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Noradrenalin

Andere Wissenschaftler konzentrieren sich auf die Neurochemie, und zwar großenteils auf jene
Botenstoffe, die an Kontaktstellen zwischen Hirnneuronen Signale übermitteln. In vielen Fällen geht
eine Depression offenbar zumindest teilweise auf Störungen in neuronalen Schaltkreisen zurück, die
mit Noradrenalin oder Serotonin arbeiten. Beide gehören wie das wohl bekanntere Dopamin zu den
Monoaminen und sind Abkömmlinge von Aminosäuren.

Aufmerksam wurden Psychiater auf diese Substanzklasse in den frühen fünfziger Jahren, als bei der
Verschreibung von Reserpin gegen Bluthochdruck in 15 Prozent der Fälle eine schwere Depression als
Nebenwirkung auftrat. Wie sich später herausstellte, bewirkt das Pharmakon eine Erschöpfung der
Monoamine. Ungefähr zur selben Zeit erwies sich umgekehrt ein Mittel gegen Tuberkulose bei
einigen depressiven Lungenkranken als stimmungsaufhellend. Nachforschungen ergaben, daß sein
Wirkstoff den Abbau von Monoaminen hemmt (der durch das Enzym Monoamin-Oxidase erfolgt),
also wohl dafür sorgt, daß diese Transmitter in den Gehirnschaltkreisen länger wirksam bleiben. Das
alles ließ vermuten, daß eine Depression von abnorm niedrigen Monoamin-Spiegeln verursacht sein
könnte. Deswegen wurden als erste Klasse von Antidepressiva Monoamin-Oxidase-Hemmer
entwickelt.

Aber welche Monoamine waren am wichtigsten? Joseph J. Schildkraut von der Harvard-Universität in
Cambridge (Massachusetts) plädierte in den sechziger Jahren für Noradrenalin, das chemisch
zugleich ein Catecholamin ist. In seiner mittlerweile klassischen "Catecholamin-Hypothese für
Gemütskrankheiten" schlug er vor, daß der depressive Zustand auf zuwenig, der manische dagegen
auf zuviel Noradrenalin in bestimmten Schaltkreisen beruhe. Die Theorie ist mittlerweile zwar noch
verfeinert worden, denn nicht bei jedem Menschen ändert sich mit einem Abfall oder Anstieg der
Konzentration dieses Neurotransmitters zugleich die Stimmung. Aber für einen Zusammenhang im
Falle der Depression gibt es erhebliche experimentelle Stütze. Die betreffenden neuronalen Bahnen
ziehen vom Hirnstamm, vor allem vom Blauen Kern (Locus coeruleus), zu vielen Regionen,
einschließlich dem limbischen System – einer Gruppe verschiedener Strukturen, die entscheidend an
der Regulierung von Emotionen beteiligt ist (Bild 2).

Zum besseren Verständnis der Funktionsweise von Noradrenalin und anderen Monoaminen muß ich
etwas mehr ins Detail gehen. An den synaptischen Kontakten gelangen diese Moleküle – wie alle
Neurotransmitter – über einen schmalen Spalt von der vorgeschalteten, sie ausschüttenden Zelle zur
nachgeschalteten. Dort heften sie sich an Rezeptor-Moleküle (Bild 3), und das wiederum löst eine
Reaktion aus, die sich in einer Erregung oder in einer Hemmung der elektrischen Aktivität der
Empfängerzelle äußern kann. Die jeweilige Wirkung eines Neurotransmitters hängt großenteils von
Art und Dichte seiner Rezeptoren auf der Empfängerseite ab. Beispielsweise gibt es für Serotonin
mindestens 13 Untertypen, die sich in ihrer Empfindlichkeit für den Transmitter sowie in den
erzeugten Effekten unterscheiden.

Die Stärke der Signalübertragung kann zudem über die Menge an freigesetztem Neurotransmitter
sowie über dessen Verweildauer im synaptischen Spalt beeinflußt werden. Mitbestimmend sind
hierfür wenigstens zwei Sorten von Molekülen auf der Senderzelle: Autorezeptoren und
Rücktransporter (Bild 3). Erstere informieren ihre Zelle darüber, wieviel Transmitter sie ausgeschüttet
hat, und signalisieren ihr so, die Freisetzung zu drosseln. Die Rücktransporter dagegen pumpen den
Botenstoff regelrecht in die Zelle zurück; man nennt sie darum auch Wiederaufnahme- oder
Rückholtransporter. Im Innern kann das Enzym Monoamin-Oxidase Neurotransmitter-Moleküle
abbauen, so daß sich die sofort wieder freisetzbare Menge reduziert.

Auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Depression und Noradrenalin-Mangel an


Hirnsynapsen deuten zum Beispiel indirekte Messungen des Botenstoffs im Urin oder in der Hirn-
Rückenmarksflüssigkeit hin. Etlichen Studien zufolge weisen viele Schwermütige auffallend wenig Ab-
oder Umbauprodukte dieses Neurotransmitters auf. Hierzu paßt, daß man in der Hirnrinde
depressiver Selbstmordopfer eine erhöhte Dichte bestimmter Noradrenalin-Rezeptoren festgestellt
hat. Das ist durchaus kein Widerspruch, sondern im Gegenteil zu erwarten: Der Organismus versucht
dadurch offenbar den Mangelzustand auszugleichen. Tatsächlich ist ei-ne solche Kompensation bei
einem dauerhaften Defizit an Transmittern oft zu beobachten – als wollten die
informationshungrigen Zellen jedes noch so kleine Signal auffangen.

Für die Catecholamin-, genauer Noradrenalin-Hypothese spricht ferner, daß neue Pharmaka, die ein
Zurückholen von Noradrenalin aus dem Synapsenspalt selektiv hemmen und dadurch seine
Verweildauer dort erhöhen, bei vielen Patienten antidepressiv wirken. Eine dieser Verbindungen, das
Reboxetin, ist als Antidepressivum bereits in manchen Ländern zugelassen. Trotz allem liegt der
Schwerpunkt der Forschung seit einigen Jahren nicht mehr auf Noradrenalin, sondern auf Serotonin –
dank des Erfolges von Fluoxetin und verwandten antidepressiven Wirkstoffen, die hier ansetzen.

Serotonin

Ernsthaft untersucht wird die Rolle dieses Transmitters bei Gemütskrankheiten allerdings schon seit
fast 30 Jahren – seit nämlich Arthur J. Prange jr. von der Universität von North Carolina in Chappel
Hill und Alec Coppen vom britischen Medizinischen Forschungsrat in London mit ihren Mitarbeitern
die These formulierten, daß eine Erschöpfung von Serotonin ein Absinken der Noradrenalin-Menge
fördere oder "zulasse", wie sie es nannten.

Das ist durchaus möglich, denn serotonin-erzeugende Neuronen ziehen von den Raphe-Kernen des
Hirnstamms zu diversen Stellen des Gehirns (und des Rückenmarks), darunter zu Nervenzellen, die
Noradrenalin ausschütten oder seine Freisetzung kontrollieren. Auswirkungen auf andere Arten von
Neuronen dürften ebenfalls mitspielen, denn serotonin-bildende Zellen schicken Ausläufer in viele
Hirnbereiche, denen man eine Beteiligung an depressiven Symptomen zuschreibt. Dazu zählen der
Mandelkern (bedeutsam für Emotionen etwa), der Hypothalamus (unter anderem wichtig für
Appetit, Libido und Schlaf) sowie Gebiete der Hirnrinde, die in kog-nitive und andere höhere
Leistungen involviert sind (Bild 2).

In der Hirn-Rückenmarksflüssigkeit depressiver Patienten, besonders bei Selbstmordkandidaten, hat


man erniedrigte Spiegel eines Hauptabbauprodukts von Serotonin gemessen, was auf eine
verminderte Ausschüttung des Transmitters im Gehirn schließen läßt. Außerdem ist ein
charakteristisches Oberflächenmolekül, an dem man serotonin-freisetzende Zellen im Gehirn
erkennt, seltener als sonst anzutreffen; demnach könnte die Zahl dieser Zellen abnorm klein sein.
Dagegen tritt im Hirngewebe verstorbener Patienten zumindest eine Form des Serotonin-Rezeptors,
der Typ 2, in größerer Dichte auf – ähnlich wie beim Nor-adrenalin wohl eine Maßnahme, dem
Mangel an Botenstoff im synaptischen Spalt zu begegnen.

Aufschlußreich sind ferner die bemerkenswerten therapeutischen Erfolge mit Pharmaka, welche die
Rücktransporter für Serotonin blockieren und somit verhindern, daß der freigesetzte Transmitter
rasch wieder aus dem synaptischen Spalt verschwindet. Ende der fünfziger Jahre gesellten sich zu
den bereits erwähnten Monoamin-Oxidase-Hemmern tricyclische Antidepressiva (benannt nach den
drei Ringen im chemischen Grundgerüst). Damals verstand man ihren Wirkmechanismus noch nicht.
Erst später wurde eine Reihe von Effekten entdeckt, darunter der verminderte Rücktransport von
Serotonin, durch den sich dessen Menge im synaptischen Spalt erhöht. (Tatsächlich scheint der
Organismus eine ähnliche Abhilfe zu versuchen; bei Depressiven ist offenbar die Dichte der
Transporter geringer.)

Darin hat man zwar schon länger den Grund für die antidepressive Wirkung vermutet; bestätigen ließ
sich das jedoch erst mit der Einführung von Präparaten in den späten achtziger Jahren, die selektiv
die Serotonin-Rücktransporter blockieren, ohne andere Monoamine im Gehirn zu beeinflussen
(zunächst Fluoxetin, dann beispielsweise Paroxetin, Sertralin, Fluvoxamin). Diese unter dem Kürzel
SSRIs laufenden Wirkstoffe (für englisch selective serotonin reuptake inhibitors) haben die
Behandlung der Depression revolutioniert: Sie sind hocheffektiv und haben viel geringere
Nebenwirkungen als ältere Medikamente. Noch neuere Antidepressiva, wie die Substanz Venlafaxin,
blockieren sowohl die Rückaufnahme von Serotonin als auch die von Noradrenalin.

Aus Untersuchungen an einem analogen Serotonin-System – dem der Blutplättchen – ergaben sich
auch neue Anhaltspunkte, wieso depressive Menschen anfälliger für Herzinfarkt und Schlaganfall
sind. Verursacht werden diese lebensbedrohlichen Organschäden in erster Linie durch Blutgerinnsel,
die versorgende Gefäße verstopfen. Ein solcher Pfropf, normalerweise als Wundverschluß gedacht,
bildet sich, wenn bestimmte Faktoren Blutplättchen anregen, miteinander zu verklumpen. Wie
Forschungen in meinem Labor und anderswo gezeigt haben, reagieren die Plättchen von depressiven
Patienten besonders empfindlich auf Aktivierungssignale, und zwar offenbar auch auf die von
Serotonin; es ist einer ihrer freisetzbaren Inhaltsstoffe und macht sie wiederum ansprechbarer für
andere, stärkere chemische Reize. Wie sich ferner gezeigt hat, tragen die Plättchen Depressiver
weniger Transporter für Serotonin, so daß sie es vermutlich schlechter aus ihrem Umfeld absaugen
können, um ihre Exposition gegenüber Aktivierungssignalen zu mindern. (Diese winzigen
Blutkörperchen, die im Prinzip Fragmente besonderer Riesenzellen sind, stellen es nicht selbst her,
sondern nehmen es im Bereich der Darmwand, wo Serotonin-Produzenten sitzen, aus dem Blut auf.)

Hormonelle Störungen

Depressionen gehen oft auch mit einer Fehlsteuerung von Schaltkreisen im Gehirn einher, welche die
Aktivität bestimmter Hormone kontrollieren. Tatsächlich sind hormonelle Veränderungen bei dieser
Krankheit schon lange bekannt.

Die Regulation der Hormonabgabe ist hierarchisch geordnet. An der Spitze steht der Hypothalamus
im Zwischenhirn. Er produziert spezielle Peptide, die auf die Hirnanhangdrüse (Hypophyse) an der
Hirnbasis wirken; diese kurzen Aminosäureketten stimulieren oder hemmen dort die Freisetzung von
verschiedenen Hormonen ins Blut, die bei ihren verschiedenen Zieldrüsen die Ausschüttung wieder
anderer Hormone kontrollieren. Diese wiederum wirken – außer auf nicht-neuronale Gewebe und
Organe – negativ rückkoppelnd auf Hypophyse und Hypothalamus zurück, was ein Überschießen der
Hormonproduktion verhindert (Bild 4).

Depressive Patienten nun sprechen, wie sich mehrfach gezeigt hat, schlecht auf eine Reihe von
Substanzen an, die normalerweise die Abgabe von Wachstumshormon aus der Hypophyse anregen.
Anomal ist auch die Reaktion auf die Hypothalamus-Substanz, die sonst die Sekretion von
Thyreotropin veranlaßt; dieses Hypophysenhormon kontrolliert unter anderen die
Schilddrüsenfunktion. Wenn übrigens Antidepressiva nicht wirken, ist oft eine unerkannte
Schilddrüsen-Unterfunktion die Ursache.

Bislang am überzeugendsten aber sind die Indizien für Fehlregulationen an der sogenannten
hormonellen Stress-Achse, über die eine Reaktion auf körperliche und psychische Bedrohungen
erfolgt. Diese nicht-neuronale Schiene zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde
nennt man nach dem englischen Ausdruck für die betreffenden Organe auch kurz HPA-Achse. Sowie
eine Gefahr erkannt wird, bildet der Hypothalamus vermehrt den Corticotropin-Releasing-Factor
(CRF), der die Hypophyse zur Ausschüttung von Corticotropin veranlaßt; dieses heißt auch
adrenocorticotropes Hormon, kurz ACTH, weil es die Nebennierenrinde anregt, das Stress-Hormon
Cortisol auszuschütten (Bild 4).
Der gesamte Vorgang macht den Organismus bereit, sich der Bedrohung zu stellen – also etwa zu
kämpfen – oder durch Flucht zu entziehen; gleichzeitig werden momentan überflüssige, hinderliche
oder ablenkende Aktivitäten abgeschaltet (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1993, Seite 92 und Seite
97). Beispielsweise verstärkt Cortisol die Brennstoffversorgung der Muskeln; zugleich unterdrückt
CRF Hunger und Sexualtrieb und erhöht die Wachsamkeit. Zur Bewältigung von Gefahren ist das
System lebenswichtig. Eine chronische Aktivierung der Stress-Achse hingegen kann zum Nährboden
für Krankheit werden – und wie es scheint, auch für Depressionen.

Bereits in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren berichteten mehrere Forschergruppen
von einer überaktiven HPA-Achse bei nicht medikamentös behandelten depressiven Patienten. Unter
anderem sprach dafür ein erhöhter Cortisol-Spiegel im Urin, im Blut und in der Hirn-
Rückenmarksflüssigkeit (dem Liquor). Depressive leiden zu einem erheblichen Anteil an dieser
Überaktivität – vor allem die schwersten Fälle. Dies haben Hunderte, wenn nicht Tausende von
Folgestudien bestätigt – der wohl meistwiederholte Nachweis in der biologischen Psychiatrie.

Die eingehendere Erforschung des Phänomens hat mittlerweile auf allen Ebenen der HPA-Achse
Abweichungen von der Norm offenbart. So sind die Nebennieren ebenso wie die Hypophyse
vergrößert und schütten zuviel Cortisol aus. Die Hauptschuld aber, daß diese Achse überaktiv ist und
Depressionssymptome auftreten, liegt bei einer anderen Instanz: den CRF-produzierenden Neuronen
im Hypothalamus und anderswo. Davon jedenfalls sind inzwischen viele Forscher überzeugt, auch wir
an der Emory-Universität in Atlanta (Georgia).

Es ist schon eindrucksvoll, wie eine Studie nach der anderen erhöhte Liquor-Werte für CRF ergab – im
Vergleich zu Gesunden ebenso wie zu anders psychisch Erkrankten. Bei Behandlung mit
Antidepressiva gehen die Werte zurück – übrigens auch bei erfolgreicher Elektrokrampf-Therapie.
Wie die Untersuchung von Hirngewebe verstorbener Patienten ergab, ist bei ihnen im Vergleich zu
Gesunden sowohl die Zahl CRF-produzierender Neuronen im Hypothalamus als auch die Aktivität des
CRF-Gens deutlich erhöht; jede einzelne Zelle bildet also besonders viel von dem Faktor. Als man ihn
Tieren ins Gehirn applizierte, zeigten auch sie Verhaltenssymptome, die zu den Kardinalmerkmalen
von Depression beim Menschen gehören: Schlaflosigkeit, geringen Hunger, einen verminderten
Sexualtrieb und über- mäßige Ängstlichkeit (siehe Kasten in Bild 4).

Noch ist nicht völlig klar, wie die verschiedenen Befunde über genetische Disposition,
Neurotransmitter und Hormone sich zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen – wenn sie es
überhaupt jemals tun werden. Immerhin läßt sich ein Teilszenario entwerfen, das in Ansätzen
erklären könnte, auf welche Weise Menschen mit traumatischer Kindheit anfällig für Depressionen
sind. Ich nenne es das Stress-Diathese-Modell von Gemütskrankheiten, denn es beinhaltet die
Wechselwirkung zwischen belastender Erfahrung (Stress) und Krankheitsveranlagung (Diathese).

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