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wirklichen Umkehr, und von der Radikalität der ntQLaYOYyrj, 43 Die Niederlage von Homo faber und der

und der Glückskalkül


die Plato von den Philosophen gefordert hatte, ist dies sehr weit
entfernt. Homo faber brauchte nur die Hände sinken zu lassen Richtetman das Augenmerk einzig auf die Ereignisse, die an
und eines der St.adien seiner eigenen Tätigkeit, das Anschauen der Schwelle der Neuzeit stehen, und bedenkt man nur die un-
des döos;, der immerwährenden Gestalt, ins Unendliche zu ver- rnittelbaren Folgen, die sich so zwangsläufig aus Galileis Ent-
längern und zu verabsolutieren, statt mit dem Anschauen nur deckungergeben, daß sie die Denker des siebzehnten Jahrhun-
anzufangen und das Angeschaute als Modell zu benutzen, um dertsin ihrer Evidenz geradezu geblendet haben müssen, so ist
es nachzumachen; und hierzu konnten sich zumindest diejeni- die Umstülpun g von Theorie und Praxis, bzw. die Ausmerzung
gen entschließen, die verstanden hatten, daß die Schönheit und der Kontemplation aus der Reihe der sinnvollen menschlichen
Vollkommenheit der Urbilder von menschlichen Händen nicht Vermögen, nahezu eine Selbstverständlichkeit. Ebenso selbst-
erreicht werden. ' verständlich scheint, daß diese Umstülpung Homo faber, das
Wenn daher der neuzeitliche Zweifel an dem Primat der Herstellen und Fabrizieren, und nicht den handelnden Men-
Kontemplation über Tätigsein jeglicher Art nicht mehr be- schen oder das Anima! laborans auf die höchste Stufe mensch-
werkstelligt hätte als die Umstülpung des Verhältnisses von licher Möglichkeiten hob.
Anschauung und Tun, so wäre der Rahmen der überlieferten Und diese Selbstverständlichkeiten scheinen sich auf den er-
Ordnung gewissermaßen nur in seine ursprüngliche Position sten Blick voll zu bestätigen. Unter den hervorragenden Merk-
zurückgedreht worden. Dieser Rahmen wurde erst gesprengt, malen der Neuzeit von ihren Anfangsstadien bis in die Welt
als in der Deutung des Herstellens selbst das Schwergewicht noch, in der wir leben, lassen sich überall die typischen Verhal-
sich schlechterdings von dem Produkt und dem immerwähren- tungsweisen von Homo faber nachweisen: die Tendenz, alles
den, das Herstellen leitenden Modell auf den Herstellungspro- Vorfindliche und Gegebene als Mittel zu behandeln; das große
zeß verlagerte, so daß es sich nun nicht mehr darum handelte, Vertrauen in Werkzeuge und die Hochschätzung der Produkti-
was ein Ding ist oder welch ein Gegenstand hergestellt werden vität im Sinne des Hervorbringens künstlicher Gegenstände;
soll, sondern ausschließlich darum, wie und durch welche Mit- die Verabsolutierung der Zweck-Mittel-Kategorie und die
tel und Vorgänge etwas entstanden ist und wie man diese Vor- Überzeugung , daß das Prinzip des Nutzens alle Probleme lösen
gänge nachmachen kann. Denn diese Schwergewichtsverlage- und alle menschlichen Motive erklären kann; die souveräne
rung implizierte sowohl, daß Kontemplation außerstande ist, Meisterschaft, für die alles Gegebene sofort Material wird und
ein Wahres zu erreic hen, wie daß Anschauung überhaupt ihre die gesamte Natur sich ausnimmt wie »ein ungeheuer großes
leitende Position innerhalb der Vita activa verloren hat und Stück Stoff, aus dem wir herausschneiden können, was wir wol-
nicht mehr zu den Erfahrungen gehört, die sich in der Alltäg- len, um es wieder zusammenzuschneidern, wie wir wollen« 70 ;
lichkeit melden und auf die sich die Philosophie zum Zwecke die Gleichsetzung von Klugheit mit Scharfsinn oder Findigkeit
der Verständigung berufen kann. unddie Verachtung für alles Denken, das nicht einfach abzielt
auf »die Fabrizierung von künstlichen Gegenständen, vor al-
lem von Werkzeugen, mit denen man Werkzeuge produzieren
kann,um die Fabrikation weiterhin bis ins unendliche zu variie-
ren«7 1 ; schließlich die Selbstverständlichkeit, mit der Handeln
undHer stellen identifiziert werden, bzw. mit der alles Handeln
im Sinne eines Herstellens verstanden wird.
Es würde zu weit führen, diesen Dingen im einzelnen nach-

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zugehen, und es ist auch nicht nötig ; man kann sie leicht an den ot,erkommenen Denkungsart von Homo faber voraus, die in
Grundüberzeugungen der Naturwissenschaften ablesen, die derTat in der Natur der neuzeitlichen Entwicklung selbst lie-
selbst heut e noch meinen, sie schafften nur Ordnung in der gen.Was sich mit der Denkart Homo fabers schließlich doch
»bloße n Ungeordnetheit«, dem »wilden Durcheinander Na. picht vertrug, war der neuzeitliche Prozeßbegriff. Was Homo
tur «72 , weil sie in ihrer Begriffssprache die älteren Vorstellun- faberanlangt, so war die neuzeitliche Akzentverlagerung von
gen von Harmoni e und Einfachheit durch die Modelle und Mu- demWas auf das Wie, von dem Ding selbst auf den H erstel-
ster ersetzt haben, die Homo faber für sein Her ste llen benötigt . lungsprozeß , keineswegs ein ungeteiltes Glück. Sie beraubte
Man kann sie natürlich ebensogut an den Grundsätzen der klas- aut einem Schlage den am Herstellen und Machen orient ierten
sischen politischen Ökonomie ablesen, deren höchstes Ideal Menschen jener festen Regeln und eindeutigen Maßstäbe, die
Produktivität und deren Vorurteil gegen nicht unmittelbar pro- in allen Zeiten der Mehrzahl der Menschen als Leitfäden für ihr
duktive Tätigkeiten selbst Marx noch dazu gebracht hat, den Handeln und als Kriterien für ihr Urteilen gedient haben. Die
doch so selbstverständlic hen Anspruch auf Gerechtigkeit für schließliche Entwertung aller Werte in der modernen Welt ist
die Arbeiterklasse im Namen ihrer »Produ ktivität « zu erheb en, sicher nicht nur, und vielleicht nicht einmal primär, der Ent-
bzw. die Arbeit im Sinne einer herstellenden Tätigkeit umzu- wicklung einer Warengesellschaft geschu ldet, wiewohl es au-
deuten. Am ausgeprägtes ten findet man sie in den pragmati- ßerZweifel steht , daß nur in ihrem Rahmen der Tauschwert so
schen Strömungen der neuzeitlichen Philosophie, die zu der entscheidend über den Gebrauchswert den Sieg davontragen
kartesischen, allgemeinen Weltentfremdung das Nützlichkeits- konnte, daß Austauschbarkeit und damit Relativierung den
prinzip fügte, das die eng lische Philosop hie seit dem siebzehn- »Wert(<aller Gegenstände bestimmen. Für das Denken der
ten und die französische seit dem achtzehnten Jahrhund ert so Neuzeit, sofern es von der Entwicklung der modernen Wissen-
entscheidend beherrscht, daß man sich hier oft gar nicht mehr schaft und der modernen Philosophie bestimmt ist, war es
vorstellen kann, daß Menschen in ihrem Verhalten durch ande- zumindest ebenso entscheidend, daß menschliche Existenz
res motiviert sein können als durch Interessen. Ganz allgemein Oberhaupt als eingebettet in die beiden übermenschlichen und
gesprochen, kann man wohl sagen, daß die älteste Überzeu- umgreifend en Prozesse der Natur und der Geschichte verstan-
gung von Homo faber, nämlich daß der Mensch das Maß aller den wurde, als sei das Menschengeschlecht nicht fortschrei -
Dinge ist, innerhalb der Neuzeit den Rang eines von aller Welt tend, sondern fortgerissen in eine unabsehbare und endlose
akzeptierten Gemeinplatzes erreichte. Zukunft , von der ein dem Prozeß übergeordneter Sinn nicht zu
Was einer Erklärung bedarf, ist nicht die moderne Wert- erwarten steht, in dem vielmehr alle Ziele und Zwecke unauf-
schätzung von Homo faber, sondern die Tatsache, daß diese haltsamüberspült werden.
Wertschätzung nicht noch allgemeiner war und vor allem sich Die große Revolution der Denkungsart, welche die Neuzeit
nicht länger durchgesetzt hat, daß auf sie vielme hr verhältnis- mit sich brachte, hat mit anderen Worten zwar die Fähigkeiten
mäßig schnell die Verherrlichung der Arbeit gefolgt ist. Die se vonHom o faber ungeheuer erweitert, hat ihn gelehrt, Appa-
nochmalige Umkehrung der Hierarchie der Tätigkeiten inner- rate her zustellen und Instrume nte zu erfinden, mit denen man
halb der Vita activa vollzog sich schritt weise und nahm sehr das unendlich Kleine und das unendlich Große messen und
viel weniger dramatische Formen an als die Umstülpung von handhaben kann, sie hat ihn aber zugleich der festen Maßstäbe
Theorie und Praxis im Allgemeinen oder die Umkehrung von beraubt, die ihrerseits, weil sie jenseits des Herstellungsprozes-
Handeln und Herstellen im Besonderen. Der neu en Hoch- sesselbst liegen, ihm einen echten, aus seiner Tätigkeit selbst
schätzung der Arbeit gingen gewisse, für die Neuzeit höchst stammenden Zugang zu etwas Absolutem und unbedingt Ver-
charakt erist ische Abweichungen und Veränderungen in der läßlichem verschaffte n. So viel dürfte gewiß sein, daß keine der

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Tätigkeiten der Vita activa so unmittelbar von dem Verlust der ilt, wenn weltliche Gegenstände nicht mehr primär auf ihren
Anschauung und der Kontemplation als eines sinngebenden , c,ebrauchscharakter angesehen und in ihrer Nützlichkeit beur-
menschlichen Vermögens betroffen war wie gerade das Her. teilt werden , wenn alle Dinge statt dessen zu den mehr oder
stellen. Denn im Unterschied zum Handeln, das wesentlich weniger beliebigen, jederzeit auswechselbaren Nebenproduk-
darin besteht, Prozesse zu veranlassen , und im Unterschied zur ten des Produktionsprozesses geworden sind, durch die sie ent-
Arbeit , die an den Stoffwechselprozeß des Organismus gebun . standen sind, wenn das Endprodukt des Produktion sprozesses
den bleibt, betrachtet das Herstellen die Prozesse, mit denen es oicht mehr der Endzweck ist und der erzeugte Gegenstand
zu tun hat, als etwas Sekundäres, als bloße Mittel für seine nicht mehr gleichsam zur Ruhe kommt in einer Verwendung,
Ziele und objektiven Zwecke. Überdies war natürlich keine an- die im vorhinein festgelegt war, sondern dazu dienen muß,
dere menschliche Fähigkeit so tief von der modernen Weltent - -etwas anderes zu produzieren« - dann ist es mit dem Nütz-
fremdung betroffen und hatte so viel zu verlieren durch die lichkeitsprinzip in der Tat nicht mehr weit her; es ist kein »ab-
Verlegung des archimedischen Punktes in das Bewußtsein wie soluter« Wert mehr , sein Wert ist »zweitrangig , und eine Welt,
das Vermögen, dessen eigentlicher Sinn darin beste ht, eine die keine primären Werte enthält, kann auch keine sekundären
Welt zu erstellen und Weltdinge hervorzubringen. enthalten « 74 . Grundsätzlich ereignet sich dieser radikale Wert-
Daß Homo faber schließlich an den Bedingungen der Neu- verlust innerhalb de s begrenzten Begriffsrahmens von Homo
zeit scheitern sollte, daß es ihm nicht gelingen würde, in der faberselbst bereits, wenn er anfängt, sich primär nicht mehr als
modernen Welt seine Maßstäbe und Wertungen zur Ge ltung zu den Hersteller von Dingen und den Ersteller eines Gebildes
bringen , war eigentlich bereits entschieden, als das Nützlich- von Menschenhand zu betrachten, sondern als einen Werk-
keitsprinzip , der wirkliche Inbegriff des herstellenden Den- zeugmacher, und zwar vor allem als einen Fabrizierer von
kens, von dem Glückskalkül abgelöst wurde, von dem Prinzip »Werkzeugen , die ihrerseits Werkzeuge erzeugen«, der nur
»des größtmöglichen Wohlbefindens der größten Anzahl «73 . nebenbei auch noch Dinge hervorbringt. Will man in die sem
Dies geschah bereits Ende des achtzehnten Jahrhunderts, und Zusammenhang das Nützlichkeitsprinzip überhaupt noch zur
seither ist die anfängliche Überzeugung der Neuzeit, daß der Anwendung bringen, so wird es sich primär nicht auf Ge-
Mensch nur erkennen kann , was er selbst gemacht hat- die sich brauchsgegenstände und ihren unmittelbaren Nutzen bezie-
erst so außerordentlich günstig für die Vermögen von Homo hen, sondern auf den Produktionsprozeß als solchen. Was
faber auswirken mußte -, mehr und mehr der dem spezifisch immer Produktivität überhaupt steigert, bzw. die für sie not -
modernen Denken noch adäquateren Überzeugung gewichen , wendige Anstrengung herab setzt, gilt als nützlich. Was besagt,
daß alles Seiende nur Funktion und Exponent eines Proze sses daßder Maßstab nicht mehr Nutzen und Brauchen ist, sondern
ist; und dies Prozeßdenken steht den Bedürfnissen und Ideal en •Wohlbefinden« - die Summe an Lust und Unlust, die in dem
einer am Herstellen orientierten Denkungsart fremd und sogar Produzieren oder Konsumieren erfahren wird.
feindlich gegenüber. Denn das Prinzip der Nützlichkeit postu- Benthams Erfindung des »Lust- und Unlust-Kalküls« hatte
liert zwar als seinen absoluten Bezugspunkt den Menschen , der dendoppelten Vorteil, scheinbar eine mathematische Methode
das Seiende in Rohstoff verwandelt, um es zu nutzen und mit indie moralischen Wissenschaften einzuführen und gleichzeitig
dem erstellten Material Gegenstände hervorzubringen, aber es ein Prinzip gefunden zu haben, das ausschließlich auf Selbst-
postuliert damit auch eine objektive Welt von Gebrauchsge- reflexion beruhte. Was er unter »Glück« verstand, war die
genständen, die , wenn nicht als Welt schlechthin, so doch zu- Endsumme der Lustgefühle, die übrigbleibt , wenn man die Un-
mindest als Umwelt dem Menschen gegenübertritt. Wenn dies lustgefühle von ihnen subtrahiert; aber die s auf Grund eines
Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt nicht mehr gesichert lllathematischen Kalküls gefundene Wohlbefinden meldet sich
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lediglich im Bewu ßtsein, es hat keine äußeren Merkm ale wie der Neuzeit eine and ere und verstä rkt e Betonung. Im Altertum
Re ichtum ode r Gesundheit, und es bleibt so in sich selbst einge- wares schließ lich die Welt selbst, die den Menschen veran-
schlossen und abgetrennt von der Außenwelt wie das kartesi- laßte , sich auf sich selbst zurückzuziehen, um der von ihr er-
sche cogito me cogitare. Bentham s unau sgespro chen e Grund- zeugten Unlust zu entkommen, und das heißt , daß Lust und
vorau ssetz ung ist natürli ch die gleiche wie die der Philosophie Unlust unter die se n Umstän den noch in eine m, wenn auc h ne-
zu Beginn der Neuzeit; er setzt voraus, daß das den Menschen gativgearteten Bezug zu der Welt ste hen, der man entko mmt.
Gemeinsame nicht die Welt ist, sondern die in jedem Einzelex- Die manni gfaltigen Spielart en der Weltentfr emd ung im Alter-
emplar sich wiederholende Selbigkeit bestimmter Eigenschaf- tum - vom Stoizism us über den Epikur eismus zu Hedonism us
ten, die es ihm ja allerers t ermöglicht, mit pseudomat hemati- und Zynismus - lassen sich alle auf ein tiefes Weltmißtrauen
scher Gewißheit die Summe der Lust- und Unlustgefühle zu zurückführ en, auf den Impuls, sich vor der Welt zu verbergen
er rechn en. Wenn das Wort H;edon ismus ber eits für den Epiku- undzu retten, um der Not und den Gefahren zu entgehen, die
reismus der Spätantik e fehl am Plat ze ist, so ist es geradezu sie birgt , und sich auf ein Inn eres zurückzuziehen, in dessen
grotesk, es für diese mode rne Weltanschauung, die mit der al- Bereich das Selbst nur mit sieb selbst konfrontiert ist. Was die-
ten Phil osophenschul e seh r wenig zu tun hat, zu gebrauchen. senStrömun gen aber in de r Neuzeit entspr icht , also der Purita -
Das Prin zip des H edonis mus ist, wie wir bereits erwähn ten, nismus, der Sensualismus und schließlic h Benthams Hedonis-
nicht Lu st, sondern das Vermeiden der Unlust, und Hum e, der mus, entspringt einem Mißtrauen des Menschen gegen sich
im Unterschied zu Bentbam ein Philosoph war, wußt e sehr selbstund läßt sich auf den Zweifel zurü ckfü hren, der die Wirk-
wohl, daß das wahr e Leitp rinzi p des Hedo nismus nicht d ie Lust lichkeitskapazität der Sinne, die Wahrheitskapazität der Ver-
ist, sondern der Schmerz, nicht die Begierde, sond ern die nunft und damit die Vollkommenheit der menschlichen Natur
Furcht. »Wenn man fragt, warum Gesundheit begehrt wird, überhaup t in Frage stellte; ihr Ausgangspunkt ist nicht die Ver-
wird die Antwort sofort lauten , weil Krankheit Schm erz berei- derbtheit der Welt, sondern die Unzulänglichkeit und Ver-
tet. Fragt man weiter und wünscht zu erfa hren , warum Schmerz derbtheit der Menschennatur.
verabsche ut wird, so wird es sich als unmöglich erwei sen, hier- Dies e Verderbtheit ist weder in ihrem Ursprung noch ihrem
für einen Grund anzugeben . Dies ist ein absolutes Zi el , das in Gehalt nach christlich oder biblisch, obwohl es, da all dies sich
keinem Bezugszusammenhang zu irgendeinem ande ren inten- innerh alb einer jüdisch-christlichen Tradition zutrug, nicht aus-
dierten Gegenstan d steht.« 75 Der Grun d für diesen eigentüm- bleiben konnte, daß die Purit aner sie als Folge der Erbsünde
lichen Sachverhalt ist, daß nur der Schmerz, aber niemals die verstand en, während der Sensualismus sich zumeist bewußt ge-
Lust, völlig gege nstand slos ist , daß der Schmerz überhaupt der gendas Christentum kehrte - wobei es schwerfä llt zu entschei-
einz ige Zustand ist, in dem man in der Tat nichts fühlt als sich den, was mehr Schaden angerichtet oder abstoße nder gewirkt
selbst ; die Lust da gegen genießt nicht sich selbst, sondern ihren hat, der puritanische sinnen- und menschenfeindliche Fanatis-
Gegenstand. Schmerz ist der einzige, wirklich absolut innere musoder die Scha mlosigkeit , mit der die verschä mten und un-
Sinn , der es an Geg enstandslo sigkeit dur chaus mit logischen verschämten Nachfolger Bentham s das für Tugend erk lärt en ,
und mathem atische n Schlußfol geru ngen aufnehmen und des- was immer als Laster gegolte n hat. Während das Altertum Ein-
sen Kraft zu überwältigen sich durchaus dem Zwang ihrer Evi- bildung skraft und Erinnerung mobilisierte, um eine Illusion
denz vergleichen kann. lustvollen Wohlbefindens heraufzubeschwören - die Vorstel-
Daß die Weltanschauung des Hedo nismu s sich letztlich auf lung der Schmerz emp findun g, um die an sich neut rale
die Schmerzerfahrung gründ et , gilt natürlich sowohl für da s Al- Schmerzfreihe it zur Lust zu ste igern , oder die Erinnerung an
tertum wie die Neuzeit; abe r dies Gegrü nd etsein erhäl t doch in Lustzustä nde, um aku te Schmerzen zu vergessen-, benötigte

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die Modeme den Kalkül der Lust- und Unlustempfindungen ;Lustund Unlust, Furcht und Begierde in allen diesen Systemen
oder die puritanische moralische Buchführung, die die Ver- •gar nicht so sehr auf »Glück« abzielen als auf eine Intensivie-
dienste als Haben und die Verstöße als Soll verbucht, um auf rungdes Lebens des Einze lnen, bzw. auf eine Garantie des Le-
diese oder jene Weise sich die lllusion einer mathematischen t,enspro zesses des Menschengeschlechts. Wäre der neuzeit-
Gewißheit in Dingen des Glücks oder des Seelenheils zu ver- liche Egoismus wirklich das rücksichtslose Streben nach Lust,
schaffen. (Diese moralischen Rechenkünste sind natürlich dem daszu sein er vorgibt, so könnte er unmöglich das entbehren,
Geist der spätantiken Philosophenschulen ganz fremd. Man was in allen echt hedonistischen Weltanschauungen ein uner-
braucht nur an die Selbstdisziplin, die Nücht ern heit und den läßliches Kernstück der Argumentation bildet, nämli ch eine ra-
strengen Charakteradel zu denke n, die im Altertum den dikale Rechtfertigung des Selbstmords. Eine solche aber findet
Menschentypus auszeichnete, der von der epikureischen oder sich in keinem dieser Systeme, und dies allein weist bereits dar-
stoischen Schule geprägt wär, um sich die Kluft zu vergegen- auf hin , daß wir es hier in Wahrheit mit einer Art Lebensphi-
wärtigen, d ie diese Strömungen von dem modernen Puritanis- losophie zu tun haben, nämlich mit der Lebensphilosophie in
mus, Sensualismus und Hedonismus trennt. Und für diesen ihrervulgärsten und unkritischsten Form. Letztlic h ist es im-
grundlegenden Unterschied ist es nahezu gleichgültig, ob der merwieder das Leben selbst, auf das als höchsten »Wert« und
moderne Charaktertyp noch von der älteren, engstirnigen , fa- Maßstab alles andere bezogen ist, insofern nämlich die Inter-
natischen Selbstgerechtigkeit der Puritaner geprägt ist oder essen der Individuen wie das Interesse des Menschenge-
bereits auseinandergefallen ist in die Euphorien und Depres- schlechts mit den Forderungen individuellen Lebens oder des
sionen, das hilflose Getriebensein von ständig wechselnden Gattung slebens gleichgesetzt werden, als sei es nur selbstver-
Stimmungen, das für den neueren, sich alles gestattenden Ego- ständlich , daß das Leben der Güter höchstes ist, als könnte es
zentrismus so charakteristisch geworden ist.) Man möchte an- prinzipiell kein Leben geben, dem der Tod vorzuziehen ist.
nehmen, daß die fragwürdige Entdeckung, »die Natur habe das Wir hätten das eigentümliche Versagen von Homo faber,
Menschengeschlecht unter die absolute Herrschaft von Lust sich unter den scheinbar so günstigen Umständen der Neuzeit
und Unlust gestellt« 76 , und die absurde Vorstellung von einer zubehaup ten, auch noch an einem anderen, philosophisch viel-
exakten Moralwissenschaft, die es erlauben würde, den lnten- leicht relevanteren Beispiel illustrieren können. Humes radi-
sitätsgrad von Seelenempfindungen zu messen und die Meßre- kale Kritik an der Philosophie der Überlieferung setzt bekannt-
sultate in Verhaltensregeln umzusetzen, 77 nicht ausgereicht ha- lich an dem Kausalitätsprinzip ein, und da diese Kritik dem
ben würden, um dem Lustprinzip und dem Glückskalkül einen späteren Evo lutionsprinzip den Weg freilegte, hat man in ihr
solchen Einfluß auf die. Geistesgeschichte der englischspre- oft einen der Ursprünge der modernen Philosophie gesehen.
chenden Welt zu sichern. Nun ist offenbar, daß gerade das Kausalitätsprinzip, bzw. die
In Wahrheit verbirgt sich hinter der Theorie von der Heilig- beiden ihm zugrundeliegenden Axiome: daß alles, was ist,
keit des Egoismus und der wohltätigen Macht rücksichtsloser einen Grund haben (nihil sine causa), und daß dieser Grund
Interessenvertretung in allen ihren Abarten, deren unüberbiet- vollkommener sein muß als seine vollkommenste Wirkung, un-
bare Banalität im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahr- mittelbar aus den Erfahrungen aufsteigen, die im Bereich des
hundert die gängige Diskussion moralischer Probleme be- Herstellen s zu Hause sind und in denen es axiomatisch fest-
herrschte, ein anderer Bezugspunkt, von dem sich in der Tat steht, daß der verursachende Hersteller oder Schöpfer dem,
ein erheblich mächtigeres Prinzip ableiten ließ, als der Lustkal- Yillser verursacht, herstellt oder schafft, prinzipiell überlegen
kül zu bieten imstande war, und das ist das Prinzip des Lebens ist. Der Wendepunkt neuzeitlicher Geistesgeschichte, wie er
selbst. Sieht man näher zu, so stellt sich nämlich heraus , daß sich in diesem Zusammenhang darstellt, liegt in der Ablösung

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des paradigmatischen Bildes von dem Uhrmacher, der alle von einem mechanistischen Weltbilde steckenblieb und über die
ihm fabrizierten Uhren prinzipiell transzendiert, durch das Bild y0 rstellun gsweisen von Homo faber nie hinauskommt, wohl
einer orga nischen Entwicklung, in dem vermöge des Prinzips aberder für das neunzehnte Jahrhundert so chara kterist ische
der Evolution ein niederes Wesen, wie z.B. der Affe, die Ent- Naturalismus löste die Problematik der Philosophie des Des-
wicklun g eines höheren Wesens, des Menschen, »verursachen « cartes, indem er das Leben selbst an d ie Ste lle von Bewußtsein
kann. In einem solchen, an den Phänomenen organischen und Auß enwelt setzte, und schien so wenigstens für eine Zeit
Wachstums abge lesenen Evolutionsvorgang gibt es streng ge- die Brücke gefunden zu haben, welche die sich immer weiter
sproc hen nichts Kausales, es sei denn, man wolle behaupten, voneinand er entfernenden Gebiete der Philosophie und der ex-
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daß die Knospe Grund und Ursache der Blüte sei oder das Kind akten Wissenschaften wieder verbinden würde.
Grund und Ursache des erwachsene n Menschen.
In dieser Änderung der Denkun gsart geht es um sehr viel
mehr als eine Absage an die unlebendige Starrhe it des mecha-
nistischen Weltbildes. Es ist, als sei der latente Konflikt des 44 Das Leben als der Güter höchstes
siebzehnten Jahrhunderts zwischen den beiden möglichen Er-
kenntnismethoden, die sich aus der Entdeckung Galileis zu er- Es liegt in de r Natur der geisteswissenschaft lichen Methode,
geben schienen, dem Experiment und dem herstellenden, ein- daß sie geschichtliche Zusammenhä nge mit großer Konse-
greifenden Tun auf der einen Seite und der Selbstreflexion auf quenz und Stimmigkeit darstellen und »erklären« kann, und so
der anderen, schließlich zugunsten der Selbstreflexion ent- könnte man auch hie r leicht den modernen Lebensbegriff im
schieden worden. Denn das einzige, was als Gegenstand der Rahmen einer Ideenentwicklung immane nt aus den Apor ien
Selbstreflexion greifbar vorliegt, wenn sie sich nicht in einem und Verlegen heiten herleiten, in die sich die neuzeitliche Philo-
von aJler Wirklichkeit en tleerten Bewußtsein überhaupt ver- sophie seit Descartes verstrickt hatte. Was in solchen Betrach-
fangen will, ist natürlich der biologische Prozeß des leiblichen tungen nur leider immer verlorengeht, ist die Wirklichkeit
Organismus. Und da dieser biologische Pro zeß, der der Selbst- selbst, und was immer übersehen wird, ist die einfac he Tatsa-
reflexion zugänglic h ist, gleichzeitig ein Stoffwechsel zwischen che, daß alle »Ideen« und Begriffe als Produkte des Ge istes
dem Menschen und gegebene r Materie ist, kann es in der Tat a priori so eng miteinander verbunden sind, daß es niemals un-
scheinen, als biete gerade die Selbst reflexion einen Ausweg aus möglich ist, das Eine aus einem Anderen zu entwickeln und
der Realitätslosigkeit des auf sich selbst bezogenen Bewußt- abzuleiten. Der Sieg von Hom o faber war einem Ereignis ge-
seins, als habe sie im Menschen, zwar nicht in seinem Bewußt- schuldet, nämlich daß es ihm gelungen war, ein Instrument
sein, aber in seinem Körperprozeß, genügend äußere Materie zu erfind en, das die gesamte Naturwissenschaft revolutionär
gefunden, um ihn wieder mit der Auß~ nwelt zu verbinden. Die umgestaltete; seine Nieder lage wiederum war die Folge dessen
Subjekt-Objekt-Spaltung, die allen Bewußtseinsprozessen in- gewesen, daß kraft dieser Umgestaltung die Physik sich in
härent und in der kartesisc hen Gegenüberstellung von einer res Astrophysik und die Naturwissenschaft in eine Universumswis-
cogitans, dem Menschen, und einer res extensa, der ihn umge- senschaft verwandelt hatte. Was schließlich zu erkläre n bleibt,
be nden Welt, unheilbar ist, verschwindet vollständig im Falle ist, warum diese Niederlage gerade mit dem Sieg des Anima!
eines lebendigen Organismus, dessen Lebensprozeß darin be- laborans endete; warum der Sieg der Vita activa über die Vita
ste ht, daß er sich mit Materie ve rmischt, sich die res extensa contempl ativa zur Folge hatt e, daß gerade der Arbeit ein Pri-
einver leibt, sie konsumiert und der Außenwelt gleichsam wie- mat über alle anderen Tätigkeiten zufiel; oder, anders gewen-
der zurückerstattet. Nicht der Materialismus, der in der Tat in det, warum innerhalb der mannigfaltigen Gliederungen der

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menschlichen Bedingtheit und der ihr entsprechenden men sch- festgehaltenen Lebens ergibt. Angesichts der möglichen Un-
lichen Vermögen gerade die Tatsache des Lebens absolut vor- sterblichkeit des Einzellebens konnte dem Trachten nach welt-
herrschend wurde. )icher Unsterblichkeit keine große Bedeutung mehr zukom-
Dabei ist vorerst in Rechnung zu stellen, daß die neuzeit- men, und das, was die Welt an Ruhm und Ehre zu verleihen
lichen Umstülpungen und Umkehrungen sich in einer durch vermag , wird eitel, wenn die Welt vergänglicher ist als man
das Christentum bestimmten Gesellschaft vollzogen, deren selbst.
Grundüberzeugung von der Heiligkeit des Lebens die Säkulari- Was die christliche Umkehrung des Verhältnisses von Welt
sierung und den Niedergang der christlichen Religion nicht nur undMensch politisch besagte, kann man sich vielleicht am be-
intakt überlebt hat, sondern von diesen Ereignissen noch nicht sten daran klarmachen, daß das Leben des Einzelnen nun ge-
einmal wesentlich erschüttert wurde. Das aber besagt, daß die nauan die Stelle zu stehen kam, an der für das Denken der
neuzeitliche Wende noch in den Spuren der entscheidenden römischen Antike das »Leben« des Gemeinwesens gestanden
Umkehrung erfolgte, mit der das Christentum am Beginn unse- hatte. Wenn Paulus sagt, daß der Tod »der Sünde Sold« sei, so
rer Zeitrechnung in die antike Welt einbrach und die politisch setzt er voraus, daß Leben eigentlich unsterblich ist, und dieser
radikaler war als alle spezifischen, dogmatischen Glaub ensin- Gedank e entspricht aufs genaueste einem Wort Ciceros, der
halte, was sich schon daran erweist, daß sie das Schwinden die- sagt , daß im Falle von Staaten der Untergang, wörtlich: der
ser Glaubensinhalte nahezu intakt überdauert hat. Denn die Tod, die Strafe für die von ihnen begangenen Vergehen sei,
christliche Heilsbotschaft von der Unsterblichkeit des Einzelle- undzwar mit der ausdrücklichen Begründung , daß Staaten für
bens verkehrte ihrem Wesen nach die antike Beziehung zwi- die Ewigkeit geplant und gegründet sind. 79 Man bat manchmal
schen Mensch und Welt; da, wo antikem Glauben zufolge die denEindruck, als sei der Begriff der Unsterblichkeit im Urchri-
Unvergänglichkeit des Kosmos gestanden hatte, erschien nun stentum ausdrücklich an dem römisch-politischen Weltbegriff
ein unsterbliches menschliches Leben, und an den Platz, den orienti ert - jedenfalls bei Paulus, der schließlich römischer
die Sterblichen eingenommen hatten , rückte nun eine vergäng- Bürger war -, als hätte man bei der Bestimmung des unsterb-
liche Welt. lichen Lebens des Einzelnen ausdrücklich an die Unsterblich-
Historisch gesprochen möchte man vermuten, daß gerade keit gedacht, die dem Gemeinwesen potentiell innewohnt.
diese Umkehr dem Christentum zu dem Sieg über die Religion Denn so wie der politische Körper nur potentiell unvergänglich
des AJtertums verholfen hat, da seine »frohe Botschaft « in eine ist und an politischen ))Sünden « zugrunde gehen kann, so hat in
Welt erklang, die ahnte, daß sie dem Untergang geweiht war, der christlichen Lehre von der Erbsünde das menschliche Le-
und die nun in ihrer VerzweiOung eine Hoffnung erhielt, die ben seine Unsterblichkeit in Adam verwirkt, und wiewohl es
alles weltlich zu Hoffende weit hinter sich ließ. Politisch ge- sie durch den Erlösungstod Christi zurückgewonnen hat, ist es
sprochen aber ist kein Zweifel, daß diese hoffende lhnkehr für doch immer nur eine potentielle Unsterblichkeit, welche die
Würde und Relevanz des Bereichs menschlicher Angeleg en- »Todsünden« wieder verwirken.
heiten katastrophale Folgen haben mußte. Denn gerade die ei- Nirgends vielleicht zeigt sich schlagender, welch Geistes
gentlich politische Betätigung war bis dahin entscheidend von Kinddas Christentum, zumindest das Urchristentum, ist, als in
der Hoffnung auf eine weltlich-irdische Unsterblichkeit beseelt der Selbstverständlichkeit , mit der postuliert wird, daß das Le-
gewesen; von diesem höchsten Rang menschlichen Strebens ben der Güter höchstes ist. Denn es ist genau an diesem
sank sie nun auf das Niveau einer Betätigung, die sich zwangs- Punkte, daß sich die Wege des hebräischen und des heidni-
läufig aus der Sündbaftigkeit des Menschengeschlechts und den schenAltertums unüberbrückbar trennen. Nichts liegt dem AJ-
berechtigten Bedürfnissen und Nöten eines noch im Diesseits ten Testament ferner als die Verachtung des klassischen Alter-

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tums für die Mühe und Plage des schieren Lebens, für die Ar- derAnfang und die Bedingung der Unsterblichkeit, und als die-
beit und das Gebären, nichts ferner als die neidische Bewunde- serAnfan g hat es einen absoluten Wert. Hiermit mag die un-
rung des »leichten Lebens« der Götter, die Unbedenklichkeit 1,ezweifelbare Tatsache zusammenhängen, daß erst, als das
der Kinderaussetzung, die feste Überzeugung, daß ein Leben Christentum die Unsterblichkeit des einzelnen Lebens zu einem
ohne volle Gesundheit nicht wert ist, gelebt zu werden (so daß zentralen Glaubensartikel der abendländischen Menschheit er-
man z.B. daran festhielt , daß der Arzt, der ein Leben, das er hoben hatte, auch das irdische Leben zum höchsten Gut dieser
nicht heilen kann, verlängert, seinen Beruf mißverstehe 8°), Menschheit wurde.
schließlich das Lob des Selbstmords, wenn er dazu verhilft, Die christliche Verabsolutierung des Lebens brachte eine Ni-
einem Schimpf oder auch nur einer entwürdigenden Unerträg- vellierung der alten Unterschiede und Gliederungen innerhalb
lichkeit zu entgehen. Dennoch brauchen wir nur daran zu den- der Vita activa mit sich, insofern diese nun alle gleichermaßen
ken, wie die Zehn Gebote das Verbot des Tötens unter anderen alsdie Tätigkeiten betrachtet wurden, die notwendig sind, das
Vergehen aufzählen, die es an Schwere des Verbrechens für Leben zu erhalten. Daraus ergab sich beinahe zwangsläufig,
unsere Art zu urteilen unmöglich mit dem Mord aufnehmen daßdas Herstellen und Handeln wie das Arbeiten dem Verdikt
können, um zu sehen, daß nicht einmal das hebräische Geset z, der Notwendigkeit unterstellt wurden. Das besagte natürlich
das doch unseren Rechtsbegriffen so viel näher steht als die andererseits, daß die Arbeit selbst, bzw. die Tätigkeiten , die
Rechtssysteme des heidnischen Altertums, den Schutz des Le- notwendig sind, den Lebensprozeß in Gang zu halten, jeden-
bens zum Eckstein der jüdischen Gesetzgebung machte. Was falls teilweise von der Verachtung befreit wurden, welche die
uns nahezu selbstverständlich ist, daß der Mord gleichsam das Antike für sie gehegt hatte. Die uralte Verachtung des Sklaven,
Urverbrechen ist, dies konnte man zwar der Geschichte von der lediglich der Notdurft des Lebens diente und sich dem
Kain und Abel entnehmen, aber nicht dem jüdisch-hebräischen Zwang eines Herrn unterwarf , weil er selbst um jeden Preis am
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Gesetzesdenken. So ist es, als nähme das biblische Gesetz eine Leben bleiben wollte, konnte sich in einer christlichen Welt

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Ir mittlere Stellung ein zwischen der klassischen Antike und allen
christlichen und nach-christlichen Rechtssystemen , und das
unmöglich halten. Denn der Christ konnte nicht gut mit Plato
meinen , der Sklave habe seine sklavische Seele bereits dadurch
mag damit zusammenhängen, daß die hebräische Frömmigkeit bewiesen, daß er sich nicht das Leben genommen habe, als das
1
um eine potentielle Unsterblichkeit des Volkes so zentriert ist Schicksal der Sklaverei ihn traf; für ihn war die Erha ltun g des
wie die antike Religion um die Unvergänglichkeit der Welt und eigenen Lebens unter allen Umständen und Bedingungen zu
des Kosmos und der christliche Glaube um die Unsterblichke it einer heiligen Pflicht geworden, und der Selbstmord galt als ein
des Einzelnen. Jedenfalls mußte diese christliche Todlosigkeit schwereres Verbrechen als der Mord. Nicht dem Mörder , aber
der Person nicht nur zu der Akzentverlagerung auf eine er- dem Selbstmörder wird das christliche Begräbnis verweigert.
hoffte jenseitige Welt, sondern, und dies ist in unserem Zusam- Dies aber hat nicht das geringste mit der modernen Verherr-
menhang wichtiger, in eins damit auch zu einer außerordentli- lichung der Arbeit zu tun, von der sich im Neuen Testament
chen Steigerung der Relevanz des diesseitigen Lebens führ en, und in der gesamten christlichen Tradition vor der Neuzeit
insofern es ja der Beginn des ewigen Lebens ist. Entscheidend keine Spur findet, wie sehr sich auch moderne Interpreten be-
hierfür ist, daß das Christentum, abgesehen von gnostischen müht haben, sie in die Texte hineinzulesen. Paulus war nun
und häretischen Strömungen, stets großes Gewicht darauf ge- wahrlich kein »Apostel der Arbeit «81 , wie man gemeint hat,
legt hat, daß das Leben , dem es Unsterblichkeit und also End- und die wenigen Stellen, auf die sich diese Behauptung zu stüt-
losigkeit verhieß, mit einer Geburt auf Erden anfängt. Das Er- zen versucht, wenden sich an Faulpelze, die »anderer Leute
denleben mag einem Jammertal gleichen, es bleibt doch immer Brot essen «, oder ermahnen zur Arbeit, auf »daß ihr stille seid
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und euch um eu re eigenen Angelegenheiten kümmert «, d. h. Primatder Vita contemplativa gegenüber allen Tätigkeiten der
sie warnen vor der Öffentlichkeit und schärfen ein, daß nur ein Vita activa immer festgehalten hat : »Vita contemplativa sim-
privates Leb en dem christlichen Lebenswandel entspricht. R2 pliciter melior est quam vita activa «, »das Leben der Kontem-
Und in der späte ren christlichen Philosophie , vor allem bei plationist ohne Einschränkungen besser als ein tätige s Leben«
Thomas, hören wir, daß Arbeit eine Pflicht für diejenigen ist , _ und was immer die Verdienste des tätigen Lebens sein mö-
die sonst keine Mittel haben, sich am Leben zu erhalten, aber gen,die der Kontemplation sind »wirksamer und mächti ger«. 86
die Pflicht ist, sich am Leben zu erhalten, nicht, zu arbeit en ; Dies nun war sicher nicht die Meinung Jesu. sondern offenbar
wenn man sich durch Betteln seinen Lebensunterhalt versch af- die Fol ge des mächtigen Einflu sses griechischer Philosophie
fen kann, um so besser. Liest man die Quellen ohne modern e aufdas scho lastische Denken; aber selbst wenn mittelalterli che
Vorurteile, so bleibt ersta1-1nlich,wie selten die Kirchenv äter Philosophi e sich enger an Geist und Buchstab en der Evange-
auf den doch so naheliegenden Gedanken kamen, die Arb eit lien in diesen Fragen gehalten hätte, so wäre dabei schwerlich
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als Strafe für die Erbsünde zu erklären und sich in diesem Sinn eine Verherrlichung gerade der Arbeit herausgekomm en.
auf da s Pauluswort »Wer nicht arbeitet , soll auch nicht essen « Die einzige Tätigk eit , zu der die Predigt Jesu die Hörer anhält,
zu berufen. Aber Thoma s folgt nicht dem Alten oder dem ist das Hand eln , und das einzige menschlich e Vermögen , das in
Neuen Testam ent , sondern Aristoteles, wenn er erklärt, daß ihremMittelpunkt steht, ist der Glaube, der Wunder wirkt.
nur »die Notwendigkeit zur körperlichen Arbeit zwinge«R'.l_ Entscheidend in unserm Zusammenhang ist, daß die Neuzeit
Auch für ihn ist die Arbeit eine Natur einrichtung, die Art und an dem Postulat , daß das Leben und nicht die Welt der Güter
Weise, durch die die Natur da s Men schengeschlecht am Leben böehstes ist, unbedingt festhielt ; auch die kühn sten und radi-
erhält, und hieraus folgert er, daß es keineswegs eine Pflicht kalsten Revisionen der Überlieferung haben niemals die funda-
aller Menschen sei, im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot zu mental ste aller Umkehrungen , die wir in unserer Tradition vor-
essen, sondern daß man nur arbeiten so lle, wenn man sich wirk- finden , die Umstülpung de s Verhältnisse s von Leben und We lt,
lich anders nicht mehr zu helfen weiß.8-1Auch ist die häufi ge die das Christentum in die untergehende Antike brachte, in
Ermahnung zur Arbeit zwecks Vertreibung der durch den Mü- ihrer Geltung angetastet. Die Denker der Neuzeit hab en es
ßiggang hervorgerufenen Versuchungen und Laster kein es- wahrlich an Ausdrücklichkeit und Präzision in ihren Angriffen
wegs chri stlichen , sondern römisch en Ursprungs , wie über- auf die Überlieferung nicht fehlen lassen , aber das Primat des
haupt ein guter Teil der sogenannten christlichen Moral direk te Lebens über alles andere war für sie zwingend evident, und
römische Erbschaft ist. Wenn schließlich die körperliche Ar - diese Evidenz hat auch in der mod ernen Welt, die auf die Neu-
beit als Mittel benutzt wird zur Abtötung der fleischlichen Be- zeit folgt und in der wir bereits leben, nichts an Überzeugungs-
gierde n, so urt eilt das Christentum offensichtlich hier über die kraft verloren. Das aber heißt nicht , daß wir eben immer noch
Arbeit gena u so wie das Altertum, denn es spricht ja nicht ge- in einer wesentlich durch das Christentum bestimmten Welt
rade für eine Verherrlichung des Arbeitens als solchen, wen n lebten, obwohl es durchaus denkbar ist, daß die Entwi cklung
die Klöster darin eine Art der Askese erbl ickten, die sie zudem einen ganz anderen Weg gegangen wäre, wenn der archim edi-
noch mit anderen und, wie uns scheint, grausameren Form en sche Punkt siebzehnhu ndert Jahre früher entdeckt worden
der Selbst-Fo lterung auf eine Stufe stellten. 85 wäre, als das höchste . Gut des Menschen nic:htdas Leben , so n-
Trotz seines G laubens an die Heiligkeit des Lebens, das un- dern die Welt war. Denn das Leben, das die Modeme für das
ter allen Umständen und mit allen Mitteln erhalten werd en höchste Gut hält, ist nicht mehr ein unsterbliches Leben, und
mußt e, konnt e das Christentum schon darum keine eigent liche wenn auc h nicht zu leug nen ist, daß auch d·es Postulat christ-
Arbeitsphilosophie entwickeln, weil es an dem unbedingt en lichen Ursprungs ist, so war doch die Ve~absolutierun g des
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irdischen Lebens innerhalb des christlichen Glaubens nur ein, ben würde. Auch eine erdgebundene Technik hätte vielleicht
wenn auch wichtiger, Begleitumstand. Hinzu kommt, daß die globale Zusammenfassung der Erdoberfläche schließlich
selbst unter Absehung von der spezifisch christlichen Dogma- zur Folge gehabt, aber sie hätte schwerlich ermöglicht, Masse
tik das geistige Klima des Christentums so offenbar auf Glau- in Energie zu verwandeln oder den Mikrokosmos der Elemen-
ben und Vertrauen gestimmt ist, daß ihm schwerlich etwas tarteil chen zu erschließen. Sicher jedenfalls ist, daß die Um-
größeren Schaden hätte zufügen können als die Schule des kehrung von Theorie und Praxis sich im Rahmen der älteren
Zweifels und des Mißtrauens, durch die alles moderne Denk en und radikaleren Umkehrung des Verhältnisses von Leben und
seit Beginn der Neuzeit gegangen ist. Nirgends, möchte man Weltvollzog und als solche der Ausgangspunkt für die gesamte
meinen , hat sich die Unausweichlichkeit des kartesischen moderne Entwicklung wurde. Erst als die Vita activa ihre Aus-
Zweifels klarer und vernichtender erwiesen als gerade im Be- richtung auf die Vita contemplativa verlor, konnte sie sich als
reich des Religiösen selbst, 'dessen Glaubensgrundlagen von tätiges Leben voll entfalten; und nur weil dies tätige Leben
den beiden größten religiösen Denkern der Moderne, Pascal ausschließlich auf Leben als solches ausgerichtet war, konnte
und Kierkegaard, so furchtbar erschüttert worden sind. D enn der biologische Lebensprozeß selbst, der aktive Stoffwechsel
die Erschütterung des christlichen Glaubens stammt nicht von des Menschen mit der Natur, wie er sich in der Arbeit verwirk-
dem Atheismus des achtzehnten oder dem Materialismus des licht, so ungeheuer intensiviert werden, daß seine wuchernde
neunzehnten Jahrhunderts , deren Argumentation an die Tiefe Fruchtb arkeit schließlich die Welt selbst und die produktiven
eines wirklich vom Glauben bestimmten Denkens nie heran- Vermögen, denen sie ihre Entstehung dankt , in ihrer Eigen-
reichte und die zudem weitgehend widerlegbar war im Rahm en ständigkeit bedroht.
der traditionellen Theologie; diese Erschütterung vollzog sich
vielmehr durch den Zweifel, der in den Glauben selbst gedrun-
gen war und auf Grund dessen die alten Heilswahrheiten des
Christentums nur noch als »Absurditäten« verstanden und »ge- 45 Der Sieg des Animal laborans
glaubt« werden konnten.
Aber so wie wir nicht wissen können, wie die Entwicklung Daß sich das Anima! laborans in der modernen Gesellschaft
verlaufen wäre, wenn der archimedische Punkt in einer nicht- mit so durchschlagender Konsequenz hat zur Geltung bringen
christlichen Welt entdeckt worden wäre, so fehlt uns auch jede können , dankt es nicht zuletzt dem, was man gemeinhin die
Handhabe, darüber zu spekulieren, wie sich das Christentum Verweltlichung oder Säkularisierung nennt, also dem moder-
entwickelt haben würde, wenn das große Erwachen der Re - nen Glaubensverlust , jedenfalls sofern dieser ein Leben nach
naissance nicht durch dieses Ereignis unterbrochen word en dem Tode oder zumindest die Gewißheit eines jenseitigen Le-
wäre. Alle Möglichkeiten, alle Wege scheinen noch offen, be- bens betraf. Das Leben des Einzelnen ist wieder sterblich ge-
vor Galilei und seine Entdeckung die Entwicklung in eine be- worden, so sterblich, wie es im Altertum gewesen ist, aber die
stimmte Bahn zwingt. Denken wir an Leonardo, so mag uns Welt, in der die Sterblichen sich nun bewegen, ist nicht nur
wohl scheinen, daß sich so etwas wie eine revolutionäre Ent- nicht unvergänglich, sie ist sogar vergänglicher und unzuverläs-
wicklung im Sinne der Technisierung der Welt auf jeden Fall siger geworden, als sie es je in den Jahrhunderten eines uner-
angebahnt hätte , und wir können uns auch noch durchaus vor- schütterten christlichen Glaubens gewesen war. Es ist nicht ein
stellen, daß sie zu der Verwirklichung des uralten Traumes, der wie immer geartetes Diesseits, das sich dem Menschen bot, als
Erfindung einer Flugmaschine, geführt hätte , aber es ist höchst er die Gewißheit des Jenseits verlor , er wurde vielmehr aus der
unwahrscheinlich, daß dieser Flug in den Weltraum geführt ha- jenseiti gen und der diesseitigen Welt auf sich selbst zurückge-

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worfen; und weit entfernt davon, den Glauben der Antike an Daß sich letzten Endes in der Entstehung und Ausbreitung
eine potentielle Unvergänglichkeit der Welt zu teilen, war er der Gesellschaft das Gattungsleben des Menschengeschlechts
noch nicht einmal sicher, daß diese diesseitige Welt, die ein- alsdas einzig Absolute durchsetzt, haben wir bereits erwähnt.
zige, die ihm verblieb, überhaupt wirklich sei. Aber selbst Theor etisch ist innerhalb der Neuzeit zu unterscheiden zwi-
wenn er sich um den Zweifel an der Realität der Außenw elt schen einem Früh stadium , in welchem das »egoistische« Ein-
nicht kümmerte und sich unkritisch und »optimistisch« dem un- zelleben , bzw. das Primat egoistischer Interessen unter den
aufhaltsamen Fortschritt der Naturwissenschaften verschrieb , Triebf edern des Handelns, im Mittelpunkt des modernen
hatte er sich erheb lich weiter von der Erde und der sinnlich Weltbildes stand, und der späteren, von Marx entworfenen Ge-
gegebenen Realität entfernt, als irgendeine christliche Jenseit s- sellschaftstheorie, in welcher diese noch personal gebundenen
hoffnung ihn je von ihr entrückt hatte. Was immer wir meinen Triebfed ern zu Gesellschaftskräften werden, die als Klassen-
mögen, wenn wir von Säkularisierung spreche n , historisch kampf nun wirklich das Gattungsleben des Menschenge-
kann sie auf keinen Fall als ein Verweltlichungsprozeß im schlechts bestimmen und in seine historische Entwicklung
strengen Sinne des Wortes angesehen werden ; denn die Mo- treiben . Der »gese llschaftliche Mensch« in einer »vergesell-
deme hat nicht eine diesseitige Welt für eine jenseitige einge- schafteten Menschheit « deutet auf ein Endstadium der Gesell-
tauscht, und genaugenommen hat sie nicht einmal ein irdi- schaft, in dem es auch Klasseninteressen nicht mehr gibt,
sches, jetziges Leben für ein jenseitig-künftiges gewonnen; sie sondern nur das eine, alles beherrschende und dirigierende
ist bestenfalls auf es zurückgeworfen. Die Weltlosigkeit , die Inter esse, dessen Subjekt erst die Klasse und dann die klassen-
mit der Neuzeit einsetzt, ist in der Tat ohnegleichen. Was in ihr lose Menschengesellschaft ist, aber niemals mehr der Mensch
an die Stelle der Welt getreten ist, ist das nur der Selbstrefl e- oder die Menschen. Damit verschwindet die letzte Spur von
xion zugängliche Bewußtsein, in dessen Felde die höchste Tä- Hand eln aus dem Tun der Menschen , nämlich die Triebfeder,
tigkeit das Formelspiel des Verstandes ist und die intensi vste die immerhin noch in den egoistischen Interessen am Werke
Erfahrung die Begierden , die Lust- und Unlustempfindungen ist. Was nun übrigbleibt , ist in der Tat eine »Naturkraft « bzw.
sind, die , körperlicher Natur, sich »irrational« gebärden, weil die Lebenskraft, die, wie alle Naturkräfte, in Form eines Prozes-
man ihnen mit Vemunftgründen nicht beikommen, d. h. nicht ses die Menschen und was immer sie tun mögen unwiderstehlich
mit ihnen rechnen kann, und die daher für Leidenschaften ge- mit sich reißt , bis »der Denkprozeß selbst ein Naturprozeß«
halten werden. So fiel schließlich dieses ganze Innenleben in geworden ist; 88 wenn dieser Lebensprozeß des Menschenge-
eine rational-rechnerische Verstandestätigkeit und ein irratio - schlechts im Ganzen überhaupt Ziel und Sinn haben sollte, so
nal-leidenschaftliches Gefühlsleben auseinander, und diese konnt e er nur in ihm selbst liegen, in der Selbsterhaltung
Spaltung, die den inneren Menschen auseinanderriß, war so men schlichen Leben s auf der Erde. Um das Leben des Einzel-
wenig überbrückbar wie die Subjekt-Objekt-Spaltung des Des- neo mit diesem Lebensprozeß im Ganzen zu verbinden, dafür
cartes. Was schließlich in diesem leeren Streit zwischen einem bedarf es wahrlich keiner spezifisch menschlichen Vermögen;
wirklichkeitslosen Verstand und einer irrationalen Leiden - das Einzelleben ist dem Gattungsleben eingefügt durch die Ar-
schaftlichkeit als einzig fester Bezugspunkt übrigblieb, war das beit, die die Erhaltung des Eigenlebens und das der Familie
Leben selbst, und zwar der potentiell unvergängliche Leben s- besorgt. Und was nicht der Lebensnotdurft dient, nicht von dem
prozeß des Menschengeschlechts, der an die Stelle der poten - lebendi gen Stoffwechsel direkt erzwungen ist, ist entweder
tiellen Unvergänglichkeit des politischen Gemeinwesens des überflüssig oder erk lärt sich als eine der menschlichen Spezies
Altertums trat wie an die Stelle des unsterblichen Lebens des eigentümliche Funktion: kurz, menschliche Geschichte »ist ein
christlichen Mittelalters. wirklicher Teil der Naturgeschichte«, »Kasten und Zünfte ent-

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springen aus demselben Naturgesetz, welches die Sonderung dung en zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Le-
von Pflanzen und Tieren in Arten und Unterarten regelt«, und bens registrieren, um dann völlig »beruhigt« desto besser und
Milton produziert »Paradise Lost« aus dem gleichen unwider- reibungslo ser »funkt ionieren <<zu können. Das Beunruhigende
stehlichen Trieb, der den Seidenwurm dazu drängt, den Sei- an den modernen Theorien des Behaviorismus ist nicht, daß sie
denfaden zu spinnen. 89 nicht stimmen, sondern daß sie im Gegenteil sich als nur zu
Vergleicht man die moderne Welt mit den Welten, die wir richtig erweisen könnten, daß sie vielleicht nur in theoretisch
aus der Vergangenheit kennen, so drängt sich vor allem der verab solutierender Form beschreiben, was in der modernen
enorme Erfahrungsschwund auf, der dieser Entw icklung inhä- Gesell schaft wirklich vorgeht. Es ist durchaus denkbar, daß die
rent ist. Nicht nur, daß die ans<;hauende Kontemplation keine Neuzeit , die mit einer so unerhörten und unerhört vielverspre-
Stelle mehr hat in der Weite spezifisch menschlicher und sinn- chenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tätig-
voller Erfahrungen, auch das Denken, sofern es im Schlußfol- keiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten
gern besteht, ist zu einer Gehirnfunktion degradiert, welche Passivität ende n wird, die die Geschichte je gekannt hat .
die elektronischen Rechenmaschinen erheblich besser, schnel- Es gibt noch andere, vielleicht noch ernstere Gefahrensi-
ler und reibungsloser vollziehen als das menschliche Gehirn. gnaledafür, daß der Mensch sich anschicken könnte, sich in die
Das Handeln wiederum, das erst mit dem Herstellen gleichge- Tiergattung zu verwandeln, von der er seit Darwin abzustam-
setzt wird, sinkt schließlich auf das Niveau des Arbeitens ab, men meint. Wenn wir zum Schluß noch einmal auf die Entdek-
weil auch das Herstellen, wegen der ihm inhärenten Weltlich- kung des archimedischen Punktes zurückkommen, bzw. dar-
keit und Gleichgültigkeit gegen die Belange des Lebens, nur als auf, daß der Mensch ganz im Sinne Kafkas ihn auf sich selbst
eine Form der Arbeit geduldet werden kann, als eine vielleicht unddas, was er hier auf Erden tut, angewendet hat, so zeigt sich
kompliziertere, aber grundsätzlich von anderen Funktionen sofort, daß alle menschlichen Tätigkeiten, wenn man sie nur
nicht geschiedene Funktion des Lebensprozesses im Ganzen. von einem genügend entfernten Standpunkt, also dem Stand-
Aber selbst diese einzig auf die Arbeit abgeste llte Welt ist ort des archimedischen Punktes im Universum, ansieht, nicht
bereits im Begriff, einer anderen Platz zu machen. Es ist uns mehr als Tätigkeiten in die Erscheinung treten können, son-
gelungen, die dem Lebensprozeß innewohnende Mühe und dern zu Prozessen werden. So würde sich z. B., wie ein Natur-
Plage soweit auszuschalten, daß man den Moment voraussehen forscher kürzlich gemeint hat, die moderne Motorisierung wie
kann, an dem auch die Arbeit und die ihr erreichbare Lebens- ein biologischer Mutationsprozeß ausnehmen, in dessen Ab-
erfahrung aus dem menschlichen Erfahrungsbereic h ausge- lauf der menschliche Körper sich schneckenartig mit einem
schaltet sein wird. Dies zeichnet sich deutlich in den fortge- Metallhau s umgibt. Für den Beobachter im Weltall würde
schrittensten Ländern der Erde bereits ab, in denen das Wort diese Mutation nicht geheimni svoller sein als die Mutationen,
Arbeit für das, was man tut oder zu tun glaub t, gleichsam zu die wir in den winzigen Keimträgern beobachten, die auf die
hoch gegriffen ist. In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Antibiotika dadurch reagieren, daß sie Arten entwickeln, die
Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und gegensie immun sind . Bis zu welchem Grad wir in Wahrheit
diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein den archimedischen Punkt gegen uns selbst anwend en, zeigt
automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen sich in aller Deutlichkeit in den merkwürdigen Metaphern, die
bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, in die naturwissenschaftliche Begriffssprache gedrungen sind
der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, und das naturwissenschaftliche Denken wie selbstverständlich
individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam beherrsch en. Wenn wir hör en, wie die Naturwissenschaften
loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfin- von einem »Leben« der Atome sprechen, von dem »Schicksal«

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der Elementarteilchen, von den »Gesetzen des Zufalls « ihrer Rolle in der modernen Welt spielt. Denn gerade dies wird in
Bewegungen, die den gleichen »statistischen Fluktuationen « zunehmendem Maße zum Vorrecht der Naturwissenschaftler ,
unterworfen sind, die die Sozialwissenschaftler für das Verhal- welche durch ihr Eingreifen in die Natur nicht nur »das Labora-
ten von Menschengruppen errechnen und die, ganz gleich, wie torium des Physikers zu einem kosmischen Laboratorium
zufällig das Einzelgeschehen sich ausnehmen oder wie »frei« erweitert« 91 , sondern auch den Bereich der menschlichen An-
das Individuum sich vorkommen mag, für das »Kollektiv« ganz gelegenheiten von den Grenzen und Begrenzungen »befreit«
bestimmte, statistisch festgelegte Verhaltensformen vorschr ei- haben , durch die Menschen, soweit unsere Erinnerung reicht,
ben, so dürfte der Grund für diese erstaunliche Koinzidenz - sich stets gegen die Natur abgegrenzt haben , um die Welt vor
nicht nur zwischen atomaren Systemen und dem Sonnen sy- ihr zu schützen. Angesichts der objektiv vorliegenden Leistun-
stem, so wie sie sich uns darbieten, sondern zwischen atoma- gen der exakten Wissenschaften , die schließlich nach Jahrhun-
ren Verbänden und Menschtngruppen - doch vermutlich dem dert en aus der Stille der Laboratorien in die Öffentlichkeit ge-
geschuldet sein, daß es uns bereits ganz selbstverständJich ge- treten sind, scheint es nicht mehr als angemessen, den »Taten «
worden ist, diese gesellschaftlichen Vorgänge so zu betrach - der Forscher schließlich sogar einen größeren Neuigkeitswert,
ten, bzw. in dieser Gesellschaft so zu leben und uns so zu ver- sicher aber eine größere politische Relevanz zuzuschreiben, als
halten , als seien wir unserer eigenen menschlichen Existenz das Tun und Treiben der Staatsmänner, die diplomatischen
ebenso weit entrückt wie wir von mikrokosmischen und ma- Vorgänge der Außenpolitik und die verwaltungstechnischen
krokosmischen Vorgängen entfernt sind, die , selbst wenn eine der Innenpolitik, gemeinhin hoffen dürfen zu erreichen. Es
noch weitergehende Verfeinerung unserer Apparate uns ge- fällt schwer, nicht ironisch zu werden , wenn man sieht, wie die-
statten würde, sie sinnlich wahrzunehmen, in zu großer Fem e jenigen, die die öffentliche Meinung aller Zeiten als die un-
verlaufen, um sich der Erfahrung auch nur überhaupt darzu - prak tischsten und unpolitischsten Mitglieder der Gesellschaft
bieten. gebrandmarkt hat , sich plötzlich als die einzigen entpuppt ha-
Nun kann dieser in der Modeme feststellbare Erfahrung s- ben, die überhaupt noch von dem Vermögen zu handeln Ge-
schwund natürlich nicht bedeuten , daß der moderne Mensch brauch machen und daher auch wissen, wie man es anstellt ,
die dem Menschen und seiner Bedingtheit eigenen Vermögen zusammen zu handeln. Denn die kaum beachteten , bis ins sieb-
verloren habe oder im Begriff stehe, sie zu verlieren. Ungeach- zehnte Jahrhundert zurückgehenden Vereine und Organisatio-
tet der Feststellungen der Soziologen, der Psychologen und der nen , in denen sie sich zu Beginn dieser ganzen Entwicklung
Anthropologen, deren Gegenstand nicht der Mensch, auch zum Zweck der Eroberung der Natur zusammenschlossen und
nicht im wissenschaftlichen Verstande, sondern mehr und ihre eigenen moralischen Wertmaßstäbe und ihren eigenen Eh-
mehr eine Art gesellschaftlich-animalisches Lebewesen ist, renkodex entwickelten, haben nicht nur alle revolutionären
geht natürlich das Machen , Herstellen , Fabrizieren und Welt- Umschwünge der Modeme überdauert, sie haben sich als eine
bilden weiter; aber es ist nicht zu leugnen, daß diese herstellen - der mächtigsten, Macht-erzeugenden Gruppierungen erwie-
den Vermögen sich in wachsendem Maße auf die spezifisch sen, die wir je in der Geschichte gesehen haben. Dabei ist aber
künstlerisch Begabten beschränken, 90 was zur Folge hat , daß nicht zu verhehlen , daß das Handeln der Wissenschaften , da es
die eigentlichen weltorientierten Erfahrungen sich mehr und in die Natur vom Standpunkt des Weltalls hineinhandelt und
mehr dem Erfahrungshorizont der durchschnittlichen mensch - nicht in ein Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten , ge-
lichen Existenz entziehen. rade die Charaktere des Handelns nicht mitrealisier en kann ,
Ähnliches gilt für das Vermögen zu handeln, das, zumindest die es zu einem so eminent menschlichen Vermögen machen,
im Sinne der Verursachung von Prozessen , sogar eine große die Enthüllung der Person auf der einen Seite und das Hervor-

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bringen von Geschichten auf der anderen, die zusammen die können, dem Ausspruch Catos zuzustimmen: numquam se
Quelle bilden, aus der sich in der Menschenwe lt selbst ein Sinn plus agere quam nihil cum ageret, numquam minus solum esse
formiert, der dann wiederum als Sinnhaftigkeit das mensch - quam cum solus esset, was übersetzt etwa heißt: »Niemals ist
liche Treiben zu erhellen und zu erleuchten vermag. In diesem , man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts
was menschliche Existenz anlangt, wichtigsten Aspekt ist auch tut, niema ls ist man weniger allein, als wenn man in der Ein-
das Vermögen zu handeln auf die Wenigen beschränkt, und die samkeit mit sich allein ist.«
Wenigen, die sich in seinem Erfahrungshoriwnt noch ausken -
nen, dürften an Zahl den Künstlern, bzw. denen, die sich in
dem Erfahrungshorizont der Welt noch auskennen , sogar noch
unterlegen sein.
Das Denken schließlich (das wir außer Betracht gelassen ha-
ben , weil die gesamte Überlieferung, inklusive der Neuzeit, es
niemals als eine Tätigkeit der Vita activa verstanden hat) hat ,
so möchte man hoffen , von der neuzeitlichen Entwicklung
noch am wenigsten Schaden genommen. Es ist möglich und si-
cher auch wirklich, wo immer Menschen unter den Bedingun -
gen politischer Freiheit leben. Aber auch nur dort. Denn im
Unterschied zu dem, was man sich gemeinhin unter der souve-
ränen Unabhängigkeit der Denker vorstellt, vollzieht sich das
Denken keineswegs in einem Wolkenkuckucksheim, und es ist,
gerade was politische Bedingungen anlangt, vielleicht so ver-
letzbar wie kaum ein anderes Vermögen. Jedenfalls ist es er-
heblich leichter , unter den Bedingungen tyrannischer Herr -
schaft zu handeln als zu denken. Die Erfahrung des Denken s
hat seit eh und je, vielleicht zu Unrecht, als ein Vorrecht der
Wenigen gegolten, aber gerade darum darf man vielleicht an-
nehmen, daß diese Wenigen auch heute nicht weniger gewor-
den sind. Dies mag von nicht zu großer Bedeutung oder doch
von nur sehr eingeschränkter Bedeutung für die Zukunft der
Welt sein, die nicht vom Denken , sondern von der Macht han-
delnder Menschen abhängt; es ist nicht irrelevant für die Zu-
kunft des Menschen. Denn hätten wir die verschiedenen Tätig-
keiten der Vita activa lediglich von der Frage her betrachtet ,
welche von ihnen die »tätigste« ist und in welcher sich die Er-
fahrung des Tätigsein s am reinsten ausspricht, dann hätte sich
vermutlich ergeben, daß das reine Denken alle Tätigkeiten an
schierem Tätigsein übertrifft. Diejenigen, die sich in der Er-
fahrung des Denkens auskennen, werden schwerlich umhin-

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