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l Clemens Höges, kommissarischer Blatt- nicht ausgeschlossen werden, dass nach sche Gattung Reportage. Relotius galt und
macher, und Veröffentlichung des Abschlussberichts gilt als exzellenter Schreiber. Er wurde von
l Stefan Weigel, Nachrichtenchef des neue Verdachtsfälle auftauchen; die E- Ullrich Fichtner für den SPIEGEL entdeckt,
SPIEGEL seit 1.1.2019. Mail-Adressen bleiben daher für weitere arbeitete ab 2014 zunächst freiberuflich
Die Aufgabe der Kommission war es: Nachrichten freigeschaltet. und wurde im April 2017 fest angestellt;
l den Fälschungsfall umfassend zu ermit- Wir bezeichnen im Bericht Männer und seine Ressortleiter waren Matthias Geyer,
teln, Fehlverhalten einzelner Personen auf- Frauen gleichermaßen in der männlichen Guido Mingels und Özlem Gezer. Im
zuklären, systemische Ursachen in den Ab- Form als »Kollegen«, weil wir die zugesi- SPIEGEL und auf SPIEGEL ONLINE sind
läufen von Redaktion, Dokumentation cherte Vertraulichkeit aufrechterhalten in den vergangenen Jahren rund 60 Texte
und anderen Abteilungen zu ermitteln, wollen. erschienen, die Claas Relotius geschrieben
l zu klären, ob es weitere Fälle gab, und hat oder an denen er beteiligt war. Von
l Verbesserungsvorschläge für eine effi- den Kollegen wird er als sympathisch,
zientere Fehlerkontrolle für die Redaktion
III. Der Fall Relotius freundlich zu jedermann und bescheiden
und die Dokumentation zu machen. Dieser Teil des Berichts stellt dar, wie es zu beschrieben; er sei ein stiller, eher zwei-
Die Kommission hat ihre Arbeit Anfang der Affäre um verfälschte oder zu großen felnder Typ gewesen, der sich oft Rat ge-
Januar 2019 aufgenommen. Sie war nicht Teilen erfundene Artikel des Redakteurs holt habe. Niemand im Haus, auch kein
weisungsgebunden, konnte sich im Haus Claas Relotius im SPIEGEL kommen konn- früherer Mitarbeiter konnte sich vor-
frei bewegen und Gespräche führen. Wei- te. Er fasst zusammen, was die Kommission stellen, dass er inkorrekt arbeitet oder gar
tergehende Ermittlungen, beispielsweise über jene Strukturen und Abläufe im Ge- fälscht. Die Kommission hat vielen lang-
die Einsicht in E-Mail-Accounts, bedurf- sellschaftsressort des Heftes weiß, die zur jährigen, erfahrenen Reportern auch au-
ten der Zustimmung von Betriebsrat, Ge- Affäre beigetragen haben. Er basiert auf ßerhalb des Gesellschaftsressorts die Frage
schäftsleitung und Chefredaktion und wur- vielen oft vertraulichen Gesprächen sowie gestellt: Hat es sie nicht gewundert, dass
den unter Berücksichtigung des Daten- auf ausgewerteten Dokumenten. Mit Claas ein so junger Kollege in Serie solch außer-
schutzes durchgeführt. Relotius selbst konnte die Kommission gewöhnliche Texte abliefert? Die Antwort
Die Kommission möchte sich bei allen nicht sprechen. Er hat über seinen Anwalt war sinngemäß meist: Ich dachte eben, der
Beteiligten für die Kooperationsbereit- Gesprächsanfragen abgelehnt. Es war der ist besser als ich. Oder: Der scheint einfach
schaft bedanken. Alle Gesprächspartner Kommission daher auch nicht möglich, sei- immer Glück zu haben.
waren an einer Lösung und Aufarbeitung ne Beweggründe zu recherchieren bzw. die Im Nachhinein geben allerdings Dirk
interessiert. Dies ermöglichte der Kommis- auf SPIEGEL ONLINE vom 19.12.2018 zi- Kurbjuweit und Klaus Brinkbäumer an,
sion eine konstruktive und zügige Arbeit. tierten Aussagen zu hinterfragen. (»Es ging bei einzelnen Texten leise Zweifel gehabt
Ohne die umfangreichen Vorarbeiten der nicht um das nächste große Ding. Es war zu haben. So wunderte sich Kurbjuweit
Kollegen in der Taskforce und die Recher- die Angst vor dem Scheitern.« Und: »Mein über die mangelnde Qualität eines Textes
chen der Kollegen aus dem Gesellschafts- Druck, nicht scheitern zu dürfen, wurde im- von Relotius, den er selbst bei ihm in Auf-
ressort wäre dieser Bericht in der Kürze mer größer, je erfolgreicher ich wurde.«) trag gegeben hatte. Kurbjuweit nannte Re-
der Zeit nicht möglich gewesen. Der Bericht enthält an dieser Stelle deshalb lotius für die Recherche auch Kontaktper-
Besonders hervorzuheben ist die ausschließlich die Sichtweise der Redaktion sonen und überwachte die Fertigstellung
Beteiligung der Dokumentation an der und der Dokumentation. des Textes. Kurbjuweit: »Da war ich ent-
Aufarbeitung. Sie hat zusammen mit Re- Grundsätzlich ist zu sagen, dass der täuscht, weil das Storyhafte fehlte, kein
dakteuren aus verschiedenen Ressorts alle Fälscher Relotius in erster Linie für sich echter Relotius.«
Texte von Claas Relotius einer erneuten und seine Texte Verantwortung trägt. Er Brinkbäumer konnte sich nach eigenen
Überprüfung unterzogen. Das Ergebnis ist Täter. Aber Relotius agierte, wie alle Aussagen an zwei Momente des Zweifelns
ist dokumentiert und kann online ein- anderen Reporter des SPIEGEL, eingebet- an Texten von Relotius erinnern. Beim In-
gesehen werden: www.spiegel.de/kultur/ tet in ein Ressort und die Dokumentation. terview mit Traute Lafrenz wunderte er
gesellschaft/der-fall-claas-relotius-welche- Wie also konnte es sein, dass weder die sich, dass eine fast Hundertjährige, die in
texte-gefaelscht-sind-und-welche-nicht-a- Redaktion, die seine Recherchen betreut den USA lebt, innenpolitische deutsche
1249747.html und seine Texte redigiert hat, noch die Vorgänge wie den Aufstieg der AfD kom-
Die Kommission hat im Laufe ihrer Ar- Dokumentation, die seine Texte überprüft mentiert. In der Rückschau, so Brinkbäu-
beit viele Gespräche mit Redakteuren, Res- hat, die Fälschungen entdeckte? mer, hätte er nach Autorisierung verlangen
sortleitern, ehemaligen Redakteuren, ehe- sollen. Doch der Text sei geschickt ge-
maligen Chefredakteuren, sonstigen Mit- Der Kollege schrieben gewesen und habe Zweifel und
arbeitern, Dokumentaren, Justiziaren und Gedächtnisschwächen selbst thematisiert.
Externen geführt und ist zahlreichen Hin- Claas Relotius arbeitete im Ressort Gesell- Der zweite Fall war der Einstieg in die
weisen aus der Redaktion und von außer- schaft des SPIEGEL. Das Ressort Gesell- Reportage »Löwenjungen«, der ihm allzu
halb auf mögliche Fälschungen nachge- schaft definiert sich als einziges nicht über perfekt vorkam. »Ich habe es als Reporter
gangen. Für solche Hinweise wurde eine ein Thema, sondern über die journalisti- selbst erlebt, wie Interviews in Gefäng-
E-Mail-Adresse eingerichtet (hinweise@ nissen in Ländern wie dem Irak laufen.«
spiegel.de). Unter einer weiteren E-Mail- Aber wiederum thematisierte der Text
Adresse (ombudsstelle@spiegel.de), die Er sei ein stiller, diese Zweifel selbst.
ausschließlich von der Kommission einge-
sehen werden kann, konnten und können eher zweifelnder Typ Die Methoden
vertrauliche Hinweise gegeben werden.
Die Kommission hat diesen Bericht gewesen, der sich Kollegen umgarnen
nach bestem Wissen und Gewissen erstellt. Relotius’ Methoden der Vertuschung wer-
Allerdings konnten noch nicht alle Hinwei- oft Rat geholt habe, den von Kollegen im Ressort und in der
se abschließend überprüft werden, vor al- Dokumentation ähnlich beschrieben. So
lem wenn zeitlich weit zurückliegende Er- sagen Kollegen. ließ er sie meist sehr frühzeitig an den
eignisse betroffen waren. Außerdem kann Recherchen und auch den Rückschlägen
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In eigener Sache
Der falsche Friseur Text »Königskinder« nicht von Fälschung Für die Rubrik »Eine Meldung und ihre
Hätte die Redaktion des SPIEGEL über Re- gesprochen, sondern nur darüber, dass der Geschichte« recherchierte Claas Relotius
lotius Informationen eingeholt, bevor er Autor sich in die Gedanken der Kinder ver- im Herbst 2015 die Geschichte von Ka-
zunächst als freier Mitarbeiter und später setzt habe und dass die Geschichte zu glatt thryn Rawlins aus Atherstone, Warwick-
fest angestellt beschäftigt wurde, hätte aufgeschrieben sei. Über den zweiten Text shire, die viele Jahre lang eine Vase in ihrer
man auf einen Vorgang bei »NZZ Folio« »Löwenjungen« sei gar nicht mehr intensiv Wohnung hatte, die tatsächlich eine Gra-
aus dem Jahr 2014 stoßen können, der im gesprochen worden, weil in dem Jahr die nate aus dem Ersten Weltkrieg gewesen
Netz recherchierbar ist. Dort hatte Relo- Schulz-Story so klar dominiert habe. sein soll. Der Kern des Textes ist korrekt,
tius für die Rubrik »Beim Coiffeur« ein es gab die als Vase genutzte Granate. Re-
Stück über einen Friseursalon in Finnland Deutliche Warnungen lotius hat auch tatsächlich mit Kathryn
geschrieben. Einer Leserin fielen Unge- Rawlins Kontakt per E-Mail gehabt und
reimtheiten auf. Die Zeitung musste eine Bislang konnte die Kommission feststellen, zudem ein kurzes Telefonat mit ihr ge-
Berichtigung drucken und beendete die dass es im Haus drei deutliche Warnungen führt, das bestätigte sie dem SPIEGEL. Of-
Zusammenarbeit. vor Fälschungen in Relotius-Geschichten fenkundig hat Relotius viele der Details
gab. Jede davon hätte Relotius stoppen seiner Geschichte dann aus britischen Zei-
Der Tweet aus Fergus Falls können – zumindest theoretisch. tungen abgeschrieben und die jeweils dra-
Nach der Geschichte »In einer kleinen Die erste Warnung eines Lesers muss matischsten ausgewählt. Auf Bitte des
Stadt« twitterte Michele Anderson aus Fer- Matthias Geyer, den Leiter des Gesell- SPIEGEL hat Rawlins sich den Text mit-
gus Falls (die später die Fehler des Textes schaftsressorts, erreicht haben, er hat je- hilfe eines Übersetzungsprogramms noch
in einem Blog detailliert aufgearbeitet hat) doch nicht reagiert. Bei der zweiten War- einmal durchgelesen. Ihr Fazit: Relotius’
am 7.4.2017 an den SPIEGEL-Account: »I nung ist nicht ganz klar, ob und, wenn ja, Darstellung enthält dieselben Detailfehler
live in Fergus. We’re wondering why he wen in der Ressortleitung sie erreichte. Die wie die Texte anderer Zeitungen. Der ent-
spent time here if he was just going to write dritte Warnung war die des Kollegen Juan scheidende Fehler sei die Behauptung, die
fiction. Hilarious, insulting excuse for jour- Moreno. Ungeachtet dieser Warnung pro- Granate sei scharf gewesen, als Rawlins
nalism.« Der Tweet blieb unentdeckt. duzierte und veröffentlichte das Gesell- die Polizei verständigte. Britische Zeitun-
schaftsressort noch knapp zwei Wochen gen hatten dies anscheinend fälschlich be-
Die misstrauische Nannen-Jury nach Eingang von Morenos ersten Indizien hauptet, Relotius hat diese Behauptung
In einem Editorial schrieb der damalige eine von Relotius in drei nicht unwichtigen wohl ungeprüft übernommen. Der Leser
Chefredakteur des »Stern«, Christian Teilen gefälschte Titelgeschichte zum The- schrieb in seiner E-Mail: »Die ganze Story
Krug, am 27.12.2018: »In der Jury des Nan- ma Klimawandel. Dabei hätte Matthias fällt hier eigentlich in sich zusammen.«
nen-Preises, die alljährlich die besten jour- Geyer da schon klar sein müssen, dass sie Doch nach Eingang der E-Mail bei Brink-
nalistischen Leistungen in deutschsprachi- es bei Relotius möglicherweise mit einem bäumer und Geyer passierte nichts. Weder
gen Medien auszeichnet, haben wir in den Betrüger zu tun hatten. bat einer der beiden Empfänger die Doku-
vergangenen Jahren in einigen Sitzungen mentation um Prüfung, noch erhielt der
über Artikel von Claas Relotius diskutiert. Leserbrief »Blindgänger« Leser nach eigenen Angaben eine Antwort
Mehrere Jurymitglieder äußerten Zweifel Am 11. November 2015 schickte ein Leser, oder eine Eingangsbestätigung. Brinkbäu-
daran, dass sich alles so abgespielt hatte.« nach eigenen Angaben Lektor für Fach- mer gibt an, sich »in Umrissen« an diese
In einem Gespräch mit der Kommission magazine, eine E-Mail an die Adresse chef- Beschwerde zu erinnern; er habe sie damals
erklärte Krug, dass die Jury beim ersten redaktion@spiegel.de. Darin wies er ruhig mit der sinngemäßen Anmerkung weiter-
Mal das Glatte und Märchenhafte des Tex- und detailliert auf Fehler in der Relotius- geleitet: »RL-Gesellschaft bitte antworten.«
tes »Königskinder« bemängelt habe, es Geschichte »Blindgänger« (aus der Rubrik In neun von zehn Fällen seien die Ressort-
habe aber auch inhaltliche Zweifel gege- »Eine Meldung und ihre Geschichte«, leiter seiner Bitte gefolgt. Wenn es in die-
ben; zwar habe niemand von Fälschung SPIEGEL 46/2015) hin, nachdem er den sem Fall anders gewesen sei, liege sein Ver-
gesprochen, man habe aber schon gefragt, Text mit einer einfachen Google-Recher- säumnis darin, es nicht überprüft zu haben.
ob das alles so stimmen könne. Der dama- che überprüft hatte. Nach Auskunft der IT muss mit an Si-
lige SPIEGEL-Chefredakteur Klaus Brink- Der Chefredaktionsaccount, auf dem cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
bäumer, der ebenfalls der Jury angehörte, die E-Mail einging, wird vom Sekretariat davon ausgegangen werden, dass die E-
habe darauf verwiesen, dass der Text von der Chefredaktion verwaltet. Die Kolle- Mail in Geyers E-Mail-Eingang angekom-
der Dokumentation überprüft worden sei. ginnen dort leiteten die E-Mail am selben men ist. Sie wurde ja nicht von einem ex-
Beim zweiten Mal sei über den Text »Lö- Tag weiter, das konnte die Kommission im ternen Server gesendet, sondern nur vom
wenjungen« entsprechend »sehr breit« dis- Ausgangsfach überprüfen; die E-Mail ging internen SPIEGEL-Server verarbeitet. Und
kutiert worden. korrekterweise an Klaus Brinkbäumer und im sehr unwahrscheinlichen Fall, dass sie
Klaus Brinkbäumer entgegnete auf An- den für Relotius zuständigen Ressortleiter nicht angekommen wäre, hätte beim Ab-
frage der Kommission: »In der Nannen- Matthias Geyer. Es gibt dort keine Hinwei- sender eine Warnung auftauchen müssen.
Jury sind bei Sitzungen, an denen ich als se darauf, dass jemand dem Leser geant- Matthias Geyer kann sich an die E-Mail
Juror teilgenommen habe, keine Zweifel wortet hat. nicht erinnern. Auf Bitte der Kommission
am Wahrheitsgehalt der vornominierten durchsuchte er seinen E-Mail-Account, dort
Relotius-Texte diskutiert worden. Es gab, war sie nicht zu finden. Er sagte, dass er ab
wie bei jedem Text, den wir dort bespro- und zu alte E-Mails lösche, wozu die IT tat-
chen haben, Fürsprecher und Gegner, aber Offenkundig hat sächlich gelegentlich auffordert. Daraufhin
die Kritik der Gegner bezog sich auf Spra- bat die Kommission ihn um Erlaubnis, die
che und Struktur der Reportagen.« Chris- Relotius viele der Details IT nach der E-Mail suchen zu lassen. Die
tian Krug relativierte auf Anfrage der Kollegen dort können auch endgültig ge-
Kommission daraufhin seine Aussagen. aus britischen Zeitungen löschte E-Mails sehen, wenn auch nur eine
Der Leiter der Henri-Nannen-Schule, An- gewisse Zeit nach Löschung. Doch auch die
dreas Wolfers, bestätigte die Aussagen abgeschrieben. IT konnte die E-Mail in seinem Account
Brinkbäumers: Man habe in der Jury beim nicht finden.
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In eigener Sache
sellschaftsressort keine eigenen Re- ter Fotograf, der seit 20 Jahren in der Ge- später in einem Gespräch mit der Kom-
cherchen anstellten, um den Fall aufzuklä- gend recherchiere, noch nie geschafft. Gey- mission und sagte, Moreno habe ihn auf-
ren. Dies hätten sie selbst dann tun müs- er fordert nach eigener Aussage Relotius auf, gefordert, die E-Mail wegzuschmeißen.
sen, wenn sie Relotius für unschuldig die Vorhaltungen Morenos auch unter Zu- Geyer ruft Moreno an, laut Moreno »zu-
hielten, denn schließlich wurde er schwer hilfenahme der Dokumentation zu klären. tiefst verärgert« über dessen angeblich
beschuldigt. Moreno wehrt sich dann gegen »Regie- »völlig unprofessionelles Verhalten« und
Während das Gesellschaftsressort also anweisungen« von Relotius beim Bearbei- den kritischen Ton in der E-Mail vom
nichts recherchieren ließ, was den Fall hät- ten des Textes und schreibt, er tue sich 13. November. Geyer zur Kommission:
te klären können, fuhr Moreno aus eige- »sehr schwer mit diesem Wunsch nach ein- »Ich fand seine Arbeitsweise unprofessio-
nem Antrieb in die USA, um selbst zu re- fachen, klaren Erklärungen. Es ist nie klar nell und spreche mit ihm über den Unter-
cherchieren. und einfach«. schied zwischen Reportage, Report und
Zeit verstrich, und außerdem riskierten Essay. Ich sage ihm, er müsse in der Lage
die Beteiligten, dass der Fall nach außen Mittwoch, 14. November sein, Egoismen zurückzustellen.«
dringt – dann hätte der SPIEGEL nicht ein- Relotius schreibt an Moreno: Er habe »den Es wird ein Gesprächstermin für den
mal mehr die Chance gehabt, die Affäre Tag und die halbe Nacht« damit verbracht, 22. November vereinbart.
selbst aufzuklären. Denn laut (späterer) den Text »szenischer, erzählerischer« zu
Auskunft von Moreno war eine US-Jour- machen. Am Abend ruft Geyer bei More- Freitag, 16. November
nalistin schon dabei zu recherchieren. Au- no an und äußert sich laut Moreno verär- Am Nachmittag telefoniert Moreno mit
ßerdem waren Bürger in Fergus Falls Re- gert über dessen Verhalten gegenüber Re- Matthias Geyer. Laut Geyer spricht More-
lotius ebenfalls auf der Spur und planten lotius und die E-Mail. In den kommenden no schon in diesem Telefonat von »Fäl-
eine Veröffentlichung. Über die Kleinstadt Tagen soll es ein Gespräch geben. schung«, er sagt, dass der Text »Jaegers
in den USA hatte Relotius 2017 eine, wie Inzwischen hat Moreno das Layout der Grenze« in den Teilen, die Relotius ge-
man heute weiß, weitgehend erfundene Geschichte mit den Fotos zu sehen bekom- schrieben habe, nicht stimme.
Reportage geschrieben. men. Er hat erste Zweifel, dass die Ge- Moreno schildert die festgestellten Un-
Vor allem aber führte das fehlerhafte schichte so stimmt, wie Relotius sie aufge- stimmigkeiten. Geyer habe gesagt, er habe
Handling dazu, dass der SPIEGEL den in schrieben hat. Er findet in amerikanischen die Anmerkungen zur Kenntnis genom-
Teilen gefälschten Klimatitel druckte. Medien Hinweise auf diese Unstimmigkei- men, er halte nichts davon. In diesem Ge-
Moreno, als fester Freier praktisch je- ten. Moreno recherchiert nach eigenen An- spräch fällt das Hinrichtungs-Zitat. Geyer
derzeit kündbar, sah sich gefährdet. Er hat- gaben die ganze Nacht weiter und ist sich sagt dazu außerdem: »Ich habe erst mal
te den Eindruck, als laufe er beim SPIEGEL danach sicher, dass Text und Bilder nicht keinen Grund, an der Integrität von Claas
gegen eine Wand: »Es waren dicke, solide übereinstimmen. Die Hauptfigur »Chris zu zweifeln.« Moreno bietet nach eigener
Betonwände, SPIEGEL-Qualität gewisser- Jaeger« heißt in einer Geschichte der Aussage an, seine Hinweise noch mal
maßen.« Das Einzige, was das Gesell- »New York Times« zum Beispiel Chris schriftlich vorzutragen. Geyer sagt hinge-
schaftsressort in den ersten Wochen unter- Maloof. Das Bild des Fotografen Johnny gen, er habe Moreno aufgefordert: »Schick
nahm, war, Relotius mit Morenos Vorwür- Milano ist von 2016. Moreno findet einen mir das schriftlich, dann prüfen wir das.«
fen zu konfrontieren. Relotius bekam so Text des amerikanischen Journalisten Nach diesem Gespräch hat Moreno den
Gelegenheit, weitere Lügengebäude auf- Shaun Bauer, dem es gelungen war, eine Eindruck, gerade gefeuert worden zu sein.
zubauen. Bürgerwehr undercover zu infiltrieren. Er telefoniert mit dem Fotografen Scott
Die Männer in Bauers Geschichte haben Dalton, der ihm anbietet, mit ihm nach
seltsamerweise ähnliche Decknamen wie Arizona zu fahren, um Beweise zu recher-
Die Chronologie bei Relotius: Pain, Spartan, Ghost, Jaeger. chieren. Diesen Eindruck vermittelte of-
der Aufdeckung Am Abend schreibt Moreno nach eige- fenbar auch Relotius, der am Abend der
nem Bekunden eine warnende E-Mail an Verleihung des Reporterpreises (4.12.2018)
Die zeitliche Abfolge der Vorgänge zeigt, den zuständigen Dokumentar und schickt Kollegen zufolge sagte, er sei traurig, weil
wie zögerlich die Aufklärung angegangen ihm alle bis dahin bekannten Informatio- Moreno seinen Texten nachrecherchiere;
wurde – und dass die Ressortleitung und nen, allerdings mit der Bitte, diese vertrau- Moreno habe sich verrannt und werde des-
der designierte Chefredakteur Ullrich lich zu behandeln. wegen wohl entlassen.
Fichtner Moreno alleinließen. Die Chro- Geyer informiert Fichtner. Man ist sich
nologie basiert auf einem Protokoll, das Donnerstag, 15. November einig, dass man auf Morenos schriftliche
Moreno Ende Dezember auf Bitte von Ull- Der Dokumentar ruft Moreno (nach An- Ausführungen warten müsse.
rich Fichtner angefertigt hat, und auf Ge- gaben von Moreno) an und sagt, er sei nur
sprächen von Matthias Geyer und Ullrich für die normale Textverifikation zuständig, Sonntag, 18. November
Fichtner mit der Kommission. Matthias ansonsten müsse er dem Autor glauben. Moreno schickt eine lange E-Mail an Geyer
Geyer hat aus dem Gespräch ein eigenes Der Dokumentar bestätigte diese Version und Özlem Gezer unter anderem mit drei
Protokoll angefertigt. Fragen, Bilddateien, die die Namensdiffe-
renz (Maloof/Jaeger, Foley/Nailer) belegen,
Dienstag, 13. November 2018 zudem mit dem Instagram-Profil von Chris
Moreno schreibt an Relotius als Reaktion Nach diesem Maloof (»Jaeger«) und weiteren Argumen-
auf Relotius erste Version des Textes »Jae- ten. Fichtner sagte der Kommission später,
gers Grenze«, diese E-Mail gehe in »cc« Gespräch hat Moreno Morenos E-Mail sei schwer zu verstehen
auch an Matthias Geyer. Moreno listet sei- gewesen: Er habe seinen Fall schlecht vor-
ne bis dahin noch lediglich inhaltlichen den Eindruck, getragen und geglaubt, dass alle wüssten,
und formalen Probleme mit dem Text auf. worum es gehe, nur weil er seine drei Fra-
Er äußert sich allerdings bewundernd da- gerade gefeuert gen verschickt habe. Allerdings ist diese E-
rüber, dass es Relotius gelungen sei, in so Mail nach Auffassung der Kommission klar
kurzer Zeit Zugang zu einer Bürgerwehr worden zu sein. genug, um den Vorwurf des Betrugs durch
gefunden zu haben. Das habe ein bekann- Relotius nachvollziehen zu können.
Es wäre ab diesem Moment möglich ge- Freitag, 30. November dass Relotius den Protagonisten »Nailer«
wesen, Relotius auffliegen zu lassen, wenn Moreno fährt zusammen mit einem Foto- doch persönlich gesprochen habe.
ein Verantwortlicher eine Überprüfung grafen rund 700 km von Las Vegas nach
der Vorwürfe vorgenommen oder veran- Arizona zu Tim Foley (bei Relotius »Nai- Montag, 10. Dezember
lasst hätte. Man hätte etwa Maloof über ler«) und konfrontiert ihn mit einem Por- Fichtner konfrontiert Moreno bei einem
sein Instagram-Profil kontaktieren und fra- trätfoto von Relotius auf seinem Handy. Vieraugengespräch in Hamburg in seinem
gen können, ob er sich auch manchmal Foley sagt, er kenne Relotius nicht. Da- Büro nach dessen Aussagen mit der Erwi-
»Jaeger« nenne oder ob er Claas Relotius nach nimmt Foley Detail um Detail der derung von Relotius auf seine E-Mail vom
kenne. Auch ein Telefonat mit dem Foto- Relotius-Teile der Geschichte auseinander. 18. November. Er äußert nach Aussagen
grafen Johnny Milano über die Identität Moreno und der Fotograf dokumentieren von Moreno außerdem Zweifel an der
von Maloof wäre möglich gewesen. Foleys Aussage in einem gut 29 Minuten Echtheit der Videos. Fichtner laut Moreno:
langen Video. Foley stellt auch den Kon- Er sei »Partei«, und man wisse nicht, »was
Montag, 19. November takt zu Chris Maloof (bei Relotius »Jae- ich Foley und dem anderen geboten habe«.
Am Montagvormittag wird die E-Mail von ger«) her. An diesem Tag, zwei Wochen Ullrich Fichtner stellt die Situation fol-
Moreno stattdessen an Relotius übergeben, nach dem ersten Anruf von Moreno, er- gendermaßen dar:
er wird um eine schriftliche Stellungnahme scheint der SPIEGEL mit dem Klimatitel Er habe das Gespräch mit Moreno ge-
gebeten. Relotius erhält damit die Gele- und den Kiribati-Teilen von Relotius. sucht, nachdem die Videos vorlagen. Re-
genheit, Vorwürfe (auch durch neue Fäl- lotius habe dadurch zwar schlecht dage-
schungen) scheinbar zu entkräften. Montag, 3. Dezember standen, sei allerdings durch die (gefälsch-
Moreno fängt derweil an, andere Texte Foleys Frau Jan schickt eine empörte E- te) E-Mail entlastet worden. Die Mail sei
von Relotius zu durchforsten, und findet Mail an Relotius und fragt ihn, wie er dazu »stark« gewesen und habe die Glaubwür-
Hinweise auf mögliche Fälschungen in den komme, eine lange Geschichte über die digkeit der Videos erschüttert.
Relotius-Texten über Colin Kaepernick Bürgerwehr zu schreiben, ohne da gewe- Fichtner: »Diese Informationen – und
oder die »Königskinder«. sen zu sein. Diese E-Mail wird Claas Relo- auch die mehrseitige schriftliche Erklärung
tius später verfälschen, um »beweisen« zu von Relotius – habe ich mit Moreno an je-
Dienstag, 20. November können, dass er doch dort war. nem Montag ausgetauscht, als Beweismit-
Relotius übergibt seine schriftlichen Ant- tel gewissermaßen. Das hat ihm die Gele-
worten an Geyer. Geyer leitet sie an Ficht- Dienstag, 4. Dezember genheit gegeben, seine berechtigten Zwei-
ner weiter. Es soll nun einen Gesprächs- Moreno fährt zu Chris Maloof. Maloof fel an der E-Mail loszuwerden und endlich
termin mit den Beteiligten geben. Bei der sagt ebenfalls, er kenne Relotius nicht und auf Relotius’ Version der Vorgänge zu rea-
Suche nach einem Termin stellt man fest, sei mit ihm auch nie an der Grenze gewe- gieren. Er hat allerdings, das muss dann
dass Relotius vom 23.11. bis 3.12. in Urlaub sen. Auch die ihm angedichtete Vorge- nun auch mal auf den Tisch, die Gelegen-
gehen will. Man beschließt, die Angele- schichte (deutsche Vorfahren, von Latinos heit genutzt, diffuse Drohungen auszuspre-
genheit auf Anfang Dezember zu vertagen. angefixte Junkie-Tochter etc.) dementiert chen. Er raunte, dass der Fall womöglich
Die Erwiderung von Relotius wird Juan Maloof. Er zeigt seine Handrücken in die bald öffentlich werde, dass ihn, Moreno,
Moreno erst am 10. Dezember gezeigt. Er Kamera, die nicht so tätowiert sind, wie bereits eine Journalistin kontaktiert habe,
hat also bis zu diesem Zeitpunkt keine Relotius geschrieben hat. dass die Leute der Miliz Klagen gegen den
Möglichkeit, auf die Rechtfertigungen und SPIEGEL planten, solche Dinge. Seine ei-
neuerlichen Fälschungen zu reagieren. Samstag, 8. Dezember gene Rolle dabei blieb diffus, es war aber
Fichtner liegen die Videos von Moreno klar, dass er andeuten wollte, womöglich
Donnerstag, 29. November vor. Er informiert Geyer und sagt, Relotius selbst illoyal zu werden. Ich habe ihm des-
Moreno fliegt für das Sportressort in die werde darin schwer belastet. Geyer: »Wir halb nicht nur gesagt, dass er ›Partei‹ sei,
USA; er will dort aber auch Beweise gegen beschließen ein unverzügliches Treffen für was er im juristischen Sinne ja auch war;
Relotius sammeln und dafür etwa die Bür- den nächsten Vormittag in meinem Büro. ich sagte ihm aufgrund seiner zum Teil
gerwehr treffen – auf eigene Faust und Rech- Fichtner lädt Relotius per E-Mail für 11.30 ziemlich schmierigen Drohungen auch,
nung. Auf dem Flughafen London erreicht Uhr dazu ein.« und zwar mehr oder weniger wörtlich:
ihn eine E-Mail von Geyer mit dem Ge- Juan, ganz ehrlich, du klingst grade wie
sprächstermin: »Die Runde wird aus mir, Sonntag, 9. Dezember eine Figur aus einem Mafiafilm.«
Fichtner, Claas und Dir bestehen.« Moreno Relotius bekommt die drastischen Videos
sagt mit Verweis auf die USA-Reise ab. Öz- zu sehen. Relotius sagt nach Erinnerung Zu dem oben genannten Vorwurf
lem Gezer wird von Geyer dazu nicht ein- von Geyer, das sehe »tatsächlich schlecht« Fichtners sagt Moreno: »Ich habe dem
geladen. Man habe ihr gesagt, so Gezer, es für ihn aus. Auf die Frage, ob er etwas Ent- SPIEGEL niemals direkt oder indirekt ge-
seien schon zwei Chefs dabei, das sei aus- lastendes habe, zeigt Relotius auf seinem droht, noch habe ich zu irgendeinem Zeit-
reichend. Auch in den folgenden Wochen Handy die (von ihm selbst verfälschte) E- punkt angedeutet, illoyal werden zu wol-
wird Özlem Gezer nach ihren Angaben von Mail von Foleys Frau Jan vor, aus der in len, also mit meinem Wissen zu einem
Geyer nicht einbezogen. Geyer sagte der dieser Version nun hervorzugehen scheint, Medium gehen zu wollen. Einziges Ziel
Kommission: »Am Abend des 18. Novem- meines wochenlangen Handelns war, mei-
ber 2018 hat Juan Moreno um 22.36 Uhr ne durch eine Fälschung ramponierte Re-
seine ›drei Fragen‹ zu Relotius’ Rolle im putation als freier Journalist wiederherzu-
Text ›Jaegers Grenze‹ per Mail an mich ver- Die Mail soll stellen und Schaden von meinem wichtigs-
schickt, Özlem Gezer war in cc. Am darauf- ten Auftraggeber abzuwenden.«
folgenden Morgen, 19. November, habe ich demonstrieren, wie Morenos Problem sei durchgängig, so
persönlich mit ihr darüber gesprochen. Die Fichtner, dass er jeden seiner Belege für
weitere Aufbereitung lag in den Händen des leicht Relotius einen absoluten Beweis gehalten habe.
designierten Chefredakteurs Ullrich Ficht- Fichtner: »Ich hatte damals auf der einen
ner und mir. Darüber wurde Özlem Gezer gefälscht haben kann. Seite den immer noch vermeintlich unbe-
in den wesentlichen Punkten informiert.« scholtenen Kollegen Relotius – und ich hat-
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te auf der anderen Seite zwei dubiose Ge- Am 19. Dezember enthüllt der SPIEGEL
stalten, von denen ich nur wusste, dass sie die Affäre im eigenen Haus mit einer um-
in Milizen zum Privatvergnügen Streife Am 19. Dezember fangreichen Geschichte auf SPIEGEL ON-
gegen Einwanderer aus Mexiko gehen. Ich LINE und in der Folge in dem SPIEGEL-
hatte zwei Videoclips, deren Entstehungs- enthüllt der SPIEGEL Titel »Sagen, was ist.«
geschichte ich nicht kannte und die mir
das Blut gefrieren ließen wegen ihres In-
die Affäre im
halts, aber auch wegen Morenos Gnaden- eigenen Haus. IV. Wie konnte es
losigkeit. Und ich konnte wirklich nicht so weit kommen?
wissen, was gesprochen worden war, be-
vor die Kamera anging.« Diese Skepsis Claas Relotius war ein Einzeltäter, der mit
habe er Moreno mitgeteilt. Es sei gut mög- worden, nachdem vorherige Termine mit erheblicher Energie gefälscht und seine
lich, dass er gesagt habe, er wisse ja nicht, Relotius und Moreno nicht zustande ge- Fälschungen vertuscht hat. Er ist in aller-
ob Moreno denen womöglich sogar Geld kommen waren. erster Linie für sein Handeln verant-
bezahlt habe. Die Eindeutigkeit des Zitats wortlich.
von Moreno sei aber »mit Sicherheit Dienstag, 11. Dezember Gleichwohl stellt sich die Frage, unter
falsch«. Fichtner sagt, er habe sich damals Moreno schreibt erneut an Fichtner und welchen Voraussetzungen und in welchem
wie ein Richter gefühlt, er habe nur Indi- listet alle ihm vorliegenden Hinweise auf. Umfeld ein solches Ausmaß an Fälschung
zien in der Hand gehabt. Er habe keine Er schreibt, dass sich Colin Kaepernicks über derart lange Zeit möglich war. Die
Fehler machen wollen. Über den Status Anwalt gemeldet habe und dementiere, Kommission hat mehrere Faktoren identi-
der Videos habe er sich auch mit seinem dass Relotius mit Kaepernick oder dessen fiziert, die eine systemische Rolle im Fall
»Ermittler« Clemens Höges ausgetauscht, Eltern gesprochen habe. Moreno schreibt des Claas Relotius gespielt haben könnten.
der seine Zweifel geteilt habe (Dies muss Fichtner: »Bitte schreib ihm oder rufe ihn l Die Stilform der Reportage, die mögli-
allerdings nach dem Gespräch mit Moreno an.« Moreno gibt ebenfalls den Tipp, in cherweise für Fälschungen besonders an-
gewesen sein, denn Höges wurde erst am Relotius’ E-Mail-Account nach der echten fällig ist.
11.12. hinzugezogen und bekam die Videos E-Mail von Foleys »Sprecherin« und Ehe- l Der Druck durch Journalistenpreise.
am Tag danach. Höges, damals zeitweise frau Jan zu suchen. Er gibt weiterhin den l Die besondere Konstruktion des Gesell-
Vertretung in der Ressortleitung Ausland, Hinweis, mit dem Fotografen Johnny Mi- schaftsressorts innerhalb des SPIEGEL.
sagt zu der Frage der Echtheit, er hielt es lano zu sprechen, der bezeugen könne, l Die Dokumentation, die beim Aufspü-
für »denkbar, aber nicht wahrscheinlich«, dass es »Jaeger« nicht gibt und sein Foto ren von Fehlern, die den Fälscher mögli-
dass Foley und Maloof in den Videos lü- in Wahrheit Chris Maloof zeige. cherweise entlarvt hätten, versagt hat.
gen, um sich einer strafrechtlichen Verfol- Erst diese Mail mit Hinweisen auf wei- l Der Umgang mit Fehlern.
gung zu entziehen). tere Fälschungen scheint Fichtners Glau-
ben an die Unschuld von Relotius ernst-
Moreno wird bei dem Treffen mit Ficht- haft zu erschüttern. Seine Antwort an Mo- Die Reportage als
ner am 10. Dezember auch eine weitere reno: »Ich bin sprachlos, verlass Dich da- anfällige Stilform
(gefälschte) E-Mail von einem der angeb- rauf, dass ich alles tun werde, um diese Ge-
lichen Milizionäre (Deckname in der Ge- schichte zu ermitteln und zu bereinigen.« Die Reportagen, die das Gesellschaftsres-
schichte »Luger«) an Relotius vorgehalten, sort mit einigen der besten Autoren der
die zu beweisen scheint, dass der Milizio- Mittwoch, 12. Dezember/ Republik Woche für Woche produziert,
när Relotius kennt und dass sein Klarname Donnerstag, 13. Dezember sind oft filmisch erzählte Geschichten;
»Mike Morris« lautet. Der Account lautet In der Nacht zu Donnerstag fährt Özlem Plots werden akribisch geplant und Figu-
mikemorris614@yahoo.com, die Unter- Gezer zu Relotius und bringt ihn zum Re- ren gelegentlich wie bei einem Filmcasting
schrift »lug«. den. Stunden später wird im Beisein von gesucht. Die Geschichten leben von hoher
Dies alles sieht Moreno nach seinen An- Betriebsrat und Personalabteilung der Detailgenauigkeit. Dies ist im Fall der Ent-
gaben an diesem 10. Dezember zum ersten dienstliche E-Mail-Account von Relotius stehungsgeschichte von »Jaegers Grenze«
Mal. Er überlegt, wie er die Lügen von Re- geöffnet und die Fälschung der E-Mail von in einem E-Mail-Verkehr zwischen Matthi-
lotius entlarven kann. Er lässt von einem Foleys Ehefrau entdeckt. Nachmittags füh- as Geyer, Moreno und Relotius gut nach-
Freund einen E-Mail-Account kreieren mit ren Ullrich Fichtner, Özlem Gezer und zuvollziehen. Dort heißt es unter anderem:
dem fast identischen Absender mike Matthias Geyer ein mehrstündiges Ge- »Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie
morris613@yahoo.com. spräch mit Relotius, in dem er seinen Be- kommt idealerweise aus einem absolut ver-
Von diesem Account aus geht eine E- trug gesteht. Am Abend informiert Ficht- schissenen Land (…) Sie setzt ihre Hoff-
Mail in die Redaktion: »Everything is true ner per SMS Steffen Klusmann. nung auf ein neues, freies gutes Leben in
Claas is telling you. We killed three Mexi- USA (…) Es muss eine sein, die mithilfe
cans today« – gezeichnet mit dem Kürzel Freitag, 14. Dezember eines Kojoten über die Grenze will (…)
»lug«. Die E-Mail mit dem offenkundig er- Klusmann informiert den Geschäftsführer Die Figur für den zweiten Konflikt be-
fundenen Text soll demonstrieren, wie Thomas Hass. Beide entscheiden, für Mon- schreibt Claas (…) Dieser Typ wird selbst-
leicht Relotius seine angeblichen Gegen- tag eine Taskforce einzuberufen. Bis dahin, verständlich Trump gewählt haben, ist
beweise gefälscht haben kann. Fichtner so Klusmann, wollte man den Kreis der schon heiß gelaufen, als Trump den Mau-
schlägt ein Gespräch mit Moreno und Re- Eingeweihten möglichst klein halten. Ull- erbau an der Grenze ankündigt hat, und
lotius im Januar vor – zumindest geht das rich Fichtner sei derweil dabei gewesen, freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks,
aus einer E-Mail von Moreno hervor, in das große Stück zu schreiben. wie Obelix sich auf die Ankunft einer neu-
der er sein Unverständnis über einen Ter- en Legion von Römern freut (…) Wenn ihr
min mit Relotius erst am 10. Januar äußert. Montag, 17. Dezember die richtigen Leute findet, wird das die Ge-
Fichtner sagt, der Termin 10. Januar sei Thomas Hass informiert die amtierenden schichte des Jahres.«
»routiniert und ohne großes Nachdenken Chefredakteure Susanne Beyer und Dirk Solch detaillierte Anweisungen per
als Terminblocker auf Vorrat« eingestellt Kurbjuweit. E-Mail sind nach Angaben einiger Mitar-
138
In eigener Sache
gen scheint die Form der »szenischen Re- er circa 40-mal ausgezeichnet). Die Reden eine notwendige Voraussetzung für Demo-
konstruktion«, wie sie im SPIEGEL auch der Laudatoren lesen sich heute wie Real- kratie ist, so darf sie nicht den Desinfor-
in den szenischen Einstiegen häufig ge- satire. Alle waren von der angeblich bril- matoren überlassen werden. Wenn Popu-
nutzt wird. Hier werden nicht nur Ereig- lanten Schreibe, den aufregenden Drehbü- listen versuchen, die öffentliche Debatte
nisse rekonstruiert, es werden auch Ge- chern, den besonderen Protagonisten be- zu okkupieren, muss Journalismus eine
danken und Gefühle nachempfunden. Der eindruckt. Niemand hatte offenbar Zweifel. Alternative anbieten, also antipopulistisch
Reporter schaut in den Kopf seines Prota- Bestenfalls gab es gelegentlich, wie in der sein. Wenn Information, Desinformation,
gonisten, versetzt sich in seine Gefühls- Nannen-Jury, ein leises Unbehagen an der Meinung, Urteil und Vorurteil immer nur
und Gedankenwelt hinein. Die Form der »zu glatt polierten Geschichte«, von einen Klick weit auseinander liegen, dann
szenischen Rekonstruktion, oft als Einstieg »Kitsch« war die Rede oder von Zweifeln müssen wir Journalisten uns fragen, wie
benutzt, ist also vom Grunde her eine »Er- an der Quellenlage. Doch auch diese Zwei- sich Journalismus kenntlich macht und da-
findung«. Denn selbst wenn alles recher- fel, wie bereits Hinweise von Lesern oder von abgrenzt. Bislang beklagen wir zwar
chiert ist, so wurde es mehrfach gefiltert. Kollegen zuvor, verpufften. diese Verrohung, schauen ihr aber tatenlos
Von demjenigen, der es erzählt, und dann Innerhalb eines selbstreferenziellen Sys- zu. Wir schreiben unsere Texte, als wäre
ein zweites Mal im Kopf des Reporters. tems der medialen Blase war niemand in nichts passiert. Im besten Fall in guter
Von Authentizität, die die Stilform der Re- der Lage, das Unwahrscheinliche in Relo- handwerklicher Qualität.
portage suggeriert, ist man dann weit ent- tius’ Texten als Fälschung zu vermuten Journalisten müssen damit rechnen,
fernt. Der Reporter ist der Interpretation oder gar zu erkennen. dass Nutzer heute informierter sind als frü-
seiner Informanten ausgeliefert. Je nach Was heißt das für den Journalismus, her. Noch nie war es so leicht, sich weltweit
Recherchemöglichkeit bekommt er nur die den Reportagejournalismus im Besonde- Informationen zu verschaffen. Gleichzeitig
Auskünfte, die in das von den Informanten ren? Ganz allgemein gesagt: Man kann sind die Menschen desinformierter als frü-
gewünschte Bild passen. Er macht sich da- nicht einfach so weitermachen, wenn klar her, weil sie einer Fülle von nicht überprüf-
mit zum Komplizen der Interessen des ist, wie anfällig diese journalistische Form ten, nicht recherchierten Informationen
Protagonisten. für Betrug ist, wie leicht es für Relotius ausgesetzt sind. Guter Journalismus muss
Es gibt natürlich gelungene Beispiele war, damit durchzukommen. Die Repor- im konstruktiven Sinn verunsichern. Nicht
von szenischen Einstiegen. Zum Beispiel tage ist eben nicht nur eine Form, und mit donnernden Meinungen, sondern mit
der Anfang einer Geschichte über die damit unschuldig. Sie verführt zur Fäl- dem starken Argument. Das Sowohl-als-
SPD (SPIEGEL 4/2019). Er erzählt eine schung und macht das Aufspüren der auch – oft als Beliebigkeit missbilligt – ist
Begebenheit zwischen dem niedersächsi- Fälschung oder der Verfälschung schwer. die Voraussetzung für die Eröffnung eines
schen Ministerpräsidenten Stephan Weil In der Reportage liegt also eine Gefahr, gesellschaftlichen Dialogs. Wenn Journa-
und einer Besucherin eines Parteikon- die umso größer ist, je weiter weg ihre lismus nicht zuhört, verschiedene Meinun-
vents, die ihn fragt: »Kannst du bitte un- Handlung spielt. gen nicht anerkennt, unterschiedliche Lö-
sere Partei retten und den Vorsitz über- Darüber nachzudenken ist eine Aufgabe sungswege für Probleme nicht selbst auf-
nehmen? Weil stockt kurz. Die Frage ist für jede Redaktion, jeden Kollegen, der zeigt oder mindestens gelten lässt, wird er
schmeichelhaft, aber auch gefährlich, ein als »Erstleser« einen Text auf den Tisch Teil des Problems.
Reporter steht daneben, er sollte jetzt bekommt, für alle Reporterfabriken, für Bei der Suche nach Wegen für einen
dringend etwas Unverfängliches sagen.« die Journalistenschulen. glaubwürdigen Journalismus, auch den
Es gelingt dem Autor nicht nur, diese Sze- Allerdings ist diese Selbstreflexion über- Reportagejournalismus, in Zeiten der digi-
ne gut zu beschreiben, sondern auch noch fällig und wäre auch ohne den Fälscher Re- talen Desinformation, geht es um Wahr-
sich selbst als Beobachter und damit Teil- lotius nötig. Der Journalismus, nicht nur haftigkeit, um Information und um Trans-
habender zu reflektieren. der erzählerische Journalismus, hätte sich parenz.
Relotius hat die Form der erzähle- in der digitalen Welt schon längst verän- Wahrhaftigkeit: Die erste Frage an ei-
rischen Reportage zu scheinbarer Meis- dern müssen. nen Text muss immer lauten: Stimmt das?
terschaft gebracht. Er lieferte in Serie In Zeiten der weltweiten Beunruhigung Ist es plausibel? Kann das sein?
buchstäblich unglaubliche, märchenhafte suchen die Menschen nach Orientierung. Wenn etwas nicht stimmt, ist es kein
Geschichten und erzählte unfassbare Aufgabe von Journalismus in der Demo- Journalismus. Wenn etwas nicht stimmt,
Schicksale. Glänzend geschrieben, außer- kratie ist es, den Bürgern dabei zu helfen, oder nicht genau so stimmt, begibt sich
gewöhnliche Story, passendes Weltbild, sich ein Urteil zu bilden und Entscheidun- der Journalist in den Graubereich der In-
preisverdächtig. Die Geschichten von Re- gen zu treffen. Dafür bedarf es der Infor- szenierung und Erfindung. Sprachliche
lotius passten offenbar in vielerlei Hin- mation und Aufklärung. Zusammenhänge Ausschmückung von Szenen oder die Illu-
sicht perfekt in die Erwartungshaltung müssen aufgezeigt, Hintergründe und his- mination von Orten, Verhältnissen, Ge-
der Redaktion. Anders ist es nicht zu er- torische Entwicklungen erklärt werden. danken und Beziehungen verwischen die
klären, dass die kritische Distanz zu Au- Wenn Öffentlichkeit, der Austausch von Grenze zur Literatur. Die Reportage ist
tor und Text – Grundvoraussetzung für Argumenten, das Ringen um Positionen dort das richtige Genre, wo es für den Re-
die Beurteilung eines Textes, auch seines porter viel zu sehen und zu erkunden gibt,
Wahrheitsgehalts, – verloren ging. Die wo er teilhaben kann an Ereignissen und
Frage »Kann das sein?« hat niemand ge- Gesprächen. Jedes Adjektiv birgt die Ge-
stellt. Georg Mascolo, Ex-Chefredakteur Journalisten fahr einer subjektiven Interpretation und
des SPIEGEL, schrieb kürzlich nach der öffnet die Tür zur Erfindung.
Aufdeckung des Falls Relotius selbstkri- müssen damit Das heißt auch, alles ist unzulässig, was
tisch in einem Text: »Waren wir blind, nur im Kopf des Journalisten existiert. Die
waren wir, war ich zu begeistert von allzu rechnen, dass Nutzer Dramaturgie einer Geschichte – und na-
perfekten Texten?« türlich muss ein Text eine Dramaturgie ha-
Jurys der kleinen und großen Journalis- heute informierter ben – muss der Wirklichkeit folgen. Wi-
tenpreise haben Relotius mit Auszeichnun- dersprüchliches gehört zur Wirklichkeit
gen überhäuft (Relotius gewann allein vier- sind als früher. und macht einen Text nicht unrund, son-
mal den »Reporterpreis«, insgesamt wurde dern interessant.
Information: Mehr denn je braucht die- wie aufwendig, wie sorgfältig, wie ausführ- Das Gesellschaftsressort als
se Welt Information, Analyse, Wissen, Er- lich unsere Recherchen sind. Sonderfall im SPIEGEL
kenntnis. Es mag zu anderen Zeiten richtig
gewesen sein, die Menschen in erster Linie Das Gesellschaftsressort hat im Haus den
zu packen, sie anzurühren, sie emotional Der Druck der Ruf, sich abzuschotten, auch gegenüber Kri-
abzuholen. Es mag richtig gewesen sein, Journalistenpreise tik. Das erklärt sich zum Teil aus der Grün-
mit unverbrauchtem frischem Blick auf dungsgeschichte. Als das Magazin SPIEGEL
eine unbekannte Wirklichkeit zu schauen, Kein anderes SPIEGEL-Ressort wird auch REPORTER 2001 wegen ökonomischer Er-
um zu staunen oder Menschen aufzurüt- nur annähernd so oft mit Journalistenprei- folglosigkeit eingestellt wurde, transferierte
teln. Auch der »Thesenjournalismus«, der sen ausgezeichnet wie das Gesellschafts- der damalige Chefredakteur Stefan Aust
viel verbrannte Erde bei denjenigen hin- ressort, und im Ressort entsteht entspre- die gesamte Gruppe unter dem Ressortlei-
terließ, die anderer Meinung waren, hatte chender Druck auf junge Kollegen. Einer ter Cordt Schnibben – Reporter, Dokumen-
einst Konjunktur. Egal. Vergangen. Diese sagt, zwei Ressortleiter hätten ihm vor Jah- tare, Layouter – in das neu gegründete
Zeiten sind vorbei. Weg mit den Ausrufe- ren vorgeworfen, seine Geschichten seien SPIEGEL-Ressort Gesellschaft. Einer, der
zeichen. Die täglich konsumierten Mittei- zwar gut, doch sie würden keine Preise ge- damals dabei war, nannte es »hineinge-
lungen in den sozialen Medien sind voll winnen: »Aber darum geht es nun mal in bombt«. Ullrich Fichtner sagte der Kom-
von Emotion, von Hass, Überschwang, unserem Ressort«, habe einer der Ressort- mission: »Wir sind hier reingekommen wie
Blödsinn, Vorurteilen, Behauptungen, Ver- leiter gesagt. Israel in die arabischen Gebiete und hatten
schwörungstheorien. Wir können das nicht Die ehemalige stellvertretende Chef- sofort einen Sechstagekrieg.«
toppen. Wir müssen es unterbieten. Dafür redakteurin Susanne Beyer bestätigte im Die Kollegen wollten und sollten mit
bedarf es auch des Mutes zum Nichtwis- Gespräch mit der Kommission, dass von Unterstützung der Chefredaktion vor al-
sen. Die Sätze »Ich weiß es nicht« oder der Chefredaktion Journalistenpreise aus- lem große Reportagen zu diversen The-
»Wir wissen es noch nicht« sollten zu den drücklich gewünscht worden seien. Beson- men schreiben. Dafür musste das neue Res-
Standardsätzen einer Redaktion gehören. ders auf das Gesellschaftsressort habe es sort häufig in Themenbereiche vordringen,
Erfreulicherweise hat sich im Onlinejour- dabei erheblichen Druck gegeben. Das sei von denen die Redakteure der Fachres-
nalismus das Genre »Was wir wissen und auch ein Grund gewesen, warum Klaus sorts oder die Auslandskorrespondenten
was wir noch nicht wissen« eingebürgert Brinkbäumer den Vertrag von Matthias mehr verstanden oder in denen sie sogar
und wird gepflegt. Geyer als Ressortleiter des Gesellschafts- gerade selbst recherchierten. Das führte
Gerade im SPIEGEL, von dem die Leser ressorts nur für ein Jahr habe verlängern zu Konflikten, geschürt sicherlich auch
Aufklärung und Aufdeckung erwarten, wollen – weil da nicht mehr so viele Preise von einer Portion Neid wegen der beson-
von dem sie wollen, dass er nichts glaubt gekommen seien. deren Arbeitsbedingungen und auch Fä-
und alles prüft, ist die Art erzählte Ge- Brinkbäumer sagte der Kommission: higkeiten vieler Reporter. Auch die Tatsa-
schichte überholt, die in erster Linie auf »Nein, das stimmt so nicht.« Er begründete che, dass früher nur wenige Autoren Na-
Emotion und dem sogenannten frischen die Überlegungen zur Auflösung des Res- menstexte schreiben durften, befeuerte die
Blick basiert. Der unbelastete Reporter, sorts damit, dass die Gesellschaft »zu viel neidhafte Konkurrenzsituation. Das Ge-
der in ein fremdes Land fährt, mit fremder über einsame Straßen in Afghanistan und sellschaftsressort galt als »Lieblingsressort
Kultur und einer Sprache, die er nicht ver- zu wenig über in Deutschland relevante der Chefredaktion«. Ein anderer leitender
steht, der in jeglicher Hinsicht auf Über- Themen schrieb«. Außerdem habe das Redakteur sagte der Kommission, Cordt
setzer angewiesen ist, wird wahrscheinlich Ressort seinen Auftrag, »Smarter living«- Schnibben habe ein Elitendenken im Res-
nichts sehen, was er sich nicht schon vor- Themen umzusetzen, nur halbherzig an- sort geprägt, das von Matthias Geyer wei-
gestellt hat. Er wird im schlechtesten Fall gegangen. Man habe nie Preise gezählt, je- tergepflegt wurde. Der Hass auf das Res-
seine Vorurteile reproduzieren. doch habe die »Zeit« 2015/16 weit vorn sort sei immer größer geworden.
Ein Text, der ausschließlich aus subjek- gelegen; das habe man aber dank des Ge- In der Folge führte dies zu einer nunmehr
tiven Beobachtungen und Beschreibungen sellschaftsressorts in den letzten beiden fast 20-jährigen Konfliktsituation zwischen
beruht, hilft in dieser Zeit des Anschau- Jahren drehen können. dem Gesellschaftsressort und dem Rest des
ungsdurcheinanders nicht weiter. Folgt man der Lesart der derzeitigen Kol- SPIEGEL. Der Kernvorwurf: Das Ressort
Transparenz: Ein Text ohne Quellenan- legen des Gesellschaftsressorts, spielen Prei- sei an Kooperation nicht interessiert und
gabe ist kein Journalismus. Es reicht nicht, se bei ihrer Arbeit keine Rolle. Es werde nie ignoriere die Kompetenz der Fachressorts.
wenn der Reporter weiß, dass die Geschich- über Preise geredet, hieß es übereinstim- Die Reporter hinterließen in den jeweiligen
te stimmt, der Leser muss es nachvollzie- mend während eines Gesprächs mit der Berichtsgebieten oft verbrannte Erde, weil
hen können. Er muss wissen können, nicht Kommission. Wenn man gewinne, freue sie sich nicht um eine dauerhafte Koopera-
glauben müssen. Es ist falsch, vom Leser man sich natürlich, aber meistens gratuliere tion mit den Informanten vor Ort kümmern
zu fordern, er müsse Vertrauen haben. Der der Ressortleiter nicht einmal. Allerdings müssten. Die Stellung des Gesellschaftsres-
Leser muss im Gegenteil gar kein Vertrau- räumte einer der Reporter im Einzelge- sort war in der Vergangenheit innerhalb des
en haben, der Journalist muss ihm mit je- spräch ein, dass es Relotius ohne seine Prei- SPIEGEL stark; es agierte stets mit Unter-
dem Text beweisen, dass die Sachverhalte se im Ressort wohl schwerer gehabt hätte. stützung der jeweiligen Chefredaktionen,
stimmen und das Thema relevant ist. Das die Kritik an der Arbeitsweise des Ressorts
geht nur, wenn man die Quellen offenlegt oder den Texten abgepuffert hat. Das führte
und Recherchewege transparent macht. dazu, dass Kritik nur noch punktuell oder
Dies würde dem Leser die Anstrengung Das Gesellschafts- verhalten geäußert wurde. Viele Redakteure
und den Aufwand verdeutlichen, den die sagten der Kommission, sie würden die Tex-
Redaktion, der Reporter unternommen ressort hat im te des Gesellschaftsressorts nicht mehr lesen.
hat, um die Geschichte und die Informa- Ein Kollege nannte es einen »Ermüdungs-
tionen zu recherchieren. Vielleicht würde Haus den Ruf, sich bruch« im Umgang mit dem Gesellschafts-
dies – sozusagen als Beifang – auch die ressort.
Wertigkeit der journalistischen Arbeit ver- abzuschotten. Die Abschottung des Gesellschaftsres-
deutlichen. Leser würden besser verstehen, sorts zeigt sich auch am Umgang mit Leser-
140
briefen. Alle Ressorts bekommen Fahnen ter, im Ressort arbeitete nur noch eine
der Leserbriefseiten in der Regel vorab zur Halbtagskraft. Der Dokumentar verifizier-
Kenntnis, sofern ihre Geschichten erwähnt Die Dokumentare sind te seither die Reportagen, egal, in welchen
werden. Nach Aussagen von Kollegen soll Weltgegenden oder Sachgebieten sie spiel-
Matthias Geyer mindestens so häufig einge- nicht nur »Fehler- ten. Diese Sondersituation in der Doku-
griffen haben wie alle anderen Ressorts der mentation bestand seit Beginn der Über-
Heftredaktion zusammen. Manche kriti- finder«, sie sind auch nahme der Reportereinheit.
schen Leserbriefe seien dann gar nicht oder Alle weiteren Chefredaktionen und
kürzer veröffentlicht worden. Matthias Gey- Rechercheure. Ressortleitungen haben dies nicht infrage
er dazu: »Ich habe das Gesellschaftsressort gestellt. Genauso wenig wie die Leitung
13 Jahre lang geführt. In dieser Zeit ist es der Dokumentation. Klaus Brinkbäumer
meiner Schätzung nach ein halbes Dutzend mentation, diese Fehler zu beseitigen, be- etwa bewertet die Konstruktion erst »in
Mal dazu gekommen, dass ich in der Leser- vor die Texte veröffentlicht werden. Damit der Rückschau« als Fehler. Nach dem Ein-
briefredaktion angerufen habe. Anlass dafür schützen Dokumentation und Bilddoku- druck der Kommission war die Situation
war jeweils, dass zu bereits veröffentlichten mentation die journalistische Integrität des im Haus allgemein bekannt.
Texten aus meinem Ressort ausschließlich SPIEGEL und auch die der Autoren. Sie Diese Schwachstelle wurde vonseiten
negative Briefe gedruckt werden sollten. Ich tun das seit Jahrzehnten mit hoher Zuver- der Dokumentation unmittelbar nach Be-
habe in diesen Fällen den Kolleginnen und lässigkeit. Kein anderes Blatt in Deutsch- kanntwerden des Falls Relotius beseitigt.
Kollegen aus dem Leserbriefressort lediglich land hat eine auch nur annähernd so große Seither werden die Texte aus der Gesell-
die Frage gestellt, ob tatsächlich kein einzi- Dokumentation wie der SPIEGEL. Die Do- schaft von Fachdokumentaren bearbeitet.
ger positiver Brief eingegangen sei, den man kumentare sind in ihren jeweiligen Berei- Allerdings habe die früher sehr gute Ko-
zu den negativen Briefen dazustellen könne. chen hoch qualifiziert. Sie arbeiten im operationsbereitschaft innerhalb der Do-
Ich habe niemals versucht, einen negativen Idealfall eng mit den Redakteuren zusam- kumentation nachgelassen, berichtet ein
Leserbrief zu redigieren geschweige denn men. Am besten bereits beim Entstehen Dokumentar, es werde sehr stark in Refe-
zu verhindern.« einer Geschichte. Die Dokumentare sind raten gedacht und der Hass auf das Gesell-
Auch die Zusammenarbeit des Gesell- also nicht nur »Fehlerfinder«, sie sind auch schaftsressort sei sehr groß.
schaftsressorts mit anderen Ressorts ist un- Rechercheure. Sie halten dabei stets eine Die Nachverifikation der Texte von
gewöhnlich – etwa beim Umgang mit ei- kritische Distanz zu den Redakteuren. Ver- Claas Relotius hat eklatante Fehler des
nem Leiter des DII-Ressorts. Dieser hatte sehentliche Faktenfehler waren nicht das für die Gesellschaft zuständigen Doku-
den Eindruck, die Konferenzen im Ressort Kernproblem im Fall Claas Relotius: Er mentars offenbart. Das gilt selbst dann,
DII könnten kreativer werden. Deshalb hat absichtlich und in erheblichem Um- wenn man in Rechnung stellt, dass die Ve-
fragte er bei der Gesellschaft an, ob er als fang gefälscht und erfunden, ähnlich wie rifikationsrichtlinien für die Reportage
Gast an einer dortigen Konferenz teilneh- Jayson Blair in der »New York Times« und einige andere Stilformen, zum Bei-
men dürfe. Die Bitte sei abgelehnt worden. oder Tom Kummer in der »Süddeutschen spiel Kino- und Buchkritiken oder auch
In der Regel geht es bei Kooperationen Zeitung«. Relotius hat Redaktion und Do- die SPIEGEL-Gespräche, weichere Prüf-
um größere Themen und Geschichten, die kumentation dabei mit erheblicher Ener- kriterien vorsehen als für Nachrichtentex-
von Gesellschaftsautoren zusammenge- gie und Raffinesse getäuscht und hinter- te oder Ähnliches.
schrieben werden sollen; die Redakteure an- gangen. So gilt etwa auch für Orts- und Milieu-
derer Ressorts liefern zu. Aber Kooperation Die Dokumentation ist in erster Linie schilderungen in Reportagen und Korres-
ist für das Gesellschaftsressort aus der Sicht für Faktenfehler zuständig. Dennoch pondentenberichten ein eingeschränkter
der anderen Ressorts für gewöhnlich eine kommt die Dok-Leitung schon in einer Verifikationsaufwand. Trotzdem wurden
Einbahnstraße. Bitten anderer Ressorts da- ersten Analyse im Januar 2019 selbst- viele Faktenfehler übersehen, aus deren
rum, Fahnen von Geschichten aus ihrem kritisch zu der Auffassung, dass man bei Summe womöglich eine andere Beurtei-
Themenbereich vorab zu sehen, werden oft sehr sorgfältiger Arbeit auch den Fäl- lung der Texte von Relotius hätte erwach-
nicht erfüllt. Eine kritisch-fachliche Prüfung schungen hätte auf die Spur kommen kön- sen können.
von Kollegen ist dadurch nicht möglich. nen. Voraussetzung sei allerdings gewe- Der Dokumentar habe, so die Beobach-
Die Verantwortlichen und Mitglieder sen, dass eine grundsätzliche Skepsis ge- tung der Dok-Kollegen, nur selten die
des Gesellschaftsressorts haben diese Kri- genüber dem von Relotius versicherten Expertise der Fachkollegen eingeholt. Sie
tik gegenüber der Kommission als unzu- Wahrheitsgehalt seiner Reportagen be- beobachteten das Phänomen der »wei-
treffend zurückgewiesen. standen hätte. Die Kommission spricht ßen«, also sehr leeren Manuskripte, an
Offenbar haben aber trotz ihrer Unter- sich als Lehre aus dem Fall Relotius dafür denen der Dokumentar wenig korrigiert
stützung für die Reporter verschiedene aus, die Intensität der Verifikation aller hatte, was sehr unüblich ist. Andere
Chefredaktionen in den vergangenen zehn Texte beizubehalten oder im Einzelfall Dokumentare sagten der Kommission, sie
Jahren die systemischen Probleme zwischen noch zu verstärken. hätten Schwierigkeiten mit den Manu-
dem Gesellschaftsressort und dem Rest des In der SPIEGEL-Dokumentation arbei- skripten ihres Kollegen gehabt, weil es
SPIEGEL als so gravierend erachtet, dass sie ten rund 80 Kollegen, davon rund 50 ve- unmöglich gewesen sei zu erkennen, was
überlegten, die Struktur zu ändern. Der da- rifizierende Dokumentare. Sie sind in so- er mit den Redakteuren schon geklärt hat-
malige Chefredakteur Klaus Brinkbäumer genannte Referate eingeteilt und arbeiten te; er habe immer sehr viel mündlich be-
erwog sogar eine Auflösung des Ressorts. in ihren jeweiligen Fachgebieten. Die Aus- sprochen.
nahme bildete das Gesellschaftsressort. Unabhängig von der speziellen Situa-
Mit der Übernahme des Magazins SPIE- tion im Gesellschaftsressort scheinen einige
Die besondere Rolle GEL REPORTER in den SPIEGEL im Jahr SPIEGEL-Redakteure zu glauben, dass vor
der Dokumentation 2001 wurde auch der damalige Dokumen- allem Dokumentation und Rechtsabtei-
tar aus der damals dem Reporter-Magazin lung dafür verantwortlich sind, fehlerfreie
Jedem Journalisten können Fehler und zugeordneten Dokumentationsabteilung Texte zu produzieren. Zahlreiche Doku-
Ungenauigkeiten unterlaufen, und im (mit ihren vorher gut drei Stellen) über- mentare äußerten in Gesprächen mit der
SPIEGEL ist es (eine) Aufgabe der Doku- nommen. Er war sein eigener Referatslei- Kommission erschreckende Dinge. So wür-
142
In eigener Sache
nach Hause begleitet und sich angesichts tionen zu finden sind, mithin also kein rei- geblich seit Jahrzehnten im Dschungel als
der Debatten über Kindesmissbrauch fühlt nes »SPIEGEL-Problem« vorliegt. Häuptling eines Indianerstammes lebte.
wie ein Verbrecher (»Kennst du den?«, Es folgen zunächst drei Fälle, in denen Diese Suche bildete den Plot der Geschich-
SPIEGEL 33/2018.) Die Geschichte war an Manipulationen aus dramaturgischen te. Der Autor traf den Menschen am Ende
(ohne Kenntnis der SPIEGEL-Redaktion) Gründen gedacht werden könnte. der Reise durch Zufall in einem Einkaufs-
bereits in kürzerer Form im »Tagesspiegel« zentrum. In Wahrheit hatte die Zufallsbe-
erschienen – im Dezember 2015. Das Mäd- gegnung jedoch schon vor der abenteuer-
chen trug damals allerdings einen anderen Manipulationen aus lichen Suche stattgefunden. Der Autor
Namen und den Witterungsbedingungen dramaturgischen Gründen schildert es so: »Wir flogen zusammen
entsprechend eine Daunenjacke und eine nach Manaus, ohne Kontakt mit Tatunca
vom Weinen beschlagene Brille. Auch in »Asadullahs Spiel« aufgenommen zu haben. Die Reise und
weiteren Details stimmten die Texte nicht Ein Text über den ersten afghanischen Fuß- die Suche sollten das Thema sein. Der Kof-
überein. ball-Cup in Kabul schildert zunächst eine fer des mitgereisten Fotografen ging ver-
Hinrichtung aus dem Jahr 1999, als Tali- loren, und er wollte sich neue Kleider im
Noch mehr Fälscher? ban auf dem Rasen des Ghazi-Stadions benachbarten Shoppingcenter kaufen.
vor Publikum eine Frau töteten, und da- Dort saßen Tatunca und seine Frau und
Weitere Fälle bewusster Fälschungen hat nach ein Fußballspiel am selben Ort – im tranken Tee.« Die in der Reportage geschil-
die Kommission bislang nicht gefunden. Jahr 2012. Die Einstiegsszene beschwört derte Begegnung war ein zweites Treffen
Die Kommission hat sich aber vorrangig die Symbolkraft der Veränderung: damals am Ende der Reise. Der Autor zur Kom-
um die Aufklärung der Relotius-Affäre Exekution, heute Friedensprojekt, im sel- mission: »Für die Geschichte habe ich mit
bemüht; so gibt es etwa noch Hinweise ben Stadion. »Dasselbe Stadion, dasselbe der Reise angefangen und die zweite Be-
zu SPIEGEL-Texten aus den Fünfzigerjah- Feld, gedacht für dasselbe Spiel. Damals gegnung ans Ende gesetzt. Das Überra-
ren, denen nachgegangen werden sollte. Tod, heute unbändiges Leben«, so heißt schungstreffen am ersten Tag habe ich
Die Arbeit muss in diesem Punkt weiter- es im dritten Absatz des Textes. Die Spiele nicht aufgenommen.«
gehen. der Afghan Premier League fanden jedoch Beide Begegnungen waren also echt,
nicht im Ghazi-Stadion statt, sondern im keine gefälscht – es wurde lediglich die ers-
benachbarten AFF-Stadion, das der Autor te weggelassen. Hätte der Autor sie er-
Journalistische als Teil derselben Sportstätte wahrnahm. wähnt, wäre die Suche allerdings keine
Unsauberkeiten Eine Leserin, die Kontakt zu afghanischen richtige Suche mehr gewesen. Der Plot hät-
Journalisten hat, machte den Autor nach te nicht mehr funktioniert.
Allerdings hat die Kommission im Lauf Erscheinen des Artikels darauf aufmerk-
der vergangenen Monate etliche Hinweise sam, dass es sich um zwei unterschiedliche »Schlangen und Gespenster«
erhalten (von außen und aus dem Kolle- Stadien handelt. Sie liegen etwa 750 Meter Manche Autoren entwickeln bei der Ge-
genkreis), dass manche SPIEGEL-Kollegen auseinander. staltung der Dramaturgie große Kunstfer-
in ihren Texten nicht immer journalistisch Der Autor schreibt, alle, mit denen er tigkeit, etwa im Text »Schlangen und Ge-
korrekt arbeiten. Es handelt sich dabei aus- vor Ort zu tun gehabt habe, hätten die gan- spenster« aus dem Jahr 2004:
drücklich nicht um Fälschungen, sondern ze Anlage »Ghazi« genannt, also den Platz »Als Martin Walser das Gerücht hört,
in der Regel um Verfälschungen. Die Vor- daneben in die Bezeichnung mit einbezo- dass er den Nobelpreis für Literatur nicht
würfe zielen auf Abweichungen vom SPIE- gen. Bei den beiden Szenen, die er am An- gewonnen hat, erstarrt er für einen langen
GEL-Grundsatz: »Sagen, was ist«. Es geht fang des Textes parallel beschrieben habe, Augenblick. Sein Gesicht wird zu Marmor,
meist darum, dass Tatsachen nicht korrekt sei er von einer »bedeutungsmäßigen Ein- glatt, reglos, undurchdringlich. Er schweigt,
oder nicht vollständig dargestellt wurden; heit des Ortes« ausgegangen, so wie man dann sieht es so aus, als richte er ein paar
entweder aus dramaturgischen Gründen, »Wimbledon« sage, auch wenn auf ver- Worte an sich selbst. Er nickt.
weil sich eine Geschichte geschmeidiger schiedenen Feldern gespielt werde. Elfriede Jelinek hat gewonnen, eine
erzählen lässt, wenn man beim Beschrei- Österreicherin, eine Frau, die Deutsch
ben nicht ausschließlich an Fakten gebun- »Ich bin Tatunca. Punkt« schreibt. Günter Grass 1999 und Jelinek
den ist, oder aus weltanschaulichen Grün- Aus dramaturgischen Gründen kann aber 2004, in den nächsten Jahren wird kein
den, weil sich eine Geschichte stringenter nicht nur bei Ortsbeschreibungen gemo- deutschsprachiger Autor den Nobelpreis
erzählen lässt, wenn man widersprüch- gelt werden, sondern auch bei der zeitli- gewinnen, und Walser ist 77.«
liche Fakten weglässt. Die Kommission hat chen Abfolge von Ereignissen: Vor einigen Martin Walser schickte nach Erscheinen
bei ihren vielen Gesprächen mit Redak- Jahren erschien eine Reportage voller des Artikels einen ungehaltenen Leserbrief
teuren, Dokumentaren und Justiziaren abenteuerlicher Details. Der Kollege be- mit der Überschrift »Auch das Unwichtige
den Eindruck gewonnen, dass es sich hier schrieb die Suche nach einem verrückten darf wahr sein«: Er habe erst deutlich nach
nicht nur um gelegentliche Ausreißer han- Deutschen, der sich Tatunca nennt und an- seinem Gespräch mit dem SPIEGEL von
delt, sondern zum Teil um unterschied- der Preisentscheidung für die Konkurren-
liche Auffassungen davon, was in einem tin erfahren. Der SPIEGEL-Kollege sei also
journalistischen Text noch zulässig ist und keineswegs in dem Moment dabei gewe-
was nicht. Daher hat die Kommission ei- Manche Autoren sen. »Diese Tragödienmimik, die mir der
nige exemplarische Beispiele ausgewählt, SPIEGEL-Kollege in mein brav bleibendes
an denen sich zeigen lässt, dass es auch ab- entwickeln bei der Gesicht inszeniert, kommt mir erfunden
seits vom Fall des Claas Relotius Verände- vor«, schreibt Walser.
rungsbedarf im Haus gibt. Gestaltung der Auf Anfrage der Kommission antwortet
Die Kommission stellt aufgrund ihrer der Redakteur, Walser habe tatsächlich
langjährigen Berufserfahrung in unter- Dramaturgie große nicht durch ihn davon erfahren, dass Jeli-
schiedlichen Medien ausdrücklich fest, nek den Nobelpreis gewonnen habe. Das
dass solche oder ähnlich gelagerte Fälle Kunstfertigkeit. habe er aber auch in seinem Text nicht ge-
auch in anderen journalistischen Publika- schrieben. Im ersten Absatz werde aus-
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In eigener Sache
ein Umfeld ermöglichten, ergeben sich Gesellschaftsressort sondern bittet den Autor oder die Autorin
aus Sicht der Kommission folgende auch um Notizen, Fotos, Videos, Audio-
Standards: Überlegungen, wie das Gesellschaftsres- Aufnahmen. Sie lässt sich ebenfalls
sort besser in die Gesamtredaktion des Telefonnummern, E-Mail-Adressen oder
1. Die Geschichte muss stimmen. Verant- SPIEGEL eingebunden werden kann, wur- beispielsweise Facebook-Profile der vor-
wortlich dafür ist die Redaktion. den unabhängig vom Fall Relotius in den kommenden Personen geben, auch, falls
2. Stimmen heißt nicht nur, dass die Fak- vergangenen mindestens 10 bis 15 Jahren vorhanden, die eines »Fixers«, Überset-
ten richtig sind, dass es die Personen gibt, von unterschiedlichen Chefredaktionen zers oder Fahrers. Die Autoren und Res-
dass die Orte authentisch sind. Der Text angestellt. Wir dokumentieren hier die un- sortleiter werden darüber informiert. Das
muss in Dramaturgie und Ablauf die Wirk- terschiedlichen Überlegungen, die uns im ist nicht immer möglich, denn natürlich
lichkeit wiedergeben. Zuge der Recherche begegnet sind. Wir gilt es beispielsweise, den Quellenschutz
3. Wesentliches darf nicht weggelassen verzichten auf Zuweisung der einzelnen von Informanten sicherzustellen, die nicht
werden. Ideen auf bestimmte Personen. Die Kom- genannt werden wollen. In diesen Fällen
4. In Texten geht es zuerst immer um Tat- mission gibt zu diesem Thema keine Emp- sollten die Dok-Kollegen die Textpassagen
sachen, nicht um deren Überhöhung oder fehlung ab, gibt aber zu bedenken, dass besonders kritisch durchsehen. In Zwei-
Interpretation. angesichts der Schwere des Fälschungs- felsfällen muss die Ressortleitung infor-
5. Fakten schlagen die vermeintlich litera- skandals eine adäquate Antwort gegeben miert werden. Bei großen und aktuellen
rische Qualität. werden sollte. Geschichten (etwa Titel am Produktions-
6. Beschreibungen sollten nur so viele Ad- tag), bei denen eine komplette erweiterte
jektive beinhalten, wie für das Verständnis 1. Die Leitung des Gesellschaftsressorts Verifikation aus Zeitgründen nicht mög-
der realen Szenerie nötig. Mit jedem wei- wird verändert. lich wäre, reicht es, wenn ein Teil geprüft
teren gerät der Autor an die Grenze zur 2. Das Gesellschaftsressort wird zur Re- wird. Sollte die Geschichte danach etwa
Fiktion. portergruppe ohne eigene Seiten. Es muss aus Platzgründen entfallen, ist der Zweck
7. Szenische Einstiege in Texte sind nur seine Texte und Ideen mit Ressortleitern trotzdem erfüllt. Jemand wie Relotius
dann erlaubt, wenn sie selbst erlebt wur- besprechen, in deren Zuständigkeit das wüsste, dass es nur eine Frage der Zeit ist,
den oder ihre Quelle genau benannt wird. Thema fällt. bis er entdeckt würde. Dasselbe Verfahren
Sie sind nur sinnvoll, wenn sie dem Leser 3. Das Gesellschaftsressort wird aufgelöst, gilt für eine der größeren SPIEGEL-ON-
helfen, das Thema besser zu verstehen. die Reporter wandern in die Ressorts und LINE-Geschichten pro Woche, die von
Werden die Szenen kolportiert, muss schreiben dort Reportagen. Die Seiten des den SPIEGEL-ONLINE-Blattmachern aus-
kenntlich gemacht werden, wer der Zitat- Gesellschaftsressorts werden den übrigen gewählt wird. Die Dok meldet das Ergeb-
geber ist und welches Interesse er mög- Ressorts zugeschlagen. nis der erweiterten Verifikation jeweils an
licherweise daran hat, diese Szene zu ver- 4. Das Gesellschaftsressort wird erheblich die Ombudsstelle (s. u.). Nach rund drei
öffentlichen. Der Autor darf nicht unaus- geschrumpft, die verbleibenden Reporter Monaten sollten Dok, CvD und Ombuds-
gesprochen Komplize des Informanten arbeiten als Redakteure und müssen die stelle das Verfahren evaluieren und gege-
werden. Texte von Reportern aus den Ressorts benenfalls optimieren.
8. Szenische Rekonstruktionen können »einkaufen«. 2. Nach demselben Verfahren wird jede
sich nur auf Tatsachen beziehen. Gefühle Woche ein Text ermittelt, der nicht gedokt
oder Gedanken von Protagonisten können Dokumentation wird. Jeder Autor muss also so arbeiten, als
nicht rekonstruiert werden. wäre er die letzte Instanz. Hintergrund ist,
9. Eine Geschichte sollte immer mehrere Die folgenden Vorschläge sollen dabei hel- dass immer wieder die Vermutung geäußert
Perspektiven einnehmen. fen, Fälschungen, aber auch vermeintliche wurde, dass die Arbeit der Dokumentation
10. Für relevante Tatsachenbehauptungen Verschönerungen und unzulässige Verdich- bei Redakteuren zu Bequemlichkeit führe.
braucht ein Autor zwei voneinander un- tungen oder Weglassungen mit vertretba- 3. Hat ein Dokumentar den begründeten
abhängige Quellen. rem Aufwand auszuschließen. Diese Re- Verdacht, es könne bei einem Text mehr
11. Eine Geschichte ohne Klarnamen geln gelten für alle Ressorts und Autoren. als nur ein Faktenfehler vorliegen, kann
darf nur ausnahmsweise erscheinen. Klar- er in Absprache mit der Dok-Leitung eine
namen dürfen nur dann verschlüsselt 1. Jeden Mittwoch nach der Platzbespre- erweiterte Verifikation vornehmen.
werden, wenn es dafür wichtige Gründe chung sollte das CvD-Sekretariat per Zu- 4. Künftig sollten wieder grundsätzlich
gibt. Immer muss die Ressortlei tung fallsgenerator (App) eine Seitenzahl aus- jene Regeln für die Abläufe zwischen Dok
zustimmen und die Klarnamen kennen. wählen und die Dok-Leitung informieren, und Redaktion gelten, die seit Jahren ver-
Bei Personen, deren Identität aus Sicher- welcher Text dort eingeplant ist. Die Ge- einbart sind, aber nicht immer eingehalten
heitsgründen geheim bleiben soll, schichte, die zu dem Zeitpunkt auf dieser werden. Das heißt, die Autoren respektive
muss die Chefredaktion eingebunden Seite/diesen Seiten eingeplant ist, wird vor Ressorts müssen der Dokumentation an-
sein. Erscheinen erweitert verifiziert. Das heißt, notierte Texte vorlegen. Auf den Manu-
12. Jeder Reporter muss seine Recherche die Dokumentation überprüft den Text skripten/Fahnen sind die Quellen zu mar-
lückenlos dokumentieren. Vor allem nicht nur durch das normale Verfahren, kieren; sofern es sich um Dokumente han-
dann, wenn sie nicht überprüfbar ist. Pro- delt, werden die beigelegt – sortiert und
tagonisten müssen fotografiert werden, markiert. Das erleichtert der Dok die Ar-
Kontaktdaten müssen vorliegen, der beit sehr und gibt ihr Zeit, sich ausgiebiger
Reporter muss nachweisen können, Führt die Arbeit um schwierige Passagen zu kümmern. Tex-
dass er die beschriebenen Orte besucht te, die diese Kriterien nicht erfüllen, wer-
hat, für Interviews bedarf es einer der Dokumentation bei den in Zukunft nicht mehr gedokt.
autorisierten Fassung oder einer Audio- 5. Dokumentare sollten nicht so eng an
datei. Diese Unterlagen müssen der Do- Redakteuren ein Ressort gebunden sein, wie das bei der
kumentation aufbereitet vorgelegt und Gesellschaft der Fall war. Da die Gesell-
mindestens zwei Jahre aufbewahrt wer- zu Bequemlichkeit? schaft in allen Themenbereichen arbeitet
den. (Deutschland, Ausland, Wirtschaft etc.),