rawlins sich den Text mit-
gus Falls (die später die Fehler des Textes schaftsressorts, erreicht haben, er hat je- hilfe eines Übersetzungsprogramms noch
in einem Blog detailliert aufgearbeitet hat) doch nicht reagiert. Bei der zweiten War- einmal durchgelesen. Ihr Fazit: Relotius’
am 7.4.2017 an den SPIEGEL-Account: »I nung ist nicht ganz klar, ob und, wenn ja, Darstellung enthält dieselben Detailfehler
live in Fergus. We’re wondering why he wen in der Ressortleitung sie erreichte. Die wie die Texte anderer Zeitungen. Der ent-
spent time here if he was just going to write dritte Warnung war die des Kollegen Juan scheidende Fehler sei die Behauptung, die
fiction. Hilarious, insulting excuse for jour- Moreno. Ungeachtet dieser Warnung pro- Granate sei scharf gewesen, als Rawlins
nalism.« Der Tweet blieb unentdeckt. duzierte und veröffentlichte das Gesell- die Polizei verständigte. Britische Zeitun-
schaftsressort noch knapp zwei Wochen gen hatten dies anscheinend fälschlich be-
Die misstrauische Nannen-Jury nach Eingang von Morenos ersten Indizien hauptet, Relotius hat diese Behauptung
In einem Editorial schrieb der damalige eine von Relotius in drei nicht unwichtigen wohl ungeprüft übernommen. Der Leser
Chefredakteur des »Stern«, Christian Teilen gefälschte Titelgeschichte zum The- schrieb in seiner E-Mail: »Die ganze Story
Krug, am 27.12.2018: »In der Jury des Nan- ma Klimawandel. Dabei hätte Matthias fällt hier eigentlich in sich zusammen.«
nen-Preises, die alljährlich die besten jour- Geyer da schon klar sein müssen, dass sie Doch nach Eingang der E-Mail bei Brink-
nalistischen Leistungen in deutschsprachi- es bei Relotius möglicherweise mit einem bäumer und Geyer passierte nichts. Weder
gen Medien auszeichnet, haben wir in den Betrüger zu tun hatten. bat einer der beiden Empfänger die Doku-
vergangenen Jahren in einigen Sitzungen mentation um Prüfung, noch erhielt der
über Artikel von Claas Relotius diskutiert. Leserbrief »Blindgänger« Leser nach eigenen Angaben eine Antwort
Mehrere Jurymitglieder äußerten Zweifel Am 11. November 2015 schickte ein Leser, oder eine Eingangsbestätigung. Brinkbäu-
daran, dass sich alles so abgespielt hatte.« nach eigenen Angaben Lektor für Fach- mer gibt an, sich »in Umrissen« an diese
In einem Gespräch mit der Kommission magazine, eine E-Mail an die Adresse chef- Beschwerde zu erinnern; er habe sie damals
erklärte Krug, dass die Jury beim ersten redaktion@spiegel.de. Darin wies er ruhig mit der sinngemäßen Anmerkung weiter-
Mal das Glatte und Märchenhafte des Tex- und detailliert auf Fehler in der Relotius- geleitet: »RL-Gesellschaft bitte antworten.«
tes »Königskinder« bemängelt habe, es Geschichte »Blindgänger« (aus der Rubrik In neun von zehn Fällen seien die Ressort-
habe aber auch inhaltliche Zweifel gege- »Eine Meldung und ihre Geschichte«, leiter seiner Bitte gefolgt. Wenn es in die-
ben; zwar habe niemand von Fälschung SPIEGEL 46/2015) hin, nachdem er den sem Fall anders gewesen sei, liege sein Ver-
gesprochen, man habe aber schon gefragt, Text mit einer einfachen Google-Recher- säumnis darin, es nicht überprüft zu haben.
ob das alles so stimmen könne. Der dama- che überprüft hatte. Nach Auskunft der IT muss mit an Si-
lige SPIEGEL-Chefredakteur Klaus Brink- Der Chefredaktionsaccount, auf dem cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
bäumer, der ebenfalls der Jury angehörte, die E-Mail einging, wird vom Sekretariat davon ausgegangen werden, dass die E-
habe darauf verwiesen, dass der Text von der Chefredaktion verwaltet. Die Kolle- Mail in Geyers E-Mail-Eingang angekom-
der Dokumentation überprüft worden sei. ginnen dort leiteten die E-Mail am selben men ist. Sie wurde ja nicht von einem ex-
Beim zweiten Mal sei über den Text »Lö- Tag weiter, das konnte die Kommission im ternen Server gesendet, sondern nur vom
wenjungen« entsprechend »sehr breit« dis- Ausgangsfach überprüfen; die E-Mail ging internen SPIEGEL-Server verarbeitet. Und
kutiert worden. korrekterweise an Klaus Brinkbäumer und im sehr unwahrscheinlichen Fall, dass sie
Klaus Brinkbäumer entgegnete auf An- den für Relotius zuständigen Ressortleiter nicht angekommen wäre, hätte beim Ab-
frage der Kommission: »In der Nannen- Matthias Geyer. Es gibt dort keine Hinwei- sender eine Warnung auftauchen müssen.
Jury sind bei Sitzungen, an denen ich als se darauf, dass jemand dem Leser geant- Matthias Geyer kann sich an die E-Mail
Juror teilgenommen habe, keine Zweifel wortet hat. nicht erinnern. Auf Bitte der Kommission
am Wahrheitsgehalt der vornominierten durchsuchte er seinen E-Mail-Account, dort
Relotius-Texte diskutiert worden. Es gab, war sie nicht zu finden. Er sagte, dass er ab
wie bei jedem Text, den wir dort bespro- und zu alte E-Mails lösche, wozu die IT tat-
chen haben, Fürsprecher und Gegner, aber Offenkundig hat sächlich gelegentlich auffordert. Daraufhin
die Kritik der Gegner bezog sich auf Spra- bat die Kommission ihn um Erlaubnis, die
che und Struktur der Reportagen.« Chris- Relotius viele der Details IT nach der E-Mail suchen zu lassen. Die
tian Krug relativierte auf Anfrage der Kollegen dort können auch endgültig ge-
Kommission daraufhin seine Aussagen. aus britischen Zeitungen löschte E-Mails sehen, wenn auch nur eine
Der Leiter der Henri-Nannen-Schule, An- gewisse Zeit nach Löschung. Doch auch die
dreas Wolfers, bestätigte die Aussagen abgeschrieben. IT konnte die E-Mail in seinem Account
Brinkbäumers: Man habe in der Jury beim nicht finden.

DER SPIEGEL Nr. 22 / 25. 5. 2019 133


SPIEGEL TV sucht die »Löwenjungen« Ullrich Fichtner wurde von Geyer schon
Am 18. Februar 2017 erschien im Gesell- als Chefredakteur angesehen, und auch
schaftsteil die in Teilen gefälschte Relotius- Juan Moreno sagt, Fichtner selbst empfand sich als Chefre-
Reportage »Löwenjungen« über zwei Kin- dakteur. Die beiden noch amtierenden Mit-
der, angeblich Brüder, die im Auftrag des dass Relotius Teile glieder der Chefredaktion, Dirk Kurbju-
IS Selbstmordanschläge verübten bzw. ver- weit und Susanne Beyer, waren zu diesem
üben sollten. Mitte April dann recherchier- der gemeinsamen Zeitpunkt nicht über den Verdacht gegen
te ein erfahrener SPIEGEL-TV-Kollege Relotius informiert. Kurbjuweit sagte ge-
mit einem ebenfalls erfahrenen Freien und Geschichte genüber der Kommission: »Wir haben das
Kameramann im Irak. Sie wollten unter am Montag (17.12.2018) wie alle anderen
anderem ein Stück über Kindersoldaten gefälscht habe. erfahren.« Deshalb hatten die beiden kei-
drehen und dafür auch die Hauptfigur ne Chance, den Titel vorsichtshalber zu
»Nadim« aus der Relotius-Geschichte stoppen oder eine Prüfung zu veranlassen.
interviewen. ko recherchiert, Relotius hatte die angeb- Ullrich Fichtner sagte der Kommission,
Einer der beiden fand »Nadim« dann lichen Milizionäre beschrieben. An diesem es habe keine Dringlichkeit gegeben zu
auch, aber im Schnitt fiel schließlich auf, Tag war die Geschichte gerade in der digi- handeln. Moreno habe seine Argumente
dass diverse Teile der Relotius-Geschichte talen Ausgabe erschienen. Am Sonntag da- und Verdachtsmomente zunächst schlecht
nicht zu den Erkenntnissen der TV-Kolle- nach, den 18. November, lieferte Moreno vorgetragen. Es habe, so Fichtner, aus sei-
gen passten. So waren die beiden Haupt- in einer langen E-Mail Indizien und Ver- ner Sicht noch keinen Fall gegeben; das
figuren »Nadim« und »Khalid« wohl keine dachtsmomente. habe sich erst am 9. Dezember geändert,
Brüder, »Nadim« hieß in Wahrheit zudem Schon beim Telefonat am 16. November als Relotius zwei Videos vorgeführt wur-
Mahmud, er saß in einem anderen Gefäng- erkannte Matthias Geyer nach Ansicht der den, die Moreno zusammen mit einem
nis und wollte, anders als in der Geschichte Kommission das Gewicht von Morenos Münchner Fotografen in den USA gedreht
beschrieben, zurück zu seiner Familie in Anschuldigungen. Er sagte nach eigenem hatte. In diesen beiden Videos warfen die
Mossul. Bekunden zu Moreno: »Juan, ich möchte Hauptfiguren der Geschichte »Jaegers
Ein leitender Kollege bei SPIEGEL TV, einmal festhalten, worum es hier geht: Ent- Grenze« Relotius vor, nahezu alles ge-
als Diensthabender mit im Schnitt, ist sich weder richtest du gerade einen Kollegen fälscht zu haben. Bis dahin, so Fichtner,
sicher, dass er die Ressortleitung der Ge- hin, oder du richtest dich selber hin.« (Mo- habe es Indizien gegeben, aber keine
sellschaft »so im Vorbeigehen« auf die Un- reno selbst hat das Zitat etwas anders in Beweise.
stimmigkeiten ansprach – er kann sich nur Erinnerung: »Du weißt schon, was du da Fichtner sagte der Kommission, er habe
nicht mehr erinnern, wen von den damals gerade tust? Du versuchst, das Leben eines den designierten, aber noch nicht amtie-
Zuständigen. Der TV-Kollege sagt: »Relo- jungen, talentierten Kollegen zu zerstö- renden Chefredakteur Steffen Klusmann
tius meldete sich dann bei mir. Meine ren.«) wohl in der Woche nach Geyers erstem
Nachfrage muss ihn also erreicht haben.« Matthias Geyer schrieb in einer Zusam- Anruf zum ersten Mal informiert, aber
Die Mitglieder der Ressortleitung sagen menfassung seines Gesprächs mit der ohne Details zu nennen, eher ungefähr so:
aber, dass sie nichts von der Warnung Kommission über diesen Moment: »Für »Da ist was, ich kümmere mich.« Zu der
wissen. mich war klar, dass wir es jetzt mit einem Zeit hätten Klusmann und er selbst bis
Relotius kam in den Schnittraum und Vorgang zu tun haben, der für einen der zum Hals in Terminen gesteckt. Er sagte
auch noch ins Autorenbüro, in dem der beiden Beteiligten Konsequenzen haben zudem, er habe geglaubt, dass er einen gu-
Filmautor am Text arbeitete. Wortreich muss: Entweder ist Relotius ein Betrüger, ten Ressortleiter (Geyer) habe, der sich
»erklärte« Relotius die Unstimmigkeiten. oder Moreno zerstört gerade den Betriebs- um das Problem kümmere. Er selbst habe
Der Autor sagt, er habe dann auf Relotius’ frieden bzw. betreibt Rufmord.« von dem Titel mit den Kiribati-Passagen
Bitte hin auch den Namen des Jungen von Dass Geyer die Bedeutung erkannt hat- gewusst und habe auch ein frühes Manu-
»Mahmud« in »Nadim« geändert, weil es te, wird auch dadurch klar, dass er unmit- skript gelesen. Er sei aber davon ausgegan-
sowieso oft sinnvoll sei, die Namen von telbar nach dem Telefonat Ullrich Fichtner gen, dass mit dem zuständigen Dokumen-
Kindern zu deren Schutz zu ändern. Sonst als designierten Chefredakteur informierte tar geredet werde. Matthias Geyer sagt,
war der Film unabhängig von Relotius’ Ge- und sich beim Sportressortleiter, ebenfalls Morenos Vorwürfe hätten sich damals nur
schichte und stimmte mithin. Die Kollegen ein Vorgesetzter/Auftraggeber von More- auf den Text »Jaegers Grenze« bezogen.
von SPIEGEL TV fühlten sich darüber hi- no, rückversicherte. Niemand habe zu dem damaligen Zeit-
naus nicht dafür zuständig, Relotius weiter Zwei Wochen nach Morenos ersten Hin- punkt den Verdacht gehabt, dass es sich
hinterherzurecherchieren, weil sie auch weisen und zehn Tage nach der E-Mail mit bei Relotius um einen systematischen Be-
davon ausgingen, dass die Geschichte von den Indizien für die Fälschung ließ das Ge- trüger handeln könnte.
der Dokumentation überprüft worden war. sellschaftsressort trotzdem die Klima-Titel-
geschichte »Was der Erde droht« passieren. Der Umgang mit Moreno
Morenos Misstrauen Einstieg, Schluss und eine Mittelpassage
stammten von Claas Relotius, angeblich Die Reaktionen auf den Whistleblower
Am Freitag, dem 16. November 2018, te- von der Pazifikinsel Kiribati. Heute ist klar, Moreno sowie das Handling des Falles in
lefonierte Juan Moreno mit Matthias Gey- dass Relotius nicht einmal auf Kiribati war, den ersten Tagen und Wochen waren lang-
er und sagte ihm (laut Geyer aufgeregt und sein Text war gefälscht. sam und mangelhaft, geprägt von Vertrau-
ungeordnet), dass Relotius Teile der ge- Obwohl Geyer es nach eigener Auskunft en gegenüber Relotius und Misstrauen ge-
meinsamen Geschichte »Jaegers Grenze« für möglich hielt, dass Relotius ein Betrü- genüber Moreno. Der Fall wurde behan-
gefälscht habe. In dieser Geschichte ging ger sein könnte (… entweder Relotius ist delt, als ginge es nur um Gezänk zwischen
es um die Karawane von mittelamerikani- ein Betrüger …), stoppte er den Klimatitel einem freien Kollegen und dem Nach-
schen Flüchtlingen, die in die USA wollten nicht. Er strich die Relotius-Passagen auch wuchsstar des Ressorts – und nicht um ei-
– und es ging um eine rechte Miliz auf US- nicht aus dem Text. Ebenso wenig leitete nen Verdacht, der dem ganzen Unterneh-
Seite, die angeblich Jagd auf genau solche er Recherchen ein, um den Fall vor Erschei- men schaden könnte. Besonders schwer
Menschen machte. Moreno hatte in Mexi- nen der Titelgeschichte aufzuklären. wiegt, dass die Verantwortlichen im Ge-

134
In eigener Sache

sellschaftsressort keine eigenen Re- ter Fotograf, der seit 20 Jahren in der Ge- später in einem Gespräch mit der Kom-
cherchen anstellten, um den Fall aufzuklä- gend recherchiere, noch nie geschafft. Gey- mission und sagte, Moreno habe ihn auf-
ren. Dies hätten sie selbst dann tun müs- er fordert nach eigener Aussage Relotius auf, gefordert, die E-Mail wegzuschmeißen.
sen, wenn sie Relotius für unschuldig die Vorhaltungen Morenos auch unter Zu- Geyer ruft Moreno an, laut Moreno »zu-
hielten, denn schließlich wurde er schwer hilfenahme der Dokumentation zu klären. tiefst verärgert« über dessen angeblich
beschuldigt. Moreno wehrt sich dann gegen »Regie- »völlig unprofessionelles Verhalten« und
Während das Gesellschaftsressort also anweisungen« von Relotius beim Bearbei- den kritischen Ton in der E-Mail vom
nichts recherchieren ließ, was den Fall hät- ten des Textes und schreibt, er tue sich 13. November. Geyer zur Kommission:
te klären können, fuhr Moreno aus eige- »sehr schwer mit diesem Wunsch nach ein- »Ich fand seine Arbeitsweise unprofessio-
nem Antrieb in die USA, um selbst zu re- fachen, klaren Erklärungen. Es ist nie klar nell und spreche mit ihm über den Unter-
cherchieren. und einfach«. schied zwischen Reportage, Report und
Zeit verstrich, und außerdem riskierten Essay. Ich sage ihm, er müsse in der Lage
die Beteiligten, dass der Fall nach außen Mittwoch, 14. November sein, Egoismen zurückzustellen.«
dringt – dann hätte der SPIEGEL nicht ein- Relotius schreibt an Moreno: Er habe »den Es wird ein Gesprächstermin für den
mal mehr die Chance gehabt, die Affäre Tag und die halbe Nacht« damit verbracht, 22. November vereinbart.
selbst aufzuklären. Denn laut (späterer) den Text »szenischer, erzählerischer« zu
Auskunft von Moreno war eine US-Jour- machen. Am Abend ruft Geyer bei More- Freitag, 16. November
nalistin schon dabei zu recherchieren. Au- no an und äußert sich laut Moreno verär- Am Nachmittag telefoniert Moreno mit
ßerdem waren Bürger in Fergus Falls Re- gert über dessen Verhalten gegenüber Re- Matthias Geyer. Laut Geyer spricht More-
lotius ebenfalls auf der Spur und planten lotius und die E-Mail. In den kommenden no schon in diesem Telefonat von »Fäl-
eine Veröffentlichung. Über die Kleinstadt Tagen soll es ein Gespräch geben. schung«, er sagt, dass der Text »Jaegers
in den USA hatte Relotius 2017 eine, wie Inzwischen hat Moreno das Layout der Grenze« in den Teilen, die Relotius ge-
man heute weiß, weitgehend erfundene Geschichte mit den Fotos zu sehen bekom- schrieben habe, nicht stimme.
Reportage geschrieben. men. Er hat erste Zweifel, dass die Ge- Moreno schildert die festgestellten Un-
Vor allem aber führte das fehlerhafte schichte so stimmt, wie Relotius sie aufge- stimmigkeiten. Geyer habe gesagt, er habe
Handling dazu, dass der SPIEGEL den in schrieben hat. Er findet in amerikanischen die Anmerkungen zur Kenntnis genom-
Teilen gefälschten Klimatitel druckte. Medien Hinweise auf diese Unstimmigkei- men, er halte nichts davon. In diesem Ge-
Moreno, als fester Freier praktisch je- ten. Moreno recherchiert nach eigenen An- spräch fällt das Hinrichtungs-Zitat. Geyer
derzeit kündbar, sah sich gefährdet. Er hat- gaben die ganze Nacht weiter und ist sich sagt dazu außerdem: »Ich habe erst mal
te den Eindruck, als laufe er beim SPIEGEL danach sicher, dass Text und Bilder nicht keinen Grund, an der Integrität von Claas
gegen eine Wand: »Es waren dicke, solide übereinstimmen. Die Hauptfigur »Chris zu zweifeln.« Moreno bietet nach eigener
Betonwände, SPIEGEL-Qualität gewisser- Jaeger« heißt in einer Geschichte der Aussage an, seine Hinweise noch mal
maßen.« Das Einzige, was das Gesell- »New York Times« zum Beispiel Chris schriftlich vorzutragen. Geyer sagt hinge-
schaftsressort in den ersten Wochen unter- Maloof. Das Bild des Fotografen Johnny gen, er habe Moreno aufgefordert: »Schick
nahm, war, Relotius mit Morenos Vorwür- Milano ist von 2016. Moreno findet einen mir das schriftlich, dann prüfen wir das.«
fen zu konfrontieren. Relotius bekam so Text des amerikanischen Journalisten Nach diesem Gespräch hat Moreno den
Gelegenheit, weitere Lügengebäude auf- Shaun Bauer, dem es gelungen war, eine Eindruck, gerade gefeuert worden zu sein.
zubauen. Bürgerwehr undercover zu infiltrieren. Er telefoniert mit dem Fotografen Scott
Die Männer in Bauers Geschichte haben Dalton, der ihm anbietet, mit ihm nach
seltsamerweise ähnliche Decknamen wie Arizona zu fahren, um Beweise zu recher-
Die Chronologie bei Relotius: Pain, Spartan, Ghost, Jaeger. chieren. Diesen Eindruck vermittelte of-
der Aufdeckung Am Abend schreibt Moreno nach eige- fenbar auch Relotius, der am Abend der
nem Bekunden eine warnende E-Mail an Verleihung des Reporterpreises (4.12.2018)
Die zeitliche Abfolge der Vorgänge zeigt, den zuständigen Dokumentar und schickt Kollegen zufolge sagte, er sei traurig, weil
wie zögerlich die Aufklärung angegangen ihm alle bis dahin bekannten Informatio- Moreno seinen Texten nachrecherchiere;
wurde – und dass die Ressortleitung und nen, allerdings mit der Bitte, diese vertrau- Moreno habe sich verrannt und werde des-
der designierte Chefredakteur Ullrich lich zu behandeln. wegen wohl entlassen.
Fichtner Moreno alleinließen. Die Chro- Geyer informiert Fichtner. Man ist sich
nologie basiert auf einem Protokoll, das Donnerstag, 15. November einig, dass man auf Morenos schriftliche
Moreno Ende Dezember auf Bitte von Ull- Der Dokumentar ruft Moreno (nach An- Ausführungen warten müsse.
rich Fichtner angefertigt hat, und auf Ge- gaben von Moreno) an und sagt, er sei nur
sprächen von Matthias Geyer und Ullrich für die normale Textverifikation zuständig, Sonntag, 18. November
Fichtner mit der Kommission. Matthias ansonsten müsse er dem Autor glauben. Moreno schickt eine lange E-Mail an Geyer
Geyer hat aus dem Gespräch ein eigenes Der Dokumentar bestätigte diese Version und Özlem Gezer unter anderem mit drei
Protokoll angefertigt. Fragen, Bilddateien, die die Namensdiffe-
renz (Maloof/Jaeger, Foley/Nailer) belegen,
Dienstag, 13. November 2018 zudem mit dem Instagram-Profil von Chris
Moreno schreibt an Relotius als Reaktion Nach diesem Maloof (»Jaeger«) und weiteren Argumen-
auf Relotius erste Version des Textes »Jae- ten. Fichtner sagte der Kommission später,
gers Grenze«, diese E-Mail gehe in »cc« Gespräch hat Moreno Morenos E-Mail sei schwer zu verstehen
auch an Matthias Geyer. Moreno listet sei- gewesen: Er habe seinen Fall schlecht vor-
ne bis dahin noch lediglich inhaltlichen den Eindruck, getragen und geglaubt, dass alle wüssten,
und formalen Probleme mit dem Text auf. worum es gehe, nur weil er seine drei Fra-
Er äußert sich allerdings bewundernd da- gerade gefeuert gen verschickt habe. Allerdings ist diese E-
rüber, dass es Relotius gelungen sei, in so Mail nach Auffassung der Kommission klar
kurzer Zeit Zugang zu einer Bürgerwehr worden zu sein. genug, um den Vorwurf des Betrugs durch
gefunden zu haben. Das habe ein bekann- Relotius nachvollziehen zu können.

DER SPIEGEL Nr. 22 / 25. 5. 2019 135


In eigener Sache

Es wäre ab diesem Moment möglich ge- Freitag, 30. November dass Relotius den Protagonisten »Nailer«
wesen, Relotius auffliegen zu lassen, wenn Moreno fährt zusammen mit einem Foto- doch persönlich gesprochen habe.
ein Verantwortlicher eine Überprüfung grafen rund 700 km von Las Vegas nach
der Vorwürfe vorgenommen oder veran- Arizona zu Tim Foley (bei Relotius »Nai- Montag, 10. Dezember
lasst hätte. Man hätte etwa Maloof über ler«) und konfrontiert ihn mit einem Por- Fichtner konfrontiert Moreno bei einem
sein Instagram-Profil kontaktieren und fra- trätfoto von Relotius auf seinem Handy. Vieraugengespräch in Hamburg in seinem
gen können, ob er sich auch manchmal Foley sagt, er kenne Relotius nicht. Da- Büro nach dessen Aussagen mit der Erwi-
»Jaeger« nenne oder ob er Claas Relotius nach nimmt Foley Detail um Detail der derung von Relotius auf seine E-Mail vom
kenne. Auch ein Telefonat mit dem Foto- Relotius-Teile der Geschichte auseinander. 18. November. Er äußert nach Aussagen
grafen Johnny Milano über die Identität Moreno und der Fotograf dokumentieren von Moreno außerdem Zweifel an der
von Maloof wäre möglich gewesen. Foleys Aussage in einem gut 29 Minuten Echtheit der Videos. Fichtner laut Moreno:
langen Video. Foley stellt auch den Kon- Er sei »Partei«, und man wisse nicht, »was
Montag, 19. November takt zu Chris Maloof (bei Relotius »Jae- ich Foley und dem anderen geboten habe«.
Am Montagvormittag wird die E-Mail von ger«) her. An diesem Tag, zwei Wochen Ullrich Fichtner stellt die Situation fol-
Moreno stattdessen an Relotius übergeben, nach dem ersten Anruf von Moreno, er- gendermaßen dar:
er wird um eine schriftliche Stellungnahme scheint der SPIEGEL mit dem Klimatitel Er habe das Gespräch mit Moreno ge-
gebeten. Relotius erhält damit die Gele- und den Kiribati-Teilen von Relotius. sucht, nachdem die Videos vorlagen. Re-
genheit, Vorwürfe (auch durch neue Fäl- lotius habe dadurch zwar schlecht dage-
schungen) scheinbar zu entkräften. Montag, 3. Dezember standen, sei allerdings durch die (gefälsch-
Moreno fängt derweil an, andere Texte Foleys Frau Jan schickt eine empörte E- te) E-Mail entlastet worden. Die Mail sei
von Relotius zu durchforsten, und findet Mail an Relotius und fragt ihn, wie er dazu »stark« gewesen und habe die Glaubwür-
Hinweise auf mögliche Fälschungen in den komme, eine lange Geschichte über die digkeit der Videos erschüttert.
Relotius-Texten über Colin Kaepernick Bürgerwehr zu schreiben, ohne da gewe- Fichtner: »Diese Informationen – und
oder die »Königskinder«. sen zu sein. Diese E-Mail wird Claas Relo- auch die mehrseitige schriftliche Erklärung
tius später verfälschen, um »beweisen« zu von Relotius – habe ich mit Moreno an je-
Dienstag, 20. November können, dass er doch dort war. nem Montag ausgetauscht, als Beweismit-
Relotius übergibt seine schriftlichen Ant- tel gewissermaßen. Das hat ihm die Gele-
worten an Geyer. Geyer leitet sie an Ficht- Dienstag, 4. Dezember genheit gegeben, seine berechtigten Zwei-
ner weiter. Es soll nun einen Gesprächs- Moreno fährt zu Chris Maloof. Maloof fel an der E-Mail loszuwerden und endlich
termin mit den Beteiligten geben. Bei der sagt ebenfalls, er kenne Relotius nicht und auf Relotius’ Version der Vorgänge zu rea-
Suche nach einem Termin stellt man fest, sei mit ihm auch nie an der Grenze gewe- gieren. Er hat allerdings, das muss dann
dass Relotius vom 23.11. bis 3.12. in Urlaub sen. Auch die ihm angedichtete Vorge- nun auch mal auf den Tisch, die Gelegen-
gehen will. Man beschließt, die Angele- schichte (deutsche Vorfahren, von Latinos heit genutzt, diffuse Drohungen auszuspre-
genheit auf Anfang Dezember zu vertagen. angefixte Junkie-Tochter etc.) dementiert chen. Er raunte, dass der Fall womöglich
Die Erwiderung von Relotius wird Juan Maloof. Er zeigt seine Handrücken in die bald öffentlich werde, dass ihn, Moreno,
Moreno erst am 10. Dezember gezeigt. Er Kamera, die nicht so tätowiert sind, wie bereits eine Journalistin kontaktiert habe,
hat also bis zu diesem Zeitpunkt keine Relotius geschrieben hat. dass die Leute der Miliz Klagen gegen den
Möglichkeit, auf die Rechtfertigungen und SPIEGEL planten, solche Dinge. Seine ei-
neuerlichen Fälschungen zu reagieren. Samstag, 8. Dezember gene Rolle dabei blieb diffus, es war aber
Fichtner liegen die Videos von Moreno klar, dass er andeuten wollte, womöglich
Donnerstag, 29. November vor. Er informiert Geyer und sagt, Relotius selbst illoyal zu werden. Ich habe ihm des-
Moreno fliegt für das Sportressort in die werde darin schwer belastet. Geyer: »Wir halb nicht nur gesagt, dass er ›Partei‹ sei,
USA; er will dort aber auch Beweise gegen beschließen ein unverzügliches Treffen für was er im juristischen Sinne ja auch war;
Relotius sammeln und dafür etwa die Bür- den nächsten Vormittag in meinem Büro. ich sagte ihm aufgrund seiner zum Teil
gerwehr treffen – auf eigene Faust und Rech- Fichtner lädt Relotius per E-Mail für 11.30 ziemlich schmierigen Drohungen auch,
nung. Auf dem Flughafen London erreicht Uhr dazu ein.« und zwar mehr oder weniger wörtlich:
ihn eine E-Mail von Geyer mit dem Ge- Juan, ganz ehrlich, du klingst grade wie
sprächstermin: »Die Runde wird aus mir, Sonntag, 9. Dezember eine Figur aus einem Mafiafilm.«
Fichtner, Claas und Dir bestehen.« Moreno Relotius bekommt die drastischen Videos
sagt mit Verweis auf die USA-Reise ab. Öz- zu sehen. Relotius sagt nach Erinnerung Zu dem oben genannten Vorwurf
lem Gezer wird von Geyer dazu nicht ein- von Geyer, das sehe »tatsächlich schlecht« Fichtners sagt Moreno: »Ich habe dem
geladen. Man habe ihr gesagt, so Gezer, es für ihn aus. Auf die Frage, ob er etwas Ent- SPIEGEL niemals direkt oder indirekt ge-
seien schon zwei Chefs dabei, das sei aus- lastendes habe, zeigt Relotius auf seinem droht, noch habe ich zu irgendeinem Zeit-
reichend. Auch in den folgenden Wochen Handy die (von ihm selbst verfälschte) E- punkt angedeutet, illoyal werden zu wol-
wird Özlem Gezer nach ihren Angaben von Mail von Foleys Frau Jan vor, aus der in len, also mit meinem Wissen zu einem
Geyer nicht einbezogen. Geyer sagte der dieser Version nun hervorzugehen scheint, Medium gehen zu wollen. Einziges Ziel
Kommission: »Am Abend des 18. Novem- meines wochenlangen Handelns war, mei-
ber 2018 hat Juan Moreno um 22.36 Uhr ne durch eine Fälschung ramponierte Re-
seine ›drei Fragen‹ zu Relotius’ Rolle im putation als freier Journalist wiederherzu-
Text ›Jaegers Grenze‹ per Mail an mich ver- Die Mail soll stellen und Schaden von meinem wichtigs-
schickt, Özlem Gezer war in cc. Am darauf- ten Auftraggeber abzuwenden.«
folgenden Morgen, 19. November, habe ich demonstrieren, wie Morenos Problem sei durchgängig, so
persönlich mit ihr darüber gesprochen. Die Fichtner, dass er jeden seiner Belege für
weitere Aufbereitung lag in den Händen des leicht Relotius einen absoluten Beweis gehalten habe.
designierten Chefredakteurs Ullrich Ficht- Fichtner: »Ich hatte damals auf der einen
ner und mir. Darüber wurde Özlem Gezer gefälscht haben kann. Seite den immer noch vermeintlich unbe-
in den wesentlichen Punkten informiert.« scholtenen Kollegen Relotius – und ich hat-

136
te auf der anderen Seite zwei dubiose Ge- Am 19. Dezember enthüllt der SPIEGEL
stalten, von denen ich nur wusste, dass sie die Affäre im eigenen Haus mit einer um-
in Milizen zum Privatvergnügen Streife Am 19. Dezember fangreichen Geschichte auf SPIEGEL ON-
gegen Einwanderer aus Mexiko gehen. Ich LINE und in der Folge in dem SPIEGEL-
hatte zwei Videoclips, deren Entstehungs- enthüllt der SPIEGEL Titel »Sagen, was ist.«
geschichte ich nicht kannte und die mir
das Blut gefrieren ließen wegen ihres In-
die Affäre im
halts, aber auch wegen Morenos Gnaden- eigenen Haus. IV. Wie konnte es
losigkeit. Und ich konnte wirklich nicht so weit kommen?
wissen, was gesprochen worden war, be-
vor die Kamera anging.« Diese Skepsis Claas Relotius war ein Einzeltäter, der mit
habe er Moreno mitgeteilt. Es sei gut mög- worden, nachdem vorherige Termine mit erheblicher Energie gefälscht und seine
lich, dass er gesagt habe, er wisse ja nicht, Relotius und Moreno nicht zustande ge- Fälschungen vertuscht hat. Er ist in aller-
ob Moreno denen womöglich sogar Geld kommen waren. erster Linie für sein Handeln verant-
bezahlt habe. Die Eindeutigkeit des Zitats wortlich.
von Moreno sei aber »mit Sicherheit Dienstag, 11. Dezember Gleichwohl stellt sich die Frage, unter
falsch«. Fichtner sagt, er habe sich damals Moreno schreibt erneut an Fichtner und welchen Voraussetzungen und in welchem
wie ein Richter gefühlt, er habe nur Indi- listet alle ihm vorliegenden Hinweise auf. Umfeld ein solches Ausmaß an Fälschung
zien in der Hand gehabt. Er habe keine Er schreibt, dass sich Colin Kaepernicks über derart lange Zeit möglich war. Die
Fehler machen wollen. Über den Status Anwalt gemeldet habe und dementiere, Kommission hat mehrere Faktoren identi-
der Videos habe er sich auch mit seinem dass Relotius mit Kaepernick oder dessen fiziert, die eine systemische Rolle im Fall
»Ermittler« Clemens Höges ausgetauscht, Eltern gesprochen habe. Moreno schreibt des Claas Relotius gespielt haben könnten.
der seine Zweifel geteilt habe (Dies muss Fichtner: »Bitte schreib ihm oder rufe ihn l Die Stilform der Reportage, die mögli-
allerdings nach dem Gespräch mit Moreno an.« Moreno gibt ebenfalls den Tipp, in cherweise für Fälschungen besonders an-
gewesen sein, denn Höges wurde erst am Relotius’ E-Mail-Account nach der echten fällig ist.
11.12. hinzugezogen und bekam die Videos E-Mail von Foleys »Sprecherin« und Ehe- l Der Druck durch Journalistenpreise.
am Tag danach. Höges, damals zeitweise frau Jan zu suchen. Er gibt weiterhin den l Die besondere Konstruktion des Gesell-
Vertretung in der Ressortleitung Ausland, Hinweis, mit dem Fotografen Johnny Mi- schaftsressorts innerhalb des SPIEGEL.
sagt zu der Frage der Echtheit, er hielt es lano zu sprechen, der bezeugen könne, l Die Dokumentation, die beim Aufspü-
für »denkbar, aber nicht wahrscheinlich«, dass es »Jaeger« nicht gibt und sein Foto ren von Fehlern, die den Fälscher mögli-
dass Foley und Maloof in den Videos lü- in Wahrheit Chris Maloof zeige. cherweise entlarvt hätten, versagt hat.
gen, um sich einer strafrechtlichen Verfol- Erst diese Mail mit Hinweisen auf wei- l Der Umgang mit Fehlern.
gung zu entziehen). tere Fälschungen scheint Fichtners Glau-
ben an die Unschuld von Relotius ernst-
Moreno wird bei dem Treffen mit Ficht- haft zu erschüttern. Seine Antwort an Mo- Die Reportage als
ner am 10. Dezember auch eine weitere reno: »Ich bin sprachlos, verlass Dich da- anfällige Stilform
(gefälschte) E-Mail von einem der angeb- rauf, dass ich alles tun werde, um diese Ge-
lichen Milizionäre (Deckname in der Ge- schichte zu ermitteln und zu bereinigen.« Die Reportagen, die das Gesellschaftsres-
schichte »Luger«) an Relotius vorgehalten, sort mit einigen der besten Autoren der
die zu beweisen scheint, dass der Milizio- Mittwoch, 12. Dezember/ Republik Woche für Woche produziert,
när Relotius kennt und dass sein Klarname Donnerstag, 13. Dezember sind oft filmisch erzählte Geschichten;
»Mike Morris« lautet. Der Account lautet In der Nacht zu Donnerstag fährt Özlem Plots werden akribisch geplant und Figu-
mikemorris614@yahoo.com, die Unter- Gezer zu Relotius und bringt ihn zum Re- ren gelegentlich wie bei einem Filmcasting
schrift »lug«. den. Stunden später wird im Beisein von gesucht. Die Geschichten leben von hoher
Dies alles sieht Moreno nach seinen An- Betriebsrat und Personalabteilung der Detailgenauigkeit. Dies ist im Fall der Ent-
gaben an diesem 10. Dezember zum ersten dienstliche E-Mail-Account von Relotius stehungsgeschichte von »Jaegers Grenze«
Mal. Er überlegt, wie er die Lügen von Re- geöffnet und die Fälschung der E-Mail von in einem E-Mail-Verkehr zwischen Matthi-
lotius entlarven kann. Er lässt von einem Foleys Ehefrau entdeckt. Nachmittags füh- as Geyer, Moreno und Relotius gut nach-
Freund einen E-Mail-Account kreieren mit ren Ullrich Fichtner, Özlem Gezer und zuvollziehen. Dort heißt es unter anderem:
dem fast identischen Absender mike Matthias Geyer ein mehrstündiges Ge- »Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie
morris613@yahoo.com. spräch mit Relotius, in dem er seinen Be- kommt idealerweise aus einem absolut ver-
Von diesem Account aus geht eine E- trug gesteht. Am Abend informiert Ficht- schissenen Land (…) Sie setzt ihre Hoff-
Mail in die Redaktion: »Everything is true ner per SMS Steffen Klusmann. nung auf ein neues, freies gutes Leben in
Claas is telling you. We killed three Mexi- USA (…) Es muss eine sein, die mithilfe
cans today« – gezeichnet mit dem Kürzel Freitag, 14. Dezember eines Kojoten über die Grenze will (…)
»lug«. Die E-Mail mit dem offenkundig er- Klusmann informiert den Geschäftsführer Die Figur für den zweiten Konflikt be-
fundenen Text soll demonstrieren, wie Thomas Hass. Beide entscheiden, für Mon- schreibt Claas (…) Dieser Typ wird selbst-
leicht Relotius seine angeblichen Gegen- tag eine Taskforce einzuberufen. Bis dahin, verständlich Trump gewählt haben, ist
beweise gefälscht haben kann. Fichtner so Klusmann, wollte man den Kreis der schon heiß gelaufen, als Trump den Mau-
schlägt ein Gespräch mit Moreno und Re- Eingeweihten möglichst klein halten. Ull- erbau an der Grenze ankündigt hat, und
lotius im Januar vor – zumindest geht das rich Fichtner sei derweil dabei gewesen, freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks,
aus einer E-Mail von Moreno hervor, in das große Stück zu schreiben. wie Obelix sich auf die Ankunft einer neu-
der er sein Unverständnis über einen Ter- en Legion von Römern freut (…) Wenn ihr
min mit Relotius erst am 10. Januar äußert. Montag, 17. Dezember die richtigen Leute findet, wird das die Ge-
Fichtner sagt, der Termin 10. Januar sei Thomas Hass informiert die amtierenden schichte des Jahres.«
»routiniert und ohne großes Nachdenken Chefredakteure Susanne Beyer und Dirk Solch detaillierte Anweisungen per
als Terminblocker auf Vorrat« eingestellt Kurbjuweit. E-Mail sind nach Angaben einiger Mitar-

DER SPIEGEL Nr. 22 / 25. 5. 2019 137


beiter unüblich. Dieser Mail vorausgegan- die »gecastet« wurden, »Kino im Kopf«
gen war ein Streit zwischen Juan Moreno erzeugen, das Leben in einer »nutshell«
und dem Ressortleiter über die Frage, ob Die Reportage macht zusammengeschrumpft erzählen, und das
es für den Text zwei Autoren braucht. Mo- Ganze mit frischem Blick. Generationen
reno wollte Alleinautor sein. Dafür hat das Aufspüren junger Journalisten wurden in dieser Er-
sich Moreno in einer SMS entschuldigt. zählform ausgebildet. Die Reportage wur-
Am Nachmittag schrieb er an Matthias der Fälschung oder de zur »Königsdisziplin« erklärt. Journa-
Geyer: »Man sollte sagen, wenn man sich listenschüler lernten, Szenerien auszu-
verrannt hat. Du hast recht. Es ist reine der Verfälschung leuchten, ihre Protagonisten zu formen,
Eitelkeit. Ich will die Geschichte alleine Widersprüchliches und Sperriges wegzu-
machen, weil ich glaube, dass es eine geile schwer. lassen, schwarz-weiß zu erzählen, Grau-
Geschichte werden kann.« töne zu meiden, die Wirklichkeit der Dra-
Plot, Casting und manchmal Zeitdruck maturgie unterzuordnen, Geschichten
bergen die Gefahr, dass die Wirklichkeit Reportage« postuliere er »eine Montage- rund zu machen.
dem Drehbuch angepasst wird. Zumal technik, bei der der Reporter mehrere Ge- Diesen Auszubildenden hat vermutlich
wenn Journalistenpreise gewonnen wer- sprächspartner zu einer Person zusammen- niemand gesagt, sie sollten fälschen oder
den sollen. Die Reportagen von Claas Re- führen darf«. Haller, der in dem Interview erfinden. Doch vom »Verdichten« zum
lotius waren Extrembeispiele dafür. von verschiedenen Arten der Wahrheit re- »Dichten« ist es eben – legt man es darauf
Diese Art der Komposition von Repor- det (»›Stimmen‹ ist ein weites Feld«), sagte an – nur ein kleiner Schritt. Und wenn der
tagen kommt nicht nur im SPIEGEL vor, der »taz« nach Relotius: »Ich verstehe gut, besondere Plot und die außergewöhnli-
sie wurde zumindest bis zum Fall Relotius wenn man hier heute strenger denkt, seit- chen Protagonisten erwartet und dann prä-
manchen jungen Journalisten sogar von dem wir wissen, wie viel Missbrauch getrie- miert werden, ist die Versuchung für die
Experten nahegebracht. Nur wenige wa- ben wird.« Er kommt in dem Interview Schreiber groß, von der Wirklichkeit ab-
ren bereit, darüber mit der Kommission auch nicht ganz davon weg, dass er früher zuweichen, sie zu dehnen oder zu verschö-
zitierfähig zu sprechen. das »Verdichten« vertrat, also das literari- nern. Der Blick derer, die in der Redaktion
Michael Schmuck, Journalist, heute An- sche Zusammenführen von Fakten, die in des SPIEGEL redigieren und für die Plau-
walt für Presserecht, Dozent und ehema- Wahrheit aus verschiedenen Zusammen- sibilität eines Textes verantwortlich sind,
liger Geschäftsführer der Nachfolge-Schu- hängen stammen. Haller: »Ich finde, die orientiert sich aber offenbar immer wieder
le der Nannen-Schul-Dependance in Ber- subjektiven Erzähltexte gewinnen ihre Aus- am schön geschriebenen Text, an der be-
lin (KLARA), bestätigte der Kommission sagekraft durch ein etwas anderes Realitäts- sonderen Story. Manche Verantwortlichen
auf Anfrage, dass es dort im Reportage- verständnis (…) Ich produziere keine Lü- fragten nicht in erster Linie, ob eine Ge-
seminar im Rahmen eines sechswöchigen gengeschichte, wenn ich Verhaltensmuster schichte stimmt, sondern ob sie schön ge-
Volontärskurses eine Unterrichtseinheit durch Verdichtung herausarbeite.« schrieben und toll komponiert ist: Ullrich
gegeben habe zum Thema »Ist Schwindeln In ausführlichen Gesprächen mit den Fichtner am 19.12.2018 auf SPIEGEL
und Erfinden erlaubt?« – die Frage sei von Leitern der Henri-Nannen-Schule und der ONLINE: »Als Redakteur, als Ressortleiter,
Dozenten keineswegs klar und kurz mit Münchner Journalistenschule wurde der der solche Texte frisch bekommt, spürt
»Nein« beantwortet worden. Kommission versichert, dass den Auszu- man zuerst nicht Zweifeln nach, sondern
Unterthemen seien gewesen: bildenden dort solche zweifelhaften Rat- freut sich über die gute Ware. Es geht um
l Darf es eine »Kunstfigur« geben? Einen schläge nicht gegeben würden. eine Beurteilung nach handwerklichen
Zusammenbau mehrerer realer Personen? Seit der Aufdeckung des Fälschungsfalls Kriterien, um Dramaturgie, um stimmige
l Darf eine Woche Reportagezeit für den Relotius wird darüber diskutiert, ob das Sprachbilder. Es geht nicht um die Frage:
Leser zum Beispiel auf einen Tag verkürzt Genre »Reportage« insgesamt diskredi- Stimmt das alles überhaupt.«
werden? tiert ist. Das sieht die Kommission nicht Die Erzählweise, die in Reportagesemi-
l Darf der Reporter dem Leser suggerie- so. Reportagen haben da, wo es etwas zu naren, zum Beispiel dem des »Reporter-
ren, er habe selbst Beobachtungen ge- sehen, zu hören, zu erzählen und zu be- forums«, gelehrt wurde und wird, bedient
macht, obwohl er nicht vor Ort war? schreiben gibt, dort, wo Wirklichkeit an- sich dabei aus dem Werkzeugkasten des
l Dürfen störende Fakten weggelassen schaulich, nachvollziehbar und verständ- Films, der Comics und der Literatur, also
oder fehlende ergänzt werden, um die Ge- licher werden soll, ihre Berechtigung. Le- der Fiktion. Zitiert wird immer wieder der
schichte rund zu machen? ser des SPIEGEL lesen, das weiß man aus britische Literaturwissenschaftler, Roman-
Schmuck: »Zu dieser Diskussionsein- Leseranalysen, gern lange Geschichten. autor und Essayist E. M. Forster und sein
heit wurden bekannte Reporter oder Re- Die Lesequoten der langen Texte, egal, ob berühmter Beispielsatz: The king died,
porterinnen eingeladen. In aller Regel wa- exzellent geschriebene Reportage oder and then the queen died. Dies, so Foster
ren sie der Meinung: Ja, das alles darf man faktenreiche Titelgeschichte, übersteigen sinngemäß, sei eine Story. Erst der Satz:
in gewissem Umfang. Was nun immer ›ge- im SPIEGEL die der kürzeren Texte. Diese The king died, and then the queen died of
wisser Umfang‹ heißen mag. Sie erzählten Analyse stellt aber auch das Diktum infra- grief, mache daraus einen Plot.
dann auch aus ihren Reportagen solche ge, nach dem nur die vermeintlich außer- Das macht das Problem und die Gren-
Beispiele, die dann eben mal mehr und gewöhnlich gut geschriebene und erzählte zen dieser Methodik für Journalismus sehr
mal weniger die wahre Geschichte ver- Geschichte es schafft, Leser zu begeistern. deutlich. Im Journalismus wird es schwer
fälschten. Aber Einigkeit bestand immer Leser haben offenbar ganz unterschiedli- sein, immer die Gründe oder Ursachen ei-
darin, dass das erlaubt sei.« che Kriterien. Ein wichtiges ist das inhalt- nes Todes zu ermitteln. Vielleicht hatte die
Nicht besser agierte der branchenweit liche Interesse an einem Thema. Königin eine Lungenentzündung, hat sich
bekannte Journalistikfachmann Michael In den vergangenen Jahrzehnten wurde umgebracht oder wurde vergiftet. Vieles
Haller – im Interview mit der »taz« vom vor allem bei Magazinen häufig eine sehr ist denkbar. Journalisten müssen oft schrei-
11.2.2019 versuchte er allerdings nach Be- besondere Form der Reportage kultiviert. ben: The king died, and then the queen
kanntwerden der Relotius-Affäre, sich von Sie sollte »möglichst nah dran« sein, einer died, and we don’t know why.
dergleichen zu distanzieren. So hielt ihm klaren Dramaturgie mit ausgesuchten, ins Besonders gefährdet und anfällig für
die »taz« vor, in seinem Standardwerk »Die Drehbuch passenden Protagonisten folgen, Ausschmückungen und Fehleinschätzun-

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In eigener Sache

gen scheint die Form der »szenischen Re- er circa 40-mal ausgezeichnet). Die Reden eine notwendige Voraussetzung für Demo-
konstruktion«, wie sie im SPIEGEL auch der Laudatoren lesen sich heute wie Real- kratie ist, so darf sie nicht den Desinfor-
in den szenischen Einstiegen häufig ge- satire. Alle waren von der angeblich bril- matoren überlassen werden. Wenn Popu-
nutzt wird. Hier werden nicht nur Ereig- lanten Schreibe, den aufregenden Drehbü- listen versuchen, die öffentliche Debatte
nisse rekonstruiert, es werden auch Ge- chern, den besonderen Protagonisten be- zu okkupieren, muss Journalismus eine
danken und Gefühle nachempfunden. Der eindruckt. Niemand hatte offenbar Zweifel. Alternative anbieten, also antipopulistisch
Reporter schaut in den Kopf seines Prota- Bestenfalls gab es gelegentlich, wie in der sein. Wenn Information, Desinformation,
gonisten, versetzt sich in seine Gefühls- Nannen-Jury, ein leises Unbehagen an der Meinung, Urteil und Vorurteil immer nur
und Gedankenwelt hinein. Die Form der »zu glatt polierten Geschichte«, von einen Klick weit auseinander liegen, dann
szenischen Rekonstruktion, oft als Einstieg »Kitsch« war die Rede oder von Zweifeln müssen wir Journalisten uns fragen, wie
benutzt, ist also vom Grunde her eine »Er- an der Quellenlage. Doch auch diese Zwei- sich Journalismus kenntlich macht und da-
findung«. Denn selbst wenn alles recher- fel, wie bereits Hinweise von Lesern oder von abgrenzt. Bislang beklagen wir zwar
chiert ist, so wurde es mehrfach gefiltert. Kollegen zuvor, verpufften. diese Verrohung, schauen ihr aber tatenlos
Von demjenigen, der es erzählt, und dann Innerhalb eines selbstreferenziellen Sys- zu. Wir schreiben unsere Texte, als wäre
ein zweites Mal im Kopf des Reporters. tems der medialen Blase war niemand in nichts passiert. Im besten Fall in guter
Von Authentizität, die die Stilform der Re- der Lage, das Unwahrscheinliche in Relo- handwerklicher Qualität.
portage suggeriert, ist man dann weit ent- tius’ Texten als Fälschung zu vermuten Journalisten müssen damit rechnen,
fernt. Der Reporter ist der Interpretation oder gar zu erkennen. dass Nutzer heute informierter sind als frü-
seiner Informanten ausgeliefert. Je nach Was heißt das für den Journalismus, her. Noch nie war es so leicht, sich weltweit
Recherchemöglichkeit bekommt er nur die den Reportagejournalismus im Besonde- Informationen zu verschaffen. Gleichzeitig
Auskünfte, die in das von den Informanten ren? Ganz allgemein gesagt: Man kann sind die Menschen desinformierter als frü-
gewünschte Bild passen. Er macht sich da- nicht einfach so weitermachen, wenn klar her, weil sie einer Fülle von nicht überprüf-
mit zum Komplizen der Interessen des ist, wie anfällig diese journalistische Form ten, nicht recherchierten Informationen
Protagonisten. für Betrug ist, wie leicht es für Relotius ausgesetzt sind. Guter Journalismus muss
Es gibt natürlich gelungene Beispiele war, damit durchzukommen. Die Repor- im konstruktiven Sinn verunsichern. Nicht
von szenischen Einstiegen. Zum Beispiel tage ist eben nicht nur eine Form, und mit donnernden Meinungen, sondern mit
der Anfang einer Geschichte über die damit unschuldig. Sie verführt zur Fäl- dem starken Argument. Das Sowohl-als-
SPD (SPIEGEL 4/2019). Er erzählt eine schung und macht das Aufspüren der auch – oft als Beliebigkeit missbilligt – ist
Begebenheit zwischen dem niedersächsi- Fälschung oder der Verfälschung schwer. die Voraussetzung für die Eröffnung eines
schen Ministerpräsidenten Stephan Weil In der Reportage liegt also eine Gefahr, gesellschaftlichen Dialogs. Wenn Journa-
und einer Besucherin eines Parteikon- die umso größer ist, je weiter weg ihre lismus nicht zuhört, verschiedene Meinun-
vents, die ihn fragt: »Kannst du bitte un- Handlung spielt. gen nicht anerkennt, unterschiedliche Lö-
sere Partei retten und den Vorsitz über- Darüber nachzudenken ist eine Aufgabe sungswege für Probleme nicht selbst auf-
nehmen? Weil stockt kurz. Die Frage ist für jede Redaktion, jeden Kollegen, der zeigt oder mindestens gelten lässt, wird er
schmeichelhaft, aber auch gefährlich, ein als »Erstleser« einen Text auf den Tisch Teil des Problems.
Reporter steht daneben, er sollte jetzt bekommt, für alle Reporterfabriken, für Bei der Suche nach Wegen für einen
dringend etwas Unverfängliches sagen.« die Journalistenschulen. glaubwürdigen Journalismus, auch den
Es gelingt dem Autor nicht nur, diese Sze- Allerdings ist diese Selbstreflexion über- Reportagejournalismus, in Zeiten der digi-
ne gut zu beschreiben, sondern auch noch fällig und wäre auch ohne den Fälscher Re- talen Desinformation, geht es um Wahr-
sich selbst als Beobachter und damit Teil- lotius nötig. Der Journalismus, nicht nur haftigkeit, um Information und um Trans-
habender zu reflektieren. der erzählerische Journalismus, hätte sich parenz.
Relotius hat die Form der erzähle- in der digitalen Welt schon längst verän- Wahrhaftigkeit: Die erste Frage an ei-
rischen Reportage zu scheinbarer Meis- dern müssen. nen Text muss immer lauten: Stimmt das?
terschaft gebracht. Er lieferte in Serie In Zeiten der weltweiten Beunruhigung Ist es plausibel? Kann das sein?
buchstäblich unglaubliche, märchenhafte suchen die Menschen nach Orientierung. Wenn etwas nicht stimmt, ist es kein
Geschichten und erzählte unfassbare Aufgabe von Journalismus in der Demo- Journalismus. Wenn etwas nicht stimmt,
Schicksale. Glänzend geschrieben, außer- kratie ist es, den Bürgern dabei zu helfen, oder nicht genau so stimmt, begibt sich
gewöhnliche Story, passendes Weltbild, sich ein Urteil zu bilden und Entscheidun- der Journalist in den Graubereich der In-
preisverdächtig. Die Geschichten von Re- gen zu treffen. Dafür bedarf es der Infor- szenierung und Erfindung. Sprachliche
lotius passten offenbar in vielerlei Hin- mation und Aufklärung. Zusammenhänge Ausschmückung von Szenen oder die Illu-
sicht perfekt in die Erwartungshaltung müssen aufgezeigt, Hintergründe und his- mination von Orten, Verhältnissen, Ge-
der Redaktion. Anders ist es nicht zu er- torische Entwicklungen erklärt werden. danken und Beziehungen verwischen die
klären, dass die kritische Distanz zu Au- Wenn Öffentlichkeit, der Austausch von Grenze zur Literatur. Die Reportage ist
tor und Text – Grundvoraussetzung für Argumenten, das Ringen um Positionen dort das richtige Genre, wo es für den Re-
die Beurteilung eines Textes, auch seines porter viel zu sehen und zu erkunden gibt,
Wahrheitsgehalts, – verloren ging. Die wo er teilhaben kann an Ereignissen und
Frage »Kann das sein?« hat niemand ge- Gesprächen. Jedes Adjektiv birgt die Ge-
stellt. Georg Mascolo, Ex-Chefredakteur Journalisten fahr einer subjektiven Interpretation und
des SPIEGEL, schrieb kürzlich nach der öffnet die Tür zur Erfindung.
Aufdeckung des Falls Relotius selbstkri- müssen damit Das heißt auch, alles ist unzulässig, was
tisch in einem Text: »Waren wir blind, nur im Kopf des Journalisten existiert. Die
waren wir, war ich zu begeistert von allzu rechnen, dass Nutzer Dramaturgie einer Geschichte – und na-
perfekten Texten?« türlich muss ein Text eine Dramaturgie ha-
Jurys der kleinen und großen Journalis- heute informierter ben – muss der Wirklichkeit folgen. Wi-
tenpreise haben Relotius mit Auszeichnun- dersprüchliches gehört zur Wirklichkeit
gen überhäuft (Relotius gewann allein vier- sind als früher. und macht einen Text nicht unrund, son-
mal den »Reporterpreis«, insgesamt wurde dern interessant.

DER SPIEGEL Nr. 22 / 25. 5. 2019 139


In eigener Sache

Information: Mehr denn je braucht die- wie aufwendig, wie sorgfältig, wie ausführ- Das Gesellschaftsressort als
se Welt Information, Analyse, Wissen, Er- lich unsere Recherchen sind. Sonderfall im SPIEGEL
kenntnis. Es mag zu anderen Zeiten richtig
gewesen sein, die Menschen in erster Linie Das Gesellschaftsressort hat im Haus den
zu packen, sie anzurühren, sie emotional Der Druck der Ruf, sich abzuschotten, auch gegenüber Kri-
abzuholen. Es mag richtig gewesen sein, Journalistenpreise tik. Das erklärt sich zum Teil aus der Grün-
mit unverbrauchtem frischem Blick auf dungsgeschichte. Als das Magazin SPIEGEL
eine unbekannte Wirklichkeit zu schauen, Kein anderes SPIEGEL-Ressort wird auch REPORTER 2001 wegen ökonomischer Er-
um zu staunen oder Menschen aufzurüt- nur annähernd so oft mit Journalistenprei- folglosigkeit eingestellt wurde, transferierte
teln. Auch der »Thesenjournalismus«, der sen ausgezeichnet wie das Gesellschafts- der damalige Chefredakteur Stefan Aust
viel verbrannte Erde bei denjenigen hin- ressort, und im Ressort entsteht entspre- die gesamte Gruppe unter dem Ressortlei-
terließ, die anderer Meinung waren, hatte chender Druck auf junge Kollegen. Einer ter Cordt Schnibben – Reporter, Dokumen-
einst Konjunktur. Egal. Vergangen. Diese sagt, zwei Ressortleiter hätten ihm vor Jah- tare, Layouter – in das neu gegründete
Zeiten sind vorbei. Weg mit den Ausrufe- ren vorgeworfen, seine Geschichten seien SPIEGEL-Ressort Gesellschaft. Einer, der
zeichen. Die täglich konsumierten Mittei- zwar gut, doch sie würden keine Preise ge- damals dabei war, nannte es »hineinge-
lungen in den sozialen Medien sind voll winnen: »Aber darum geht es nun mal in bombt«. Ullrich Fichtner sagte der Kom-
von Emotion, von Hass, Überschwang, unserem Ressort«, habe einer der Ressort- mission: »Wir sind hier reingekommen wie
Blödsinn, Vorurteilen, Behauptungen, Ver- leiter gesagt. Israel in die arabischen Gebiete und hatten
schwörungstheorien. Wir können das nicht Die ehemalige stellvertretende Chef- sofort einen Sechstagekrieg.«
toppen. Wir müssen es unterbieten. Dafür redakteurin Susanne Beyer bestätigte im Die Kollegen wollten und sollten mit
bedarf es auch des Mutes zum Nichtwis- Gespräch mit der Kommission, dass von Unterstützung der Chefredaktion vor al-
sen. Die Sätze »Ich weiß es nicht« oder der Chefredaktion Journalistenpreise aus- lem große Reportagen zu diversen The-
»Wir wissen es noch nicht« sollten zu den drücklich gewünscht worden seien. Beson- men schreiben. Dafür musste das neue Res-
Standardsätzen einer Redaktion gehören. ders auf das Gesellschaftsressort habe es sort häufig in Themenbereiche vordringen,
Erfreulicherweise hat sich im Onlinejour- dabei erheblichen Druck gegeben. Das sei von denen die Redakteure der Fachres-
nalismus das Genre »Was wir wissen und auch ein Grund gewesen, warum Klaus sorts oder die Auslandskorrespondenten
was wir noch nicht wissen« eingebürgert Brinkbäumer den Vertrag von Matthias mehr verstanden oder in denen sie sogar
und wird gepflegt. Geyer als Ressortleiter des Gesellschafts- gerade selbst recherchierten. Das führte
Gerade im SPIEGEL, von dem die Leser ressorts nur für ein Jahr habe verlängern zu Konflikten, geschürt sicherlich auch
Aufklärung und Aufdeckung erwarten, wollen – weil da nicht mehr so viele Preise von einer Portion Neid wegen der beson-
von dem sie wollen, dass er nichts glaubt gekommen seien. deren Arbeitsbedingungen und auch Fä-
und alles prüft, ist die Art erzählte Ge- Brinkbäumer sagte der Kommission: higkeiten vieler Reporter. Auch die Tatsa-
schichte überholt, die in erster Linie auf »Nein, das stimmt so nicht.« Er begründete che, dass früher nur wenige Autoren Na-
Emotion und dem sogenannten frischen die Überlegungen zur Auflösung des Res- menstexte schreiben durften, befeuerte die
Blick basiert. Der unbelastete Reporter, sorts damit, dass die Gesellschaft »zu viel neidhafte Konkurrenzsituation. Das Ge-
der in ein fremdes Land fährt, mit fremder über einsame Straßen in Afghanistan und sellschaftsressort galt als »Lieblingsressort
Kultur und einer Sprache, die er nicht ver- zu wenig über in Deutschland relevante der Chefredaktion«. Ein anderer leitender
steht, der in jeglicher Hinsicht auf Über- Themen schrieb«. Außerdem habe das Redakteur sagte der Kommission, Cordt
setzer angewiesen ist, wird wahrscheinlich Ressort seinen Auftrag, »Smarter living«- Schnibben habe ein Elitendenken im Res-
nichts sehen, was er sich nicht schon vor- Themen umzusetzen, nur halbherzig an- sort geprägt, das von Matthias Geyer wei-
gestellt hat. Er wird im schlechtesten Fall gegangen. Man habe nie Preise gezählt, je- tergepflegt wurde. Der Hass auf das Res-
seine Vorurteile reproduzieren. doch habe die »Zeit« 2015/16 weit vorn sort sei immer größer geworden.
Ein Text, der ausschließlich aus subjek- gelegen; das habe man aber dank des Ge- In der Folge führte dies zu einer nunmehr
tiven Beobachtungen und Beschreibungen sellschaftsressorts in den letzten beiden fast 20-jährigen Konfliktsituation zwischen
beruht, hilft in dieser Zeit des Anschau- Jahren drehen können. dem Gesellschaftsressort und dem Rest des
ungsdurcheinanders nicht weiter. Folgt man der Lesart der derzeitigen Kol- SPIEGEL. Der Kernvorwurf: Das Ressort
Transparenz: Ein Text ohne Quellenan- legen des Gesellschaftsressorts, spielen Prei- sei an Kooperation nicht interessiert und
gabe ist kein Journalismus. Es reicht nicht, se bei ihrer Arbeit keine Rolle. Es werde nie ignoriere die Kompetenz der Fachressorts.
wenn der Reporter weiß, dass die Geschich- über Preise geredet, hieß es übereinstim- Die Reporter hinterließen in den jeweiligen
te stimmt, der Leser muss es nachvollzie- mend während eines Gesprächs mit der Berichtsgebieten oft verbrannte Erde, weil
hen können. Er muss wissen können, nicht Kommission. Wenn man gewinne, freue sie sich nicht um eine dauerhafte Koopera-
glauben müssen. Es ist falsch, vom Leser man sich natürlich, aber meistens gratuliere tion mit den Informanten vor Ort kümmern
zu fordern, er müsse Vertrauen haben. Der der Ressortleiter nicht einmal. Allerdings müssten. Die Stellung des Gesellschaftsres-
Leser muss im Gegenteil gar kein Vertrau- räumte einer der Reporter im Einzelge- sort war in der Vergangenheit innerhalb des
en haben, der Journalist muss ihm mit je- spräch ein, dass es Relotius ohne seine Prei- SPIEGEL stark; es agierte stets mit Unter-
dem Text beweisen, dass die Sachverhalte se im Ressort wohl schwerer gehabt hätte. stützung der jeweiligen Chefredaktionen,
stimmen und das Thema relevant ist. Das die Kritik an der Arbeitsweise des Ressorts
geht nur, wenn man die Quellen offenlegt oder den Texten abgepuffert hat. Das führte
und Recherchewege transparent macht. dazu, dass Kritik nur noch punktuell oder
Dies würde dem Leser die Anstrengung Das Gesellschafts- verhalten geäußert wurde. Viele Redakteure
und den Aufwand verdeutlichen, den die sagten der Kommission, sie würden die Tex-
Redaktion, der Reporter unternommen ressort hat im te des Gesellschaftsressorts nicht mehr lesen.
hat, um die Geschichte und die Informa- Ein Kollege nannte es einen »Ermüdungs-
tionen zu recherchieren. Vielleicht würde Haus den Ruf, sich bruch« im Umgang mit dem Gesellschafts-
dies – sozusagen als Beifang – auch die ressort.
Wertigkeit der journalistischen Arbeit ver- abzuschotten. Die Abschottung des Gesellschaftsres-
deutlichen. Leser würden besser verstehen, sorts zeigt sich auch am Umgang mit Leser-

140
briefen. Alle Ressorts bekommen Fahnen ter, im Ressort arbeitete nur noch eine
der Leserbriefseiten in der Regel vorab zur Halbtagskraft. Der Dokumentar verifizier-
Kenntnis, sofern ihre Geschichten erwähnt Die Dokumentare sind te seither die Reportagen, egal, in welchen
werden. Nach Aussagen von Kollegen soll Weltgegenden oder Sachgebieten sie spiel-
Matthias Geyer mindestens so häufig einge- nicht nur »Fehler- ten. Diese Sondersituation in der Doku-
griffen haben wie alle anderen Ressorts der mentation bestand seit Beginn der Über-
Heftredaktion zusammen. Manche kriti- finder«, sie sind auch nahme der Reportereinheit.
schen Leserbriefe seien dann gar nicht oder Alle weiteren Chefredaktionen und
kürzer veröffentlicht worden. Matthias Gey- Rechercheure. Ressortleitungen haben dies nicht infrage
er dazu: »Ich habe das Gesellschaftsressort gestellt. Genauso wenig wie die Leitung
13 Jahre lang geführt. In dieser Zeit ist es der Dokumentation. Klaus Brinkbäumer
meiner Schätzung nach ein halbes Dutzend mentation, diese Fehler zu beseitigen, be- etwa bewertet die Konstruktion erst »in
Mal dazu gekommen, dass ich in der Leser- vor die Texte veröffentlicht werden. Damit der Rückschau« als Fehler. Nach dem Ein-
briefredaktion angerufen habe. Anlass dafür schützen Dokumentation und Bilddoku- druck der Kommission war die Situation
war jeweils, dass zu bereits veröffentlichten mentation die journalistische Integrität des im Haus allgemein bekannt.
Texten aus meinem Ressort ausschließlich SPIEGEL und auch die der Autoren. Sie Diese Schwachstelle wurde vonseiten
negative Briefe gedruckt werden sollten. Ich tun das seit Jahrzehnten mit hoher Zuver- der Dokumentation unmittelbar nach Be-
habe in diesen Fällen den Kolleginnen und lässigkeit. Kein anderes Blatt in Deutsch- kanntwerden des Falls Relotius beseitigt.
Kollegen aus dem Leserbriefressort lediglich land hat eine auch nur annähernd so große Seither werden die Texte aus der Gesell-
die Frage gestellt, ob tatsächlich kein einzi- Dokumentation wie der SPIEGEL. Die Do- schaft von Fachdokumentaren bearbeitet.
ger positiver Brief eingegangen sei, den man kumentare sind in ihren jeweiligen Berei- Allerdings habe die früher sehr gute Ko-
zu den negativen Briefen dazustellen könne. chen hoch qualifiziert. Sie arbeiten im operationsbereitschaft innerhalb der Do-
Ich habe niemals versucht, einen negativen Idealfall eng mit den Redakteuren zusam- kumentation nachgelassen, berichtet ein
Leserbrief zu redigieren geschweige denn men. Am besten bereits beim Entstehen Dokumentar, es werde sehr stark in Refe-
zu verhindern.« einer Geschichte. Die Dokumentare sind raten gedacht und der Hass auf das Gesell-
Auch die Zusammenarbeit des Gesell- also nicht nur »Fehlerfinder«, sie sind auch schaftsressort sei sehr groß.
schaftsressorts mit anderen Ressorts ist un- Rechercheure. Sie halten dabei stets eine Die Nachverifikation der Texte von
gewöhnlich – etwa beim Umgang mit ei- kritische Distanz zu den Redakteuren. Ver- Claas Relotius hat eklatante Fehler des
nem Leiter des DII-Ressorts. Dieser hatte sehentliche Faktenfehler waren nicht das für die Gesellschaft zuständigen Doku-
den Eindruck, die Konferenzen im Ressort Kernproblem im Fall Claas Relotius: Er mentars offenbart. Das gilt selbst dann,
DII könnten kreativer werden. Deshalb hat absichtlich und in erheblichem Um- wenn man in Rechnung stellt, dass die Ve-
fragte er bei der Gesellschaft an, ob er als fang gefälscht und erfunden, ähnlich wie rifikationsrichtlinien für die Reportage
Gast an einer dortigen Konferenz teilneh- Jayson Blair in der »New York Times« und einige andere Stilformen, zum Bei-
men dürfe. Die Bitte sei abgelehnt worden. oder Tom Kummer in der »Süddeutschen spiel Kino- und Buchkritiken oder auch
In der Regel geht es bei Kooperationen Zeitung«. Relotius hat Redaktion und Do- die SPIEGEL-Gespräche, weichere Prüf-
um größere Themen und Geschichten, die kumentation dabei mit erheblicher Ener- kriterien vorsehen als für Nachrichtentex-
von Gesellschaftsautoren zusammenge- gie und Raffinesse getäuscht und hinter- te oder Ähnliches.
schrieben werden sollen; die Redakteure an- gangen. So gilt etwa auch für Orts- und Milieu-
derer Ressorts liefern zu. Aber Kooperation Die Dokumentation ist in erster Linie schilderungen in Reportagen und Korres-
ist für das Gesellschaftsressort aus der Sicht für Faktenfehler zuständig. Dennoch pondentenberichten ein eingeschränkter
der anderen Ressorts für gewöhnlich eine kommt die Dok-Leitung schon in einer Verifikationsaufwand. Trotzdem wurden
Einbahnstraße. Bitten anderer Ressorts da- ersten Analyse im Januar 2019 selbst- viele Faktenfehler übersehen, aus deren
rum, Fahnen von Geschichten aus ihrem kritisch zu der Auffassung, dass man bei Summe womöglich eine andere Beurtei-
Themenbereich vorab zu sehen, werden oft sehr sorgfältiger Arbeit auch den Fäl- lung der Texte von Relotius hätte erwach-
nicht erfüllt. Eine kritisch-fachliche Prüfung schungen hätte auf die Spur kommen kön- sen können.
von Kollegen ist dadurch nicht möglich. nen. Voraussetzung sei allerdings gewe- Der Dokumentar habe, so die Beobach-
Die Verantwortlichen und Mitglieder sen, dass eine grundsätzliche Skepsis ge- tung der Dok-Kollegen, nur selten die
des Gesellschaftsressorts haben diese Kri- genüber dem von Relotius versicherten Expertise der Fachkollegen eingeholt. Sie
tik gegenüber der Kommission als unzu- Wahrheitsgehalt seiner Reportagen be- beobachteten das Phänomen der »wei-
treffend zurückgewiesen. standen hätte. Die Kommission spricht ßen«, also sehr leeren Manuskripte, an
Offenbar haben aber trotz ihrer Unter- sich als Lehre aus dem Fall Relotius dafür denen der Dokumentar wenig korrigiert
stützung für die Reporter verschiedene aus, die Intensität der Verifikation aller hatte, was sehr unüblich ist. Andere
Chefredaktionen in den vergangenen zehn Texte beizubehalten oder im Einzelfall Dokumentare sagten der Kommission, sie
Jahren die systemischen Probleme zwischen noch zu verstärken. hätten Schwierigkeiten mit den Manu-
dem Gesellschaftsressort und dem Rest des In der SPIEGEL-Dokumentation arbei- skripten ihres Kollegen gehabt, weil es
SPIEGEL als so gravierend erachtet, dass sie ten rund 80 Kollegen, davon rund 50 ve- unmöglich gewesen sei zu erkennen, was
überlegten, die Struktur zu ändern. Der da- rifizierende Dokumentare. Sie sind in so- er mit den Redakteuren schon geklärt hat-
malige Chefredakteur Klaus Brinkbäumer genannte Referate eingeteilt und arbeiten te; er habe immer sehr viel mündlich be-
erwog sogar eine Auflösung des Ressorts. in ihren jeweiligen Fachgebieten. Die Aus- sprochen.
nahme bildete das Gesellschaftsressort. Unabhängig von der speziellen Situa-
Mit der Übernahme des Magazins SPIE- tion im Gesellschaftsressort scheinen einige
Die besondere Rolle GEL REPORTER in den SPIEGEL im Jahr SPIEGEL-Redakteure zu glauben, dass vor
der Dokumentation 2001 wurde auch der damalige Dokumen- allem Dokumentation und Rechtsabtei-
tar aus der damals dem Reporter-Magazin lung dafür verantwortlich sind, fehlerfreie
Jedem Journalisten können Fehler und zugeordneten Dokumentationsabteilung Texte zu produzieren. Zahlreiche Doku-
Ungenauigkeiten unterlaufen, und im (mit ihren vorher gut drei Stellen) über- mentare äußerten in Gesprächen mit der
SPIEGEL ist es (eine) Aufgabe der Doku- nommen. Er war sein eigener Referatslei- Kommission erschreckende Dinge. So wür-

DER SPIEGEL Nr. 22 / 25. 5. 2019 141


den Redakteure etwas als Tatsache darstel- Artikel und die Chefredaktion, bevor sie
len, obwohl es nur von einem Gesprächs- (mit eventuellen Änderungen versehen)
partner gesagt worden sei; aus stilistischen Ein Dokumentar wieder bei der Leserbriefredaktion lan-
Gründen werde oft unterschlagen, dass die den, die mit dem Layout zusammen dann
beschriebene Tatsache nur auf einer ein- sagte, es sei unüblich, die Seite baut. Hat ein Ressort Ände-
zigen Äußerung beruhe. Fakten, die nicht rungswünsche, wendet es sich damit an
in die Stoßrichtung einer Geschichte pass- schlampige Kollegen die Leserbriefredaktion, im Konfliktfall
ten, würden manchmal einfach weggelas- entscheidet die Ressortleitung DII. Die
sen. Ein anderer Dokumentar schilderte zu verpetzen. fertige Seite wird vom Ressortleiter DII
der Kommission, dass »nicht selten« kurz geprüft und danach als Ressortseite aus-
vor Druck Fakten vom Dokumentar so gegeben.
hingebogen werden sollen, dass ein Text dem Ressortleiter melden, aber das ma- Grundsätzlich gilt, dass Leserbriefe be-
»gerade eben nicht mehr falsch ist«, um che niemand. Der Kommission begegnete antwortet werden müssen. Dies geschieht
eine These zu retten, die in einer Konfe- immer wieder der Satz: »Ich möchte nie- durch die Leserbriefredaktion, die Auto-
renz vorgestellt wurde. Ein weiterer Do- manden anschwärzen.« Oder: »Ich möch- ren oder durch die Dokumentation. Ob
kumentar sagte der Kommission, es gebe te meinen Kollegen nicht misstrauen.« alle Leserbriefe beantwortet werden, wird
einige Redakteure, die schlampig arbeite- Darin liegt ein grundlegendes Missver- nicht nachgehalten. Die Kommission hat
ten und die Dokumentation nutzten, um ständnis. Es geht nicht um Anschwärzen im Laufe der Aufklärungsarbeit einige Bei-
schlecht recherchierte Geschichten druck- oder Misstrauen. Es geht um Qualitäts- spiele von verärgerten Lesern gefunden,
fähig zu bekommen. Und noch ein anderer kontrolle. Einzig die Tatsache, dass ein die zum Teil auf mehrere Briefe zum sel-
Dokumentar sagte, dass die meisten Re- schlechter oder falscher Text oft keinen ben Thema über Jahre hinweg keine Ant-
dakteure zwar akribisch arbeiten würden, direkten Schaden anrichtet, kann kein wort erhalten haben.
dass es aber »zwei, drei Leute« gebe, die Grund dafür sein, keine Qualitätskontrol- Ein besonderes Problem stellen Briefe
ohne Dokumentation auf dem Markt kei- le vorzunehmen. Für diese Qualitätskon- dar, die per E-Mail direkt an den Autor
ne Chance hätten. trolle sind Redaktion, Dokumentation gehen. Dies hat es Relotius ermöglicht,
und Justiziariat gleichermaßen zuständig mindestens eine kritische Leserin (Text
Umgang mit Fehlern und verantwortlich. zur Todesstrafe, »Die letzte Zeugin«) ab-
zuwimmeln. Ihre Einwände zu dem Text
Die Kritik- und Fehlerkultur im Haus ist haben nach ihren eigenen Angaben weder
nicht sehr ausgeprägt. Dazu passt, dass Der Umgang mit die Ressortleitung noch die Leserbrief-
viele Kollegen, die wir für diese Untersu- Leserbriefen redaktion erreicht.
chung gesprochen haben, von der Mög-
lichkeit der Vertraulichkeit Gebrauch ge- Leserbriefe gehen – wenn sie nicht an den V. Weitere Fälle
macht haben. Die theoretische Möglich- Autor eines Textes direkt gerichtet sind –
keit, dass ein Kritisierter in Zukunft ein bei der SPIEGEL-Tochterfirma Quality Ser- Zunächst die gute Nachricht: Die Kommis-
Vorgesetzter sein könnte, hat bei vielen vice in der Abteilung Lesermarkt ein. Die- sion hat beim SPIEGEL keinen weiteren
Gesprächspartnern Ängste ausgelöst. se stellt alle Briefe, die sich auf Artikel Claas Relotius gefunden. Das bedeutet
Die Meinung darüber, ob Fehler in Tex- oder andere redaktionelle Inhalte bezie- aber leider nicht, dass es keine anderen
ten im Nachhinein korrigiert werden sol- hen, ins Intranet. Dort können sie theore- Fälschungen gab.
len, gehen weit auseinander. Im Gegensatz tisch von jedem Redakteur eingesehen
zu SPIEGEL ONLINE, wo sich klare Re- werden. Fälschungen
geln zum Umgang mit Fehlern entwickelt Die Leserbriefredaktion liest dann alle
haben, gilt das fürs Heft nicht. Es existiert Briefe, wählt die interessant erscheinen- Auf hoher See
sowohl die Auffassung, Fehler sollten gar den aus, extrahiert Stellen, die zur Ver- Im Januar 2019 flog beim Magazin der
nicht erwähnt werden, als auch, jeder Feh- öffentlichung geeignet sind, redigiert und »Süddeutschen Zeitung« ein Autor mit ei-
ler sollte korrigiert werden. erstellt daraus die Manuskripte. Briefe, in ner erfundenen Geschichte auf – allerdings
Fehler in der konkreten Arbeit müssen denen mit Abo-Kündigung gedroht wird, vor dem Druck. Der Autor hat zwischen
aber – klaren Regeln folgend – sanktio- werden markiert, damit die Abteilung Le- 2006 und 2008 auch für den SPIEGEL und
niert werden und Konsequenzen haben. sermarkt sich um die Zurückgewinnung SPIEGEL ONLINE geschrieben. Insgesamt
Die Tatsache, dass dies in der Vergangen- kümmert. Briefe, die Hinweise auf Fehler 43 Texte; die meisten in Kooperation mit
heit selten bis nicht passiert ist, führt zu in SPIEGEL-Artikeln enthalten, werden »11 Freunde«. Eine Überprüfung ergab,
falscher gegenseitiger »Toleranz«. Im ebenfalls markiert, damit die stellvertre- dass die meisten Texte – von kleineren Un-
schlimmsten Fall zum Nichterkennen ei- tende Dokumentationsleitung sie prüft, be- genauigkeiten abgesehen – in Ordnung
nes Fälschers. antwortet und entscheidet, ob ein Korrek- sind.
Zwei Kontrollinstanzen sind für eine turkasten abgedruckt werden soll. Briefe, Zwei Geschichten wurden aber massiv
gute Fehlerkultur entscheidend. Die eine die vom Autor des jeweiligen Textes verfälscht: »Flankenläufe auf hoher See«
sind die Kollegen (Journalisten, Dokumen- beantwortet werden sollen, markiert die (SPIEGEL ONLINE, 29.9.2010) ist in
tare, Fotografen, Juristen der Rechtsabtei- Leserbriefredaktion zur Weiterleitung. weiten Teilen aus einer alten SPIEGEL-
lung), die andere die Leser. Andere beantwortet sie selbst. Die Manu- Geschichte (»Fußball auf hoher See«,
Redakteure, Dokumentare, Fotografen, skripte gehen an den zuständigen Ressort- 8.1.1958) abgekupfert und in Teilen ver-
Ressortleiter und die Rechtsabteilung müs- leiter DII. Der Kollege bearbeitet sie und ändert worden: Aus schwedischen Schiffen
sen ermutigt werden, Zweifel an Texten befördert sie zur Fahne. wurden norwegische, aus einer schwedi-
oder an der Qualität der Arbeit von Kolle- Damit gehen die Texte in den Umlauf – schen Zeitung eine norwegische, Details
gen zu äußern. an die Ressortleiter der von den jewei- wurden dazuerfunden.
Ein Dokumentar sagte der Kommis- ligen Leserbriefen betroffenen Ressorts, Im August 2018 beschrieb der derselbe
sion, es sei unüblich, schlampige Kollegen die Dokumentare, die die betreffenden Autor im SPIEGEL, wie er an einem schö-
zu verpetzen. Eigentlich müsse man die Artikel geprüft hatten, die Autoren der nen Sommertag ein verirrtes Mädchen

142
In eigener Sache

nach Hause begleitet und sich angesichts tionen zu finden sind, mithin also kein rei- geblich seit Jahrzehnten im Dschungel als
der Debatten über Kindesmissbrauch fühlt nes »SPIEGEL-Problem« vorliegt. Häuptling eines Indianerstammes lebte.
wie ein Verbrecher (»Kennst du den?«, Es folgen zunächst drei Fälle, in denen Diese Suche bildete den Plot der Geschich-
SPIEGEL 33/2018.) Die Geschichte war an Manipulationen aus dramaturgischen te. Der Autor traf den Menschen am Ende
(ohne Kenntnis der SPIEGEL-Redaktion) Gründen gedacht werden könnte. der Reise durch Zufall in einem Einkaufs-
bereits in kürzerer Form im »Tagesspiegel« zentrum. In Wahrheit hatte die Zufallsbe-
erschienen – im Dezember 2015. Das Mäd- gegnung jedoch schon vor der abenteuer-
chen trug damals allerdings einen anderen Manipulationen aus lichen Suche stattgefunden. Der Autor
Namen und den Witterungsbedingungen dramaturgischen Gründen schildert es so: »Wir flogen zusammen
entsprechend eine Daunenjacke und eine nach Manaus, ohne Kontakt mit Tatunca
vom Weinen beschlagene Brille. Auch in »Asadullahs Spiel« aufgenommen zu haben. Die Reise und
weiteren Details stimmten die Texte nicht Ein Text über den ersten afghanischen Fuß- die Suche sollten das Thema sein. Der Kof-
überein. ball-Cup in Kabul schildert zunächst eine fer des mitgereisten Fotografen ging ver-
Hinrichtung aus dem Jahr 1999, als Tali- loren, und er wollte sich neue Kleider im
Noch mehr Fälscher? ban auf dem Rasen des Ghazi-Stadions benachbarten Shoppingcenter kaufen.
vor Publikum eine Frau töteten, und da- Dort saßen Tatunca und seine Frau und
Weitere Fälle bewusster Fälschungen hat nach ein Fußballspiel am selben Ort – im tranken Tee.« Die in der Reportage geschil-
die Kommission bislang nicht gefunden. Jahr 2012. Die Einstiegsszene beschwört derte Begegnung war ein zweites Treffen
Die Kommission hat sich aber vorrangig die Symbolkraft der Veränderung: damals am Ende der Reise. Der Autor zur Kom-
um die Aufklärung der Relotius-Affäre Exekution, heute Friedensprojekt, im sel- mission: »Für die Geschichte habe ich mit
bemüht; so gibt es etwa noch Hinweise ben Stadion. »Dasselbe Stadion, dasselbe der Reise angefangen und die zweite Be-
zu SPIEGEL-Texten aus den Fünfzigerjah- Feld, gedacht für dasselbe Spiel. Damals gegnung ans Ende gesetzt. Das Überra-
ren, denen nachgegangen werden sollte. Tod, heute unbändiges Leben«, so heißt schungstreffen am ersten Tag habe ich
Die Arbeit muss in diesem Punkt weiter- es im dritten Absatz des Textes. Die Spiele nicht aufgenommen.«
gehen. der Afghan Premier League fanden jedoch Beide Begegnungen waren also echt,
nicht im Ghazi-Stadion statt, sondern im keine gefälscht – es wurde lediglich die ers-
benachbarten AFF-Stadion, das der Autor te weggelassen. Hätte der Autor sie er-
Journalistische als Teil derselben Sportstätte wahrnahm. wähnt, wäre die Suche allerdings keine
Unsauberkeiten Eine Leserin, die Kontakt zu afghanischen richtige Suche mehr gewesen. Der Plot hät-
Journalisten hat, machte den Autor nach te nicht mehr funktioniert.
Allerdings hat die Kommission im Lauf Erscheinen des Artikels darauf aufmerk-
der vergangenen Monate etliche Hinweise sam, dass es sich um zwei unterschiedliche »Schlangen und Gespenster«
erhalten (von außen und aus dem Kolle- Stadien handelt. Sie liegen etwa 750 Meter Manche Autoren entwickeln bei der Ge-
genkreis), dass manche SPIEGEL-Kollegen auseinander. staltung der Dramaturgie große Kunstfer-
in ihren Texten nicht immer journalistisch Der Autor schreibt, alle, mit denen er tigkeit, etwa im Text »Schlangen und Ge-
korrekt arbeiten. Es handelt sich dabei aus- vor Ort zu tun gehabt habe, hätten die gan- spenster« aus dem Jahr 2004:
drücklich nicht um Fälschungen, sondern ze Anlage »Ghazi« genannt, also den Platz »Als Martin Walser das Gerücht hört,
in der Regel um Verfälschungen. Die Vor- daneben in die Bezeichnung mit einbezo- dass er den Nobelpreis für Literatur nicht
würfe zielen auf Abweichungen vom SPIE- gen. Bei den beiden Szenen, die er am An- gewonnen hat, erstarrt er für einen langen
GEL-Grundsatz: »Sagen, was ist«. Es geht fang des Textes parallel beschrieben habe, Augenblick. Sein Gesicht wird zu Marmor,
meist darum, dass Tatsachen nicht korrekt sei er von einer »bedeutungsmäßigen Ein- glatt, reglos, undurchdringlich. Er schweigt,
oder nicht vollständig dargestellt wurden; heit des Ortes« ausgegangen, so wie man dann sieht es so aus, als richte er ein paar
entweder aus dramaturgischen Gründen, »Wimbledon« sage, auch wenn auf ver- Worte an sich selbst. Er nickt.
weil sich eine Geschichte geschmeidiger schiedenen Feldern gespielt werde. Elfriede Jelinek hat gewonnen, eine
erzählen lässt, wenn man beim Beschrei- Österreicherin, eine Frau, die Deutsch
ben nicht ausschließlich an Fakten gebun- »Ich bin Tatunca. Punkt« schreibt. Günter Grass 1999 und Jelinek
den ist, oder aus weltanschaulichen Grün- Aus dramaturgischen Gründen kann aber 2004, in den nächsten Jahren wird kein
den, weil sich eine Geschichte stringenter nicht nur bei Ortsbeschreibungen gemo- deutschsprachiger Autor den Nobelpreis
erzählen lässt, wenn man widersprüch- gelt werden, sondern auch bei der zeitli- gewinnen, und Walser ist 77.«
liche Fakten weglässt. Die Kommission hat chen Abfolge von Ereignissen: Vor einigen Martin Walser schickte nach Erscheinen
bei ihren vielen Gesprächen mit Redak- Jahren erschien eine Reportage voller des Artikels einen ungehaltenen Leserbrief
teuren, Dokumentaren und Justiziaren abenteuerlicher Details. Der Kollege be- mit der Überschrift »Auch das Unwichtige
den Eindruck gewonnen, dass es sich hier schrieb die Suche nach einem verrückten darf wahr sein«: Er habe erst deutlich nach
nicht nur um gelegentliche Ausreißer han- Deutschen, der sich Tatunca nennt und an- seinem Gespräch mit dem SPIEGEL von
delt, sondern zum Teil um unterschied- der Preisentscheidung für die Konkurren-
liche Auffassungen davon, was in einem tin erfahren. Der SPIEGEL-Kollege sei also
journalistischen Text noch zulässig ist und keineswegs in dem Moment dabei gewe-
was nicht. Daher hat die Kommission ei- Manche Autoren sen. »Diese Tragödienmimik, die mir der
nige exemplarische Beispiele ausgewählt, SPIEGEL-Kollege in mein brav bleibendes
an denen sich zeigen lässt, dass es auch ab- entwickeln bei der Gesicht inszeniert, kommt mir erfunden
seits vom Fall des Claas Relotius Verände- vor«, schreibt Walser.
rungsbedarf im Haus gibt. Gestaltung der Auf Anfrage der Kommission antwortet
Die Kommission stellt aufgrund ihrer der Redakteur, Walser habe tatsächlich
langjährigen Berufserfahrung in unter- Dramaturgie große nicht durch ihn davon erfahren, dass Jeli-
schiedlichen Medien ausdrücklich fest, nek den Nobelpreis gewonnen habe. Das
dass solche oder ähnlich gelagerte Fälle Kunstfertigkeit. habe er aber auch in seinem Text nicht ge-
auch in anderen journalistischen Publika- schrieben. Im ersten Absatz werde aus-

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schließlich und korrekt geschildert, wie szenischen Rekonstruktion von Ereignis-
Walser auf das Gerücht reagierte, jemand sen ohne Quellenangabe. Seit der berühm-
anderes habe gewonnen. Der Name der Es sollte klar sein, ten Schilderung der Spielzeugeisenbahn
Konkurrentin werde hingegen erst im im Keller Horst Seehofers sollte eigentlich
zweiten Absatz genannt. woher die Informationen klar sein, dass bei szenischen Rekonstruk-
Das stimmt zwar, ist aber offenbar für tionen deutlich gemacht wird, woher die
den Leser nicht leicht durchschaubar, nicht stammen, die Informationen stammen, die der Autor
einmal wenn der Leser (wie in diesem Fall verwendet. Trotzdem unterbleibt das im-
Martin Walser) selbst dabei gewesen ist. der Autor verwendet. mer wieder:
Und dem Autor ist das offenbar auch be- So beginnt etwa das Porträt eines italie-
wusst; er schreibt in seiner Antwort: »Das nischen Spitzenkochs mit der Beschrei-
ist etwas kompliziert, vielleicht auch etwas »In den Blicken, die John Holdren an bung einer sehr persönlichen Szene:
krumm, aber falsch ist hier nichts.« diesem frühen Morgen aus dem Publikum »Ein Tag im Leben von Massimo Bottu-
Es gibt daneben auch Beispiele für Un- zugeworfen werden, war so manchem die ra beginnt mit Billie Holiday. Oder mit
genauigkeiten, bei denen nicht dramatur- Sehnsucht anzumerken. Eine Sehnsucht Miles Davis oder mit Thelonious Monk.
gische, sondern weltanschauliche Motive nach einer anderen, besseren Zeit viel- Bottura liegt im Bett, drückt eine Taste
unterstellt werden könnten. leicht, in der die Meinung der Wissen- und wird langsam wach. Er fährt hoch, be-
schaft wieder eine größere Rolle spielt. ginnt zu denken, hinten im Kopf spielt im-
Der riesige Saal des Austin Convention mer der Jazz. Bottura brabbelt vor sich
Manipulationen aus welt- Center ist rappelvoll. Und das am Morgen hin, und wenn der Gedanke reif ist, schreit
anschaulichen Gründen um acht Uhr, am vierten Tag der AAAS, er ihn hinaus.«
der größten Wissenschaftskonferenz der Keine Quelle, aber Eindrücke aus
»Lasst es krachen« Welt, wo sich bei dem ein oder anderen dem Hinterkopf der Hauptperson. Ein
In einer Titelgeschichte über den der knapp 10 000 Teilnehmer vielleicht Leser schrieb, er müsse davon ausgehen,
G-20-Gipfel in Hamburg sprach der Autor schon etwas Müdigkeit bemerkbar macht. dass der Autor bei Bottura am Bett ge-
mit der Mutter eines in Genua getöteten Doch für John Holdren sind sie alle ge- sessen und die Szene beobachtet habe;
Demonstranten über die Krawalle am kommen. Denn der hagere Mann mit Voll- allerdings könne er sich das kaum
7. Juli 2017. Über die Frau heißt es: »Sie bart berichtet von früher, als die Präsiden- vorstellen. »Sollte sich Ihr Autor diese
selbst marschierte nicht mit, dafür sei sie ten der Vereinigten Staaten regelmäßig sei- Szene nur ausgedacht haben oder sie
zu alt. Aber sie kam als Kassandra, als nen Rat gesucht hatten.« vom Hörensagen schildern, halte ich
friedvolle Warnerin, sie sah den Rauch, Ein Teilnehmer hatte die Veranstaltung dies für unzulässig (siehe Seehofers
den Tumult, die Einsatzwagen aus sicherer anders wahrgenommen und verwies auf ein Spielzeugeisenbahn […]) und journalis-
Entfernung von ihrem Hotelzimmer am Foto, das er von seinem Platz in der letzten tisch unseriös.«
Hamburger Hauptbahnhof aus.« Das Reihe des Saals aufgenommen habe. Er Der zuständige Ressortleiter antwortete
stimmt so nicht: Am 5. Juli hatte die Frau schreibt: »Der Veranstaltungsraum war ei- dem Leser: »Unser Autor hat sich die frag-
eine Demonstration angeführt. Während ner der kleinen im Konferenzzentrum. Zu- liche Szene von Massimo Bottura schil-
der Krawalle am 7. Juli war sie aber schon dem wurde noch vorn mit runden Tischen dern lassen. Ich kann verstehen, dass Sie
wieder zurück in Genua und konnte von die Anzahl der Plätze reduziert. Trotzdem sich angesichts der Vorwürfe gegen Claas
dort keinen Rauch im Schanzenviertel war es keineswegs rappelvoll. Es waren kei- Relotius auch an einer derartigen Szene
sehen, wie sie dem Medienmagazin »Jour- ne 10000 Teilnehmer zu John Holdren ge- stoßen, halte sie aber journalistisch für
nalist« sagte. Doch selbst wenn sie noch kommen, sondern allenfalls 250.« vertretbar. Trotzdem stimme ich Ihnen in-
in Hamburg gewesen wäre, hätte sie von Der Teilnehmer unterstellt, der Autor sofern gern zu, als dass tatsächlich klarer
ihrem Hotelfenster nichts gesehen. Dem habe die Veranstaltung absichtlich falsch gewesen wäre, wenn wir an einer Stelle
Medienmagazin »Meedia« sagte sie, ihr beschrieben, weil er sich aus weltanschau- klargemacht hätten, dass wir Botturas
Zimmer im Europäischen Hof habe nach lichen Gründen gewünscht hätte, dass ge- Schilderung folgen.«
hinten gelegen, zu einem geschlossenen rade bei diesem speziellen Redner mehr
Innenhof. Der Medienunternehmer Frank Zuhörer gekommen wären. »Ihr Reporter
Otto sagte gegenüber »Meedia«: »Frau war da. Die Zitate stimmen. Aber warum
Giuliani wurde hier in ein sehr komisches werden die Leser so in die Irre geführt? Es VI. Veränderungsvorschläge
Licht gerückt. Gerade so, als wäre sie eine gab keinen Massenaufstand der Wissen- der Kommission
Krawalltouristin, dabei kam sie als eine schaftler gegen Trump. Musste die Ge-
Mahnerin. Es wäre auch nicht schwer ge- schichte unbedingt so aufgepumpt wer- Journalistische Standards
wesen, sie anzusprechen, sie war ja für den? Hier wurde nicht gesagt, was ist.«
mehrere Tage in Hamburg und hat auch Der Autor des Textes erklärte gegen- Für Recherchen, Reportagen und andere
an Demonstrationen teilgenommen. Das über der Kommission, den Einstieg nicht Texte bedarf es der Vergewisserung über
wird nur vom SPIEGEL ganz anders dar- aus politischen Gründen so formuliert zu bewährte Standards und der Neujustie-
gestellt.« Der SPIEGEL verwies damals auf haben; er habe lediglich deutlich machen rung. Derzeit tagen im Haus unter dem
telefonische Aussagen der Frau, die miss- wollen, dass die Konferenz im Vergleich Titel »SPIEGEL-Werkstatt« verschiedene
verständlich gewesen seien. zu anderen Veranstaltungen an diesem Arbeitsgruppen, die sich mit der Fortent-
Tag sehr gut besucht worden sei. wicklung von Erzählstandards, Recher-
chestandards und Verifikationsregeln be-
»Donald Trump: schäftigen.
Ratloser Präsident« Sonderfall »Szenische Die Vorschläge der Kommission be -
In einem anderen Fall berichtete ein Autor Rekonstruktion« ziehen sich allein auf die Verhinderung
auf SPIEGEL ONLINE über eine Wissen- von Fälschungen und Verfälschungen.
schaftskonferenz in den USA und beginnt Immer wieder stören sich Leser an der im Aus den beschriebenen systemischen
seinen Text so: SPIEGEL noch gelegentlich auftauchenden Problemen, die dem Fälscher Relotius

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In eigener Sache

ein Umfeld ermöglichten, ergeben sich Gesellschaftsressort sondern bittet den Autor oder die Autorin
aus Sicht der Kommission folgende auch um Notizen, Fotos, Videos, Audio-
Standards: Überlegungen, wie das Gesellschaftsres- Aufnahmen. Sie lässt sich ebenfalls
sort besser in die Gesamtredaktion des Telefonnummern, E-Mail-Adressen oder
1. Die Geschichte muss stimmen. Verant- SPIEGEL eingebunden werden kann, wur- beispielsweise Facebook-Profile der vor-
wortlich dafür ist die Redaktion. den unabhängig vom Fall Relotius in den kommenden Personen geben, auch, falls
2. Stimmen heißt nicht nur, dass die Fak- vergangenen mindestens 10 bis 15 Jahren vorhanden, die eines »Fixers«, Überset-
ten richtig sind, dass es die Personen gibt, von unterschiedlichen Chefredaktionen zers oder Fahrers. Die Autoren und Res-
dass die Orte authentisch sind. Der Text angestellt. Wir dokumentieren hier die un- sortleiter werden darüber informiert. Das
muss in Dramaturgie und Ablauf die Wirk- terschiedlichen Überlegungen, die uns im ist nicht immer möglich, denn natürlich
lichkeit wiedergeben. Zuge der Recherche begegnet sind. Wir gilt es beispielsweise, den Quellenschutz
3. Wesentliches darf nicht weggelassen verzichten auf Zuweisung der einzelnen von Informanten sicherzustellen, die nicht
werden. Ideen auf bestimmte Personen. Die Kom- genannt werden wollen. In diesen Fällen
4. In Texten geht es zuerst immer um Tat- mission gibt zu diesem Thema keine Emp- sollten die Dok-Kollegen die Textpassagen
sachen, nicht um deren Überhöhung oder fehlung ab, gibt aber zu bedenken, dass besonders kritisch durchsehen. In Zwei-
Interpretation. angesichts der Schwere des Fälschungs- felsfällen muss die Ressortleitung infor-
5. Fakten schlagen die vermeintlich litera- skandals eine adäquate Antwort gegeben miert werden. Bei großen und aktuellen
rische Qualität. werden sollte. Geschichten (etwa Titel am Produktions-
6. Beschreibungen sollten nur so viele Ad- tag), bei denen eine komplette erweiterte
jektive beinhalten, wie für das Verständnis 1. Die Leitung des Gesellschaftsressorts Verifikation aus Zeitgründen nicht mög-
der realen Szenerie nötig. Mit jedem wei- wird verändert. lich wäre, reicht es, wenn ein Teil geprüft
teren gerät der Autor an die Grenze zur 2. Das Gesellschaftsressort wird zur Re- wird. Sollte die Geschichte danach etwa
Fiktion. portergruppe ohne eigene Seiten. Es muss aus Platzgründen entfallen, ist der Zweck
7. Szenische Einstiege in Texte sind nur seine Texte und Ideen mit Ressortleitern trotzdem erfüllt. Jemand wie Relotius
dann erlaubt, wenn sie selbst erlebt wur- besprechen, in deren Zuständigkeit das wüsste, dass es nur eine Frage der Zeit ist,
den oder ihre Quelle genau benannt wird. Thema fällt. bis er entdeckt würde. Dasselbe Verfahren
Sie sind nur sinnvoll, wenn sie dem Leser 3. Das Gesellschaftsressort wird aufgelöst, gilt für eine der größeren SPIEGEL-ON-
helfen, das Thema besser zu verstehen. die Reporter wandern in die Ressorts und LINE-Geschichten pro Woche, die von
Werden die Szenen kolportiert, muss schreiben dort Reportagen. Die Seiten des den SPIEGEL-ONLINE-Blattmachern aus-
kenntlich gemacht werden, wer der Zitat- Gesellschaftsressorts werden den übrigen gewählt wird. Die Dok meldet das Ergeb-
geber ist und welches Interesse er mög- Ressorts zugeschlagen. nis der erweiterten Verifikation jeweils an
licherweise daran hat, diese Szene zu ver- 4. Das Gesellschaftsressort wird erheblich die Ombudsstelle (s. u.). Nach rund drei
öffentlichen. Der Autor darf nicht unaus- geschrumpft, die verbleibenden Reporter Monaten sollten Dok, CvD und Ombuds-
gesprochen Komplize des Informanten arbeiten als Redakteure und müssen die stelle das Verfahren evaluieren und gege-
werden. Texte von Reportern aus den Ressorts benenfalls optimieren.
8. Szenische Rekonstruktionen können »einkaufen«. 2. Nach demselben Verfahren wird jede
sich nur auf Tatsachen beziehen. Gefühle Woche ein Text ermittelt, der nicht gedokt
oder Gedanken von Protagonisten können Dokumentation wird. Jeder Autor muss also so arbeiten, als
nicht rekonstruiert werden. wäre er die letzte Instanz. Hintergrund ist,
9. Eine Geschichte sollte immer mehrere Die folgenden Vorschläge sollen dabei hel- dass immer wieder die Vermutung geäußert
Perspektiven einnehmen. fen, Fälschungen, aber auch vermeintliche wurde, dass die Arbeit der Dokumentation
10. Für relevante Tatsachenbehauptungen Verschönerungen und unzulässige Verdich- bei Redakteuren zu Bequemlichkeit führe.
braucht ein Autor zwei voneinander un- tungen oder Weglassungen mit vertretba- 3. Hat ein Dokumentar den begründeten
abhängige Quellen. rem Aufwand auszuschließen. Diese Re- Verdacht, es könne bei einem Text mehr
11. Eine Geschichte ohne Klarnamen geln gelten für alle Ressorts und Autoren. als nur ein Faktenfehler vorliegen, kann
darf nur ausnahmsweise erscheinen. Klar- er in Absprache mit der Dok-Leitung eine
namen dürfen nur dann verschlüsselt 1. Jeden Mittwoch nach der Platzbespre- erweiterte Verifikation vornehmen.
werden, wenn es dafür wichtige Gründe chung sollte das CvD-Sekretariat per Zu- 4. Künftig sollten wieder grundsätzlich
gibt. Immer muss die Ressortlei tung fallsgenerator (App) eine Seitenzahl aus- jene Regeln für die Abläufe zwischen Dok
zustimmen und die Klarnamen kennen. wählen und die Dok-Leitung informieren, und Redaktion gelten, die seit Jahren ver-
Bei Personen, deren Identität aus Sicher- welcher Text dort eingeplant ist. Die Ge- einbart sind, aber nicht immer eingehalten
heitsgründen geheim bleiben soll, schichte, die zu dem Zeitpunkt auf dieser werden. Das heißt, die Autoren respektive
muss die Chefredaktion eingebunden Seite/diesen Seiten eingeplant ist, wird vor Ressorts müssen der Dokumentation an-
sein. Erscheinen erweitert verifiziert. Das heißt, notierte Texte vorlegen. Auf den Manu-
12. Jeder Reporter muss seine Recherche die Dokumentation überprüft den Text skripten/Fahnen sind die Quellen zu mar-
lückenlos dokumentieren. Vor allem nicht nur durch das normale Verfahren, kieren; sofern es sich um Dokumente han-
dann, wenn sie nicht überprüfbar ist. Pro- delt, werden die beigelegt – sortiert und
tagonisten müssen fotografiert werden, markiert. Das erleichtert der Dok die Ar-
Kontaktdaten müssen vorliegen, der beit sehr und gibt ihr Zeit, sich ausgiebiger
Reporter muss nachweisen können, Führt die Arbeit um schwierige Passagen zu kümmern. Tex-
dass er die beschriebenen Orte besucht te, die diese Kriterien nicht erfüllen, wer-
hat, für Interviews bedarf es einer der Dokumentation bei den in Zukunft nicht mehr gedokt.
autorisierten Fassung oder einer Audio- 5. Dokumentare sollten nicht so eng an
datei. Diese Unterlagen müssen der Do- Redakteuren ein Ressort gebunden sein, wie das bei der
kumentation aufbereitet vorgelegt und Gesellschaft der Fall war. Da die Gesell-
mindestens zwei Jahre aufbewahrt wer- zu Bequemlichkeit? schaft in allen Themenbereichen arbeitet
den. (Deutschland, Ausland, Wirtschaft etc.),

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In eigener Sache

sollten die jeweiligen Fachdokumentare sollte die Ressortleitung diese Gründe


eingesetzt werden, die von der Dok-Lei- prüfen. Die Fälle werden dokumentiert.
tung je nach Thema ausgewählt werden. Hinweisgeber 4. Für Hinweise, Kritik oder Beschwerden,
Das wurde inzwischen bereits so einge- mit denen ein Leser oder Mitarbeiter auf
führt und sollte so bleiben. müssen die dem üblichen Weg nicht weiterkommt
6. Im Sport und bei den Investigativen oder für die er Vertraulichkeit wünscht,
möchte die Dok beim bisherigen Verfah- Möglichkeit haben, wird im Haus eine Ombudsstelle einge-
ren bleiben, das sich aber von der Gesell- richtet. Hinweisgeber wie Juan Moreno
schaft unterscheidet, da die Dokumentare eine neutrale Instanz müssen die Möglichkeit haben, eine neu-
dort keine eigenen Referate haben, son- trale Instanz anzurufen, wenn sie kein
dern dem Wirtschaftsreferat unterstellt anzurufen. Gehör finden. Ebenso Leser, die sich mit
sind. Die Kommission empfiehlt, dies kri- ihren Beschwerden ungenügend beachtet
tisch zu prüfen. fühlen. Diese Person braucht einen klar
7. Autoren, die einen Text oder ein Multi- 14. Um zu garantieren, dass die Dokumen- umrissenen Auftrag, klar definierte Rechte
mediastück für einen der bedeutenden tation bei der Prüfung von Texten genü- und Pflichten.
Journalistenpreise einreichen wollen, gend Zeit hat, um entsprechend der Qua- 5. Die Kontrolle durch die Rechtsabtei-
müssen die Dok-Leitung grundsätzlich litätsanforderungen zu arbeiten, soll ein lung, deren Kritik und Zweifel, sind ein
vor Einreichung um eine erweiterte Ve- Zeitmanagement geschaffen werden. Dass unschätzbarer Wert bei der Vermeidung
rifikation bitten. Das bedeutet auch, dass Reporter wochenlang Zeit haben zu re- von Fehlern. Die Rechtsabteilung teilt ihr
sie ihre Rechercheunterlagen mit Kon- cherchieren und zu schreiben, die Doku- Wissen und ihre Erfahrungen gern mit den
taktdaten etc. bis dahin aufbewahren mentation aber für große Texte manchmal Redakteuren. Die Rechtsabteilung sollte
müssen. Eine Geschichte, die nicht erwei- nur vier Stunden, ist nicht qualitäts- bei der Aufdeckung von Fehlern gestärkt
tert verifiziert werden kann, darf nicht fördernd und oft auch nicht nötig. Darin und verpflichtet werden, über Redakteure
eingereicht werden. drückt sich eine gewisse Gleichgültigkeit mit hoher Fehlerdichte in einem abge-
8. Gespräche oder Interviews müssen im- und mangelnde Wertschätzung gegenüber stimmten Verfahren gegenüber Ressortlei-
mer autorisiert werden, wie das ja schon der Arbeit der Dokumentare aus. tern und Chefredaktion zu berichten. Fort-
lange der Fall ist; Gleiches gilt für längere 15. Deshalb erarbeitet die Dok-Leitung bildungen der Rechtsabteilung für Redak-
Frage-/Antwortpassagen in Hybridtex- mit den Ressortleitern und der Schlussre- teure sollten systematisiert und verstetigt
ten. Wenn Gesprächspartner nicht auto- daktion einen Zeitplan für die Erstellung werden. Für Redakteure müssen das
risieren können oder wollen, muss der von Fahnen. Nicht aktuelle Texte müssen Pflichtveranstaltungen sein. Die Rechtsab-
Autor/die Autorin der Dok eine Audio- bevorzugt montags und dienstags gedokt teilung sollte komplizierte Konfrontatio-
aufnahme und die ausgeschriebene Text- werden. Dieses Verfahren scheint zwin- nen prüfen, bevor diese an die Informan-
fassung (Transkriptions-Software) vor- gend angesichts der zusätzlichen Aufga- ten rausgehen.
legen. ben, die durch die Onlinetexte auf die Dok 6. Gibt es Hinweise auf Faktenfehler, etwa
9. Vor Neueinstellungen von Redakteu- zukommen. von Kollegen oder durch Leserbriefe oder
ren/Reportern in die integrierte Redaktion E-Mails, sollten die zuständigen Ressort-
sollte die Dok mehrere ihrer veröffent- Unabhängig vom Fall Relotius gibt es in- leiter diese Hinweise prüfen oder durch
lichten Texte auf Fälschungen oder Ver- nerhalb der Dokumentation bereits eine die Dok prüfen lassen – nicht die Autoren
fälschungen überprüfen, und zwar nicht Vielzahl von Überlegungen, wie die Arbeit der Geschichten selbst, wie es im Fall Re-
die Arbeitsproben aus der vorgelegten besser organisiert und damit effektiver wer- lotius passiert ist. Bei den meisten Leser-
Bewerbungsmappe. den kann. Diese beschäftigen sich auch mit zuschriften ist das bereits der Fall, nicht
10. Weder Autoren noch Ressortleiter dür- Fortbildung und der Zusammenarbeit der aber bei jenen, die die Autoren direkt er-
fen direkt von den zuständigen Redakteu- Dokumentare über die Referatsgrenzen hi- reichen.
ren verlangen, kritische Leserbriefe nicht naus. Diese zu bewerten und zu beurteilen 7. Grundsätzlich gilt, dass Leserbriefe be-
zu veröffentlichen. Es ist immer die zu- ist nicht Aufgabe der Kommission. antwortet werden müssen. Dies geschieht
ständige DII-Ressortleitung zu bitten, durch die Leserbriefredaktion, die Auto-
wenn Leserbriefe nicht veröffentlicht ren oder direkt durch die Dokumentation.
werden sollen, weil sie beispielsweise irre- Verbesserung der Die Kontrolle liegt bei der Leserbrief-
führend sind oder Faktenfehler enthalten. Fehlerkultur redaktion. Es sollte geprüft werden, ob es
Bei Briefen, die das DII-Ressort betreffen, eine technische Möglichkeit gibt, dass E-
ist die Chefredaktion zu informieren. 1. Fehler werden regelmäßig kurz im Mails, die sich direkt auf einen Text bezie-
11. Die Kollegen der Dokumentation soll- Heft korrigiert. Es gibt einen Verweis auf hen, auch von der Ressortleitung oder der
ten darauf achten, ob einzelne Autoren Online (Blog). Leserbriefredaktion eingesehen werden
Schwierigkeiten mit der Faktengenauigkeit 2. Online werden Fehler ausführlicher dar- können oder diese automatisch erreichen.
haben. Sollte so etwas auffallen, muss die gestellt und korrigiert. Hier könnten auch Weder Autoren noch Ressortleiter dürfen
Dok-Leitung die jeweiligen Ressortlei- Rechtsstreitigkeiten, soweit es möglich ist direkt von den zuständigen Leserbrief-
tungen darüber informieren. Unabhängig und sinnvoll erscheint, im Ergebnis dar- redakteuren verlangen, kritische Leserbriefe
davon sollte es einen regelmäßigen gestellt werden. nicht zu veröffentlichen. Es ist immer die
Austausch zwischen Dokumentation und 3. Ausschließlich Ressortleiter, nicht die zuständige DII-Ressortleitung zu bitten,
Ressortleitungen über die Standards der Autoren selbst, dürfen die Kollegen wenn Leserbriefe nicht veröffentlicht wer-
Arbeit geben. von SPIEGEL INTERNATIONAL oder den sollen, weil sie beispielsweise irrefüh-
12. Dokumentare müssen sich regelmäßig SPIEGEL+ darum bitten, Geschichten rend sind oder Faktenfehler enthalten. Die
und verbindlich in Recherchemethoden nicht zu veröffentlichen, wie Relotius das Leserbriefredaktion und die Social-Media-
fortbilden. getan hat. Hat ein Kollege Bedenken ge- Redaktion sollten dazu gestärkt werden.
13. Neu eingestellte Redakteure müssen gen die Veröffentlichung einer Geschichte Brigitte Fehrle, Clemens Höges (Kommis-
verbindlich in den Verifikationsregeln ge- auf INTERNATIONAL (wofür es in selte- sionsmitglied bis 16.4.), Stefan Weigel
schult werden. nen Ausnahmefällen Gründe geben kann),

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