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RaymondKlibansky,

ErwinPanofskyund FritzSax]
Saturnund
Melancholie
Studien zur Geschichte
der Naturphilosophie und Medizin,
der Religion und der Kunst

Übersetzt von
Christa Buschendorf

Grabmal Robert Burtoni

Suhrkamp

L
INHALT

Vorwort zur deutschen Ausgabe 11


Vorwort zur englischen Ausgabe 31

ERSTER TEIL
DER MELANCHOLJEBEGR1FF UND SEINf
HISTORISCHE ENTWICKLUNG

Erstes Kapitel Die Melancholie in der medizinisch-natur-


wissenschaftlichen Literatu r der Antike . . . 35
I. Die Lehre von den »Quattuor Humores« . . . . . . . . . 35
II . Die Revolution der Melancholievorstellung im Peripatos:
Das Problem XXX, 1 . . . . . • . . . . . . . . . . . 55
III. Die nachperipatetische Entwicklung der Melancholie -
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek vorstellung . . . . . . . . . . . . 92
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation , . Die Melancholie als Krankheit . . . . 94
in der Deutschen Nationalbibliografie; detailliene bibliografische Daten a) Die stoische Auffassung . . . . . . 94
sind im Internet über http:/ /dnb.d-nb.de abrufbar. b) Asklepiades, Archigenes und Soran 96
c) Rufus von Ephesus . . . . . . . . . 101
7. Auflage 2013
2. Die Melancholie im System der Vier Temperamente 11c
Erste Auflage 1992
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1010 Zweites Kapitel Die Melancholie in der Medizin, den Natur-
© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1990 wissenschaften und der Philosophie des Mittelalt'ers . . . . . . 125
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, I. Das Nach leben der Aristote lischen Melancholievorstellung
des öffentlichen Vonrags sowie der übenragung im Mitte lalter . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 12l
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
II. Die Melancholie als Krankheit. . . . . . . . . . . . 13f
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
, . Melancholie in Theologie und Moralphilosophie . , 3f
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert 2. Die Melancholie in der scho lastischen Medizin. . 145
oder unter Verwendung elektronischer Systeme a) D ie früharab ische Medizin und ihre Übermittlung an
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. das Abendland: Constant inus Africanus . . . . . . . 145
Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim b) Systematisierungsversuche auf humoralpatho-
Printed in Germany
logischer Basis: Avicennas Vierformenlehre . . . . . . 151
Umschlag nach Entwürfen von
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
c) Systematisierungsversuche auf psycho logischer Basis:
ISBN 978-3-518-28610-4 Averroes und die scholastische Medizin . . . . . . . . 156

l
448 Der Kupferstich •Melencolia l• Ocr neue Sinn der •Melencolia [. 449

»Acedia« des Einblattdruckes (Tafel 97) mit ihrem in die Linke ge- ' freien Kunst in den Bereich menschlichen Strebens und Versagens
stützten Haupt und ihrer untätig im Schoß liegenden Spindel ist die herabzuziehen, aber auch die animalische Dumpfheit eines »traur ig,
ungeistige Schwester der Dürerschen »Melencolia«; und wie vertraut erdhaften• Temperaments in die Sphäre eines Ringens um geistige
Dürer dieser niedere Typus der Melancholie gewesen ist, geht daraus Problem e emporzuheben. Die Arbeitsstätte der »Geometr ia« hat sich
hervor, daß er ihm im Gebetbuch Maximilians I. eine Stelle ein- aus einem Kosmos klar geordneter und zweckmäßig verwendeter
räumte. ''• Werkzeuge in jenes Chaos ungenutzter Dinge verwandelt, deren will-
Vom rein typengeschichtlichen Standpunkt aus erweist sich Dürers kürliche Verteilung die psychologische Haltung der Gleichgültigkeit
Kupferstich also als im ei'nzelnen durch bestimmte traditionelle Me- widerspieg elt. " 1 Aber das Nichts-Tun der Melancholia ist aus der
lancholie- bzw . Saturnmotive bestimmt (Schlüssel und Beutel, in die Lethargie des Trägen und der Bewußtlosigkeit des Schlafenden zum
Hand gestütztes Haupt, schwarzes Antlitz, geballte Faust); im gan- Zwangsdenken des Überdrehten geworden. Beide, sowohl die durch
zen betrachtet kann er jedoch nur verstanden werden als symbolische den Kranz geadelce ~Melencolia« Dürers mit ihrem mechanisch fest-
Synthese zwischen dem »typus Acediae• (dem volkstümlichen Mu- gehaltenen Zirkel als auch die schlampige »Melancolia« der Kalender-
ste rbeispiel melancholischer Untätigkeit) und dem »typus Geome- Illustrati onen mit ihrer nutzlosen Spindel, beide sind untätig; doch
triae• (der scholastischen Personifikation einer der »Freien Künste«). während letztere nichts tut, weil sie vor Trägheit eingeschlafen ist, tut
erstere nichts, weil ihr Geist mit inneren Gesichten beschäftigt ist, die
ihr ein Hantieren mit praktischen Werkzeugen sinnlos erscheinen
II. DER NEUE SINN DER »MELENCOLIA J.
lassen. In dem einen Fall steht das »Nichtstun« unterhalb, in dem
anderen oberhalb der äußeren Aktivität. Wenn Dürer als erster die
1. Der neue Ausdruckssinn
allegorische Gestalt der Melanchol ie auf die Ebene des Symbols geho-
ben hat," 6 so erweist sich diese Wandlung nunmehr als Werkzeug -
Typcngcschichtlich gefaßt wäre der Grundgedanke des Dürerstichs
oder auch als Ergebnis - einer Wandlung des Ausdruckssinnes: die
also eine der Melancholie verfallene »Geometria« oder umgekehrt
Vorstellung einer »Melencolia•, in deren Wesen sich die geistige Be-
eine Melancholia mit einem Hang zur Geometrie. Doch diese an-
deutung einer Freien Kunst mit der Leidensfähigkeit einer menschli-
schauliche Vereinigung zweier Gestalten, von denen die eine das alle-
chen Seele vereinigt hat, konnte nur die Form eines geflügelten Ge-
gorisierte Ideal einer schöpferischen Geisteskraft, die andere die nius annehmen.
schreckenerregende Vorstellung eines zerstörerischen Seelenzustan-
Die schöpferische Kraft , die diese neue Konzeption hervorbrachte,
des verkörpert, bedeutet weit mehr als eine bloße Verschmelzung
hat naturgemäß auch die traditionellen Einzelmotive geprägt. An-
zweier Typen; sie stiftet vielmehr einen völlig neuen Sinn, und zwar
scheinend ganz konventionelle Ausstattungsstücke sind in eigentüm-
einen, der im Hinblick auf die beiden Ausgangspunkte beinahe auf
licher Weise am Zustandekommen jenes für den Stich so typischen
eine doppelte Sinn-Inversion hinausläuft. Denn indem Dürer das Bild
Eindrucks der Nachlässigkeit beteiligt; der Beutel zum Beispiel, an-
der »ars geometrica« mit dem des »homo melancholicus« verschmolz
- ein Akt, der der Durchdringung zweier verschiedener Denk- und
l lj H. Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers, p. 255.
Gefühlswelten gleichkommt-, hat er jene beseelt und diesen vergei- 1 16 Diese Stufenfolge, die oben nur unter systematischem Gesichtspunkt erörtert
stigt. Er besaß die Kühnheit, das zeitlose Wissen und Wirken einer "'urde, läßt sich am Beispiel der Melencolia I als Abfolge eines realen histori-
schen Prozesses belegen; denn die symbolische Form des Stichs erwächst
114 Gebetbuch, fol. 48'. Über das Vorkommen der Figur im deutschen Narren- tatsächlich aus der Kombination einer rein personifizierenden Darstellung
sch,ff, an dessen Illustration der junge Dürer wahrscheinlich mitgearbeitet (nämlich des • typus Geometriae•) mit einer rein paradigmatischen (nämlich
hat, siehe oben, Seite 428 (Text). des Melancholikerbildes in der An der Kalenderdrucke).
4SO Der Kupfer)tich •Melencolia 1. Der neue Sinn der •Melencolia l« 4P
schrieben wurde!" 7 Die
Augen der Melancholia starren mit derselben
statt mit Bändern am Gürtel befestigt zu sein, schleift unordentlich
am Boden, die Schlüssel hängen schief in ihrem verdrehten Ring - im fruchtlosen Intensität in die Region des Nicht-Sichtbaren, mit der die
Unterschied zu der adretten Kette der Madonna an der Mauer. Und Ha nd das Nicht-Greifbare umklammert. Seine unheimliche Aus-
wenn schon diese unbelebten Details Sprache gewinnen, wenn der druckskraft verdankt ihr Blick nicht nur den nach oben gerichteten
schlafende Hund (der in den gewöhnlichen Gelehrtenbildern die Augen und der Divergenz der Sehachsen, wie sie für ein angestrengtes
Stille der Srudierstube und die Ofen wärme genießt) zu einem halbver - Denken typisch sind, sondern vor allem auch dem Umstand, daß das
hungerten Unglücksgeschöpf geworden ist, das sich todmüde und bei solcher Blickrichtung besonders stark hervortretende Weiß der
fröstelnd auf dem kalten Boden zusammengekrochen hat, wie ein- Augäpfel aus einem dunklen Antlitz hervorleuchtet - jenem • dunklen
dringlich und neuartig erscheint dann das, was schon immer in einem Antlitz«, das, wie wir wissen, ebenfalls ein stehender Zug des tradi-
spezifisch menschlichen Sinne bedeutsam war. Wir wissen jetzt, daß tionellen Melancholiebildes war, in Dürers Bild aber etwas vollkom-
das Motiv der geballten Faust ein überliefertes und schon vor Dürer men Neues bedeutet. Indem er das »dunkle Antlitz« weniger als ein
gelegentlich verwendetes gewesen ist (Tafel 73). Für einen mittel - dunkel -häutiges denn als ein dunkel-beschattetes darstellt, 111 hat er
alterlichen Illustrator war die geballte Faust Anzeichen bestimmter
117 Cf Rufus' XO'IT(!j.Ei; (oben, Text, Seite 104), ein vermutlich psychologisch zu
Wahnideen, und er betrachtete sie als unvermeidliches Anhängsel der
vemehender Begriff, und 1ahlreiche sp:ucrc Texte, in denen die Pose zweifel-
betreffenden Figur, so unvermeidlich wie das Messer, das der hl. los als Ausdrucksmittel eingesetzt ist, 1. B. Raimundus Lullus: •Et natura ·
Bartholomäus stets trägt. In Dürers Melencolia I stützt die zur Faust litcr erga terr:un respiciunto; Berlin, Cod. germ. fol. 1191: •Sin [d. h. des
geballte Hand zugleich den Kopf. Dadurch nähert sie sich schon Melancholikers I Antlitz nu der Erden gekart•; ferner den Sarumtext abge·
äußerlich dem Zentrum des Denkens, und indem sie nicht länger ein druckt bei A. Hauber, Plantttnkmderb,lder und Sternbilder, S1raßburg 1916,
p. , 3: oSin [d. h. des Sacurnkinds Jange,ich1 alles geneigct zu der erden•. Es
isoliertes Attribut ist, verbindet sie sich mit dem grüblerischen Ant -
1st für die Suggestionskraft einer solchen Tradition bezeichnend, d;aß es in
litz zu einem Bezirk komprimierter Kraft, in dem nicht nur die stärk- ciMr bekannten Beschreibung des Ourcmichs (Pictura Mtlancholuu ) in
sten Gegensätze von Hell und Dunkel vereinigt sind, sondern der deutlichem Widerspruch 1u dem sichtbaren Tatbestand heißt: • Vultu scvero,
auch all das absorbiert, was die im übrigen bewegungslose Figur an qu, m magna consideratione nusquam aspicit, sed palpebris dejecus humum
physischem und psychischem Leben enthält. Darüber hinaus steht 1nructur.• Diese meist fälschlich Melaneh1hon zugeschriebene Beschreibung
(so auch in unserer Ausgabe von 1964) findet sich in den Elnnema rhttoncat
diese zur Faust geballte Linke in äußerst wirksamem Gegensatz zu
(B;a,el 1141, p. 138; ferner ,n Dürer, Schrif1/zcher Nachlass, Bd. l, ed. H.
der lethargisch niedersinkenden Rechten; es ist nicht mehr die Hand Ruppnch, Berlin 1956, p. 319) des Joachim Cameranus (1 500- 1576). Dieser
eines armen Irren, der, wie es in einem Text hieß, »einen großen bekannte Gelehrte und enge Freund Mclanchthons war seit 1526 Rektor des
Schatz oder die ganze Welt in der Hand zu halten wähnt «, sondern Nurnberger Gymnasiums und sund Durer nahe; er erwähnte Dürer öfters in
eines durchaus vernünftigen, auf schöpferische Arbeit beda chten We- seinen Schriften und übersetzte dessen Vttr Biichn- t1on mtnschltchtr Propor-
rion ms Lateinische. Zu des Camerarius Beschreibung siehe je1zt W. S. Heck -
sens, das dennoch mit jenem armen Irren das Schicksal teilt, ein ima-
seher, Art and Literature, ed. E . Verheyen, Baden -Baden 198s, pp. so3-p1.
ginäres Etwa s nicht greifen, aber auch nicht freigeben zu können. Die Diese in vieler Beziehung aufschlußreiche Beschreibung ist eine Mischung
Geste der geballten Faust, bisher ein bloßes Krankheits symptom, von minuuöser bnzclbcobichtung und ferner psychologischer lnterpreu -
symbolisiert jetzt die fanatische Konzentration eines Geistes, der ein uon mit reiner Phantasie. So heißt es z.B. ;am Schluß: •Ce mere etiam est ...
Problem wahrhaft erfaßt hat, aber sich im gleichen Augenblick unfä- au fenestram aranearum tcla•, obwohl weder eine Spinnwebe noch über-
haupt ein Fenster vorhanden ist. Camerarius .dachte hier vermutlich an eine
hig fühlt, es zu lösen oder davon zu lassen.
andere Melancholiedamcllung (d . unsere Tafel 144 und Sei1e S48 f.) oder
Die geballte Faust sagt dasselbe wie der in eine gegenstandslose Ferne einen Stich ,.,e des G. Pencz Taa11s(B 109).
gerichtete Blick. Welch ein Unterschied zu dem der Erde zugewand- 1•8 Diese Tatsache 1st von W. Bühler (in Mmeilungen der Gesellschaft für ver•
ten Auge, das ehemals dem Melancholiker und dem Sacurnkind zugc· 1 'telfält,gende Kunst, 19, S, pp. 44 ff.) bezweifelt worden, da die Kui:el, die
~

452 Der Kupfersti ch • Melencolia l « Der neue Sinn der ,Melencolia !« 453

auch hier den physiognomischen bzw. pathologischen Tatbestand in schwermütig grübelnd in dem Gefühl, nichts zu erreichen.'" Mit wirr
einen Ausdrucks-, ja beinahe Stimmungsfaktor verwandelt. Wie das herabhängendem Haar und trübsinnigem, in die Ferne gerichteten
Motiv der geballten Faust, so wurde auch das Motiv des dunklen Blick wacht sie, abgeschieden von der Welt, vor dem dunkelnden
Antlitzes aus der Sphäre der medizinischen Symptomatik übernom - Himmel, während die Fledermaus ihren kreisenden Flug beginnt.
men; doch aus der Verfärbung wurde ganz wörtlich eine Verdüstc- .Ein Genius, der Schwingen hat und sie nicht entfaltet, der den
rung, die wir nicht mehr als Folgeerscheinung eines körperlichen, Schlüssel hat und doch nicht auftut, der den Kranz um die Stirn trägt,
sondern als Ausdrucksform eines geistigen Zustands begreifen. Die und doch nicht in Siegesfreude leuchtet. «'"
Abenddämmerung, die durch eine Fledermaus bezeichnet wird ,"9 Den Eindruck dieser spezifisch menschlichen Tragik hat Dürer durch
wird in diesem Bild magisch erhellt durch den Glanz der Himmelser- die Hinzufügung von Begleitfiguren von zwei Seiten her begrenzt
scheinungen, der das Meer im Hintergrund phosphoreszierend auf- und abgehoben. Das Dösen des müden und hungrigen Hundes (sehr
leuchten läßt, während der Vordergrund von einem hoch am Himmel richtig hat ihn der alte Besitzer der Vorstudie - siehe Tafel 3 - nicht
1 stehenden und scharfe Schatten werfenden Mond erleuchtet zu sein »canis dormiens «, sondern unter Verwendung der starken Form »ca-
scheint. " 0 Die höcl,st phantastische, wahrhaft »zwielichtige « Ge- nis dormitans• genannt) bezeichnet die dumpfe Trauer einer Kreatur,
samtbeleuchtung des Bildes ist nicht so sehr in den natürlichen Ge ge- die gänzlich ihrem unbewußten Wohlbehagen oder Mißbehagen aus-
benheiten einer bestimmten Tagesstunde begründet; vielmehr kenn - geliefert ist. "J Der Arbeitseifer des schreibenden Putto hingegen be-
1
zeichnet sie das unheimliche Zwielicht eines Geistes, der seine zeichnet den unbelasteten Gleichmut eines Wesens, das gerade erst
Vorstellungen weder ins Dunkel zurückverweisen noch über sie •ins die Befriedigung des (wenn auch unproduktiven) Tätigseins kennen-
klare kommen« kann. So sitzt Dürers Melencolia (unnötig zu sagen, gelernt hat, aber noch nicht die Qual des (wenn auch schöpferischen
daß die aufgerichtete Gestalt der Vorstudie nicht ohne Absicht in eine Denkens) kennt. Es ist einer Schwermut noch nicht fähig, da es noch
in sich zusammensinkende verwandelt wurde) vor ihrem unvollend e- außerhalb des eigentlich Menschlichen steht. Das bewußte Leiden des
ten Gebäude, umgeben von den Werkzeugen schaffender Arbeit, aber mit Problemen ringenden Menschen wird gleichermaßen abgehoben
gegen das unbewußte Leiden des schlafenden Hundes und gegen die
Faust und das Gesicht des Putto heller erscheinen, obwohl sie im gleichen leidlose Unbewußtheit des tätigen Kindes.
Licht stünden. Doch diese Vergleichsobjekte erscheinen nur deshal b heller,
weil sie lediglich Teilschatten haben, während das Antlitz der Melanch olie,
das viel weiter nach links gedreht ist als das des Puttos, völlig beschactet ist
und daher also nur mit den beschatteten Teilpartien der von Bühl er genann-
ten Objekte (oder etwa mit der rechten Hälfte des Schulterkragens ) vergli- 111 In der soeben angeführten Analyse des Camerarius wird insbesondere das
chen werden darf. Motiv der Leiter in diesem Sinne, d. h. als Symbol eines allum fassenden , aber
119 Diese wird bei Ripa ausdrücklich als Attribut des • Crepusculo della Sera• oft ergebnislosen, wenn nicht gar absurden Forschungsdrangs gedeutet: • ut
bezeichnet . Und wie wir wissen (siehe oben, Seite 49, Anm. 14 und passim), autem indicaret nihil non talibus ab ingeniis comprehendi solere, et quam
gehört das dritte Tagesviertel, also die Zeit zwischen 3 Uhr nachmilla gs und eadem saepe in absurda deferrentur , ante illam scalas in nubes eduxit, per
9 Uhr abends der Melancholie. quarum gradus quadratum sa.xum veluti ascensionem moliri fecit.• Cf. oben,
110 Es scheint bislang nicht beachtet worden zu sein, daß die Sonne zu der durch Anm.117.
dunklen Himmel und Fledermaus gekennzeichneten Tageszeit unmö glich so 112 Ludwig Bartning , \Vorte der Erinnerung an Adolf Bartning, Privatdruck,
hoch stehen kann, daß sie den Schatten etwa der Sanduhr zu werfen ver- Hamburg 1919.
möchte. Die Szene ist also - wenn man überhaupt so realistisch interpr etieren 113 So auch die Beschreibung des Camerarius: •Jacet au1em prope hanc ad pcdes
will - in Mondscheinbeleuchtung gedacht, wodurch sie wiederum in einen ipsius, comracta corporis parte, parte etiam porrecta , canis, cuiusmodi solet
bezeichnenden Gegensatz zu dem sonnendurchströmten Interi eur des Hie- illa bestia in fastidio esse, languida et sominiculosa et perturbari in quiete.«
ronymus-Stiches tritt (siehe unten, Seite 510, Anm. 176). Cf. oben, Anm. 117.
.....
454 Der Kupferstich •Melencolia J• Der neue Sinn der »Melencolia I• 455

2. Der neue Begriffsgehalt a) Saturn- bzw. Melancholiesymbolik

Dieser neue Ausdruckssinn des Dürerschen Kupferstichs spricht die Wir haben zunächst die mit Saturn (bzw. der Melancholie) verknüpf-
Anschauung und das Gefühl mit derselben Unmittelbarkeit an, mit ten Motive - das aufgestützte Haupt, Beutel und Schlüssel, die ge~
der sich der Charakter und die Stimmung eines uns begegnenden ballte Faust und das dunkle Antlitz" 6 - behandelt, weil sie zu den
Menschen in seiner äußeren Erscheinung zum Ausdruck bringt; und persönlichen Merkmalen des Melancholikers gehören und weil sie
so zeichnet sich ein großes Kunstwerk ja gerade dadurch aus, daß es, mehr oder weniger vollständig in der vordürerischen Tradition in
ob es einen Spargelbund darstellt oder eine ausgeklügelte Allegorie, Erscheinu ng getreten waren. Zu diesen Motiven treten solche hinzu,
auf einer bestimmten Ebene sowohl von dem naiven Betrachter als die nicht so sehr wesentliche Eigenschaften als vielmehr nebensächli-
auch von dem analysierenden Forscher verstanden werden kann. Tat- che Ausstattung der dargestellten Figuren sind und die zum Teil der
sächlich dürfte der eben beschriebene Eindruck in gewissem Grade älteren Bildtradition noch fremd waren.
von fast jedem Betrachter des Stichs geteilt werden, unabhängig von Als erstes dieser Begleitmotive sei der Hund genannt, der an und für
der Formulierung, ?ie er seinen Gefühlen geben mag. sich dem typischen Gelehrtenporträt angehört. Seine Anwesenheit
Doch so wie es Kunstwerke gibt, deren Interpretation sich auf die und die Sinninversion, durch die er zum Leidensgefährten der Melan-
Mitteilung des unmittelbar erlebten Ausdruckssinns beschränken cholie wird, lassen sich jedoch mehrfach rechtfertigen. Nicht nur
kann, weil ihre Absicht sich in der Darstellung einer ,primär gegebe- wird er in mehreren astrologischen Quellen als typisches Saturntier
nen, (in diesem Fall rein anschaulichen) Gegenständlichkeit er- erwähnt, 117 sondern im Horapollon (der Einführung in die Mysterien
schöpft, u~ so gibt es andere, die eine ,sekundäre,, auf Elementen der des ,igyptischen Alphabets, die die Humanisten nahezu abgöttisch ver-
Bildungstradition beruhende Gegenständlichkeit in ihre Gestaltung ehrten) wird er mit der Veranlagung des Melancholikers im allgemei-
einbeziehen und die daher auch einen bestimmten Begriffsgehalt zum nen und mit der von Gelehrten und Propheten im besonderen in
Ausdruck bringen. Daß die Melencolia 1 zu dieser Gruppe von Wer- Beziehung gesetzt. Im Jahr r 5l 2 hatte Pirckheimer eine Übersetzung
ken gehört, lehrt nicht nur Dürers Notiz, die selbst dem harmlosen des Horapollon aus dem Griechischen fertiggestellt, die Dürer eigen-
Zubehör der Hausfrauentracht eine bestimmte allegorische Bedeu- händig illustriert hat. Nun ist uns sonderbarerweise aus diesem
tung zusprac h, 11 i sondern vor allem die oben erwiesene Tatsache, daß gemeinschaftlich hergestellten Codex gerade das Blatt (die Dürer-
Dürers Kupferstich das Resultat einer Synthese bestimmter allegori- zeichnung L 83) erhalten geblieben, auf dem zu lesen steht, daß die
scher Melancholie- und Artes-Bilder ist, deren Begriffsgehalte sich Hieroglyph e des Hundes unter anderem die Milz, Propheten und die
zwar - nicht anders als ihr Ausdruckssinn - gewandelt haben, aber •sacras literas• bedeute - alles dies Vorstellungen, die seit Aristoteles
kaum gänzlich verlorengehen konnten. Es ist daher von vornherein mit dem Melancholiker aufs engste zusammenhängen -, daß der
zu vermuten, daß die charakteristischen Motive des Stichs sich teils Hund, begabter und feinfühliger als andere Tiere, sehr ernster Natur
als Saturn- bzw. Melancholiesymbole, teils als Geometriesymbole er- sei und dem Irrsinn anheimfallen könne und daß er gleich tiefsinni-
klären lassen. gen Denkern dazu neige, stets auf der Jagd zu sein, die Dinge aufzu-
114 Cf. E. Panofsky, ,n Logos XXI (1931), pp. 103 ff. spüren und beständig einer Sache nachzuhängen. 128 »Der beste
115 Siehe oben Seite 406 ff. (Text). Von Dürers unallegorischen Darstellungen,
die Gestalten mit Beutel und Schlüssel zeigen, seien genannt die Stiche B 40, 126 Siehe oben, Seite 412 ff. (Text).
12 7 Zum Beisp,el bei Ibn Esra die •canes nigri• und in einer griechischen Hand-
84 und 90; die Holzschnitte B 3, 80, 84, 88, 91; und vor allem das Trachten-
bild L 463 mit der Beischrift: •a lso gett man in Hewsern Nörmerck•. Beutel schrift die Hunde im allgemeinen (Cat. astr. Gr., V,,, p. 182, 10; zitiert bei
und Schlüssel charakterisieren auch die alte Amme auf den Danaebildern W. Gundel, in Gnomon II, 1926, p. 299, und BBG, Sternglaube, p. 114).
Tizians (Prado) und Rembrandts (Eremitage). l28 Vergleiche hierzu die mehrfach zitierten Arbeiten Giehlows, dem das Ver-
456 Der Kupferstich •Mclcncolia I• Der neue Sinn der »Melencolia I• 457

Hund•, so heißt es bei einem zeitgenössischen Hieroglyphiker, ist im Altertum wurden ihre Flughäute tatsächlich zum Schreiben be-
daher der, »qui faciem magis, ut vulgo aiunt, melancholicam prac se nutzt, und zwar insbesondere zur Fixierung von Zauberformeln ge-
ferat•," 9 was von dem Hund des Dürerstichs mit Fug und Recht gen Schlaflosigkeit.' H
behauptet werden kann. Schließlich läßt sich auch die Meereslandschaft mit den kleinen Schif-
Das Motiv der Fledermaus ist ganz unabhängig von der Bildtradition. fen in den Saturn- und Melancholiekontext einordnen. Den antiken
Es ist ausschließlich aufgrund einer textlichen Überlieferung erfun- und arabischen Astrologen galt der übers Meer nach Latium geflo-
den, und noch in Ramlers Kurzgefaßter Mythologie wird sie als das hene Gott als »He rr der Seefahrt und der Meere«, weshalb auch seine
Symboltier des Melancholikers zitiert. ' 30 Auch sie ist bei Horapollon Kinder gern am Wasser wohnen und durch entsprechende Berufe
erwähnt, und zwar als Zeichen des , homo aegrotans et inconti- ihren Lebensunterhalt verdienen.' ll Doch das ist nicht alles. Saturn -
nens«.' 3 ' Darüber hinaus dient sie den Humanisten der Renaissance und insbesondere jeder ihm zugehörige Komet - wurde auch für
(im Guten wie im Bösen) als ein Beispiel des nächtlichen Wachens Hochfluten und Überschwemmungen verantwortlich gemacht; und
oder der nächtlichen Arbeit. Nach Agrippa von Nettesheim ist ihre man wird getrost behaupten dürfen, daß ein auf einem Melancho-
hervorstechende Eigenschaft die »vigilantia«'l'; bei Ficino ist sie ein liebild erscheinender Komet einer jener »Saturnkometen« sein muß,
warnendes Beispiel für die aufreibende und schädliche Wirkung des
Saturn Flederrnausblut entha lten (Würzburger Handschrift, fol. 2 j'; nach der
nächtlichen Studiums'JJ; und - vielleicht am bemerkenswertesten - Druckausgabe zitiert bei Gundel, loc. cit.). Neben diesen direkten Nennun -
gen stehen indirekte, die Saturn Nachtvögel im allgemeinen zuschreiben (,6.
dienst gebührt, das ganze System der Renaissance-Hieroglyphen entdeckt tiis vux-cosnnt,va, •omnia, quae noctu vagantur«): Cat. astr. Cr., IV, 122
und das wichtigste Material zusammengetragen zu haben; cf. ferner L. Volk- (Thcophilus von Edess a, 8.Jh. n. Chr., zitiert bei Gundel, loc . cit.) und Ran-
mann, Bilderschriften der Renaissance, Leipzig 1923, passim. G. Leidinger zovius, Tractatus astrologicus, Frankfurt 1609, p. 47. Von besonderem Inter-
hat nachgewiesen (in Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissen- esse ist das 62. Emblem in Alciatos berühmter Emblemsammlung :
schaften, philol.-hist. Klasse, 1929), daß Dürer die Hypnerotomachia Poliphili
kannte und sogar selbst besaß. • Vespenilio.
129 So Pierio Valcriano, zitiert bei Giehlow ( 1904), p. 72. Vespere quae tantum volitat, quae lumine lusca est,
qo K. Ramler, Kurzgefaßte Mythologie, 4. Aun., Berlin 1820, p. 4j6: »Einige Quae cum alas gestet, caetera muri s habet;
lassen Fledermäuse um ihn herumflattern.• Ad res diversas trahitur: mala nomina primum
131 K. Giehlow, in Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Signal, quae latitant, iudiciumque timem.
JGiiserhauses XXXII (1915), p. 167. lnde et Philosophos, qui dum caelestia qua~runt,
~32 Agrippa von Neuesheim, Occulta philosophia, in dem durch Dr. Hans Meier Caligant oculis, falsaque sola vident ... •
entdeckten Autograph von 1 po, Würzburg, Univ.-Bibl., Cod. Q. 50 (dazu
siehe unten, Seite 493 ff., Text und Anm. 222), fol. 9'. Daher diente ein Fle- Diese Zeilen lesen sich wie eine Aufzählung von Wesenszügen des saturni-
derrnausherz als Talisman gegen Schläfrigkeit. nisch-melancholischen Charakters. Bezeichnend ist der Hinweis auf einen
133 Ficino, De vita tripl., I, 7 (Opera, ßd. 1, p. 500): •Sp irirus fatigatione diurna. bestimmten Philosophentypus.
praesertim subtilissimi quique denique resolvuntur. Nocte igitur pauci crassi- 134 T. Birt, Die Buchrolle in der Kunst, Leipzig 1907, pp. 286 ff. (mit Stellenanga-
que supersunt ... , ut non aliter mancis horum fretum alis ingenium volare ben).
1
possit, quam vespeniliones atque bubones.• Außerdem wird die Fledermaus 35 Siehe oben, Seite 207, 216, 224 (Text). In Leonhard Reynmanns Nativitet-
bei Agrippa von Nettesheim unter den Saturntieren erwähnt: .Sarurnalia Ka/ender von 15 15 heißt es ebenfalls, daß die Saturnkinder •mit wässerigen
sunt ... animalia rcptilia segregata, soliraria, nocrurna, tristia, contemplativ• Dingen umgehen« (fol. D. II'). Der oben (Seite 3, o ff., Text) erwähnte Sa-
vel penitus lenta, avara, timida, melancolica, multi laboris et tardi motus, ut turnSlich Campagnolas könnte Dürer den konkreten Anstoß gegeben haben,
bubo, talp a, basiliscus, vespenilio• (Würzburger Handschrift, fol. 17'; nach das Meermotiv aufzunehmen. Dieser seinerseits von früheren Dürerstichen
der Druckausgabe erwähnt auch von W. Gundel, in Gnomon II, 1926, P· 290, beeinflußte Stich kann dem reifen Künstler schwerli ch unbekannt gewesen
und BBG, Sternglaube, p. 115). Demgemäß soll auch ein Rauchopfer an sein.
458 Der Kupferstich •Melcncolia I« Der neue Sinn der .Melencolia I• 459

von denen es ausdrücklich heißt, daß sie die Welt mit dem »domi- ten Trockenheit des melancholischen Temperaments entgegenwirken.
nium melancholiae« bedrohen. '' 6 Es ist daher schwerlich ein Zufall, Es sind dies der Wassereppich (Ranunculus aquaticus) - den Dürer
wenn sich über Dürers Meer ein Regenbogen wölbt und wenn das bereits in dem das Werk des Konrad Celtes illustrierenden Holz-
flache Ufer so weit überflutet ist, daß die Bäume zwischen den beiden schnitt'40 (Tafel 85) der Verbindung von »Auster«, »Phlegma« und
hellen Halbinseln vom Wasser umspült werden; denn schon in baby- »Aqua« zuordnet - und die gemeine Wasserkresse (Nasturtium offici-
lonischen Keilschriften gilt es als feststehende Tatsache, daß ein mit nale). ' 4' Das andere Gegenmittel ist das offenbar metallgravierte
dem Kopf zur Erde gerichteter Komet auf Hochwasser deute; und es Quadrat der Zahl Vier. Dank der bahnbrechenden Forschungen
ist gerade der Melancholiker, der solches Unglück prophezeien Giehlows kann kein Zweifel mehr daran bestehen, daß es nicht nur als
kann.'l 7 Hinweis auf die arithmetische Seite des melancholischen Ingeniums,
Diesen teils tristen, teils bedrohlichen Erscheinungen treten jedoch sondern auch, und vor allem, als ein im ursprünglichen Wortsinn
zwei Motive gegenüber,' 38 die als amisaturnische und antimelancholi - magisches Quadrat aufzufassen ist.••• Es ist ein Talisman, der den
sche Palliative zu verstehen sind. Das eine Gegenmittel ist der Kranz, heilsamen Einfluß Jupiters bewirken soll; es ist der bildlose, mathe-
den sich die Frau ,um die Schläfen gewunden hat. Obwohl dieser matische Ersatz für jene Bilder der Sterndämonen, die von Ficino,
Kranz, typengeschichtlich betrachtet, auf den Schmuck des »homo Agrippa und allen anderen Lehrern der weißen Magie empfohlen
literatus« zurückführbar ist und somit das geistige Vermögen der
140 B 130.
Melencolia bezeugt,' 39 muß er zugleich auch als antimelancholische s 141 Nach Giehlows unveröffentlichten Notizen wurde im 16.Jahrhundert dem
Gegenmittel gelten, weil er aus den Blättern zweier Pflanzen zusam - Melancholiker ausdrücklich empfohlen, sich feuchte (d. h. feucht geartete)
mengesetzt ist, die beide wässeriger Natur sind und daher der erdhaf- Kräuter •nach Piasters Weis• auf die Stirn zu legen. Die Identifikation der im
Blätterkranz der Melancholie und in dem Holzschnitt ß 130 vorkommenden
136 Cf. Banolomeo da Parma, ed. E. Narducci, in Bulletino di Bibliografia e di Pflanze als Wassercppich findet sich bei W. Bühler, in Mitteilungen der Ge-
Storia delle Scienze Matematiche e Fisiche XVII (1884), p. 156. Die Zuord- se/Jschaftfiir vervielfältigende Kunst, 1925, pp.44ff., und E. Büch, in Die
nung einzelner Kometen zu je einem der Planeten geht auf Ncchcp so-Petosi- medizinische Welt VII (1933), Nr. 2, p. 69. Frau Eleanor Marquand, Prince-
ris zurück; cf. BBG, Stemglaube, pp. p und 129, und W. Gundel in Pauly- ton, der wir für ihre Hilfe herzlich danken, hat aber nachgewiesen, daß der
Wissowa, s. v. •Kometen«, und in Hessische Blätter für Volkskunde VII Kranz der Melancholie nicht aus einer, sondern aus zwei Pflanzen besteht,
(1908), pp. 109 ff. (Der Planet vererbt seine Eigenschaften dem Kometen deren zweite die Wasserkresse isL (cf. z.B. G. Bentham, Handbook of the
, tanquam filio«; cf. A. Mizaldus, Cometographia, Paris 1!49, p. 91, und cbd., British Flora, London , 865). Abgesehen davon, daß diese Entdeckung eine
pp. 177 und 180, heißt es, daß der Sarurnkomet • melancholicos morb os•, wichtige Einzelbeobachtung liefert, ist sie auch methodisch von großer Be-
Überschwemmungen usw. verursache und die Saturnkinder in besonderem deutung. Wenn Dürer den Kranz aus zwei Pflanzen zusammensetzt, die nur
Maße bedrohe.) Die Strahlen, die von dem himmlischen Körper in der linken das eine gemeinsam haben, daß sie Wasserpflanzen sind, so ist dies kein
oberen Ecke des Stichs ausgehen und sich in alle Richtungen ausbreiten, Zufall oder eine rein ästhetische Vorliebe: die Wahl dieser beiden Pflanzen
haben zu der Beobachtung geführt, daß es sich nicht um einen Kometen, muß vielmehr in einer bewußten Symbol-Absicht begründet sein, die uns
sondern um einen Planeten, demnach um Saturn selbst, statt um einen zu berechtige, alle Einzelheiten des Stichs im Sinne dieser Symbol-AbsichL zu
Saturn gehörigen Kometen, handelt (so D. Pingrcc, •A New Look on Melen- interpretieren.
colia !«, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes XLIII, 1980, PP· 142 Giehlow (1904), pp. 16ff. Die Gegenargumente von W. Ahrens (in Zeitschrift
217-258). Dies besLätigt nur, was oben über die zentrale Stellung des Sacum für bildende Kunst, N. F. XXVI, 1915, pp. 291 ff.) basierten auf der inzwi-
gesagt ist. Der astrologischen Lehre zufolge üben die Planeten ihren Einfluß schen gründlich widerlegten Behauptung, daß die astro-magische Bedeutung
auf die sublunare Welt durch solche Strahlen aus. der Planetenquadrate vor 1531 nicht in abendländischen Quellen belegbar sei
137 Cf. BBG, Sternglaube, p. 114 und unten, Seite 499 ff. (Text). (siehe unten, Seite 46o f., TexL). Das oben rechts auf dem Stich befindliche
1 38 Über den früher irrigerweise als Klistierspritze gedeuteten Gegen stand siehe magische Quadrat ist nach wie vor Gegenstand zahlreicher Interpretationen;
unten, Seite 464, Anm. 1j 1. siehe hierzu wie zu den alchemistischen Deutungen unten, Seite 577 f. (Aus-
139 Siehe oben, Seite 446 (Text). wahlbibliographie). .
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460 Der Kupferstich .Mclenco lia l« Der neue Sinn der »Melencolia I« 461

wurden. Von dieser »mensula Jovis«, die alle wohltätigen Kräfte des als die mit ihnen verbundenen arithmetischen Probleme noch gar
»temperator Saturni« in sich beschloß, heißt es bei einem Autor des nicht mit ihnen in Beziehung gesetzt wurden,' 45 sondern auch daraus,
14.Jahrhunderts: »Wer ihn trägt, des Unglück wird sich zum Guten daß, wie man unlängst entdeckt hat, ein Mann mit den Planetenqua-
wenden und das Gute zum Besseren.•' 43 Und bei Paracelsus lesen draten vertraut war, den Dürer wahrscheinlich persönlich kannte,
wir: »Dieses Zeichen macht seinen Träger in allen Handlungen glück- Luca Pacioli, dem Dürer, auch wenn er nicht um seinetwillen nach
lich und vertreibt alle Sorgen und Furcht.«' 44 Dürer war zwar kein Bologna gereist sein sollte, dort ohne weiteres begegnen konnte. Im
Arithmetiker, doch war ihm die iatromathematische Bedeutung des Jahr 1 500 hatte Pacioli einen kleinen Traktat über die Planetensiegel
magischen Quadrats sehr wohl vertraut, und vielleicht ist sie der geschrieben. Darin zitiert er arabische Quellen und führt eine Version
einzige Aspekt, unter dem diese sonderbare Zahlenkombination seine des Jupiterquadrats an, die dieselbe - und keineswegs einzig mögli-
Aufmerksamkeit und sein Interesse gewinnen konnte. che1•6- Zifferndisposition aufweist wie Dürers Melencolia!. '47
Doch all diese Gegenmittel sind nur ein schwacher Notbehelf ange-
~..-r»,
oo-olli
rcprotitl\!b>~:~flllM?-ul sichts des wahren Schicksals des melancholischen Menschen. Wie
c1ee111111aeio411clt'qwcmmA1filJa-.-r schon Ficino einsah, daß die selbstlose und bedingungslose Ergebung
czin Qllll;~Cnf4'lff'Qfflllll.l ~
Gm ~\o 111mun6, ~. in den Willen Saturns im Grunde nicht nur die »ulcima•, sondern
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eine Melencolia geschaffen, die durch natürliche oder magische Pallia-
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11:~ 145 Die Planetenquadrate wurden von A. Warburg (Heidnisch-antike Weissa-
gung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, in Gesammelte Schriften, Bd. II,
-'"'~~-~-1."tel..-~
111S(11ftna<!'-iluce4'.il~r1'-u,--
Leipzig 1932, pp. p6ff.) schon in Cod. Reg. lat. 1283 (um 1300, daraus
stammt unsere Abb. 1), ferner in Wien, Nationalbibliothek, Cod. 5239
Abb. 1. Das magische Quadrat des Mars. (14.Jahrhundert) und Wolfenbütt el, Cod. 17, 8. Aug. 4°, nachgewiesen. Im
Aus einer spanischen Handschrift um Orient dürften sie schon sehr viel früher belegbar sein.
1300. Bibi. Vat., Cod. Reg. lat. 1283. 146 Das Quadrat mit 16 Zellen und der Quersumme 34 kann in 1232 Variationen
vorkommen, cf. K. H. de Haas, Frenic/e's 880 Basic Magie Squares of 4 x 4
Das geht nicht nur daraus hervor, daß die Quadrate bereits zu einer cells.. ., Rotterdam 1935.
Zeit als Symbole der verschiedenen Planeten bekannt gewesen sind, 147 Luca Paciolis um 1 500 niedergeschriebene Ausführungen über die sieben
Planetenquadrat e (Bologna, Bibi. Univ. Cod. 250, fol. I18-122) wurden ent-
143 Wien, Nationalbibliothek, Cod. 5239, fol. 147': •Et si quis portauerit cam, deckt von Amadeo Agostini, der den mutmaßlichen Zusammenhang mit
qui sit infonunatus fortunabitur, de bono in melius efficiet [sie)• (zitiert bei Dürer betont: Bolletino dell'unione matematica italiana II, 2 (1923), p. 2 (cf.
A. Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zei- W. Wieleitner, in Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und der Natur-
ten, in Gesammelte Schriften, ßd. II, Leipzig 1932, p. 528). wissenschaften XXII, 1923, p. 125 und XXV, 1926, p. 8). Bemerkenswert ist,
144 Aureoli Philippi Theophrasti Paracelsi Opera omnia, Genf 1658, Bd.11, daß Pacioli die Quadrate nur als mathematisches »jeu d'esprit« behandelt und
p. 716. »Sigillum hoc si gestetur, gratiam, amorem et favorem apud universos ihre astrologisch-magische Bedeutung zwar erwähnt, aber nicht weiter be-
conciliat ... gestoremque suum in omnibus ncgoriis felicem facir, et abigit rücksichtigt; daher ignoriert er völlig die talismanhaften Leistungen der ein-
curas omnes, metumque.• Gerade das ständige Bedrücktsein durch Sorgen zelnen Quadrate: •Le quali figure cosi numerose non senza misteri gli l'ano
und die unüberwindbare Furchtsamkeit (cf. Constantinus Africanus, »1imor acomodata ... Le quali figure in questo nostro compendio ho uoluto inserere
de re non timenda•, und Ficino, »quod circa mala nimis formidolosus sum•) acio con epse ale uohe possi formar qualche ligiadro solazo ... • Agrippa von
gehörte zu den schlimmsten und bezeichnendsten Symptomen der Melan· Neuesheims Werke enthalten die Planetenquadrate erst in der Druckausgabe
(II, 22); in der Urfassung fehlen sie.
cholie.
462 Der Kupferstich •Melencolia !« Der neue Sinn der • Melencolia I, 463
'1
tive vor ihrem traurig erhabenen Schicksal nicht geschützt werden Geometrie repräsentiere; denn letzterer ist hier wie in vielen anderen
kann und vielleicht nicht geschützt werden soll. Wenn der kosmische zeitgenössischen Darstellungen Probestück und Symbol der geome-
Konflikt zwischen Saturn und Jupiter 1• 8 überhaupt jemals endgültig trisch fundierten Optik, insbesondere der Perspektive (Tafel 99 ). ' 10
entschieden werden sollte, so konnte er für Dürer nicht in einem Sieg
wird unten, Seite 496 ff., Text, erklärt. (Zu der Kombinati o n von Re genb o -
Jupiters enden. gen und Gestirnen cf. z.B . Denkmäler mittelalterl icher Meteorologie, Neu-
drucke von Schriften und Karten über Meteorologie und Erdmagnetismus,
b) Geometriesymbolik ed. G. Heilmann , Bd. XV , Berlin 1904, p. 267.) Vielleicht hängt es mit dieser
Verschiebung zusammen, daß der ursprünglich dem Putto zugedachte Sex-
Die bislang noch nicht erläuterten Motive sind, wie schon angedeutet, tant (Tafel 4) nicht in die endgültige Fassung au fgenommen worden ist, denn
dieser war ein spezifisches Astronomiesymbol; cf. un sere Tafel 100 und 110
Geometriesymbole. sowie die Ptolemäus -Darstellung in der Margarita phil osophica, abgebildet
Das gilt ohne Einschränkung für diejenigen Geräte und Objekte, die bei E. Reicke, Der Gelehrte in der deutschen Vergangenheit, Leipzig 1900,
in der Geometrie-Darstellung der Margarita Philosophicaerscheinen Tafel 44.
(Tafel 110), d. h. für die Himmelserscheinungen, das unvollendete 150 Cf. auch den Titelhol zs chnitt zu Petrus Apianus' lnstrumentbu ch, Ingolstadt
Bauwerk, den Steinquader, die Kugel, den Zirkel, Profilholz und q 33, und desselben lnscriptiones sacrosanctae Vetustatis, Ingolstadt 1534,
Initial fol. A. 1'. Tafel 99 zeigt Flötncr s Tit elholzschnitt zu Vitellios nt(li
Richtscheit, Hammer und Schreibzeug. Denn die Typengeschichte all
Ömtxij~, Nürnberg , 535 (wiederverwendet in Rivius, Vitruv ius Teutsch,
dieser Dinge weist sie als Symbole einer Tatigkeit aus, durch die die Nürnberg 1 548, fol. CXCVIII ') . Daß die Konstruktion ganz - und halbre-
»Kunst des Messens« entweder als Selbstzweck ausgeübt oder ande- gelmäßiger Polyeder in der Renaissance gerad ezu das Hauptproblem der
ren mehr oder weniger praktischen Zwecken dienstbar gemacht wird. darstellenden Geometrie bildet e, ist bekannt. Das schönste Beispiel, neben
Der Zirkel in der Hand der Melencolia bezeichnet gleichsam die Ein - Dürers eigener Unterweisung der Messung, ist wohl Wenzel Jamnitzers Per-
spectiva corporum regularium, Nürnberg 1548 und 1568, wo die fünf platoni-
heit in der Mannigfaltigkeit der sie umgebenden Dinge und Werk- schen Körper in allen möglichen Abwandlungen in Perspektive gebr acht
zeuge, und wollte man unterteilen, so könnte man sagen, daß er im sind. Noch Jan Boeckhorsts Geometria sitzt auf einem dem Dürerschen
Verein mit Kugel und Schreibzeug die reine Geometrie bedeute, daß ähnlichen Polyeder, was um so bemerkenswerter ist , als die Figur im übrigen
111: der begonnene Bau, das Profilholz, das Richtscheit und der Hamm er eher den Hol zschnitt von Donis / Marmi , Venedig 1552 (Tafel 136) bzw.
die handwerklich-tektonisch angewandte Geometrie vertrete, daß die dessen gestochene Replik (siehe unten ) zum Vorbild hat ; das Gemälde ist im
Bonner Landesmuseum, Nr. 14, unsere Tafel 137.
Himmelsphänomene die astronomisch bzw. meteorologisch nut zbar Über die stereometrische Form des Polyeders, den Niemann als einen abge -
gemachte' 49 und schließlich der polyedrische Körper die darstellende stumpften Rhomboeder beschrieb (cf. Anhang 1, Seite 557), und der sicher
kein abgestumpfter Würfel ist (so F. A. Nagel, Der Kristall auf Dürers Me-
148 Cf. A. Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Lut hers lancholie, Nürnberg 1922), entbrannte vor einiger Zeit eine erbitterte Kon -
Zeiten, in Gesammelte Schriften, Bd. II, Leipzig 1932, p. 529. Wir kön nen troverse unter holländischen Gelehrten (H. A. Nabar und K. H. de Haas, in
uns allerdings seiner Beschreibung nur mit einigen Vorbehalten anschli eßen, Nieuwe Rouerdamsche Courant, Avondblad, 26. April, 29. April und 5.Juli
da wir den •dämonischen Zweikampf « zwischen Saturn und Jupiter nich t als 1932). Während Nabar die Niemannsche Rekonstruktion bestätigt und nur
einen für Jupiter siegreichen auffassen können; noch auch können wir ihm dahingehend ergänzt, daß die Rhomben durch eine bemerkenswerte Regel-
die zentrale Bedeutung für die Interpretation des Dürerstichs zus chr eiben, mäßigkeit (Winkel 6o und 120 Grad) ausgezeichnet seien , hält de Haas die
die Warburg ihm beimißt. Die • mensula Jovis• ist schließlich nur eines von Flächen des Polyeders für leicht unregelmäßig. Wir glauben das nicht, da die
vielen Motiven und keineswegs das wichtigste. Trotz Giehlows und War- perspektivischen Phänomene , auf die de Haas sich stützt, miteinander in
burgs scharfsinniger Argumentation ist die Beziehung des Stichs zu Max imi- Widerspruch stehen; doch wir möchten im übrigen dies e Frage , die für uns
lian 1. nicht zu erweisen; und selbst wenn dies gelänge, wäre die Melancolia l nur von sekundärer Bedeutung ist, den Mathematikern überlassen. K. H. de
eher eine Warnung als ein Trost für ihn gewesen. Haas' Versuch (Albrecht Dürer 's meetkundige bouw van Reuter en Melenco-
149 Warum Dürer dem Begriff der Astrologie eine meteorologische Wend e gab , lia I, Rotterdam 1932), die Komposition dieser beiden Stiche auf ein detail -
464 Der Kupferstich •Melencolia J.
- Der neue Sinn der •Melencolia !« 465

Doch auch alle übrigen Dinge lassen sich ohne weiteres mit dem sogar den Schmelztiegel mit der kleinen Kohlenzange zuweisen wol-
~typus Geomec.riae«, wie ihn der Straßburger Holzschnitt darstellt, in len,' n doch wir ziehen es vor, dieselben der feineren Goldschmiede-
Verbindung bringen. Hobel und Säge, Nägel und Zange und viel- kunst'H oder der Alchemie zuzuordnen, jener zwar nicht mit der
leicht auch der fast verdeckte Gegenstand, der für gewöhnlich als Geometrie, wohl aber mit der saturnischen Melancholie verbundenen
Klistierspritze gilt,''' aber eher als Blasebalg anzusehen ist - all diese Schwarzen Kunst.'" Das Buch ergänzt die Symbolik des Zirkels, der
Dinge bereichern nur das Instrumentarium der Bauhandwerker, Kugel und des Schreibzeugs in dem Sinne, daß es weniger die Anwen-
Tischler und Zimmerleute, die auch den von dem Steinmetz geründe- dung als die Theorie der Geometrie betont. Und es ist offensichtlich,
ten und zugehauenen Schleifstein benutzen. ' I' Einige haben ihnen daß die Waage und die Sanduhr (mit der dazugehörigen Stunden-
glocke)'56 sich als Meßinstrumente für Zeit und Gewicht ebenfalls in
liertes planimetrisches Flächenteilungs-Verfahren zurückzuführen, liegt
gänzlich außerhalb unseres Problemkreises. In jedem Fall unrichtig isr jedoch
die Behauptung, der Rhomboeder sei ein •erst noch zur Regelmäßigkeit zu blick auf die Salone-Freskcn (siehe oben, Text, Seite 304) zur letzteren Deu-
behauender Block• und bedeute daher ähnlich wie der •rauhe Stein• der tung. Wir freuen uns, diese Deutung durch P. Brandt (in Die Umschau in
Freimaurer ein • L,;hrbild der moralischen Arbeitsaufgabe am eignen Selbst- Wissenschaft und Technik XXXII, 1928, pp. 276 ff.) sowie - ganz unabhängig
(so Hartlaub, Geheimnis, p. 78). Dürers Polyeder, wie immer er stereome - von aller technischen Literatur- durch'W. Blumenfeld (in idealistische Philo-
trisch vorzustellen sei, ist mit seinen ganz exakten Flächen so sorgfältig be- logie III, 1927- 1928, pp. 1 54 ff.) akzeptiert zu sehen.
hauen wie nur irgend möglich, während der •rauhe Stein•, wie Michelange- 153 Nach Bühler dient er zum Schmelzen des Bleis, mit dem die Fugen vergossen
los Pietra alpestra e viva, als eine noch zu formende, amorphe Masse vorzu - werden.
stellen ist (cf. auch E. Panofsky, Jdea, Studien der Bibliothek Warburg, 154 Cf. Schongauers Stich, B91, oder Jost Ammans Eygentlich e Beschreibung
Bd. V, Leipzig 1914, pp. 64 und 119). aller Stände auf[ Erden, Frankfurt l 568 - Neudruck München 1896 -
151 Diese Deutung, derzufolge das fragliche Instrument den antimclancholischcn fol.H 2.
Gegenmitteln zuzurechnen wäre (•purgatio alvi• war gewissermaßen das A 155 Das (auf Giehlow zurückgehende) Hauptargument für die Verbindung mit
und O der antimclancholischen Diätetik), ist neuerdings von Bühler bestrit- alchemistischen Operationen ist immer noch die Tatsache, daß spätere Mei-
ten worden, wenn auch mit unzutreffender Begründung, denn die plättchen- ster wie Beham (Tafel 120), der Meister •F. B.• (Tafel ar) und M. de Vos
oder knopfförmige Endigung findet sich auch auf H. S. Behams bekanntem (Tafel 145) die Melancholie mit unzweideutigen alchemistischen Attributen
Holzschnitt der Jungbrunnen (Pauli 1120; M. Geisberg, Der deutsche Ein- ausgestattet haben und daß später die personifizierte •Akymia« gelegentlich
blatt-Holzschnitt, Bd. XXII, 14), wo sicher eine Klistierspritze dargestellt ist. eine Kohlenzange hielt (z, B. der Titelholzschnitt zu C. Gesners Newe jewe/1
Und wenngleich die anderen bisher bekannt gewordenen Deutungsversuche of Health, London 1576). Dagegen ist die Tacsache, daß der Hermes Trisme-
abzulehnen sind - denn die Farbenspritze, die Nagel (op. cit.) darin sieht, ist gistos der De Vriesschcn Alchemistenfolge (abgebildet bei Hartlaub, Ge-
sonst nirgends belegbar, und einen •Nagelheber•, wie Bühler (op. cit.) ihn heimnis, p.46, Text pp.41 und 81) einen Zirkel hat, weder ein Beweis dafür
vorschlägt, gibt es erst im 19.Jahrhundcrt -, so ist es doch auch uns inzwi - noch dagegen, da er diesen Zirkel nicht in seiner speziellen Eigenschaft als
schen wahrscheinlich geworden, daß das rätselhafte Ding eher den Arbeits - Alchemist, sondern in seiner allgemeinen Eigenschaft als Hermes Trismegi-
werkzeugen als den Heilmitteln gegen Melancholie angehört. Es könnte sich stos führt, der auch Kosmologe und Astrologe ·ist, weshalb sein zweites
entweder um eine Glasbläserpfeife handeln (wie sie in G. Agricolas berühm- Attribut ein Astrolabium ist.
tem Werk De re metallica, Basel 15 56, deucsche Neuausgabe 1928, p. 507, 156 So Giehlow (1904), p.65. Daneben könnte die Glocke, im Sinne des Eremi-
abgebildet erscheint - diese Vermutung stammt von Dr. Schimangk, Ham - tenglöckchens, das dem hl. Antonius stets beigegeben ist, auf den Hang des
burg) oder aber, was wahrscheinlicher ist, um einen Blasebalg, denn diese saturninischen Melancholikers zur Einsamkeit hinweisen; noch in F. Picinel-
Deutung kann sich auf eine zeitgenössische Bildaussage berufen, und zwar lis Mundus symbo/icus, Köln 1687, XIV, 4, 23, bedeutet die Glocke Einsam-
Hans Dörings Holzschnitt (den wir noch ausführlicher behandeln werden ), keit und daher, in bemerkenswerter Übereinstimmung mit den herkömmli-
der sein gesamtes Instrumentarium der Melencolia I entlehnt und tatsächlich chen Charakteristiken des Melancholikers, die •anima a rebus materialibus,
einen Blasebalg enthält (cf. Tafel 112 und unseren Text, Seite 472 f.). terrenis et diabolicis remota•. Andererseits setzt der Glaube, daß Glocken-
152 Wir hatten bei früheren Gelegenheiten die Frage, ob es sich um einen Mühl- töne drohende Naturkatastrophen verscheuchen könnten (cf. W. Gundel, in
stein oder einen Schleifstein handelt, offengelassen, neigten jedoch im Hin- Gnomon II, 1926, p. 291), große Kirchenglocken voraus.
466 Der Kupferstich •Melencolia l• Der neue Sinn der • Melencolia !« 467

das Gesamtbild der »Geometria« einfügen. Schon Macrobius defi- Unterweisung der Messung, die ihn damals gerade beschäftigte, ' 60
niert die Zeit als eine »certa dimensio, quae ex cacli conversione colli- heißt es:
gitur« (und zeigt damit ihren Zusammenhang mit der Astronomie) 117 ; Demnach hoff ich, dies mein Fümehmen und Unterweisung werde kein
und was das Wägen anbetrifft, so wurde es in einer Zeit, die den Verständiger tadelen, dieweil es aus einer guten Meinung und allen Kunstbe-
Begriff der Experimentalphysik noch nicht herausgebildet hatte, so gierigen zu Güt geschieht und auch nicht allein den Maleren, sonder Gold-
sehr zu den Funktionen der Geometrie gerechnet, daß ein bekannter schmieden, Bildhauercn, Steinmetzen, Schreineren, und allen den, so sich des
Merkvers über die Sieben Freien Künste das »po nderare« als Haupt- Maß gebrauchen, dienstlich sein mag. 161
aufgabe der Geometrie anführt: Und es ist vielleicht nicht einmal bloßer Zufall, wenn Dürer in einem
Gram loquitur, Dia vera docct, Rhe verba colorat, Entwurf zu eben dieser Einleitung »Hobel und Drehwerk« ebenso
8
Mus canit, Ar numerat, Geo ponderat, As colit astra. " zusammen nennt, wie auf dem Stich der Hobel und die gedrechselte
Kugel zusammen liegen. 161
Aus Dürers eigenem Munde wissen wir, daß er in der rein manuellen
Betätigung des niederen Handwerks angewandte Geometrie er-
blickte, und zwar d~rchaus in dem Sinne der Tradition, wie sie die
oben betrachteten Holzschnitte vertreten. 119 In dem Vorwort zur

157 Macrobius, Satumalia I, 8, 7 (cf. dazu die oben, Seite 443, Anm. 102, ange- ter untersteht auch der Geometrie und wird von Gestalten mit Zirkel, Ham-
führte Stelle aus Martianus Capella). Auch eine Zeichnung des Lucas van mer, Schere usw. begleitet. Die Beischriften lauten:
Leyden (Lille, Mus. Wicar) charakterisiert die Geometrie durch eine Sand-
uhr. •Gewicht vn mass ler ich dich
158 .Die Grammatik spricht, die Dialektik lehrt Wahres, die Rhetorik gibt dem
des tzyrkels kunst die kenn ich«
Wort Lebendigkeit, / die Musik singt, die Arithmetik zählt, die Geometrie
und •Rerum mensuras et earum signo figuras•
wägt ab, die Astronomie beschäftigt sich mit den Sternen.• Abdruck u. a. bei
F. Overbeck, Vorgeschichte und Jugend der mittelalterlichen Scholastik, ed. und •Evclides der meyster an geometrey lert
C. A. Bernoulli, Basel 1917, p. 29. Angesichts solcher Zeugnisse und ange- Der handwerck kunst, zal, wag, hoh, tyeff, leng vn preyt.•
sichts der Tatsache, daß die Waage darstellerisch in keiner Weise von den
anderen Instrumenten abgehoben ist (denn schließlich steht Dürer nicht 16o Cf. den 15 14 datierten Entwurf für einen der perspektivischen Zeichenappa-
mehr auf der Stilsrufe der von Sigrid Strauß-Kloebe im Miinchner Jahrbuch rate in Buch IV, Dresdner Skizzenbuch, ed. R. Bruck, Straßburg 1905, Tafel
der bildenden Kunst, N. F. II, 1925, p. 58, zum Vergleich herangezogenen l 35·
Tubinger Handschrift, die Himmlisches und Irdisches in bewußt humorvol - 161 Lf, Nachlass, pp. 181, 3off.
ler Weise vermische), fällt es schwer, die Waage astrologisch, d. h. als Zodia - 162 LF, Nachlass, p. 268, 12: •Will dorneben anzeigen, waraus die Zierd des

kalzeichen der Sarurncxaltation zu interpr etieren (so auch W. Gundcl, in Hobels oder Drehwerks, das ist durch die gereden oder runden gemacht
Gnomon II, 1925, p. 293). Will man gleichwohl die astrologische Interpreta- werd.« Gegen Bühlers Leugnung, daß eine holzgedrechselte Kugel gemeint
tion aufrechterhalten, so kann man sich nicht nur auf die von Gundel heran · sei, darf darauf hingewiesen werden, daß Cranach, der den Stich mit den
gezogene Semifora-Stellc berufen, sondern auch auf die von A. Warburg Augen des Zeitgenossen betra chtete, die Kugeln (auf Tafel 133 und 134) ganz
(Heidnisch-anrike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, in Ge- deutlich als braune Holzkugeln gemalt hat. Wir legen auf diesen Punkt nicht
sammelte Schriften, Bd. II, Leipzig 1932, p. 529) ans Licht gebrachte Ansicht allzuviel Gewicht, aber Bühlers Behauptung, die Dürersche Kugel, die seit
Melanchtbons, wonach •mul10 generosior est melancholia, si coniunctione Martianus Capella gewissermaßen das Geometriesymbol ist, stelle einen
Saturni et lovis in libra tempcrctur« (so auch S. Strauß-Klocbe). Kirchturmsknopf oder gar die Spitze des Gralstempels dar, zu welcher der
1 59 Erwähnt sei auch ein hochinteressantes Blatt aus einem wohl um 1430 ent· Rhomboeder als Fundament gehöre, entbehrt jeder Grundlage. Wollte man
standenen Totentanz, der die üblichen Gruppen zugleich unter das Ord- auf einer solchen Interpretation bestehen, so hätte man zumindest zu zeigen,
nungsprinzip der Sieben freien Künste stellt (Clm. 3941, fol. 17°). Der Rich- auf welche Weise ein solches Objekt befestigt werden könnte.
468 Der Kupferstich •Melencolia l, Der neue Sinn der •Melenco lia [, 469

c) Saturn - bzw. Melancholiesymbolik im Verein mit hole, deren Vorhandensein auf Dürers Melancholiestich bisher nur
Geometriesymbolik: unter dem Aspekt der »Meßkunst« verständlich erschien, auch in der
der mythologisch -astrologische Zusammenhang- Saturnwelt ihren Ort haben. Denn soweit sie praktisch manueller
der epistemologisch-psychologische Zusammenhang Natur sind, gehören die im Dürerstich vertretenen Berufe nicht nur
zu der Gruppe, die wir in dem Geometrie-Holzschnitt der Margarita
Wir haben uns bisher, der typengeschichtlichen Dualität entspre• Philosophica illustriert fanden, sondern auch zu der, die in den Plane-
chend, dem Begriffsgehalt der Melencolia I auf zwei völlig verschie- tentexten als »art ificia Saturni« figurieren, nämlich die Berufe des
denen Wegen genähert. Es wäre jedoch verwunderlich und wü rde »carpentari us«, des »lapicida«, des »cementarius«, des »edificator edi-
Dürers Leistung als etwas Zufälliges oder jedenfalls Willkürliches ficiorum« - sämtlich Berufe, die bei Abu Ma'sar, Alcabitius, Ibn Esra
erscheinen lassen, wenn eine Dualität, die unter formalen Gesichts- und ·den übrigen als typisch saturnisch angeführt werden, 161 da sie
punkten so völlig überwunden erscheint, nicht auch im Hinblick auf mehr als andere mit Holz und Stein zu tun haben. Da es nun die
ihre Bedeutung eine Einheit aufwiese, wenn das kühne Unterfangen, Salone-Folge ist, die nicht nur die Arbeitsgeräte des Steinmetzen und
eine Melancholie als Geometrie oder umgekehrt eine Geometrie als des Holzarbeiters, sondern auch den sonst kaum je dargestellten
Melancholie zu charakterisieren, nicht letztlich eine innere Affinitä t Schleifstein in Tätigkeit zeigt, so ist es sehr wohl denkbar, daß diese
der beiden Darstellungsthemen offenbarte. Und tatsächlich scheint es Freskos auf das Programm des Stichs einen unmittelbaren Einfluß
eine solche Affinität zu geben. ausgeübt haben, zumal wir wissen, daß Willibald Pirckheimer über
Das früheste und zugleich das vollständigste abendländische Beispiel drei Jahre in Padua studiert hat und Dürer selbst anscheinend auch in
der oben erwähnten »Planetenkinderfolgen« 16J war, wie wir uns erin- dieser Stadt gewesen ist. 166
nern, der Bilderzyk lus des Salone zu Padua. Unter Beibehaltung der Doch es ist nicht nur die sozusagen substantielle, auf dem Beschäf-
wissenschaftlichen Tabellenform der islamischen Handschriften, je- tigtsein mit Stein und Holz beruhende Verwandtschaft, die die Sa-
doch in wesentlich abendländischem Stil, werden hier die Berufe und turnberufe des Salone mit den entsprechenden Berufen der unastrolo -
Eigenschaften aller der Menschen dargestellt, deren Geburt und gischen Arbeitsbilder verbindet. Auch das geistige Prinzip, das diesen
Schicksal von einem bestimmten Planeten beherrscht wird. Unter den praktischen Tatigkeiten theoretisch zugrunde liegt, d. h. die Geome-
von Saturn beherrschten - der selbst als »schweigsamer« König dar- trie selbst, ist zu den Patrozinien des Saturn gerechnet worden; und
16
gestellt ist • - sehen wir einen von Siechtum und Melancholie geplag- damit gewinnen die mehr wissenschaftlichen. Geräte und Objekte,
ten Mann mit lahmem Bein und in die Hand gestütztem Kopf, dann nicht anders als das gewöhnliche Handwerks zeug des Dürerstichs,
einen Gelehrten, sitzend, aber ebenfalls mit jener typischen Armhal-
tung, deren Doppelbedeutung - Leiden und Nachdenklichkeit - hier
also auf zwei Gestalten aufgeteilt ist, und ferner einen Gerber, einen 165 Stellen angeführt oben, Seite 207 ff., 286 ff. (Text mit einschlägigen Anmer-
kungen).
Tischler, einen Geizigen, der einen Schatz vergräbt, einen Steinmetz,
t66 Cf. G.Fiocco, in L'Arte XVIII (1915), pp. 147ff. (ebenso G.Gronau, in
einen Bauern, einen Mcsserschleifer, einen Gärtner und zahlreiche Pantheon II, 1928, p. 533), der auf ein Dürerporträt in den zw ischen 1505
Eremiten (Tafel 32-34). und 1510 entstandenen Fresken Campagnolas in der Scuola del Carmine in
Somit wird deutlich, daß die meisten derjenigen Beschäftigungssym- Padua hinweist. Neuerdings werden die Fresken allerdings später datiert, cf.
H. Tietze, Tizian, Wien 1936, pp. 68 ff. Natürlich kann Campagnola Dürer
163 Siehe oben, Seite 303 ff. (Text). auch in Venedig gezeichnet haben. Ferner cf. H. Rupprich, Willibald Pirck-
164 Er erscheint ein zweites Mal als Greis mit Hacke und Spiegel, doch enl· heimer und die erste Reise Dürers nach Italien , Wien 1930, passim, dessen
stammt diese Figur einer Restaurierung. Das Original befand sich wahr- Folgerungen allerdings zum Teil viel zu weitgehend sind (cf. die Notiz von
scheinlich in jenem Bildfeld, das jetzt einen riesigen Engel enthä lt. Alice Wolf in Die graphischen Künste, N. F. I, 1936, p. 138).
47c Der Kupferstich •Melcncolia !, Der neue Sinn der • Melencolia l• 471

jene eigentümliche Ambivalenz, die die Verbindung zwischen Geo- Darstellung der Saturnkinder, die die unter Saturn geborenen Men-
metrie und Melancholie gewissermaßen sanktioniert. schen in üblicher Weise als arme Bauern, Bäcker, Krüppel und Ver-
Als man die Sieben Freien Künste, die bei Martianus Capella noch die brecher charakterisiert - dem Gott über Schaufel und Pickel hinaus
»ministrae« des Merkur gewesen waren, auf alle sieben Planeten zu einen freilich etwas mißratenen Zirkel bei. ' 7 ' Dieselbe Handschrift
verteilen begann, war dem Saturn zunächst die Astronomie zugeord - teilt auf den Blättern, die die Beziehung der Sieben Künste zu den
net worden, weil sie, wie es Dante ausdrückt, unter den Artes libera- Planeten veranschaulichen, Saturn die Herrschaft über die Geometrie
les die »höchste« und »sicherste« ist. ' 67 Dieses im Mittelalter fast zu. '7' Ein etwas jüngerer Wolfenbütteler Codex weist unter Saturns
allgemein anerkannte System wurde später dahingehend geändert, Gefolge einen Bettelmönch auf, der ganz unverkennbar mit einem
daß Saturn statt der Astronomie die Geometrie unterstellt wurde, die gewaltigen Zirkel ausgestattet ist (Tafel 42 ). ' 73 Eine Erklärung dieser
vormals andere Planeten - Mars, Jupiter und vor allem Merkur - zu Figur gibt die Überschrift, die lautet: »Saturnus der planet sendet vns
Schutzpatronen gehabt hatte. Wann und wo das geschah und ob dabei die Geist, die vns lernent geometria, demut vnd stetikeit« (der Bettel-
gewisse Spekulationen der scholastischen Psychologie von Einflu ß mönch ist der Vertreter dieser drei Gaben). Und in einem Kalender,
gewesen sind, ' 68 läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Doch auch der gerade ein Jahr nach dem Erscheinen des Dürerstichs in Nürnberg
ohne einen solchen Einfluß wäre die Wendung durchaus verständ lich; gedruckt wurde, heißt es von Saturn: ,.er bezaichet aus den künsten
denn der alte Erdgott, dem von Anfang an die Erdmessung zugeord - die Geometrei«. '7◄
net gewesen war, in dessen römischem Tempel die Waage hing,' 69 der So hatte Dürer (oder sein Berater) auch vom astrologischen Stand-
als »auctor temporum« die Messung der Zeit' 70 nicht minder be- punkt aus das Recht, alles das, was der Begriff der Geometrie um-
herrschte als die des Raums - dieser alte Erdgott konnte um so eher faßte, als Domäne Saturns zu betrachten; und wenn er den traditio-
das Patronat der Geometrie im weiteren Sinne erhalten, als die dem nellen »typus Acediae« mit dem ebenso traditionellen »typus Geome-
Abendland zugänglichen Abu Ma'sar-Übersetzungen der recht vagen triae« zu einer neuen Einheit verschmolz, so konnten innerhalb dieser
Angabe des Arabers, »er bedeutet die Schätzung (oder Bestimmung)
der Dinge«, eine viel präzisere Bedeutung verliehen hatten, wenn es 171 A. Hauber, Planetenkinderbilder und Sternbilder, Straßburg 1916, Tafel
an einer Stelle heißt »significat ... quantitates sive mensuras rcrum•, XIII. Haubers Versuch (p. 93), den Zirkel als schlecht gezeichnete Schlange
und an einer anderen sogar »eius est ... rerum dimensio et pon- zu deuten , bedarf kaum der Widerlegung, da sich die stahlblauen Spitzen
deutlich von dem braunen Holz abheben.
dus«. 172 Hauber, op. cit., Tafel VII. '
Um zu der Gleichsetzung von Saturn und Geometrie zu kommen, 173 Hauber, op. cit., Tafel XVI.
brauchte man solche Attribute nur bewußt auf das System der Sieben 1 74 Leonhard Reynmann, Natiuittt-Kalender , Nürnberg 1p5, fol. D. II'. •Sa-

Freien Künste anzuwenden; und das Merkwürdige ist nun, daß diese turnus der höchst oberst planet is1 mannisch, bös, kalt vnd crucken, ain veind
Gleichsetzung nicht sehr lange Zeit vor Dürer gerade in Deutschland des lebens vnnd der natur. Ain bedeuter der münich, ainsiedel, claussner, der
ser alten lcut. Melancolici, hafner, ziegler, ledergerber, Schwanzferber, per-
in Wort und Bild Allgemeingut geworden war. So gibt das Saturnblat1 memer, der ackerleut, klayber, badreyber, Schlot- vnd winckclfegcr, vnd
der Tübinger Handschrift (Tafel 41) - an sich eine ganz norma le alles schnöden volcks, die mit stinnckenden wasserigen vnsaubem dingen
vmbgeen. Er bezaichet aus den künsten die Geometrei; die alten köstlichen
167 Dame, Convivio II, 14,130. Cf. auchJ. von Schlosser, in]ahrbuch derkumt- vesten ding vnd werck der State vesst vnd hewser ... • Bemerkenswert ist
historischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses XVII (1896), insbes. auch hier das Nachleben der spätan.tiken Bestimmungen: von der Zuordnung
PP· 45 ff. der Mönche- crxfJµa µovaxlx6v- und der Eigenschaft der Lebensfeindschaft
168 Siehe unten, Seite 489 ff. (Text). - Saturn , der Totengott! - bis zu dem Widerspruch, daß er von Natur trok-
169 Varro, De lingua latina V, 183, zitiert oben, Seite 113, Anm. 33. ken ist und doch die Leute bezeichnet, die mit wässerigen Dingen umgehen.
170 Macrobius, Satumalia l, 11 , 8, zitiert oben, Seite 140, Anm. 96. Diese Stelle ist auch in Giehlows hinterlassenen Notizen angemerkt.
47, Der Kupferstich •Mclcnco lia !, Der neue Sinn der •Melencolia l• 473

Einheit alle Arbeitssymbole sowohl als Geometrie- wie als Mclancho- Holzschnitt bildet das Titelblatt eines Buchs über Befestigungen und
liesymbole gefaßt werden, weil eben Saturn beide in ihrer Ganzheit sollte daher die Kunst des »castra moliri« und »loca tuta circumfo-
beherrscht. dere« verherrlichen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, wußte der Künst-
Es macht natürlich einen gewaltigen Unterschied, ob auf einem der ler jedoch keinen besseren Weg als den, den Gehalt des Dürerschen
Saturnkindcrblätter neben Bauern, Krüppeln und Verbrechern gele- Melancholiestichs auf eine allgemeinverständliche Formel zu bringen,
gentlich auch ein Melancholiker oder ein Geometer erscheint oder ob, die Komprimierung und Erweiterung zugleich bedeutete. Sein Bild,
wie bei Dürer, die Dreiheit Saturn, Melancholie und Geometrie zu das auf Seite 4 des Textes ausdrücklich als »Melankolya« bezeichnet
einer einheitlichen symbol ischen Gestalt zusammengefaßt ist. Aber wird, versammelt die Werkzeuge des Dürerstichs (unter Fordassung
einmal vollzogen, hat diese Synthese die weitere Entwicklung in ei- von Schleifstein, Block, Leiter, magischem Quadrat, Waage und
nem außergewöhnlichen Maße beeinflußt und ihre Kraft sogar dort Stundenglas, aber unter Hinzufügung eines Schlegels und einer Löt-
bewahrt, wo sie, formal betrachtet, wieder auseinanderbricht. Abge- lampe )'80 auf einer kannelierten Plinthe, die wahrscheinlich die »loca
sehen von den unmittelbaren Nachahmungen und Weiterbildungen, tuta« darstellt; und auf einer im Zentrum plazierten Kugel sitzt eine
von denen erst später die Rede sein soll, •n und abgesehen von der kleine geflügelte Gestalt, die sich bei näherem Hinsehen als eine Syn-
Wirkung, die der aus der Verschmelzung von Artes-Bild und Tempe- these der Melencolia mit ihrem Putto erweist, wobei sie von letzterem
ramentsbild hervorgegangene Kupferstich seinerseits auf Darstellun- die Stellung und den kindlichen Anstrich, von ersterer die Denker-
gen der Künste ausübte, ' 76 ist selbst da, wo ein unmittelbarer Einfluß geste, das Buch und den Zirkel hat. Die Kugel aber trägt das Saturn-
Dürers sich nicht nachweisen läßt, das Weiterwirken seines Gedan- zeichen, und über allem braust, aufs genaueste der r 53 1 erschienenen
kens zu spüren, z.B. in den kläglichen Holzschnitten eines textlich Planetenkinderfolge des Georg Pencz (ehemals Hans Sebald Beham
wie illustrativ gänzlich unoriginellen Kompendiums der Salernitani - zugeschrieben) entlehnt, der alte Kinderfresser selbst auf seinem Dra-
schen Gesundheitsregeln, die den Melancholiker am Reißbrett des chenwagen einher. Darunter befindet sich eine Tafel, deren Inschrift
Geometers zeigen (Abb. 2, Seite 5 50).' 77 In bemerkenswerter Weise die Beziehung des Bildes zu Saturn noch stärker betonen soll:
aber wird Dürers Ineinssetzung der Vorstellungen Melancholie, Sa- Grandaeuus ego sum tardus ccu primus in Orbe
turn und »Artes Geometricae« ' 78 bestätigt und veranschaulicht durch omnia consternens quae jam mihi fata dedere
einen großen Holzschnitt, der von dem hessischen Maler Hans Dö- falce mea, ne nunc in me Mavortius heros
ring entworfen und 153 5 veröffentlicht wurde (Tafel 112). '79 Dieser bella cict: loca tuta meis haec artibus ums
circumfossa iacent, sed tu qui castra moliris
175 Siehe auch unten, Seite 523 ff. (Text). valle sub angusta circundare. Respice, quaeso,
176 Cf. die Sieben Freien Künste des Virgil Solis, B 183-189, oder des H.S.Be· ordine quo posset fieri; puer ille docebit:
ham, B 121-127. Eine Radierung Christoff Murers (cf. E. Panofsky, Hercule, hoc beo quos genui ingenio, hac uirtutc ualebunt.*
am Scheidewege, Studien der Bibliothek Warburg, Bd. XVIII, Leipzig 1930
Tafel 46, p. 101) zeigt, daß selbst die •Vinus• einer Herkulesentscheiduni Stadt 1919, pp. 14/f., mit Abbildungen und unter Hinweis auf die Beziehung
von Dürers Melancholie beeinflußt werden konnte. zur Melencolia I sowie zu Behams Saturnholzschnitt; zur Zuschreibung die-
177 De conservanda bona valetudine (zitiert oben, Seite 426, Anm. 66) fol. 120' ir ses Werks (Pauli 904) an G. Pencz cf. H. Röttinger, Die Holzschnitte dei
der Ausgabe von 1551; fol. 121' in der Ausgabe von 1553; fol. 137' in de, Georg Pencz, Leipzig 1914, pp. 14 ff.
1 8° Die von Ehlers angeführte Boraxbüchse haben wir nicht zu erkennen ver-
Ausgabe von 1 554.
, 78 Über die Temperamentenfolgen des Jacob I. de Gheyn und des Manen vac mocht, ebensowenig das Plumbum-Zeichen in dem aus dem Schmelztiegel
Heemskerck, in denen diese lneinssetzung ebenfalls deutlich hervortritt, aufsteigenden Rauch.
siehe unten, Text, Seite 552 ff.: Tafel 147-149. • •Nunmehr uralt, bin ich träge sowie der vorzüglichste im Weltall,/ und wa,
179 Cf. E. Ehlers, Hans Döring, ein hessischer Maler des 16.Jahrhunderts, Darm· mir das Schicksal bisher auch alles brachte, mache ich nieder / mit meiner
474 Der Kupferstich •Melencolia !« Der neue Sinn der • Melencolia ! « 471

Martin Luther hat einmal gesagt: .Die Artzney macht Krancke, die zuge schrieben hatten. Raimundus war jedoch mit Aristoteles vertraut
Mathematic trawrige, und die Theology Sündhaffte Leut.« 181 Zumin- und begnügte sich nicht damit, die astrologischen Prädikate - an
dest was die Mathematik betrifft, enthält dieses Epigramm den An - deren Richtigkeit er keinen Augenblick zweifelte - anzuführen, son-
satz einer ernsthaften und gut überlieferten Psychologie, denn wäh- dern unternahm es, sie bis in alle Einzelheiten naturwissenschaftlich
rend Luthers Spott gegen die beiden anderen Wissenschaften sich mit zu begründen. So schreibt er die Neigung der Saturnkinder für »spe-
der Feststellung begnügt, daß sie genau das Gegenteil von dem errei- cies fantasticas et matematicas• - ebenso wie ihr gutes Gedächtnis -
chen, was sie erstreben, heißt es von der Mathematik nicht, wie man zum einen der Tatsache zu, daß das Wasser eine eindrucksfähige und
nach diesem Schema erwarten sollte, daß sie die Menschen dumm die Erde eine dichte Materie sei, die die empfangenen Eindrücke lange
mache oder verwirre, sondern daß sie sie traurig mache. Diese er- bewahre, ' 8J zum anderen aber der ganz besonderen Entsprechung
staunliche Behauptung läßt sich aus der Existenz einer Theorie erklä- (»concordia•) zwischen der Melancholie und der Einbildungskraft.
ren, die die Mathematik mit der Melancholie in Verbindung brachte - Sie [die Saturnkinder J empfangen starke Eindrücke von ihrer Einbildungs-
nicht ein astrologisch eingekleideter Mythos, sondern eine erkennt- kraft, die mit der Melancholie eine größere Verwandtschaft hat als mit irgend
nistheoretisch begründete Psychologie. Die Hauptvertreter dieser einer anderen Komplexion. Und der Grund, aus dem die Melancholie eine
These sind die beiden großen Scholastiker Raimundus Lullus und größere Ent sprechung und Verwandtschaft mit der Einbildungskraft hat als
Heinrich von Gent. irgend eine andere Komplexion, besteht darin, daß sich die Einbildungskraft
Raimundus Lullus entnahm in seinem Tractatus novus de astronomia auf die Maße, Linien, Figuren und Farben bezieht, ••• die besser in Wasser
(1297)182sein Wissen arabischen Kompendien, weshalb Saturn - zu- und Erde haften, da jene Elemente eine dichtere Substanz besitzen als Feuer
und Luft .' 85
gleich erdhafter und wäßriger Natur - grundsätzlich bösartig ist und
seinen Kindern eine auf ihrer schweren Komplexion beruhende Me- Durch einen ganz anderen Geist und ein viel tieferes Denken zeichnet
lancholie verleiht. Andererseits aber gibt er ihnen ein gutes Gedächt- sich einer der größten Denker des 13.Jahrhunderts, Heinrich von
nis, festes Beharren auf ihren Grundsätzen, tiefes Wissen und die Gent, aus. Auch er geht von der (letztlich auf die Nikomachische
Bereitschaft, große Bauwerke aufzuführen - kurzum, alles das, was Ethik zurückführenden) Voraussetzung einer wesensmäßigen Ver-
Abu Ma'sar und die anderen Astrologen seines Schlages dem Saturn wandtschaft zwischen Melancholie und Einbildungskraft aus. ' 81

Sichel. Damit nun nicht ein Kriegsheld/Krieg gegen mich beginnt, liegen 183 •Et habent bonam mcmoriam, quia aqua est restrict!va, avara, et impressiva
diese Onc durch meine Kunst / mit Wall und Graben umgeben sicher. Du et species fantasticas diligunt et matematicas. Et terra est subiectum spissum
aber nun, der du dich anschickst, / die Fesrung tief unten im engen Tal zu in quo durat et pressio specierum, que memorate fuerant•; cf. hierzu der
umwallen, achte bitte darauf, / nach welchem Plan dies geschehen kann. oben zitierten Passus aus Albertus Magnus sowie die andere Lullus-Stelle
Dieser Knabe wird es dich lehren. / Denn die ich gezeugt, beglücke ich mit zitiert oben, Seite 128, Anm. 6.
meiner Erfindungskunst. Kraft dieser Fähigkeit werden sie stark sein.• 184 e r. die oben, Seite 207 ff. zitierten Aussagen des Abü Ma'sar und des Akabi-
181 Zitiert bei W.Ahrens, •Das magische Quadrat«, Zeitschrift für bildende tius.
185 •Et a longo accipiunt per ymaginacionem, que cum melancolia maioren,
Kunst, N.F., XXVI (1915), p.301. Auch b~i Vasari (cf. unten, Seite 538,
Text) heißt es, daß die Instrumente, die auf Dürers Melancholiestich dargc· habet concordiam quam cum alia compleccione. Et ratio quare melancolii
stellt seien, •riducono l'uomo e chiunque gli adopera, a essere malinconico•. maiorem habet proporcionem et concordiam cum ymaginacione quam ali,
182 elm. 10544; das Saturnkapitel fol. 291' ff. er. dazu H,stoire litteraire de la compleccio, est quia ymaginacio considcrat mensuras, lineas et figuras e1
France, Bd. XXIX, Paris 1885,p. 309; L. Thorndike, A History of Magie and colores, que mclius cum aqua et terra imprimi possunt, quoniam haben,
Experimental Science, Bd.11, London 1923,p. 868, und Dictionnaire de theo· materiam magis spissam quam ignis et aer.•
186 Nikomach ische Ethik 11506 25; und insbes. Problem XI, 38; beides zitier1
logie catholique, Bd. IX, 1926-1927,col. 1107.Es gibt eine katalanische Über·
setzung in einem Fragment in Brit. Library Add. MS 16434, fol. 8' ff. oben, Seite 82 f. (Text).
...
476 Der Kupferstich •Mclencolia I« Der neue Sinn der •Melencolia !« 477

Doch während Lullus, in astrologischen Begriffen denkend und d) Kunst und Brauch
die Melancholie im Sinn der Komplexionslehre deutend, nach dem
Einfluß einer bestimmten Humoralbeschaffenheit auf das Erkennt- Für Dürer wie für sein Zeitalter ist die Geometrie die Wissenschaft
nisvermögen fragt, fragt Heinrich von Gent, aus einem rein philo- par excellence.' 88 Wie einer seiner Freunde, wohl Pirckheimer,
gesagt
sophischen Ansatz argumentierend und die Melancholie als eine hat, daß »die Maß« bei Gott selbst so hoch geachtet sei, daß er »alle
Verdüsterung des Geistes fassend, nach dem Einfluß einer bestimm- Geschopft in Zahl, Gewicht und Maß beschaffen hab«,' 89 so hat
ten Situation der Erkenntniskräfte auf das Gemütsleben. Jener fragt,
warum die Melancholiker (im Sinne der Komplexionslehre) beson- Metaphysicae: in quibus virtus imaginativa dominatur super virtutem cogni-
tivam. Et ideo, ut dicit, videmus istos non credere demonstrationibus, nisi
ders imaginative und daher zur Mathematik prädestinierte Menschen imaginatio concomitet eas. Non enim possunt credere plenum non esse aut
sind. Dieser fragt hingegen, warum die besonders imaginativen und vacuum aut tempus extra mundum. Neque possunt credere hie esse entia non
daher zur Mathematik neigenden Menschen melancholisch werden; corporea, neque in loco neque in tempore. Primum non possunt credere,
und er findet die Antwort zu dieser Frage darin, daß eine überwie- quod imaginatio eorum non stat in quantitate finita; et ideo mathematicae
gend imaginative V,eranlagung zwar zu einer ausgezeichneten Befähi- imaginationes et quod cst extra coelum videntur eis infinita. Secundum non
p0ssunt credere, quia intellectus eorum non potest transcendere imaginatio-
gung zur Mathematik führe, zugleich aber das Verständnis für meta - nem ... et non stat nisi super magnitudinem aut habens situm et positionem
physische Spekulationen unmöglich mache. Diese geistige Beschrän- in magnitudine. Proptcr quod, sicut non possunt credere nec concipere extra
kung und das daraus resultierende Gefühl, von Mauern umgeben und naturam universi, hoc est extra mundum, nihil esse (ncque locum neque
eingeschlossen zu sein, macht derartig veranlagte Menschen zu Me- tempus, neque plenum neque vacuum) ... sie non possunt credere neque
lancholikern. Es gibt nach Heinrich von Gent zwei Arten von Men - concipere hie (hoc est inter res et de numero rerum universi, quae sunt in
universo) esse aliqua incorporea, quae in sua natura et csscntia carerent omni
schen, die sich durch Art und Leistungsgrenze ihrer Erkenntniskraft ratione magnirudinis et sirus sive positionis in magnitudine. Sed quicquid
unterscheiden. Die einen haben eine Anlage zur metaphysischen Spe- cogitant, quantum est aut situm habens in quanto (ut punctus). Unde tales
kulation; ihr Denken wird nicht von der Einbildungskraft beherrscht . melancholicisunt, et optimi fiunt mathematici, sed pessimi metaphysici, quia
Die anderen aber können eine Vorstellung nur denken, wenn die non possunr inrelligentiam suam extendere ultra situm et magnitudinem, in
Einbildungskraft dieses Denken begleitet, wenn das Vorgestellte quibus fundantur mathematicalia.• Der Commentator super secundum Meta-
physicae (Bd.11, A t1,.nnwv, Kap. III) ist natürlich Averroes, der in der Tat
räumlich veranschaulicht werden kann. Sie sind nicht in der Lage zu wördich von denen spricht, •in quibus virtus imaginativa dominatur super
begreifen, daß es jenseits der Welt weder Ort noch Zeit gibt, noch virtutem cogitativam, et ideo videmus istos non credere demonstrationibus,
können sie glauben, daß es innerhalb der Welt Wesen ohne Körper nisi imaginatio concomitet eas, non enim possunt credere• usw. bis •incorpo -
gibt, Wesen, die weder in Raum noch in Zeit existieren: rea• (Bd. VIII, fol. 17' der kommentierten Aristoteles-Ausgabe, Venedig
1552). Bei Averrocs bezieht sich diese Aussage jedoch gar nicht auf die
Ihr Intellekt kann sich nicht von den Gesetzen ihrer Anschauung befreien .. . Mathematiker, sondern auf eine mehr poetische Spielart des imaginativen
was immer sie denken, es muß Ausdehnung besitzen oder, wie der geometri- Typus, nämlich auf solche, die •quaerun t testimonium Versificatoris«,bevor
sche Punkt, einen Ort im Raum einnehmen. Daher sind solche Leute melan- sie irgend etwas glauben; und von Melancholie ist nicht die Rede (abgesehen
cholisch und werden die besten Mathematiker, aber die schlechtesten Meta· von der Aussage, einige würden traurig über einen »sermo perscrutatus«,
weil sie ihn nicht behalten und verarbeiten könnten). Das Wesentliche des
physiker; denn sie können ihren Geist nicht über die räumliche Vorstellung
Gedankens in diesem Passus ist also als geistigesEigentum des Heinrich von
erheben, auf der die Mathematik beruht. ' 87 Gent zu betrachten.
i88 Es ist bezeichnend, daß auch der Künstler sich jetzt gern mit dem Zirkel in
187 Henricus de Gandavo, Quodlibeta, Paris 1518, fol. XXXIV' (Quodl. II, der Hand porträtiert; cf. A. Altdorf er, in Gazette des Beaux-Arts LIII, 1
Quaest. 9): •Qui ergo non possunt angelum intelligere secundum rationem (1911), p. 113.
1 89 LF, Nachlass, p. 285, 9.
substantiae suae, ... sunt illi, de quibus dicit Commentator super secundum
..
478 Der Kupferstich •Melencolia l, Der neue Sinn der ,Me lencolia !« 479

Dürer, in bewußter Anlehnung an das gleiche - platonisierende - schrieben: »U nd will aus Maß, Zahl und Gewicht mein Fürnehmen
Bibelwort (Sap. Sa!. XI, 21), ' 90 von sich selber den stolzen Satz ge- anfohen.«' 9 '
Das »Fürnehmen•, von dem hier die Rede ist, war Dürers Buch über
190 .Omn ia in mensura, et numcro, et pondere disposuisti.• Platonische Paralle-
Malerei, und die Summe dessen, was aus Maß, Zahl und Gewicht
len in Staat 602 E und insbes. Philebos 55 E: olov naowv no\J nxvwv /'xvu;
aQL9µl]nxriv XtoQ(l;n xal µEtQLxrtvxat ota·nx11v, w; Eno; €iJrniv <paü>.ov begründet werden soll, ist das, was Dürer als »Kunst• in ihrer wich-
to XatOAELn6~ov haotl]; äv y(yvmto. Als lllustration der berühmten tigsten Bedeutung bezeichnet, die »recta ratio faciendorum operum•,
Bibelstelle wird im Mittelalter Gottvater sehr oft als zirkelführender Wel- wie Philipp Melanchthon, frei nach Thomas von Aquin, den Begriff
1: tenbaumeister dargestellt. Dieser Typus ist in symbolisch verkürzter Form der Kunst definiert hat. '9 ' Nach der Rückkehr von seiner zweiten
im Eadwi-Evangeliar im angelsächsischen Stil (Hannover, Kestner-Museum,
1,111 Reise nach Italien hat sich Dürer bemüht, den deutschen Künstlern
Anfang 11.Jahrhundert, unsere Tafel 109; cf. H. Graeven, in Zeitschrift des
historischen Vereins für Niedersachsen, 1901, p. 294, wo jedoch der Zirkel diese »ratio«, d. h. die Kunst der Messung, der Perspektive und der-
nicht als solcher erkannt ist) bereits vorbereitet; er begegnet nur wenig später gleichen zu vermitteln; denn er betrachtet sie als das, woran es deut-
und in sehr ähnlicher Ausprägung in eben diesem Kunstkreis als kosmologi- schen Künstlern bisher gemangelt habe' 91 und was doch allein dazu
sche Ganzfigur ~London, Brit. Library, MS Cotton Tibcrius C. VI, fol. 7, befähigen könne, »Falschheit« aus dem Kunstwerk zu vertreiben.
unsere Tafel 111). Weitere Darstellungen Gottvaters mit Zirkel und Waage
Nur sie gibt den Künstlern die Herrschaft über die Natur und über
sind folgende: 1.) Englischer Psalter um 1200, Paris, Bibi. Na1., MS lat. 8846
(als italienisch abgebildet bei A.-N. Didron, Iconographie chretienne: histoire ihr eigenes Werk. Nur sie erlöst sie von dem »Ohngefähr«, nur sie
de Dieu, Paris 1843, p. 6oo); 2.) Montpellier, Bibliocheque de l'Un iversit e MS verleiht ihnen, nächst der göttlichen Gnade , jene Unbedingtheit des
298, fol. 300 (unveröffentlicht; den Hinweis auf diese Miniatur verdanken künstlerischen Vermögens, die Dürer »Gewalt« nennt. »ltem der an-
wir Dr. Hans Swarzenski); 3.) Piero di Puccios Fresko im Campo Santo zu der Theil seit, wie der Knab mit Gottsforcht und Behutsamkeit aufer-
Pisa (abgebildet bei L. Baillet, in Fondation Eugene Piot, Monuments et Me-
zogen soll werden, dodurch daß er Gnod erlang, domit er in verstän-
moires XIX, 1911, p. 147, mit einem Sonett, das die Stelle aus Sap. Sa/. XI, 21
wörtlich zitiert); 4.) (hier ist Gottvater durch eine Personifikation des Kos- diger Kunst erstark, gewaltig werd.«' 94 So heißt es in dem ersten,
mos ersetze!) Titelholzschnitt zu den in Brescia 1493 und Venedig 1496 umfassenden Programm des Malerbuchs, das Dürer schrieb, als er
erschienenen Ausgaben der Philosophia naturalis des Albertus Magnus noch gar nicht ahnen konnte, wie dieses Buch im Laufe der Jahre auf
(Prince d'Essling, Les livres afigures venitiens, Bd. II, Teil 1, Florenz 1908, zwei im engsten Sinne mathematische Traktate zusammenschrump-
p. 291). Weit häufiger begegnet der Typus des die Welt abzirkelnden Gottva-
fen sollte. Nie ist er müde geworden zu predigen, daß jene schöpferi-
ters ohne Waage, und dies ist typisch und anscheinend entstanden im Kreis
der ,Bib le moralisee«: A. de Labordc, Etude sur la Bible moralisee illuscree,
sche »Gewalt«, die ihm den Inbegriff des Künstlertums bedeutet, an
Paris 1911-1927, unsere Tafel 115, nach Labordes Tafel I; ferner A.de La- den Besitz der »Kunst•, d. h. der letztlich mathematisch fundierten
borde, Les manuscrits i, pe,:ntures de la Cite de Dieu, Paris 1909, Tafel VI; Kenntnis, geknüpft sei.
H. Martin, La miniature fran,;aisc du 13' au 15' siede, Paris 1923, Tafel 34
Aber so du wo! messen hast gelernt . . . als dann ist nit allweg Not, ein jedlich
und 74; G. Richert, Mittelalterliche Malerei in Spanien, Berlin 1925, Tafel 40;
London, Royal MS 19. D. lll, fol.3 (datierbar 1411-1412), abgebildet bei Ding allweg zu messen, dann dein ubcrkummne Kunst macht dir ein gute
E. G. Miliar, Souvenir de l'exposition de manuscrits franfais a peintu,res .. .,
Paris 1933, Tafel 43; Den Haag, Kgl. Bibi., MS 78 D. 43, fol. 3; Paris, Bibi. Psalter, ed. E. De Wald, Princecon 1930, fol. 9', 17', 166', ferner mit kosmo -
Ste-Genevieve, MS 1028, fol. 14, reproduziert in Bulletin de 1asociete fran- logischer Bedeutung auf einem anscheinend unveröffentlichten Weihwasser-
,;aisede reproductions de manuscrits i, peintures, Bd.V(1921), Tafel XXXVII; becken im Musee lapidaire in Bordeaux.
Brüssel, MS 9004, fol. 1; Paris, Arsenal 647, fol. 77; Paris, Bibi. Nat., MS 191 LF, Nachlass, p.316, 24.
fr. 247, fol. 1 (P. Durrieu, Les antiqi,ites j udaiques .. ., Paris 1907, Tafel I); 1 92 Zu diesem Kunstbegriff cf. E. Panof sky, Dürers Kunsttheorie, Berlin 1915,

,1: und sogar in Einblattholzschnitten wie dem in P. Heitz, Einblattdrucke des pp. 166 ff., und denselben in Jahrbuch für Kunstwissensch~ft, 1926, pp. 190 ff_
1: 15.Jahrhi,nderts, Bd. XL, Nr. 24. Gott oder Gotteshand mit Waage, aber 193 LF, Nachlass, p. 181, 1 und insbes. pp. 207, 35 ff.
ohne Zirkel als reines Gerechtigkeitssymbol erscheint z .B. im Stuttgarter 194 LF, Nachlass, p. 282, , 3.
48c Der Kupferstich •Mdencoli a I, Der neue Sinn der •Melencolia l• 481

Augenmaß, alsdann ist die geübt Hand gehorsam. Dann so vertrei bt dci ein Lohn, den man vor vielen hundert Jahren den großen Meistern
Gewalt der Kunst den Irrthum von deinem Werk und wehret dir die Falsch- der Vergangenheit bereitwillig gewährte und den auch Künstler seiner
hei t zu machen ... Und du rch Solichs erscheint dein Werk künstlich, lieblich, eigenen Zeit erwarten und im Notfall fordern dürfen:
gewaltig, frei und gut, wirdet löblich von Männiglich, dann die Gerechti gkei1
Dann sie [die mächtigen Könige] haben die fürtrefflichen Künstner reich
ist mit eingemischt. ' 9l
gemache und wirdig gehalten. Dann sie bedaucht, daß die hochverständigen
»Gewalt« also ist für Dürer das Ziel und der Inbegriff des küns tleri- ein Geleichheit w Gott hätten. ' 96 ••• ltem der ander Thcil seit, wie ihm ein
schen Gestalt ungsvermögens; und damit gewinnt jener beiläufig er- sölichcr überschwänglicher Künstner sein Küns t theuer söll lassen zahlen,
scheinende Satz »Schlüssel bedeutt Gewalt• einen neuen, tieferen und kein Geld ist wviel dorfür, och ist es göttlich und recht. '97
Sinn . Wenn, wie wir gesehen haben, die Melancholie der Melencolia J Dürer hat also »Gewalt« wie »Reichtum« in einem spezifisch berufl i-
keine gewöhnliche Melancholie ist, sondern eine Geometrie-Me lan- chen Sinn ve.rstanden, und in einem Sinn, der untrennba r mit dem
cholie, eine »Melancholia artificialis•, ist dann nicht vielleicht auch Begriff der Kunst und damit der mathematischen Schulung zusam-
die ihr zugeschriebene »Gewalt« nicht die gewöhnliche Gewalt des menhängt; für den wahren Künstler, d. h. denjenigen, dessen Werk
saturninischen Menschen, sondern jene besondere Gewalt des Künst- auf einer bewußten Eins icht in die theore tischen Grundlagen seines
lers, die in der »recta ratio faciendoru m operum• begründet ist ? 1s1 Schaffens basiert, ist Gewa lt ein Ziel und Reichtum ein rechtmäßiger
die Melencolia nicht selbst ein Genius der Kunst? Das dürfte wohl Anspruch.
der Fall sein, denn es ist im Grunde sehr unwahrscheinl ich, daß D ürer Freilich war die auf Maß, Gewicht und Zah l beruhende Kunst, wie sie
einem Wesen, das eindeutig als eine Personifikation der Geome trie Dürers Melencolia verkörpert, für Dürer doch nur eine Vorausset-
auszumachen ist, »Gewalt« im Sinne politischer Macht oder persö nli- zung der künstlerischen Leistung, nur e i ne Vorbedingung der
chen Einflusses habe zusprechen wollen. Und zu dieser Auffass ung künstlerischen Gewalt. So hoch er, ganz dem Renaissancede nken ver-
sind wir um so mehr berechtigt, als D ürer gewohnt war, auch den pflichtet, die »ratio« bewertete, so erwies er sich nicht minder als
Reichtum - symbolisiert durch den Beutel, das scheinbar noch »ne- Renaissancemensch, wenn er versicherte, daß alle theoretische Ein-
bensächlichere« Attribut des saturnischen Melancholikers - m it dem sicht nichts nutze ohne die Beherrschung der Technik, aller »rechte
Begriff des künstlerischen Schaffens in Verbindung zu br ingen. Denn Grund« nichts ohne die »Freihe it der Hand•, alle »verständige
wie der Besitz der »Gewalt« das ideale Ziel des hervorrage nden Kunst« nichts ohne den »täglichen Brauch«. »Diese zwei müssen bei
Künstlers ist, so ist der Reichtum sein legitimer, gottgefälliger Lohn - einander sein«,'9 8 sagt Dürer in einer Vorstudie seiner Proportions -
lehre; denn obwohl D ürer wie jeder Renaissanccdenker (man denke
1 91 LF, Nachlass, p. 230, 17 (cf. auch den oben zi1iercen Sat2. von p. 228, 25 und nur an Leonardo da Vincis Ausspruc h »la scientia c il capitano e la
Vorentwürfe sowie pp. 218, 22 und 356, 20). Aus diesen und anderen Stellen
pratica sono i soldati«)'99 die Kunst als das höchste und leitende
geht hervor, daß die Ausdrücke •Gewalt•, gewaltig«, •gewaltsam« (in det
la1einischen Übcrset2.ung des J.Camerarius gemeinhin als •ingenium•, •po· Prinzip des schöpferischen Vorgangs ansah - weshalb ihm der
tentia«, •peritus« überset2.t) 2.uden die rationalen Momente des Kunstschaf• •Brauch ohne Kunst• als eine Verführung und als ein Gefängnis er-
fens betonenden Begriffen •Verstand«, •rechter Grund«, •Kunst• usw. nichl schien -, mußte er doch anerkennen, daß das, was er unter Kunst
in Gegensatz stehen, sondern sie einschließen. In der Übersetzung von Lf,
Nachlass, p. 221, 8, wird das •gewaltsame Künstler« durch •potentes intel· 196 LF, Nachlass, pp. 295, 9 und 297, 19.
1 97 LF, Nachlass, p. 283, 4; cf. auch p. 285, 5.
lectu et manu• wiedergegeben. Die abgeleitete Form •gewaltiglich• (Lf,
198 LF, Nachlass, p. 230, 5; cf. auch p. 231, 3.
Nachlass, p. 180, 16) dagegen, der, eben weil sie abgeleitet ist, etwas Surrogat·
199 C. Ravaisson-Mollien, Les manuscrits de Uonard de Vinci, Paris 1881, MS J.
mäßiges anhaftet, steht 2.udem Begriff der •Besonnenheit• und der .rec hten
Kunst• in Widerspruch: •Gewaltiglich aber unbedächtlich« lautet in det fol. 130'. Cf. auch J. P. Richter, The literary Works of Leonardo da Vinci,
lateinischen Überset2.ung •prompte (nicht •perite• ], sed inconsiderate• . London 1883, § 19.
482 Der Kupferstich ,Melencolia 1, !)er neue Sinn der • Mclencolia 1« 483

versteht, •verborgen bleibt ohn den Gebrauch«,' 00 daß Theor ie und Der vortreffliche Radierer und Kupferstecher Alexander Friedrich
Praxis zusammengehen müssen, •also daß die Hand künn thon, was bezeugt uns, daß diese Deutung keine Willkür ist 10 •; denn er macht
der Will im Verstand haben will«. ' 0 ' Wenn nun die Gesta lt der Me- deutlich, daß das von Dürers Putto so eifrig und gedankenlos gehand-
lenco lia die Gewalt erzeugende Kunst bedeutet, so stellt sich die habte Schreibinstrument in Wahrheit des Künstlers eigenes, spezifi-
Frage, ob denn nicht vielleicht auch ihr ungeistiges Gegenbi ld, der sches Arbeitswerkzeug ist, nämlich ein Stichel mit seinem bezeich-
Gewalt offenbarende Brauch, auf Dürers Kupferstich zu seinem nenden Griff und seiner zum Einlegen des dünnen Stahl-Vierkants
Recht gekommen ist? bestimmten Nute, der hier allerdings auf höchst unpassende Weise
Es scheint sich in der Tat so zu verhalten. Denn wenn uns schon die verwendet wird. Sodann gilt es zu berücksichtigen, daß der von uns
reine Anschauung dazu zwang, den schreibenden Putto als eine Kon- in Dürers Stich beobachtete Zusammenhang zwischen Theorie und
trastfigur zur Melencolia zu interpretieren, so dürfen wir jetzt diesen Praxis und ideellem und materiellem Erfolg auch in anderen symbo-
Kontrast gewissermaßen benennen und vermuten, daß das Kind den lisch-programmatischen Darstellungen des künstlerischen Schaffens
»Brauch« bedeutet. Das Kind sitzt fast in derselben Haltung da wie
H. Wölfflins bekehrt, derzufolge der Putto kein .Denker im Kleinen « ist,
die Frau, verkehrt dabei aber - in fase·parodistischer Manier - jeden
sondern • ein Kind, das Kritz e macht« (Die Kunst Albrecht Dürers, 5. Aun.,
Zug ihrer Erscheinung ins Gegenteil: den Blick nicht zie llos in die München 1916, p . 156). Es ist auch in dieser Hinsicht wichtig, daß Dürer der
Höhe gerichtet, sondern gespannt auf die Tafel fixiert, die Hände Tätigkeit des Putto durch die Vertauschung der mathematischen Instrumente
nicht müßig oder geballt, sondern emsig beschäftigt. Der Putto (eben- mit der Schreibtafel einen noch spezifischer kindlichen Anstrich gab. Das
falls geflügelt, aber dennoch nur ein kleiner Famulus, der der Kraft ursprünglich vorgesehene Motiv hätte, wie in dem Stich des Meisters •A. C.«
(Tafel 119), mehr als Parallele denn als Kontrast gewirkt. Tatsächlich gibt es
des Geistes nur die Tätigkeit der Hände gegenüberzustellen hat)
Beispiel e dafür, daß ein mit mathematischen Instrumenten beschäftigter
dürfte ebenso ein Sinnbild des gedankenlosen Tuns sein, wie die Me- Putto geradezu das Gegenteil des bloßen •Usus « bedeuten kann; cf. z.B. den
lencolia selbst ein Sinnbild des tatlosen Denkens ist. Er hat keinen H olzschnitt Hans Dörings (Seite 472 und Tafel 112) sowie einen Stich in
Antei l an geistigem Schöpfertum, aber er hat auch keinen Anteil an Joachim Sandrarts Teutsche Akademie (Neuausgabe von A. R. Peltzer, Mün-
der mit diesem Schöpferrum verbundenen Qual. Sieht sich die Kunst chen 1915, p. 307), der einen Putto mit Maßstab und Zirkel, umgeben von
anderen mathematischen Geräten, zeigt, mit der Beischrift , Ars • , •Nume-
unüberwind lichen Schranken gegenüber, so nimmt der blinde Brauch
rus• , »Pondus «, »Mcnsura..:. Hans Dörings •puer doccns « stellt insofern eine
keinerlei Begrenzung wahr. Selbst da, wo in der unheilvollsten Stunde Art Gegenprobe zu unserer Deutung des Dürerschen Putto dar, als er
Saturns »Ars• und »Usus « voneinander getrennt sind - und eine zwar aus diesem entwickelt ist, aber statt des T:ifelehens das Buch und den
solche Stunde haben wir in dem Bild vor uns, denn die Hauptfigu r ist Zirkel der Hauptfigur hält und, statt eifrig zu kritzeln, die Denkerpose der
zu sehr in Gedanken versunken, um sich um das Tun des Kindes zu Erwachsenen annimmt. Dürers Putto konnte sich nur dadurch aus einer
Personi fikation des bloßen • Brauches• in ein die »Kunst« verkörperndes
kümmern -,' 0 ' selbst wenn die Kunst von Verzweiflung überwä ltigt
Wesen verwandeln, daß er die Attribute und die Haltung der Melancholie
ist, kann der Brauch immer noch der sinnlosen und unverständigen über nahm. Umgekehrt zeigt eine interessante • Tetradik« von Paul Flindt
Tätigkeit frönen. ' 03 (Quatuor monarchiae, Partes mundi, etc., ed. Paul Flindt, Nürnberg 1611,
Nr. 12) den Gegensatz zwischen • Kunst• und • Brauch « durch zwei Putten,
100 LF, Nachlass, p. 130 , 33. von den en der eifrig mit einem Meißel tätige als •phlegmaticus«, der andere,
201 LF, Nachlass, p. 230, 1.
noc h immer in Anlehnung an Dürer, als • melancholicus « bezeichnet ist (cf.
201 Umgekehrt veranschaulicht Hendrik Goltzius eine glücklich -aktive Verbin- auch unten, Seite 491 f., Anm. 217, und 530, Anm. 16).
20 4 Eine andere Deutung des Putto, die uns freundlicherweise von Herrn
dung zwischen • Ars • und • Usus« in seinem Kupferstich B 111 (abgeb ildet
bei E. Panofsky, in Jahbuch für Kunstwissenschaft, 1926, Tafel 1,), der die Dr. G. F. Hartlaub mitgeteilt wurde, aber unseres Erachtens nicht ganz über •
• Ars• als Lehrerin und Leiterin des •Usus• darstellt. zeugend ist, soll weiter unten im Zusammenhang mit Lukas Cranachs Melan-
103 Wir haben uns nun, wenn auch aus anderen Gründen, zu der Auffassu ng choliedarstellung erörtert werden (siehe unten, Seite 533 ff., Text).

....
484 Der Kupferstich •Mc lcncolia J. Jxr neue Sinn der ,Melencolia I• 485

belegbar ist, wie z.B. in Hendrik Hondius' Titelkupfer zu seiner dius in seinem Optimismus die Erreichbarkeit des Ziels fraglos er-
bekannten Sammlung niederländischer Malerporträts, das man gera- scheint, stellt Dürer mit der Veranschaulichung des unglückseligen
dezu als optimistische Fassung des Dürerschen Bildprogramms auf- Moments, in dem Brauch und Kunst auseinandergeraten sind, die
fassen könnte (Tafel JI 3).' 05 Es zeigt zwei nackte allegorische Figu- Erreichbarkeit und den Lohn des Erfolgs in Frage bzw. verneint sie
ren, von denen die eine, mit Palette, Pinsel und Hcrmesstab, die sogar für den Augenblick. Das ist die wahre Bedeutung eines Bildele-
»Pictura«, die andere, mit mathematischen Geräten, die »Optica. ments, das zunächst anscheinend nur eine gewisse Stimmung vermit-
darstellt. Zwar nicht wie Dürers Melencolia in Schwermut versunken, teln soll, nämlich sowohl dem Beutel als dem Schlüsselbund (,.Reich-
scheinen sich die beiden Frauen jedoch mit der Betrachtung ihrer tum« und »Gewalt«, wie Dürer selbst gesagt hat) den Charakter des
eigenen Vortrefflichkeit zu begnügen, während wir oberhalb von ih- Verwirrten und Vernachlässigten, also des Unbenutzten oder Uner-
nen zwei Putten in eifriger praktischer Tätigkeit erblicken, die den reichbaren zu geben.
•assiduus labor« darstellen.' 06 Die beiden Faktoren des künstleri-
schen Schaffens, die Dürer in ihrer ganzen problematischen Spannung
erfaßt, werden hier in friedlicher Eintracht gezeigt; gleichwohl sind es 3. Der Dokumentsinn der »Melenco lia I«
dieselben Faktoren, und sie stehen zueinander in dem gleichen Subor-
dinationsverhältnis: die (hier in zwei Sonderformen aufgespaltene) Es besteht kein Zweifel, daß der Gedanke des Heinrich von Gent sehr
theoretische Kunst und der praktische, emsig sich betätigende nahe an den Kern der wahren Bedeutung der Melencolia heranführt.
Brauch. Die Analogie geht sogar noch einen Schritt weiter. Denn wie Sieist vor allem eine imaginative Melancholie, deren Denken und Tun
uns Dürer (eine hier ihre Bestätigung findende Deutung) in Gestalt sich innerhalb der Sphäre der räumlich-anschaulichen Vorstellung
von Schlüssel und Beutel das Ziel und den Lohn des künstlerischen vollzieht, von der reinen geometrischen Reflexion bis hin zu Tätigkei-
Strebens vor Augen führte, so zeigt uns auch Hondius in der unteren ten des niederen Handwerks; und wenn irgendwo, so gewinnen wir
Zone des Bildes die »fructus laborum« . freilich gibt es zwei bezeich- hier den Eindruck eines Wesens, dem der ihm zugewiesene Bereich
nende Unterschiede. Was dem Menschen des frühen Barock neben unerträglich beschränkt erscheint - eines Wesens, dessen Denken »an
dem durch Goldmünzen symbolisierten Reichtum als höchstes Ziel eine Grenze gelangt ist«.
der Künstlerschaft erscheint, ist nicht mehr die von Gott verliehene Damit kommen wir zu der letzten, entscheidenden Frage, nämlich
Gewalt, sondern der in der Welt erworbene Ruhm, wie er durch welche Weltanschauung dem Dürerschen Kupferstich mit dieser
Palmzweig und Lorbeerkranz versinnbildlicht und durch die Fama unendlich komplizierten Traditionsgeschichte, dieser Verschmelzung
mit ihrer Trompete noch unterstrichen wird.' 07 Und während Hon-
mit dem Lorbeerkranz der ,Fama• und ausgestattet mit dem Füllhorn der
205 Pictorum aliquot celebrium .. . effigies, erstmals veröffen tlicht in Den Haag ,Abondan~• •: Die Beischrift lautet:
um 1610.
•Door den arbeyt en door de Tceken-const
206 Der dem rechten Putto zugeordnete Kranich bedeutet schon in der Spätan-
Comt menich aen eer en S'princen ionst.•
tike die Wachsamkeit; der Hahn zur Linken (neben dem Putto) die mit der
Wachsamkeit aufs engste verbundene Sorgfalt oder Emsigkeit (cf. z.B. Ce- Ein anderes, ebenso sprechendes Beispiel für die Allegorisierung von Theorie
sare Ripa, lconologia, 1. Aufl., Rom 1 593, s. v. • Vigilanz•• und »Sollecitu- und Praxis ist das Titelkupfer zu der Universa astrosophia naturalis von
dinc•). A. F. de Bonnatti s, Padua 1687: oben thront die siegreiche •Maiestas Reipu-
207 Eine dem Inhalt nach vergleichbare Allegorie findet sich auf dem Titelkupfer blicae Vcnetae«, links ist eine Verkörperung von ,Conte mplatione et Iudi-
zu Varie Figure Academiche ... messe in luce da Pietro de ]ode, Antwerpen cio« in Gestalt einer idealisierten jugendlichen Figur mit Astrolabium und
1639 (Tafel 114). Links ist »Disegno•, ein schöner Jüngling mit Spiegel und Zirkel, rechts eine als Merkur dargestellte Personifikation von ,Ratione et
Zirkel, rechts »Labo re•, ein grabender Arbeiter, darüber • Honor e•, gekrönt Experimento «.
486 Der Kup ferstich •Melencolia 1. Der neue Sinn der •Mele ncolia I« 487

älterer Bildtypen, dieser Verwandlung, ja Verkehrung älterer Aus- hen.Dieser Florentiner, der in solch engem Kontakt zur Renaissance-
drucksformen und dieser Ausarbeitung eines allegorischen Pro- kunst und der mathematisch begründeten Kunsttheorie stand, scheint
gramms zugrunde· liegt - der Frage also nach dem Dokumentsinn •0 8 weder gefühlsmäßig noch intellektuell an dem Wiederaufbau dieser
der Melencolia !. Kultursphäre Anteil genommen zu haben. Seine platonisierende
Das Fundament, auf dem der Dürersche Bildgedanke aufbauen Schönheitslehre hat die von Menschenhand geschaffenen Werke
konnte, wurde selbstverständlich durch die Lehre Ficinos gelegt. Die gänzlich außer acht gelassen, und erst ein Jahrhundert später wurde
Revolution, die aus der »pessima complexio• und der »corruptio diese Metaphysik des Naturschönen in eine Metaphysik der Kunst
animi• wieder die Quelle jeder schöpferischen Leistung und aus dern umgewandelt.' 09 Seine Erkenntnistheorie bezieht kaum die mathema-
»bösesten Planeten• wieder den »iuvans pater• des geistigen Men- tische Erkenntnis ein, und die Diätetik und Morphologie seiner
schen gemacht hatte, war im Florenz der Medici ausgelöst worden. Schrift De vita tripliciist eine Diätetik und Morphologie des literari-
Ohne sie hätte einem nordischen Künstler - bei aller astrologischen schen Genies. Die geistig schöpferischen Menschen, deren Bestrebun-
Entsprechung zwischen Saturn und Geometrie - der Anstoß gefehlt, gen in ihrem Beginn von Merkur behütet und in ihrem Aufstieg von
der nötig war, um die Schranke von Abscheu und Angst, die die Sat urn gelenkt werden, sind für Ficino die »literarum studiosi•, d. h.
»Melancho lia generosa• jahrhundertelang den Blicken entzogen die H umanisten, die Seher und Dichter und natürEch vor allem »die-
hatte, so weit abzubauen, daß das Bild der müßigen Spinnerin durch jenigen, die sich unablässig dem Studium der Philosophie widmen
das der saturnischen Meßkunst ersetzt und jedes überlieferte Krank- und den Geist vom Körper und von körperEchen Dingen abwenden
heitssymptom und jedes Temperamentsattribut in einen seelischen und auf unkörperliche richten«" 0 - mit anderen Worten also weder
Ausdruck und in ein Symbol abstrakter Gedanken verwandelt wer- Mathematiker noch gar ausübende Künstler."' Dementsprechend ist
den konnte. Doch über diesen allgemeinen, man könnte fast sagen in seiner Hierarchie der Geisteskräfte die »vis imaginativa • (das nied-
»atmosphärischen« Zusammenhang hinaus dürfte De vita triplici rigste Vermögen, das durch den •spiritus• unmittelbar an den Körper
kaum einen Einfluß auf die Gestaltung des Stichs gehabt haben. Denn gebunden ist"') nicht Saturn unterstellt. Wie im dritten Buch von De
gerade der Gedanke, der für die Dürersche Konzeption der entschei- vita triplicizu lesen ist, richtet sich die •imaginatio« auf Mars oder Sol
dende ist, nämlich die integrale Durchdringung der Vorstellungen aus, die »ratio« auf Jupiter, und nur die »mens contemplatrilC«, die
Melancholie und Geometrie (im weitesten Sinne), war Ficinos System
109 Siehe unten, Seite 505 ff. (Text).
nicht nur fremd, sondern steht zu ihm geradezu in Widerspruch. 210 Ficino, De vita tripl. 1,4 (Opera, p. 497): • Ma>Iimcvero literatorum Omnium
Ficino hat vielen Aspekten der menschlichen Welt und des Uni- hi atra bile premuntur, qui scdulo philosophiae srudio dediti, mentem a
versums ein lebhaftes Interesse entgegengebracht und sie in sein corporc rcbusque corporeis sevocant, incorporeisque coniungunt.•
Gedankengebäude eingeordnet. Aber gerade eine Sphäre hat er nicht 111 In Buch !, Kap. 2 betont Ficino ausdrücklich und mit großem Stolz den
grundsätzlichen Gegensatz zwischen dem, was er die •Musa rum sacerdotes•
betreten und auch nicht beachtet: die Sphäre der »räum lichen An-
nennt, und allen anderen, auch künstlerischen Berufen: • · .. sollers quilibct
schauung«, aus der sowohl die theoretischen Einsichten der Mathe - artifex instrumenta sua diligeniissime curat, penicillos piccor, malleos incu-
matik als die praktischen Leistungen der manuellen Künste hervorge - desque faber aerarius, miles equos et arma, venator cancs et aves, citharam
citharocdus, et sua quisque similiter. Soli vcro Musaru ·m sacerdotes, soli
208 Cf. zu diesem Begriff K. Mannheim, »Beiträge zur Theorie der Weltanscha u• summi boni veritatisque venatores, tarn negligentes (proh nefas) tamque in-
ungsinterpretarion•, Jahrbuch für Kumtgeschichte (ehemals Jahrbuch der fortunati sunt, u1 instrumentum illud, quo mundum univcrsum mctiri quo-
k. k. Zentralkommissio11) 1 (192 1-22 ), pp. 2 36 ff.; für unsere Zwecke erwies es dammodo et capere possunt, negligere penitus videantur. lnstrumcntum
sich als nötig, den von Mannheim zwischen •Ausdruckssinn• und • Dok u- eiusmodi spirirus ipse est, qui apud medicos vapor quidam sanguinis purus,
mentsinn • eingeschobenen •Abbildsinn« durch den •Bedeutungssinn • zu subtilis et lucidus definirur.•
ersetzen. 212 Siehe oben, Seite 381 ff. (Text).
488 Der Kupferstich ,Melencolia [. Der neue Sinn der . Melencolia I• 489

intuitiv erkennt und diskursives Denken übersteigt, neigt Saturn gerufen." s Wahrend sich jedoch die Theorie Ficinos mit der Tendenz
zu. " 3 Den düster-erhabenen Nimbus, mit dem Ficino das Haupt des des Oürerstichs nicht in Einklang bringen läßt, weil seine Konzeption
saturnischen Melancholikers umgibt, hat daher nichts mit dem »ima- keinen Bezug zum Begriff der Mathematik hat, so läßt sich die Theo-
ginativen« Menschen zu tun; sie, deren vorherrschendes Seelenver- rie Heinrichs von Gent nicht damit in Einklang bringen, weil seine
mögen lediglich ein Gefäß zur Aufnahme solarer oder martialische r Konzeption der Melancholie zu eng mit dem Begriff der Mathematik
Einflüsse ist, gehören seiner Ansicht nach nicht zu den »melancholi- zusammenhängt. Aus Ficinos Sicht wäre die Bezeichnung »Melenco-
schen«, d. h. inspirationsfähigen Geistern. Ein Wesen, dessen Denke n lia« nicht zu rechtfertigen gewesen, weil für ihn die Mathematiker
sich nur in der Sphäre der anschaulichen, meß- und wägbaren Forme n prinzipiell keinen Zugang zur Sphäre der (inspiratorischen) Melan-
bewegt, hätte er nicht in die erlauchte Gesellschaft der Saturnicr auf- cholie hatten. Aus der Sicht Heinrichs von Gent müßte die Ziffer »I«
genommen, und er hätte einem solchen Wesen wohl das Recht be- sinnlos erscheinen, weil für ihn die Nicht-Mathematiker der Sphäre
stritten, sich »Melencolia« zu nennen. der (nicht-inspiratorischen) Melancholie von vornherein enthoben
Gerade umgekehrt verhält es sich mit Heinrich von Gent. Für ihn sind. Für Ficino, der in der Melancholie die höchste Stufe des geisti-
sind nur die imaginativen Wesen und insbesondere die mathemati- gen Lebens erblickt, beginnt sie erst oberhalb des Imaginativen, so
schen Talente Melancholiker, und insofern kommt seine Auffassung daß nur die nicht länger an die Anschauung gebundene Kontempla-
der Dürerschen wesentlich näher. Es ist auch keineswegs unmög- tion den Titel »Melancholie• verdienen würde. Für Heinrich von
lich, daß Dürer mit den Gedanken des Henricus in Berührung ge- Gent, der die Melancholie noch als einen »modus deficiens• auffaßt,
kommen ist, denn kein geringerer als Pico della Mirandola hatte in hört sie oberhalb des Imaginativen schon auf, so daß ein nicht mehr
seiner Apologie diese Ansichten wiederaufleben lassen"• und damit anschauungsgebundenes Denken bereits den Titel »philosophia• oder
vielen anderen, auch deutschen, Humanisten ins Gedächtnis zurück- »theologia• beanspruchen könnte. Wenn ein Künstler jenem Gefühl
des ,An-eine-Grenze-gelangt-Seins,, das die Grundlage der engen
213 Zitat oben, Seite 391 f. (Text). Verwandtschaft zwischen der Melancholievorstellung Heinrichs von
214 Pico della Mirandola, Apologia (Opera, Basel 1572, ßd. l, p. 133): •Qui ergo Gent und der Dürers zu bilden scheint, tatsächlich hätte Ausdruck
non possunt angelum intelligcrc secundum rationem substantiac suae, ul geben wollen, so hätte er sein Bild zwar Melencolia, aber nicht Melen-
unitatem absque raiionc puncti, sunt illi de quibus dicit Commentator super
colia I nennen dürfen.
secundo Metaphysicae, in quibus vinus imaginativa dominatur super virtU·
tem cogitativam, et ideo, ut dicit, videmus istos non credere dcmonstrationi -
bus, nisi imaginario cos comiretur; et quicquid cogitant, quantum est aut Fanno architetti queste creature,
situm habens, in quanto ut punc1us; unde tales melancholici sunt, et opcimi mathematici sono & fanno in terra
fiunt mathematici, sed sunt naturales inepti. Haec Henricus ad vcrbum; ex & altri in ciel lor forme & lor figure.•
quibus sequitur, quod secundum Henricum iste magistcr sit male disposi1us Die Gleichung • Saturnus« = , Imaginatio• wird übrigens auch in einem der
ad studium philosophiae naturalis, peius ad Studium Metaphysicae, pessime Schemata des Bovillus aufgestellt, Liber de sapiente, cap. XI (ed. R. Kliban·
ad Studium Theologiae, quae etiam est de abstractioribus: rclinquitur ergo ei sky, in E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renais-
solum aptitudo ad Mathematica ... • Cf. M. Palmicri, Citta di Vita 1, 12, 48 sance, Leipzig 1927, pp. 326 ff.), doch ist dies eine zu individuelle Konstruk •
(ed. M. Rooke, in Smith College Studies in Modem Languages, Bd. VIII, tion, als daß sie hier erörtert werden könnte: sie besteht aus einer Analogie
Northampton, Mass., 1926- 1927, p. 59), wo es von den in der Samrnweh zwischen den sieben Planeten und den Erkenntnisvermögen, so daß Sol der
auftauchenden Gebäuden und ihren Baumeistern heißt: • Ratio« gleichkommt, während die sechs anderen Planeten je einem Werk•
zeug der • materialis cognitio« entsprechen.
• Tuno quello i, nel mondo ymaginato 21
5 Wir wissen z.B., daß sowohl der Augsburger Conrad Peutinger als der
per numeri o linee o lor facturc Nürnberger Hartmann Schedel ein Exemplar von Picos Apologia in ihren
convien ehe sia da qucsta impression dato. Bibliotheken hatten (E. König, Peutingerstudien, Freiburg i. Br. 1914, p. 65).
490 üer Kupferst ich •Melenc olia I« Der neue Sinn der • Mclencolia I • 491

Wir setzen demnach stillschweige nd voraus, daß das, was z ur Fort- Wie nun aber können wir uns eine solche Graduierung vorstellcn?" 7
führung der mit der Melencolia I begonnenen Reihe" 6 gedanklich Für den Neuplatoniker Ficino stand, wie wir wissen, die inspiratori-
ergänzt werden muß, weder eine Darstellung der drei übri gen Tem- sche Melancholie so hoch, daß er sie in der von der »imaginatio« über
peramente ist, die sich mit jener zu einer Folge der »Vier Ko mplexio- die »ratio« zur »mens contemp latrix• aufsteigenden Hierarchie der
nen« zusammenschließen würde, noch auch ein Kran kheitsbild, das
217 Ursprünglich hatten wir mit Allihn, Thausing und Giehlow angenommen,
der »melancholia naturalis« eine »melanchol ia adus(a« gegenüber- daß Dürers Kupferstich als Anfangsblatt einer Temperamentenfolge gedacht
stellte. Vielmehr handelt es sich um die Veranschaulichung eines gei- gewesen sei. Die Schwierigkeiten, die dieser Annahme entgegenstehen, waren
uns nicht verborgen geblieben, denn wir sahen ein, daß es recht ungewöhn-
stigen Zustands, der innerhalb des Melancholischen eine nächsthö-
lich gewesen wäre, die Reihe mit der Melancholie beginnen zu lassen, und
here Erkenntnisstufe bedeutet: eine Melencolia II, die im Unte rschied daß es für die anderen Temperamente keine vollkommen analogen Bezeich-
zur Melencolia I nicht einen Zustand völliger Umnacht ung, sondern nungen gegeben hätte (cf. Dürers Melencolia /, pp. 68 und 142; ferner
im Gegenteil einen Zustand relativer Befreiung bezeich nen würde. H. Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers, 5. Aufl., München 1926, p. 253);
Darin besteht denn auch die Größe der Dü rerschen Leistung, daß er und wir bemerkten auch, daß die von Dürer abhängigen Künstler, die eine
vollständige Temperamenrenreihe darstellten, der Ordnung halber auf die
die medizinischen Einteilungsprinzipien durch die Anschauu ng über-
Bezeichnung »melancolicus• zurückgriffen und diesen •melancolicus• an die
wand und die Erscheinungen, die durch schematisierte Tempera- dritte oder gar vierte Stelle der Serie setzten (Tafel 1 2 7 und 1 31). Gerard de
ments- und Krankheitsbegriffe aller Lebend igkeit beraubt waren, zu Jode zeigt in seiner von Dürer unabhängigen Temperamentenreihe nach
einer einzigen Gesamtvorstellung zusammengezogen und mit inne- M. de Vos (Tafel 118) einen neuen Weg, den Terminus •M elancholia• den
rem Leben erfüllt hat, daß er die Melancholie des geistigen Menschen übrigen Temperamentsbezeichnungen gleichzuordnen, indem er ihn, in Ana-
logie zum griechischen Sprachgebrauch, als Bezeichnung des konkreten ,Hu-
als eine schicksalhafte Einheit faßte, in der die Untersch iede zw ischen
mor,, d. h. als Äquivalent für »cholera nigra• oder »atra bilis• auffaßte und
melancholischem Temperament, melancholischer Erkranku ng und ihn demgemäß mit »sanguis•, ,cholera« und •phlcgma• in eine Reihe
melancholischer Stimmung aufgehoben und dumpfe Trübs al und brachte; doch steht auch hier die Melancholie nicht an erster, sondern an
schöpferischer Enthusiasmus nur die Extreme ein und derselbe n See· dritter Stelle; cf. unsere Tafel 131. Unter diesen Umständen scheint uns
lenlage sind. Die Schwermut der Melencolia /, die zugleich das dunkle jedoch die andere Ansicht, nach der eine Melencolia II als ein Bild der
Krankheit oder vielmehr des Wahnsinns geplant gewesen sei (H. Wölfflin,
Verhängnis und den dunklen Urgrund des Schöpferischen dar stellt,
Die Kunst Albrecht Dürers, 5. Aufl., München 1926, p. 253, und in Jahrbuch
steht jenseits des Gegensatzes von Gesundheit und Krank heit; und für Kunstwissenschaft, 1923, p. 175; ferner K. Borinski, Die Antike in Poetik
wollten wir ihr Gegenbild entdecken, so müßten wir es in einer und Kunsttheorie, Bd.I, Leipzig 1914, pp. 165 und ' 296ff.), noch weniger
Sphäre suchen, in der ein solcher Gegensatz ebensowenig vor handen einzuleuchten, und wir können uns keine Darstellung der •melancholia ad-
ist - in einer Sphäre also, die innerha lb der •melancholia generosa• usta• denken, die ein Gegenstück zu Dürers Kupferstich, so wie er vorliegt,
bilden könnte. Für eine solche Darstellung hätte es in Anbetracht der allge-
verschiedene Formen und Stufungen zu läßt.
mein bekannten •Vier-Formenlehre« grundsätzlich zwei Möglichkeiten ge-
geben. Entweder es hätten alle vier Unterarten des melancholischen Wahn-
216 Der Widerlegung kaum bedürftig sind Deutungen wie •Melenchol ia, i• sinns, nämlich die Melancholie »ex sanguine•, •ex cholera•, »ex phlegmate•
(•Geh fort, Melancholie!«) oder »Melancolia iacet• (»die Melanchol ie liegt und •ex melancholia naturali•, zu einem Gesamtbild vereinigt werden kön-
am Boden•, so Mitteilungen des Reichsbundes deutscher Technik, 19 19, nen - dann hätte sich eine grausige Sammlung von Irrenhaus-Szenen ergeben,
Nr. 47, 6. Dezember). Neueren Datums, aber ebenso unhaltbar ist die von die mit der Melencolia I weder formal noch gedanklich vereinbar gewesen
E. Büch vertretene Ansicht (in Die medizinische Welt VII, 1933, Nr. 2), daß wäre (in Anhang II, Seite 56o, soll gezeigt werden, daß die oft diskuriene
Dürers Kupferstich aus der seherischen Vorahnung einer Pestepidemie her- Radierung B 70, Tafel 1 p, uns eine Vorstellung davon geben kann, wie eine
vorgegangen sei (obwohl von einer solchen im Jahr 15 14 nichts bekannt is1, solche Sammlung der ,quattuor species melancholiae adustae• etwa ausgese-
zumindest in Nürnberg nicht) und die Ziffer I für das Anfangsstad ium der hen hätte). Oder aber es wäre aus den vier krankhaften Formen die einzig
Erkrankung stehe. wirklich analoge, d. h. die ,melancholia ex melancholia naturali« herausge-
492 Der Kupferstich •Melencolia I, !)er neue Sinn der •Melencolia [. 493

Seelenkräfte nur mit dem höchsten, dem kontemp lativen Geist in Nettesheim, der erste deutsche Denker, der die Lehre der Florentiner
Verbindung brachte. Für Heinrich von Gent dagegen stand die nicht- Akademie in ihrer Ganzheit aufgenommen und seinen humanisti-
inspiratorische Melancholie so tief, daß sie nur mit der untersten schen Freund en nahegebracht hat. Er war gewissermaßen der präde-
Stufe, der Imagination, verbunden werden konnte. Bei Ficino gab es stinierte Vermittler zwischen Ficino und Dür er." 9
für den imaginativen Geist keine Möglichkeit des Aufstiegs zur Me- Trotz seiner Kenntnis aller relevanten Stellen der gedruckten Occulta
lancholie, bei Heinrich von Gent gab es für den melancho lischen philosophia" 0 ist Karl Giehlow dem grundsätzlich Neuen in Agrippas
I' Geist keine Möglichkeit des Aufstiegs über die Imagination hinaus.
Doch wenn nun jemand kühn genug wäre, den Begriff der inspirato-
Theorie nich t ganz gerecht geworden, noch auch hat er die spezifische
Bedeutung für die Erklärung der Ziffer in der M elencolia I voll erfaßt.
rischen Melanchol ie so weit zu dehnen, daß er neben der ,mentalen < Ein ebensolch es Versäumn is ist allerdings späteren Int erpretationen
Form auch eine rationa le und imaginative umfaßte? Dann entstünde anzulasten, die es unt erließen, die von Gie hlow gewiesenen Pfade der
eine Anschauung, die innerhalb der Melancholie eine imaginative, Forschung weiterzuverfolgen. Freilich enthielt die erst 1531 erschie-
eine rationale und eine mentale Stufe anerkennen und damit die Hier- nene Druckau sgabe der Occulta philosophia nach Agrippas eigener
archie der drei S,eelenkräfte gewissermaßen zu drei gleichermaßen Aussage erheblich mehr als die bereits 15 10 vollendete Urfassung,m
inspiratorischen Melancholie -Formen umdeuten würde. Dann würde so daß fraglich blieb, ob die in Frage kommenden Stellen nicht spätere
Dürers Melencolia I, als eine »melancholia imaginativa«, tatsächlich Zusätze seien. Und in diesem Fall wäre es natürlich nicht möglich, sie
die erste Stufe eines Aufstiegs bezeichnen, der über eine M elencolia I J alsQuellen für Dürers Stich in Betracht zu ziehen. Nun ist aber die
(»melancholia rationalis«) zu einer Melencolia III (»melancholia verschollen geglaubte Urfassung der Occulta philosophia, wie Hans
mental is«) emporführte. Meiergezeigt hat, erhalten geblieben, und zwar in eben der Hand-
Wir wissen jetzt, daß es eine solche Gradu ierungstheorie gegeben schrift, die Agrippa im Frühling des Jahres I po an seinen Freund
hat" 8 und daß ihr Schöpfer niemand anders war als Agrippa von Trithemius nach Würzburg sandte!" Somit haben wir festen Boden
griffen worden - dann wäre der beabsichtigte psychologische Kontrast kaum Quelle , in reichem Maße vor, während es keinen Beweis für eine Beziehung
anschaulich zu machen gewesen. Denn darüber besteht immerhin Einigkeit, zu freimaur erischen Ideen gibt.
daß auch die geflügelte Frau des Kupferstichs, obgleich sie die »melancholia 119 Über ihn cf. P. Zambelli, •A proposito de! ,De vanitate scientiarum et anium,
naturalis• des geistig schöpferischen Menschen ausdrückt, in diesem Augen- di Cornelio Agrippa•, Riv. Crit. di Storia della Filos., 196o, pp. 167-181.
blick einer Depression anheimgefallen ist, bei der die schwarze Galle derart 210 Gichlow (1904), pp. 12 ff.
überhandgenommen hat, daß die - mit Ficino zu reden - , in saturnische 221 •Addidimus autem nonnulla capitula, inseruimu s etiam pleraque, quae prae-
Versenkung allzu tief verstrickte und von Sorgen geängstigte• Seele (Ficino, termittere incuriosum vidcbatur.«
De vita tripl., II, 16, Opera, p. 523) •evadit tristis, omnium pertaesa « (A. P. T. 122 Die Widmung ist in leicht veränderter Form in die Einleitung der Druckaus-
ParacelsiOpera omnia, Genf 1658, Bd. Il, p. 173); die Depression untersch ei- gabe aufgenommen worden, ebenso Trithemius' Antwort vom 8. April 1510.
det sich von dem pathologischen Zustand der »melancho lia ex mclanchol ia Das Man uskript der Urfassung (zitiert oben, Seite 456, Anm. 1 32) trägt auf
naturali adusta• nur durch ihre vorübergehende Natur (so auch H. Wölfflin, dem ersten Blatt eine aus dem 17.Jahrhundert stammende Inschrift »Mon. S.
Die Kunst Albrecht Dürers, 5. Aufl., München 1926, pp. 252 ff.). Jacobi « (I'rithcmius war bekanntlich Abt dieses Klosters), und Trichemius
218 Diese Möglichkeit ist bereits von Hartlaub, Geheimnis, pp. 79 ff., erwogen selbst hat auf den rechten Rand des Einbanddeckels geschrieben: ,Heinricus
worden. Er kritisiert zu Recht die Interpretation der / als den Beginn einer Corneliu s Coloniensis de magia•. Siehe J.Biclmann, ,Zu einer Hds. der
Temperamentenfolge, geht jedoch am Thema vorbei, indem er die freimaure- •Ücculta philosophia, des Agrippa von Nettesheim«, Archiv f. Kulturgesch.
rische Vorstellung vom Lehrlings-, Gesellen - und Meistergrad einführt (die 27 (1937), pp. 318-324. Ein Faksimile der Würzburger Handschrift findet
beiden letzteren möglicherweise verkörpert in Dürers Ritter, Tod und Teufel sich als Appendix zu K. A. Nowotnys Ausgabe von Agrippa ab Nettesheym,
und Hieronymus). Gerade das, was Hartlaub, op. cit., p. 42, vermißt, nämlich De occultaphilosophia, Graz 1967, pp. 519-586. Er bemerkte nicht, daß die
• literarische Belege für eine regelrechte Dreigliederung der saturnischen Ent- Entdeckun g dieser ersten Fassung Hans Meier zu verdanken ist; siehe oben,
wicklung•, liegt in der Occulta philosophia, noch dazu einer deutschen Seite 456, Anm. 132.
494 Der Kupferstich •Melencolia J. !)er neue Sinn der •Melencolia I• 495

116
unter den Füßen: in dieser Urfassung kommen die zwei Kapitel über Aufbau darge stellt, beruhe offensichtlich ganz auf neuplaconischer,
den »furor mclancholicus« dem weltanschaulichen G ehalt des Dür er- neupychagor äischer und orientalischer Mystik und setzt im Ganzen
sehen Kupferstichs näher als irgendeine andere uns bekannte Schrift; wie in Einzelheiten die völlige Vertrautheit mit den Schriften Ficinos
sie zirkulierte mehr oder weniger heimlich in vielen handgeschrieb e- voraus." 7 Es führt von den irdischen Dingen zur Welt der Gestirne
nen Exemplaren,"J war durch Vermittlung des Trithemius sicherlich und von der Welt der Gestirne ins Reich der religiösen Wahrheit und
auch dem Pirckheimerkreis zugäng lich"• und darf nunmehr den An- der mysti schen Schau. Überall offenbart es jene »colligantia et conti-
spruch erheben, die Hauptquelle der MelencoliaI zu sein . nuicas natura e«, der zufolge jede »höhere Kraft, indem sie ihre Strah-
Agrippas Occulta philosophia ist in der gedruckten Ausgabe ein len durch eine lange und ununterbrochene Kette auf alles Niedrige
höchst umfangreiches und unübersichtliches Werk, das mit zahllosen verteilt, bis zum Tiefseen hcrabflutet, und umgekehrt das Niedrigste
astrologischen, geomantischen und kabbalistischen Beschwörungs- über das Höher e bis zum Höchsten gelangt«" 8 ; und es läßt selbst die
formeln, Figuren und Tabellen befrachtet ist, ein echtes Buch der tollsten Manipu lationen - mit Schlangenaugen, magischen Tränken
Schwarzen Kunst im Seil der mittelalterlichen Zauberer. In der Urfas- und Gescirnanrufun gen - weniger als Beschwörung denn als bewußte
sung hatte sie jedoch einen ganz anderen Charakter, sie war ein Anwendung von Naturkräften erscheinen.
schlank und ebenmäßig geformter Traktat, in dem das kabbalisti sche Nach zwei einleitenden Kapiteln, die diese weiße Magie, ganz im
Element noch völlig fehlte und in dem die praktisch-magischen Vor- Sinne Ficinos , von der Nekromantie .und Teufelsbannung zu unter-
schriften nicht so vorherrschten, als daß sie die klare Struktur eines scheiden suchen" 9 und uns darüber belehren, daß sie als eine Verbin-
logischen naturwissenschaftlichen und philosophischen Systems hät- dung von Physik, Mathematik und Theologie die »cotius nobilissimae
ten verwischen können."S Dieses System wird in einem dreigliedrigen philosophia e absoluta consummacio« sei, führt das erste Buch die
manifesten und okkulten Kräfte der irdischen Dinge auf und deutet
223 »Contigit autum postea, ut intcrcepcum opus, priusquam illi summam sie dann vermittels der ,Platonischen, Lehre von der Präformation
manum imposuissem, corruptis cxcmplaribus truncum et impo litum circum-
jedes Dinges am Ideenhimmel' 10 als Emanationen des Göttlich-Einen,
ferretur acquc in ltalia, in Gallia, in Germania per multorum manus volita-
ret.• Die Hinausschiebung des Druckes war wohl hauptsächlich in Angst vor
die durch die G estirne weitergeleitet werden. Da die Wirkung der
kirchlicher Verfolgung begründet; Trithemius selbst harte ebenso höflich wie somit hergestellt en ,Kette, nicht nur von oben nach unten, sondern
entschieden von einer Veröffentlichung abgeraten: •Unum hoc tamen te mo- auch von unten nach obe n läuft, wird es möglich, nicht nur die ganze
nemus custodire praecepcum, ut vulgaria vulgaribus, altiora vero et arcana Zauberpraktik mit ihren Tränken, Räucherungen,' 3 ' sympathetischen
altioribus atque secretis tantum communices amicis.«
Amuletten, H eilsalben und Giften, sondern auch die Gesamtheit der
224 Daß in den in Frage kommenden Jahren (1510-1j15) zwischen Trithemius
und Pirckheimer Beziehungen bestanden, innerhalb deren auch okkulte
Dinge eine Rolle spielten, geht aus einigen Briefen hervor, deren Kennrnis 226 Der Umfang der Druckausgabe beträgt , selbst wenn man von dem apo-
wir dem Archivar Dr. E. Reicke verdanken: P. an T., 1.Juli 1507, und T. an kryphen IV.Buch absieht, fast das Dreifache des ursprünglichen.
P., 18.Juli 1507 Oohannes Trithemius, Epistolarum familiarum libri duo, 227 Siehe unten, Seite 499 f., Anm. 253; Seite 502 ff. (Text).
228 [, 29, fol. 12·.
wahrscheinlich Hagenau 1536, pp.279-281 und Clm.4008, fol. ll). P. an T.,
13.Juni 1515 (über eine Tri chemische Schrift. gegen Zauberkünste), micgeceilt 229 Siehe oben, Seite 386 (Text).
von 0. Clemen, in Zeitschrift für Bibliothekswesen XXXVlll (1911), 130 1, 5. Eine hübsche Illustration zu dieser Präformationslehre begegnet in einer
pp. 101 ff. Miniatur in Wien, Nationalbibliothek, Cod. Phil. graec. 4 (H. J . Hermann, in
125 Dieser Unterschied zwischen den beiden Fassungen der Occulta philosophia
Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses
ist natürlich ein entscheidendes Symptom für die Enrwicklung, die der nor- XIX, 1898, Tafel VI, Text p. 166), wo die •Ideen• des Menschen und der
dische Humanismus zwischen ca. 1po und ca. 1515 durchmessen hat; Tiere, mit ihren irdischen Gegenbildern durch Strahlen verbunden, anschau-
Dr. H. Meier beabsichtigte, die Würzburger Handschrift zu edieren, was die lich dargestellt sind.
1 31 So die oben (Seite 456f., Anm. 133) erwähnte Saturn-Räucherung.
Auswertung seines Fundes erleichtert hätte.
496 Der Kupferscich •Melencolia J.
..
Der neue Sinn der •Melencolia I• 497 ~

alten astrologischen Zuordnungen metaphysisch zu rechtfertigen.' J' Inkantationen und Invokationen, unter denen sich die Anrufung Sa-
Selbst die psychologischen Rätsel der Hypnose (»fascinatio«), Sugge- turns wieder einmal durch eine sonst nirgends begegnende Häufung
stion (»ligatio«) und Autosuggestion werden aus der Tatsache ver- von Antithesen auszeichnet,' 39 ferner den Licht- und Schattenzau-
ständlich, daß der beeinflussende Teil sich mit den Kräften eines be- ber"0 und schließlich die verschiedenen Arten der »divinatio« aus
stimmten Planeten vollsaugen und diese gegen andere Individuen Vogelflug, Himmelserscheinungen und Wunderzeichen, durch Sorti-
oder auch gegen sich selbst einsetzen kann.'n legium, Geomantie, Hydromantie, Pyromantie, Aeromantie, Nekro-
Das zweite Buch behandelt die »coelestia•, die allgemeinen Grund- mantie (die sehr mißbilligt wird) und Traumdeutung.'•'
sätze der Astrologie,'H und die Herstellung der spezifisc h astrologi- Den Gipfel der ganzen Abhandlung bildet das dritte Buch, das uns,
schen Talismane'H sowie die okkulte Bedeutung der Zahlen, die aber wie es in der Einleitung heißt, »zu den höheren Dingen• emporführe
viel mehr unter dem Gesichtspunkt der mystischen Entsprechung als und uns lehrt, »die Gesetze der Religionen genau zu erkennen; wie
der magischen Praktik betrachtet wird, also etwa in der Art der be- wir kraft göttlicher Religion der Wahrheit teilhaftig werden müssen;
kannten Traktate über die Siebenzahl oder die Vierzahl. 'l 6 Es behan- und wie wir Sinn und Geist, durch den allein wir die Wahrheit begrei-
delt ferner die astrologischen und magischen Stern-Charaktere' 37 und fen können, angemessen ausbilden müssen•.''' Mit diesem dritten
die Wirkung der Musik.' 38 Sodann behandelt es sehr ausführlich die Buch verläßt die Darstellung das Gebiet der niederen Zauberpraktik
und der von äußeren Hilfsmitteln abhängigen Divination und betritt
232 Die Planeten-Zuordnungen (cf. hinsichtlich der sich auf Saturn beziehenden den Bereich des »vaticinium«, der unmittelbaren Offenbarung, in der
dieselbe Quelle) werden in Kap. 16-23 gegeben (nachzutragen aus Kap. 16, die von höheren Kräften inspirierte Seele »die letzten Gründe der
fol. 15' : •conferunt Saturnalia ad tristiciam et melancoliam, Jovialia ad leti- diesseitigen und jenseitigen Dinge erkennt• und in wunderbarer
ciam et dignitatem•). Die den verschjedenen Planeten unterstehenden Ört-
Weise »alles, was ist, was war und was in einer noch so fernen Zu-
lichkeiten werden in Kap. 46, fol. 36' in astrologischer Terminologie, aber mit
neuer, von Ficino stammender Bedeutung, aufgezählt, während Kap. 45, kunft sein wird«, erschaut.'◄l Nach einleitenden Bemerkungen über
fol. 35' die mimischen und physiognomischen Eigentümlichkeiten der Plane- die geistigen und seelischen Tugenden, die zur Erlangung einer sol-
tenkinder enthält, deren Verhalten dem Einfluß des betreffenden Gestirns chen Gnade erforderlich sind, undeinem ausführlichen Beweis für die
sowohl entspringt als ihn auch hervorruft: »Sunt praeterea gestus Sarurnum Vereinbarkeit dieser Form von Mystik mit dem christlichen Dogma,
referentes, qui sunt trisces ac moesti, planctus, capitis ictus, item religiosi, uc
vor allem mit der Dreieinigkeitslehre,' 44 wird nach den Übermittlern
genuflexio aspectu deorsum fixo, peccoris ictus vultusque consimiles et au-
steri, et ut scribit satyricus: der höheren Eingebungen gefragt.Es sind die »Dämonen«, unkörper-
liche Intelligenzen, die »ihr Licht von Gott haben« und es, zum
,Obstipo capite et figentes lumina terra, Zweck der Offenbarung oder der Verführung, den Menschen über-
Murmura cum secum et rabiosa silentia rodunt
Atque exporrecto trutinantur verba palato,.« 239 II, 34-38. Das Saturngebet (Kap. J7,lol.70'-71') lautet: ,Dominus altus mag-
nus sapiens incelligens ingeniosus revolutor longi spatii, senex magne profun-
233 So kann z.B. ein Mensch den anderen durch Suggestion beruhigen oder ditatis, arcane con1empla1ionis auccor,in cordibus hominum cogi1a1iones
traurig machen, weil er »in ordine Saturnali• der Stärkere isc (I, 43, fol. 33'), magnas deprimens et vel imprimens,vim et potestatem subuertens, omnia
oder durch Autosuggestion gegen die Liebe Saturn und gegen die Todes- destruens et conseruans, secretorumet absconditorum ostensor et inuentor,
furcht Jupiter zu Hil fe rufen (!, 43, fol. 44'). faciens amittere et inuenire, auctorvite ec mortis.• In der Druckausgabe (II,
234 II, 1-3. 235 II, 4-16. 59, p. 205) tritt diese Polarität, diewir ja bereits bei Alanus ab lnsulis fanden
236 II, 17-29. Das 30. Kapitel erwähnt kurz die geometrischen Figuren, deren (cf.Text, Seite 279 f.), ebenso deutlichhervor (,vim et potestatem subverten-
Wirksamkeit aus Zahlenverhältnissen abgeleitec wird; wir haben bereits dar- tem et constituentem, absconditorumcustodem et ostensorem« ).
auf hingewiesen (Seite 461, Anm. 147), daß die Planetenquadrate noch fehlen. 240 II, 49. 241 II, 50-18. 242 III, 1, fol. 84'.
2 37 II, 31. 238 II, 32-33. 243 III, 29, fol. 103•-•. 244 111, 1-6.
...
498 Der Kupferstich •Melencolia !« Der neue Sinn der • Melencolia !« 499

mitteln. Sie sind in drei Ordnungen eingeteilt: in die oberen oder ken).'S 0 Und wie es in unverkennbarer Anlehnung an Platons Phai-
»supercoelesten«, die oberhalb des Kosmos um das Götdich-Eine dros heißt, kann dieser »furor• von den Musen, von Dionysos, von
kreisen, die mitcleren oder »mundanen«, die die Himmelssphären Apollo oder von Venus stammen' 51 - oder aber von der Mclancho-
bewohnen, und die unteren oder Elementargeister, zu denen auch die lie.'P
Wald- und Hausgötter, die »Dämonen • der vier Weltgegenden, Als körperliche Ursache dieser Begeisterung [so heißt es bei Agrippa ] nennen
Schutzgenien usw. gerechnet werden.' 45 Da diese »Dämonen• in dem die Philosophen den »humor melancholicus«, freilich nicht den, der schwarze
allbeseelten Universum dieselben Funktionen erfüllen wie die ver- Galle heißt, der etwas so Schlimmes und Fürchterliches ist, daß sein Ansturm
schiedenen Seelenkräfte im einzelnen Menschen, wird es begreiflich, nach Ansicht der Naturforscher und Ärzte nicht nur den Wahnsinn, sondern
daß sich die menschliche Seele, »von göttlicher Liebe brennend, von auch die Besessenheit durch böse Dämonen zur Folge hat. Als •humor me-
der Hoffnung emporgezogen und vom Glauben geleitet«, mit ihnen lancholicus• bezeichne ich vielmehr den, der •Candida bilis et naturalis• ge-
in eine unmittelbare Verbindung zu setzen vermag und, wie in einem nannt wird. Diese nämlich, wenn sie sich entzündet und glüht, erregt die
Spiegel der Ewigkeit, all das erfahren und leisten kann, was sie von Begeisterung, die uns zur Weisheit und zur Offenbarung führt, besonders
wenn sie mit einem himmlischen Einfluß zusammenwirkt, und zwar vor
sich aus nie hätte .erfahren und leisten können.' 4~ So wird das »vatici-
allem mit dem des Saturn. Dieser nämlich, da er gleich dem »humor melan-
nium« möglich, d. h. die Fähigkeit, »die Prinzipien (»causae«) der
cholicus « kalt und trocken ist, beeinflußt ihn ständig, vermehrt und erhält
Dinge zu durchschauen und die Zukunft vorauszusehen, indem von ihn. Und da er außerdem der Herr der geheimen Kontemplation ist, fremd
den Dämonen höhere Eingebungen zu uns herabsteigen und spiritu- allen öffentlichen Geschäften und unter den Planeten der höchste, ruft er die
elle Einwirkungen uns vermittelt werden«. Dies kann jedoch nur Seele stets von den äußeren Verrichtungen ins Innerste zurück, läßt sie vom
dann geschehen, wenn sich die Seele nicht mit irgendwelchen anderen Niederen zum Höchsten emporsteigen und schenkt ihr Wissen und den Blick
Dingen beschäftigt, sondern frei ist (»vacat«).' 47 Eine solche »vacatio in die Zukunft. Daher sagt Aristoteles in den Problemata, daß manche Men-
animae• kann drei verschiedene Formen annehmen, nämlich die schen durch die Melancholie zu göttlichen Wesen geworden seien, die die
Wahrträume (»somnia«),' 48 das Emporsteigen der Seele vermittels der Zukunft voraussagen, wie die Sibyllen und Bakiden, und manche zu Dichtern
Kontemplation ( »raptus« )' 49 und die Erleuchtung der Seele ( »furor«) wie Marakos von Syrakus; und er sagt weiter, daß alle Männer, die sich in
durch die Dämonen (die in diesem Fall unmittelbar auf uns einwir- irgendeinem Wissenszweig ausgezeichnet haben, zumeist Melancholiker ge-
wesen seien, was neben Aristoteles auch Demokrit und Platon bezeugen,
nach deren Versicherung einige Melancholiker durch ihre Genialität so sehr
245 lll, 7-10. Die die Sphären bewohnenden »daemones medii« entsprechen ei- hervorragten, daß sie eher Götter als Menschen zu sein schienen. Oft sehen
nerseits den neun Musen (cf. Marcianus Capella, Nuptiae Philologiae et Mer- wir auch ungebildete, törichte, unverständige Melancholiker, wie es Hesiod,
curii l, 17-18, ed. A. Dick, Leipzig 1925, p. 19), •~dererseits beSlimmtcn Ion, Tynnichus von Chalkis, Homer und Lukrez gewesen sein sollen, plötz -
Engeln; es ist bezeichnend für das Fortleben alter Mythologie, daß der Geist lich von der Begeisterung erfaßt werden, sich in große Dichter verwandeln
Merkurs mit Michael gleichgesetzt wird, der so viele Funktionen des Hermes
und wunderbare göttliche Gesänge erfinden, die sie selbst kaum verstan-
Psychopompos übernommen hat, und der Geist der jungfräulichen Geburts -
den .. ,' !l
göttin Luna-Artemis mit dem Verkündigungsengel Gabriel identifiziert
wird. Wir können an dieser Stelle nicht näher auf Agrippas Dämonologie
eingehen noch auch seine in Kap. III, 16-29 vorgetragene Kosmologie und 250 lll, 31- 36. 2p lll, 33-36.
außerordentlich interessante Psychologie würdigen. 252 Zur Lehre von der , vacatio animae• und der Möglichkeit ihrer Verursachung
246 lll, 29, fol. 103' '. durch Melancholie siehe u. a. Ficino, Theologia Platonica de immortalitate
247 lll, 30, fol. 104'. ,Illapsiones vero eiusmodi ... non transeunt in animam animorum, Buch Xlll, 2 (Opera I, p. 292).
nostram, quando illa in aliud quiddam attentius inhians est occupata, sed 253 lll, JI, fol. 104'ff. (Eigennamen in der Übersetzung korrigiert): .furor cst
transeunt, quando vacat.« illustratio anime a diis vel a demonibus proveniens. Unde Nasonis hoc car-
248 III, 38. 249 III , 37. men:
'~

500 Der Kupferstich •Melencolia l • Der neue Sinn der •Melencolia !« 501

Außerdem hat dieser •humor melancholicus« eine solche Kraft, daß er, wie es aber die Dämonen dieser Gattung uns die Zukunft offenbaren, zeigen sie uns
heißt, auch gewisse Dämonen in unseren Körper hineinzieht, durch deren das, was auf Naturkatastrophen und Schicksalsschläge Bezug hat, zum Bei-
Gegenwart und Antrieb die Menschen in Ekstase geraten und vieles Wunder - spiel bevorstehende Stürme, Erdbeben, Regengüsse, auch drohendes Massen-
bare von sich geben. Das ganze Altertum bezeugt, daß dies in drei verschiede- sterben, Hungersnot, Verwüstung und dergleichen. Wenn aber die Seele sich
nen Formen geschieht, entsprechend der dreifachen Auffassungskraft unserer völlig in den Verstand konzentriert, wird sie zur Heimstätte der mittleren
Seele, nämlich der imaginativen, rationalen und mentalen. Wenn nämlich die Dämonen. Dadurch erlangt sie das Wissen und die Kenntnis der natürlichen
Seele, durch den •humor melancholicus • in den Zustand der Freiheit ver - und menschlichen Dinge. So sehen wir einen Menschen plötzlich zu einem
setzt, sich völlig in die Einbildungskraft konzentriert, wird sie sofort zu einer [Natur-]Philosophen, Arzt oder [politischen) Redner werden; von zukünfti-
Behausung der unteren Dämonen, von denen sie oft wunderbare Unterwei- gen Ereignissen aber zeigen sie uns an, was sich auf Umsturz der Reiche und
sungen in den technischen Künsten empfängt; so sehen wir einen ganz unge - Wiederherstellung der Zeitalter bezieht, in der Art wie die römische Sibylle
übten Menschen plötzlich zu einem Maler oder Architekten werden oder zu weissagte ... Wenn aber die Seele völlig in die Vernunft (• mens«) empor -
einem ganz vortrefflichen Meister in einer anderen Kunst dieser Art; wenn steigt, wird sie zur Heimstätte der oberen Dämonen, von denen sie die Ge-
heimnisse der göttlichen Dinge lernt, wie zum Beispiel das Gesetz Gottes, die
Hierarchie der Engel und das, was zur Erkenntnis der ewigen Dinge und zum
,E§t deus in nobis, sunt et commercia celi; Heil der Seele gehört; von Zukunftsereignissen aber zeigen sie uns zum Bei-
Sedibus ethereis spiritus ille venit<. spiel bevorstehende Prodigien, Wunder, einen künftigen Propheten oder das
Huius itaque furoris causam, que intra humanum corpus est, djcunt philoso- Heraufkommen einer neuen Religion, so wie die Sibyllen von Jesus Christus
phi esse humorem melancolicum, non quidem illum, qui atra bilis vocatur , weissagten, lange bevor er erschien . . .' 54
qui adeo prava horribilisque res est, ut impetus eius a phisicis ac medicis ultra
maniam quam inducit, eciam malorum demonum obsessiones affcrre confir-
matur. Humorem igitur dico mclancolicum, qui candida bilis vocatur et na- 254 III, 32, fol. 105': • Tantum preterea esc huius humoris imperium ut ferant suo
turalis. Hie enim quando accenditur atqu e ardet, furorem concitat ad sapien- impetu eciam demones quosdam in nostra corpora rapi quorum presentia et
tiam nobis vaticiniumquc conducentcm, maxime quatenus consentit cum instinctu homincs debachari et mirabilia multa cffari. Omnis cestatur antiqui -
influxu aliquo celesti, precipue Saturni. Hie enim cum ipse sit frigidus atque tas et hoc sub triplici differentia iuxta triplicem anime apprehensioncm, scili-
cct imaginatiuam, rationalem et mentalem; quando enim anima melancolico
siccus, qualis est humor melancolicus, ipsum quotidie influit, auget et conser-
vac; preterea cum sit arcane contemplacionis auccor ab omni publico ncgocio humorc vacans tota in imaginarionem transfenur, subito efficitur inferiorum
demonum habitaculum, a quibus manualium artium sepe miras accipit ratio-
alienus ac planecarum altissimus, animam ipsam turn ab cxternis officiis ad
intima sempcr rcvocat, turn ab inferioribus ascendere facit, trahendo ad altis- ncs; sie vidcmus rudissimum aliquem hominem sepe in pictorem vel architec-
torcm vel altcrius cuiusque artificii subtilissimum subito cuadcre magistrum;
sima scientiasque ac futurorum presagia largitur. Unde inquit Aristoteles in
quando vero eiusmodi demone s futura nobis portendunt, ostendunt quc ad
libro problemarum ex mclancolia quidam facti sunt sicut diuini predicentes
futura ut Sibille et Bachides, quidam facti sunt poete ut Malanchius Siracusa- clcmentorum rurbationes temporumque vicissitudines attinent, ut videlicet
futuram tcmpestatcm , tcrrcmotum vel pluuiam, item futuram mortalitatem,
nus; ait preterea omnes viros in quauis scientia prestantes ut plurimum exti-
tisse melancolicos, quod eciam Democritus et Plato cum Aristotele testantur famem, vel stragem et eiusmodi. Sie legimus apud Aulum Gellium Cornclium
saccrdotem castissimum eo tempore quo Ccsar et Pompeius in Thessalia
confirmantes nonnullos melancolico s in tantum prestarc ingcnio, ut diuini
confligebant, Pataui furorc correptum fuisse, ita quod et tcmpus et ordinem
potius quam humani videantur. Plerunque etiam videmus homines melanco-
licos rudes, ineptos, insanos, quales legimus extitisse Hesiodum, Joncm , et exitum pugne viderat. Quando vcro anima cota in rationem conuertitur,
Tymnicum Calcidensem, Homerum et Lucrctium, sepe furorc subito corripi mcdiorum dcmonum efficitur domicilium. Hinc naturalium rerum humana-
rumque nanciscitur scicntiam atque prudentiam. Sie videmus aliquando ho-
ac in poet as bonos cuadere et miranda quedam diuinaque canere etiam que
ipsimet vix intelligant . Unde diuus Plato in Jone, ubi de furorc poctico trac- minem aliquem subito in philosophum vcl medicum vel oratorem egregium
cvadcrc; ex futuris aucem ostendunt nobis quc ad rcgnorum mutationes et
tat: ,Plerique, inquit, vates, postquam furoris rcmissus est impetus, que scrip-
seculorum restitutiones pertinent, quemadmodum Sibilla Romanis vaticinata
serunt non satis intclligunt, cum tarnen recte de singulis artibus in furore
fuit. Cum vero anima tota assurgit in mentcm , sublimium demonum efficitur
tractauerunt, quod singuli harum anifices legendo diiudicant,.• Daß sich
domicilium, a quibus arcana ediscit divinorum, ut vidclicet Dei legem, ordi -
Agrippa an Ficino anlehnt, tritt überall ganz klar zutage.
~

5oz Der Kupferstich • Melencolia I•


Der neue Sinn der • Melencolia I . 503

Diese Theorie der melancholischen Begeisterung nimmt in der Urfas-


tung und der auf ihr beruhenden Leistungen überführte, so hat er
sung der Occulta philosophia eine ganz zentrale Stelle ein, denn der dabei einerseits wiederum auf Ficino zurückgegriffen,' 57 andererseits
»furor melancholicus« ist die erste und wichtigste Erscheinungsform
.aber auf eine sehr alte Staffelung der menschlichen Berufe in mechani-
der »vacatio animae« und damit eine spezifische Quelle produktiver sche, politische und philosophische.' 58 Darüber hinaus aber war er
lnspirationsleistungen. Er bezeichnet daher genau den Punkt, an dem der seit Averroes weitverbreiteten Theorie verpflichtet, die die Wir-
die im »vaticinium« gipfelnde Entwicklung ihre Akme erreicht.' 1' In kungen des »humor melancholicus« nicht nur nach dessen Beschaf-
dieser Theorie der melancholischen Begeisterung zeigt sich die ganze fenheit, sondern auch nach der Verschiedenheit der betroffenen See-
Vielfalt der Quellen, die in Agrippas magischem System zusammen- lenkräfte unterschied. Freilich hatte diese rein psychiatrische Theorie
strömen. Die ,Aristotelische, Melancholietheorie, die schon durch nur die destruktive Wirkung der Melancholie ins Auge gefaßt und an
Ficino astrologisch eingefärbt worden war, wird nun auch noch mit die Stelle der hierarchischen Stufung von »imaginatio• - »ratio• -
der Lehre von den »Dämonen« verkoppelt, die ein spätantiker Mysti- .mens• das gleichgeordnete Nebeneinander von »imaginatio«, »ra-
ker wie Jamblich für unvereinbar mit der Astrologie gehalten hatte'' 6 ; tio• und »memoria« gesetzt.' 19 Insofern stellt Agrippas Auffassung
und wenn Agripp\l die Hierarchie der drei Seelenkräfte »imaginatio«, eine Vereinigung der Theorie Ficinos mit anderen Elementen dar.
»ratio« und »mens« in eine Hierarchie der melancholischen Erleuch- Gerade in dieser Vereinigung aber liegt das Folgenreiche und Ein-
dru cksvolle der Leistung Agrippas: de·r Begriff des melancholisch-
nes angelorum et ea que ad eternarum rerum cognitionem animarumque saturninischen Genies bleibt nicht mehr auf die »homines literati•
salutem pertinent; ex futuris vero ostendunt nobis, ut futura prodigia, mira- beschränkt, sondern wird - in einer dreifachen Höhenstufung - auf
cula, futurum prophetam vcl lcgis mutacionem, quemadmodum Sibille de
Jesu Christo longo tempere ante aduentum eius vaticinate sunt, quem qui -
die Genies der Tat und der künstlerischen Anschauung ausgedehnt,
dem Vergilius spiritu consimili iam propinquum intelligendo Sibille Cumane so daß nunmehr neben dem großen Politiker und dem religiösen
reminisccnscccinit: Genie auch der »subtile« Architekt oder Maler zu den »vates« und
,Ultima Cumei venit iam carminis etas;
den »Saturniern« zählt. Agrippa hat die Selbstverherrlichung eines
Magnus ab integro seculorum nascitur ordo, exklusiven Humanistenkreises zu einer allgemeinen Genielehre er-
1am redit et virgo, redeunt Saturnia regna; weitert, und zwar lange bevor die italienischen Kunsttheoretiker zu
!am noua progenies cclo dimitt.itur alto•.• dieser Auffassung gelangten. Überdies wandelt er die Anschauung
25 5 In Kap. 39-56 des dritten Buchs, die dem • Somnium• -Abschnitt folgen, wer- von den Gaben der Melancholie dahingehend ab, daß er deren subjek-
den die an den Magier zu stellenden Reinheitsforderungen, die Operationsri- tive Aspekte von den objektiven Wirkungen unterscheidet, d. h. der
ten, •nomina sacra• usw. mitgeteilt und erläutert, während das Schlußkapitel
(III, 57) versucht, eine Abgrenzung der • relib,jo• gegen die unerlaubte •su- 157 Siehe die oben, Seite 391 f. (Text), zitiene Parallelstelle.
perstitio• vorzunehmen, wobei lctuere konsequenterweise beschränkt ist auf 258 Das vielleicht prägnanteste Beispiel findet sich in der Disciplina scholarium,
die mißbräuchliche Anwendung kirchlicher Sakramente auf ungeeignete Ob - cf. oben, Seite 404 f., Kap. V (Migne, P. L., Bd. LXIV, col. 1233); cf. neuer-
jekte, z.B. die Exkommunikation schädlicher Würmer oder die Taufe von dings 0 . Weijcrs, ed. cit. (siehe oben, Seite 404 f., Anm. 2 3): •Cum ad magi-
Statuen. Kap. III, 30-38 bilden also den Kern des Ganzen. Wie sehr in der stratus excellentiam bonae indolis adolescens [W: iuvenis] velit ascendere [W:
Druckausgabe dieser ganze Aufbau zerstückelt ist, geht daraus hervor, daß accedere], necessarium est ut tria genera statuum, quae [W: quos) in assigna-
die beiden Melancholiekapitel mit kleinen Änderungen zu einem einzigen tione prohabilitatis innuit Aristoteles, diligenter intelligat. Sunt autem qui-
Abschnitt zusammengezogen sind, der im ersten Buch steht (1, 60), und zwar dam vehementer obtusi, alii mediocres, tcrcii excellenter acuti. Nullum vero
hinter dem Kap. 59 über •somnium•, dem seinerseits ein Kapitel über angeb- vehementer obtusorum vidimus unquam philosophico ncctare vehementer
liche Totenerweckungen und Stigmatisicrungsphänomene sowie das ehemals inebriari [W: dcbriari]. lstis autem mechanica gaudet maritari, mediocribus
in Buch II untergebrachte Kapitel über Geomantie vorangeht. politica.«
256 Siehe oben, Seite 236 f. (Text). 2 59 Siehe oben, Seite 158 ff. (Text).
504 Der Kupferstich , Mclcncolia (.
..
Der neue Sinn der • Melencolia l• 505

Sehergabe die schöpferische Kraft, der Vision die Leistung zur Seite Text, mit dem sich Dürers Kupferstich vollkommener in Einklang
stellt. bringen ließe als die Melancho liekapite l Agrippas.
Agrippa zufo lge arbeitet die melancholische Inspiration also auf dr ei Wenn wir nun die Occulta philosophiafür die letzte Quelle der Dü-
Stufen und zwei Wegen, die in der folgenden Tafel zusammengefaßt rerschen Erfindung halten (und es spricht nichts gegen eine solche
sind. Annahme), so verstehen wir, warum Dürers Darstell ung der Melan-
cholie - der Melancholie des imaginativen Menschen im Gegensatz zu
Stuft Voll:r.ugsorg.an<' Psy-.:ho logisl:hn Bereich Jer s'"h,•pfcn- Bcreid , Jcr propheti• der des rationalen und der des mentalen, der Melancholie des Künst-
On schen Auswirkung 5':hen Auswirkung
lers und des künstlerischen Denkers im Gegensatz zu der des wissen -
Untere Dam o nen ..Jm3ginatio« Technisc he Kunste, ins- Elemema rereig niS3t',
beso ndere Architektur, insbcsond1.·n· Regen- schaftlich -politischen und metaphysisch -religiösen Denkers - Melen-
Malerei usw. ~u.sse, Hunge rsnot usw.
coliaI heißt.' 6oUnd wir verstehen auch, warum im Hintergrund nicht
/[ Mittlere Dämo nen ..Ratio• \\ '1sse-n um die nanir- Polilischc-Ereig nisi;e,
lichen und mensch- Um srnrz unJ Wieder·
Sonne, Mond und Sterne erscheinen, sondern das über die Ufer getre-
l11.
.:hC'
n Dinge, insbeson- aufnc h1ung tene Meer, der Komet und der Regenbogen (denn was könnte die
dere N aturphilo so phie .
Mcdi:iin, Politik u.sw. •plu viae, fames et strages «, die die imaginative Melancholie voraus-
/// Obere O:imun~n •M ("n s;.,, Wissen um dil"gött - Rdigiös<' Erei~nisse. ahnt , besser bezeichnen?), und warum die Melancholie schöpferisc h
liehen Geheimni sse , insbe so nden~ Auftreten
insbesondere K,:nmnis nc.- ucr Propheten oder
ist un d doch in Schwermut versunken, divinatorisch und doch an ihre
des göttl ichen Ges eti.e.s. F.ntstchun1; neuer Rdi- Gr enze gelangt.
der Angelog ie und gion en
M or31theolo~ie Mehr als jeder andere konnte sich gerade Dürer mit der Auffassung
Agrippas identifizieren, denn gerade er war ja - in dieser Beziehung
Versuchen wir nun, uns die Aufgabe eines Künstlers vorzuste llen, der ein Gesi nnu ngsgenosse Agrippas und ein Gegner de r älteren italieni-
im Anschluß an diese Theorie des Agrippa von Nettesheim der ersten schen Kunsttheoretiker wie etwa Alberei oder Leonardo - fest davon
oder imaginativen Form der melancho lischen Begabung und »Begei- überzeugt, daß auch das der Einbildungskra ft verpUichtete Schaffen
sterung• anschau lich Gestalt verleihen wollte. Was hätte er darzustel- der Maler und Architekten auf höherer und letzten Endes göttlicher
len gehabt? Ein Wesen, das verdüstert ist, denn sein Geist ist melan- Inspiration beruhe. Während die Italiener des 15. und frühen 16.Jahr-
cholisch; ein Wesen, das sowo h l schöpferisch als prophetisch ist, hunderts den Kampf um die Aner kennung der bildenden Kunst als
denn sein Geist hat Anteil am inspiratorischen »furor • ; ein Wesen, einer »ars liberalis• allein im Namen einer »ratio« führten, die es dem
dessen Erfindungsgabe sich auf den Bereich der räumlichen Anschau- Künstler ermögliche, aufgrund seines verstandesmäßigen Wissens um
ung, d. h. auf das Gebiet der technischen Künste beschränkt und die Naturgesetze die Wirklichkeit zu beherrschen, und die dadurch
6
dessen seherischem Blick nur drohende Naturkatastrophen zugäng- seiner Tätigkeit den Rang einer exakten Wissenschaft sichere,' ' ist
lich sind, denn sein Geist ist ganz auf das Vermögen der »imaginatio • sich Dürer, bei allem leidenschaftlichen Bemühen um eben diese »ra-
gestellt; und ein Wesen schließlich, das sich der Unvollkommenheit tio• ,' 6' der Tatsache bewußt gewesen, daß die tiefste Quelle des
seines Erkenntn isvermögens dunkel bewußt ist, denn seinem Geist ist
die Fäh igkeit versagt, die höheren Seelenkräfte wirksam werden zu 26o An und für sich bedeutet die / nicht notwend ig, daß Dürer tatsächlich beab-
lassen und andere als die unteren Dämonen in sich aufzunehmen. Mit sichtigte, die beiden anderen Form en der Melancholie dari .ustellen; es ist
möglich, daß er sich beim Stechen dieser einen die beiden anderen nur vorge-
anderen Worten, was jener Künstler darzustellen gehabt hätte, wäre stellt hat und auch beim kund igen Betrachter diese Vorstellung voraussetzte.
genau das, was Albrecht Dürer in der MelencoliaI geschaffen hat. 261 Cf. E . Panofsky, ldea (Studien der Bibliothek Warburg , Bd. V), Leipzig
Es gibt kein K\mstwerk, das der Melancholievorstellung Agrippas 1924, pp . 25 ff.
vollkommener entspräche als Dürers Kupferstich, und es gibt keinen 262 Siehe oben, Seite 477 ff. (Text).
506 Der Kupferstich •Melencolia J. Derneue Sinn der •Melencolia I« 507

schöpferischen Vermögens anderswo gesucht werden müsse, in jener siink1ives Wissen um das, was die Italiener erst später und auch dann
rein irrationalen und individuellen Begnadung oder Begeisterung,' 6J nur als etwas eher Sekundäres erwarben: die Spannung zwischen •Ra-
die das italienische Denken höchstens den »literarum Studiosi« und tio• und »Non-Ratio«, zwischen allgemeingültiger Regel und indivi-
den •Musarum sacerdotes« zubilligte. Die kunsttheoretischen Über- dueller Begabung. Schon 1 512 oder 1 5I 3 hatte er die berühmten Sätze
legungen Albertis und Leonardos waren gänzlich unbeeinflußt vom geschrieben, in denen er die »species fan1astica« der Einbildungskraft
Florentiner Neuplatonismus' 6• und legten den Grund zu einer ,exak- zu jenen »inwendigen Figuren• erhöhte, die mit den platonischen
ten< Naturwissenschaft in Galileischem Sinn. Sie haben der bildenden Ideen in Zusammenhang stehen und in denen er die Erfindungskraft
Kunst innerhalb des gesamten Bereichs der Kultur genau diejenige des Künstlers auf jene »oberen Eingießungen« zurückführte, die den
Stelle angewiesen, an die wir heute die ,nüchterne Wissenschaft , zu guten Maler dazu befähigen, »alweg etwas Neues durch die Werk
stellen pflegen, und keiner der klassischen Kunsttheoretiker hätte auszugießen«' 67 und »alle Tag viel neuer Gestalt der Menschen und
daran gedacht, den Baumeister, Maler oder Bildhauer für einen gött - andrer Creaturen auszugießen und zu machen haben, das man vor nit
lich Inspirierten zu erklären. Das geschieht erst nach dem Aufk om- gesehen und ein Ander gedacht hätt«.' 68
men der Schule jenes Manierismus, der in allen Dingen zur Auffas- In der Sprache der deutschen Mystik und in Formulierungen, die
sung des Nordens tendierte, der die bis dahin ganz rationale und manchmal unmittelbar an Sätze Ficinos und Senecas anklingen,' 69
objektivistische Kunsttheorie mit mystischem und individualisti - mente ne vien Ja Malencolia; la quale pero dice Aristotile, ehe significa in-
schem Geist durchtränkte,' 65 der dem Künstler das Prädikat ,göttlich, gegno et prudeniia, perche, come l'istesso dice, quasi tutti gl'ingegnosi et
verlieh und bezeichnenderweise die bis dahin in Italien kaum beach- prudenti son stati malencolici.«
267 LF, Nachlass, p.295, 13 (cf. p.299, 1) und p.297, 16.
tete Melencolia I zu imitieren versuchte.' 66 Dürer aber hatte ein in- 268 LF, Nachlass, p. 218, 16. Die Genielehre Ficinos und seines Kreises ist bei
263 Über Dürers Individuali smus cf. E. Panofsky, Hercules am Scheidewege aller Betonung eines gesteigerten Selbstgefühls insofern keine wahrhaft indi-
vidualistische, als die •Musarum sacerdotes« bzw. ,viri literati« scecs als
{Studien der Bibliothek Warburg, Bd. XVIII), Leipzig 1930, pp. 167 ff.
Klasse gedacht werden: die Genies treten hier sozusagen noch rudelweise
264 Cf. E. Panofsky, !dea (Srudien der Bibliothek Warburg, Bd. V), Leipzig
1924, pp. 25 ff. auf. Das Bekenntnis zum originellen und unwiederholbaren Einzelwesen
,65 über die Umdeurung der Schönheitslehre Ficinos zu einer manieristischen {,desgleichen ihm zu seinen Seiten Keiner Gleich erfunden wirdet und etwan
lang Keiner von ihm gwest und nach ihm nit bald Einer kummt«, LF, Nach-
Kunstmetaphysik cf. E. Panofsky, !dea, pp. 52 ff. Über die Proteste gegen die
mathematischen Regeln, die der Stolz der klassischen Kunsuheori e gewesen lass, p. 221, 16) wie zum originellen und unwiederholbaren Einzelwerk {• das
waren, cf. ibid. pp. 42 ff. man vor nit gesehen noch ein Ander gedachc hätt«) findet sich be i Dürer
,66 Siehe unten, Seite 538 ff. (Text). Von hier aus gesehen wird es verständlich, früher als im Süden. Das erklärt auch Dürers tiefe Abneigung gegen jede
daß - trotz der oben, Seite 340, Anm. 44, angeführten Äußerungen über Selbstwiederholung in seinem Werk. Derselbe Mann, in dessen •haushälteri-
Raffacl - eine grundsätzliche Beziehung zwischen Melancholie und bildender scher Art « (Wölfflin) es lag, Skizzen und Studien selbst nach Jahrzehnten
Kunst, wie sie Agrippa schon zu Beginn des 16.Jahrhunderts begründe, nutzbar zu machen, hat sich in Werken, die sein Atelier verließen, d. h. in
hatte, in Italien erst in der manieristischen Epoche hergestellt wurde. Aller - Kupferstichen, Gemälden und Holzschnitten, tatsächlich kein einziges Mal
dings wurde sie dann sogleich als Argument für die Vornehmheit der künst - wiederholt; die Meerkatze und der Mann mit dem Bohrer, die die Dresdner
lerischen Tätigkeit benutzt. In Romano Albertis Trattato della nobiltti della Folge der Sieben Schmerzen Mariae aus dem Stich B 42 bzw. aus dem Holz-
piuura, Rom 1585, heißt es (p. 17): , Et a confirmazione di cio [d. h. der schnitt B 117 übernimmt, sprechen nur gegen die Authentizität der Gemälde;
Behauptung, daß der Malerei der Rang einer freien Kunst zukomme] vc- über die Beziehung zwischen dem Münchner Paulus und dem Stich B 46
diamo ehe li Pittori divengono malencolici, perche volcndo loro imitare bi- siehe oben, Seite 428, Anm. 75, den Aufsatz in Münchner Jahrbuch der bil-
sogna, ehe ritenghino li famasmati fissi nell'lntelleno: a cio dipoi li espri- denden Kunst.
meno in quel modo, ehe prima li havean visti in presentia; Et questo non solo 269 Stellen bei E. Panofsky, ldea (Studien der Bibliothek Warburg, Bd. V), Leip-
una volta, ma contin uamente , esscndo qucsto il loro essercitio: per il ehe zig 1924, p. 70. Der Satz von den ,oberen Ei.ngießungen• wurde schon von
talmentc tcngono Ja mentc astratta et separata dalla materia, ehe consegucnte- Giehlow (1904) in diesem Zusammenhang herangezogen.
508 Der Kupferstich •Melenco lia ! , Der neue Sinn der ,Mclencolia J, 509

kommt hier eine Anschauung zum Ausdruck, die für den bildende n Wesens (und eine Porträtgepflogenheit des 18.Jahrhunderts vorweg-
Künstler in Anspruch nimmt, was die deutsche Mystik vom religiös nehmend)'7' seinem eigenen Porträt schon in der Jugend die Ha ltung
Erleuchteten, Ficino vorn Philosophen und Seneca von Gott selbst eines melancholischen Denkers und Visionärs verliehen hat.'7l Wie er
ausgesagt hatte. Eben deshalb berührt sie sich auch mit der neuen an den inspiratorischen Gaben der »melancho lia imaginativa« Anteil
Lehre Agrippas. Und es ist keineswegs unmöglich, daß gerade die gehabt hat, so kannte er auch die Schrecken der Träume, die sie
Occulta philosophia Dürer, der ja nicht nur der Schöpfer der Melenco - bringen konnte, war es doch gerade die Vision einer Flu tkatastrophe,
lia !, sondern auch der Verfasser der Vier Bücher von menschliche r die ihn mit ihrer »Geschwindigkeit, Wind und Brausen« so erschüt-
Proportion war, die Genielehre des Florentiner Neuplatonismus in terte, daß, wie er sagt, »all mein Leichnam zittret und lang nit recht zu
einer spezifisch deutschen Urndeutung nahegebracht hat' 70 und ihm mir selbs kam«.' 74 Und so kannte er auch, ein »all zu strenger Richter
dadurch die Möglichkeit gab, die irrationalen und individualistische n seiner selbst«,m die unübersteigbare Grenze, die demjenigen vom
Elemente seiner Kunstanschauung begrifflich und sprach lich zu for-
mulieren. selbst in den flüchtigsten Notizen manifesten Regelmäßigkeit der zwanziger
Begrifflich und sprachlich - denn es besteht kein Zweife l daran, daß Jahre und nur wenig entwickelter als in den Briefen an Pirckheimer; das
aus den eben angeführten Worten Dürers die persönliche Erfahru ng nächste Analogon sind wiederum die theoretischen Entwürfe der Jahre 1512/
13. Zudem ist der Körper der eines Mannes in den besten Jahren, das Haar ist
des schaffenden Künstlers spricht. Dürer selbst war ein Melancholi-
noch blond, und die gesamte Erscheinung des Kopfes entSpricht am ehesten
ker. ' 7 ' Es ist kein Zufall, daß er in klarer Erfassung seines eigenen dem Selbstporträt auf dem Allerheiligenbild. Alles spricht also dafür, die
Bremer Zeichnung in das dritte Jahrfünft des 16.Jahrhunderts, d. h. in die der
270 Es wurde bereits erwähnt (Seite 495, Text), daß Agrippa auch die Platonisch e Melencolia l unmittelbar vorangehenden Jahre zu setzen und sie damit als ein
Ideenlehre heranzieht. In deri Zusammenhang der spezifisch nordischen Vor- weiteres Zeugnis für Dürers eminent persönliches Interesse an diesem Ge-
stellung vom inspirierten Künstler gehört es auch, daß es die Spätgotik im genstand anzusehen. Es besteht um so weniger Grund, die Bremer Zeich-
Norden war, die •die vom HI. Lukas porträtierte Gottesmutter« erstma ls als nung auf seine letzte Krankheit zu beziehen, als er auch früher häufig krank
visionäre Erscheinung in den Wolken damellce (cf. Dorothea Klein, St. Lu- war; 1519 schreibt Pirckheimer •Turer male stat• (E. Reicke, in Mitteilungen
kas als Maler der Maria. Ikonographie der Lukas-Madonna, Dissertatio n, des Vereinsfiir Geschichte der Stadt Nürnberg XXVIII, 1928, p. 373), und im
Hamburg 19,3, die jedoch mehrere wichtige Beispiele unerwähnt läßt). Jahre 1503 vermerkt Dürer selbst auf der Zeichnung L 231, er habe sie •in
271 Wir wissen das durch das von A. Warburg (Heidnisch -amike Weissagung m seiner Krankheit • gefertigt. Nachträgl ich sehen wir, daß zwei andere For -
Wort und Bild zu Luthers Zeiten, in Gesammelte Schriften, Bd. II, Leipz ig scher ebenfalls dazu neigen, die Bremer Zeichnung neu zu datieren:
1932, p. 529) entdeckte Mclanchthonwort über die •mclancholia gcneros is- H. A. van Bake! in einem Aufsatz mit dem Titel »Melincholia generosissima
sima Dureri «. Unabhängig von dieser Feststellung hatte bereits M.J.Fried - Dureri • in Nieuw Theologisch 7ijdschrift XVII, 4 ( 1928), p. 332, und
länder im Zusammenhang mit einer schönen und vorsichtigen Charakteris tik E.Fl echsig in Albrecht Dürer, Bd.11, Berlin 1931, pp.296ff., der sie aus
der Melencolia I die Frage aufgeworfen, ob Dürer nicht selbst Melancholik er gewissen Gründen sogar bis 1509 zurückdatieren möchte.
gewesen sei (Albrecht Dürer, Leipzig 1921, pp. 146ff.), und diese Frage kann 272 H ierzu cf. Ursula Hoff, Rembrandt und England, Dissertation, Hamburg
um so eher bejahe werden, als Dürer an einer Krankheit litt, die die Ärz te 193 5.
seiner Zeit eindeutig den •morbi melancholici« zurechneten: die berühm te 2 73 L 429.
Bremer Zeichnung L 130 mic der Aufschrift •Do der gelb fleck ist vnd mit '74 LF, Nachlass, p. 17, 5. Es ist für Dürers Wesen ganz bezeichnend, daß er
dem finger drawff dewt, do ist mir WC • verweist auf eine Milz-Affektio n. selbst in der Erschütterung dieser Traumvision sich noch Rechenschaft dar -
Diese Zeichnung (Tafel 150) wird für gewöhnlich mit Dürers letzter Kran k- über gibt, in welcher Entfernung die Wasser die Erde trafen, und sogar aus
heit in Verbindung gebracht. Es ist jedoch in diesem Zusammenhang dara uf ihrer Fallgeschwindigkeit auf ihre Fallhöhe zu schließen sucht ( •und sie ka-
hinzuweisen, daß diese Ansicht der Begründung entbehrt. Der Stil der leicht men so hoch herab, daß sie im Gedunken gleich langsam fieln•J.
kolorierten Zeichnung entspricht viel eher dem der Proportionsstudien von 275 C f. KantS oben, Seite 198 f. (Text), angeführte Charakteristik des Melancholi-
'5 12/t 3 als dem späterer Zeichnungen, und die Schrift - bei Dürer ein we- kers, die in beträchtlichem Maße durch Camerarius' schöne Beschreibung
sentliches Indiz der Chronologie - ist sehr verschieden von der großartige n, Albrecht Dü rers antizipiert wird: • Erat autcm, si quid omnium in illo viro
TII1
510 Der Kupferstich •Me lencoli a 1. Der neue Sinn der »Melcncolia J. p 1

Schicksal gesetzt ist, der die Melancholie der Melencolia I, also die Entwur f heißt es: »Es lebt auch kein Mensch auf Erd, der sagen noch
Melancholie des nur auf die Einbi ldungskraft gestellten Geistes, be- anieigen kann, wie die schönest Gesta lt des Menschen möcht sein.
sitzt. Niemand s weiß das dann Gott, die Schon zu urtheilen .«' 79 Angesichts
Gerade an der Mathematik, der er die Arbe it eines halben Lebens einer solch en Erkenntnis mußte auch der Glaube an die Macht der
widmete, hat Dürer die Erfahrung machen müssen, daß sie dem Men- Mathemati k wanken . »Und soviel die Geometria antrifft«, schreibt
schen nicht die Befriedigung gewähren kann, die er in metaphysi sch- Dürer etwa zehn Jahre später, »mag man etlich Ding beweisen, daß
religiöser Erleuchtung zu finden vermag,' 76 und daß nicht einmal die sie wahr sind , - et!ich Ding muß man aber bei der Meinung und
Mat hematik - oder vielmehr sie am wenigsten - den Mensc hen zur Urtheil der Menschen bleiben lassen«,' 80 und seine Skepsis hat jetzt
Entdeck ung des Absoluten führt, jenes Absoluten, unter dem er na- einen solchen Grad erreicht, daß ihm nicht einmal mehr die Annähe-
tu rgemäß in erster Linie absolute Schönheit verstand. Als Dreißig jäh- rung an die höchste Schönheit möglich erschei nt:
riger war er berauscht von der Aussicht in das »neue Kön igreich « der Dann ich glaub, daß kein Mensch leb', der das Schönste in einer kle inen
Kunsttheor ie, die ihm Jacopo de' Barbari eröffnete, und glaubte, die Cr eatur mü g bedenken, do es sein End möcht haben, ich geschweig dann in
eine, große Schörihcit mit Zirkel und Richtscheit bestimmen zu kön- cim Men schen ... Es steigt nit ins Menschen Gmüt. Aber Gott weiß Sölchs,
nen; als Vierzigjähriger aber mußte er einsehen, daß ihn diese H off- und wem ers offenbam wollt, der weßt , es auch .. . Aber ich weiß nit anzuzei-
nung getrogen hatte. ' 77 Nun sind es gerade die dem Kupferstich Me- gen ein su nder Maß, welches zum Hübschesten mocht nahen.' 8'
lencolia I unmittelbar vorangehenden Jahre gewesen, in denen diese Und als schließlich seine ehrfürchtige Liebe zur Mathematik noch
neue Einsicht zu völliger Klarheit gereift ist. Um 1512 schrieb er : einmal einen ganz starken, geradezu rührenden Ausdruck findet, hul-
»Was aber die Schonheit sei, das weiß ich nit«, ' 78 und in dem gleichen digt er d er in ihre Grenzen zurückverwiesenen und resignierenden
quod vitii simile viderctur, unica infinira diligemia et in se quoque inqui si1rix Mathematik , und dem Satz » Welches aber durch die Geometria sein
saepe parum aequa. • (EinleilUng zur lateinischen Übersetzung d er Propor-
tionslehre, Nürnberg 1!32. ) die Idee der Schönheit, sonde rn darauf, was die Schönheit ihren anschauli -
276 Nur in dieser Hinsicht ist die Melenco/ia I m sächlich ein Geg enbil d zum chen, insbesondere proportionalen Bestimmungen nach sei (so auch
Hieronymus -Stich. A. Weixlgärtn er zeigt (in Mitteilungen der Gesellschaft H . Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers, 5. Aufl., München 1926, p. 368).
für vervielfältigende Kunst, 1901, pp. 47 ff. ) , daß man dabei nicht an ein Da s geht schon aus der Fortsetzung hervor: . Jdoch will ich hie die Schonhcit
Pendant im äußerlichen, formalen Sinn zu denken hat. Noch weniger darf also für mich nehmen: Was zu den mensch lichen Zeiten van dem meinsten
man mit R. Wusunann (in Zeitschrift für bildende Kunst, N. F. XXII , 1911, Thcil schön geachtt würd, des soll wir uns fleißen zu machen.• Der Satz •was
p. 116) annehmen , daß der von der Decke herabhängende Flaschenkür bis auf aber die Schonheit sei, das weis ich nit • entspricht also den unten zitierten
dem Hieronymus -Stich ursprünglich die Ins chrift , Melenc o lia II • erhalten Äu ßerungen, LF, Nachlass, p. 221, 7 oder p. 359, 16.
sollte . Immerhin hat Dürer die beiden Stiche fast immer zusammen ver- 279 LF , Nachlass, pp. 290, 23 ff. Dies ist fast wörtlich identisch mit einem auf
schenkt (LF, Nachlass, pp. 120 , 16; 121, 6; 125, 12; 127, 13, 17 ; 128 , 17), und 15 12 dat ierten Entwurf (LF, Nachlass, p. 300, 9).
man hat sie auch häufig zusammen betrachtet und diskutiert (cf. den Brief des 280 LF, Nachlass, p. 363, 5.
Johannes Cochlaeus vom 5. April I p o, abgedruckt u. a. von E. Reicke in 281 LF , Nachlass, p. 359, 3. In der gedruckten Proportions lehre heißt es dann:
Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg XXVIII , 1928, • D as gib ich nach, daß Einer ein hübschers Bild . . . mach . .. dann der Ander .
p.375). Ab er nit bis zu dem Ende, daß es nit noch hübscher möcht sein. Dann Solchs
277 Über diese Wandlung in Dürer s Kunstanschauung cf. insb es. Ludwi g J usii, steigt nit in des Menschen Gemüt . Aber Gott weiß Solichs allein, wem ers
Konstruierte Figuren und Köpfe unter den Werken Albrecht Dürers, Leipzig offen barte, der weßt es auch . Die Wahrheit häl t allein innen , welch der
1902, pp. 21 ff., und derselb e, in Repertorium XXVlll ( 1905), pp. 368 ff. Fer- Men schen schönste Gestalt und Maß kinnte sein und kein andre . .. In soli-
ner E. Panofsky, Dürers Kunsttheori e, pp. 113, 127 ff., und derselbe , in Jahr- chem Irrtum, den wir jetzt zumal bei uns haben, weiß ich nit statthaft zu
buch für Kunstwi ssenschaft Ill , Leipzig 1926, pp. 136 ff. besch reiben endlich, was Maß sich zu der rechten Hübsche nachnen möcht .•
278 LF, Nachlass, p. 288, 27. Dürers Nichtwissen bezieht sich nat ürlich nicht auf (LF, Nachlass, p. 221, 30) .
pz Der Kupferstich ,Melenc olia (. Der neue Sinn der »Mclencolia I, 51 3

Ding beweist und die gründliche Wahrheit anzeigt, dem soll alle Welt Form der vier Complexionen, sehr herrlich und auf die allerbäste
glauben; denn da ist man gefangen« geht ein anderer Satz voraus, den Manier von Oelfarb gemahlt«.' 8' Diese Information, die frühere Dü-
man sich fast als Unterschrift des Kupferstichs Melencolia I denken rerforscher für völlig glaubwürdig hielten,' 86 ist bei jüngeren Histori-
könnte: »Dann die Lügen ist in unsrer Erkanntnuß, und steckt die kern in einen nicht recht begründeten Mißkredit geraten. Mit der
Finsternuß so hart in uns, daß auch unser Nachtappen feh lt.« 281 einzigen Ausnahme Carl Neumanns (der daraus jedoch keine Folge-
So halten wir denn, trotz der aufgewiesenen Zusammenhänge mit der rungen zog)' 87 sprach man von ihr als einer bloßen »alten Tradition«.
Astrologie und der Medizin, mit den Lasterdarstcllungen und den Diese lehnte man entweder völlig ab, weil Dürer »die Apostel viel zu
Artes-Bildern, mit Heinrich von Gent und Agrippa von Nettes hcim, ernst genommen« habe, »als daß er sie als bloßen Anlaß zur Darstel-
auch die Meinung derer für gerechtfertigt, die in dem Kup ferstich lung der Temperamente hätte benützen können«,' 88 oder man deutete
Melencolia I etwas anderes sehen möchten als ein, wenn auch noch so zu vermeiden gewesen; einzelne Formulierungen und selbst ganze Absätze
veredeltes, Temperaments- und Krankheitsbild. Es ist auch ein mußten um der Verständlichkeit und Kohärenz willen fast wörtlich über-
Selbstbekenntnis und ein Ausdruck faustischen »Niehtwissen kön- nommen werden. Im folgenden behalten wir die herkömmliche Bezeichnung
nens«.' 83Es ist das Antlitz Saturns, das uns anb lickt, doch wir dürfen • Vier Apostel• bei, obwohl sie genaugenommen unzutreffend ist.
285 Joachim Sandrart, Teutsche Akademi,!, ed. A. R. Peltzcr, München 1925,
darin auch Dürers Züge wiedererkennen.
p.67.
286 Cf. z.B. J. Heller, Das Leben und die Werke Albrecht Dürers, Leipzig 1827,
Bd. II, 1, pp. 205 ff.; F. Kugler, Geschichte der Malerei, 3. Aufl., Leipzig
8 1867, Buch IV, § 240 (Bd. II, p. 498); A. von Eye, Leben und Wirken Al-
4. Die »Vier Apostel«' •
brecht Dürers, Nördlingen 1860, p. 452; M. Thausing, Dürer, Leipzig 1884,
Bd. II, pp. 278 ff.
»So sind auch ferner daselbst«, heißt es bei Joachim Sandrart über
287 • Die vier Apostel von Albrecht Dürer in ihrer ursprünglichen Gestalt•, Zeit-
Dürers sogenannte VierApostel (Tafel 116), die er in der Churf ürstli- schrift für deutsche Bildung IX (1930), pp.45off., mit Abbildung der jetzt
chen Galerie in München bewundert hatte, »vier Evangeliste n in wieder mit den Bildern vereinigten Unterschriften und näherer Erörterung
über Dürers Verhältnis zu Neudörffer. Auch H. A. van Bake! (»Melancholia
282 LF, Nachlass, p. 222, 2j (aus der gedruckten Proportionslehre). generosissima Dureri,, Nieuw Theologisch Tijdschrift, 1928) hat auf die alte,
283 Die Interpretation der Dürerschen •Melancholie• als eine unmitte lbare Dar- traditionelle Deutung der Apostelbilder als Darstellung der Temperamente
stellung des Faustischen Charakters stammt natürlich aus der Romantik. zurückgegriffen, hält jedoch irrigerweise Johannes für den Melancholiker,
Herr Dr. Hermann Blumenthal wies uns freundlicherweise auf die Quelle in was auch seine Rückschlüsse auf die Geisteshaltung der Melencolia I frag-
Karl Gustav Carus, Briefe über Goethes Faust, Bd. l, Leipzig 1835, Brief II, würdig macht.
pp. 40 ff., hin. Diese vortreffliche Analyse, die auch den •Gegensatz des eifrig ,88 So H. Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers, München 1926, p. 348 (und nach
schreibenden Kleinen mit dem müßig sinnend und traurig hinausb lickenden ihm T.Hampe in Festschrift des Vereins für die Ge,chichte der Stadt Nürn-
Großen• eindr inglich hervorhebt, ist um so bewundernswerter, als das Bild berg zur 4oojiihrigen Gedächtnisfeier Albrecht Dürers, 1528-1928, Nürnberg
eines faustisch zerrissenen Dürer - wie Carus selbst deutlich gefühlt und 1 928, p. 18). Es klingt ganz ähnlich, wenn ein Mann des 18.Jahrhund eru die

mehrmals zum Ausdruck gebracht hat - in völligem Widerspruch zu der vOII Versuche, die historischen Gestalten der Apostel nach Komplexionen aufzu-
Wackenroder vertretenen und damals allgemein geglaubten Vorstellung des teilen, mit der Bemerkung zurückweist, daß ihm nicht gefalle, •wen n man so
•so nst so gar stillen und frommen• Meisters steht. Besonders bemerkenswert gantz und gar die Männer Gottes, welche unmittelbar von dem HI. Geist
ist es, daß Carus, fasziniert von der von ihm entdeckten Analogie mit Faust, getrieben werden, wie andere gemeine Leute nach philosophischem Maaß-
die Hauptgestalt des Stichs als eine männliche anspricht. Stabe beunheilt und nicht allein ihre Temperamente, sondern auch die
284 Zu diesem Abschnitt cf. den bereits oben, Seite 428, Anm. 71, zitierten Auf· Grade, Nutzen und wer weiß was sonst auch vor kleine Abtheilungen dersel-
satz in Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, N. F. VIII (1931), pp. 1ff, b~n ausrechnen und aufs gewisseste bestimmen will• Q.W. Appelius, Histo-
Da sich die beiden Darstellungen, wenngleich unter verschiedenem Ges icht! risch-moralischer Entwurf[ der Temperamenten, Vorrede zur zweiten Aufl.,
1 737, fol. C. 42').
punkt mit dem gleichen Gegenstand befassen, sind Überschneidungen kauRI

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