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II

GIUSEPPE VERDI
STIFFELIO
Giuseppe Verdi: Stiffelio

Ein Blick ins Archivio Storico Ricordi


1

Grußwort

Für ein internationales Medienunternehmen der italienischen Oper waren für uns mehr als
wie Bertelsmann bilden die Ideen und die Kre- Grund genug, die vielen Tausend Partituren,
ativität unserer Künstler, Autoren und Jour- Libretti, Briefe und Fotografien zu sichern
nalisten das Herz unserer Wertschöpfung. und für die Nachwelt zu bewahren. Das
Sie sind es, die unsere Angebote perma- Verdi-Jahr 2013 bildete für uns den Auftakt,
nent neu erfinden, indem sie jeden Tag aufs die Dokumente aus dem Archivio Storico
Neue Geschichten erzählen, die informieren, Ricordi in neuer Form zu präsentieren und für
unterhalten und inspirieren. alle zugänglich zu machen; sei es im Rahmen
In dieser Broschüre erzählen wir Ihnen von internationalen Ausstellungen, in Form
die Geschichte eines musikalischen Meister- von Publikationen oder per digitaler Erfas-
werks, das — von der politischen Zensur sei- sung der Exponate. Mehr noch: Seit einigen
ner Zeit verschmäht — erst einhundert Jahre Jahren engagieren wir uns verstärkt in wei-
nach seiner Entstehung erneut aufgeführt teren kulturhistorischen Bereichen. So hat
werden konnte: Giuseppe Verdis Stiffelio. Bertelsmann die digitale Restaurierung der
Wir erzählen Ihnen die Geschichte von der Stummfilmklassiker „Das Cabinet des Dr.
faszinierenden Rekonstruktion einer der be- Caligari“ (Robert Wiene) und „Der müde
deutendsten Opern des 19. Jahrhunderts; Tod“ (Fritz Lang) maßgeblich gefördert und
und wir möchten damit die Geschichte des so ein Zeichen für den Erhalt des Filmerbes im
Ricordi-Archivs erzählen, in dem sich noch digitalen Medienzeitalter gesetzt.
heute Teile der Stiffelio-Partitur befinden. Auch in den kommenden Jahren werden
Wie Verdi ist auch Ricordi ein Name von wir die digitale Zukunft der Medien mit-
großem Klang — in Italien, in der gesamten gestalten. Parallel werden wir weiter daran
Musikwelt, aber auch bei Bertelsmann. Das arbeiten, die Geschichte der Medien für
Mailänder Archivio Storico Ricordi, das den künftige Generationen zu erhalten und sie
Aufstieg des Musikverlags Casa Ricordi möglichst vielen Menschen zugänglich zu
nahezu lückenlos dokumentiert und uns machen. In diesem Sinne freue ich mich sehr
heute einzigartige Einblicke in die Welt der über Ihr Interesse und wünsche Ihnen viel
Oper erlaubt, gilt als die bedeutendste Spaß bei der Lektüre!
Sammlung zur italienischen Operngeschich-
te in privater Hand.
Bertelsmann hatte die Casa Ricordi 1994 Thomas Rabe
erworben, sich später aber wieder weitge- Vorstandsvorsitzender von Bertelsmann
hend von dem Unternehmen getrennt. Das
zugehörige Archivio Storico Ricordi verblieb
indes bewusst im Konzern. Der außerge-
wöhnliche Umfang der Sammlung und ihre
herausragende Bedeutung für die Geschichte
3

Stiffelio: Ein Opfer der


politischen und religiösen Zensur
David Lawton

Bis zum Jahr 1968 war Verdis sechzehnte Inszenierungen folgten. 1985 wurde ein drit-
Oper Stiffelio (1850) seine am wenigsten tes Partiturmanuskript in Wien entdeckt und
bekannte und am seltensten aufgeführte – für eine Inszenierung im Teatro La Fenice in
und dies aus gutem Grund. Seit der Erstauf- Venedig verwendet. Wissenschaftliche Kon-
führung der Oper 1850 in Triest und den ferenzen, die im Zusammenhang mit den
darauffolgenden Inszenierungen in weiteren Inszenierungen in Parma und Venedig statt-
italienischen Opernhäusern stieß das Libret- fanden, führten zur Veröffentlichung von
to auf anhaltende Schwierigkeiten mit der zwei Monografien, die ein besseres Verständ-
politischen und religiösen Zensur. Diese Hin- nis und eine höhere Wertschätzung für diese
dernisse bei der Verbreitung seines Werkes vernachlässigte Oper nach sich zogen.a
frustrierten Verdi zutiefst. In einem Brief vom Jedoch waren alle dieser drei vollständigen
17. Februar 1856 bat er seinen Verleger Ricor- Partiturmanuskripte problematisch. In der Ne-
di, weitere Aufführungen zu verbieten und apel-Partitur fehlten ganze Passagen, und die
den Verkauf des Klavierauszugs einzustellen, Wiener Partitur enthielt zahlreiche Fehler. Um
da er ihn mit einem neuen Libretto überar- eine kritische Ausgabe von Stiffelio ausarbeiten
beiten wolle. zu können, war das Studium von Verdis vollstän-
Die Klavierauszüge der Oper hatten in diger autografer Partitur unbedingt erforderlich.
italienischen Bibliotheken überlebt; jedoch Die Hälfte davon war im Archivio Storico Ricordi
wurden sämtliche vollständige Partituren als Bestandteil der Aroldo-Partitur noch vorhan-
und Aufführungsunterlagen aus den Ricordi den, da Verdi seinerzeit nicht alle Teile der Oper
Leiharchiven während der Bombardierungen überarbeiten musste.
Mailands durch die Alliierten im August 1943
1 — Vollständige autografe
zerstört. Ein noch größeres Problem für die Partitur von Aroldo mit dem
Rekonstruktion einer Aufführungsfassung Titel „Sinfonia“ in Verdis
Handschrift oben auf der
der Oper war, dass Verdi Teile der autografen Seite. Die Worte „Stiffelio“
Stiffelio-Partitur bei seiner Überarbeitung des und „M.o Verdi“ rechts sind
in der Handschrift eines
Werks zu Aroldo entfernte; diese galten als unbekannten Kopisten aus
verloren. dem Ricordi-Verlag ge-
schrieben. Dies war ursprüng-
Die Entdeckung zweier vollständiger Parti- lich die erste Seite der
vollständigen autografen
turmanuskripte in Neapel — eines von Stiffelio,
Partitur von Stiffelio. Verdi
und das andere von der durch die Zensur ver- behielt die Sinfonia für
Aroldo bei und veränderte
stümmelten Version mit dem neuen Titel
sie nur leicht. Eine seiner
Guglielmo Wellingrode — führten 1968 zur Überarbeitungen für Aroldo
ist auf dieser Seite zu sehen:
ersten Neuinszenierung der Oper seit 1855 im
Er strich den vierten Takt,
Teatro Regio in Parma. Das Werk wurde ins- in dem ursprünglich nur die
besondere für seine dramatische Kraft mit Flöte und Oboe spielten.
Ebenso löschte er ihre Parti-
1 begeisterter Kritik aufgenommen. Weitere en im vorangehenden Takt.
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Verdi entfernte jedoch in der Stiffelio- hin auch immer man die Handlung versetzen
Urschrift Seiten mit von ihm nicht länger mag, man muss ihn immer zum Lutheraner
gewünschten Passagen, um so für die neue und Anführer einer Sekte machen“.
Musik in Aroldo Platz zu schaffen; über den Der letzte Satz zeigt, wie deutlich Verdi
Verbleib dieser Seiten war nichts bekannt. den zentralen dramatischen Konflikt des
1992 fand sie die Familie Carrara-Verdi im Stücks verstanden hatte, und wie wichtig das
Archiv der Villa Verdi in St. Agata und stellte für sein dramatisches und musikalisches
sie für die kritische Ausgabe zur Verfügung. Konzept war.
Endlich wurde es möglich, eine vollstän- Das Stück spielt im neunzehnten Jahr-
dige Partitur der Oper in Verdis ursprüng- hundert in der Nähe von Salzburg und han-
licher Fassung zu erstellen. Kathleen Han- delt von Stiffelio, einem verheirateten protes-
sells kritische Ausgabe von Stiffelio wurde in tantischen Prediger und Anführer der Sekte
der Metropolitan Opera in New York City am der Ahasverianer, und seiner Frau Lina, die
21. Oktober 1993 uraufgeführt und danach ihn mit Raffaele, der sich als Graf ausgibt,
gemeinsam von der University of Chicago betrogen hat. Der zeitgenössische Hand-
Press und Casa Ricordi 2003 in The Works of lungsraum — der Verdis Bedenken hinsichtlich
Giuseppe Verdi, Reihe I, Band 16 veröffentlicht.b der Chorkostüme auslöste — schien dem
Komponisten von untergeordneter Bedeu-
Das Libretto von Stiffelio basiert auf tung; wegen des starken inneren Konflikts
einem französischen Theaterstück von Émi- zwischen Stiffelios Pflichten als Pastor und
le Souvestre und Eugène Bourgeois mit dem der rasenden Eifersucht durch die Untreue
Titel Le pasteur, ou L’Évangile et le foyer, das seiner Frau, der den Kern der Handlung bil- 2
1849 in Paris aufgeführt wurde. Verdis Li- det, war es jedoch enorm wichtig, dass die 2— Brief von Verdi an Giovanni 3— Plakat für die Premiere von 4— Vertragsformular, datiert
brettist Francesco Maria Piave, der eine Ko- Hauptfigur in Form eines protestantischen Ricordi, datiert Busseto, Stiffelio im Grande Teatro Venedig, 6. September 1857,
25. Juni 1850, in dem der Civico di Trieste am 16. No- in dem Piave die Rechte an
pie von Gaetano Vestris italienischer Über- Pastors und Sektenführers erhalten blieb. Komponist der Uraufführung vember 1850, das dem Kom- seinem Libretto für Aroldo
setzung (Stifellius! Dramma in cinque atti e Letztendlich bewahrten Verdi und Piave den seiner neuen Oper Stiffelio, ponisten die musikalische auf Verdi überträgt und der
die er gerade für Ricordi Leitung und Inszenierung zu- Übertragung von Verdis
sei quadri, Mailand, 1848) besaß, schlug zeitgenössischen Schauplatz und das Wesen komponiert, in der Herbst- schreibt. Der erhalten ge- Eigentumsrechten an Tito
Verdi das Stück als möglichen Stoff für die der Rolle des Protagonisten. saison in Triest zustimmt. bliebene Schriftverkehr zeigt, Ricordi zustimmt. Piave und
Der Brief beinhaltet seine dass der Librettist Piave wäh- zwei Zeugen unterzeichne-
Oper vor, die dieser für die Herbstsaison 1850 Probleme mit der Zensur traten erst auf, Überlegungen zur Eignung rend der Proben auch die ten das Dokument.
für Ricordi komponieren sollte. Verdi antwor- als die Proben für die Premiere in Triest der für diese Saison an- Rolle des Regisseurs übernom-
gestellten Besetzung für die men hatte. Er hatte um zu-
tete: „Ich kenne Stifelius [sic] nicht, schicke bereits weit fortgeschritten waren. Die Ver- Hauptrollen seiner neuen sätzliche Bezahlung für diesen
mir eine Zusammenfassung“. Am 8. Mai 1850 waltung des Teatro Grande hatte dem Oper; er endet mit der Bitte, Dienst gebeten, die er jedoch
Ricordi möge dem Vertrag anscheinend nie erhielt.
reagierte der Komponist positiv auf das, was Libretto am 21. Oktober 1850 zugestimmt, mit den Theatern eine Klau-
Piave ihm geschickt hatte: „Stifellius ist gut nachdem sie es vorab den Zensoren vorge- sel hinzufügen, die eine
Generalprobe mit Beleuch-
und ansprechend. Es wäre nicht schwierig, legt hatte. Wenige Tage vor der Premiere der tung, Kulisse und vollständi-
[Passagen für] Chorgesang einzubauen, aber Oper wurde von den österreichischen Behör- gen Kostümen erfordert.

die Kostüme wären immer erbärmlich. Wo- den jedoch eine auf den 14. November 1850
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datierte Verordnung verteilt, die neue Vor- La virtude in cor gli sta!”
schriften für Theateraufführungen enthielt —  („Ah, er zerstört sogar die
unter anderem diese: Erinnerung an die Verfehlung!
„Hiernach ist von der Darstellung Die Tugend eines evangelischen
auf der Bühne unbedingt ausge- Pastors wohnt in seinem Herzen!”)
schlossen: Die kursiv gesetzten Worte wurden ersetzt
[…] was den öffentlichen An- durch „La purezza dell’amore, / La bontade“
stand, die Schamhaftigkeit, die („Die Reinheit der Liebe / die Güte [wohnt in
Moral oder die Religion beleidigt; seinem Herzen]“ ).
daher [ist] insbesondere weder die Diese Zeile ist typisch für die Änderun-
Darstellung kirchlicher Gebräuche gen, die die Zensoren verlangten. Im Kontext
und gottesdienstlicher Handlungen wäre der Text aufgrund seiner Platzierung in
anerkannter Religions-Genossen- einem großen Ensemble kaum bemerkt wor-
schaften, noch der Gebrauch der den.
den Dienern derselben eigenthüm- Änderungen an Zeilen, die von Solisten
lichen geistlichen Ornate auf der an entscheidenden dramatischen Stellen
Bühne zu gestatten.” gesungen wurden, Zeilen, die Verdi als „pa-
Infolgedessen wurden Piave und Verdi role sceniche“ (szenische Schlüsselworte)
prompt zu einem Treffen mit der Theaterver- behandelt hatte, waren jedoch wesent-
waltung zitiert. Obwohl die Gefahr drohte, lich schädlicher. Im Finale des 2. Akts zum
die Inszenierung könne an der Verordnung Beispiel, als Stiffelio von Stankar erfährt,
scheitern, wurde die Genehmigung zur Auf- dass Raffaele Lina verführt hat, ergreift er
führung erteilt — allerdings erst, nachdem Stankars Schwert und fordert Raffaele zum
die Autoren sich bereit erklärt hatten, eine Duell. Just als der Kampf beginnt, ertönen
Reihe von Änderungen im Text und der der Gesang des Chores und die Orgel aus
Handlung vorzunehmen. Um die Zensoren der Kirche; Jorg erinnert Stiffelio an seine An-
zu beschwichtigen, mussten viele Zeilen des hänger, die ihn um Trost bitten – woraufhin
Librettos umgeschrieben werden — so zum Stiffelio sein Schwert fallen lässt. Nachdem
Beispiel am Ende des mehrstimmigen er in einer Aparte vom Kampf zwischen sei-
Ensembles der Introduzione im 1. Akt. nem Pflichtbewusstsein und seiner Wut auf
Stiffelio verbrennt einen potenziell be- Raffaele singt, setzt der Chor wieder ein. Jorg
lastenden Brief — Teil einer Intrige –, worauf- ermahnt Stiffelio, sich darauf zu besinnen,
hin die Figuren Dorotea, Federico und Jorg wer er ist; dieser ruft bestürzt aus: „Sacerdo-
ursprünglich aparte sangen: te io sono!“ („Ich bin ein Priester!“)
„Ah perfino la memoria Diese entscheidende Zeile wurde in „Assas-
Egli sperde dell’errore! veriano io sono!“ („Ich bin ein Ahasverianer!“)
D’Evangelico pastore geändert, eine wesentlich schwächere
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Reaktion, da sie Stiffelio seiner Identität als Piaves poetischer Text am Ende der letzten („Ich spreche zu euch, Brüder,
Pastor beraubt und ihn zu einem gewöhn- Szene wurde ebenso verstümmelt. An dieser Hört mich alle, die ihr hier
lichen Mitglied der Sekte herabstuft. Stelle liest Stiffelio von seiner Kanzel die be- versammelt seid ...
Eine Änderung im Scheidungsduett im rühmte Passage aus dem Johannesevangeli- In meiner Seele will ich euch
letzten Akt war noch schlimmer: Nachdem um (Kapitel 7, Vers 53 bis Kapitel 8, Vers 11), in allen vergeben
Lina erst scheinbar der Scheidung von ihrem der die Pharisäer eine Frau zu Jesus bringen, Mit meinen Worten ... [...] Wer
Mann zustimmt, versucht sie ihm mutig die die beim Ehebruch ertappt wurde, und ihn diesem Feind
Wahrheit über sich und Raffaele zu offenba- fragen, ob sie gemäß dem Gesetz Moses’ ge- Frieden schenkt, wird die Barm-
ren und appelliert an Stiffelio als ihren Pries- steinigt werden sollte. Die ursprünglichen herzigkeit des Herrn erfahren ...”)
ter. Er reagiert abweisend auf ihre Bitte, doch Zeilen gleichen dem biblischen Text der Ant- Anstelle eines starken Bibelzitats, das Lina
sie fleht ihn an, sie anzuhören – in einem lei- wort Jesu sehr; tatsächlich hatte Verdi sie und alle anderen in der Kirche als Symbol
denschaftlichen Ausbruch, der zum Wende- unterstrichen, um anzudeuten, dass sie als für Stiffelios offizielle und öffentliche Verge-
punkt des Duetts wird: „Ministro, Ministro, Zitat gedacht waren: bung ihres Verfehlens verstehen, hörte das
confessatemi ...“ („Priester, Priester, höre „Allor Gesù rivolto Publikum in Triest eine sinnlose und banale
meine Beichte ...“). Die Zensoren änderten Al popolo affollato Plattitüde, die ganz und gar darin scheiterte,
diese Zeile in „Rodolfo, ascoltatemi“ („Rodolfo, Segnò l’adultera ch’era das zentrale dramatische Thema der Hand-
hör mir zu“). Die neue Zeile verändert die dra- a’ suoi piedi lung aufzulösen. Hermets Kommentare zum
matische Beziehung der beiden Figuren E così disse: [...] Resultat dieser zensierenden Interventionen
grundlegend. Er wurde von ihr am Anfang Colui fra voi sprechen für sich:
ihrer gemeinsamen Zeit Rodolfo genannt. Che mai peccò, „[...] die Verstümmelung durch die Zen-
Dies ist jedoch kein intimer Moment zwi- la prima pietra scagli.” soren und Anforderungen der Polizei
schen Mann und Frau: Hier wendet sich Lina („Dann wandte sich Jesus bezüglich der Aufführung waren der-
an ihren Pastor Stiffelio. 4 An die Menschenmenge, art, dass das musikalische Konzept voll-
Angesichts des späten Zeitpunkts vieler Zeigte auf die Ehebrecherin ständig verfälscht und somit jeglicher
dieser Änderungen hatte Ricordi keine Zeit, zu Seinen Füßen, Effekt beseitigt wurde. Diejenigen, die
das Libretto vor der Premiere neu zu drucken; „dass die letzte Szene nun keine Kir- Und sprach: [...] bei den letzten Proben anwesend wa-
also klebte ein Drucker vor Ort Papierstreifen che mehr war, da das Kreuz aus ihr Wer unter euch ren, werden bezeugen, dass einige der
mit den neuen Texten über die Zeilen des verbannt, die Kanzel und die Knie- ohne Sünde ist, Akteure auf der Bühne von ihren Ge-
Librettos, die zensiert worden waren. bänke entfernt worden waren und der werfe den ersten Stein.”) fühlen überwältigt weinten.“
Der letzte Akt der Oper litt am meisten es den Gläubigen sogar verboten In Triest wurden diese Zeilen bis zur Unkennt- Tatsächlich haben moderne Inszenierungen
unter den Eingriffen der Zensoren und sollte war, auf dem Boden zu knien (!!) und lichkeit folgendermaßen verändert: gezeigt, dass die Schlussszene außerordent-
alle Inszenierungsversuche nach der Premiere sie stehend (!!!) beten mussten, wo- „Io parlo a voi fratelli, lich bewegend und von einer erhebenden Art
auch weiter vereiteln, bis Verdi schließlich die bei sie tunlichst darauf achten soll- M’udite or qui raccolti ... ist, die sie vom Ende aller anderen Verdi-Opern
Verbreitung der Partitur zurücknahm. ten, nicht den geringsten Anhalts- Nell’anima vorrei scolpirvi tutti unterscheidet.
Der Kritiker Francesco Hermet, der die Pre- punkt dafür zu geben, dass sie dort I detti miei ... [...] Al suo nemico
miere für Ricordis Firmenzeitung La Gazzetta versammelt waren, um Gottes Wort Chi pace dà, clemente avrà
musicale di Milano rezensierte, berichtete, zu hören.” il Signore ...”
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Die Schlussszene erwies sich als Hindernis Bereitschaft an, sie umzuschreiben, wenn
für alle Bemühungen, die Oper nach ihrer Piave ihm „eine schöne und interessante Si-
Premiere andernorts aufzuführen. Eine In- tuation“ finden könne. Der Schriftverkehr
szenierung am Teatro Apollo in Rom im Fe- zwischen den beiden Männern spielt in den
bruar 1851, für die die Oper in einer zensur- kommenden Jahren weiter auf die Möglich-
bereinigten Version mit dem Titel Guglielmo keit eines neuen letzten Aktes an, doch Piave
Wellingrode aufgeführt wurde und die so ließ sich viel Zeit, einen Text dafür zur Verfü-
auch im Mai 1851 am Teatro della Pergola in gung zu stellen. Schließlich bat der Kompo-
Florenz aufgeführt wurde, war ein absolutes nist am 17. Februar 1856 seinen Verleger
Desaster. In einer Notiz, veröffentlicht in der Ricordi, die Oper aus dem Verkehr zu ziehen,
Gazzetta musicale di Milano, lehnte Piave da „Piave in Kürze nach Busseto kommen
öffentlich die Änderungen an seinem Libret- wird, besonders um Stiffelio anzupassen, also
to ab, die ohne seine Zustimmung vorge- um ein anderes, völlig neues Thema zu fin-
nommen worden waren. In einem Brief vom den, eines, das für unsere Zensoren akzepta-
4. August 1852 an den Impresario Alessandro bel ist. Es wird erforderlich sein, den Ausgang
Lanari drückte Verdi sein Entsetzen darüber zu verändern und dann einige neue Stücke zu
aus, dass Lanari beschlossen hatte, die Oper schreiben, einige Passagen hier und da, eini-
in einer Version aufzulegen, die „so lächer- ge Rezitative, etc. etc., so wie das Thema es
lich, so jeglichen Sinnes und Charakters be- erfordert.“
raubt war wie Vellingrood [sic].“ Dieser Prozess führte zu Aroldo, wobei
In Verhandlungen für andere Aufführun- die Handlung von Österreich im neunzehnten
gen bestand Verdi weiter auf seiner ursprüng- Jahrhundert nach England im dreizehnten
lichen Konzeption. In einem Brief an Piave Jahrhundert verlegt und der protestantische
vom 2. November 1851 betreffend eine für die Prediger Stiffelio zum Kreuzritter Aroldo wur-
Saison 1851/52 geplante Inszenierung am de, dessen Frau ihm während der Kreuzzüge
Teatro La Fenice wiederholte der Komponist untreu ist. Die problematische Schlussszene
seine Forderung, dass „Stiffelio ein Pfarrer in der Kirche wurde entfernt und durch einen
sein muss, deshalb muss im letzten Duett der vollständig neuen 4. Akt ersetzt. Zu diesem
Vers Ministro confessatemi vorhanden sein, Zeitpunkt hatte Verdi so wenig Glauben an
wie auch der andere [im Finale des 2. Akts], sein ursprüngliches Ende, dass er offenbar
Sacerdote io sono, denn ohne sie gibt es für die Seiten seiner handschriftlichen Partitur
alle Menschen bei klarem Verstand keine Per- mit dieser Szene wegwarf. Fakt ist, dass die
sönlichkeit mehr, keinen Höhepunkt und kein Schlussszene der einzige Teil der handschrift-
Drama“. lichen Partitur von Stiffelio ist, der 1992 nicht
Im selben Brief wird jedoch auch Verdis in St. Agata aufgefunden wurde, obwohl
Einsicht klar, dass die Schlussszene komplett einige musikalische Skizzen dafür erhalten
verändert werden müsste; er deutet seine geblieben waren.
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Aroldo wurde am 16. August 1857 im Tea-


tro Nuovo in Rimini uraufgeführt. Direkt
nach der Aufführung schrieb der Dirigent
Angelo Mariani an Ricordi, dass „Aroldo Fu-
rore machte, bei jedem Stück wurde applau-
diert und der Maestro wurde unzählige Male
auf die Bühne gerufen“. Obwohl das Werk
noch einige Jahre lang in Italien die Runde
machte, geriet es anschließend ebenfalls
weitgehend in Vergessenheit, so dass heute
Stiffelio häufiger aufgeführt wird als Aroldo.
In seiner monumentalen Studie über Verdis
Opern kommt der britische Verdiforscher Ju-
lian Budden zu dem Schluss, dass das neue
Libretto den starken inneren Konflikt, der die
Originalhandlung antrieb, irreparabel ge-
schwächt hat. Sein Fazit zum Wert der beiden
Opern im Vergleich hat weiterhin Bestand:
„Stiffelio verdient es, auf einer Stufe mit den
drei unmittelbar folgenden Meisterwerkenc zu
stehen“, aber „es gibt nicht einen Schwach- 5— Die erste Seite des Vertrags,
in dem Verdi die Rechte
punkt im Gefüge von Stiffelio, der im späte- an der Veröffentlichung und
ren Werk nicht unermesslich gestärkt wird. [...] Verbreitung seiner Oper
Stiffelio auf Giovanni Ricordi
Aroldo ist besser als Musik, Stiffelio als Musik- überträgt, datiert Busseto,
drama.“d 6. Dezember 1850 — direkt
nach der Rückkehr des
Komponisten von der Pre-
miere in Triest.

— David Lawton ist Professor für Musik 6— Erste Seite von Verdis Ver-
trag, datiert Bussetto,
an der Stony Brook University, New York. Als 18. September 1857, in dem
freiberuflicher Operndirigent und anerkann- er seine Autorenrechte
für die neue Oper Aroldo —
ter Verdi-Forscher war er Herausgeber der im Sommer 1857 in Rimini
kritischen Ausgaben von Il trovatore und bei- uraufgeführt — auf Tito
Ricordi überträgt. Der Ab-
den Versionen von Macbeth in The Works of satz, der am Ende der Seite
Giuseppe Verdi, einer gemeinsamen Publika- beginnt, vermerkt, dass
etwa die Hälfte der Musik
tion der University of Chicago Press und Casa von Aroldo aus Stiffelio
Ricordi. stammt.
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16

8
7— Frontispiz des ersten Klavier- 8— Frontispiz und erste Seite des
auszugs, den Ricordi 1852 ersten Klavierauszugs von
veröffentlichte. Giuseppe Aroldo. Der Titel auf der
Salvionis Illustration ist eine ersten Seite – „STIFFELIO /
leicht abgeänderte Repro- (AROLDO)“ – deutet stark
duktion von Giuseppe darauf hin, dass Ricordi
Bertojas Original-Bühnen- die Druckplatten des Kla-
design für den 2. Akt: links vierauszugs von Stiffelio für
im Vordergrund steht die Sinfonia einfach wieder-
Raffaele mit gezogenem verwendete. Dies wird
Schwert; rechts ihm gegen- durch die Tatsache belegt,
über Stiffelio, der, als er dass der dritte und vierte
die Stimmen des Chors aus Takt immer noch die
dem Kirchenraum hörte, Noten für Flöte und Oboe
sein Schwert fallengelassen beinhalten, die Verdi in
hatte. Seine Frau Lina seiner vollständigen auto-
kniet betend rechts vor ihm, grafen Partitur von Aroldo
ihr Vater Stankar steht gestrichen hatte.
rechts von ihr. Im Zentrum
auf der Treppe interveniert 9— Erste Seite des Ricordi-
Stiffelios Mentor Jorg, Klavierauszugs von Aroldo,
um Stiffelio an seine pries- Druckplatte Nr. 42306,
terlichen Pflichten zu datiert auf das frühe
erinnern. 19. Jahrhundert. Hier ist der
Anfang der Sinfonia
korrekt dargestellt, d. h.
ohne die Teile für Flöte und
Oboe, die in Takte 3 – 4 des
frühesten Klavierauszugs
noch erscheinen.
18 19

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10— Frontispiz des ersten Klavier- 12— Vordere Seite des Umschlags


auszugs von Aroldo; zu des Stiffelio-Librettos,
der Zeit war es bei Ricordi von Ricordi herausgegeben
noch üblich, Klavieraus- anlässlich der Premiere
züge im Querformat her- im Grande Teatro Civico di
auszugeben. Trieste, 16. November 1850.
Das Libretto wurde bereits
11— Ankündigung der General- einige Zeit vor der Premiere
probe von Stiffelio am nach Triest geschickt.
15. November 1850. In sei- Nachdem die Zensoren Än-
nem Brief an Ricordi vom derungen im Ursprungstext
25. Juni 1850 (siehe Bild 2) verlangt hatten, war es
hatte Verdi seinen Verleger zu spät um die überarbeite-
gebeten: „Wenn möglich, te Version zu drucken.
fügen Sie dem Vertrag die Daher wurden vor Ort Papier-
Anforderung hinzu, eine streifen mit den neuen
Generalprobe mit Beleuch- Versen über die zensierten
tung, Kulisse und allen Kos- Zeilen geklebt.
tümen zu machen.“

11
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13
13— Vincenzo Poirets Portrait
von Verdi in Triest in der
Herbstsaison 1850. Die
Opern des Komponisten
sind wie Speichen in
einem Rad um seinen Na-
men gruppiert, Stiffelio
in der rechten Hälfte direkt
unter der horizontalen
Achse.
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Das Archivio Storico Ricordi –


Ein Bertelsmann-Projekt

Im Jahre 1808 gründet Giovanni Ricordi in Seit Februar 2011 entwickeln eine Projekt-
Mailand einen Musikverlag, der die Kulturge- gruppe von Bertelsmann und das Ricordi-
schichte Italiens und Europas im 19. und 20. Team in Mailand ein nachhaltiges Konzept
Jahrhundert maßgeblich prägen wird: Casa zur Erschließung und langfristigen Sicherung
Ricordi, der Verlag, in dem die Werke der der Archivalien. Sie arbeiten gemeinsam an
„großen fünf“ Komponisten der italienischen der kontinuierlichen Restaurierung und Di-
Oper — Gioachino Rossini, Gaetano Donizet- gitalisierung der Bestände. Ziel ist es, das
ti, Vincenzo Bellini, Giuseppe Verdi und Gia- Archivio sowohl national als auch internati-
como Puccini — erscheinen. Von Beginn an onal zu einem „Best-Practice-Case“ im Hin-
werden alle Unternehmensdokumente akri- blick auf die Vermittlung kulturhistorischer
bisch archiviert. Inzwischen ist das ehemalige Archivbestände im digitalen Zeitalter zu a 
 Stiffelio, hrsg. von Mario Medi-
Unternehmensarchiv des Ricordi-Verlags, der entwickeln und die Ressourcen nicht nur der ci, Quaderni dell’Istituto di
Studi Verdiani, 3 (Parma,
1994 von Bertelsmann übernommen wurde, Wissenschaft, sondern einem breiteren Pub- 1968); und Tornando a Stiffelio,
zu einem historischen Archiv geworden: dem likum zugänglich zu machen. hrsg. von Giovanni Morelli,
Quaderni della Rivista Italiana
Archivio Storico Ricordi, das sich heute in der Bertelsmann ist sich der großen Verant- di Musicologia, 14 (Florenz,
Biblioteca Nazionale Braidense in Mailand wortung bewusst, die der Besitz dieses ein- 1987). Siehe auch meine Kritik Impressum
„Stiffelio/Aroldo” in The Opera
befindet. zigartigen Kulturgutes mit sich bringt, und Quarterly 5 (1987): 193-197.
Die hier liegenden Originalpartituren von pflegt die mit dem Namen Ricordi verbun- b Herausgeber:
 Hansells Einleitung zu ihrer kri-
zahlreichen Opern des 19. und frühen 20. dene Tradition weiter. tischen Ausgabe von Stiffelio* Bertelsmann SE & Co. KGaA
Jahrhunderts sowie viele weitere Kompositi- ist die detaillierteste Darstel- Unternehmenskommunikation
lung der Entstehung der Oper
onen gehören zu den Highlights der europä- Bertelsmann ist ein Medien-, Dienstleistungs- und ihrer Aufführungsgeschich- Carl-Bertelsmann-Straße 270
ischen Musikgeschichte. und Bildungsunternehmen, das in rund 50 te. Dieser Essay basiert in ho- 33311 Gütersloh
hem Maße auf ihrer Arbeit,
2006 veräußerte Bertelsmann sein da- Ländern der Welt aktiv ist. Zum Konzernver- konzentriert sich jedoch primär
maliges Musikrechtegeschäft an Universal. bund gehören die Fernsehgruppe RTL Group, auf die Zensurprobleme, die die Autor: David Lawton, New York
Verbreitung der Oper in ihren
Alle Rechte an der Marke Ricordi sowie das die Buchverlagsgruppe Penguin Random ersten fünf Jahren behinderten. Übersetzung: SATS, Tengen
berühmte Verlagsarchiv verblieben jedoch im House, der Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr, Gestaltung: Stan Hema, Berlin
*Einleitung zur vollständigen
Besitz von Bertelsmann. Das Archivio steht das Musikunternehmen BMG, der Dienstleis- Partitur von Stiffelio, veröffent- Druck: Bunter Hund, Berlin
unter dem besonderen Schutz des italieni- ter Arvato, die Bertelsmann Printing Group, licht in The Works of Giuseppe
Verdi, (Chicago und Mailand,
schen Kulturministeriums und muss als nati- die Bertelsmann Education Group sowie das The University of Chicago Press Copyright: Bertelsmann SE & Co. KGaA, 2017
onales Kulturerbe in Italien verbleiben. internationale Fonds-Netzwerk Bertelsmann und Casa Ricordi, 2003)

Nachdem das Archiv über Jahrzehnte Investments. Mit 117.000 Mitarbeitern erzielte c
 Rigoletto, Il trovatore, La Bildnachweis:
fester Bestandteil des Unternehmens Casa das Unternehmen im Geschäftsjahr 2015 ei- traviata Alle Bilder © Archivio Storico Ricordi,
Ricordi gewesen ist und vorrangig ökonomi- nen Umsatz von 17,1 Mrd. Euro. Bertelsmann d
 Die beiden Zitate stammen von außer Bild 3, 11, 12 und 13: © Civico Museo Teatrale
schen Zwecken gedient hat — etwa der steht für Kreativität und Unternehmergeist. Julian Budden, The Operas of „Carlo Schmidl”, Triest
Verdi, Band I (New York,
Herausgabe kritischer Editionen — wird in Diese Kombination ermöglicht erstklassige Oxford University Press, 1973):
jüngerer Zeit die Transformation in ein histo- Medienangebote und innovative Service- 474; und Band II (New York, www.bertelsmann.de
Oxford University Press, 1979):
risches Forschungsarchiv vorangetrieben. lösungen, die Kunden in aller Welt begeistern. 358. www.archivioricordi.com
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