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Das Podagrammische Trostbüchlein 89

ihre Freude ist demnach nicht der Rausch, die nur persönliche Bewegtheit
des Gemüts, sondern sie ist Freundlichkeit, die sich als nachbarliche
Freundschaft äußert.,Freude' und Freundlichkeit' sind die dominierenden
Wörter des ,Glückhaften Schiffs*. Der das Unternehmen fördernde Rhein
ist der freundliche Fluß, der die Menschen einander näher bringt. Weil er
Basel durchströmt, ist dieses die holdselige, freundliche Stadt:
„Du must gewiß sehr freüntlich sein
Weyl durch dich freündtlich rinnt der Rein
Darumb nach deiner freündtlichkeyt
Auff Straßburg freüntlidi vns geleit," (495).

Das im hellen Lichte der Sonne kraftvoll vorangetriebene Boot der Zür-
cher ist das freundliche, das glüdchafte Schiff, ein Fischartsches Symbol
nachbarlicher Freundschaft in der Freiheit.

DAS PODAGRAMMISCHE T R O S T B Ü C H L E I N

Das In-sidi-selbst-Sein des Kunstwerks ist uns Heutigen selbstverständ-


lich, und wir beargwöhnen eine Dichtung, sobald sich in ihr eine über sie
hinauswirkende Absicht bemerkbar madit. Zugleich betrachten wir es als
ebenso selbstverständlich, daß sie existentielle Wortwerdung des Mensch-
seins, daß sie Sage dessen ist, was wir ,leiden'. Denn Dasein ohne beschrän-
kende und begrenzende Wirklichkeit, ohne räumlichen und zeitlichen
Horizont, ohne Transzendenz und ohne Immanenz ist weder denkbar
noch vorstellbar; wir erleiden Grenzen realer und metaphysischer Art und
erwarten von der Dichtung, daß dieses unser Dasein in ihr erscheine.
Wenn es erscheint, sind wir davon ergriffen, und wir danken ihr dafür,
daß sie stellvertretend unser Leiden ausspricht und es uns abnimmt.
Der Renaissancedichter war sich dieser therapeutischen Wirkung der
Dichtung bewußter als wir heutige. Meistens bot er schon im Vorwort dem
Käufer seines Buches Genesung und Gesundheit an. Er will, wie der Arzt,
„Krancken auff all weg rahten wol,
Vnd sonderlich das Gmüt frisch halten,
So wird der Leib selbs naher walten." (Gesch. 2)

') „Podagrammisdi Trostbüchlin. Innhaltend Zwo artlicher Schuz Reden von


herlicher ankonft / geschlecht / Hofhaltung / Nuzbarkait vnd tifgesuchtem lob
des Hochgeehrten / Glidermächtigen vnd zarten Fräulins P O D A G R A . N u n erst-
mals zu kitzeligem trost vnd ergezung andächtiger Pfotengrammischer perso-
nen / Teutsdi inn Track verfärtiget Durch Hultrich Elloposcleron. Anno M. D.
L X X V I I . « — Neudrucke: Das Kloster. Hg. von J. Sdieible. 10. Bd. Stuttgart
1848, S. 642-768, (Ausgabe B); Johann Fischarts Werke, hg. von Adolf Hauffen.
Bd. 3, S. 1-113 (Ausgabe A). — Neben weiteren Ausgaben der Jahre 1591, 1604,
1623 (mit Fischarts Porträt) erschien 1604 eine (Rück-)Ubersetzung ins Latei-
nische unter dem Titel .Podagraegraphia'.

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90 Das Podagrammische Trostbüchlein

Diese Arzt-Metapher taucht auch in der Widmungsvorrede zum ,Poda-


grammischen Trostbüchlein' wieder auf 1 ), und sie ist hier im gleichen Sinne
gebraucht wie früher die Spiegel-Metapher: Der Arzt-Dichter enthüllt
dem Kranken die Wahrheit über seinen Zustand und hilft ihm, „Weil jder
inn seim fäl ist plind" (S. 5), aus der Verstrickung und Erstarrung, in die
er geraten ist. Denn die podagrische Krankheit, die den von ihr Befallenen
zur Bewegungslosigkeit zwingt, gehört in die Reihe der Widersacher des
Lebens, denen nur durch Lachen und Tanzen beizukommen ist2). Musik
und Musae haben den Zweck, der Erleichterung der Schmerzen und der
Linderung der Befangenheit des Gemüts zu dienen. Die Heilung wird
demnach durch ein Leichtermadien und durch eine Befreiung des Menschen
aus der Umklammerung der Krankheit erlangt. Das große Thema der
,Geschichtklitterung', die Verflüssigung des Daseins, klingt hier an, wenn
auch in anderer Tonart und nur mit geringer Ausladung. Doch hier ist es
nicht der Wein, der die Befreiung bringt, sondern das Lachen,
„Vnd wer dasselb erregen thut,
Der thut was Menschlich ist vnd gut" (11).
Das Trostbüchlein ist zum größten Teil die Übersetzung und Para-
phrase zweier lateinischen Schriften. Die eine ist das Werk des Arztes
Johann Carnarius (Vleeschouwer, 1520—1562) aus Gent, eine Sdierzrede,
die er vor Dozenten und Hörern, meist Medizinern, der Universität
Padua gehalten hat. Die andere stammt von Willibald Pirckheimer
(1470—1530)3). Beide sind ironische Enkomien des Podagras und stehen
in einer vielfältigen Überlieferung von ironischen Lobgedichten auf nich-
tige, wertlose oder schädliche und häßliche Dinge, wie sie seit Isokrates,
Polykrates und Lukian vor allem von sophistischen Rhetorikern verfaßt
worden waren. Die Humanisten aller Nationen setzten dann die Reihe
dieser Lobgedichte fort, indem auch sie Laster, Nichtigkeiten und Nöte
der Erde durch sophistische Artistik in ihr Gegenteil verkehrten 4 ). Inner-
halb der deutschen Enkomien-Literatur ist Fischarts ,Flöh Hätz' zweifel-
los der wertvollste und auch das liebenswerteste Gedicht.
Das,Trostbüchlein' erschien im selben Jahr 1577 wie die zweite, eigent-
lich Fischartsche Fassung der ,Flöh Hätz', und es zeigt eine Reihe auf-
fallender Ähnlichkeiten mit dieser.
Auch das ,Trostbüchlein' ist zweiteilig. Im ersten Teil, der Übersetzung
der Rede des Carnarius, ist das Podagra — im Gegensatz zu den Flöhen

2) Vgl. Kap. .Eulenspiegel', S. 26.


*) C a r n a r i i De Podagrae Laudibus O r a t i o . . . Patavii 1553; P i r c k -
h e i m e r , Willibald. Apologia seu Podagrae Laus. 1522. Beide Werke hat
Hauffen in der Einleitung des 3. Bandes seiner Fischart-Ausgabe (National Lite-
ratur Bd. 18, Teil 3) abgedruckt.
4
) Vgl. H a u f f e n , Adolf. Zur Literatur der ironischen Enkomien. In: Deut-
sche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschidite, Bd. 6,
S. 161 ff. Weimar 1893.

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Das Podagrammisdie Trostbüchlein 9t

der Quälgeist der wohlhabenden Bürger — ebenfalls ins Menschliche er-


höht und ins Licht der Vernunft und der Geschichtlichkeit gestellt. Es ist
hoher Abstammung, ein Kind des Bacchus und der Venus, und wer diesen,
den Eltern, huldigt, dem widerfährt göttliche Gnade: Ihm wird sich auch
die Tochter nicht verweigern; er wird sie auf das zärtlichste empfangen,
ihrer warten und sie pflegen. So ist auch das Podagra mächtig drapiert mit
Menschlichem, und auch es bedient sich der Sprache, wähend es in W a h r -
heit, wie die Flöhe, namenlos und unfaßbar in der Tiefe der Glieder an
der innersten Kraft des Menschen zehrt.
Im zweiten Teil, der Übersetzung von Pirckheimers Apologie, tritt das
Podagra wie der Floh vor den Richter, um sein Dasein und seine Wirk-
samkeit zu rechtfertigen. Es hält eine an rhetorischen Figuren und Analo-
gieschlüssen reiche Verteidigungsrede, die in die Behauptung mündet, es
bewahre den Menschen vor Hybris und Lasterhaftigkeit und befördere
also seine Seligkeit: „inn des ich das Irdisch ausfeg, f ü h r ich das himlisch
ein, inndes ich das zeitlich hinnem, verschaff ich dagegen das ewig." (95).
Diese Sprache, die ganz auf der forensischen Rhetorik der Antike
beruht, wie wir sie aus Fischarts Werk schon kennen, erinnert uns zudem
auffallend an die Sprache des Barocks, wo die Antithese so virtuos dem
Spiel mit einer zweigeteilten Welt entgegenkommt. Selbst der Wortschat/,
der hochbarocken Lyrik wird von Fischart unvermittelt vorweggenom-
men': „ N u n aber, da ich jnen gleich, wie die Rotflämmende Morgenrot
„aufgange, die dicke Nebel hinweg steche, erleucht ich je finsternis solcher"
masen, das sie das jrdische hindan gesezt, das gemüt ganz v n d gar zu
Himmlischem fürnemmen erheben v n d gedenken, wie eitel alle Weltliche
herlichkait, wie geprächlich v n d prüchlich der Menschlich Körper oder
dis äschenhüttlin seie, wie vergebenliche eitele hofnung, sorg, angst, was
f ü r selsame vnverhofte ausgäng vnd entlich was f ü r belonung v n d den
bösen f ü r die straf steh zugewarten." (108). Das Irdische, das man hinter
sich wirft, und das Himmlische, zu dem der Podagrische sich erheben soll,
die eitle weltliche Herrlichkeit und der gebrechliche menschliche Leib, „dis
äschenhüttlin", Sorge, Angst, eitle Hoffnung, Belohnung und Strafe — all
dies sind Wörter und Entgegenstellungen, die wir dem 17. Jahrhundert
zuzuweisen gewohnt sind.
Bei Fischart tauchen sie aber schon 1577 auf. Zwar sind wir bei ihm
schon einer Reihe von Stilelementen begegnet, die auf das Kommen des
Barocks hinweisen. N i e aber waren wir bisher in seinem Werk auf die
Eitelkeit und Gebrechlichkeit des Irdischen schlechthin gestoßen.
Der Vergleich mit Pirckheimers Text zeigt aber, daß Fischart sich sehr
genau an diesen gehalten hat 5 ). Die Gegensätzlichkeit des Irdischen und
I ' H
5
) Vgl. Johann Fischarts Werke, hg. von Adolf Hauffen, Bd. 3, S. XXXIV:
„At ego Ulis ..

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92 Das Podagrammisdie Trostbüdilein

des Himmlischen, die Eitelkeit alles Ruhmes und die Gebrechlichkeit des
menschlichen Körpers stammen aus der Rede Pirckheimers. Einzig das
erzbarocke „äschenhüttlin" scheint Fisdiarts Erfindung zu sein, und es
taucht auch in der Rede des Carnarius als Zusatz Fischarts auf: „da wir
nicht nach dem flaisch (welches nur ain speis der würm vnd ain asdien-
häuslin ist), sondern nach dem Gaist, in welchem die vnsterblichkait vnd
Ewigkait besteht, leben." (65). Pirckheimers Apologie ist voller Klagen
über die Hinfälligkeit des Irdischen, im besonderen des Menschen. Sein
Memento mori! und seine Hinweise auf die vanitas ( . . . quam vana sit
omnis mundana gloria . . . ) , die wir sonst als Merkmale barocken Lebens-
gefühls zu bezeichnen gewohnt sind, tauchen hier zwei Generationen vor
Fischart auf.
Pirckheimer, der Nürnberger Stadtpatrizier, war bei Fischarts Geburt
schon 16 Jahre tot. Wenn in seiner Sprache und in seinem Denken die
Stilformen des 17. Jahrhunderts schon bereitlagen, dann weist das ganz
einfach darauf hin, daß diese Formen vom Mittelalter her im Hinter-
grunde der Renaissance weiterlebten und daß die deutsche Renaissance
im eigentlichen Sinne .vorübergehend' Lebensformen und Denkformen
verdeckte, die später im Barock wieder ins Licht traten und das Gesicht
des Zeitalters der Gegenreformation mitprägten. Auch Fischart zeigt in
seinen Paraphrasen, deren eine das ,Aschenhüttlein' ist, daß er diese b a -
rocken' Formen und Formeln zur Hand hat und sich ihrer bedienen kann,
wenn es ihm beliebt.
Nun ist es aber nicht ohne Bedeutung, daß diese .barocken' Formen in
einem Texte auftauchen, der von Grund auf ironisch zu verstehen ist. Das
,Podagrammische Trostbüdilein' ist ein ironisches Enkomion.
Die ironische Sprache schafft ein Dasein und eine Welt, in denen alles
aufs beste bestellt zu sein scheint. Sie hat den Klang der Humanisten-
sprache und stellt das Podagra in den göttlichen Weltplan als eine Gabe,
für die die Satten und Üppigen dankbar zu sein haben. Es gibt sich, wie
es Eulenspiegel und die Flöhe getan haben, den Anschein der biedersten
Bürgerlichkeit und beschönigt sein Tun damit, daß es sich nur zu den
Wollüstigen und Reichen geselle und von diesen nicht als Plage, sondern
als gerechte Strafe empfunden werde, die den Menschen an Erbsünde und
Sterblichkeit erinnere. Indes stelle es weder dem Gemüt noch dem Leben
seiner Opfer nach.

Das Ironische ist nicht ohne weiteres als solches zu erkennen. Denn
zunächst zeigt es sich durchaus als eindeutig und einschichtig: Seine Sprache
sagt das Gegenteil dessen, was sie meint; aber das Gemeinte wird zunächst
verschwiegen. So lobt Fischart beispielsweise das Podagra, daß es, im
Gegensatz zur Phrenitis, zur Melancholie, zur Fallsucht und zur Kolik,

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Das Podagrammische Trostbüchlein 93

deren rumorische, wütende Art bekannt sei, weder dem Gemüt noch dem
Leben der Befallenen nachstelle. Das sei ein Grund zur Dankbarkeit
gegenüber Gott, „der sie nicht mit berürten baides mut vnd leibs peini-
gunngen besucht vnd den kübel mit der milch vmbstoset" (50). In diesem
Zusatz Fischarts, der sich durch nichts vom übrigen Text abhebt, zeigt sich
hinsichtlich der Stilhöhe eine eigentliche .Verwerfung', ein Stilbrudi, an
dem uns die Scheinbarkeit der ironischen Stilhöhe zum Bewußtsein kommt:
Wenn Gott »den kübel mit der milch vmbstoset", so ist entweder der
Autor, der das sagt, in seinem Stilempfinden unsicher oder Gott in seinem
Tun sehr menschlich. In beiden Fällen blitzt durch die stilistische Bruch-
stelle das Bild eines Menschen, der durchaus nicht ein Gefäß besonderer
göttlichen Gnade zu sein scheint. Die ironisdie Sprache erweist sich als
Verhüllung, die über die Wirklichkeit gespannt ist und durch die nur an
wenigen Stellen, gewissermaßen an Fehlern im Gewebe der Sprache, das
darunter liegende Wirkliche erkannt werden kann. An diesen scheinbaren
Fehlleistungen der Sprache kommt uns die Zweischichtigkeit des ironischen
Stils zum Bewußtsein.

Wir haben oben auf die .barocken' Züge in Fischarts Sprache hingewie-
sen und gezeigt, daß sie aus Pirckheimers Text übernommen sind. Sie
erscheinen also nicht erst bei Fischart, sondern sind durch das Latein
herbeigebracht worden. Zugleich erweist sich diese Sprache mit den vielen
barocken Anklängen auch als ironische Sprache, und wir stehen also vor
der Tatsache, daß eine kommende, von Fischart vorweggenommene Stil-
eigenheit bewußt und artistisch gehandhabt wird und demnach den
Charakter des Alters hat. Eine ,historische' Sprache, die überdies ironisch
verwendet wird, ist keine Schöpfung der Seele, sondern ein Werkstoif
des Intellekts.

Das,Trostbüchlein' ist denn auch — im Gegensatz zur ,Flöh Hätz', der


es motivisch so nah steht — eine intellektuelle und virtuose Leistung
Fischarts. Die Aufgabe, eines der großen Übel des 16. Jahrhunderts durch
einen artistischen Aufwand der Sprache und mit der Hilfe forensischer
Schlauheit glattweg in sein Gegenteil zu verkehren, mußte Fischart reizen.
Wieweit dabei die zu Anfang des Kapitels erwähnte therapeutische Ab-
sicht bei der Lösung der Aufgabe mitwirkte, ist schwerlich zu ermessen.
Das ironische Spiel der Sprache mit einer unabdingbaren Wirklichkeit der
Welt und das mit diesem Spiel erlangte Gefühl der Freiheit dürften für
Fischart jedenfalls ebenso bestimmend gewesen sein wie sein Bedürfnis,
den Podagrischen „zu leichterung des Leibs schmerzen, vnd minderung
des gemüts anfechtung" (6) wahrhaft einen Dienst zu erweisen.

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