aus Stern vom 04.04.
2019
MUTTER DER NATION
Von Jonas Breng
Souverän auch in schweren Tagen, standfest auf großer Bühne, beliebt im Land und nun bekannt in
aller Welt: Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern
Jonas Breng
Von Jonas Breng
Genau zwei Wochen nachdem Neuseeland seine
Unschuld verlor, läuft Jacinda Ardern über eine
Wiese in Christchurch und blinzelt in die Sonne. Es
ist der große Gedenktag für die Opfer des Attentats.
Ardern schüttelt ein paar Hände und setzt sich auf
einen der schwarzen Plastikstühle, die vor der
gewaltigen Bühne aufgereiht sind. Alle Kameras sind
auf sie gerichtet.
Ardern trägt einen Maori-Umhang und sieht ein
bisschen aus wie eine Königin ohne Krone. Sie muss
heute sprechen. Nicht nur zu Neuseeland, sondern
eigentlich zur ganzen Welt.
Ein paar Reihen hinter ihr sitzt ein junger Mann in
einem Rollstuhl, der Ardern nicht aus den Augen
lässt. Er heißt Mustafa. Vor 14 Tagen lag er nur
knapp 100 Meter von hier auf dem Boden der Al-
Noor-Moschee in seinem eigenen Blut. Die Kugel, die
der Attentäter auf ihn abfeuerte, traf Mustafa auf der
linken Seite seines Oberschenkels, wurde dort
abgelenkt und blieb schließlich in seiner Leber
stecken. Die OP dauerte vier Stunden.
Mustafa zieht ein kleines Fläschchen mit
Eukalyptusöl aus der Tasche. Das haben sie ihm im
Krankenhaus gegeben. Zur Entspannung. Auch
Ardern hat so eines bekommen, als sie vor ein paar
Tagen dort war. Mustafa erzählt, er habe erst gar
nicht gewusst, was er sagen sollte. War ja immerhin
die Premierministerin. Wie zugeschnürt sei sein Hals
gewesen. Doch dann hätten sie sich umarmt und auf
einmal beide weinen müssen.
Mustafa ist eigentlich kein Mann, dem schnell die
Tränen kommen. Er mag Hip-Hop und Bodybuilding,
und politische Nachrichten hat er seit einer Ewigkeit
nicht gesehen. Doch wenn er über Ardern spricht,
wird seine Stimme weich. "Sie ist eine unglaubliche
Frau. Ich weiß nicht, was es ist, aber sie berührt
einen einfach."
Ardern ist 38 Jahre alt, die jüngste Premierministerin
der Welt. Und seit jenem Tag, als ein Attentäter auf
der Südinsel Neuseelands zwei Moscheen angriff
und 50 Menschen tötete, im Ausnahmezustand. Sie
war überall: in Auckland und Wellington, in Moscheen
und Schulen. Ardern hörte zu, tröstete, umarmte.
Ihren Politikstil hatte sie schon vor Christchurch
"politics of kindness" genannt, Politik der Güte - nun
lebt sie es vor.
Anfragen im Stundentakt
Viel beachtet war sie längst, in ihrem Land und weit
über die Landesgrenzen hinaus: einst jüngste
Abgeordnete in der Geschichte Neuseelands, nun
erst die zweite Regierungschefin weltweit, die im Amt
ein Kind zur Welt gebracht hat. Mit dem Horror hat
der Hype um Ardern noch einmal zugenommen. Die
Frau mit dem Kopftuch, die Versöhnerin. In ihrem
Büro im Beehive, wie das Parlament in Neuseeland
heißt, kamen die Anfragen im Stundentakt. Für ein
Interview, für eine Antwort auf die Frage: Wer ist
diese Frau? Wer ist Jacinda Ardern?
Jemand, der das wissen müsste, sitzt etwa 500
Kilometer von der Hauptstadt Wellington entfernt in
einem großzügigen Wohnzimmer und hat noch Erde
unter den Fingernägeln von der Gartenarbeit.
"Jacinda ist ein sehr sensibler Mensch. Ich weiß,
dass ihr diese letzten zwei Wochen unglaublich
nahegegangen sind" , sagt Laurell Ardern, Jacindas
Mutter. Vor ein paar Tagen hat sie ihre Tochter
zuletzt gesehen. "Ich habe sie richtig fest in den Arm
genommen und sie daran erinnert, dass sie trotz
allem etwas essen muss" , sagt sie.
Neben ihr, auf dem gestreiften Sofa, sitzt ihr Mann,
Ross. Er zeigt auf dem iPad ein Foto von dem
Gebäude in Dubai, auf dem angestrahlt von
Starkstromleuchten das Bild seiner Tochter mit
Kopftuch zu sehen ist. Über ihr steht ein Wort:
Frieden. "Sieht das nicht großartig aus?", sagt er.
Das Ehepaar wohnt am Stadtrand von Morrinsville,
einem 7000-Seelen-Nest. Durch die offenen Fenster
kann man die Wägelchen vom Golfplatz gegenüber
hören. Jacinda sammelte dort früher Golfbälle ein,
um sie zu verkaufen. Die Eltern der Premierministerin
sind herzliche, kultivierte Leute. Ross war früher
Polizist und arbeitete sich bis zum Verwaltungsrat
hoch. Laurell half manchmal in der Kantine am
Morrinsville College aus, wo schon 1999 im
Abschlussbuch unter der Rubrik "wahrscheinlichster
Premierminister" der Name ihrer Tochter stand.
Jacinda war Schülervertreterin und hatte dafür
gesorgt, dass Mädchen am College Hosen tragen
durften.
Die Arderns reden gern über ihre berühmte Tochter.
Es klingt dann immer nach einem zärtlichen Staunen.
Laurell erzählt am liebsten von den
Debattierwettbewerben, an denen Jacinda als
Jugendliche teilnahm und wo sie die Grundlagen
gelegt habe für ihre kraftvolle und überzeugende Art,
für ihre Reden, die sie immer noch selbst schreibe.
Ross führt in Flip-Flops über das Gelände, zeigt die
Stelle, wo Jacinda ihn fast mal mit dem Traktor
überfahren hätte, und das Haus, in dem sie damals
wohnten. Nur 100 Meter entfernt, braun-weiß mit
Veranda.
Sie sind Mormonen. Jacinda ist als junge Frau aus
der Kirche ausgetreten, weil sie in einer Schwulen-
WG lebte, was den Vorstellungen ihrer
Glaubensgemeinschaft widersprach. "Das ist schon
okay; wir wissen, dass sie mit unseren Werten
aufgewachsen ist", sagt Ross Ardern, während er
über eine Schottereinfahrt spaziert. Hinter ihm, über
den sanften Hügeln, kann man Morrinsville sehen,
das im Wesentlichen aus einer Hauptstraße besteht,
an der auch der "Fish and Chips"-Laden zu finden ist,
in dem Jacinda früher jobbte.
Ross und Laurell Ardern sind momentan eher selten
in Morrinsville. Vor allem, weil sie auf Neve
aufpassen müssen, ihre Enkeltochter. "Jacinda
braucht zumindest vier Stunden Schlaf, damit sie das
alles schafft, deshalb springe ich nachts manchmal
ein und gebe Neve die Flasche", sagt Laurell und
zeigt Fotos ihrer Enkelin auf dem Handy. Tagsüber
fährt sie dann oft mit dem Kinderwagen ins
Parlament von Wellington, damit Jacinda in ihren
wenigen Pausen mit Neve spielen kann. Wenn auch
nicht in den letzten zwei Wochen. Da war
Ausnahmezustand.
Ardern brachte Neve im vergangenen Juni zur Welt,
nach sechs Monaten im Amt. Das Familienleben
verbergen Ardern und ihr Lebensgefährte Clarke
Gayford nicht vor der Öffentlichkeit. Im Gegenteil:
Ardern gab Interviews, während sie stillte, und nahm
Neve mit zur UN-Vollversammlung, wo das Baby auf
dem Konferenztisch gewickelt wurde. "Ich wünschte,
ich hätte die Gesichter der japanischen Delegation
festhalten können, als sie in den Konferenzraum
kamen - mitten beim Windelwechsel. Super Story für
ihren 21. Geburtstag", twitterte Gayford später.
Clarke Gayford ist ein Mann mit Bart und
Partyvergangenheit, der eine Fischerei-Sendung im
Fernsehen moderiert. Er postet viel und häufig, meist
ziemlich lustig und ironisch. Etwa: Ab welchem Alter
ist es nicht mehr zulässig, nackt durch den
Rasensprenger zu laufen? Ardern schadete das
bisher nicht. Die meisten Menschen in Neuseeland
sind stolz auf ihre "First Family", wo sich der Papa
um das Kind kümmert und die Mama um das Land.
Eine beachtliche Karriere
Jacinda Ardern trat der Labour-Party mit 17 bei. Sie
studierte Politik und PR an der Universität von
Waikato, nicht weit von Morrinsville entfernt. Danach
fing sie im Büro der damaligen Premierministerin
Helen Clark an, bevor es sie in die Welt zog. Sie
lebte eine Zeit lang in London, wo sie im Büro von
Tony Blair arbeitete. Was ihr heute etwas peinlich
sein soll. Nach ihrer Rückkehr begann sie ihre
Politikerkarriere.
In dieser Zeit begegnete sie auch Gordon John
Thompson. "Man musste schon ziemlich blind sein,
um ihr Talent nicht zu erkennen. Sie war clever,
unglaublich gut mit Menschen und konnte Reden
halten, dass man hintenüberfiel" , sagt Thompson,
den in Neuseeland alle nur GJ nennen.
Thompson ist eine Art Allzweckwaffe in der
neuseeländischen Politik und seit jenen Tagen mit
Ardern befreundet. In den ersten vier Monaten ihrer
Amtszeit war GJ ihr "Chief of staff", ihre rechte Hand.
Er musste einspringen, denn es war niemand da für
den Job - weil mit dem Wahlsieg 2017 niemand
gerechnet hatte.
Labour hatte am Boden gelegen. Der damalige
Parteichef, Andrew Little, war unbeliebt und machte -
gerade einmal sieben Wochen vor der Wahl -
Jacinda Ardern zur Spitzenkandidatin. Ein Akt der
Verzweiflung. Ardern erzählt deshalb bis heute, dass
ihr der Job der Premierministerin mehr oder weniger
passiert sei.
Sie hievte Labour von 24 auf 37 Prozent. Die
Neuseeländer waren begeistert von dieser jungen
Frau, die im Wahlkampf twitterte, ihre Landsleute
anfasste und umarmte, die versprach, gegen
Kinderarmut und Klimawandel zu kämpfen. Ihr
Slogan: Lasst es uns anpacken!
Politikern, die jung Karriere machen, wird oft
vorgeworfen, dass sie zu glatt seien. Dass sie
Politiker wurden, bevor sie Mensch werden konnten.
Auch Ardern bekam zu hören, dass sie außerhalb der
Politik nichts anderes gemacht habe als Fisch zu
frittieren, aber Eitelkeit oder Zynismus wurden ihr nie
nachgesagt. Im Gegenteil. Vor ihrer Kandidatur sagte
Ardern einmal in einem Interview: "Ich mache mir
ständig Sorgen, einen Fehler zu machen. Ich hasse
es, Menschen zu enttäuschen." Den Neuseeländern
gefiel die Ehrlichkeit.
Der vielleicht wichtigste Moment des Wahlkampfs
war ein Radiointerview. Der Moderator fragte Ardern
nach ihrer Kinderplanung. Sie reagierte freundlich,
aber resolut: Eine solche Frage dürfe man einer Frau
im Jahr 2017 nicht mehr stellen, sagte sie. Der
Moderator erntete einen Shitstorm, Ardern wurde
Regierungschefin. Mitverantwortlich dafür war
ausgerechnet ein Mann, der Ardern auf den ersten
Blick nicht ferner sein kann: Winston Peters. Der
Politiker mit Maori-Wurzeln wirkt wie ein grummeliger
Bär, der erst beißt und dann zwinkert, und ist Chef
der populistischen "New Zealand First", die sich nach
der Wahl überraschend für eine Koalition mit Ardern
und den Grünen entschied. Peters ist nun
Außenminister und ihr Stellvertreter. Es sei
erstaunlich, wie gut die beiden so unterschiedlichen
Charaktere miteinander auskämen, sagt Gordon
John Thompson. "Das beweist ihr
Fingerspitzengefühl."
Schlagabtausch mit Trump
Dass Ardern ein Händchen für große Egos hat,
offenbarte sich auch schon an anderer Stelle. Die
Geschichte kennt in Neuseeland jeder. Es geht um
Donald Trump. Dieser hatte Ardern auf einer ihrer
ersten internationalen Konferenzen mit der Frau von
Kanadas Premier Justin Trudeau verwechselt. Bei
einem Dinner etwas später saßen sich Trump und
Ardern dann gegenüber. Der US-Präsident zeigte mit
dem Finger auf Ardern und sagte in Anspielung auf
ihren überraschenden Wahlsieg: "Diese Frau hat in
ihrer Heimat für ordentlich Ärger gesorgt." Sie
konterte: "Bei meiner Amtseinführung gab es keine
Proteste."
Ardern hat die Geschichte im Fernsehen erzählt. Es
gab viele Lacher und Applaus. Wie es immer viele
Lacher und Applaus gibt, wenn Ardern in
irgendeinem Fernsehstudio ist. Dem amerikanischen
Talkshowmaster Stephen Colbert erzählte sie zum
Beispiel, dass die Menschen sie in Neuseeland auch
beim Unterwäschekauf ansprechen würden. Oder
wie ihr Mann Clarke Gayford während eines
Gesprächs mit Trump bei der UN eine Flagge umriss.
Bei diesen Auftritten erinnert Jacinda Ardern ein
bisschen an Barack Obama. Ardern schaut dem
Gegenüber stets in die Augen, den Kopf legt sie beim
Zuhören gern zur Seite, so als ob sie ein Ohr auf
einem Kopfkissen habe. Viele in Neuseeland lieben
das. Genauso wie ihren sicheren Einsatz von
Symbolen. Zu ihrem Besuch bei der Queen zum
Beispiel trug Ardern einen Kahu huruhuru, den
traditionellen Federmantel der Maori. Eine Geste der
Wertschätzung für die Bevölkerungsgruppe - positive
Schlagzeilen waren ihr gewiss.
David Farrar, ein kleiner, runder Kerl mit wenig
Haaren und noch weniger Geduld, hatte trotzdem
nicht Mitglied im Jacinda-Fanklub werden wollen. Er
betreibt den wichtigsten politischen Blog in
Neuseeland: den Kiwi Blog. Konservativ,
regierungskritisch. Arderns Kabinett nannte Farrar bis
zuletzt eine "Koalition aus Verlierern". Unter den
konservativen Kommentatoren ging die Geschichte
zu Ardern bisher immer so: nett - ja. Entschieden -
nein. Peters sei der zupackende Mann, ihr mangele
es an Durchsetzungsfähigkeit.
Unter den Kritikern stand David Farrar in erster
Reihe. Doch nach Christchurch - er sagt es mit einem
Gesicht, das nach einem entzündeten Backenzahn
aussieht - müsse er sein Urteil überdenken: "Was sie
in den letzten Wochen an Führungsstärke gezeigt
hat, war nahe an der Perfektion. Sie hat innerhalb
von zwei Tagen die Waffengesetze geändert. Das
war riskant, aber sie hat es durchgezogen."
Bei der Gedenkveranstaltung spricht Ardern als eine
der Letzten. Cat Stevens singt gerade "Peacetrain",
als sie sich von ihrem Stuhl erhebt. Ardern redet über
Schmerz und Verzeihen. "Wir sind nicht immun
gegen den Virus des Hasses. Wir waren es nie. Aber
wir können die Nation sein, die ein Gegenmittel
findet", sagt sie.
Nach der Zeremonie läuft sie durch die Reihen und
erkundigt sich bei den Überlebenden nach dem
Befinden. Als sie Mustafa sieht, umarmt sie ihn. Für
ein paar kurze Momente können sie miteinander
sprechen, dann muss sie weiter.
Was hat sie zu ihm gesagt? Nicht viel, sagt Mustafa
und lächelt. Nur, dass sie sich gut an ihn erinnere.
Und dass er so angenehm nach Eukalyptus rieche.
Jonas Breng findet es gut, dass sich Politiker in
Neuseeland bis hin zum Außenminister mit
Vornamen anreden lassen. Das machte ihm die
Recherche angenehmer. Mitarbeit: Anke Richter
Bildunterschrift:
Die Frau mit dem Kopftuch: Jacinda Ardern tröstet
Überlebende des Attentats von Christchurch
FOTOS: ANDREW PARSONS/POLARIS/LAIF;
HAGEN HOPKINS/GETTY IMAGES
Mit 17 in die Politik, zwei Jahrzehnte später
Regierungschefin: Jacinda Ardern, 38
Das Haus, in dem Jacinda Ardern aufwuchs (l.); ihre
Eltern Laurell und Ross leben immer noch im kleinen
Ort Morrinsville. Im Schnellrestaurant verdiente sie
ihr erstes Geld
Ist sie nicht süß? Ardern mit Töchterchen Neve bei
der UN-Vollversammlung im September; links Neves
Vater, Clarke Gayford
Stilsicher: die schwangere Jacinda Ardern im
Federmantel der Maori bei der Queen. Und beim
Wahlkampf im August 2017
FOTOS: VICTORIA JONES/AP; JAMIE BOWERING
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